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German Pages 515 [516] Year 2007
JAN-DIRK MÜLLER HÖFISCHE KOMPROMISSE
JAN-DIRK MÜLLER
Höfische Kompromisse A c h t Kapitel zur höfischen Epik
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2007
Gefördert durch ein einjähriges Forschungsstipendium des Historischen Kollegs und durch ein zusätzliches Forschungsfreisemester der D F G
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10807-3 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Pagina G m b H , Tübingen Druck: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
INHALT
VORBEMERKUNG
Ι
Z U R H I S T O R I Z I T Ä T V O N E R Z Ä H L K E R N E N : Kulturmuster / Erzählmuster - Strukturen des Imaginären - Scripts als kulturspezifische Erzählmuster - Protonarrative / Einfache Formen / Mythos - Erzählkern und Erzählschema - Gattung, Fiktionalität und historischer Kontext - Zum Vorgehen
6
Genealogie als literarisches Ordnungsmuster - Naturalisierung von Ethos - art und nutritura - Davids art und das ereignishafte Wunder der Geburt Marias - Heroische Exorbitanz vs. dynastische Tradition - Wundergeburt oder Skandal: Alexander - Dämon und Genealogie - Exorbitant oder gestört: Galaad und Gregorius
46
Heilige Familie und Virginität - Legendarische Hybridisierungen - Feudale Reproduktion und Virginität Prozessierung der Lebensformen - Die Ersetzung des Vaters - Der Heilige und der Hof - Disparität der Lebensordnungen - Das Phantasma des moniage
107
Namenstypen - Krisen: verlorene, zerlegte, zusammengesetzte Namen - Eigenname und Kollektiv - Namenssuche - Dissoziation der Namen - Der verweigerte Name: ,Prosa-Lancelot' - Der Name als individuelle Lebensformel
170
A D L I G E R S E L B S T E R K E N N T N I S : Identität der Oberfläche - Falsche Oberflächen - Verlust ständischer Identität: bin ichs? - Selbstgefühl und fama: ,Diu Cröne' - Unterbestimmtheit von Identität: ,Gregorius' Noch einmal: Tristans Identität - Identität und Mysterium: Lancelot .
225
EINLEITUNG:
1.
2.
3.
4.
HERKOMMEN:
ANTAGONISTISCHE LEBENSFORMEN:
NAMENSSPIELE:
KRISEN
V
Inhalt
5.
6.
7.
8.
P A R A D O X I E N H Ö F I S C H E R Ö F F E N T L I C H K E I T : Off ertlich, heimlich, tougen - Räume der Heimlichkeit in der Heldenepik - Lehrstück der Hörbarkeit: .Wilhelm von Orlens' - Lehrstück der Sichtbarkeit: Konrads ,Partonopier' - Das höfische Offentlichkeitsparadox - Absondern und Eindringen - Höfische Rede: dissimulatio - Dekonstruktion von hövescheit
272
Phantasmen totaler Sichtbarkeit - Magie der Tugendprobe - Höfische Beichten - Verkörperung von Denken und Fühlen - Überblendungen - Literarisierung: das Spiel mit dem Herzenstausch
317
D Y N A S T I S C H E A L L I A N Z U N D minne·. Legitimationen von Konnubium Varianten der Fernliebe: ,Kudrun' - Imaginäre Überhöhungen - Scheinkonflikte - Dissoziation: minne vs. Kampfpreis - Prozessierung imaginärer Legitimationen - Hybridisierung - Grenzfälle
362
Passion als magischer Zwang — minne als Infektion: ,Eneit' - Dämonische Faszination und Psychologie - Höfische minne und Magie der Trankliebe: ,Tristan' - Gescheiterte Transgression: Gottfried und seine Fortsetzer - Moralische Abwertung: Herbort - Dekonstruktion höfischer minne·. Konrads von Würzburg .Trojanerkrieg' - Ambivalenzen höfischer minne·. ,Prosa-Lancelot' - Die rigoristische Alternative - Das Ende höfischer Ethik: Desintegration von minne und Rittertat
418
ZWISCHENRÄUME -
,AUSSEN' UND ,INNEN':
A P O R I E N PASSIONIERTER L I E B E :
SCHLUSSBEMERKUNGEN
479
Z I T I E R W E I S E UND A B K Ü R Z U N G E N
481
LITERATUR:
Texte - Wissenschaftliche Literatur
REGISTER
483 507
VI
VORBEMERKUNG
Dieses B u c h ist ein Versuch und ein Wagnis. E s will einige der großen T h e m e n beschreiben, die die höfische K u l t u r u m 1200 beschäftigen, ausgehend v o n einigen G r u n d m u s t e r n höfischer E p i k des deutschen Mittelalters, die besonders p r o d u k t i v f ü r das E r f i n d e n immer neuer und anderer G e s c h i c h t e n sind. E s unterstellt, daß diese G r u n d m u s t e r nicht zufällig und beliebig, sondern daß sie spezifisch f ü r die hochmittelalterliche L a i e n k u l t u r sind, daß sie auf f ü r diese maßgeblichen, unhinterfragten K u l t u r m u s t e r n aufruhen. G e g e n s t a n d ist damit ein Ausschnitt aus der imaginären Welt, die v o r allem die höfische Literatur um 1200 f ü r eine adelige G e s e l l s c h a f t entwirft, eine Literatur, die, wie ich glaube, auf deren Selbstbild, E r w a r t u n g e n , W ü n s c h e , B e f ü r c h t u n g e n usw. B e z u g n i m m t , a f f i r m a t i v oder kritisch, normativ o d e r entgrenzend. Sie tut das erzählend, im E r f i n d e n immer neuer und anderer G e s c h i c h t e n , die sich auf wiederkehrende, f ü r die mittelalterliche L a i e n w e l t o f f e n b a r faszinierende E r z ä h l k e r n e z u r ü c k f ü h r e n lassen. D i e s e E r z ä h l k e r n e lagern sich an bestimmte T h e m e n an, die f ü r die Alltagspraxis relevant gewesen zu sein scheinen. A u s pragmatischen G r ü n d e n w a r e n thematische S c h w e r p u n k t e zu setzen. Ich habe mich u m F r a g e n bemüht, die nach meiner E r f a h r u n g nicht zuletzt Studierende bei der B e g e g n u n g mit mittelalterlicher Literatur besonders interessieren. I n s o f e r n soll dieses B u c h auch E i n f ü h r u n g s c h a r a k t e r haben. Gleichzeitig war darauf zu achten, daß die P r o b l e m f e l d e r aneinander anschlußfähig blieben. D e r Titel . H ö f i sche K o m p r o m i s s e ' deutet das Z e n t r u m der f o l g e n d e n U n t e r s u c h u n g e n an: Untersucht w e r d e n Geschichten, die antagonistische N o r m e n und Verhaltensmuster ausbalancieren, wenn sie v o m Verhältnis der literarischen F i g u r e n zu ihrem
Ge-
schlecht, zu v o r g e g e b e n e n und alternativen L e b e n s e n t w ü r f e n , zu ihrem N a m e n , ihrem Selbst, den imaginierten R ä u m e n ihres Handelns, ihrem Inneren, zu minneund Heiratsregeln und zur g e s e l l s c h a f t s g e f ä h r d e n d e n Passion erzählen. D a b e i soll gezeigt w e r d e n , wie die höfische E p i k sich u m A u s g l e i c h einander entgegenstehender A n s p r ü c h e b e m ü h t , sie miteinander zu v e r s ö h n e n trachtet und Transgressionen abfedert, w i e aber auf der anderen Seite bestimmte V o r g a b e n des sozialen und kulturellen K o n t e x t e s niemals überschritten werden, auch nicht in den radikalsten E n t w ü r f e n w i e H a r t m a n n s . G r e g o r i u s ' , G o t t f r i e d s ,Tristan' oder K o n r a d s ,Troja1
Vorbemerkung nerkrieg'. Dieses B e m ü h e n um narrative Vermittlung drückt der Titel , H ö f i s c h e K o m p r o m i s s e ' aus. In ihm ist eingeschlossen, daß es bestimmte F o r m e n der Radikalisierung und der Grenzüberschreitung, wie man sie aus moderner Literatur kennt, f ü r die höfische Variante der mittelalterlichen Literatur nicht oder nur selten gibt. D a s B u c h will dadurch aus textwissenschaftlicher Perspektive zu einer K u l t u r wissenschaft v o m Mittelalter beitragen. D i e Kulturwissenschaft ist in den letzten J a h r e n , nicht unverschuldet, in Mißkredit geraten. ,Kulturalistisch' gilt vielerorts als ein S y n o n y m für ,nicht zu E n d e gedacht', ,schlampig recherchiert', mit ungefähren A n a l o g i e n zwischen heterogenen Gegenständen jonglierend'. Allenfalls Teile der mit Wissenschaft befaßten Ministerialbürokratie halten an dem Terminus noch fest, weil sie sich v o n einer alles und jedes verschlingenden Kulturwissenschaft, die die Einzeldisziplinen überflüssig macht, E i n s p a r e f f e k t e erhoffen. Wenn nämlich alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen dasselbe tun, kann man auf einige v o n ihnen leicht verzichten. Dies umso mehr, als Literaturwissenschaftler, die als Hirnforscher oder Mathematiker reden (und nicht nur E r g e b n i s s e der jeweiligen Wissenschaften zu verarbeiten und an eigene Beobachtungen anzuschließen suchen), Z w e i f e l an der Seriosität ihres Tuns nähren. A b e r diskreditieren die A u s wüchse, die es gibt, und die o f t besonders genüßlich ausgeschlachtet werden, das Projekt insgesamt? Heißt ,kulturwissenschaftlich arbeiten' ,assoziieren im freien Fall'? Oder spektakuläre V e r k n ü p f u n g v o n dem, was prima facie, aber leider auch secunda nichts miteinander zu tun hat? Werden Erkenntnisse durch rhetorische E f fekte ersetzt? Solche E i n w ä n d e m ö g e n in vielen Einzelfällen berechtigt sein, aber sie können das, was im R a h m e n des Paradigmas an Erkenntnisfortschritt erreicht wurde, nicht vergessen machen. N i m m t man das P r o g r a m m ernst, dann ist das Potential des Ansatzes noch bei weitem nicht ausgeschöpft, dann nämlich, wenn man danach fragt, welchen Beitrag die einzelnen historischen Wissenschaften, wenn sie nach ihren eigenen methodischen und theoretischen Prämissen verfahren, für die E r kenntnis kultureller Z u s a m m e n h ä n g e erbringen, in die ihre Gegenstände eingebunden sind, wenn also nicht, wie es die Metapher , K u l t u r als Text' manchmal zu suggerieren scheint, grundsätzlich die Gleichartigkeit und H o m o g e n i t ä t aller kulturellen Phänomene unterstellt wird, sondern im Gegenteil ihre D i f f e r e n z der A u s g a n g s p u n k t der F o r s c h u n g ist. D a n n nämlich könnte man das abgebrochene Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur unter neuen Prämissen und mit erweitertem Fragehorizont fortsetzen. 1 Wenn deshalb dieses B u c h - wie schon der Versuch über das ,Nibelungenlied' (J.-D. Müller, 1998) - nicht historische S a c h v e r h a l t e ' aus literarischen Texten her-
Vgl. Müller (2000a) sowie unten S. ηϊ.
2
Vorbemerkung
auszufiltern sucht und mit der sog. historischen ,Wirklichkeit' konfrontiert, dann nicht, wie manchmal naiverweise angenommen wird, weil diese als irrelevant für Phänomene der Literatur angesehen würde, sondern gerade umgekehrt, weil literarische Imaginationen Teil des Imaginären einer vergangenen Kultur sind, indem sie Aspekte einer historischen Alltagswelt thematisieren und reflektieren, über die die historischen Quellen meist schweigen. Aus der Perspektive einer Textwissenschaft lassen sich damit nach deren eigenen Prämissen und methodischen Verfahren andere und gleichfalls relevante Erkenntnisse über eine historische Epoche gewinnen. E s war die dauernde Vermengung historischer ,Tatsachen' und literarischer Beobachtungen, die den sozialgeschichtlichen Ansatz der 1970er Jahre in Mißkredit gebracht hat. N u r indem man die Besonderheit des literarischen Zeichengebrauchs in Rechnung stellt, wird man seine Beziehungen zu anderen Typen von Zeichen und Zeichengebrauch adäquat beschreiben können. 2 Eine transdisziplinäre Zusammenarbeit setzt voraus, daß die einzelnen Disziplinen ihre Identität wahren. In diesem Sinne ist der folgende Versuch angelegt, der sich als dezidiert literaturwissenschaftlich versteht. Die Untersuchung setzt auf einer mittleren Ebene an. Sie folgt nicht den Synthesen der Großen Erzählungen, schließt aber auch Detailanalysen aus. Insbesondere das letztere ist angesichts der Fortschritte innerhalb der germanistischen Mediävistik eine gefährliche Entscheidung, tritt doch ein Teil der Differenzierung in den Hintergrund, die Interpretationen, traditions- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen, Arbeiten zur Rhetorik, Metaphorologie oder Intertextualität herausgearbeitet haben. Nur zu einem Teil, nämlich nur insoweit sie zum Frageansatz beiträgt, kann monographische Forschung berücksichtigt werden,' und viele Detailerkenntnisse dort sind dem Gesamtziel zuliebe beiseite gelassen. Das könnte auf einem so gut erforschten Feld wie dem höfischen Roman unverantwortlich scheinen. Wenn es trotzdem gewagt werden soll, dann aus zwei Gründen. Einmal tendiert die wissenschaftliche Ausdifferenzierung in der Moderne zu immer genauerer Erfassung des Einzelproblems, unter Vernachlässigung seiner Beziehungen zu anderen Einzelproblemen und zum Ganzen. Dieser Tendenz erwachsen periodisch Gegenbewegungen, so etwa in den 1970er Jahren die Frage nach der
Die literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Arbeiten A l t h o f f s (1997) verfehlen besonders häufig dieses Postulat. A l t h o f f s E r g e b n i s s e werden v o n I.iteraturwissenschaftlern als .Tatsachen' behandelt, an denen dann die literarischen ,Fiktionen' gemessen werden. Dabei hat A l t h o f f selbst unablässig auf den Inszenierungscharakter der v o n ihm untersuchten Rituale verwiesen, auf ihren imaginären Uberschuß und auf ihre Stilisierungsleistung gegenüber jenen pragmatisch-politischen Z u s a m m e n h ä n g e n , die die ältere Geschichtswissenschaft allein interessierte. Sie weisen damit eine gewisse Verwandtschaft mit literarischen Inszenierungen auf. Verwandtschaft bedeutet aber .Familienähnlichkeit', nicht .Identität'. D i e Besonderheit von beidem wird man nur erkennen, wenn man sie zunächst einmal sauber auseinanderhält. D i e mehrfach zitierten Titel sind im Literaturverzeichnis a u f g e f ü h r t . E i n m a l i g oder nur für punktuelle Probleme konsultierte Arbeiten finden sich nur in den A n m e r k u n g e n .
3
Vorbemerkung ,Gesellschaftlichkeit' der Literatur. Fragen dieser Art können zu einem platten Reduktionismus führen, können aber auch den Gegenstand mit neuen Fragen konfrontieren, neu konfigurieren und so neue Detailforschung anregen. Z u m zweiten wirft die monographische Forschung zum höfischen Roman, die inzwischen auch Texte zweiter und dritter Ordnung erfaßt hat, die Frage nach rekurrenten Strukturen mittlerer Allgemeinheit auf. Diese Strukturen sollten zwischen (meist zu großräumigen und wenig spezifischen) Gattungsstrukturen einerseits und den (sehr konkreten und zu stark spezifizierten) Episoden- und Situationsmustern der einzelnen Werke angesiedelt sein. Peter Weiss hat für die Erkenntnis solcher Strukturen das schöne Bild gebraucht, daß man sich Salz in die A u g e n streuen müsse, so daß sich in den Tränen die Kontur der Einzeldinge auflöst und neue Konturen und Muster entstehen. 4 Nun ist Salz im Auge, da es den Blick verzerrt, eine gefährliche Metapher für eine wissenschaftliche Untersuchung. Hier geht es eher um die Erzeugung eines ,anderen Blicks', der von den Linien, die gewöhnlich die Gegenstände in der Welt voneinander abgrenzen und miteinander verbinden, absieht, um andere Linien und Verbindungen zu entdecken. Mit der Erprobung dieses anderen Blicks soll nicht die Besonderheit des einzelnen literarischen Textes in Frage gestellt, sondern nur eine Folie geschaffen werden, vor deren Hintergrund sie schärfer wahrnehmbar ist. Faßt man die höfische Epik von bestimmten thematischen und narrativen Rekurrenzen aus in den Blick, dann ergeben sich erstaunliche Zusammenhänge zwischen Texten, die die Literaturgeschichtsschreibung ganz unterschiedlich klassifiziert. Im übrigen habe ich diese Perspektive eines mäßig hoch fliegenden Vogels (Vogelschau mag man das nicht nennen) nur einnehmen können, weil auch meine eigene literaturwissenschaftliche Detailarbeit am einzelnen Text dadurch nicht unterbrochen wurde, sondern auf den bisher bearbeiteten Feldern - Heldendichtung, Minnesang, Roman - weiterging. Wenn ich glaube, daß diese Arbeit von den allgemeineren Fragen hier profitiert hat, dann hoffe ich auch, daß die folgenden Überlegungen auf den vielen Feldern, die sie oft nur kurz berühren, ihrerseits Detailstudien anregen werden, um ggfs. durch sie falsifiziert zu werden. Einige der Überlegungen führen Gedanken aus Aufsätzen der letzten Jahre weiter. Wenn ich sie trotzdem hier aufnahm, dann weil es mir auf den Zusammenhang ankommt, in dem scheinbar weit Entferntes unter bestimmten theoretischen Aspekten eng zusammenrückt. Dieser Zusammenhang ist durch eine durch und durch kompromißhafte Struktur gekennzeichnet, die mir typisch ,höfisch' zu sein scheint. Ich habe vielen zu danken: dem Historischen Kolleg, dessen Auswahlgremium das Konzept offenbar plausibel fand, so daß es mir ein einjähriges Stipendium
4
Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers (Tausenddruck 3), Frankfurt/M. i960, S. 15f. 4
Vorbemerkung gewährte; meinen Mit-Stipendiaten, mit denen ich gesprächsweise immer wieder neu auftauchende Probleme erörtern konnte; der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die dem Sabbatical noch ein weiteres halbes J a h r hinzuspendierte; den Teilnehmern des K o l l o q u i u m s ,Text und K o n t e x t ' , deren A n r e g u n g e n in meine Uberlegungen eingingen, ohne daß das immer ausdrücklich gesagt wird;' den K o l l e g e n in der Münchner Fakultät f ü r Sprach- und Literaturwissenschaften, die mich ermunterten, solch einen schrägen Versuch zu w a g e n und gegen alle inneren und äußeren A n f e c h t u n g e n durchzusetzen, die Fragen stellten und A n r e g u n g e n gaben; unter ihnen besonders den Münchner Altgermanisten Franz J o s e f Worstbrock, W o l f g a n g Harms und Peter Strohschneider; nicht zuletzt dem sog. ,Kränzchen' aus altphilologischen, anglistischen, germanistischen und romanistischen Freunden aus München und K ö l n , einem ,Sym-posion' im ursprünglichen, ganz unfeierlichen Sinn, in dem ich zu Brez'n und Wein auch nur halb Gedachtes zur Diskussion stellen konnte; 6 den jährlichen T r e f f e n meiner Mitarbeiter und D o k t o r a n d e n mit Ursula Peters und ihrer G r u p p e ; den Teilnehmern v o n K o l l o q u i e n und Workshops und den Z u h ö r e r n v o n Vorträgen, denen ich einzelne Vorüberlegungen und A u s schnitte v o r t r u g ; Friedrich Vollhardt und Peter Strohschneider und ihren Oberseminaren, in denen ich das K o n z e p t vorstellte; den Teilnehmern meines eigenen Oberseminars und meinen Doktoranden; den Helferinnen bei den mühseligen K o r rekturarbeiten; und last not least den Mitarbeitern der ersten und der zweiten Generation, deren eigenen Arbeiten, deren A n r e g u n g e n , deren Kritik meine Untersuchungen mehr verdanken, als sich sagen läßt. Vor J a h r e n überlegte der Altphilologe B r u n o Snell, ob seine Überlegungen zu H o m e r und zur altgriechischen A n t h r o p o l o g i e , die Pioniercharakter auch für andere mit vormodernen Welten befaßte Disziplinen hatten, nicht vielleicht einfach nur ,spinnös' seien. Ich habe mich das bei diesem Buch auch manchmal gefragt. D a war es eine große B e r u h i g u n g und E r m u t i g u n g , auf jüngere K o l l e g i n n e n und K o l l e g e n , D o k t o r a n d e n , Graduierte zu treffen, die ähnlich dachten und bei denen sich nie ein solcher Z w e i f e l einstellte. Ihnen, den Münchner Kombattanten fünfzehnjähriger Diskussionsrunden, die inzwischen teils selbst in A m t und Würden mediävistischen und nicht-mediävistischen, universitären und außeruniversitären wirken oder für die ich h o f f e , daß dies bald der Fall sein wird, möchte ich dieses Buch in tiefer Dankbarkeit widmen. München, Herbst 2006
J a n - D i r k Müller
1
D i e K o l l o q u i u m s - A k t e n sind unter dem Titel ,Text und K o n t e x t . Fallstudien und B e g r ü n d u n g e n einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik' A n f a n g 2007 im Oldenbourg-Verlag erschienen (Schriften des Historischen K o l l e g s : K o l l o q u i e n 64).
6
Stellvertretend für den ganzen K r e i s möchte ich Rainer Warning für die Diskussionen über das Imaginäre danken, ohne die meine eigenen Überlegungen nicht möglich gewesen wären.
5
EINLEITUNG:
Z U R HISTORIZITÄT VON
ERZÄHLKERNEN
Kulturmuster - Erzählmuster' Literarische Texte entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusammenhang einer historischen Kultur, die ihnen bestimmte Themen und Motive, bestimmte Ordnungen des Wissens und bestimmte Diskurstypen, bestimmte Probleme und Lösungen vorgibt. Solche Vorgaben liegen den spezifischer literarischen Traditionen, poetischen Strategien, Gattungen usw. voraus, die im allgemeinen der Hauptgegenstand der Literaturgeschichtsschreibung sind. Beider Verhältnis ist dabei historisch variabel: J e weiter ein relativ selbständiges System ,Literatur' ausdifferenziert ist, desto größer ist der Spielraum literarischer Texte, sich von den allgemeineren kulturellen Vorgaben zu emanzipieren, und desto wichtiger werden die i.e.S. literarischen Vorgaben. Hierin unterscheiden sich vormoderne und moderne Literatur. Allerdings ist der Unterschied ein gradueller: Ebensowenig wie literarische Texte je ohne die historisch spezifischen Formen literarischer Darbietung, in deren Tradition sie stehen, erklärbar sind, ebensowenig können sie abgelöst von ihrem weiteren kulturellen Kontext verstanden werden, dem sie ihre Faszination verdanken. Dieses Buch versucht, in Erzähltexten aus der Zeit um 1200 rekurrente Erzählkerne und Problemkonstellationen auszumachen, die als Konfigurationen solcher kultureller Vorgaben (,Kulturmuster') gelten können. Z u fragen ist nach den unterschiedlichen Weisen, in denen diese literarisch produktiv werden und nach den Grenzen, die sie literarischer Imagination ziehen. Literarische Texte werden als Elemente der Episteme einer historischen Kultur aufgefaßt, an deren Themen und Strukturen sie teilhaben, die sie aufrufen und verändern, die sie unter bestimmten Gesichtspunkten perspektivieren und deren Alternativen sie durchspielen. Die Literatur ist ein unter spezifischen Bedingungen stehender Teilbereich des kulturellen Imaginären, der mit anderen Teilbereichen in Austausch steht. Sie hat unter den
Ich habe das P r o g r a m m erstmals in einem Vortrag v o r dem Historischen K o l l e g (München) entwikkelt, das mein Projekt durch ein einjähriges Stipendium g e f ö r d e r t hat. D e r Vortrag liegt in J . - D . M ü l ler (2004b) vor. D i e vorliegende Einleitung fußt auf ihm, versucht aber, die vielfältigen an ihn sich anschließenden Diskussionen (vgl. etwa A l t h o f f , 2007, S. 42f.) und die fortschreitende Auseinandersetzung mit dem Material zu berücksichtigen.
6
Kulturmuster
-
Er^ählmuster
übrigen Diskursen freilich einen besonderen Status, insofern sie von pragmatischen Bedingungen dispensiert ist und die jeweils aufgerufenen Themen und Strukturen nach ihren eigenen Regeln konfigurieren kann. Allerdings fehlen bisher weithin die Vorarbeiten für den Nachweis der wechselseitigen Abhängigkeiten narrativer und kultureller Muster und der Einbettung der Literatur in das Imaginäre einer historischen Kultur. Daher können die folgenden Überlegungen nicht mehr als ein erster Versuch sein, der auf Revision angelegt ist. Mit der Untersuchung dieses Problems läuft man Gefahr, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Die Fachleute für einzelne Autoren und Texte werden Breite, Tiefe und Differenziertheit monographischer Analysen einklagen und die breite Berücksichtigung der jeweiligen Spezialliteratur vermissen. Literaturwissenschaftler werden einwenden, daß der Kunstcharakter literarischer Erzählungen nicht genügend berücksichtigt sei, so daß ihr innerer Zusammenhang aufgelöst und so ihre Aussageintention verfehlt werde. Umgekehrt werden Kulturwissenschaftler die Eingrenzung auf literarische Texte kritisieren. Historiker werden nach der quellenmäßigen Dokumentation der vorauszusetzenden kulturellen Konstellationen fragen. Soziologen werden die breite empirische Basis vermissen, und so wird das weitergehen. Trotzdem scheint mir gerade jenes ,Zwischen' - zwischen den einzelnen Disziplinen und ihren theoretischen und methodischen Grundlagen - die Chance zu bieten, die Leistungsfähigkeit eines dezidiert literaturgeschichtlichen Ansatzes im Rahmen allgemeiner kulturwissenschaftlicher Fragestellungen zu erproben und mittels Analyse einzelner Beispiele und Problemkomplexe über die totgelaufene Debatte über Sinn oder Unsinn eines ,cultural turn' der Literaturwissenschaft hinauszukommen. In der Tat fällt es schwer, den genauen Ort des Vorhabens zu bestimmen. Vielleicht ließe er sich am ehesten in einer literaturwissenschaftlichen Spielart der Historischen Anthropologie lokalisieren, indem nach Status und Bedeutung literarischer Texte in einer historischen Kultur gefragt werden soll/ Das bedeutet nicht, daß literarische Texte in dem Sinne als ,Quellen' betrachtet werden, daß man ihnen umstandslos Erkenntnisse über anthropologische Konstellationen und historische Mentalitäten entnehmen kann und der Text bloß als Beleg außertextueller Sachverhalte aufgefaßt wird. Die Untersuchung geht vielmehr von der Differenz der Literatur zu anderen Texten, Diskursen und sonstigen kulturellen Manifestationen aus. Damit sollen Bedenken gegen eine kulturwissenschaftlich interessierte Literaturwissenschaft ausgeräumt werden, die bekanntlich vor allem auf zwei Punkte zielen: die bloße Ausbeutung literarischer Texte für kulturhistorische Sachverhalte sowie die Nivellierung aller Texttypen, ja Zeichenordnungen, zu einem einzigen kulturellen Text.' 2
'
Vgl. den Uberblick bei K i e n i n g (1996); die methodischen und theoretischen Möglichkeiten werden in K i e n i n g (2003) erprobt. K u l t u r als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, hg. v. D o r i s Bachmann-
7
Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
Beides ist nicht zwingend. Die Frage nach den kulturellen Kontexten literarischer Texte gehört zu den altehrwürdigsten des Faches. Ihre Dringlichkeit ist unübersehbar, denn auch die Besonderheit der literarischen Zeichenproduktion und -geltung ist abhängig von einer kulturellen Praxis, Institutionen und Formen literarischer Kommunikation, gesellschaftlichen Ordnungen, historischen Mentalitäten, Habitus, Traditionen usw., auf die sie sich beziehen und an denen sie sich abarbeiten. Auch muß, wer nach dem Zusammenhang textueller Ordnungen und den Verschränkungen historischer - literarischer und nicht-literarischer - Diskurse fragt, keineswegs unterstellen, daß diese grundsätzlich und in allem gleich und im ,kulturellen Text' die Differenzen unterschiedlicher Texttypen aufgehoben sind. Die Metapher ,kultureller Text' impliziert auch keineswegs, daß Textualität die wesentliche (oder gar einzige) Eigenschaft von Kulturen ist - sie sind in erster Linie Praxis sondern besagt allenfalls, daß kulturelle Phänomene wie Rituale, Praktiken, Institutionen und dgl. u.a. auch als Texte ,gelesen' werden können - allerdings unter Berücksichtigung ihres besonderen Status, der sie von Texten i.e.S. unterscheidet. Insofern ist vielleicht die Art, wie die Frage hier gestellt wird, neu, nicht aber der wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhang insgesamt, in den sie gehört. Zwei Dinge allerdings sind nach dem ,cultural turn' verändert. Erstens schließt die Besonderheit literarischer Texte gegenüber allen anderen Typen von Texten (im engeren wie im weiteren Sinne) nicht mehr die selbstverständliche Annahme ein, sie seien diesen prinzipiell überlegen. 4 Und zweitens kann, auch wenn man an den strukturellen wie funktionalen Differenzen unterschiedlicher Typen von ,Texten', verbalen wie non-verbalen, festhält, in kulturwissenschaftlicher Perspektive grundsätzlich jeder Typus von Zeichenensembles Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein. Die Enthierarchisierung der Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung, wie sie die Kulturwissenschaft betreibt, richtet sich gegen Rang- und Geltungsansprüche bestimmter kultureller Objektivationen (wie etwa der ,schönen Literatur') und gegen die Privilegierung bestimmter Zeichenordnungen (z.B. verbaler), doch darf sie nicht mit der Auffassung verwechselt werden, alle kulturellen Objektivationen seien gleichrangig oder gleichwertig - es gibt aufschlußreichere und weniger ausschlußreiche Phänomene - und für das Verständnis einer Kultur gleich wichtig. M e d i c k , F r a n k f u r t / M . 1996; programmatisch schon B a c h m a n n - M e d i c k (1992); vgl. zur Auseinandersetzung Müller (2000a), S. 4 6 1 - 4 6 7 . D i e Literatur zum T h e m a ist inzwischen kaum noch übersehbar, ebensowenig wie die gegen das Modell vorgebrachten E i n w ä n d e . Ich verzichte auf ausführliche D o k u m e n t a t i o n und verweise auf die A n g a b e n bei Friedrich (2007), S. 9 9 - 1 0 1 sowie die Uberlegungen v o n K i e n i n g (2007), S. 7 7 - 8 1 . 4
In der Mediävistik findet sich diese A n n a h m e gelegentlich in der F o r m , daß den schlichtesten Schwänken oder anspruchlosesten N a c h l ä u f e r n des höfischen R o m a n s ein höheres Erkenntnispotential zugeschrieben wird als theologischen oder philosophischen D i s k u r s e n und daß ,Fiktionalität' als hinreichende B e d i n g u n g für die Überlegenheit dieses Potentials gegenüber sachbezogenen Texten aller A r t angesehen wird. 8
Strukturen des Imaginären D i e folgenden Studien sind also eindeutig literaturwissenschaftlich interessiert (was bedeutet, daß sie einen Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher literarischer Texte leisten wollen), suchen freilich literarische Texte als A n t w o r t auf den historischen K o n t e x t , in dem sie entstehen, zu lesen. Sie fragen nach rekurrenten Erzählmustern, Erzählkernen und Problemkonstellationen in literarischen Texten, die offensichtlich innerhalb der mittelalterlichen K u l t u r eine besondere Faszination ausübten. D i e grundlegende T h e s e ist, daß hinter ihnen kulturspezifische Interessen und Impulse stehen, die über die Literatur hinausreichen, die aber in literarischen Verarbeitungen besonders produktiv werden.' Dabei stehen weniger wie in älteren sozialgeschichtlichen
Untersuchungen
thematische Konstellationen
(wie
z . B . die Herrschaftsordnung) und deren mehr oder weniger enge Verwandtschaft mit alltagsweltlichen Inhalten im V o r d e r g r u n d ' als v o r r a n g i g die narrativen K o n figurationen,
in denen sie vermittelt sind. D i e soziale Umwelt ist immer schon in
solchen K o n f i g u r a t i o n e n imaginär angeeignet, wobei es - dies wird im folgenden auszuführen sein - ein K o n t i n u u m zwischen rudimentären alltagsweltlichen A n e i g nungen und deren elaborierten literarischen A u s f o r m u n g e n gibt."
Strukturen des Imaginären U m diesen Z u s a m m e n h a n g darzustellen, scheint mir das nicht auf die Literatur eingeschränkte K o n z e p t des Imaginären, wie es Castoriadis entwickelt hat, am weitesten ausgearbeitet zu sein. Castoriadis nennt das G e s a m t der Muster und Modelle, Einen ähnlichen Ansatz entwirft Müller-Funk (2002), vgl. allgemein S. i4f. S o wurden insbesondere in der F o r s c h u n g der 1970er J a h r e Phänomene wie ,Landesherrschaft', , F ü r s t e n h o f , ,soziale Mobilität' und , L e b e n s f o r m e n ' (Borst) aller A r t in ihren literarischen und außerliterarischen Manifestationen untersucht und nach beider Verhältnis gefragt. Einen vergleichbaren Ansatz, wenn auch auf einer anderen E b e n e , v e r f o l g t Haferland (2005), wenn er die alltagspraktische F u n d i e r u n g des Verfahrens metonymischer Rede herausarbeitet. E r zeigt, daß der B e g r i f f . M e t o n y m i e ' nicht auf den rhetorischen Tropus eingeschränkt werden kann, sondern der Tropus immer schon auf eine „ v o r a u s l a u f e n d e P r a x i s " zu beziehen ist (S. 326). Schon in dieser Praxis gibt es (die für die rhetorische Figur der M e t o n y m i e konstitutiven) Kontiguitätsbeziehungen: D i e K r o n e z . B . bedeutet nicht nur in einem literarischen Text Herrschaft oder Herrscher, sondern sie kann schon in der Regierungspraxis metonymisch für sie/ihn eintreten, ähnlich wie die Votivgabe für den Spender/den G e g e n s t a n d oder das Ziel der Weihehandlung eintritt. D i e metonymische Zeichenrelation ruht ursprünglich also auf Beziehungen zwischen den Referenzobjekten selbst, den G e g e n ständen der Alltagswelt und ihrer Wahrnehmung auf. „ E r z ä h l u n g e n sind kognitive Repräsentationen der Welt und nicht die Welt selbst; man spricht deshalb v o n erzählter Welt. F ü r diese gelten zunächst einmal die Wahrnehmungskonventionen, die auch für die Wahrnehmung der wirklichen Welt gelten" (S. 344). Mit Metonymien verbindet sich „eine basale kognitive Operation [ . . . ] , die dafür sorgt, daß in einem realen Z u s a m m e n h a n g stehende Entitäten auf unterschiedliche Weise füreinander eintreten oder stehen können. G a n z e Realitätsbereiche werden auf diese Weise erschlossen, und kulturelle Praktiken nutzen dies f ü r sich a u s " (S. 536). In ähnlicher Weise soll hier versucht werden, die Beziehungen zwischen alltagsweltlichen Problemkonstellationen und literarisch entfalteten Erzählkernen zu untersuchen.
9
Einleitung. Zur Historizität von Er^ählkernen in denen Wirklichkeit angeeignet, interpretiert und strukturiert wird, das .gesellschaftlich Imaginäre'. Damit setze ich mich v o n der üblichen literaturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs ab. In der Literaturwissenschaft wird er überwiegend als ästhetische Kategorie verstanden. Vor allem wird er auf den Bereich einer vorkünstlerischen Phantasie angewendet, die gewissermaßen noch nicht zur Form (der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst) gefunden hat. In diesem Sinne macht Iser der Terminus zur Grundlage seiner Fiktionstheorie. In deren erstem Entwurf spezifizierte er das Imaginäre als Tagträume, Phantasiewelten, Wunschprojektionen und dergleichen, 8 und noch in der ausgeführten Buchfassung erscheint die Genealogie des Imaginären als Geschichte der Einbildungskraft. 9 Erst gegen Ende des ihr gewidmeten Abschnitts erweitert Iser die Fragestellung auf das gesellschaftlich Imaginäre' in einem umfassenden Sinne. Isers Position ist repräsentativ: Das Imaginäre erscheint in der Regel als Stoff literarischer Imaginationen, der noch nicht zur Form gefunden hat, oder aber als Inbegriff von Phantasiewelten: Himmel, Hölle, Paradies, nicht-wirkliche oder virtuelle Welten.' 0 Dagegen findet in den Literaturwissenschaften im allgemeinen der Anteil des Imaginären an der Konstitution von Alltagswirklichkeit geringere A u f merksamkeit, d.h. also alle Arten von .gedachten Ordnungen', von vorreflexiven Einstellungen, v o n Selbst- und Fremdbildern, von Wertungen und Hierarchien, von Wünschen und Begehren, Vorlieben und Phobien u s w . " Diese können sich zwar auch phantasmatisch in Jenseitsvorstellungen, Utopien, Tagträumen und dergleichen niederschlagen (und auf diesem Weg wieder literarisch produktiv werden), zunächst aber strukturieren sie Alltagserfahrung sinnhaft, verschaffen Institutionen ' '
"
Iser (1983), S. i23f.; 481-483; um diese geht es auch bei Caillois (1966); vgl. Jauß (1994), S. 37of. zum Imaginären als „Potential einer Selbstüberschreitung", die über „ästhetische Erfahrung" hinausreicht. Iser (1991), S. 2 9 2 - 4 1 1 . - Ricoeur (1996), S. 1 1 9 hat daraufhingewiesen, daß auch Hayden White die ,Einbildungskraft' als eine zentrale Kategorie seiner Metahistory ansieht, d.h. den schöpferische Umgang mit den Daten archivalischer Forschung. Das ist im folgenden nicht gemeint. Vielmehr geht es um die narrativen Apperzeptionsschemata, unter denen derartige Daten allererst zu Daten werden, nicht deren nachträgliche historiographische Darstellung. So etwa bei Hartmut Böhme: Himmel und Hölle als Gefühlsräume, in: Emotionalität (2000), S. 60-81. Der hier vorgeschlagene Begriff ist weiter als der Begriff des Imaginären bei Foucault. Auch Foucault stellt fest: „ E s ist daher nicht möglich, das Imaginäre als umgekehrte Funktion oder als Anzeichen der Verneinung der Wirklichkeit zu definieren. Zwar entfaltet es sich problemlos auf dem Grunde einer Abwesenheit, und vor allem in ihren Lücken oder in den Zurückweisungen, die sie meinem Wunsch entgegensetzt, wird die Welt zurückverwiesen an das, was ihr zugrunde liegt. Doch durch sie offenbart sich auch der der ursprüngliche Sinn der Wirklichkeit; daher kann von seiner Beschaffenheit her dieser Sinn nicht Ausschluss des Imaginären sein [.·.]· Das Imaginäre ist nicht ein Modus der Irrealität, sondern eben ein Modus der Aktualität" (S. i6jQ, doch lenkt das Interesse der Abhandlung am Traum die Argumentation auf die Aspekte des Imaginären, die nicht in der Wirklichkeit aufgehen. Foucault interessiert die „Anthropologie des Traums" als Beitrag zu einer „ A n thropologie der Imagination" (S. 145); „jeder Akt der Imagination verweist implizit auf den Traum. Der Traum ist keine Modalität der Imagination; er ist deren erste Bedingung der Möglichkeit" (S. 162).
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Strukturen des Imaginären
ihre Legitimation, treiben kollektiven Bewegungen ihre Anhänger zu, lenken Z u stimmung oder Ablehnung, kurz, sie sind - hier besteht eine enge Verbindung - an der ,gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit' (Berger/Luckmann, 1969) beteiligt; ohne sie ist das gesellschaftliche, politische, ökonomische, kulturelle Leben nicht denkbar. Der soziologische Aspekt des ,Imaginären' wurde von Castoriadis (197 5/1997) ausgearbeitet, doch findet der Begriff sich schon vorher in einem lockeren Gebrauch. Mit „l'imaginaire" faßte vor allem die Schule der ,Annales' ihr Bemühen um mittelalterliche ,Mentalitäten' zusammen. 12 ,Mentalität' umschließt ganz unterschiedliche Phänomene, von Gefühlen und Sinneswahrnehmungen über Denkklischees und Annahmen über den Weltlauf bis zu Glaubensinhalten, weltanschaulichen Ansichten und Wertorientierungen, von Alltagswissen über stereotype Verhaltensregeln und -normen bis zur öffentlichen Meinung, so daß unter dem Dach der Schule die unterschiedlichsten Fragestellungen der Statistik wie der Geistesgeschichte, der Medienanalyse wie der Geschichte des Körpers usw. ihren Platz fanden. Der Begriff des Imaginären ist hinreichend weit, um dies alles abzudecken. Gemeinsam ist die Opposition zur Faktengeschichte; dies schließt ein, daß letztlich an einer Dichotomie zwischen ,Realem' und ,bloß Vorgestelltem' festgehalten,' 5 d.h. das Imaginäre, anders als bei Castoriadis, nicht als konstitutives Aloment von Realität verstanden wird. Dieses weite Programm erfordert freilich eine Differenzierung zwischen Quellentypen und Geltungsbereichen. Dies betrifft vor allem literarische Texte. Sie wurden zwar auch zu den Quellen der Mentalitätsgeschichte gezählt, jedoch ohne ihre spezifische Leistung in Rechnung zu stellen. Allenfalls galten sie als weniger zuverlässig als andere Quellen, z.B. Alltagsdokumente, da sie ,außergewöhnliche' Problemkonstellationen thematisierten.' 4 Dieser Einwand gilt aber nur solange, als 12
11
'4
Z u m älteren vorterminologischen G e b r a u c h in der Mentalitätsgeschichte z . B . D u b v ( 1 9 7 8 / 1 9 8 1 ) ; die frz. E n t s p r e c h u n g für „Weltbild des F e u d a l i s m u s " lautet « l'imaginaire du feodalism »; vgl. ders.: Histoire des mentalites, in: L'histoire et ses methodes (Encyclopedic de la Pleiade 1 1 ) , Paris 1 9 6 1 , S. 9 6 1 - 9 6 5 ; ders./ G u y Lardreau: Geschichte und Geschichtswissenschaft. D i a l o g e , F r a n k f u r t 1982, S. 2 4 t Patlagean (1978/1994) sowie L e G o f f ( 1 9 8 ; ) . - Z u m wissenssoziologischen Fundament: Oexle (1981). S o in Patlageans Z u s a m m e n f a s s u n g (1978/1994) - trotz aller O f f e n h e i t und Weite des K o n z e p t s der Imaginären. Sie spricht von der „ G r e n z l i n i e " , die das Imaginäre „ v o m Realen scheidet" (S. 244), wobei diese „ G r e n z e zwischen dem Realen und dem I m a g i n ä r e n " (S. 260) als historische Variable untersucht werden soll. Entsprechend führt sie als E r s c h e i n u n g s f o r m e n des Imaginären v o r allem „ M y t h e n und B r ä u c h e [ ] " , Glaubensvorstellungen, „Weltbild[er]", K u n s t , Aberglauben, Fabelwesen, „Wünsche und Phantasmen", „ D ä m o n e n " , „ E i n s t e l l u n g e n zu K r a n k h e i t und T o d " , „ M ä r c h e n und S a g e n " und dgl. auf (S. 246f.; 2 5 2 - 2 5 7 ; S. 264) und übernimmt L e G o f f s Unterscheidung zwischen Volks- und Gelehrtenkultur (von denen der letzteren o f f e n b a r ein angemesseneres Wirklichkeitsverständnis unterstellt wird, während die erste in der Trivialkultur bis an die Schwelle der M o d e r n e fortlebt). A u c h das „gesellschaftlich I m a g i n ä r e " (S. 262) sucht sie eher in Atavismen der G e g e n w a r t s kultur. Vg'· J . - D . Müller (1986a), S. 63 zu Formulierungen von G e o r g e s D u b y , z . B . in: L e chevalier, la femme et le pretre. L e marriage dans la France feodale, Paris 1 9 8 1 , S. 439.
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Einleitung:
Zur Historizität
von
Er^ählkernen
man in literarischen Werken unmittelbar Auskunft über das zu einer Zeit Gedachte oder Imaginierte sucht und sie mit dem anderwärts kollektiv Gedachten und Imaginierten vergleicht, statt die Literatur als dessen fingierende Verarbeitung zu verstehen. Offensichtlich müßte, im allgemeinen und in jedem Einzelfall, die Stellung von Literatur im Kontext zeitgenössischer Diskurse und ihr Verhältnis zu ihnen geklärt, nicht aber diesen ein höherer Grad an ,Wirklichkeit' zugeschrieben werden, an dem dann derjenige literarischer Fiktion gemessen wird. Auf diese Weise wird eine Dichotomie festgeschrieben, die eine Theorie des Imaginären doch gerade überwinden müßte. Offensichtlich konfigurieren literarische Texte das Imaginäre anders, aber deshalb nicht weniger zuverlässig als sonstige Texte. Das kollektiv Gedachte und Imaginierte ist ein plurale tantum. Angesichts der vielfältigen und genau gearbeiteten Studien zu historischen Mentalitäten ist das Fehlen einer Theorie, die seine unterschiedlichen Erscheinungsformen einander zuordnet, besonders mißlich. Es müßte zwischen unterschiedlichen, textuellen und nicht-textuellen Quellentypen differenziert werden, zwischen unterschiedlichen Geltungsbereichen und unterschiedlichen pragmatischen Rahmungen, und es bedarf besonderer methodischer Vorkehrungen, wenn man literarische Texte als Zeugnisse des kollektiv Imaginären heranzieht. 1 ' Literarische Texte sind imaginäre Ordnungen zweiten Grades; d.h. sie sitzen auf imaginären Ordnungen ersten Grades auf, zitieren sie, überführen sie in besondere Konfigurationen, erproben ihren Spielraum, pointieren ihre blinden Flecken oder Widersprüche und wirken auf sie zurück. Sie unterscheiden sich von sonstigen Artikulationen des gesellschaftlich Imaginären, dadurch daß sie an besondere Gattungsmuster und Diskurstraditionen gebunden sind. Auch diese sind Teil des Imaginären einer historischen Epoche und müßten als besonderer Bereich ihres outillage mental beschrieben werden. 16 In der Mentalitätsgeschichte wird der Begriff des Imaginären eher umgangssprachlich gebraucht. 17 Terminologisch ist er dagegen bei Castoriadis. Castoriadis betrachtet das Imaginäre im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie als gesellschaftli"
,6 17
Dieses Problem ist in der historischen Mentalitätsforschung bis heute nicht gelöst, indem literarische Texte als eine Quellengattung unter gleichartigen anderen herangezogen werden; vgl. grundsätzlich Peters (1985), insbes. i82f. J.-D. Müller (1986a), S. 63; vgl. Peters (1999a), S. 66. Das Programm einer Erforschung von ,Mentalitäten' wurde von der Annales-Schule der bis dahin dominierenden Erforschung der .harten Fakten' entgegengesetzt (wozu neben Ereignisgeschichte auch Personen-, Sozial-, Wirtschafts-, Verfassungsgeschichte und dgl. gehörte). Die Mentalitätsgeschichte richtete sich zunächst vornehmlich auf die .weichen' Strukturen der Gefühle, Weltbilder, Alltagshabitus, in denen jene Geschichten erlebt, modelliert und verarbeitet wurden. Sie etablierte sich neben diesen Partialgeschichten als ein besonderer, zusätzlich zu untersuchender Bereich. Der Theorie des Imaginären hält dagegen fest, daß keine Institution, keine politische und soziale Ordnung, keine ökonomische Struktur usw. ohne imaginäre Anteile auskommt. Ihr geht es also nicht um eine Komplementärgeschichte, sondern um die unauflösliche Verklammerung des ,Realen' und des ,Imaginären'. 12
Strukturen des Imaginären che Institution. E r arbeitet mit einem weiten Institutionenbegriff,' 8 der jede A r t v o n gesellschaftlicher Modellierung einschließt. Solche Modellierungen
,lehnen'
sich an die natürliche Ausstattung des Menschen und seine natürlichen Lebensbedingungen ,an'.' 9 „Naturtatsachen" ,regen' eine bestimmte imaginäre Bedeutung ,an', sind aber weder deren notwendige noch ihre hinreichende B e d i n g u n g (S. 386). E s gibt keine „gegebene[ ] und angebbare[ ] Organisation der N a t u r , die die G e sellschaft nur zu übernehmen hätte". 2 0 Alle gesellschaftlichen Institutionen, Gesetze, F o r m e n der Organisation und alles gesellschaftliche Handeln sind daher immer durch das Imaginäre modelliert. 2 1 D a m i t hat das Imaginäre mehr Realitätsgehalt als das „ R e a l e " (S. 242). E s ist weder nichtige Illusion 2 2 noch funktional auflösbar, sondern „eine A r t ursprünglicher Besetzung der Welt und des Selbst mit einem S i n n " (S. 220). 23 Castoriadis nennt imaginäre Vorstellungen eine „, kohärente D e f o r m a t i o n ' des Systems der Subjekte, Objekte und ihrer Beziehungen", den „unsichtbaren Z e m e n t , der den ungeheuren Plunder des Realen, Rationalen und Symbolischen
zusammenhält"
(S. 246). 24 Symbolische Ordnungen sind nicht abgelöst von ihren materiellen Vor-
|S
Ausdrücklich Castoriadis (1975/1997), S. 187. Z u r begrifflichen Differenzierung von .Institution', jlnstituierung', ,Institutionalität' und ,Instituelle Mechanismen' Rehberg (1998), S. } 86f.
19
Vgl. Castoriadis (1975/i997), S. 385-398; 481 f. S. 388. Hier setzt sich Castoriadis auch deutlich v o m Marxismus ab (vgl. S. 213). ,Naturtatsachen' sind also nicht als unveränderbare, determinierende Substanz zu verstehen. Aber sie sind auch mehr als „triviale physikalisch-biologische B e d i n g u n g " , nämlich zu verstehen als „logisches Fundament, als jener Haken, an den die gesamte mengentheoretische Organisation der Wirklichkeit [...] anknüpfen muß, als Festlegung jener Markierungen, ohne die sich die imaginären Bedeutungen nicht auf irgend etwas beziehen könnten" (S. 387). Trotzdem, das „einzige, was an den menschlichen Bedürfnissen seit drei Millionen Jahren nicht gesellschaftlich definiert ist, ist die ungefähre Menge von Kalorien am Tag und eine annähernd gegebene qualitative Zusammensetzung" (S. 443).
20
21
„Jenseits der bewußten Tätigkeit der Institutionalisierung finden die Institutionen ihren Ursprung im gesellschaftlich Imaginären. Dieses Imaginäre muß sich mit dem Symbolischen verschränken, weil sich die Gesellschaft sonst nicht hätte ,sammeln' können, muß aber auch mit dem ÖkonomischFunktionalen verbunden sein, weil sie sonst nicht hätten überleben können. [...] [OJhne es bliebe die Bestimmung des Symbolischen ebenso wie die des Funktionalen unvollständig und letztlich unverständlich. [...] D i e Institution ist ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz, in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen miteinander verbinden" (S. 22 5 f.).
"
Insofern ist das Imaginäre nicht „die phantasmatische L ö s u n g aller Widersprüche" (S. 228). Mit dieser Feststellung wird die Materialität der gegenständlichen Welt nicht aufgelöst, sondern es werden lediglich ihre die Materialität überschießenden mit Bedeutung besetzten Dimensionen fokussiert. In diesem Sinne spricht Kraß (2006), S. 9 vom ,,Imaginäre[n] der höfischen K l e i d u n g " . Kraß nennt „die höfisch-ritterliche Gesellschaft des Hochmittelalters" einen „Musterfall einer .imaginären Institution'" im Sinne von Castoriadis (S. 14).
21
24
„ D i e realen, individuellen und kollektiven Handlungen - Arbeit, K o n s u m , K r i e g , Liebe, Gebären und die zahllosen materiellen Produkte, ohne die eine Gesellschaft auch nicht einen Augenblick lebensfähig wäre, sind keine Symbole [...]. A b e r beides, die Handlungen und die Produkte, wären außerhalb eines symbolischen Netzes unmöglich. [...] Die Institutionen lassen sich nicht auf das Symbolische zurückführen, doch können sie nur im Symbolischen existieren" (Castoriadis, 1975/ 1997, S. i99f.)·
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Einleitung: Zur Historizität von Er^ählkernen aussetzungen verstehbar, aber niemals durch diese determiniert. Sie sind niemals vollständig ,rational', noch gehen sie je vollständig in ihren gesellschaftlichen Funktionen auf; sie enthalten etwas Überschüssiges, eine „imaginäre K o m p o n e n t e " (S. 2 1 7 ) . D a s gesellschaftlich Imaginäre bezeichnet Castoriadis insgesamt als „ M a g m a " , w o m i t er seine Vielgestaltigkeit und Nicht-Systematisierbarkeit meint. D i e Metapher des Magma 2 6 ist insoweit problematisch, als das Imaginäre eben keine gestaltlose Masse ist, sondern ein „gegliedertes B e z i e h u n g s s y s t e m " (S. 245). 27 Dieses befindet
sich allerdings in dauernder Transformation, ist deshalb nie als Gesamt-
struktur beschreibbar, 2 8 sondern setzt sich aus vielerlei Teilstrukturen zusammen, die untereinander überwiegend unabgestimmt sind und sich in sich selbst wie in ihrem Verhältnis zueinander unablässig verschieben und u m f o r m e n . Dabei sind unterschiedliche T y p e n des Imaginären erkennbar, festere und unbestimmtere, realitätsmächtige und phantasmatische. Sie lassen sich weder systematisieren noch hierarchisieren, und ihre Anzahl in einer bestimmten K u l t u r dürfte unübersehbar sein. A u s globaler Perspektive trifft die Metapher M a g m a also zu, während in bezug auf bestimmte Wirklichkeitsbereiche und T y p e n durchaus strukturierte E i n heiten zu unterscheiden sind. D a s gesellschaftlich Imaginäre ist R a h m e n individueller Imaginationen. E s ist weit umfassender als die „individuellen imaginären B e d e u t u n g e n " , hat „keinen bestimmten O r t " und kann nur indirekt ermittelt werden. Individuelle Imaginationen k n ü p f e n an das instituierte Imaginäre an, sollen sie nicht rein private Phantasmen bleiben. D a s individuell Imaginäre ist nicht unabhängig v o m gesellschaftlich Imaginären, so wenig wie die Wahl einer Sprache „ i m freien B e l i e b e n " steht, ohne daß deshalb die Sprecher „der Sprache bedingungslos ausgeliefert [wären] und [...] immer nur sagen [könnten], was sie uns sagen läßt. Z w a r können wir niemals aus der Sprache heraustreten, aber unsere Beweglichkeit in der Sprache kennt keine Grenzen und erlaubt uns alles, auch die Sprache selbst und unser Verhältnis zu ihr, in F r a g e zu stellen" (S. 216).
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*7 28
„ E i n Symbol drängt sich weder mit Naturnotwendigkeit auf, noch kommt es ganz ohne inhaltlichen Bezug zum Realen aus" (S. zoi). „Die Gesellschaft konstituiert ihren Symbolismus, doch nicht in völliger Freiheit. E r benutzt das bereits vorliegende, natürliche und geschichtliche Material als Anknüpfungspunkt; schließlich hat er auch teil am Rationalen. [...] So wird der Symbolismus von einer Gesellschaft weder frei gewählt noch ihr aufgezwungen" (S. 215). S. 310; Es wird definiert als „nicht-mengenförmige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit"; vgl. S. 385; 398; 408. Auch von den „Vorstellungen" des Individuums heißt es, sie seien „keine Menge bestimmter und wohlunterschiedener Elemente, aber auch keineswegs reines Chaos" (S. 530). „In diesem Magma gibt es verhältnismäßig breite Ströme, Knotenpunkte, eher klare und eher düstere Zonen, Gesteinsbrocken im flüssigen Ganzen. Aber das Magma kommt zu keinem Stillstand, hebt und senkt sich unablässig, verflüssigt das Feste und verfestigt, was beinahe nichts war" (S. 409).
Η
Strukturen des Imaginären Literarische Imaginationen finden nicht Castoriadis' besondere A u f m e r k s a m k e i t . Sein B e g r i f f des Symbolischen 2 ' schließt allerdings, ohne daß das expliziert würde, die Literatur ein. Formulierungen wie „ D a s gesellschaftliche Imaginäre ist in erster Linie S c h ö p f u n g v o n Bedeutungen und S c h ö p f u n g v o n Bildern und Figuren, die sie tragen" (S. 399), deuten darauf hin, daß Castoriadis auch die K ü n s t e im A u g e hat. Insofern lassen sich im Sinne Isers „literarische Fiktionen als spezifische E r scheinungsformen der imaginären Institution auffassen". 3 0 D a s Verhältnis des literarischen zum gesellschaftlich Imaginären bedarf aber näherer Bestimmung. Literatur ist eine S o n d e r f o r m des Imaginären. Literatur gibt nicht nur den ungeformten Produkten der E i n b i l d u n g s k r a f t Gestalt,'' sondern sie bezieht sich auf alle E r scheinungsformen des gesellschaftlich Imaginären. Literarische Imaginationen haben an ihnen teil, nehmen mehr oder weniger deutlich auf sie B e z u g und verdichten sie im einzelnen Werk. Sie sind allerdings von materiellen Vorgaben und den pragmatischen Z w ä n g e n gesellschaftlichen Handelns mehr oder weniger entlastet. In literarischen Texten kann sich deshalb das Imaginäre ungehinderter entfalten, doch gilt das nur relativ im Verhältnis zu anderen E r s c h e i n u n g s f o r m e n des Imaginären und ist überdies v o n den historisch unterschiedlichen Spielräumen literarischer Imaginationen abhängig. Fundamentales Unterscheidungskriterium des literarisch Imaginären ist seine Fiktionalität. Fiktionalität bedeutet den bewußten, v o n pragmatischen
Zwängen
entlasteten Einsatz v o n Fiktionen. E s gibt G r a d e des Fingierens; Fingieren ist skalierbar.' 2 D i e Institutionentheorie hat herausgearbeitet, daß „ O r d n u n g s b e h a u p 19
Präzisiert bei R e h b e r g (1998), S. j8yf.: ,„Institutionen' werden als .symbolische O r d n u n g e n ' betrachtet, genauer gesagt: das Spezifische der institutionellen Stabilisierungsleistungen wird in der symbolischen Darstellung v o n Ordnungsprinzipien [...] gesehen: .Symbolizität' meint die prinzipielle (anthropologische) Gegebenheit v o n Verweisungssystemen in allen Modalitäten und F o r m e n des menschlichen Lebens. [ . . . ] Somit sind alle menschlichen Erscheinungsweisen, auch seine Handlungsvollzüge - genereller gesagt: ist die Welt - grundsätzlich symbolisch vermittelt. Daraus folgt für alle kulturwissenschaftlich verfahrenden Ansätze, daß die A n n a h m e einer grundsätzlichen ,Svmbolizität' der menschlichen Lebensweise zum A u s g a n g s p u n k t jeder Methodik des Verstehens wird. [ . . . ] [D]ie symbolische Dimension sozialer Beziehungen [meint] alle sichtbaren und verkörpernden Verweisungen über die Situation hinaus. [ . . . ] D a r a n zeigt sich, daß die B e t o n u n g der Svmbolisierungsleistungen nicht meint, Institutionen seien ,nur' zeichenhaft, wohl aber, daß jede . O r d n u n g ' eine - mehr oder weniger ausgeprägte - institutionelle F o r m hat, die sich in materiellen Zeichen ausdrücken kann, aber ebenso in jeder regulierten H a n d l u n g , in Gesten, Persönlichkeitsentwürfen, in Habitus und eingeschliffenen Sprach f o r m e n " . D i e Symbolisierungsleistungen der K ü n s t e sind in dieser Perspektive ein Spezialfall.
K r a ß (2006), S. iS; vgl. Iser ( 1 9 9 1 ) , S. 3 5 0 - 3 7 7 . D a s Imaginäre ist also nicht ein Drittes ,zwischen' der .Literatur' und dem .Realen' (hierzu die Kritik von Kablitz, 2003), sondern ein A s p e k t der gesellschaftlichen Realität selbst, nämlich I n b e g r i f f der Prinzipien und Strukturmuster, die nicht aus ihren materiellen B e d i n g u n g e n ableitbar sind, diese aber in historisch spezifischer Weise formen, die, als ganze betrachtet, ein . M a g m a ' scheinen, jedes für sich aber durchaus gestalthaft sind. Die Konstellationen des gesellschaftlich Imaginären sind allerdings d u r c h w e g weniger d u r c h g e f o r m t , o f f e n e r , fragmentarischer als die Strukturen eines literarischen Textes. >! J . - D . Müller (2004c). ''
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Einleitung: Zur Historizität
von Er^ahlkernen
tungen" und „Geltungsansprüche" gleichfalls auf Fiktionen beruhen, die sie erst faktisch wirksam werden lassen." Diese Einsicht befreit die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätsdebatte aus ihrer oft sterilen Isolation und löst eine Reihe von Scheinproblemen,' 4 stellt ihr allerdings die Aufgabe, die unterschiedlichen Formen und Typen des Fingierens, die Bestandteil literarischer Fiktionen sein können, voneinander abzuheben. A n den Extrempunkten stehen einerseits Fiktionen im Sinne von Realitätsannahmen, die Bedingungen erfolgreicher Praxis sind (z.B. nehme ich für die nächsten Monate eine bestimmte Verfassung des Marktes an, um einen finanziellen Gewinn zu erzielen), andererseits Fiktionen im Sinne einer Aufhebung üblicher Realitätserwartungen („suspended disbelieve"), um mich aus meiner Alltagspraxis zu lösen (z.B. klammere ich mein Wissen ein, daß Tiere nicht sprechen können, wenn ich das Märchen vom Rotkäppchen lese). Dazwischen aber liegt ein kaum übersehbares Feld wissenschaftlicher, religiöser, rechtlicher, sozialer, institutioneller usw. Fiktionen, die für das Funktionieren menschlicher Praxis unabdingbar sind, die — jenseits eng alltagspraktischer Bezüge - zu imaginären Ordnungen einer historischen Kultur zusammenschießen und die deshalb auch in literarische Fiktionen eingehen." Es können mehr oder weniger verifizierbare, mehr oder weniger als gültig angesehene Annahmen über den Lauf der Welt Gegenstand literarischer Weltentwürfe werden. Durch sie sind diese mit dem Imaginären einer historischen Epoche verknüpft. Insofern ist nämlich das literarisch Imaginäre zwar kategorial, doch keineswegs faktisch so fundamental vom gesellschaftlich Imaginären geschieden, wie dies die Literaturtheorie manchmal glauben machen will. Indem im folgenden literarische Texte im Zentrum der Untersuchung stehen - Texte historisch spezifischer Typen von Fiktionalität also - beschränke ich mich bewußt auf diesen schma-
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"
R e h b e r g (1998), S. 406t. E i n i g e L ö s u n g s v o r s c h l ä g e in J . - D . Müller (2004c); zu nicht-literarischen Fiktionen S. z i ^ i . U m es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Tierfabeln setzen in bestimmten Hinsichten die Suspension v o n Realitätserwartungen voraus (.Tiere sprechen'), in anderen bestätigen sie diese geradezu (,der Mächtige läßt nicht mit sich reden, sondern nutzt seine Macht brutal aus'). D i e Fabel v o m Wolf und dem L a m m , die beides erzählt, ist ein fiktionaler Text, der zwei T y p e n des Fingierens mit unterschiedlichem Realitätsgehalt miteinander verbindet. A u c h der zweite Satz leitet sich nämlich aus habitualisierten Imaginationen menschlicher Gesellschaft ab; er ist nicht einfach gegeben. Deshalb läßt sich zu ihm eine möglichen Variante denken (,Ein vernünftiger D i s k u r s kann Machtverhältnisse überspielen'). A u c h diese Variante ist in einem fiktionalen Text denkbar (,Der Wolf sagt zu den G e g e n v o r s t e l l u n g e n des L a m m e s , es habe doch gar nicht das Wasser des Baches trüben können, weil es oberhalb am Bachlauf trinkt: „ D a hast du aber recht. E n t s c h u l d i g e bitte'"). A n n a h m e I bliebe dieselbe, A n n a h m e I I würde durch eine andere ersetzt. Im Truismus der Fabel v o m Wolf und dem L a m m ist also der imaginäre Charakter der zweiten A n n a h m e nur unkenntlich, weil sie einer Alltagse r f a h r u n g zu entsprechen vorgibt. D i e im folgenden diskutierten Beispiele aus der hochmittelalterlichen Erzählliteratur zeigen ihn u m s o deutlicher, je weniger sie als Realitätsbehauptungen noch akzeptiert sind (z.B. ,Wer nicht das richtige Blut hat, ist ein schlechter Mensch').
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Scripts als kulturspe^jfische Er^ählmuster len Sektor des Imaginären, den ich jedoch als integralen Teil des gesellschaftlich Imaginären auffasse.
Scripts als kulturspezifische Erzählmuster Im Bereich der erzählenden Texte gibt es zahlreiche Ubergangsformen. Alltagserzählungen und mehr noch ,Scripts' als narrative Organisationsformen von Alltagserfahrung sind zugleich pragmatisch bezogen und imaginär überformt. Der Scripttheorie' 6 kommt daher eine Art Brückenfunktion zwischen literarischer Erzählanalyse und der Analyse von Alltagserfahrung zu. .Scripts' sind mehr oder minder basale Verlaufsstereotypen, die den Charakter von rudimentären Geschichten haben.' 1 Als ,Drehbücher' sozialen Handelns und Sich-Verhaltens werden Scripts zwar jedes Mal ein wenig anders realisiert, doch liegt ihnen eine gemeinsame Matrix zugrunde. Die kognitive Psychologie hat herausgearbeitet, daß alltagsweltliche Erfahrung zu einem erheblichen Teil narrativ, d.h. in Scripts, organisiert ist. Scripts sind Gegenstand einer ihrer Spielarten, der ,narrativen Psychologie'.' 8 „ D i e Erzählung ist vor allem ein kognitiver Vorgang, der dem Verstehen dient, indem er Ereignisse und Geschehnisse in ,Bedeutungsrahmen' plaziert".' 9 Die Scripttheorie analysiert imaginäre Ordnungen, denen alltägliches Handeln folgt. Diese Ordnungen sind narrativ organisiert. Ausgangspunkt ist ein bestimmtes Problem, das routinemäßig bewältigt werden muß und daher eine bestimmte A b f o l g e von Verrichtungen erfordert. Diese A b f o l g e wird im Laufe der Sozialisation erlernt und im
''' Vgl. den Überblick bei R a l p h Müller: Script-Theorie, R L W 3, Berlin/New Y o r k 2003, S. 4 1 4 - 4 1 6 . r Bruner (1986), Part One, S. 3 - 5 4 ; (1998), S. 55, 61 u.ö.; Straub (1998), S. l o j f . ; vgl. Mandler (1984). Mandler geht es um die Organisation menschlichen Wissens. Erörtert wird die Besonderheit v o n narrativen Strukturschemata im Verhältnis zur „Categorical Structure", „ M a t r i x Structure", „Serial Structure" und „Schematic Structure". Z u letzteren, unterteilt in „ E v e n t S c h e m a s " und „ S c e n e Schem a s " , gehören „ S t o r y Schemas". Z u r Unterscheidung v o n Erzählgrammatik und Erzählschema Mandler (1984), S. 18: „story g r a m m a r " ist ein Regelsystem zur Herstellung von Erzählelementen, „story s c h e m a " eine „mental structure consisting o f sets o f expectations about the way in which stories proceed". Im folgenden geht es mir allein u m letztere. Die breite, seit den 1920er Jahren geführte Diskussion um eine , E r z ä h l g r a m m a t i k ' vorwiegend , E i n f a c h e r F o r m e n ' muß hier beiseite bleiben.
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Vgl. B r u n e r (1990), Fludernik (1996), J a h n (1997), Z e r w e c k (2002) und die dort angegebene Literatur sowie die Sammelbände Narrative T h o u g h t (1990), E r z ä h l u n g , Identität (1998), Narrative T h e o r y (2003; dort die Einleitung v o n H e r m a n mit Literaturübersicht, S. 1 - 3 0 ) ; zur Erinnerungsleistung von Erzählschemata J e a n Matter Mandler/Nancv S. J o h n s o n : Erzählstruktur und Erinnerungsleistung. F3ine G r a m m a t i k einfacher Geschichten, in: E r z ä h l f o r s c h u n g 3. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik [...]. H g . v. W o l f g a n g Haubrichs (I.ili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Beiheft 8,3), G ö t t i n g e n 1978, S. 3 3 7 - 3 7 9 · P o l k i n g h o r n e (1998), S. 17. In der germanistischen Mediävistik wurden entsprechende Ü b e r l e g u n g e n nur selten a u f g e g r i f f e n ; vgl. aber Sosna (2003), S. 28f.; allgemein zu , R a h m e n ' und ,Wissen' Minsky (1980).
17
Umleitung: Zur Historizität
von Er^äblkernen
Gedächtnis gespeichert. Sie kann bei Auftreten des Problems (Eintreten der entsprechenden Situation) abgerufen werden und bestimmt dann als ,Script' das Verhalten. Die Beobachtung und Wiedergabe des Verhaltens ergibt eine kurze E r z ä h lung', die sich von literarischen Erzählungen durch ihren unmittelbaren Wirklichkeitsbezug unterscheidet. Sie kann aber auch als ,Drehbuch' angemessenen Umgangs mit dem Problem (der Situation) beschrieben (Jedesmal wenn [ . . . ] , tut man [ . . . ] ) und in psychologischen Experimenten (,wie ordnet Proband Handlungssegmente an') überprüft werden. Die Beispiele, die den psychologischen Experimenten zugrundeliegen, sind im allgemeinen verhältnismäßig einfach (z.B. Restaurantbesuch, Einkaufen im Supermarkt und Ahnliches). 4 0 Einfach sind sie allerdings nur aus Sicht der viel komplexeren literarischen Erzählmuster, während sie sich in psychologischen Experimenten und Konzeptionalisierungen selbst als hochkomplex erweisen. Deren Differenzierung muß hier beiseitebleiben, denn mir geht es nur um eine grundsätzlich verwandte Fragestellung, insofern basale narrative Strukturierungen von Alltagserfahrung und narrative Strukturierungen literarischer Welten nur graduell unterschieden sind. 4 ' Zwar gibt es zahllose Zwischenstufen, doch grundsätzlich können narrative Strukturierungen von Alltagserfahrung als Folie literarischer Narrativierungen dienen. Ich gehe also von einer Verknüpfung (narrativ organisierter) „Echtwelterfahrungen (real world frames)" mit (narrativ organisierenden) „literarische [n] Konventionen {literary frames)" aus. Sie ist, wie die neuere (überwiegend anglistische) Narratologie gezeigt hat, auch Voraussetzung einer „Verarbeitung textueller Phänomene im Leseprozeß", 4 2 also bei der Rezeption literarischer Werke. Die für die Rezeption literarischer Texte erarbeiteten Ergebnisse stützen den hier vorgeschlagenen Ansatz, doch ist meine Untersuchungsrichtung die entgegengesetzte. Mir geht es nicht um die Formen der Verknüpfung von Textbefunden und Alltagserfahrung bei der Rezeption, sondern bei der Produktion literarischer Texte. Diese nämlich erfolgt nach bestimmten Mustern, unter den Bedingungen einer historischen Kultur. 4 3 Wahl und Besetzung literarischer Muster lehnen sich, so die These, an alltagsweltlich wirksame, narrativ organisierte Erfahrungsmuster an. Auch „written poems, stories, novels, and oral stories we tell each other" 44 sind Bestandteil der Welt, in der wir leben. Sie werden gemäß den Mustern entworfen und verstanden, in denen wir uns in dieser Welt orientieren, und sie tragen ihrerseits zur Strukturierung und Transformation solcher Muster bei. Eine „storyworld" ist nicht 40 41
41 4! 44
Doch zeichnet sich eine Tendenz zu komplexeren Erzähltypen ab: Herman (2003a), S. 4. Auch Haferland (2005), S. 346 verweist für seine Rhetorik und Praxis verklammernde Theorie der Metonymie auf die Scripttheorie. Zerweck (2002), S. 222; vgl. S. 227; Erll/Roggendorf (2002), S. 82; Fludernik (1996), S. 12. Die Bedeutung der Produktionsseite - neben der Rezeption - betont auch Haferland (2005), S. 347. Fleisher/Feldman et al., 1990, S. 1. 18
Scripts als kulturspe^ifische
Er^ählmuster
abgelöst von ihren historischen Voraussetzungen verstehbar. Der Begriff „applies both to fictional and nonfictional narrative"; es gibt ein „interface between scripts and stories". 41 Bei Produktion wie Rezeption ist immer ein Weltwissen vorausgesetzt, das jedweder Erfahrung vorausgeht, sie ordnet und strukturiert. 4 6 Dieses Weltwissen verknüpft die Elemente von Erfahrung zur Geschichte und interpretiert sie. Wie es bei der Produktion einer Geschichte im Hintergrund wirksam ist, m u ß es bei der Rezeption von Erzählungen, literarischen wie alltagsweltlichen, reaktiviert werden. Die psychischen Operationen sind beide Male in ihren Grundzügen (natürlich nicht in ihrer konkreten Gestalt) verwandt. Die Analyse jenes Weltwissens übergreift insofern Produktions- und Rezeptionsprozeß. Im Erzählen und im Verarbeiten von Erzähltem bewährt sich das Denken „as an organ for building models of the world", „schemas", die jede sinnliche Erfahrung strukturieren. 4 1 Dabei wirken individuelle und kollektive Muster zusammen. 4 8 Die Verknüpfung kann freilich unterschiedlich eng sein, und die Entfernung von dem, was ich als ,meine Welt' weiß, erheblich. Diese Entfernung wird in literarischen Fiktionen extrem ausgereizt. Der hier vorgeschlagene Ansatz erfaßt also nur bestimmte Aspekte literarischer Texte, nämlich den Hintergrund, auf den sie sich beziehen, von dem sich ihre riskanten Lösungen abheben, der diese freilich auch begrenzt. Im Unterschied zu Scripts, die den Ablauf gewöhnlicher Alltagshandlungen programmieren, haben schon Alltagserzählungen einen gewissen Auffälligkeitswert. Wo Alltagshandeln in der Regel sich in habitualisierten Modellen strukturiert, ist erzählenswert weniger das, was die erwarteten Muster erfüllt, als das, was in bestimmter Hinsicht von ihnen abweicht. 49 Schon bei ihnen kommt es also auf das Zusammenwirken von (relativ stabiler) Erwartung und (interessanter, doch noch verarbeitungsfähiger) Abweichung an. In literarischen Erzählungen sind ge41
H e r m a n (2002), S. 16 bzw. 1 1 3 .
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„ T h e mind is constantly confronted with new experiences. In purely physical terms, sensory input is always new. T h e mind, h o w e v e r , never acts, as if everything is new. Quite the contrary. It applies the models it already has to almost everything it encounters. Creativity in modeling the w o r l d is difficult, and calls f o r a significant expenditure o f cognitive e n e r g y " (Chafe, 1990, S. 8of.). „ C o g n i t i v e science provides models o f narrative competence o f producers and recipients that represent the most comprehensive available summaries o f the mental factors in the m a k i n g o f narrated worlds and stories. K n o w l e d g e o f codes, encyclopedic k n o w l e d g e , and other types o f k n o w l e d g e are necessary, but production and reception are also influenced by typical patterns o f perception, judgment, and emot i o n " ( E d e r , 2005, S. 289).
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Chafe (1990), S. 80. „Schemas, as I suggested, can be thought as structures o f expectations. Vi e expect the w o r l d to be a certain w a y " (S. 82).
4
* „To some extent these schemas will have been created by each individual mind. T o a large extent, however, they will have been supplied by the society of minds o f which that individual mind is a member. [ . . . ] Prepacked models o f the world are supplied for us above all by our cultures. [...) [T]he mind does not record the world, but rather creates it according to its o w n mix of cultural and individual expectations" (Chafe, 1990, S. 8of.).
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' Chafe (1990), S. 83.
Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
genüber Alltagserzählungen die Spielräume der Abweichung noch einmal immens vergrößert. Gleichwohl bleibt auch literarisches Erzählen, wie schwach auch immer, auf Muster angewiesen, vor denen es sich profiliert. Das zeigt sich in kognitionspsychologischen Versuchsreihen, die literarische Erzählungen einschließen. In ihnen werden die Probanden aufgefordert, eine komplexe moderne Erzählung wiederzugeben, die auf den ersten Blick gerade nicht das Gewöhnliche und Erwartbare bestätigt, sondern den Rezipienten ratlos läßt. Hier zeigte sich nun, daß Probanden auch diese Erzählung auf bestimmte, ihnen geläufige „gists" - Erzählkerne, Grundmuster - reduzieren, also das eliminieren, was ihre Besonderheit ausmacht, dagegen das herausarbeiten, was am Besonderen noch vertraut ist. 5 ° Durch diese Reduktion verformen sie jene Erzählungen zwar offensichtlich, halten sie aber andererseits an gewöhnliche Erfahrung anschließbar. Insofern spiegelt das Experiment mit nicht-schematischen Geschichten noch via negationis den Zusammenhang zwischen Kultur- und Erzählmustern, macht aber andererseits auf die wachsende Distanz aufmerksam, die die literarische Verarbeitung zu gewöhnlichen Erfahrungen einnimmt. Das Experiment mit literarischen Erzählungen zeigt allerdings auch, wie groß der Abstand zwischen professioneller literaturwissenschaftlicher Textanalyse und empirischer Rezeptionsforschung bleibt. Für den Literaturwissenschaftler sind daher die Versuchsreihen der kognitiven Psychologie mit elaborierteren Erzähltexten nur beschränkt brauchbar. Sowohl, wo sie von unterkomplexen vorliterarischen ,Scripts' ausgehen, als auch dort, wo ihnen komplexere Versuchstexte zugrundeliegen, sind die Kategorien der Analyse, gemessen an literaturwissenschaftlicher Auslegungspraxis, reduktionistisch. 5 1 Doch tangiert dies nicht das Anregungspotential derartiger kognitionspsychologischer Experimente, 5 * indem diese darauf aufmerk-
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„Whatever function they [the gists] may fill for the teller, they all seem to be in search o f some more or less abstract mythic and moral f o r m o f which the story in some measure can be treated as an instantiation. E x t r a c t i n g a gist seems to be a bit like trying to dig out a J u n g i a n archetypical f o r m that can give a m o r e universal sense to the s t o r y " (Fleisher, Feldman et al., 1990, S. 30). Freilich führt die R e d e v o n den Jungianischen Archetypen in die Irre. E s sind kulturelle Muster, die verwendet werden.
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D i e E x p e r i m e n t e v o n Fleisher, Feldman et al. (1990) basieren aus literaturwissenschaftlicher Sicht auf sehr schlichten Textanalysen. D i e A u t o r e n konstatieren in ihren Beispieltexten ein „dual patterning", „ a landscape o f consciousness and a landscape o f a c t i o n " (S. 2); diese weisen sie „ t w o kinds of narrative t h i n k i n g " zu (S. 2 1 ) . D a s ist eine recht g r o b e Unterscheidung, die aber für die Z w e c k e des Experiments reicht. Beider Verschränkung betrifft natürlich nicht nur m o d e r n e Literatur, sondern alle A r t e n v o n E r z ä h l u n g e n , auch scheinbar „simple action narratives" (S. 30). D a g e g e n läßt sich nur u m den Preis erheblicher Vereinfachung v o n zwei „ p r o t o g e n r e s " sprechen, „ o n e a classical plot structure where actions provide the constituents as in the f o l k l o r e tales analyzed by the Russian folklorist, Vladimir P r o p p [ . . . ] ; the other more inward l o o k i n g , m o r e premised on the reality o f perspective and o f a psychological w o r l d in which action is converted into subject m e a n i n g " (S. 3 1 ) .
"
D a s hat sich auch an der narratologischen R e z e p t i o n s f o r s c h u n g gezeigt, die gleichwohl um ihrer Ziele willen den Untersuchungsansatz verändern muß. D e r Leser wird nämlich dort meist nicht als empirische Person gefaßt, die nach ihren besonderen Möglichkeiten den Text verarbeitet, sondern als
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Scripts als kulturspe^ifische Er^dhlmuster sam gemacht haben, daß auch komplexe literarische Texte - wie vermittelt und indirekt auch immer - auf eine konkrete Lebenswelt bezogen sind, indem sie sich um Erzählkerne lagern, die als besonders faszinierend, problemträchtig oder lösungsbedürftig angesehen w e r d e n . " Dies rechtfertigt den Versuch, an den komplexen Verarbeitungen kulturspezifischer Erzählkerne in höfischen R o m a n e n anzusetzen. E r fragt, auf was für ein ,Weltwissen' sich diese beziehen. E r gilt einem historischen Gegenstand. In den psychologischen Diskussionen spielt die historische Modellierung einfacher Erzählmuster naheliegenderweise kaum eine Rolle,' 4 da ja nur Beispiele gewählt werden können, die den Probanden bekannt sind und die sie deshalb unschwer psychisch verarbeiten. Historisch fremde Scripts würden da stören, obwohl gerade an den Lieblingsbeispielen ,Restaurant' oder ,Supermarkt' deutlich wird, wie stark die konkrete historische P r ä g u n g - in diesem Fall ein vages Gegenwartsverständnis
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ist. E i n e historische Psychologie müßte daher auf andere T y p e n v o n Scripts zurückgreifen. A u c h die literarhistorische Analyse hat es mit ,fremden' Erzählkernen zu tun. Selbst wenn man die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und sich auf diese Weise Welt anzueignen, als ein anthropologisches Universale ansieht," muß die konkrete A u s f o r m u n g solchen Erzählens, seine „ P l o t s " und „ B e g r i f f e " , kulturspezifisch differenziert werden.' 6 „Bedeutungsstiftende, interpretative Plots werden aus einem Repertoire v o n Geschichten ausgewählt und angepaßt, das in der K u l t u r , zu der eine Person gehört, zur V e r f ü g u n g s t e h t " . " Diese grundsätzliche Einsicht ist freiein ideales Subjekt konzipiert, das die Signale des Textes in angemessener Weise aufnimmt und über das darin kodierte Weltwissen vollständig v e r f ü g t . S o wird der Leser letztlich zu einer Instanz des Textes selbst, deren Verankerung in einer historischen Lebenswelt nachrangig ist. Damit hat man sich zwar weit v o n den empirischen G r u n d l a g e n der E x p e r i m e n t e entfernt, aber deren Frageansatz für die eigenen Forschungsinteressen genutzt. "
Vgl. Herman (2003b).
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Grundsätzlich wird auf die N o t w e n d i g k e i t einer E r g ä n z u n g synchroner durch diachrone Untersuchungen verwiesen (Herman, 2002, S. 86): „ T h e reciprocal historical influence o f scripts on stories and of stories on scripts suggests the need for two complementarv approaches to n a r r a t o l o g v " (vgl. auch ders.: R e g r o u n d i n g N a r r a t o l o g v : T h e Study o f Narratively Organized Systems for T h i n k i n g , in: What is N a r r a t o l o g y ? Questions and A n s w e r s R e g a r d i n g the Status of a T h e o r y , ed. bv T o m K i n d t and Hans-Harald Müller (Narratologia 1), B e r l i n / N e w Vork 2003, S. 3 0 3 - 3 3 2 , hier S. 328 zu künftigen A u f g a b e n ) . Faktisch dominiert der erste Typus, was schon durch die experimentelle Versuchsanordnung nahegelegt wird. Die K l ä r u n g dieser Frage erforderte neurophysiologische und entwicklungspsvchologische Forschungen, die naturwissenschaftliche K o m p e t e n z e n voraussetzen. Sie kann hier o f f e n gehalten werden, indem in den uns bekannten historischen K u l t u r e n Erzählen stets zum outillage mental gehört und bestimmte kognitive Leistungen erbringt. Freilich ist Erzählen „je verschieden kulturell differenziert" (Müller-Funk, 2002, S. 20), und zwar in seinen Rollenträgern, seinen Adressaten, seinen institutionellen Voraussetzungen, seinen Strukturen wie in seinen Leistungen. P o l k i n g h o r n e (1998), S. i9f.; vgl. E r l l / R o g g e n d o r f , 2002, S. 78; 8 j f . P o l k i n g h o r n e (1998), S. 26. „ D a b e i mag jemand einfach die Rolle akzeptieren, die ihm durch jenen Plot zugewiesen wird [ . . . ] oder er mag den zugewiesenen Plot überarbeiten oder umgestalten und so eine neuartige personale Identität b e g r ü n d e n " (ebd.).
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Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
lieh vorläufig noch kaum in konkreten historischen Untersuchungen umgesetzt worden, zumal nicht in bezug auf ein kulturell spezifisches ,Weltwissen'. 58 Außerdem stehen im Fokus des Interesses der neueren Narratologie selten Probleme, die über den Horizont der literarischen Moderne hinausreichen.' 9 In dieser Hinsicht betreten die folgenden Überlegungen Neuland, mit allen Unsicherheiten und Vorläufigkeiten, die dabei zu erwarten sind. Die Untersuchung sieht sich also einem doppelten Problem gegenüber, demjenigen, an komplexe literarische Texte Fragen zu richten, wie sie bislang vor allem an vor- und außerliterarische Narrative gerichtet wurden, und demjenigen, einen an Gegenwartsanalysen bewährten Untersuchungsansatz auf historische Gegenstände zu übertragen. Sie versucht die Schwierigkeiten zu lösen, indem sie von häufig vorkommenden ,Erzählkernen' in hochmittelalterlicher Epik ausgeht, die imaginäre Konstellationen narrativ binden; von diesen wird angenommen, daß sie auf Grund ihrer Rekurrenz in verschiedenen literarischen Texten eine besondere Faszinationskraft besessen haben müssen. ,Erzählkern' nenne ich die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation (die ihrerseits ihre Wurzel in übergreifenden kulturellen Konstellationen hat) mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können. Mir scheint der Terminus glücklicher als ,Motiv'. ,Motiv' wird zwar gelegentlich in einem verwandten Sinn verwendet, 6 0 doch fokussiert der Terminus vor allem die jeweilige inhaltliche Besetzung, während es bei ,Erzählkern' auf deren narrative Entfaltung ankommt. 6 ' Ausgangspunkt bei den im folgenden erörterten Beispielen ist daher in der Regel ein Thema (z.B. ,Name') und die damit verbundene Problemkonstellation, doch geht es darum zu zeigen, wie mit dem Thema bestimmte narrative Verläufe verbunden, aus ihm gewissermaßen ,generiert' werden (,Namensuche', .Verweigerung des Namens' u.a.). Erzählkerne sind eine zeitlang literarisch produktiv und verschwinden dann weitgehend, im allgemeinen zuerst aus Alltagsdiskursen, dann auch aus der Literatur. Ich hatte dies in der programmatischen Skizze der geplanten Untersuchungen u.a.
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Fluderniks (1996; vgl. die Zusammenfassung in: Narrative T h e o r y , 2003) Stadien der Entwicklung von Erzählformen sind noch verhältnismäßig grobmaschig, vor allem nicht an historisch spezifischen Erzählinhalten interessiert, sondern an der Bedeutung v o n „natural [cognitive] parameters" fur die .Narrativierung' (S. 46), d.h. v o r allem an der v o n der Narratologie thematisierten Instanzen und Verfahren des Erzählens: Erzählstandpunkt, Erzählhaltungen, Erzählsituationen, Strategien der Informationsvermittlung und -Verarbeitung usw. (vgl. das Programm S. 4 3 - 5 2 , das die Kriterien für die verschiedenen historischen ,Stadien' des Erzählens entwickelt).
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Vgl. den Überblick bei Eder, 2003; Herman (2003a); Jannidis (2004); zur Geschichte des Ansatzes insgesamt Olson bzw. Swearingen (1990); Nünning/Nünning in: Neue Ansätze (2002), S. 2 ; . Z u r Diskussion vgl. die Zusammenfassungen bei Armin Schulz: Thema, R L W 3, Berlin/New Y o r k 2003, S. 6j4f. u. R u d o l f Drux: Motiv bzw. Motivgeschichte, R L W 2, Berlin/New Y o r k 2000, S. 638-643.
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Der Zusammenhang von beidem ist auch Gegenstand der Studie von K i e n i n g (2007), vgl. S. 81 f. 22
Protonarrative
- Einfache Formen — Mythos
am Brautwerbungsschema erläutert, das als eine Art generatives Prinzip hinter vielen mittelalterlichen Erzählungen steht, 62 außerdem an Geschichten, in denen versucht wird, die eigene Identität in Situationen extremer Erschütterung zu sichern. 6 ' Meine These ist, daß um bestimmte, kulturell distinkte Erzählkerne sich Muster mehr oder minder rudimentärer Erzählungen anschließen, die eine zeitlang literarisch produktiv sind, weil sie historisch relevante Probleme konfigurieren und Lösungsansätze durchspielen. Erzählkerne sind kulturabhängig und historischem Wandel unterworfen. Aus diesem Grund läßt sich auch ein Kontinuum zwischen schlichten Alltagserzählungen und hochkomplexen literarischen Erzählungen beschreiben. 64 Auch diese knüpfen an zeitgenössisch geläufige Muster an, wiederholen sie aber nicht einfach, sondern spielen ihre Möglichkeiten durch, variieren sie, verkehren sie, kreuzen sie mit anderen Mustern, so daß sie zum Reflexionsmedium historischer Erfahrung werden können.
Protonarrative - Einfache Formen - Mythos Gegenstand der folgenden Überlegungen sind also nicht die literarischen Texte als ganze, sondern einzelne Erzählsequenzen, die Texten unterschiedlicher Art gemeinsam sind und auf eine gemeinsame Matrix zurückgeführt werden können, die sich mithin aus einem gemeinsamen Erzählkern ableiten lassen. Wer hochkomplexe literarische Texte auf ihre gemeinsamen Matrices befragt, muß ihre Besonderheit, das, was sie unverwechselbar macht, zunächst ausblenden. Allerdings soll das nur der erste Schritt sein, denn das eigentliche Frageinteresse gilt der unterschiedlichen Art und Weise, in der der einzelne literarische Text den von der Matrix eröffneten Spielraum besetzt, welche ihrer alternativen Möglichkeiten er aufgreift und wie er sie transformiert. Für diesen ersten Schritt kann die literaturwissenschaftliche Analyse sich auf Untersuchungen zur Leistung vor- und außerliterarischer Texte berufen, von - in aufsteigender Komplexität — rudimentären Protonarrativen, Einfachen Formen, die sog. Volks- und Alltagserzählungen zugrundeliegen, oder Mythen. Deren Bedeutung auch für die Strukturierung hochkomplexer literarischer Texte ist Konsens in den unterschiedlichsten literaturwissenschaftlichen Teildisziplinen von der Editi-
62
J . - D . Müller (2004b), S. 54-59; M . Schulz (2005), S. 13: D a s Brautwerbungsschema ist nie nur als „ f o r m a l e Szenenkonvention zu lesen". E s handelt sich um „in literarische Strukturmuster eingefrorene[ ] Wissenssubtrate (S. 14).
6
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Z u ,Iwein' und ,Wigalois' J . - D . Müller (2004b), S. 60-66; mit weiteren Beispielen ausgeführt in J . - D . Müller (2004a) sowie unten S. 236-245.
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„ K u l t u r a n t h r o p o l o g i s c h stellt das literarische Erzählen eine A u s d i f f e r e n z i e r u n g , den Sonderfall einer generellen Praxis dar, die sich ubiquitär in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens w i e d e r f i n d e t " (Müller-Funk, 2002, S. 14).
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3
Einleitung: Zur Historizität von Er^ählkernen onsphilologie bis zum New Criticism. Im jeweils komplexeren Typus sind die Strukturen und Funktionen des einfacheren ,aufgehoben'. Alltagsweltlich gibt es nicht nur vollausgebildete Erzählungen, sondern auch ,Proto- oder Pränarrative'. Sprachwissenschaftlich sind diese Termini problematisch, denn eine sprachliche Einheit ist entweder narrativ, oder sie ist es nicht. Doch sind sie in der psychologischen Forschung Gegenbegriff zu ,vollständiger Narration', zu Erzählungen mit Anfang, Mitte und Schluß. Die linguistische wie literaturwissenschaftliche Narratologie hat sich naheliegenderweise fast ausschließlich mit diesen letzteren befaßt. Doch liegen ihnen basalere Muster voraus, für die die Termini brauchbar sind. Mit Proto- oder Pränarrativen sollen Teilsegmente erzählbarer Abfolgen oder narrativ ausfaltbarer Problem- oder Konfliktkonstellationen bezeichnet werden. „Erleben bzw. die gelebte Erfahrung [besitzt] eine pränarrative Qualität". Das „pränarrative[ ] Wissen" ist unvollständig; durch nachträgliche Reflexion kann es in eine „vollständig ausformulierte Erzählung" transformiert werden. „Narratives Wissen ist demnach eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität unreflektierter Erfahrung". 6 ' Der Terminus ,pränarrativ' ist mißverständlich, indem natürlich auch jene Rohformen und Fragmente schon narrativiert oder mindestens auf Narration angelegt sind. Man würde besser von „narrative[n] Abbreviaturen" sprechen. 66 Alltagserfahrung enthält solche narrativen Strukturelemente. Sie können zu Erzählkernen zusammenschießen, indem sie sich um einen bestimmten Situations- oder Problemkomplex kristallisieren. In der Narratologie blieben Prä- und Protonarrative meist unbeachtet. Allenfalls zu vollständigen Alltagserzählungen ausgeformt, fanden sie Aufmerksamkeit. 6 7 Allerdings steht in der Narratologie das Interesse an Alltagserzählungen weit hinter dem an literarischen Erzählungen zurück. 68 Auch literarische Erzählungen setzen Prä- und Protonarrative voraus. Literarische und die verschiedenen Typen vor- und außerliterarischer Erzählungen unterscheiden sich vor allem im Grad ihrer Organisation voneinander. 69 In beiden sind narrative Elemente in eine Ordnung gebracht, die nur mehr oder minder elaboriert ist. „Beide [literarische bzw. nicht-
'' 66 67
" 69
Polkinghorne (1998), S. 2 1 - 2 3 . Straub (1998), S. 123. Hierzu der Sammelband von Ehlich (1980); ders.: Alltagserzählungen, RLW 1, Berlin/New York 1995, S. 49-53; vgl. zum Mittelalter Dieter Kartschoke: Erzählen im Alltag - Erzählen als Ritual Erzählen als Literatur, in: Situationen des Erzählens (2002), S. 21-39, t>es· S. 26. Vgl. Herman (1999), S. 220. Aus diesem Grunde sind literarische Erzählungen theoretisch belangvoller und sind meist Induktionsbasis erzähltheoretischer Begriffsbildung. So formuliert Lotman (1981) z.B. „Erst nach der Entstehung der Erzählformen der Kunst lernte der Mensch, den Sujetaspekt der Wirklichkeit zu erkennen, das heißt, den nicht-diskreten Ereignisstrom in gewisse diskrete Einheiten zu zerlegen [ . . . ] " (S. 203). Der Sujetaspekt betrifft aber grundsätzlich alle Arten von Erzählungen, gerade auch vorliterarische Alltagserzählungen; vgl. Armin Schulz: [Art.] Sujet, RLW 3, Berlin/New York 2003, S. 544-546.
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Protonarrative
- Einfache Formen - Mythos
literarische Erzähler] partizipieren an gemeinsamen Mustern"; „es gibt auch im Alltag ,gute Erzähler', die virtuos die ihnen und den Zuhörern gemeinsamen Muster nutzen". „Die erzählende Fiktion führt nicht nur in die festen Kreise des Alltags zurück, sie entwirft auch Veränderungen, deren Faszination Menschen weiterbringt, als es die Reproduktion des Alltags zuläßt". 7 0 Informelle Alltagserzählungen lassen sich nicht trennscharf von einem vorliterarischen Erzählgut abgrenzen, das zwar nicht autorgebunden, jedoch nach basalen, mehr oder minder festen Regeln strukturiert ist (Volkserzählungen, „folktales" 1 ' o.ä), doch situationsunabhängig verbreitet und rezipiert wird. Seine Grundmuster entstammen z.T. mündlicher Uberlieferung, z.T. handelt es sich um Reduktionsformen literarischer Erzählungen. Von diesen ,folktales' hat man seit jeher angenommen, daß sie in enger Abhängigkeit von ihrem kulturellen Umfeld entstehen und daß in sie Alltagserfahrungen, allgemein geglaubte Weltbilder, Wünsche, Emotionen, Annahmen über richtige und falsche, legitime und illegitime Handlungen und Geschehnisse eingehen. Gegenüber den basalen Scripts, die die kognitive Psychologie untersucht, weisen diese Erzählungen schon einen höheren Grad an Komplexität auf, gegenüber Alltagserzählungen ein höheres Maß an Geformtheit, doch ist beides im Vergleich mit hochliterarischen Erzählungen immer noch äußerst gering. 1 1 ,Erzählkerne', wie die im folgenden untersuchten, sind schon Elemente von Alltagserzählungen und folktales; über sie sind diese mit der Kultur verknüpft, der sie entstammen und für die sie bestimmt sind. In der unstrukturierten Masse von Alltagserzählungen und folktales sind einerseits inhaltlich-thematische Ähnlichkeiten auszumachen, andererseits strukturelle Rekurrenzen. Die letzteren hat Jolles' Theorie der ,Einfachen Formen' beschrieben. ,Einfache Form' ist ein wissenschaftliches Konstrukt, das aus der Vielfalt von Kurzerzählungen wiederkehrende Muster heraushebt und sie ,quer' zu ihrer thematischen und motivgeschichtlichen Kategorisierung ordnet. 1 ' Jolles hat die Einfachen Formen als ,Geistesbeschäftigungen' beschrieben, die alltagsweltliche Probleme auf bestimmte Weise konfigurieren und ,lösen'. Die Einfachen Formen liegen in unterschiedlichen narrativen Aktualisierungen vor, die wiederum kulturabhängig sind. 74 Zwar sind sie häufig die Basis von ,Volkserzählungen', doch sind sie ™
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Ehlich (1980), bes. S. 1 9 - 2 1 . Mandler (1984), S. 17. Z u ihren „relatively rigid f o r m a t s " , die sie gleichfalls zum G e g e n s t a n d kognitiver Psychologie qualifiziert, Mandler (1984), S. 18. Diese sind ihrerseits in den großen M o t i v s a m m l u n g e n v o n A a r n e / T h o m p s o n gesichtet. D e r M o t i v b e g r i f f ist dabei v o r w i e g e n d inhaltlich verstanden, wobei .Inhalt' zwar durchaus narrative Sequenzen (,Erzähltypen') implizieren kann, nicht aber deren strukturelle Verwandtschaften oder D i f f e r e n z e n . D a s hat in den vorhandenen K a t a l o g e n zur F o l g e , daß diese in der unabsehbaren Vielfalt von M o t i w a r i a n t e n unkenntlich sind. M o t i w e r w a n d t s c h a f t e n und strukturelle Verwandtschaften decken sich nämlich nicht.
' 4 Jolles (1950/1968). A u s E i n f a c h e n F o r m e n abgeleitete ,einfache E r z ä h l u n g e n ' wie Z a u b e r m ä r c h e n , E x e m p e l , N o v e l l e waren Induktionsbasis strukturalistischer Untersuchungen (Propp, G r e i m a s u.a.).
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Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
ebenso auch in bestimmten literarischen Gattungen (wie z.B. Exempel, Legende, Kasus) zu erkennen. Einfache Formen übergreifen mithin historisch ungleichzeitige Erzählungen unterschiedlicher Komplexität, indem sie gleichartige A n t w o r ten' auf elementare Fragen bereithalten. Jolles hat das Verhältnis von Einfachen Formen zu literarischen Gattungen als Stufenfolge wachsender Komplexität beschrieben. Er trägt damit der Ausdifferenzierung vorliterarischer und literarischer Formen Rechnung. 7 ' Die Einfache Form kann einen Texttypus vollständig bestimmen (etwa die Gattung Exemplum), aber sie kann auch bloß ein Element der Textorganisation sein (,Exempelhaftes'). Die Einfache Form ist als ,Geistesbeschäftigung' wie der Erzählkern auf ein bestimmtes alltagsweltliches Problem bezogen, für das sie eine narrative Lösung bereithält, doch impliziert diese Lösung zum einen ein festes Strukturmuster, ist also deutlicher konturiert als ,Erzählkern', und ist zum anderen überhistorisch gefaßt, während ,Erzählkern' kulturspezifisch verstanden werden soll. U m nämlich möglichst viele Typen von Texten als Repräsentanten einer und derselben Geistesbeschäftigung auszuweisen, eliminiert Jolles besondere historische Ausformungen. So kann z.B. ,Legende' als Einfache Form ,oberhalb' der Typen .Heiligenlegende' und ,Sportbericht' bestimmt werden. Indem Jolles die Geistesbeschäftigung an unterschiedliche Vergegenwärtigungen bindet, kommt zwar historische Differenz ins Spiel, doch soll sie gegenüber der Gemeinsamkeit gerade vernachlässigt werden. Die strukturell-funktionale Ähnlichkeit ist wichtiger als die historische und typologische Differenzierung. Gerade um diese aber, die besonderen kulturspezifischen Besetzungen, geht es bei den folgenden Analysen von typischen Erzählkernen hochmittelalterlicher Epik. Kulturspezifisch sind, im Unterschied zu den Einfachen Formen, die stereotypisierten Plots, die die ethnologische Mythenforschung untersucht. Ihnen kommt gleichfalls Orientierungs- und Erklärungsfunktion zu. 70 Für den Untersuchungsansatz unbrauchbar ist eine inhaltliche Bestimmung des Mythischen. Ihr liegt meist eine substantialistische Auffassung eines ,Zeitalters des Mythos' zugrunde, das durch das ,Zeitalter der L o g o s ' abgelöst worden sei. Dem Mythos wird ein vorrational-religiöser Gehalt zugeschrieben, der sich in den entsprechenden narrativen Schemata auspräge. Ein .mythisches Zeitalter' ist ein Zeitalter ,vor der Geschichte'. Diese Spielart des Begriffs eignet sich deshalb nicht zur A n w e n d u n g auf eine hi-
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Jolles (1939/1968), z.B. S. 9. Die Schwierigkeit der Diskussion erwächst daraus, daß unter ,Mythos' einerseits ein bestimmtes Corpus von Schriften mit bestimmten Motiven (wie sie in einer ,Mythologie' zusammengefaßt werden), andererseits bestimmte Weisen des Denkens und - in seiner Folge - des Erzählens verstanden werden. Es käme aber darauf an, beide Betrachtensweisen zu verbinden; vgl. zu den Spielarten des Mythosbegriffs Stolz (1988); Assmann/Assmann (1998). Es geht im folgenden allein um das Anregungspotential von Forschungen zum Mythos für mein Vorhaben, nicht um eine grundätzliche Diskussion des Begriffs; zum Problem von Mythos und Narration Müller-Funk (2002), S. 1 0 3 - 1 3 0 . 26
Protonarrative — Einfache Formen - Mythos storische E p o c h e . A u c h das Fortdauern mythischer Residuen in einem nach-mythischen Zeitalter, in dem ein mythisches Weltbild zerfallen ist, ist hier nicht das Thema. 7 7 E s geht also nicht darum, in diesem Sinne mythische Motive (wie z . B . Descensus) in der hochmittelalterlichen Erzählwelt aufzuspüren oder die Ubereinstimmung vieler ihrer T h e m e n mit T h e m e n des M y t h o s (Werden, Vergehen, G e walt, Heil usw.) herauszuarbeiten. 7 8 Im Z e n t r u m stehen auch nicht mythische Plots, die ja nicht auf den vorliterarischen M y t h o s beschränkt sind. „Mythische Erzählschemata" 7 9 liegen vielen literarischen Erzählungen zugrunde, deren Status im einzelnen freilich kontrovers ist, und es wurde sogar eine T y p o l o g i e literarischer G r u n d m u s t e r auf G r u n d basaler mythischer Konstellationen ausgearbeitet. 80 A n r e g u n g e n bieten dagegen Untersuchungen zur besonderen F o r m mythischen Erzählens. Cassirer hat daran eine bestimmte D e n k f o r m mit bestimmten Wirklichkeitsmodellen, A u f f a s s u n g e n v o n Zeit, v o n R a u m , v o n Kausalität herausgearbeitet. Sie ist zwar ursprünglich mit einem ,mythischen Zeitalter' verbunden, jedoch keineswegs auf dieses beschränkt. 8 1 Vielmehr kann sie es überdauern, nimmt aber in einem nicht-mythischen Weltzusammenhang eine andere Bedeutung an. Methodisch produktiv ist hier insbesondere die V e r k n ü p f u n g von D e n k f o r m und Erzähl-
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Vgl. die Fallstudien in: M y t h o s (2005). Untersuchungen zum Verhältnis von A r t u s r o m a n und keltischer M y t h o l o g i e z . B . suchten die D i f ferenz zwischen den R o m a n e n und ihren sagengeschichtlichen Vorgängern zu minimieren, indem man auch jenen einen mythischen Gehalt zuschrieb. Die S a g e n f o r s c h u n g konstatierte in bestimmten Vorgängen innerhalb der Artuswelt Ähnlichkeiten mit der Fahrt in ein mythisches Totenreich oder stellte an der Minneherrin Z ü g e einer Fee (Todesgöttin o.a.) fest. Dies rief die G e g n e r auf den Plan, die auf der literarischen Qualität der R o m a n e als Ü b e r w i n d u n g ihres mythischen Substrats bestanden, so daß mittels solcher Ähnlichkeiten in keinem Fall ein .verwischter Sinn' des R o m a n s zu entdecken sei (z.B. Iweins Initial-ävenliure als Jenseitsfahrt, die L a u d i n e im ,Iwein' als Herrin über ein Totenreich o.ä.). D o c h selbst wenn quellengeschichtliche A b h ä n g i g k e i t einzelner Motive nachzuweisen wäre, käme es auf ihre Funktion im neuen, nicht mehr mvthisch geprägten Z u s a m m e n h a n g an. S o der Untertitel von Wawer (2000).
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Frve (1957/1964), insbes. S. 1 6 0 - 2 4 } . Natürlich behauptet F r y e keine Identität der vier mit den Jahreszeiten assoziierten G r u n d f i g u r e n literarischer Texte mit ihren mythischen Vorbildern, doch suggeriert die B e n e n n u n g substantielle Verwandtschaft. Im G e f o l g e des N e w Criticism hat man „ T r o p e n " elaborierter - literarischer wie historiographischer - Flrzählungen auf mythische G r u n d muster zurückgeführt (so H a y d e n White, 1978 u.ö.; hierzu auch M ü l l e r - F u n k , 2002, S. 1 1 9 f . ; 1 J4f.). Die vielfältigen daraus resultierenden Einsichten sind nicht selten mit Verzicht auf historische Unterscheidung erkauft. E i n g e k l a m m e r t wird der Ausdifferenzierungsprozeß der Literatur, der sie von mythischen U r s p r ü n g e n immer weiter entfernt.
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Cassirer (1923/1994). Cassirer betrachtet zwar einerseits den M y t h o s als „ H i n d e u t u n g und Vorbereit u n g " auf „das philosophische D e n k e n " (S. 4), betont aber andererseits, daß „auch die \Xelt unserer unmittelbaren E r f a h r u n g - jene Welt, in der wir alle, sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritisch-wissenschaftlicher R e f l e x i o n stehen, beständig leben und sind - [ . . . ] eine Fülle von Z ü g e n " enthält, „die sich [ . . . ] nur als mythisch bezeichnen lassen" (S. 19). Seine Analysen „ M y t h o s als D e n k f o r m " , „ M y t h o s als A n s c h a u u n g s f o r m " und „ M y t h o s als L e b e n s f o r m " haben Strukturen eines mythischen Weltbildes erschlossen, die (vor allem in bezug auf die „ A n s c h a u u n g s f o r m " ) zahlreiche H o m o l o g i e n mit literarischen Weltentwürfen aufweisen. E i n e n Versuch, solche Entsprechungen in G o t t f r i e d s ,Tristan' und Hartmanns ,Iwein' nachzuweisen, hat Andreas H a m m e r unternommen (2007).
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Einleitung: Zur Historizität von Er^ählkernen form. Gegenüber geschichtsphilosophischen Spekulationen über die Ablösung eines Zeitalters des Mythos durch eines des L o g o s kann schlicht an die Grundbedeutung von mythos - , (erklärende und sinnstiftende) Erzählung' - angeknüpft werden. ,Erklären' und .Sinnstiften' durch Erzählen ist gewiß das Signum eines mythischen Zeitalters, aber auch wenn in nachmythischer Zeit andere Formen der Erklärung und Sinnstiftung (durch Kausalitätsgesetze, durch Metaphysik, durch Wissenschaftstheorie usw.) hinzukommen, bedeutet das nicht, daß Erzählen in dieser seiner ursprünglichen Funktion verschwände. Was an rekurrenten Erzählkernen höfischer E p i k im folgenden beschrieben werden soll, läßt sich insofern allenfalls als mythenanalog 82 fassen: E s scheint zwar gleichfalls Orientierungs- und Problemlösungsfunktionen zu haben, weist jedoch ganz überwiegend nicht die im Anschluß an Cassirer u. a. herausgearbeiteten Strukturen mythischen Erzählens auf. In diesem Sinne hat man mythenanaloge Funktionen in nach-mythischen Lebenswelten beschrieben - bis hin zu Roland Barthes' ,Mythen des Alltags' (1964). Nachweislich dem Mythos entlehnte Erzählschemata repräsentieren insofern nur einen unter mehreren Typen mythenanalogen Erzählens. Sinnbildungsprozesse in einer nachmythischen Kultur und Sinnbildungsprozesse in einer mythischen gehen aber ein Stück weit parallel. Ihre Verwandtschaft bedeutet selbstverständlich nicht Identität. A u f den drei skizzierten Forschungsfeldern wurden Fragen gestellt, die meinem Vorhaben verwandt sind. Rudimentäre oder fragmentarische Erzählsequenzen können sich, z.B. in den oralen Erzählungen, zu elementaren Erzählungen zusammenschließen, die mehr oder minder vollständig ausgebildet werden können. Oberhalb dieser elementaren Erzählungen lassen sich Einfache Formen ausmachen, die thematisch unterschiedlichen Typen gemeinsam sind. Einen besonderen Typus unter diesen vorliterarischen Erzählungen repräsentieren Mythen, die ihre narrative Struktur mit einem Erklärungs-, Orientierungs- oder Herleitungsanspruch sowie einer spezifischen Modellierung von Welt verbinden. Gegenüber diesen Typen zeichnen sich literarische Texte durch einen höheren G r a d v o n Komplexität aus. In ihnen werden sich deshalb unterschiedliche Sinnbildungsleistungen überlagern. Solche Leistungen können nur .regional' beschrieben werden, d.h. indem man von unterschiedlichen Erzählkernen eines literarischen Werks ausgeht.
D e r B e g r i f f ,mythenanalog' lehnt sich an den v o n Clemens L u g o w s k i geprägten B e g r i f f des .mythischen A n a l o g o n s ' an, sucht aber dessen geschichtsphilosophische Implikationen einzuklammern. E s werden verwandte Leistungen literarischer und mythischer Texte in den Blick g e n o m m e n . Diese sind Ziel v o n L u g o w s k i s Formanalysen, die die sprachliche Verfaßtheit v o n Erzähltexten als Mittel einer besonderen Weise der E r z e u g u n g und A n e i g n u n g v o n Welt herausarbeitet (vgl. auch Schlaffer S. X I I I in L u g o w s k i , 1932/1976). L u g o w s k i spricht dabei auch v o n einem ,formalen M y t h o s ' .
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Er^äblkern und Er^äblscbema Erzählkern und Erzählschema Erzählkerne kombinieren unterschiedliche ,narrative Abbreviaturen'. Sie bilden selbst keine vollständigen Erzählungen, sondern liegen als eine Art generatives Prinzip unterschiedlichen Erzählungen zugrunde. Sie sind weniger artikuliert und weniger klar definierbar als Einfache Formen und in ihrem Erklärungsanspruch bescheidener als Mythen. Jedoch erbringen sie wie diese eine - freilich kulturspezifische - Leistung. So wenig wie beim Mythos 8 ' gibt es einen ,Urtypus', von dem alle konkreten Gestalten abzuleiten wären. Greifbar sind Erzählkerne nur in ihren vielfältigen inhaltlichen, strukturellen und funktionalen Varianten, die jeweils kulturell-sozial geprägt sind und als solche literarisch aufgegriffen und differenziert werden können. Aus thematisch zentrierten ,Erzählkernen' werden Erzählmuster generiert, die bestimmte, historisch spezifische Probleme, Konflikte und Lösungen konfigurieren, in der Welt erfahren und angeeignet wird. Sie sind überindividuell (wenn sie auch mehr oder weniger besonders - individuell - überformt werden können). Sie liegen auch dem Entwurf fiktiver Welten zugrunde. Die ,Struktur' solcher Erzählmuster wird dabei jedoch in einem wesentlich weicheren Sinne verstanden als im klassischen Strukturalismus. Damit grenzt sich die Untersuchung von der mediävistischen Forschung zu (Erzähl-)Schemata ab. .Schema' meint dort nicht jene alltagsweltlichen Apperzeptionsstrukturen, die Gegenstand der kognitiven Psychologie sind, 84 sondern die verwandten Oberflächenstrukturen einer Reihe von Erzählungen, die als Transformationen einer Basisstuktur aufgefaßt werden können. Gemeint ist also Schema im literaturwissenschaftlichen Sinn. Dabei lassen sich mindestens eine eher wertende und eine eher analytische Verwendung unterscheiden. Von Bedeutung ist hier nur die zweite. Im ersten Sinne ist der Terminus vor allem in der Wissenschaft von der neueren Literatur diskreditiert. Der Schemabegriff suggeriert die Gegenvorstellung von etwas Nicht-Schematischem, Einmaligem, wobei solche Einmaligkeit in der Regel großer Literatur zugeschrieben wird. ,Schemaliteratur' dagegen wird nahezu synonym mit ,Trivialliteratur' gebraucht. In dieser Bedeutung ist der Begriff in bezug auf das Mittelalter doppelt problematisch. Trivialliteratur ist ein Massenphänomen "
Levi-Strauss (1967), S. 238?.: E s gibt nicht die „authentische[ ] oder u r s p r ü n g l i c h e ] ] Version. Wir schlagen stattdessen v o r , jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren" (vgl. 1980, S. 75 5f.). Erst recht sieht sich der Literaturwissenschaftler eher auf jede einzelne dieser Manifestationen verwiesen. Während im Blick auf das ganze Corpus bestimmte Besetzungen als sekundär, als hvbrid, als mißverstanden usw. bestimmt werden können, sind für den Literaturwissenschaftler gerade sie v o n Interesse.
*4 Die narrative Psychologie versteht unter dem ,,psychologische[n] B e g r i f f des Geschichten-Schemas" allgemein „die kognitiven Aspekte narrativer K o m p e t e n z " (Straub, 1998, S. 107). Sie spricht v o n einem „ k o g n i t i v e n Schema, über das Handelnde v e r f ü g e n " (S. 109); zur Problematik des SchemaB e g r i f f s in literaturwissenschaftlicher Perspektive Bleumer (2007), S. 1 9 1 - 1 9 8 .
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Einleitung: Zur Historizität
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der Moderne und steht in Opposition zur elitären ,Literatur als Kunst'. Eine derartige Opposition gibt es im Mittelalter nicht, denn Literatur ist nie Massenphänomen. Zweitens wird mit dem Begriff inhaltlich die Vorstellung mangelnder Innovation verknüpft. ,Schema' ist das Automatisierte, Stereotype, Veräußerlichte im Gegensatz zum Neuen, Individuellen, Authentischen. In diesem Sinne ist der Begriff , Schemaliteratur' sinnvoll nur für Epochen, in denen sich die Forderung durchgesetzt hat, jedes literarische Werk müsse möglichst einmalig und besonders sein. Dies widerspricht der Traditionsgebundenheit mittelalterlicher Literatur; Erzählen ist wesentlich ,Wiedererzählen', literarische Produktion ,Arbeit am Muster' und Weiterbilden und Variation von Konventionalität. 8 ' Der analytische Gebrauch des Begriffs dagegen betrifft keineswegs nur die sog. Schemaliteratur, sondern, wenn auch in unterschiedlicher Abstufung, narrative Texte generell. Sie alle haben teil an einem Repertoire von Themen, Problemen, Lösungsskizzen, Verlaufshypothesen, das den Spielraum des Möglichen begrenzt und im Hintergrund der jeweils besonderen Formung in einem literarischen Text steht. Jeder Text benutzt eine ,Sprache', über die der Sprecher nur begrenzt verfügt, und er ruft Muster auf, die ihm nur zu einem Teil hintergehbar sind. Die Sprache, Diskurs- und Gattungstraditionen, Erfahrungs-, Handlungs-, Verhaltens-, Affektmuster sind kollektive Vorgaben, und zwar historisch spezifische. Sie liegen dem einzelnen literarischen Text voraus, er kann ihre Kenntnis voraussetzen, auf sie zurückgreifen, sie zitieren, umformen, reflekieren, mit ihnen spielen. Diese Vorgaben können sich zu Schemata verdichten. Schemata existieren nur in einer Vielzahl von Transformationen. 8 6 Sie müssen in Texten nicht voll realisiert sein (sie können dann aus der Kompetenz des Rezipienten ergänzt werden), 8 7 enthalten eine Vielfalt von Besetzungsalternativen und können, zumal in literarischen Texten, zur Basis höchst komplexer Konstellationen werden. Der B e g r i f f , S c h e m a ' verdeckt den Umstand, daß auch die Werke der ,großen Autoren' sich immer nur vor dem Hintergrund eines Allgemeinen konstituieren (das sie zugegebenermaßen in der literarischen Moderne auf radikalere Weise verfremden, als dies im Mittelalter denkbar ist). Die Untersuchung von kulturell codierten Schemata bedeutet also nicht eine Hinwendung zur Schemaliteratur, sondern die Fokussierung des kulturspezifisch-kollektiven Anteils auch hochliterarischer Imaginationen. Schemata sind, aus der Innenperspektive einer Kultur betrachtet, oft nicht durchschaubar; sie gehören zum Vorbewußten, Habitualisierten, nur allzu Bekannten. Besser wahrnehmbar sind sie mit dem Verschwinden kultureller Selbstverständlichkeiten aus der Außenperspektive als das rekurrente Fremde, dessen Bedeutung man nicht versteht, das - vom eigenen Standpunkt aus betrachtet - unwahrscheinliche' Stereotyp. Auch die folgende Untersuchung kann darauf bauen, daß die kulturelle Di8
' Worstbrock (1999); die Formulierung nach Kiening (2003). Für die mittelalterliche Epik Schmid-Cadalbert (1985), S. 41-45. 87 Straub (1998), S. 108. "
3°
Er^ählkern und Er^ählschema stanz den Blick für den Zusammenhang zwischen (vorliterarischen) Kulturmustern und (literarischen) Erzählmustern schärft, wie er wohl generell anzunehmen ist. Die strukturalistische Erzählforschung rechnet im Vergleich mit Analysen der sog. Schemaliteratur oder Einfacher Formen mit relativ komplexen Strukturmustern (Schemata), die wiederum vielfältige Besetzungsmöglichkeiten eröffnen, wobei der einzelne Text als jeweils besondere Transformation solcher Muster aufzufassen ist. Von diesem Untersuchungsansatz unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Konzept in dreifacher Hinsicht: Im Vergleich mit dem Strukturbegriff im Sinne des Strukturalismus ist der Erzählkern erstens ,weicher' und flexibler, zweitens textnäher, weniger voraussetzungsreich und inhaltlich spezifiziert und drittens historisch konkretisiert gefaßt. Z u m ersten Punkt: M i t , E r z ä h l k e r n ' lassen sich in Erzähltexten Sachverhalte von sehr unterschiedlicher A r t erfassen, die sich nicht durchweg zu festen Strukturmustern auskristallisieren. Fokussiert man dagegen solche Strukturmuster, dann gibt es nur relativ wenige Basistypen (,Brautwerbungserzählung', ,Minneroman'), unter denen dann recht heterogene Texte als deren Transformation zusammengefaßt werden. 88 Schon bei einer vergleichsweise einfachen Form wie dem Zaubermärchen stößt das Verfahren an eine Grenze. 8 ' Denn das Bestreben, möglichst alle Zaubermärchen auf eine gemeinsame Matrix zurückzuführen und möglichst alle Typenvarianten abzudecken, führte zu relativ komplizierten Strukturmustern mit insgesamt 28 in ihrer Reihenfolge festgelegten Positionen (,Funktionen'), die selbstverständlich in einem einzelnen Text nicht alle realisiert sein müssen. E s fragt sich aber, inwieweit man noch von einer gemeinsamen Matrix sprechen kann, wenn mehr als die Hälfte der Funktionen unbesetzt bleibt, und ob es dann nicht sinnvoller ist, .regionaler' zu argumentieren und unterschiedliche Matrices unterschiedlicher Zaubermärchen zu unterscheiden. Demgegenüber ist das Konzept des Erzählkerns offener. Erzählkerne sind aus wechselnden, nicht eindeutig zueinander bestimmten Komponenten zusammengesetzt. Sie haben weder die Prägnanz einer Einfachen Form noch den Differenzierungsgrad von Erzählschemata im Sinne des Strukturalismus. Sie kombinieren Verlaufsmuster mit inhaltlichen Besetzungen und können sie auf unterschiedliche Weise entfalten. Strukturmuster sind Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, 90 der in vielen Fällen kontraintuitiv verlaufen muß - und damit komme ich zum zweiten Punkt —, indem 88
Abzulesen an K u h n s (1974/1980) Untersuchung zu ,Nibelungenlied' und .Tristan, gewiß Beispielen scheiternder B r a u t w e r b u n g ; doch erschließen sich von diesem Muster her nur Randbereiche beider Texte.
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M o d e l l h a f t war die Märchenanalyse Vladimir Propps. P r o p p zerlegte den Erzähltypus des Z a u b e r märchens in einzelne Segmente (,Funktionen') mit rekurrenten Handlungsmustern, die wiederum an bestimmte Aktanten g e k n ü p f t waren. D e r einzelne Text wird in seiner konkreten Selektion und K o m b i n a t i o n als Transformation des Strukturmusters betrachtet. E i n e vergleichbare Kritik am strukturalistischen Z u g r i f f v o m Standpunkt der F i g u r e n t y p o l o g i e aus bei Fuchs (1997), S. 4 0 - 4 2 .
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er die unterschiedlichen Elemente einer großen M e n g e von Texten, die u . U . sogar verschiedenen Gattungen zugehören, als Besetzungen einer und derselben Systemstelle zu erklären hat, damit das Muster als gemeinsame Matrix aller dieser Texte gelten kann. Die Äquivalenz der jeweiligen Elemente ist damit alles andere als selbstevident. Schon bei der Frage, welches Element als die Besetzung einer bestimmten ,Funktion' der Matrix gelten kann, ergeben sich Kontroversen. Dieses Problem verstärkt sich übrigens noch, wenn ein an einer bestimmten Gattung (Zaubermärchen) entwickeltes Strukturmuster auf eine andere Gattung (Artusroman) übertragen wird. U m die gemeinsame Matrix zu erweisen, wird zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur unterschieden. Differenzen auf der Oberfläche werden als Transformationen einer und derselben Tiefenstruktur beschrieben. 91 Obwohl Tiefenstrukturen Ergebnisse wissenschaftlicher Konstruktion - Abstraktion aus einer großen Zahl von Oberflächentexten - sind und theoretisch auch stets als solche eingeführt werden, werden sie in der praktischen Textanalyse oft latent substantialistisch behandelt, als ein ,hinter' der Oberfläche bloßer Erscheinungen stehendes (sie gleichwohl bestimmendes und durch Analyse hinter ihnen aufzuspürendes) ,eigentliches' Substrat. Bei der Applikation relativ komplexer Strukturmodelle auf den einzelnen literarischen Text kann sich herausstellen, daß eine Reihe der theoretisch postulierten ,Funktionen' des Modells in ihm unbesetzt bleibt, während anderen Passagen des Textes keine bestimmte ,Funktion' entspricht, so daß sie nur als paradigmatische Mehrfachbesetzung einer und derselben Funktion beschrieben werden können. Es wird angenommen, daß einzelne Positionen der Tiefenstruktur maskiert auftreten können oder substituiert werden, wobei ihre inhaltlichen Besetzungen nachrangig sind. Man rechnet mit erheblichen Freiheiten bei der Besetzung der einzelnen ,Funktionen'. 9 2 Gelegentlich werden sogar Handlungselemente postuliert, die im Text gar nicht vorkommen. Damit wird die konkrete literarische Gestalt dem Strukturmuster (das doch aus ihr abstrahiert ist) nachgeordnet. Nur aus diesem Grund ist es möglich, Erzähltexte, in denen M a g i e weitgehend ausgeschaltet oder minimiert ist und in denen andersartige Kausalitätsan'' Davon noch einmal zu unterscheiden ist die Opposition von ,discours' und ,histoire'. Die ,histoire' (der Gegenstand der erzählten Geschichte) wird nach den Transformationsregeln des Strukturmuster zum ,discours' (dem manifesten Text) geformt. Jedoch hat bereits Hempfer (1982) auf den Konstruktionscharakter auch schon von ,histoire' hingewiesen (vgl. S. 133—136). Ich verdanke den Hinweis Armin Schulz. ,z So kann z. B. die Position eines ,Hindernisses' ebensogut mit einer magischen Operation (Schadenszauber), mit einer Figur, die eine Handlung abzuwehren sucht (Rivale), mit einem materiellen Gegenstand (Knüppel zwischen den Beinen), mit einer geographischen Gegebenheit (reißender Strom, der Hochwasser führt), einem mentalen Vorbehalt (Skrupel) usw. besetzt sein. Oder es soll im Artusroman der „soziale Stand" an die Stelle des Zaubermittels im Zaubermärchen treten (Simon, 1990, S. 19). Man bringt aber Parzivals tumpheit um ihren Gehalt, wenn man in ihr „eine anthropomorphisierende Umsetzung der Schemafunktion des Märcheneinleitungsteils anfänglich schwacher Held' in einen Zustand von Weltbefindlichkeit" sieht (ebd. S. 66), und daß Tristan dem König die Ehefrau wegnimmt, ist schwerlich ein Äquivalent für ,Verfolgung' (S. 113). 32
Er^ählkern und Er^ählschema nahmen herrschen, als Transformation des Erzählschemas ,Zaubermärchen' zu betrachten. 95 Das hat zur Folge, daß der Verlauf des Textes in Richtung auf das Erzählprogramm des angeblichen Basisschemas (z.B. ,Zaubermärchen' mit seinen Positionen ,Schenker', ,Schädiger', Mangel', dessen ,Aufhebung', ,Raumvermittlung' u. dgl.) getrimmt wird. Im Extremfall läßt sich kein einziger Text angeben, der als vollständige Transformation des Strukturschemas beschrieben werden kann. 94 Damit gerät das Verfahren in die Nähe einer petitio principii. 9 ' Strukturelle Rekurrenzen ergeben sich nur um den Preis extremer Formalisierung und Entleerung der inhaltlichen Besetzungen. E s scheint mir daher auch aus diesem Grunde fruchtbarer, nicht von den relativ komplexen und stark formalisierten Strukturschemata im Sinne Propps und der an ihn anschließenden strukturalistischen Narratologie auszugehen, sondern von den kleineren und weniger strukturierten Einheiten der Erzählkerne, die es erlauben, an der besonderen Gestalt des konkreten einzelnen Textes anzusetzen und differente inhaltliche Besetzungen voneinander abzuheben. Damit ist der dritte Punkt angesprochen. Manche strukturalistische Untersuchungen neigen dazu, konkrete inhaltliche Besetzungen eines Strukturschemas als
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M a n kann die G e f ä h r d u n g des Ansatzes bei S i m o n (1990) beobachten, dem profundesten und anregendsten Beitrag einer strukturgeschichtlichen Analyse des höfischen R o m a n s (vgl. grundsätzlich S. 4 - 8 ) . Seine Studie ist einer der wichtigsten Beiträge zur germanistischen Mediävistik in den letzten Jahrzehnten. U m s o bedauerlicher ist es, daß das Fach sich einer grundsätzlichen Auseinandersetzung in ausführlichen Rezensionen verweigerte. D e m steht entgegen, daß seit einiger Zeit in Dissertationen Simons Ü b e r l e g u n g e n immer häufiger produktiv a u f g e n o m m e n und weitergedacht wurden. Wenn ich im folgenden meine Position von der Simons deutlich absetze und auf einige Schwachstellen seines K o n z e p t e s hinweise, dann ändert das nichts daran, daß seine scharfsinnigen Analysen die folgenden A u s f ü h r u n g e n vielfach anregten und ich gerade nach der K r i s e des Poststrukturalismus eine D i s k u s s i o n seiner T h e s e n für äußerst fruchtbar hielte. S i m o n setzt die generative Potenz eines bestimmten Strukturmusters (z.B. Z a u b e r m ä r c h e n ) für ein bestimmtes Textcorpus ( z . B . A r t u s r o man) immer schon voraus, ebenso wie die Z u g e h ö r i g k e i t eines bestimmten Oberflächentextes zu diesem Textcorpus. S o erklärt er z . B . K o n r a d s ,Partonopier' aus dem „ N a r r a t i o n s p r o g r a m m " einer Mahrtengeschichte und leitet daraus seine D e u t u n g ab (S. 126). E r muß A b w e i c h u n g e n konzedieren, stellt aber nicht die Frage, ob die Z u o r d n u n g überhaupt stimmt. D a ß der Held (und Teile seiner U m g e b u n g ) sich in einer Mahrtengeschichte zu befinden glauben, besagt aber nicht, daß es sich tatsächlich um eine solche Geschichte handelt.
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Ich habe dies ,Strukturrealismus' genannt; er unterläuft in der Textanalyse meist unbemerkt. Strukturrealistische Ä u ß e r u n g e n stellen fest, was oder wie in einem konkreten Text .eigentlich' erzählt werden sollte, und .beweisen', wie das tatsächlich Erzählte als Transformation der einen Matrix beschrieben werden kann. D a m i t kann die Besonderheit jedes einzelnen Textes nur als Oberflächenabweichung v o n oder als Oberflächenübereinstimmung mit der eruierten T i e f e n s t r u k t u r beschrieben werden. D a s Problem wird bei A . Schulz (2000), S. 2jl.; 62 diskutiert.
"
D u r c h die A b l e i t u n g des Einzeltextes aus einem generierenden Strukturmuster wird vorausgesetzt, was noch zu beweisen wäre: N u r wenn ich weiß, daß Text Τ ein Zaubermärchen ist, und wenn die Beschreibung der Struktur S des Z a u b e r m ä r c h e n s alle dessen notwendigen und hinreichenden Bedingungen erhält, ist S als Tiefenstruktur von Τ aufzufassen, ohne daß Τ alle B e d i n g u n g e n von S realisieren muß. D a dies nicht immer der Fall ist, rechnet man mit G a t t u n g s h v b r i d e n , der K r e u z u n g von Strukturmustern.
35
Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
vernachlässigungswert zu behandeln. Wenn etwa der Artusroman auf die Struktur des Zaubermärchens zurückgeführt werden soll, müssen die besonderen Handlungsbedingungen und sozialen Ordnungen der Artusgesellschaft ausgeblendet werden. Damit tritt die historische Besonderheit in den Hintergrund. A u f sie kommt es aber hier gerade an; an den konkreten Besetzungen kann die kulturelle Relevanz und Lösungskapazität einer Erzählung abgelesen werden. Erzählkerne schließen immer konkrete historische Inhalte ein. Historische Kulturen lassen vielfältige, jedoch nicht unbegrenzte Konfigurationen zu und eröffnen vielfältige, jedoch nicht beliebige Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen, sie zu harmonisieren, zu hierarchisieren, ihre Widersprüchlichkeit oder Unversöhnlichkeit zu erweisen oder was immer sonst. Diese Möglichkeiten können diskursiv oder narrativ entfaltet werden. Ein bevorzugter Ort narrativer Entfaltung ist die Literatur. Narrative Texte bearbeiten Problemkonstellationen, die in einer historischen Kultur gegeben sind. Texte, die ähnliche Problemkonstellationen bearbeiten, haben einen oder mehrere Erzählkerne gemeinsam. Diese können harmonisiert, gegeneinander in Anschlag gebracht und übereinander kopiert werden. Indem sie Erzählkerne untersucht, bewegt sich die Arbeit immer noch auf einer „Ebene mittlerer Allgemeinheit", 9 6 sucht aber der jeweiligen Textoberfläche, dem historisch spezifischen Repertoire und der historisch spezifischen Gestalt Rechnung zu tragen. Wo eine strukturalistische Analyse von der relativ abstrakten Rolle des ,Schädigers' oder der relativ abstrakten Handlungsfunktion ,Überwindung eines Hindernisses' spricht, fragt sie nach der Besetzung der Rolle (z.B. Rechtsbrecher, ritterlicher Gegner o.ä.) oder der Handlungsfunktion (z.B. ritterlicher Zweikampf, Drachenkampf o.ä.). Problem- und Konfliktkonstellationen sind natürlich auch Abstraktionen, die aus einer größeren M e n g e von Texten gewonnen werden. Im Vergleich mit strukturalistischen Erzählschemata sind sie an den Rändern unscharf, dafür offener für Variationen und Kombinationen. Sie eröffnen Spielräume für unterschiedliche Besetzungen und Anlagerungen, Austausch einer begrenzten Zahl von Merkmalen, die sich in der Regel nicht unidirektional aus einer Matrix ableiten lassen. Der geringere Allgemeinheitsgrad wird dadurch wettgemacht, daß die Vielfalt der überlieferten Erzähltexte mit ihren reich ausdifferenzierten Handlungsfolgen und ihrem höchst unterschiedlichen Repertoire nicht durch Permutation und Substitution auf die Tiefenstruktur relativ weniger Erzählschemata zurückgeführt werden muß, sondern daß man an der jeweiligen Oberflächengestalt ansetzen kann.
''
D a r i n stimme ich mit S i m o n (1990), S. 224 überein. Simons theoretische Ü b e r l e g u n g e n S. 2 2 1 - 2 3 0 lassen die skizzierten B e g r e n z u n g e n seiner vorausgehenden Analysen weit hinter sich.
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Gattung, Fiktionalität
und historischer
Kontext
G a t t u n g , Fiktionalität u n d historischer K o n t e x t E r z ä h l k e r n e sind E l e m e n t e literarischer G a t t u n g e n , k ö n n e n aber unterschiedlichen G a t t u n g e n g e m e i n s a m sein. Sie überschreiten G a t t u n g s g r e n z e n . S t r u k t u r v e r w a n d t schaft k a n n zwischen der v o l l a u s g e b i l d e t e n G a t t u n g , e l e m e n t a r e n E r z ä h l u n g e n des A l l t a g s u n d basalen Prä- u n d P r o t o n a r r a t i v e n besteht. In den E r z ä h l k e r n e n u n d ihren P r o b l e m k o n f i g u r a t i o n e n sind Prinzipien narrativer S t r u k t u r i e r u n g v o r g e g e ben, doch d e c k e n sich diese nur z u m Teil mit g a t t u n g s h a f t e n S t r u k t u r e n . Sie sind nichts i r g e n d w o Vorfindliches, sondern E r g e b n i s s e wissenschaftlicher R e k o n s t r u k tion, in der historischen A l l t a g s w e l t v e r a n k e r t , u n s aber nur über Texte z u g ä n g l i c h , an die die F r a g e gerichtet w i r d : Welche nicht-problematisierten A n n a h m e n m u ß ich machen, welche Problemkonfigurationen und welche rudimentären Erzählmuster m u ß ich voraussetzen, u m die b e s o n d e r e n n a r r a t i v e n K o n s t e l l a t i o n e n eines bes t i m m t e n Textes verstehen zu k ö n n e n ? Sie sind also E r g e b n i s v o n H y p o t h e s e n , d e r e n Plausibilität sich an i h r e m E r s c h l i e ß u n g s p o t e n t i a l bemißt. L i t e r a r i s c h e Texte b e g n ü g e n sich aber in der R e g e l nicht mit der einfachen U m s e t z u n g solcher V o r g a b e n , s o n d e r n e r p r o b e n sie unter alltagsfernen M ö g l i c h k e i t s b e d i n g u n g e n , w i e sie in literarischen G a t t u n g e n (z.B. in e i n e m A r t u s r o m a n ) auskristallisiert sein k ö n n e n . L i t e r a r i s c h e G a t t u n g e n variieren aktuelle P r o b l e m k o n stellationen w e i t stärker, als das der n o r m a l e gesellschaftliche A l l t a g oder auch die auf ihn b e z o g e n e n vorliterarischen E r z ä h l u n g e n zulassen, f ü h r e n einzelne E l e m e n t e g e g e n e i n a n d e r , reflektieren ihre V o r a u s s e t z u n g e n u n d k o m b i n i e r e n sie mit anderen. 9 7 Wenn literarische Spiele sich v o n den R e g e l n u n d B e s c h r ä n k u n g e n der A l l tagswelt m e h r oder m i n d e r dispensieren k ö n n e n , d a n n heißt das zwar nicht, d a ß sie keinen R e g e l n folgen u n d d a ß diese ohne B e z u g zu denen der A l l t a g s w e l t sind, aber sie sind auch nicht aus dieser ableitbar. Literarische Texte stehen in e i n e m d o p p e l ten B e z u g , einmal auf die literarische G a t t u n g , der sie a n g e h ö r e n , z u m anderen auf die A l l t a g s w e l t , in der sie w i r k e n sollen. Der d o p p e l t e B e z u g s r a h m e n verbietet, E l e m e n t e literarischer Texte direkt auf ihren k u l t u r e l l e n K o n t e x t zu beziehen, aus i h m abzuleiten u n d auf ihre F u n k t i o n für ihn zu b e f r a g e n . ' 8 D i e k o n s t i t u t i v e R o l l e v o n literarischen G a t t u n g s m u s t e r n für die S t r u k t u r i e r u n g fiktionaler Welten ist K o n s e n s . W i e läßt sie sich mit d e m hier v o r g e s c h l a g e n e n A n s a t z v e r b i n d e n ? V o ß k a m p hat vor J a h r e n eine E r w e i t e r u n g des l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n G a t t u n g s b e g r i f f s v o r g e s c h l a g e n u n d auf die institution e n a n a l o g e R o l l e literarischer G a t t u n g e n verwiesen, die ihnen distinkte A u f g a b e n
'p '*
Warning (2003), S. 186 sieht darin das dekonstruktive M o m e n t von Literatur. S o ist v o r ,,Rückschlüsse[n] v o n der epischen Welt [...] auf historische E n t w i c k l u n g e n " , zu warnen, und es sind grundsätzlich „literarische[ ] Traditionen, erzähltechnische[ ] Prinzipien des thematischen (Contrasts, der parallelen H a n d l u n g s f ü h r u n g " u.a. in R e c h n u n g zu stellen, die die spezifisch literarische Modellierung der jeweiligen Alltagskonstellationen bedingen; vgl. Peters (1999), S. 6 j f .
35
Einleitung: Zur Historizität von Er^ählkernen im gesellschaftlichen G e f u g e zuweisen, indem sie - wie vermittelt auch immer - an gesellschaftliche Bedürfnisstrukturen anschließbar sind." In ähnlichem Sinne spricht Fluck vom „Gebrauchswert" literarischer Fiktionen, ihrer „Fähigkeit zur Neustrukturierung des Erfahrungszusammenhangs", wobei ihre soziale Funktion freilich nur über ihre „ästhetische Wirkungsstruktur" realisiert wird. 100 Die folgenden Überlegungen setzen freilich unterhalb der Gattungsebene an, nämlich an Konfigurationen, die in unterschiedlichen Gattungen vorkommen können. Zwar dürfen dabei der Werk- wie der Gattungszusammenhang, in dem allein die Bedeutung des jeweiligen Elements angemessen zu bestimmen wäre, nicht ausgeblendet werden, doch lassen sich, ausgehend von solchen Konfigurationen, alternative Textgruppierungen vornehmen und traditionelle Gattungszuweisungen in Frage stellen. D a es im Mittelalter kein normatives Gattungssystem gibt, sind Gattungen nur als relativ instabile Textgruppen auf Grund wechselnder Familienähnlichkeit' beschreibbar. 101 Es wird daher nicht gefragt, welche gattungstypischen Konflikt- oder Lösungskonstellationen in der Gattung ,Artusroman' angelegt sind, 102 sondern welche unterschiedlichen Konflikt- und Lösungskonstellationen der Artusroman in seinen Situations- und Handlungsmustern absorbiert und integriert hat und wie diese sich auf gemeinsame Problemkerne zurückführen lassen, die in der Kultur um 1200 angelegt sind. Die schwächere Konturierung und weichere Strukturierung solcher ,Kerne' läßt eine größere Variationsbreite und größere Offenheit für alternative Gattungen zu. Wenn im folgenden hauptsächlich (nicht ausschließlich!) Beispiele aus dem ,höfischen' Roman diskutiert werden, dann vor allem der Vergleichbarkeit der Ergebnisse zuliebe; doch wird sich zeigen, daß es verwandte Beobachtungen zur Heldenepik gibt. Z u bedenken ist freilich, daß in Gattungstraditionen gefestigte Erzählmuster fortleben können, wenn die historischen Konstellationen, auf die sie Bezug nehmen, längst obsolet geworden sind. Literarische Traditionen können über die historischen Bedingungen hinaus wirken, denen sie ihre Entstehung verdanken. Dies setzt eine gewisse Entkoppelung literarischer und allgemein kultureller Evolution voraus, wie sie Folge der Institutionalisierung literarischer Kommunikation und
99 100 lo
V o ß k a m p (1977). Fluck (1997), S. 1 0 - 1 2 .
' G a t t u n g e n konstituieren sich auf G r u n d v o n ,Familienähnlichkeit' zwischen Texten (]auß,
1977,
S. 333)· " " Diese Perspektive hat H a u g in seinen weit ausgreifenden Untersuchungen zum R o m a n des 12. und 13. Jahrhunderts gewählt. B e z u g s p u n k t seiner A n a l y s e n ist die Chretien-Hartmannsche D o p p e l w e g Struktur, deren Transformationen er anhand der wichtigsten höfischen R o m a n e v e r f o l g t . D i e K o m plexität der D o p p e l w e g - S t r u k t u r , die H a u g in zahlreichen A b h a n d l u n g e n untersucht hat, weist sie als ein voraussetzungsreiches und hochartifizielles G e b i l d e aus. Natürlich gehen auch in ein solches G e b i l d e ,Muster' und , K e r n e ' wie die hier untersuchten ein (was im folgenden an vielen Beispielen zu zeigen ist), aber sie ordnen sich dort in eine übergreifende Struktur ein, in der sie ihren besonderen Sinn erhalten.
56
Gattung, Fiktionalität
und historischer
Kontext
der ( z u m i n d e s t r u d i m e n t ä r e n ) A u s b i l d u n g v o n Institutionen literarischer Praxis ist. W i e w ä r e es sonst m ö g l i c h , d a ß Texte ferner v e r g a n g e n e r E p o c h e n weiter faszinieren? A u c h in der v o l k s s p r a c h i g e n L i t e r a t u r des Mittelalters sind e n g e r e u n d w e n i g e r e n g e A b h ä n g i g k e i t e n zwischen Erzähl- u n d K u l t u r m u s t e r n d e n k b a r , i m Extremfall die b l o ß e R e p e t i t i o n oder die r a d i k a l e Alternative. A m ehesten w i r d m a n für die Zeit ihrer A u s k r i s t a l l i s i e r u n g eine e n g e V e r k n ü p f u n g v o n E r z ä h l m u s t e r n mit den in einer historischen K u l t u r g e g e b e n e n P r o b l e m v o r g a b e n a n n e h m e n , als deren i m a g i n ä r e , L ö s u n g ' sie gelten können. 1 0 ' I n d e m L i t e r a t u r i m m e r auch auf L i t e r a t u r a n t w o r t e t , k a n n sich die literarische R e i h e in erheblicher D i s t a n z zu den zeitgenössischen k u l t u r e l l e n V o r g a b e n fortsetzen. Diese M ö g l i c h k e i t spielt in den f o l g e n d e n Ü b e r l e g u n g e n eine u n t e r g e o r d n e t e Rolle, d e n n diese b e s c h ä f t i g e n sich g e r a d e mit d e m N e x u s zwischen d e m literarischen Text u n d der K u l t u r , die ihn h e r v o r b r i n g t . I n s g e s a m t k a n n m a n für vorm o d e r n e L i t e r a t u r d a v o n a u s g e h e n , d a ß der B e z u g literarischer E r z ä h l m u s t e r auf zeitgenössische M u s t e r k u l t u r e l l e r I m a g i n a t i o n e n nie v o l l s t ä n d i g verschwindet.' 0 4 Im Mittelalter scheint er e n g e r als in der M o d e r n e , da sich erst ansatzweise u n d in b e s t i m m t e n Bereichen ein selbständiges S y s t e m L i t e r a t u r ausdifferenziert hat u n d der d u r c h dieses S y s t e m gesetzte R a h m e n für einen F i k t i o n a l i t ä t s p a k t labil ist."" A l l t a g s w e l t l i c h e F i k t i o n e n u n d deren fiktionale R e f l e x i o n e n in der L i t e r a t u r l i e g e n noch dichter beieinander, u n d die A b g r e n z u n g zwischen fiktionalen u n d nichtfiktionalen Texten f u n k t i o n i e r t nicht m i t der g l e i c h e n Selbstverständlichkeit. 1 0 6 D a s zeigt sich auch daran, d a ß die Grenze zwischen literarischen F i k t i o n e n u n d fiktiven h i s t o r i o g r a p h i s c h e n Berichten w e n i g e r scharf g e z o g e n ist. 107 Offensichtlich sind für
,0
' Als Beispiel habe ich das Phantasma gefährlicher B r a u t w e r b u n g genannt. Seine spätmittelalterlichen Transformationen sind an der Problemhaltigkeit, die es für die frühmittelalterliche Gesellschaft hatte, o f f e n b a r nicht mehr interessiert und verändern deshalb seine tragenden Elemente (vgl. J . - D . Müller, 2004b, S. 54—59).
'° 4 S o bezieht sich Ulrich v o n Etzenbach in seinem .Alexander' vornehmlich auf die großen E p i k e r um 1200. E r schafft „die K o p i e einer bereits literarisch stilisierten K u l t u r " und bemüht sich um eine „weitgehend unveränderte Wiederholung des literarisch etablierten Modells einer höfischen Vielt" (Stock, 2000, S. 434). D a s schließt jedoch nicht aus, daß dieses „literarisch etablierte M o d e l l " seinerseits zeitgenössische K u l t u r m u s t e r verarbeitet, auf die Ulrich dann indirekt gleichfalls B e z u g nimmt. 101
Vgl. Strohschneider (2001), S. 1—13; die Einleitung der Herausgeber in: G e l t u n g der Literatur (2005); Friedrich (2007), S. 1 0 1 . - D i e starre A b g r e n z u n g , die Matias Martinez und Michael Scheffel zwischen literarischen (fiktionalen) und nicht-literarischen (nicht-fiktionalen) Texten vorschlagen (Narratologv and T h e o r y o f Fiction: R e m a r k s on a C o m p l e x Relationship, in: What is N a r r a t o l o g y , 2003, S. 2 2 2 - 2 3 7 ) , setzt die Institutionalisierung eines Systems .Literatur' voraus, wie man sie für die Vormoderne gerade nicht annehmen kann. D i e A u s f ü h r u n g e n der beiden A u t o r e n müssen im übrigen immer wieder Anleihen bei eben dem .pragmatischen' F i k t i o n s b e g r i f f machen, den sie widerlegen zu können glauben. U m U b e r g a n g s f o r m e n zwischen literarischen und außerliterarischen Fiktionen geht es in Müller (2004c). H. Wenzel (2001); J . - D . Müller (2004c). S o etwa die spätmittelalterliche Chronistik; vgl. die anekdotischen und schwankhaften Passagen des Jansen E n i k e l oder die E n t w ü r f e v o n . H e r k o m m e n ' bei T h o m a s Lirer.
37
Einleitung: Zur Historizität von Er^ählkernen literarische und eine Vielzahl von historiographischen Texten ähnliche strukturelle Vorgaben auszumachen, in denen gleichermaßen zeitgenössische Erfahrung angeeignet und konfiguriert wie fiktionale Alternativen zu ihr erfunden werden können.
108
D i e Abkehr eines Teils der historischen Forschung von einem faktizistischen oder eng institutionenbezogenen Geschichtsverständnis hat die Frage, ,wie es gewesen ist' (geschweige e i g e n t l i c h gewesen') zurücktreten lassen hinter derjenigen, wie man etwas für möglich oder angemessen hielt und welchen gewöhnlichen Verlauf man erwartete. 1 0 9 Historiographische Texte stellen in diesem Sinne die Wirklichkeit, von der sie berichten, allererst her, geben ihr ihre konkrete Gestalt, sind also nicht „Ausdruck" von etwas Vorhandenem. 1 1 0 Sie sind auf Fakten bezogen, aber als Diskurse über Fakten prägen sie diesen ihre Ordnung auf. Diese in einem weiten Sinn ,poietische' Kraft historiographischer Texte nähert sie ,poetischen', nämlich literarischen Texten i . e . S . , an. Dies hat zur Folge, daß die Analyse von literarischen und historiographischen Texten ein Stück weit parallel g e h t . " 1 In einer solchen Analyse werden Impulse der Arbeiten von Hayden White und der an ihn anschließende Forschungen aufgenommen, ohne daß, wie diesen oft fälschlich unterstellt, die Faktizität historischer Geschehenszusammenhänge in Frage gestellt und diese ausschließlich als diskursive Phänomene interpretiert w ü r d e n . " 1 I m G e genteil unterscheiden sich eben durch ihren Referenzbezug auf eine historische Praxis historiographische Texte von literarischen. A u f der Differenz zwischen faktualen und fiktionalen Texten ist - gegen den Verdacht eines Panfiktionalismus" 5 zu bestehen. Zwar sind auch historiographische Darstellungen auf ihre K o n s t r u k tionsleistung zu befragen, doch muß bewußt bleiben, daß sie Konstruktionen von etwas sein wollen, das sie als .wirklich' auffassen, während literarische Texte aus Elementen der bekannten Welt eine Alternative zu dem, was als .wirklich' gilt, entwerfen. ,0
" D i e v o n A l t h o f f ( 1 9 9 7 ) initiierte E r f o r s c h u n g politischer Rituale hat in historischen Q u e l l e n Verlaufstypen herausgearbeitet, die nicht u n b e d i n g t den faktischen Abläufen e n t s p r e c h e n , d o c h M u s t e r für sie bereitstellen und literarischen H a n d l u n g s m u s t e r n verwandt sind. , S p i e l r e g e l n ' politischen und gesellschaftlichen Handelns übergreifen fiktionale und nicht-fiktionale T e x t e (vgl. M ü l l e r , 1998).
lo
H e r m a n n K a m p : D i e M a c h t der Z e i c h e n und G e s t e n . Ö f f e n t l i c h e s Verhalten bei D u d o v o n St. Q u e n tin, in: A l t h o f f (2001), S. 1 2 5 - 1 5 5 ; hier S. I28f. T i m o t h y R e u t e r : Velle sibi in f o r m a hac. S y m b o l i s c h e s H a n d e l n im B e c k e t t s t r e i t . In: A l t h o f f (2001), S. 201—225; hier S. 2 1 4 .
" ' R e u t e r e b d . , S. 2i6f. D e r K o n s t r u k t i o n s c h a r a k t e r h i s t o r i o g r a p h i s c h e r E r z ä h l u n g impliziert eben nicht, wie W h i t e g e g e n ü b e r seinen K r i t i k e r n ausdrücklich klargestellt hat, daß sich der historische D i s k u r s a u f keinen w i r k l i c h e n v e r g a n g e n e n G e s c h e h e n s z u s a m m e n h a n g bezieht ( W h i t e , 1996, S. 68; vgl. S. 94). I n W h i t e s älteren A r b e i t e n wird das nicht i m m e r klar g e n u g herausgestellt ( N a g l - D o c e k a l , 1996, S. 27). " * Z u r K r i t i k vgl. D o l e z e l (1999) [mit weiterer Literatur]; vgl. R i c o e u r (1996), der für die „referentielle F u n k t i o n der G e s c h i c h t e " plädiert (S. 1 2 5 ) und v o n der „Intentionalität des h i s t o r i s c h e n B e w u ß t s e i n s " spricht (S. 122), die die K o n s t r u k t i o n e n des H i s t o r i k e r s letztlich e b e n d o c h als R e k o n s t r u k tionen erscheinen lasse.
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Gattung, Fiktionalität
und historischer
Kontext
A l l e r d i n g s sind auch historische F a k t e n nicht v o r w e g g e g e b e n , sondern w e r d e n v o m H i s t o r i k e r k o n s t i t u i e r t ' , u n d ihre A n o r d n u n g zu einer E r z ä h l u n g v o n der V e r g a n g e n h e i t bedient sich fiktionaler S c h e m a t a , eines b e s t i m m t e n emplotment,"4 auch er stößt a u f , E r z ä h l k e r n e ' . H i s t o r i k e r w i e L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l e r haben solch zeittypische M u s t e r zu u n t e r s u c h e n , die einen, u m sie als Mittel der A n e i g n u n g u n d S t r u k t u r i e r u n g v o n Realität zu e r k e n n e n , die anderen, u m sie als R a h m e n fiktionaler E n t w ü r f e von Realität zu beschreiben. Die M u s t e r sind nicht identisch, aber u n t e r e i n a n d e r v e r w a n d t . H i e r a r c h i s i e r u n g e n zwischen literarischen und außerliterarischen Texten in B e z u g auf ihren d i a g n o s t i s c h e n Wert m a c h e n daher keinen S i n n . ' M E i n e n solchen haben auch literarische Texte. Ein letzter E i n w a n d k ö n n t e sein, d a ß im f o l g e n d e n nicht Ganzheit u n d Geschlossenheit eines literarischen Textes i m Z e n t r u m stehen, sondern i m m e r nur einzelne T h e m e n u n d T e i l s t r u k t u r e n . Hier ist zu b e d e n k e n , d a ß , G a n z h e i t ' keine K a t e g o r i e der mittelalterlichen L i t e r a t u r ist. Stock hat v o n „ p a r t i k u l a r e n B i n d u n g e n " mittelalterlicher Texte g e s p r o c h e n . " 6 D a m i t macht er d a r a u f a u f m e r k s a m , d a ß diese vielfach n u r ein S t ü c k weit k o n s e q u e n t k o n z e p t i o n e l l e n V o r g a b e n u n d Sinnb i l d u n g s m u s t e r n f o l g e n u n d sich nicht u m v o l l s t ä n d i g e I n t e g r a t i o n aller einzelnen E l e m e n t e , m a n c h m a l nicht einmal u m W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t b e m ü h e n . Einzelne Passagen k ö n n e n m e h r oder m i n d e r u n a b g e s t i m m t sein; neben zentralen Szenen sind m a n c h m a l scheinbar m a r g i n a l e für k u l t u r e l l e , B e g l e i t s e m a n t i k e n ' a u f s c h l u ß reich. G e w i ß g i b t es hier ein erhebliches Gefälle zwischen den ästhetisch anspruchsvollen Texten eines H a r t m a n n , Gottfried oder W o l f r a m einerseits und w e n i g e r d u r c h g e f o r m t e n w i e der , G u t e n F r a u ' oder , M a i u n d B e a f l o r ' . I n s g e s a m t aber ist die O r i e n t i e r u n g an v o n E r z ä h l k e r n e n g e n e r i e r t e n T e i l s t r u k t u r e n der mittelalterlichen Ä s t h e t i k a n g e m e s s e n . Sie k a n n das S p a n n u n g s g e f ü g e eines literarischen Textes deutlicher herausarbeiten, das bei m a n c h e n G e s a m t i n t e r p r e t a t i o n e n d e m überg r e i f e n d e n Ziel zuliebe oft g e o p f e r t w i r d . D e r elaboriertere, formal riskantere Text speist sich aus d e m s e l b e n k u l t u r e l l e n F u n d u s w i e der anspruchslosere, g e h t aber s o u v e r ä n e r mit E l e m e n t e n dieses Fund u s u m . A l l e r d i n g s w i r d sich herausstellen, d a ß auch er b e s t i m m t e G r e n z e n seines k u l t u r e l l e n Z u s a m m e n h a n g s nicht oder nur w e n i g e Schritte überschreiten kann. Wenn d e s h a l b i m f o l g e n d e n literarische Texte unterschiedlicher Qualität h e r a n g e z o g e n w e r d e n , u m A u s k u n f t über ein historisches I m a g i n ä r e s zu erhalten, dann
114
White, 1996, S. 76f. Allerdings verstellt Whites A n l e h n u n g an die „ T r o p e n " N o r t h r o p Frves (Romanze, Tragödie, K o m ö d i e , Satire) die Eigenart des historiographischen Diskurses. D a s betonen auch ähnlich angelegte Studien wie die v o n Fluck (1997) zum modernen amerikanischen R o m a n . Für die narrative Psychologie liegen „die simpelsten alltagsweltlichen E r z ä h l u n g e n " und „kunstvolle historische, biographische T e x t e " in bezug auf ihre kognitive Leistung auf derselben E b e n e (Straub, 1998, S. 152). Literarische Texte nehmen in dieser Hinsicht keine Sonderstellung ein. Stock (2000), S. 408; vgl. unten S. 4 6 1 , 469 u . ö . die Ü b e r l e g u n g e n zum ,Prosa-Lancelot'. Stock macht seine B e o b a c h t u n g am .Alexander* des Ulrich von Etzenbach.
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Einleitung: Zur Historizität
von Er^ählkernen
nicht, weil, wie das lange Zeit üblich war, zwischen der Qualität von Texten kein Unterschied gemacht wird, sondern weil die kulturelle Matrix die gleiche ist, so unterschiedlich auch der Spielraum genutzt werden mag. Bei anspruchsloseren Texten tritt die Matrix oft sogar schärfer ans Licht, und deshalb werden im folgenden immer wieder Texte aus der zweiten Reihe herangezogen, doch können an Texten mit ausgefalleneren oder riskanteren Problemanordnungen besser ihre Grenzen aufgewiesen werden. In der Untersuchung gemeinsamer imaginärer Matrices scheinen mir Anschlußstellen für das - inzwischen aufgegebene - Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur zu liegen. 1 ' 7 Die Grenzen dieses Projektes wurden durch die Fixierung auf die sog. soziale ,Realität' und ihre Strukturen gezogen, die den - im Sinne von Castoriadis - imaginären Anteil dieser ,Realität' marginalisierte und allenfalls als ein weiteres ,Uberbau'-Phänomen in Rechnung stellte. Der hier vorgeschlagene erweiterte Realitätsbegriff erlaubt insofern, einige Reduktionismen einer sozialgeschichtlichen Literaturbetrachtung zu korrigieren und vor allem die damals dominierende streng funktionalistische Betrachtensweise aufzugeben, nach der jeder literarische Text in praktischen Interessenzusammenhängen aufgeht. Die Einsicht in die durchg ä n g i g e Auftragsgebundenheit volkssprachiger Literatur" 8 legt eben nicht nur die Frage nach den jeweiligen politischen Interessen der Gönner nahe," 9 sondern vor allem auch die nach gängigen Erwartungen, Ansichten über den Lauf der Welt und die Ordnung der Dinge. Diese sind kaum je explizit, müssen aber als Implikationen der Erzählwelt vorausgesetzt werden. Als solche sind sie manifesten Interessen vorgeordnet. Literarische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Vorgaben überschreiten und reflektieren. Sie ,handeln' Hierarchien, Widersprüche, Aporien, Abstimmungen zwischen divergierenden Vorgaben einer Kultur ,aus', indem sie sie prozessieren und wechselseitig perspektivieren. Stephen Greenblatts vielstrapazierte Metapher der Verhandlungen' („negotiations") 1 2 0 erhält in diesem Zusammenhang einen konkreten Sinn: als ein narratives Austarieren von Geltungsansprüchen. Literarische Texte repetieren nicht einfach vorgegebene Lösungsmuster, sondern suchen antagonistische Vorgaben zueinander in Beziehung zu setzen. In jedem Entwurf kann auch das konfiguriert werden, was er ausschließt oder was ihm entgegensteht. Dies kann in zweifacher Richtung geschehen, kritisch und subversiv gegenüber den von einer bestimmten historischen Kultur gezogenen Grenzen oder aber auch einschränkend und limitierend gegenüber deren imaginären Uberschrei-
" 7 Vgl. auch die theoretische Einführung bei Fluck (1997), S. J . - D . Müller (1980), S. 248. ° A u s stilistischen G r ü n d e n verwende ich das Wort art im folgenden als Femininum, wie dies auch in einigen der zitierten mhd. Texten geschieht, während die meisten art als Maskulinum gebrauchen.
2
"
"
Bluterbe ist nicht ausschließlich an die Institution der E h e gebunden: D i e ,Bastarde' großer Herren haben zwar einen rechtlichen Minderstatus, partizipieren jedoch an der Auszeichnung der Dvnastie. D i e H e r k u n f t von einer und derselben Mutter suggeriert ein eheähnliches Prinzip. Bei Heinrich v o n Veldeke sieht Eneas in der Unterwelt die Z u k u n f t R o m s als patrilinearen G e schlechtszusammenhang ( H v V 3619-3690). R o m s Geschichte wird von seinem kunne bestimmt werden (3622). E r erblickt den noch ungeborenen sun (5658), den E n k e l , der ihm völlig gleichen wird (566of.), den Urenkel, der denselben N a m e n trägt (566;). A u s seinem gesiebte (5669) stammen die
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Herkommen G e n e a l o g i e b e g r ü n d e t ein u n b e s t i m m t e s G e f ü h l der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t v o r jed e m ausdrücklichen Wissen. D i e Beispiele sind Legion.24 U b e r P r i a m u s '
unerklär-
l i c h e S y m p a t h i e f ü r d e n i h m u n b e k a n n t e n P a r i s h e i ß t es: wan sippebluot da^ hat die da£
kraft,
vil küme sich verhilt.
e^ lachet magert unde spilt engegen durch der ougen türe und machet iemer sich her füre, swä friunt gesittet friunde
bi.
swie tiefe
da verborgen si,
wirt
liehte schiere braht.
I n d e r R e g e l ist d i e s e M y s t i k a n d e r s sein.25 D o c h
(KTr
3212-3219)
des Bluts positiv
kann Konrad
konnotiert.
auf eine selbstverständlich
Hier wird geltende
das
zwar
Annahme
anspielen.
Naturalisierung von
Ethos
Diese w o h l b e k a n n t e n A n n a h m e n einer genealogisch geordneten Welt haben Reihe narrativer Konsequenzen.
Das
imaginäre
Konstrukt von
art
eine
begrenzt
die
M ö g l i c h k e i t e n des E r z ä h l e n s . I n s o w e i t ü b e r G e n e a l o g i e v o r e n t s c h i e d e n ist, w a s ,in O r d n u n g ' u n d w a s n i c h t ,in O r d n u n g ' ist, ist g e s e l l s c h a f t l i c h e O r d n u n g
naturali-
s i e r t ' . D i e G e n e a l o g i e p r ä g t m i t d e r art n i c h t n u r d i e p h y s i s c h e A u s s t a t t u n g
eines
j e d e n M e n s c h e n , s o n d e r n ist j e d e m B e r u f , j e d e r s o z i a l e n R o l l e , s e l b s t j e d e m
ethi-
schen Urteil vorgeordnet.
M
"
Gründer und künftigen Könige von R o m und die Stifter des römischen Weltreichs (3670-3680; 3684f.). Die Prophezeiung erfüllt sich in der zu Ende des Romans von Veldeke eingeschobenen Geschlechterfolge ( 1 3 3 2 1 - 1 3 4 0 3 ) , die über Romulus hinaus auf die römischen Kaiser geführt wird; vgl. Kellner (2004), S. 219-222. Wenn Tarsia im ,Apollonius' ermordet werden soll und vor dem gedungenen Mörder ihr Los beklagt, vergißt sie nicht, die Eltern zu erwähnen (der Vater was binig von Tyrlandt,/ Tochter was dt muter mein/ Deß kuniges von Pentapolin, H A p 15378-15380), denn das könnte die Reaktion beeinflussen; ähnlich ihre Klage vor den Bürgern von Metelin, wohin man sie als Hure verkauft hat (15940-15944). Etwa WWh 291,27-29 (Gyburg und Rennewart); PrL I S. 60,26-31 (die Zuneigung Lancelots zu seinen ihm unbekannten Vettern); K T r 37330-37335 (Hektors Erkennen des verwandten Bluts in Ajax) usw. A. Schulz (2005) hat gezeigt, wie die Erkennbarkeit auf Grund der Zugehörigkeit zur gleichen Sphäre oder zum gleichen „Sippenkörper" zwar in der heroischen und höfischen Epik des Mittelalters immer wieder angespielt, jedoch zunehmend problematisiert und durch andere „Gnorismata" ergänzt oder ersetzt wird. Dies gilt ansatzweise schon für das Heldenepos; erst recht aber zeigt sich der Übergang ,,[v]om Sippenkörper zur Ideologie des adeligen Körpers [...] im höfischen Roman" (Vgl. S. 188-265). Zwar zieht natüre (3223) den König Priamus zu seinem Sohn Paris hin (vgl. 4699^), und auch Paris fühlt gleich den Vater in ihm (3299), doch wird das durch die Prophezeiung überschattet, Priamus werde sein Reich durch Paris verlieren. Die Entdeckung der Verwandtschaft dient nicht dem Bestand der hergebrachten Ordnung, sondern schafft die Voraussetzung für deren Untergang. SO
Naturalisierung von Ethos
So behauptet Tristan von sich: ich bin ein art spilman (GTr 7595). Zwar ist das gelogen; art spilman ist schon eine der vielen Masken, die Tristan für sich wählt; aber seine Worte, die die angenommene Rolle als angeboren ausgeben, tragen der allgemeinen Erwartung Rechnung, daß, wer sich spilman, ritter oder ähnlich nennt, über seine art und damit über seine Herkunft wie sein künftiges Verhalten Auskunft gibt. Die Frage ist nicht, ob es überhaupt eine Prägung durch art gibt, sondern allenfalls, wie stark sie ist, was das ist, was von ihr geprägt wird und wieweit jemand ent-arten kann. Keine nutritura kann die natura26 außer Kraft setzen, keine Verkleidung die art auf Dauer zum Verschwinden bringen. Die art wird sich irgendwann zeigen, und so ist es dann auch selbst bei Tristan. Die Herkunft tritt bekanntlich zunächst in der körperlichen Gestalt ans Licht, in Stärke und Schönheit.27 Selbst bei einem Autor wie Gottfried von Straßburg, der sich keineswegs damit begnügt, seine Figuren primär über den Körper zu bestimmen, gerät Tristans Maskierung als Tantris in Gefahr, wenn er ohne Kleider nackt im Bad sitzt, d.h. seiner (angenommenen) sozialen Rolle ,ent-kleidet' ist. Sein Körper kann Isolde über seine wahre art nicht täuschen, und dies noch bevor sie die Scharte in seinem Schwert entdeckt hat und daran denjenigen, der Morold erschlagen hat, enttarnt. Isolde beginnt zu zweifeln, wenn sie jeden Teil seines Körpers überprüft, an libe und an gelä^e (GTr 9998), Hände, Augen si besach sin arme und siniu bein, an den offenliche schein, da£ er so tougenliche hal. si bespehete in obene hin ΐζβ tal [...]
(10001-1004).
Die Beschaffenheit {geschepfede, 10009) herrenmäßigen (herliche, 10018) Körpers ist die eines Königs. Noch bevor sie mehr weiß, beklagt Isolde die Diskrepanz zum angeblichen Stand des spilman, während doch umgekehrt viele Reiche mit swacher art (10029) besetzt seien. Es versteht sich von selbst, daß sie recht hat, da£ er gebürte ein herre was (10136). In der Formulierung ein lip [...] so getugendet (10031 f.) wird ausgedrückt, daß dies mehr als eine bloß physische Qualität meint.28 Die Prägung durch art geht über die körperliche Gestalt weit hinaus. In Heinrichs von Veldeke ,Eneit' bemerkt Latinus über Eneas: want der sige is ime geslaht (HvV 8479; v &'· I 2 °oo)· Eneas ist von Geburt ein Sieger und wird deshalb siegen. ,Sieg' ist genealogisch determiniert. Auch salde (hier vor allem: Glück) ist an die Herkunft gebunden. Exemplarisch hat Wirnt im ,Wigalois' die daraus folgende Begrenzung des narrativen Kosmos gefaßt. Der Großvater des Wigalois besitzt ein
Λ
"
Z u m B e g r i f f G r u b m ü l l e r (1997). Exemplarisch J o h n s o n : Parzival's beauty, in: Approaches (1978), S. 2 7 3 - 2 9 1 ; S. 286f. zu den genealogischen G r u n d l a g e n . Schultz (1996) hat d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß der K ö r p e r (im Gegensatz zu den Kleidern) seltsamerweise nicht das Geschlecht bezeichnet, wohl aber den Stand.
51
Herkommen
Glücksrad. Es zeigt aber nicht, wie üblich, die Instabilität menschlicher Herrschaftsverhältnisse an und öffnet damit nicht die Erzählung auf eine nicht vorhersehbare Handlungsfolge, sondern ist Zeichen der Fortüne seines Geschlechts: be^eichent, da% dem wirte nie/an deheinem dinge missegie,/ wan dai^gelücke volget im ie (WW 1050-1052). Der Erfolg ist genealogisch garantiert. So kann das Glücksrad später als Wappenzeichen den Helden begleiten; es antizipiert seine Taten - und überhaupt das, was in der Geschichte eines Artushelden geschehen kann. Umgekehrt ist es unwahrscheinlich, daß jemand, dem nicht salde von Geburt gegeben ist, Erfolg hat. Daher kann im ,Tristan' der ,unselige', d.h. nicht mit salde begabte Truchseß nie die Hand Isoldes bekommen: wirt disem unsaligen man, der nie salde gewan, disiu salige maget, so ist im al diu salde ertaget, diu ime oder dekeinem man an einer maget ertagen han. (9789-9794).
In ertagen ist die Nuance ,(gerichtlich) erstreiten' zu beachten;29 salde erstreitet man nicht in Gerichtsverfahren, man ,hat' sie. Uber die Genealogie wird auch die Moral naturalisiert. A m deutlichsten ist das in der Heldenepik, etwa in der ,Verrätersippe' der chansons de geste, die Verrat, das ethisch-soziale Fehlverhalten schlechthin, ,im Blut' hat. Aber auch der höfische Roman verzichtet nicht völlig auf die ,naturalistische' Begründung von Ethos, obwohl er mit %uht die Entfernung vom Naturzustand propagiert. Die notorischen Totschläger Lähelin und Orilus in Wolframs ,Parzival' sind Brüder. 30 In Konrads ,Partonopier' ist ein heidnischer werder grave ( K P M 4396) allein deshalb von %egelichem muote (4408) und ein Verräter, weil er von gebürte swach ist (4407), nämlich von gebüre/gemachet feinem graven (46o4f.). Sein kranc gesiebte (4612) ist auf Kosten der hohen und der werden (4615), die von adel sintgeborn (4641), aufgestiegen. Konrad kann gar nicht genug tun in der ständischen Abwertung dieses Mareis: E r ist von nihte erhoehet (4599); ü^ eime snoeden knehte/ist er ritter worden (4670^; guote ist er von nihte komen (4674). Bei solchen Leuten hilft Wohltun nicht; sie bleiben Feinde des Adels. 3 ' Auch positive Figuren sind häufig miteinander verwandt, so der treue heidnische Gefährte Partonopiers mit dem gleichfalls positiv dargestellten Heidenkönig (99o2f.). Im ,Wilhelm von Osterreich' weiß der Erzähler: z
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Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, L e i p z i g [1872] gerichtl. urteile erlangen".
1972, B d . 1, Sp. 681: „ m i t
G r e e n (1978), S. 47; verwandtschaftliche Beziehungen bestehen auch zwischen den übrigen Rittern, die sich durch einen Totschlag schuldig machen (S. 53). Hin anderer gebüre und A u f s t e i g e r am H o f des K a i s e r s erweist sich als hinterhältiger Intrigant; vgl. die weit überschüssig erzählte E p i s o d e 1 7 4 7 7 - 1 8 7 1 2 , die dem Beweisziel dient, daß der gebüren fruht,/
diu von nihte erhoehet wirt {ιη^ζί.),
nur Unheil stiftet.
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Naturalisierung von Ethos Swa^ von adel ist geborn, da% hat diu Natur erkorn s>u adellichen Sachen (WvO 1 2 3 3 1 - 1 2 3 5 3 ) .
Allenfalls vorübergehend kann die Bestimmung durch die art abgelenkt werden. Wenn Herzeloyde Parzival in der Wildnis aufwachsen läßt und von der Ritterwelt fernhält, dann nennt Wolfram seinen Helden an kiineclicherfuore betrogn (WPa 118,2), betrogen um das, was ihm seiner Herkunft nach zukommt. Auf Dauer kann das nicht gelingen; die art setzt sich durch.' 2 Diese Annahme wird auf ethische Qualitäten ausgedehnt. In Wolframs ,Willehalm' ist Gvburgs milte Familienerbe; über ihren Onkel Arofei heißt es: Gy bürge milte was geslaht von im: er bete£ dar %uo bräht, da^ ninder kein so miltiu hant bi sinen leiten was bekant (WWh 7 8 , i 9 - 2 2 j
Aus Parzivals art ergibt sich ein ganzer Komplex von genealogischen Vorprägungen. Sigune sagt, wenn sie dem Helden das erste Mal begegnet: du bist geborn von triuwen (140,1). Doch in solchen Formulierungen stößt adeliges Selbstverständnis an seine Grenze, die narrativ überwunden werden muß. Die regelhaft aus der Annahme genealogischer Auszeichnung ableitbaren Erzählmuster erweisen sich als unzureichend. Wolfram setzt den Erzählkern ,Der Held wird, was er ist' voraus, um ihn zu destruieren. Er erzählt nämlich, daß die genealogische Bestimmung von Ethos nicht ausreicht. Gerade sein Versagen an triuwe wird Parzival vorgeworfen werden. Das übliche Denkmuster wird noch einmal zitiert, wenn Cundrie ihm in ihrer großen Anklage vor dem Artushof die Tugenden seines Vaters Gahmuret vorhält (WPa 3 1 7 , 1 1 - 1 5 ) , der manlicher triwe wise war (317,23). Parzival dagegen hat so versagt, daß er nicht sein Sohn zu sein scheint: Het iwer muotr ie missetän, so solt ich% dafür gerne hän, ir möht sin sun niht gesln. (317,17-19).
Ein solcher Schluß steht im Irrealis, aber er zeigt, was hier auf dem Spiel steht. Zwischen Adelsqualität und Ethos ist ein Bruch aufgetreten. Die Heilung des Bruchs ist Thema des Romans, vor dem Hintergrund eines im allgemeinen unbefragten Bewußtseins, daß es solch einen Bruch nicht geben kann. Dem Roman ist daher aufgegeben zu erzählen, wie Parzival doch erreicht, was er zwischendurch verspielt, obwohl es ihm von art her zukommt. "
1 1 8 , 2 8 ; 1 2 3 , 1 1 ; vgl. 1 6 4 , 1 5 ; 170,23; 174,24; 208,13 u - ö · D i e «/Y-Problematik kehrt ebenso bei Hartmann v o n A u e wieder (vgl. I. Hahn, 1985, S. }f.)· „ D e r unveränderbare A u s g a n g s p u n k t seines Weges ist die kollektive Festlegung auf seinen Stand. Hartmann hatte im ,Iwein', dessen Held aus allen sozialen B i n d u n g e n in einen Urzustand zurückfällt, eine A r t N e u z u w e i s u n g in den ritterlichen Stand v o r z u n e h m e n " (S. 214).
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Herkommen
Die im Genealogiedispositiv angelegte Naturalisierung von Ethos generiert insofern eines der produktivsten narrativen Muster des höfischen Romans. Ihre Korrektur liegt nämlich noch der Symbolstruktur des höfischen Romans zugrunde, dem ,Doppelweg', den der Held zu durchlaufen hat, weil er erst noch werden muß, was er schon ist oder zu sein schien." Der Triumph am Ende resultiert hier nicht mehr aus art, sondern ist Ergebnis von Ethos.' 4 Das Verhältnis von art und Ethos ist im Rahmen genealogischen Denkens diskursiv nicht zu lösen. Seine problematischen Implikationen können nur narrativ durchgespielt und aufeinander abgestimmt werden. Im Lauf einer Erzählung können beide vorübergehend entkoppelt werden, um sie dann umso triumphaler wieder zusammenzufügen. Ein beliebter Erzählkern ist deshalb die vorübergehende Ent-artung. Ulrichs von Etzenbach ,Wilhelm von Wenden' erzählt, wie sich art positiv noch in solcher Entartung zeigen kann (wobei allerdings deren ethischen Konsequenzen heruntergespielt werden müssen) und wie art sich zuletzt doch als Besser-sein auch im ethischen Sinne erweist. Willehalm gibt, wenn er durch einen Pilger von Christus hört, Christus zuliebe alles auf, zuerst sein Land, dann auch seine Frau und seine Söhne, die er an (immerhin christliche) Kaufleute verkauft. Für die Söhne bedeutet dies Gefährdung dessen, was ihnen von art zukommt. Sie wachsen in einer Umgebung auf, in der man sie nicht nach ir gehurt und nach ir rehte hält (WvW 5ο5 3f.); der eine wird sogar als villan beschimpft. Doch auch unter diesen Bedingungen zeigt sich ihre fürstliche art in ihrer Erscheinung und ihrem Benehmen: ir gehurt sich so bemste (5069). Irgendwann, wenn sie erfahren, daß sie nicht bei ihren Eltern aufgewachsen sind, machen sie sich, jeder für sich, auf, um nach ihrer Familie zu forschen. Sie begegnen einander, ohne sich zu erkennen. Für die Mystik der art ist das kein Problem. In ihrem gleichartigen Verhalten {gebäre unde site) zeigt nature, daß sie von gleichem Adel sind: glicher gebäre unde site an hoher geburt die klaren von stierer nature waren. (5192-5194J
"
Vgl. die zahlreichen Untersuchungen Haugs (vgl. 1970; 1971; 1975a; 1975b). Die entsprechenden Erzählmuster sind gut erforscht und müssen hier nicht ausgeführt werden. In der hier akzentuierten Hinsicht ist der Doppelweg keineswegs, wie in letzter Zeit mehrfach betont wurde, eine bloße Sonderform des höfischen Romans, sondern ergibt sich aus dessen ideologischem Kern, der nicht unbedingt als ,doppelter Cursus' ausgeschrieben werden muß, sondern auch den scheinbar schattenlosen Erzählarrangements der späthöfischen Epik zugrunde liegt; ein Wigalois z.B. ist von Anfang an ein unvergleichlicher Held; doch auch diese Unvergleichlichkeit muß narrativ entfaltet werden.
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Verschleiert ist dieser Zusammenhang dadurch, daß auch der erste Glückszustand an eine Leistung des Helden geknüpft wird. Diese aber ergibt sich nahezu selbstverständlich aus der ererbten art und mündet folgerichtig in der Etablierung des Helden als Herrscher. Beim zweiten Mal müssen die Vorgaben der art dagegen verdunkelt werden: Erec reitet als guoter kneht aus, Iwein verleugnet seinen Namen.
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Naturalisierung von Ethos
Sie erfahren, daß sie das gleiche Schicksal haben, da sie nichts über mäge, vater und muoter wissen (al miner vriunde ich irre var, 5263-5266), und so werden die Zwillinge Freunde dank unkuntlicher sippe kraft (5275). Verwandtschaft äußert sich in einer naturgegebenen inneren Ubereinstimmung des gemüete und des willen·. ein gemüete ir her^e begriffen hat, daζ von hoher geburt die klären gar eines willen wären. (5308-5310)
Art schafft eine soziale und sittliche Prägung und affektive Bindungen. Sie wird trotz der Mittellosigkeit der beiden allenthalben wahrgenommen. Ein reicher Mann, der sie aufnimmt, bemerkt: daζ sie wärn einer reinen fruht, da% merkte er. im geviel ir \uht. (5 3 3 5 F.) al ir tuon und ir gelä\ er näch hohem arte ma\ (5 343f.),
Auch %uht - eigentlich doch Produkt von Erziehung - wird auf die Herkunft zurückgeführt. Dasselbe geschieht am Hof des Königs: hohem arte man sie ma^ (5545). Die Suche nach ihren Eltern zehrt jedoch allmählich ihr Gut auf, zumal sie nicht näch armuot (5687) leben, sondern aufwendig, eben wie es der art entspricht. In der Not einen neuen Herrn suchen wollen sie nicht, weil sie, arm, wie sie sind, bei ihm in armer ahte wären (5764). Sie gelangen ins Land ihrer Geburt, dorthin also, wohin sie ihrer art nach gehören. Wieder begründet art ,Affinität': Scheinbar ohne Grund und, obwohl das Land noch heidnisch ist - sie sind Christen - , wollen sie aus diesem Land nicht mehr fort (5738-5741): ich enwet% wa% min gemüete her/twinge (575 5F.); art wurzelt gewissermaßen im ,Boden'. Doch zwingt sie dort armuot gen>alt (5786), als Räuber ihren Lebensunterhalt zu suchen. Jetzt zeigt sich, was art im Kern ist: kriegerische Tüchtigkeit des adeligen Herrn. Die überlegene Gewalt, die sie als Räuber erfolgreich ausüben, verletzt allerdings die ethische und soziale Ordnung des Landes und mobilisiert Gegenkräfte. Deshalb darf dieser Zustand nicht andauern. Doch wird der Rechtsbruch dadurch abgemildert, daß sie in ir selber lande sind, also, wie Ulrich beruhigend bemerkt, als Räuber nur nehmen, swa^ in %uoquam (5869^. Sie bewähren ihre angeborene Tapferkeit, leben, indem sie ihren Waffen verdanken, was sie haben, standesgemäß, und wenn sie sich etwas nehmen, dann .gehört' ihnen das eigentlich schon. Trotzdem stehen die beiden als Rechtsbrecher außerhalb der legalen Ordnung des Landes und müssen daher von der Landesfürstin verfolgt werden. Indem diese allerdings unerkannterweise ihre Mutter ist, ist die Lösung schon vorbereitet. Da die beiden ihre art noch bewähren, indem sie gegen die Ordnung verstoßen, müssen sie nicht beseitigt, sondern nur integriert werden. Das geschieht auf verschlungenem Wege. Dabei kommt der Vater - Garant der art - als Vermittler ins Spiel, der 55
Herkommen die zur E x e k u t i o n verpflichtete Landesfürstin ersetzt. Christus selbst schickt ihn als Unterhändler zu den Räubern (6607; 6616-6620). E r kann sie überreden, ihr H a n deln ihrem
adel (den er natürlich
ebenfalls gleich bemerkt hat),
anzupassen
( 6 5 1 5 - 6 5 2 4 ) und den R a u b aufzugeben. A u f diesen A d e l , f ü r den Taten wie Verhalten stehen, beruft er sich auch später, wenn er bei der Landesherrin eine A m n e stie für sie erwirkt: al ir tuon und ir gebär ist nach hohem arte gar, dar sie erboren sint. geloubet, sie sint edeliu kint!
(6707-6710).
Von A n f a n g an fühlt er sich daher unerklärlich zu ihnen hingezogen (6462-6466) so wie auch später die Mutter (6787-6789) - und erkennt schließlich seine Söhne. N u n muß er sie noch mit der Fürstin versöhnen, die er noch nicht und die ihn noch nicht erkannt hat. D a s gelingt in einer F o l g e v o n Wiedererkennungsszenen. D i e K r i s e der art wird dort gelöst, w o sie ihren U r s p r u n g nahm: innerhalb der A b stammungsgemeinschaft. Weil die beiden R ä u b e r ohnehin zur Herrschaft geboren sind, erhalten sie A m t e r im L a n d , die ihnen legal verschaffen, was sie sich illegal g e n o m m e n hatten. D i e Selbstfeier der art kann deren Widersprüche nur bewältigen, indem sie sie prozessiert. Ihrer B e w ä h r u n g geht eine S t ö r u n g , eine , E n t a r t u n g ' voraus, die selbst sich aus art erklärt. D e r B r u c h der O r d n u n g wird zuletzt r ü c k g ä n g i g gemacht und in genealogisch begründete Legitimität überführt. Selbst die G e f ä h r d u n g der territorialen O r d n u n g soll die Qualitäten derer bestätigen, die dazu bestimmt sind, sie aufrecht zu erhalten, und die ethische Qualität v o n art behauptet sich noch dort zu bewähren, w o sie entartet. D i e E r z ä h l u n g setzt die prätendierte Einheit v o n art und E t h o s voraus. Wenn man ihr folgt, bestand der B r u c h nur scheinbar und kann deshalb geheilt werden. Dasselbe P r o b l e m umkreisend hat K o n r a d v o n W ü r z b u r g seine Unheilbarkeit erzählt." I m ,Trojanerkrieg' geht er zwar gleichfalls zunächst v o n der A n n a h m e eines naturgegebenen ,Gut-seins' aus: D e r K ö n i g s s o h n Paris wächst fern des H o f e s in einer Hirtenwelt auf, in der er auch ohne höfische E r z i e h u n g seine adlige art beweist.' 6 Seine H e r k u n f t ist stets erkennbar: jwie vaste er do gesellet sich/^uo den gebüren halte,/ so was er doch vil state/an allen hövelichen siten [!] (636-639), nicht zuletzt dank der Fähigkeit, mittels Recht Frieden zu sichern. E r schafft guot gerihte ( K T r 645) und läßt keinen %orn a u f k o m m e n (657), bewährt sich also in der wichtigsten
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D i e Naturalisierung v o n Paris' E t h o s hat Friedrich (2007), S. 1 1 4 - 1 1 6 beschrieben. Sie wird freilich v o n K o n r a d dekonstruiert. Paris' „untrügliches G e r e c h t i g k e i t s g e f ü h l " (S. 1 1 5 ) ist untrüglich eben nur in der idyllischen Hirtenwelt. E i n m a l am H o f , ist nature nicht mehr positive „natürliche artspezifische M i t g i f t " , sondern verhängnisvolle Triebverfallenheit (vgl. S. 1 1 9 f . ) .
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Vgl. Friedrich (2007), S. 1 1 5 .
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Naturalisierung von Ethos
Fürstentugend, eine gerechte Ordnung herzustellen und aufrecht zu erhalten. Seiner ,angeborenen' Gerechtigkeit verdankt er seinen Namen: da^ er geheimen Paris/ wart dur sin geliche^ reht.j ,pär' und ,gelich' sind ebensieht (662-664). Diesem Ruf verdankt er es, daß man ihn zum Hochzeitsfest der Thetis herbeiholt, auf dem ein Streit der Göttinnen um den Apfel der Discordia ausgebrochen ist, ein Streit, den keiner der anwesenden Götter und Fürsten schlichten kann. Wenn er bei Hof erscheint, erkennen wieder alle seine königliche art}1 Er scheint ein künic libesbalben (1695), wie es verräterisch heißt; libeshalben ist nämlich, wie sich herausstellt, zu wenig. Auch das perfekte höfische Benehmen, das ihm angeboren scheint, reicht für seine Aufgabe nicht aus. So schlichtet das Urteil des ,geborenen' Richters den Streit um den Apfel nicht, sondern ist der Ausgangspunkt neuer Rechtsbrüche und Katastrophen und verursacht zuletzt den schrecklichsten Krieg der Weltgeschichte. In seinem Urteil wird art auf unvorhergesehene Weise bestätigt: In twanc dar btiiende jugent Und sin angeborniu [!] tugent, da^ sin gemüete uf minne stuont. Er tet alsam die jungen tuont, die von nature sint der art [!], da£ in so liebes nie niht wart, so vröude ist unde wunnespil (2715-2721)
Wenn Paris wieder seiner ,Natur' folgt, ist es nicht mehr die ,natürliche' Anlage zur Gerechtigkeit, sondern die ,Natur' eines jungen Mannes, der nicht widerstehen kann, wenn die Liebesgöttin ihn mit der Aussicht auf die schönste Frau der Welt verlockt. Damit besiegelt er Trojas Untergang. Konrad diskutiert nicht diskursiv die Konsequenzen eines naturalisierten Gerechtigkeitssinnes qua art, sondern entfaltet narrativ, was geschieht, wenn art zur Maske egoistischen Begehrens wird. Die verhängnisvolle Kontamination von art und Ethos bestimmt durchweg das Denken der Protagonisten im ,Trojanerkrieg'. Nachdem Paris Helena schon entführt hat und der große Krieg heraufdämmert, wirft der beleidigte Menelaus Paris vor, gegen wahrhaft edles Verhalten verstoßen zu haben. Seine unhöfische Jugend unter Hirten habe ihn dafür unfähig gemacht. Sogar seine adlige art zieht Menelaus angesichts des Ehebruchs in Zweifel: gelouben ich des küme sol, da£ iuwer art schin ΰζ erkorn. und warent ir von im geborn, des man iu feinem vater gibt, ir ha tent iuwer triuwe niht gevelschet undgeswachet. (54348-54353)
"
Vgl. 1 6 7 2 - 1 7 0 1 ; 1708; 1 7 7 5 - 1 7 8 3 ; 3151 {ein höherfiirste) u.ö.
57
Herkommen Für den betrogenen Menelaus ist Ethos immer noch Sache des Bluts. Er hält adelige Abkunft für einen Garanten von triuwe und bezweifelt daher, daß Priamus der Vater des Entführers und Ehebrechers Paris ist. Paris erwidert, Menelaus werde schon an der Weise, wie er, Paris, kämpfe, sehen, ob ein Hirt oder ein König sein Vater sei. Adlige art zeigt sich für ihn in außerordentlichen Körperkräften, wo Menelaus eine besondere ethische Verantwortung erwartet. Beide argumentieren nur scheinbar auf derselben Ebene und beziehen sich nur scheinbar auf dieselbe Sache. Paris ist als trojanischer Königssohn zwar einer der besten Krieger; aber er ist auch ein Rechtsbrecher. Der Gang der Handlung widerlegt die Voraussetzungen des Disputs: Menelaus' naive Verknüpfung von art und Ethos und Paris' selbstgefällige Antwort. Paris spielt nicht seine Rolle bei Helena so erfolgreich mangels höfischer %ifht, wie Menelaus glaubt (34340), sondern weil er ein perfekter Ritter ist, und nicht trotz, sondern wegen seiner vornehmen Abstammung. Was im ,Parzival' mit der dem Helden angeborenen triuwe schon angelegt ist, treibt Konrad in seine radikalen Konsequenzen: Die genealogische Naturalisierung der Moral zersetzt die Ordnung, die sie zu stützen angetreten war. Der Versuch, die Konsequenz einer Dissoziation von art und Ethos narrativ abzuwenden, scheint allgemein ein Anliegen höfischen Erzählens im 13. Jahrhundert. Es strahlt in andere Gattungen aus. In Strickers Bispel .Hofhund und Jagdhunde' wird erzählt, wie ein halb verhungerter Bauernköter sich bei Hof einschmeichelt, anfangs demütig vor allen kriecht, dann immer frecher wird, herumliegt, sich vollfrißt und immer stärker wird, so daß er die edlen Hunde, deren Kräfte jeden Tag auf der Jagd beansprucht werden, allmählich verdrängt. Die Auslegung des Bispel hält fest: So sei das auch mit den gebüren, die sich den edelen gleichmachen wollten (StH 81). Dieses ungeslehte (94-97) verdränge mit seinem rücksichtslosen Egoismus (gefaßt als Freßlust) den Adel aus seinen angestammten Positionen. Indem der Stricker ein Tiet-Bispel wählt, baut er ebenfalls auf der Naturalisierung von Ethos auf, spielt seine ethische und politische Aussage von vorneherein in den Bereich natürlicher Ordnungen hinüber. Uber Wert und Unwert, Legitimität und Illegitimität ist biologisch vorentschieden wie über eine Hunderasse. Die Handlungsfolge läuft zwar auf eine eindeutige Wertung hinaus, aber die Versuchsanordnung ist brüchig. Sie kann nicht verdecken, daß die Analogien in Erzählung und Auslegung nur plausibel sind, wenn man einige durchaus fragliche Voraussetzungen akzeptiert. Der Hofhund ist faul und gefräßig, und er macht Karriere bei Hof, indem er seine Laster auslebt. Sein Aufstieg ist also an jenes angeborene Schlecht-sein gebunden, dem das natürliche Gut-sein des Adels gegenübersteht. Die Möglichkeit, daß ethische oder politische Qualitäten von niedriger Geburt nicht ausgeschlossen werden, scheint nicht vorstellbar. Historisch ist aber genau dies der Grund, daß im 13. Jahrhundert zunehmend Menschen geringerer Herkunft bei Hof Erfolg haben. Entspricht das Verhalten des Hofhundes seiner körperlichen
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art und nutritura Verfassung, die ihn untauglich zum ,Geschäft' der J a g d macht, so macht die Herkunft aus seinem menschlichen Gegenstück keineswegs einen Schmarotzer. Der gebäre ist durch erlernbare Fertigkeiten zu administrativen ,Geschäften' befähigt. Den einen bringen Unterwürfigkeit und Schmeichelei nach oben, den anderen Effizienz. Kennzeichnen den einen die Vitalfunktionen des Fressens und Schlafens, dann den anderen Arbeit. Während im narrativen Arrangement sich die J a g d h u n d e durch anstrengende Bewegung auszeichnen, frönen ihre menschlichen Pendants tatsächlich der Luxusbeschäftigung einer leisure class. In dem der Bispel-Teil ein soziales Problem naturalisiert und mit einem im Kern entgegengesetzten Vorgang parallelisiert, versucht der Stricker das genealogische Denkmuster gegen Auflösungstendenzen zu immunisieren. Narrativ soll plausibel gemacht werden, was diskursiv schon nicht mehr bewältigt werden könnte. Die Narration ist völlig dem Beweisziel untergeordnet, würde aber an seiner Erfüllung scheitern, wenn man sie auf die denotierten sozialen Verhältnisse anwendete. Das Mare speist seine Bewegung aus demselben Beunruhigungspotential wie die Erzählungen Wolframs und Konrads. Es entsteht für die gleiche laikale Rezeptionsgemeinschaft, versucht aber noch einmal die aporetischen Implikationen genealogischen Denkens abzubiegen.
art und
nutritura'8
Die genealogische Determinierung wird also im höfischen Roman nicht aufgegeben, aber sie gerät zunehmend in Spannung zu %ubt - im Sinne von Erziehung (nutritura). Im allgemeinen hat auch hier Erziehung, w o sie überhaupt thematisiert (und nicht als bloße Zugabe zu adeliger art betrachtet) wird, nur zu ergänzen, was von der art her schon angelegt ist. Gurnemanz bringt an Parzival zur Erscheinung, was noch unter den Narrenkleidern verborgen liegt.' 9 Das sind zuerst körperliche Qualitäten. Gurnemanz diszipliniert Parzivals Körper für Fertigkeiten, für die der junge Mann grundsätzlich prädestiniert ist. Vor allem am Reiten wird das Zusammenwirken von Anlage und Erziehung sichtbar. Auch an Helden wie W i g a m u r oder Lanzelet zeigt sich fehlende Erziehung zunächst an ihrer schlechten Haltung zu Pferde, ihre gute Anlage aber an der Geschwindigkeit, mit der sie reiten lernen. A u f dem Ausgleich von beidem beruht das höfische Menschenbild.
"
D a s P r o b l e m wird noch in Boccaccios , D e c a m e r o n ' reflektiert; vgl. die Einleitung zum 4. Tag. Von daher wäre noch einmal zu überprüfen, ob man zu recht G u r n e m a n z ' Regeln als bloß konventionellen Z w a n g betrachten darf, der Parzivals gute , N a t u r ' einengt und ihn auf der G r a l s b u r g versagen läßt. E h e r scheint gezeigt zu werden, daß diese A r t von %uht - ebenso wie angeborene A n l a g e n - nicht hinreicht.
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Herkommen
Doch bleibt das Verhältnis prekär und kann manchmal nur mit Anstrengung narrativ bewältigt werden. Wieder reflektiert Konrad von Würzburg die Krise. In seinem ,Trojanerkrieg', ist Achills art so bestimmend, daß es keiner Anstrengung Schyrons bedarf, ihn zum Heros zu erziehen. Es „verkehrt sich geradezu der Grundgedanke der Erziehung, wenn nicht Entfernung von der Natur, sondern Annäherung an sie das Ziel ist".4° Konrad faßt das Verhältnis von Sozialisation und art in die geläufige Metapher des Siegels, das sein Bild dem Wachs aufprägt (KTr 6385-6391). Allerdings verkehrt er die Auslegung der Metapher. Das (weiche) Wachs steht gerade nicht für eine nahezu unbeschränkte Formbarkeit des Menschen, sondern nur für den zu bearbeitenden Stoff, dessen Eigenschaften den Bearbeitungsprozeß beeinflussen. Das Siegel kann sich nur eindrücken, wo und wie es das Wachs erlaubt. In dieser Bedeutung ersetzt er die Metapher bald durch andere, die des (nur mühsam und in Grenzen formbaren) Steins bzw. die der (nur zu kultivierenden, nicht aber unbeschränkt veränderbaren) Pflanze. Auf der Ebene der Metaphorik zeichnen sich damit die Grenzen höfischer Erziehung ab. Achill nimmt Schyrons lere, wie es heißt, mit innerer Bereitschaft, eigenlicher willekiir (6398), an: Swa£ adellichen arten mil, dem bedarf man niht vil rilicher meisterschefte. von siner tugent krefte kan wol selbe %tto genemen.
(6405-6409)
Die art gleicht dem mehr oder weniger geeigneten Material des Steinmetz, das seiner Kunstfertigkeit Grenzen setzt (unedel hint können zwar besser werden, aber nie ganzer tugende list erreichen, während bei Achill sin art senft unde reine ein wunder an Erziehung erlaubt, 6410-6447). Und wie organisches Wachstum bedarf %uht der regelmäßigen Bewässerung: swer aber sinnerichen muot von angeborner tugent hat, des ivit^e get vür allen rät, der von meisterschefte kumet. guot lere da ^e nihte frumet, swa man niht grundes vindet, der sanfte si gelindet mit siie^er tugende fiuhtekeit.
(6460-6467).
Das Wässern der Pflanze gehört zur cultural Sie greift nicht in den natürlichen Prozeß ein, sondern fördert ihn nur zur meisterschaft. Hier hat - im modernen Sinne formende - Kultur ihre Grenze. 40 41
Friedrich (2007), S. 1 1 8 . Z u m älteren K u l t u r b e g r i f f Hartmut Böhme, Kulturwissenschaft, R L W 2, Berlin/New Y o r k 2000, S. 357·
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art und
nutritura
Schyron läßt Achill eine typisch adlige Erziehung angedeihen, d.h. er erzieht ihn vor allem zum Heros. Zwar gehören höfische Künste hinzu, doch dominieren Wildheit und Kühnheit. Thetis dagegen versucht, Achill von seiner genealogischen Bestimmung zum Krieg abzubringen und ihn dadurch vor dem Tod vor Troja zu bewahren. Angeblich um Schyrons Erziehung durch höfische %uht zu ergänzen, trennt sie ihn deshalb von seinem Lehrer und versetzt ihn in eine Welt von Frauen. 4 * Zu ihr hat Achill nur als Mädchen Zutritt. Damit werden die Grenzen von ^uht ins Bewußtsein gehoben, denn eine Verleugnung der Geschlechtsidentität muß auf Dauer mißlingen. Die alternative höfische Erziehung (die zu der i7r/-gemäßen zum Krieger hinzukommen soll) wird mit dem Versuch verknüpft, ausgerechnet diejenige natürliche Qualität zu verändern, die als unveränderbar gilt, die Geburt als Mann oder Frau. 4 ' Damit sind Grenzen von nutritura bezeichnet, die den Versuch, der art zu entkommen ad absurdum führen. Achill empfindet und handelt selbstverständlich weiter als junger Mann. Seine ,Natur' bricht sich auch in der Verkleidung Bahn. 44 Achills Körper weist typische Merkmale eines männlichen Körpers auf, breite Schultern, heftige Bewegungen, ausgreifender Gang. Sein Gebaren ist wilde (14960; i5i2of.); er läßt seine Blicke schweifen nach wildenclichen dingen (15124) und nutzt die Verkleidung, um sein sexuelles Begehren auszuleben. Und so wie er Mann bleibt, bleibt er auch Krieger. Lange wird er nicht entdeckt, bis die Abgesandten der Griechen sein Verhalten auf die Probe stellen ( 1 6 1 4 6 - 1 6 1 5 5). Dann aber reagiert er nicht nur so, wie man es von einem Mann erwartet - das hat er unbemerkt schon vorher bei seiner Geliebten getan - sondern wie man sich einen Adligen denkt, der sich für Kriegsgerät statt für Putzartikel interessiert. Und so zieht er, einmal enttarnt, zuletzt mit den Griechen in den tödlichen Kampf vor Troja. Nutritura erweist sich als denaturierende Dressur - denaturierend bis zur Aufgabe des Geschlechts - , und kann auf Dauer nichts gegen die natura ausrichten. Dieses Verhältnis von natura und nutritura, Grundlage mittelalterlicher Adelsideologie, hat Konrad freilich denunziert. Achills natura ist auf die Eigenschaften
41
K r a ß (2006), S. 286 sieht die höfische E r z i e h u n g schon in das E r z i e h u n g s p r o g r a m m des Schvron integriert; für ihn ist deshalb die Maskerade als Mädchen weniger mit einer höfischen als mit einer typisch weiblichen Sozialisation verbunden. Wenn Achill-Jocundille ihre Freundin Deidamia im Saitenspiel unterrichtet, k o m m t m. E . daher weniger „der höfische Anteil der bei Schiron empfangenen A u s b i l d u n g zum Z u g e " , als daß der maskierte Held ein mit Weiblichkeit konnotiertes Rollenmuster übernimmt.
41
Natürlich fußt K o n r a d auch hierin auf der , Achilleis' des Statius; er gibt dem Krziehungsexperiment jedoch eine höfische Wendung.
"H Thetis erhält nur deshalb Achills Z u s t i m m u n g zum Erziehungsexperiment, weil er dadurch seinem männlichen Begehren rascher zum Ziel zu verhelfen h o f f t ; verkleidet kann er sich problemloser dem Mädchen, in das er sich verliebt hat, nähern; zur Genderproblematik Andrea Sieber: da^frönnen cleii nie ba% gestuont. Achills Crossdressing im ,Trojanerkrieg' K o n r a d s von W ü r z b u r g und in der ,Weltchronik' des J a n s Enikel, in: Genderdiskurse (2002), S. 4 9 - 7 6 , bes. S. 56-59. 61
Herkommen
eines wilden Kriegers und rücksichtslosen Liebhabers reduziert. Bei solch einer Kriegsmaschine kann höfische %uht nichts ausrichten. Sie bleibt rasch abblätternder Firnis. Durch den Fortgang der Handlung gerät die heroische Determination vollends ins Zwielicht. Sie ist eine Determination zum Untergang, vor dem ihn seine Mutter vergeblich zu bewahren suchte. Noch weiter geht Konrad im ,Engelhard', wo er das Verhältnis von %uht und art geradezu umkehrt. Der ,Engelhard' wandelt den Amelius-et-Amicus-Stoff 4 s ab. E r erzählt von einer ständisch asymmetrischen Freundschaft zwischen Engelhard, dem Sohn eines armen Ritters, und Dietrich, dem Sohn des Herzogs von Brabant. Nach der Logik der art müßte sich die unterschiedliche Herkunft in einer unterschiedlichen Gestalt, unterschiedlichen Körperkräften, Fähigkeiten, selbst Lebenschancen ausprägen. Aber genau das ist nicht der Fall. Die genealogische Determination wird ausgeschaltet, jedoch nach den Regeln genealogischen Denkens: Gleichheit des Habitus und des Ethos drückt sich in körperlicher aus.46 Das ist zweifellos ein wunder ( K E 675), da beide keine Brüder sind, ein Wunder aber auch, bedenkt man ihre Herkunft. Wenn Engelhard das erste Mal auf Dietrich trifft, heißt es von diesem: der was gestalt reht alsam er an libe und an gebäre. si mären beide ^-wäre vil gar gelteh ein ander, wan eine forme vander an in beiden, swer si sach. got, aller Salden überdach, der hate an in gewundert. si wären ungesundert an allen dingen beide. kein ander underscheide an ir bilden wart erkant, wan da^ ir pfert und ir gewant ein ander wären ungelich. ( K E 448-461)
41
46
Vgl. den Text des ,Amelius und Amicus' nach K E S. 241-249. Die Fixierung auf die Stofftradition hat den Blick dafür verstellt, daß Konrads Umformung der Geschichte das Ahnlichkeitsproblem und das damit verbundene Problem eines höfischen Ethos ganz anders als der lateinische Prätext faßt. Auch die beiden Helden Amelius und Amicus gleichen einander äußerlich völlig (S. 241,5-7; 243,ioof.; 248,273-275), aber das erlaubt vor allem einige Verwechslungsabenteuer, ohne daß daraus Schlüsse auf die konstitutiven Bedingungen eines höfischen Ethos gezogen würden. Das ist eine Umkehrung der üblichen Konstellation: Zwar bewährt, wie dies Entwürfe geistlicher amicitia vorsehen, „seelische Gleichheit sich erst und eigentlich an sozialer Ungleichheit", aber die soziale Ungleichheit äußert sich nicht, wie das der Ideologie der art entspräche, in körperlicher Ungleichheit, sondern wird durch die absolut gleiche Gestalt der Körper unkenntlich gemacht (vgl. Kraß, 2006, S. 323). 62
art und nutritura Ungleichheit erscheint nur als äußere Z u t a t (pfert, gewant) - der eine ist reicher ausgestattet als der andere, und bei H o f gibt man ihnen verschiedene K l e i d e r , u m sie unterscheiden zu k ö n n e n - , nicht als qualitative D i f f e r e n z ( 8 2 8 - 8 3 3 ) . Minimalb e d i n g u n g ist nur, daß beide v o n A d e l sind: da^ wirt an in bewaret wol, swä man gehurt erkennen sol, da£ si von adel komen sint. (769—771) sus wart ir adel unde ir %uht gepriset undgerüemet. {ηη(>{.) I n d e m der S o h n des einfachen Ritters und des mächtigen H e r z o g s in E r s c h e i n u n g und E t h o s ununterscheidbar sind, wird art auf die allgemeine Adelsqualität reduziert, die sie verbindet. 4 7 D i e s e K o n s t e l l a t i o n ist aber mit dem Prinzip höfischer nutritura v e r k n ü p f t . D i e beiden zeichnen sich nämlich durch vollendete höfische T u g e n d e n aus, und a u f der wechselseitigen Wertschätzung dieser T u g e n d e n beruht ihre F r e u n d s c h a f t . S o w i e man gleich bei der ersten B e g e g n u n g in anderen E r z ä h l u n g e n die Z u g e h ö r i g k e i t zum gleichen , S i p p e n k ö r p e r ' erkennt, erkennt E n g e l h a r d an Dietrichs Verhalten, daß dieser dem gleichen E t h o s verpflichtet ist wie er selbst. Was in der R e g e l E r g e b n i s v o n nutritura
ist - Verhalten und E t h o s - hat in den beiden ununter-
scheidbar ähnlichen F r e u n d e n die E r s c h e i n u n g s f o r m v o n natura a n g e n o m m e n . D i e v o l l k o m m e n e n höfischen U m g a n g s f o r m e n sind nicht e r w o r b e n , sondern ,einfach da', und sie prägen sich in der a n g e b o r e n e n und deshalb v o l l k o m m e n gleichen Gestalt aus. 48 D i e Paradoxie zeigt sich wieder in der V e r w e n d u n g der Metapher v o n Wachs und Siegel: so aneliche gebildet wären diu vil werden kint als dä %wei wahs gedrücket sint in ein vil schoene\ ingesigel. (470-47 3)49 ^
4
Dies ist sicher auch dem E n t w u r f einer höfischen Gesellschaft von exklusiv Gleichen geschuldet, die intern ständische Unterschiede marginalisiert. Dieser E n t w u r f schließt allerdings keineswegs körperliche Gleichheit der Mitglieder ein. K o n r a d verlängert also sein Prinzip in einen Bereich, der v o n ihm nicht erfaßt wird.
" Insofern erzählt der , E n g e l h a r d ' nicht die Geschichte eines . A u f s t i e g s ' , denn sie w ü r d e Veränderbarkeit der angeborenen G a b e n voraussetzen. D a h e r besteht auch keine D i v e r g e n z zu K o n r a d s ,Partonopier' und der Kritik an A u f s t e i g e r n dort (Brunner, 1 9 8 1 , S. zy2(.). E n g e l h a r d und seine U m g e b u n g argumentieren nämlich ganz ähnlich (die Stellen S. 295-297). Wenn K o n r a d die ständische Verteilung gegenüber dem . A m i c u s und A m e l i u s ' - S t o f f umkehrte, w o der vornehmere der beiden Freunde die vornehmere Heirat machte, dann scheint mir seine .unwahrscheinlichere' Variante keineswegs sein Interesse am „erfolgreichen ständischen A u f s t i e g [ ] " (S. 297) zu beweisen, sondern vielmehr in der ungewöhnlichen Heirat die Paradoxie einer angeborenen %uht auf die Spitze zu treiben.
49
A u f f ä l l i g ist die Bewegungsrichtung: D a s Wachs wird ins Siegel gedrückt, nicht umgekehrt. D a s formverleihende Siegel ist also das Primäre - beim S c h ö p f u n g s a k t (und nicht irgendeinem nachträglichen A k t der Erziehung).
63
Herkommen
Hier meint ingesigel nicht die prägende Kraft der %uht, die naturgegebene Anlagen im Sinne eines sozialen Ideals formt, sondern die bildnerische Tätigkeit Gottes (454: got, aller salden überdach), der als Schöpfer ihnen eine forme (452) gegeben hat. Konrad rückt also die Auszeichnung durch höfische Tugenden an die Stelle genealogischer Determination, um den Preis, daß er sie gleichfalls naturalisiert. Die kulturelle Gleichheit bleibt auch in dieser Umkehrung genealogischen Denkens an die körperliche gebunden. Das aber ist nur dank seiner ,wunderbaren' Versuchsanordnung möglich. Das narrative Experiment erlaubt, das Spannungsverhältnis von (adeliger) Auszeichnung durch Herkunft und (höfischer) Vollkommenheit aufzulösen, indem beider Identität behauptet wird. De facto wird damit freilich der angeborene Rang abgewertet. Genealogisches Denken wird somit zugleich bestätigt und unterhöhlt. Daß hier zwei unterschiedliche Vorstellungen auf prekäre Weise aufeinander kopiert werden, zeigt die erste Begegnung der beiden gesellen. Die angeborene Qualität allein, erkennbar an der sichtbaren Gestalt, schafft noch keine Basis für die Freundschaft. Vielmehr erkennt Engelhard an der Art und Weise, wie Dietrich einen Apfel zerschneidet, schält und verteilt, den Freund.' 0 ,Teilen können' als Voraussetzung für gesellekeit hatte schon Engelhards Vater genannt. Dietrich fügt dem die schöne Geste der Zubereitung des Apfels hinzu. Beides sind Gesten der Distanzierung von natura - Zurückstellen des eigenen körperlichen Verlangens zugunsten eines anderen bzw. Bearbeitung roher Natur. Diese Fähigkeit zur Distanzierung begründet gesellekeit. In Konrads Erzählung ist sie angeboren wie die körperliche Gestalt, ist sie selbst natura, und nicht gesellschaftliche Konvention. Diese paradoxe Konstellation wiederholt sich am Hof von Dänemark. Dort erkennt man an beiden nur ein spräche, ein gebärde und ein sin, der äf tugent unde üf ere gerichtet ist (464-467), Qualitäten also, die gewöhnlich durch Sozialisation gewonnen werden, hier aber wieder Natur scheinen. Dabei verschwindet der Gedanke genealogischer Auszeichnung durch Herkunft keineswegs vollständig, aber innerhalb der Hofgesellschaft begründet sie keine Distinktion. Immerhin aber muß Engelhard zweifeln, ob der vornehmer geborene Dietrich nicht doch - bei aller äußeren Ähnlichkeit - schaner vil und ba% gebogen (606) sei als er selber. Das erweist sich als falsche, vom Hof zurückgewiesene Vermutung, die allerdings auf der alten Verknüpfung von adeligem Rang und ethischer Qualität beruht. Ein zweites Mal wird diese Vorstellung aufgerufen, wenn Dietrich die Nachfolge seines herzoglichen Vaters antreten muß. Jetzt nämlich macht Engelhard sich Vorwürfe, den Rangunterschied zu seinem Freund bisher übersehen zu haben, wenn er ihn als seinesgleichen betrachtete:
10
Vgl. J.-D. Müller (1998), S. 309. 64
Davids art und das ereignishafte Wunder der Geburt Marias wand ich enwart des nie so wert da% eines landes herren gröζ hove solte min genö% an geselleschefte sin. (1462-1465) Auch diese Einrede wird nur entfaltet (vgl. 1 5 1 6 - 1 5 3 8 ) , um durch Handlung wie Figuren zurückgewiesen zu werden: In der höfischen Gesellschaft sollen allein lip, %uht, eren und tugent den Ausschlag geben (1492-1496). 5 1 Und noch ein drittes Mal wird an die Grenzen von art erinnert, wenn Engelhard Schwiegersohn und Nachfolger des K ö n i g s von Dänemark wird und damit auch faktisch aus dem angeborenen Stand heraustritt. Wie ungewöhnlich das Absehen von herrschaftsständischer Differenz ist, wird an Konrads Beteuerung erkennbar: geloubet endelichen da% (5084). So wird in dreifachem Anlauf aufgerufen, was man sich normalerweise denken könnte (eine derartige Mesalliance sollte verhindert werden!), damit es dreimal narrativ zurückgewiesen werden kann.' 2 N u r durch eine märchenhafte Handlung kann ein Grunddilemma höfischer Sozialität beiseitegeschoben werden. Die ,exklusive Gleichheit' bei H o f ebnet - im Rahmen adeliger Herkunft - Standesschranken ein. Doch gerät sie damit in Widerspruch zur Imagination der Adelsgesellschaft von sich selbst. Im ,Engelhard' löst Konrad das Problem, indem er das Ergebnis höfischer nutritura selbst zur natura stilisiert. Bei Engelhards Aufstieg auf den Königsthron bestimmt nicht mehr die art das Ethos, sondern das Ethos bestimmt die art. Mir scheint dies eine L ö sung, die die erst im 16. Jahrhundert überlieferte Erzählung doch im 13. verortet.
Davids art und das ereignishafte Wunder der Geburt Marias Art setzt eine stabile Ordnung voraus, an der über Generationen sich nichts ändert und die sogar noch, was sich ihr widersetzt, integrieren kann. Doch steht die durch "
Dabei setzt die höfische Gleichheit keineswegs die feudale Hierarchie auf D a u e r außer K r a f t . D e s h a l b weist E n g e l h a r d Dietrichs A n g e b o t , er wolle auf E r b e und Herrschaft verzichten, um weiterhin als E n g e l h a r d s geselle am dänischen H o f zu leben, zurück ( 1 5 2 0 - 1 5 2 3 ) . Dietrich muß H e r z o g werden. U m g e k e h r t , Dietrich zu begleiten, hieße für E n g e l h a r d , sich aus dem H o f herauszulösen, w o er, wie er sagt, nach miner mä%e ( 1 5 5 5 ) lebt. A u c h er wird also bleiben, w o er ist.
12
N o c h ein anderer A s p e k t adeligen Selbstverständnisses wird bagatellisiert. D e m geringer geborenen Helden fehlt gnot (ihm brast an guote, K E 265). Sein Freund Dietrich dagegen v e r f ü g t über das reiche E r b e eines Herzogtums. Trotzdem werden beide gesellen. S o kann K o n r a d auf einen - für die Adelswelt gravierenden - zeitgenössischen M a n g e l einerseits B e z u g nehmen, andererseits ihn aber unter unwahrscheinlichen B e d i n g u n g e n kompensieren. E n g e l h a r d fürchtet zwar, ritters name und ouch sin amt (291) zu verlieren, solange ihm das guot fehlt, und nie das top zu erwerben, daζ minen eren tüge/die von gehurt mich erbent an (! Masser (1969), S. 1 1 2 - 1 1 4 . E s entsteht sogar das Bild eines .heiligen' Sippenverbandes, indem sein B r u d e r K l e o p h a s später Marias Mutter A n n a heiratet ( S W M 1631—1654; 4 6 1 1 - 4 6 2 3 ) . Z u g l e i c h erscheint J o s e p h dadurch auf einer E b e n e mit der Elterngeneration: er ist zu alt für Maria.
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D i e Bestellung eines Pflegers findet sich d u r c h w e g , jedoch an verschiedenen Stellen in den einzelnen Fassungen des Marienlebens. D a s zeigt wieder, daß sie syntagmatisch (handlungslogisch) schlecht integriert ist, auf G r u n d ihrer paradigmatischen B e d e u t u n g aber nicht ausgelassen werden kann.
''' S o schon die A p o k r y p h e n (Masser, 1969, S. 1 1 0 ) . E s ist typisch, daß die J u d e n , die nichts begreifen, die J u n g f r a u e n g e b u r t als schäbiges Ausnutzen der R o l l e des Vormundes für die Z e u g u n g eines Sohnes mißdeuten. In ihrem Z w e i f e l und in den A r g u m e n t e n , die diesen Z w e i f e l stützen sollen, wird das Wunder der J u n g f r a u e n g e b u r t ex negativo betont. 116
Legendarische Hybridisierungen Legendarische Hybridisierungen Mit diesem K o m p r o m i ß wirken die Geschichten v o n der Heiligen Familie aber auch auf andere Familiengeschichten." Besonders legendarisches Erzählen bemüht sich um K o m p r o m i ß b i l d u n g e n . E s thematisiert Heiligkeit unter den B e d i n g u n g e n der gewöhnlichen Welt. D e r Heilige steht nicht v o n vorneherein außerhalb aller gewöhnlicher O r d n u n g e n , sondern muß diese O r d n u n g e n erst noch hinter sich lassen. D i e H e r k u n f t aus einer gewöhnlichen Familie wird aber häufig verunklärt/ 8 Daraus erklären sich die Schwächung der Vaterrolle, das Interesse an spiritueller (nicht-sexueller) Z e u g u n g und das M o t i v der langen Kinderlosigkeit, die das K i n d als Werk Gottes erscheinen läßt. 29 D e r Anteil der säkularen Geschlechterordnung am L e b e n des Heiligen ist unterschiedlich. Gelegentlich wird sie schon aus der Geschichte der Eltern ausgegrenzt oder geschwächt. S o erfährt man in K o n r a d s ,Silvester'-Legende nur, daß der spätere heiligmäßige Papst der S o h n einer gottesfürchtigen witwe ist ( K S i i o i ) . ' ° E s gibt den Vater nur als toten. A n seiner Stelle erhält der junge Silvester eine ganze Reihe v o n Vater-Repräsentanten als Erzieher, zuerst den priester
Cvrinus
( 1 1 6 - 1 2 5 ) , dann den Paulus-Schüler T h y m o t e u s ( 1 5 8 - 1 6 5 ) und schließlich - jetzt ist Silvester schon erwachsen - seinen Vorgänger als Papst, Melchiades. D e r fehlende Vater wird also gleich dreifach ersetzt, wobei mindestens der erste der geistlichen Väter die gesellschaftlichen A u f g a b e n des leiblichen Vaters eines Sohnes aus gutem Hause erfüllt. E r erzieht Silvester zum hervorragenden Gastgeber, der nach gotes eren/sin büs gehalten künde (134f.). Als vornehmer Herr nimmt Silvester den zweiten ,Vater', T h y m o t e u s , einen berren da von Anthioch
( 1 7 1 ) , auf, wobei er sich durch
vorbildliche milte auszeichnet: im gap der edel junge/swa^ er dö guotes bate (18 6 f.). D e r spätere Papst bewegt sich noch in der Welt des römischen Adels. E r s t dann k o m m t die Wende.
Wechselseitige Beeinflussung zeigt auch die hagiographienahe lateinische Literatur, w o sie feudale Verhältnisse thematisiert, etwa in der Geschichte der Mutter in Guiberts de N o g e n t ,Monodiae'. Diese bleibt „nach der Eheschließung [ . . . ] sieben J a h r e lang J u n g f r a u , ohne damit wirklich Tugendhaftigkeit zu demonstrieren", wird erst dann Mutter, lebt nach dem Tod ihres Mannes „zehn J a h r e in der Witwenschaft, ohne doch ihre Position in der adligen Welt a u f z u g e b e n " und wählt zuletzt „eine dezidiert asketisch spirituelle [Lebensform],ein semi-monastisches Dasein im Umkreis des Klosters von F l y " . „ D i e Charakterisierung bleibt ambivalent. Sie soll die Wahl der L e b e n s f o r m nicht in Frage stellen und doch Bedauern artikulieren angesichts der Z e r s t ö r u n g einer körperlichen Schönheit, die zuvor mühsam als gottgegeben begründet w o r d e n w a r " ( K i e n i n g , 2003, S. 188). Die R e i h e n f o l g e der Stationen weicht von den folgenden Erzähltexten ab; das Prinzip, konkurrierende L e b e n s f o r m e n hintereinanderzuschalten, ist dasselbe. "
Peters (1999), S. 65 zum merowingischen Heiligentvpus. Z u r Kinderlosigkeit als L e g e n d e n m o t i v Ingrid Kasten: G e n d e r und Legende. Z u r K o n s t r u k t i o n des heiligen K ö r p e r s , in: Genderdiskurse (2002), S. 2 1 2 - 2 1 4 . Die , K a i s e r c h r o n i k ' führt ihn lakonisch ein: sancte Si/rerster H e r k u n f t ist ohne Interesse.
" 7
hie% ιίό der babes ( K e h r 7847); seine
Antagonistische Lebensformen
Thymoteus erregt durch die Bekehrung vieler zum Christentum den Zorn der Heiden und wird zu Tode gemartert. Damit ist der Ubertritt in eine andere Ordnung vorbereitet, in der Vaterschaft eine neue Bedeutung erhält. Silvester sorgt wie ein Sohn zusammen mit dem Papst Melchiades für das Begräbnis des Thymoteus und die Erhebung des Leichnams. Vor der Welt gilt er als sein Erbe - eine weitere Analogie zu leiblicher Vaterschaft - und erregt dadurch die Begierde eines korrupten Richters, der ihn ins Gefängnis wirft und töten lassen will, um an seinen Besitz zu kommen. Silvester verkündet dem Richter die Rache Gottes und wird nach dessen Tod aus dem Gefängnis befreit. Das Erbe des Thymoteus tritt er auf andere Weise an, indem er vom Papst zum Priester geweiht wird (458-460). Auch im neuen Amt des charismatischen liutpriester (473) ist er weiterhin mit den Gaben eines großen Herrn ausgestattet: sin vorme und stner varwe schin/diu gäben engelischen glan^ (49of.). Wenn er schließlich Nachfolger des Papstes wird, dann ist das seiner Herkunft und seinem Ruf (name) angemessen: sus was er %uo der wirde komen,/ diu sime namen schone stuont (504f.). Silvester bringt also die ererbten Vorzüge in sein geistliches Amt ein. Als Sohn einer vornehmen Witwe gehört er beiden Ordnungen an und kann so ,Vater' der Christenheit werden. Auch beim Helden von Ottes ,Eraclius', dem späteren Kaiser, der das Heilige Kreuz von den Heiden zurückerobert,' 1 greifen profane und sakrale Ordnung ineinander. Eraclius stammt gleichfalls von vornehmen Eltern. Er verdankt seine Zeugung aber dem direkten Eingreifen Gottes. Die Eltern sind nämlich - wie Joachim und Anna - lange kinderlos, bis auch ihnen, von gote gesandt, der heilige engel (234^) die Geburt eines Sohnes verkündet. Der Engel gibt sogar genaue Instruktionen, wo und wie die Zeugung erfolgen soll: Familiäre Reproduktion als Himmelswerk, die Zeugung eine Art Ritual, der Ort der Zeugung vorbereitet wie ein Altar: Haiζ deinen eren Flei^ichleichen cheren Dar auf ein tepicb spreiten Dar auf einen phelle preiten Grun oder rot var Deinen man heis^ chomen dar Deri sol dich nicht bevilen Da£ chint suit ir da %ilen (OHe Β 252-259)
Anschließend sollen beide in die Kirche gehen, den Armen spenden und eine Messe zu Ehren des Hl. Geistes lesen lassen, damit er ihnen seine Gnade mitteilt. >' Eraclius ist im strengen Sinne nicht Heiliger, doch hat er einige charismatische Züge eines Heiligen. Das Verhältnis zur Vorlage des Gautier Arras wird hier nicht weiter beleuchtet; vgl. zum Uberlieferungskontext Maryvonne Hagby: Geschichte in der Dichtung. Überlegungen zur Rolle der Historizität des Helden im Rezeptionsprozess des mittelhochdeutsche .Eraclius', in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte (2005), S. 149-166. 118
Legendarische Hjbridisierungen Trotz E r m u t i g u n g durch den E n g e l hat die Frau Skrupel, ihren M a n n zum Beischlaf aufzufordern, denn das könnte ihr als bosheit (291) oder valsh (298) ausgelegt w e r d e n . D e r F o r t g a n g zeigt, daß sie unrecht hat. D i e Z e u g u n g wird zum himmlisch sanktionierten Festakt. D i e Frau zieht ihr bestes G e w a n d an und rüstet den Ort des Beischlafs wie eine heilige Stätte: An den estrich si do spreite Ein tepich als ir geboten was Auf den einen samit grün allein gras
(316-318)
D a n n geht sie ans Bett ihres Mannes; der w i r f t einen Mantel um und geht zum geschmückten L a g e r , Dehein wort sprach er da wider Als er sich da nider Zu der frawen bet geleit Nach mensbleicher gewonheit Wart sie swanger und enpbie (329-333). Heraclius, später Heilsbringer und charismatischer Kaiser, tritt unter göttlicher R e g i e in die Welt; Sexualität wird sakralisiert. D i e Ausnahmestellung dessen, der später den Kreuzeskult wiederherstellen wird, setzt zunächst die A u f h e b u n g gewöhnlicher R e p r o d u k t i o n , im F o r t g a n g dann die A u s l ö s c h u n g der profanen Adelsfamilie voraus. D e r Vater muß nämlich nach kurzer Zeit sterben, und Mutter und S o h n müssen, um etwas für sein Seelenheil zu tun, ihren gesamten Besitz aufgeben. Sie wählen freiwillig armüt (684), die Voraussetzung v o n Heiligkeit ist, und zerstören die G r u n d l a g e n ihrer bisherigen vornehmen L e b e n s f o r m . O b w o h l die Mutter die beiden mit N ä h e n und Spinnen durchzubringen sucht, reicht das nicht für den Lebensunterhalt. Daher läßt der S o h n sich als Sklave an den Kaiser verkaufen ( A u f g a b e des Status eines Freien!). Mit dem E r l ö s sichert er das Heil der Mutter, die in einen K o n v e n t eintreten kann. D i e familiale O r d n u n g ist zwar notwendig, wird aber rasch verabschiedet. A n fangs bleibt die K e r n f a m i l i e unvollständig, da kinderlos. K a u m komplettiert, wird sie durch den Tod des Vaters zerstört. D a n n tritt an die Stelle der adligen Restfamilie die A s k e s e zu zweit in einer unterständischen Existenz. D o c h die A r m u t erzwingt vollständige Trennung und A u f l ö s u n g der Familie, was für die Mutter Eintritt in eine religiöse Gemeinschaft bedeutet, für den Sohn in die größere
jamilia
des Kaiserhofs. Eraclius' exzentrische Position gegenüber der familialen O r d n u n g setzt sich fort, wenn er am K a i s e r h o f aufsteigt. Seit langem vertritt G o t t Vaterstelle an ihm und hat - wieder durch ein Wunder - dafür gesorgt, daß er eine gelehrte E r z i e h u n g erhalten hat, so daß er Mit mt^en (615) zurückgewinnen kann, was er durch die
In der Überlieferung finden sich alternativ beide A u s d r ü c k e . 119
Antagonistische Lebensformen Heilssorge f ü r den Vater verloren hat. D a s religiöse O p f e r 2ahlt sich mithin dank Gottes Vorsorge aus. Selbst eine Familie gründen, darf Eraclius aber nicht. E r bleibt außerhalb. Seine Distanz zur E h e zeigt sich darin, daß er seinem G ö n n e r , dem Kaiser Focas, deren Brüchigkeit beweist, indem er ihm den E h e b r u c h seiner Frau v o r A u g e n führt. Wenn dann aber der Kaiser f ü r den E h e b r u c h blutige Rache will, stimmt ihn Eraclius zu Milde und Verzicht auf die Frau zugunsten des Liebhabers. Indem er ihn veranlaßt, das illegitime Liebesverhältnis zu legalisieren, trägt er der Einsicht R e c h n u n g , daß die Schwäche der menschlichen N a t u r der E h e bedarf, die ihre Triebe kanalisiert, daher die neue Heirat, während die v o n G o t t Auserwählten sich davon freihalten sollen. S o werden die alternativen L e b e n s f o r m e n prozessiert: v o n der profanen (unfruchtbaren) Familie zur Familie als R a h m e n göttlich kontrollierter F o r t p f l a n z u n g , v o n dort zu Witwenschaft und f r o m m e r Askese, dann ins K l o s t e r bzw. - und zwar wieder unter göttlicher F ü h r u n g - zurück in die Welt, w o ein zweites Mal eine Familie, diesmal eine verderbte, begegnet, und sich schließlich die Familie als rettende Institution unter den B e d i n g u n g e n der Gebrechlichkeit der Welt erweist. N a c h dieser u m w e g i g e n Geschichte hat Eraclius sich zum künftigen Kaiser und Retter des K r e u z e s qualifiziert. In K o n r a d s v o n W ü r z b u r g ,Alexius' ist nicht nur die A b s t a m m u n g , sondern das L e b e n des Helden selbst v o n den konträren E n t w ü r f e n geprägt. Bei K o n r a d folgt seine Geschichte zunächst dem biographischen ,Script' für die weltlichen Oberschichten. Alexius stammt aus vornehmstem Haus; ihm eröffnen sich die glänzendsten Aussichten, doch genießt er alle gesellschaftlichen Privilegien nur, um sie fortzuwerfen und allein G o t t zu dienen. S o stiehlt er sich v o n zuhause w e g und lebt unerkannt in der Fremde, kehrt, v o n G o t t geleitet, nach R o m zurück und verbringt siebzehn J a h r e im Haus seiner Eltern, unerkannt und als Bettler, noch v o n den letzten Dienern schlecht behandelt. E r s t in der Stunde seines Todes erkennt man, wer er wirklich ist. A u f f ä l l i g ist die Raumdisposition. In dieser L e g e n d e verlangt die conversio nämlich nur vorübergehend, das vornehme Elternhaus zu verlassen. D i e Dislozierung des Heiligen wird bald r ü c k g ä n g i g gemacht. Alexius wird wieder , S o h n ' , aber nicht seiner Eltern — nicht sie v e r f ü g e n über seinen Leichnam - , sondern des Papstes als des Hauptes der Christenheit." Von A n f a n g an ist K o n r a d darum bemüht, Alexius eine vollständige Familie zu geben. 5 4 D e r Vater ist ein großer Herr in R o m , gebietet über zahlreiche Menschen, die selbst v o r n e h m sind, steht dem Kaiser nah (liep, K A
"
34
Nur der Papst kann das Schriftstück aus der Hand des Toten lösen, auf dem Alexius sein Leben beschrieben hat. Die Schrift gehört nicht dem ,Haus', den Eltern, sondern der Christenheit; zum Heiligentypus und zu den Gründungsakten sakraler Geltung Strohschneider (2002a). Strohschneider (2002a), S. 130. E r interpretiert Konrads .Alexius' als Beispiel eines literarischen Paradoxes.
120
Legendarische Hybridisierungen 78) und ist ein A u s b u n d adliger Tugenden; nicht anders die Mutter. Schematypisch bleiben auch sie lange ohne K i n d e r , diu richer Hute wunne sint (102). S o wird nicht nur der künftige Heilige wie ein Heros ausgezeichnet, sondern seine G e b u r t wird ein Stück weit aus dem natürlichen', aber auch durch die E r b s ü n d e befleckten Z u s a m m e n h a n g familiärer R e p r o d u k t i o n herausgerückt, denn sie verdankt sich auch hier letztlich dem E i n g r e i f e n Gottes, der den Eltern einen Sohn schenkt. Damit ist aber nur scheinbar die Fortdauer des vornehmen Hauses gesichert. D e r S o h n hat, wie dies bei außergewöhnlichen Menschen üblich ist, alle Vorzüge seines Standes und ein diesem angemessenes L e b e n v o r sich. N o c h als K i n d wird er mit einem Mädchen aus der Familie des Kaisers verheiratet (rieh von hoher art,/ diu von keisers künne was, i6of.). D i e Verbindung besteht zunächst als eine asexuelle Kinder-w/»w, einem Faszinosum höfischer Gesellschaft, da sie diesseits erbsündiger B e f l e c k u n g l i e g t . " Sie soll, wenn beide herangewachsen sind, in eine eheliche G e meinschaft überführt werden. Alles ist auf die Fortsetzung der dynastischen Ordnung angelegt. Ihre G e l t u n g wird noch einmal bestätigt, indem der Vater selbst den Sohn ins Brautgemach führt. D o c h genau an diesem Punkt, in der Hochzeitsnacht, vollzieht sich die conversio des Alexius. D i e Geschichte wird auf den H ö h e p u n k t einer adligen L a u f b a h n in der Welt geführt, um da abzubrechen, zugunsten der minne zu G o t t : wan in begunde en^iinden/diu wäre gotes minne (zizf.).
Nicht eine ge-
wöhnliche E h e wird überwunden, sondern eine exzeptionelle, die alle sozialen N o r men erfüllt. Alexius soll zugleich „als verheiratet [...] und in heiligmäßiger Virginität" erscheinen.^ A u c h wenn die A u f m e r k s a m k e i t v o n nun an der radikalen A s k e s e des Heiligen gilt, so ist doch die Familie im Hintergrund präsent und bleibt als Familie intakt. Alexius sorgt dafür, daß seine Braut trotz der keuschen Hochzeitsnacht nach dem lantsite (233) die K o p f b e d e c k u n g einer E h e f r a u anlegt. D i e soziale Institution wird nicht nur nicht in F r a g e gestellt, sondern scheinbar sogar aufrechterhalten. Als Frau des Alexius bleibt sie im Haus seiner Eltern, nach seinem Tod nennt sie sich witwe (1256). D i e Verwandten (vriunt) geben Alexius nicht verloren; der Vater läßt ihn überall suchen. K o n r a d erzählt v o n der Enttäuschung des Vaters, als die Suche ergebnislos bleibt (343), und v o m Schmerz der Mutter und der Frau um ihren vriedel (392). Seitens der Welt ist die Trennung keineswegs radikal. Vor allem aber bleibt das elterliche Haus Z e n t r u m der Heiligenlegende.
Die
R ü c k k e h r dorthin wird ausdrücklich als eine Schickung Gottes erzählt. Alexius verläßt Edessa, w o es ihm unmöglich scheint, seine radikale A s k e s e fortzusetzen, weil sich der R u h m seiner Heiligkeit verbreitet hat. E r muß einen anderen Ort suchen. Dieser aber ist kein fremder mehr. G o t t nämlich lenkt sein S c h i f f nicht
" ''
Vgl. S. 4 oof. Strohschneider (2002a) hat auf die von der übrigen L e g e n d e n ü b e r l i e f e r u n g abweichende Hvbridität dieser ,,epische[n] K o n s t r u k t i o n " verwiesen (S. i j o f . ) . 121
Antagonistische Lebensformen
nach Tarsus, wohin Alexius sich auf den Spuren des Apostels Paulus begeben wollte, sondern zurück in die Nähe seiner Familie nach Rom (546f.). Dort beschließt Alexius, in mins vater hüs (548) zurückzukehren. Die Begründung — er will keinem anderen als seinem reichen Vater die swariu bürde (550), einen Bettler zu ernähren, aufladen - ist vorgeschoben: In seiner Bedürfnislosigkeit belastet Alexius niemanden. Die Rückkehr erlaubt vielmehr einen Kompromiß: Alexius ist der Heilige, der in der Familie ohne Familie lebt; der Sohn kehrt zu Eltern wie Ehefrau zurück, ohne sich ihnen zu nähern. Die Rückkehr ins Vaterhaus bedeutet nicht, wie in der Parabel vom verlorenen Sohn, die im Hintergrund angespielt wird, Re-integration des Verlorenen und die Wiederherstellung familialer Ordnung, sondern deren Uberwindung und Überhöhung. Dabei ist die Engführung von Familie und Askese Gottes Werk, laut Alexius' eigenhändiger Lebensbeschreibung, schicksalhafte Lenkung: da^ in der tobenden winde süs/^e Rome in sines vater hüs/gar über sinen willen treip (761-763). Alexius' Heiligmäßigkeit wird gewissermaßen familiär gerahmt, und so wird die Stätte seines Todes im Elternhaus zuletzt zum Kultort, zu dem sich ganz Rom, der Papst an der Spitze, begibt. Natürlich gehört das Leben als verachteter Unbekannter unter den Dienern des vornehmen Vaterhauses zum Kernbestand der Alexius-Legende, doch hat Konrad mit ihrer Hilfe die wechselseitige Durchdringung zweier Lebensordnungen erzählt. In einigen blinden Motiven zeichnet sich eine noch weitergehende Kompromißstruktur ab. Alexius bleibt auch als Heiliger in der Fremde Familienmitglied, und er wird es wieder zuhause im Incognito des Bettlers. Dabei reibt sich das Bild radikaler Askese an dem familialer Solidarität: Der Vater nimmt, wenn Alexius zurückkehrt, den angeblich Fremden herzlich in sein Haus auf, denn er wart üf sinen sun gemant (603). Das ist, wie zu sehen war, üblich, wenn Adel auf Adel trifft, denn es spricht die ,Stimme des Bluts', doch der Vater geht noch weiter: sin kunft ist mir ein hdhiu gebe, wan er mich mit den u/orten sin hat ermant des kindes min da% ich in %eben jären hie gesach mit ougen leider nie. (636-640)
Das adeligem Gentildenken entlehnte Motiv ist hier gefährlich, denn würde der Vater den heiligmäßigen Bettler tatsächlich ,an Sohnes statt' aufnehmen und jedem, der ihn unterstützt, sein guot geben, ließe er ihm ein bette schone machen (647) und gutes Essen reichen, dann stünde es schlecht um das Bettlerleben, mit dem Alexius sein religiöses Heil verdienen will. Die Reaktion des Vaters müßte die Legende stören. Nach diesen Ankündigungen bleibt überdies schwer verständlich, warum Alexius dann doch im Hause des Vaters alle Entbehrungen erleidet und von den Knechten des Vaters Spott und Mißhandlungen zu dulden hat. Das blinde Motiv soll offensichtlich nur anzeigen, daß die Ordnung der christlichen Familie intakt ist. Hier konfligieren zwei Modelle auf Kosten einer stimmigen Handlungsführung. 122
Feudale Reproduktion und Virginität A u f diese Weise wird vermieden, die familale O r d n u n g durch die radikale A s k e s e abzuwerten. D e r Verzicht darauf, sich den Eltern und der Frau zu erkennen zu geben, dabei doch unter harten B e d i n g u n g e n in ihrer Mitte zu sein, ist ein besonderes Verdienst des Alexius. Seine Z u g e h ö r i g k e i t zur Familie hebt das aber nicht auf. Vater, Mutter und E h e f r a u können, ist der Bettler als Sohn identifiziert, kaum g e n u g tun in der K l a g e über seine Härte g e g e n sie und über die eigene Blindheit. D i e Heiligkeit überbietet einen Höchstwert, die ideale familiale Gemeinschaft. D i e Familie wird in den Prozeß der Heiligung einbezogen: erst nach der postumen Reintegration des Heiligen in die Familie folgt die Wundertätigkeit des Heiligen und die E r h e b u n g zur E h r e der Altäre. Wenn Strohschneider konstatiert: „ Z u A n f a n g gehört Alexius zwei einander ausschließenden O r d n u n g e n an",· 7 dann handelt es sich zwar um hierarchisch gestufte, jedoch nicht völlig inkompatible O r d n u n g e n , um Alternativmodelle, die eine zeitlang koexistieren können, auf engstem R a u m und ohne einander zu behindern.
Feudale R e p r o d u k t i o n und Virginität N o c h weiter geht der K o m p r o m i ß bei Adelsheiligen wie Kaiser Heinrich oder K ö n i g Oswald. D i e E h e Heinrichs und K u n i g u n d e in Ebernands' 8 gleichnamiger L e g e n d e ist entsprechend zur Verbindung zwischen J o s e p h und Maria stilisiert, nur steht hier der Mann im Zentrum. Wie J o s e p h und Maria haben Heinrich und K u n i g u n d e küscheit gelobt, und wie diese sind sie schließlich bereit, dieses Ideal in der E h e zu verwirklichen. Heinrichs U m g e b u n g dagegen erwartet die Fortpflanzung des königlichen Geschlechts. D i e G r o ß e n beratschlagen, wie von dem gotes knehte bequeme ein gesiebte [...] so die eidern töt beliben, da£ in were dan bekliben sines gesiebtes ein ris. ( E H K 73 5 f.; 741-743) Schematypisch bestürmen sie Heinrich tegeliches, da% er durch not des riches wolde e^ balde £ouwen unt würbe umb eine vrouwen (748-750) D a s ist der übliche A u s g a n g s p u n k t einer Brautwerbung; sie täten so die heren tuont,) die ere gerne beten
''
Ehelosigkeit gehört sich nicht für den Herrscher:
Strohschneider (2002a), S. 1 3 1 .
'* Vgl. den Forschungsüberblick bei M. Müller (1995), S. 1 5 7 - 1 6 1 .
Antagonistische Lebensformen Sie sageten al gemeine, da£ er da% riche al eine hete, dai^ en^me niht [...] daζ riche wurd darmite verstört
(777-779; 782).
Heinrich muß diesem legitimen Wunsch nachgeben, bleibt aber entschlossen, da£ ich mit küscheit vollenvarn/hin bi% an min ende (792f.). Seine Wahl aber orientiert sich wieder am Interesse des Reichs und obliegt, wie üblich, denen, die für das Wohl des Reichs zu sorgen haben, den Fürsten: nu kieset eine vrouwen, in welchem lande ir wellet, da£ ir mir %uo gesellet, die dem riche wol ge^eme, necheine wil ich anders neme.
(798-802)
39
Das müßte zum Konflikt führen, wäre Kunigunde nicht gleichfalls zur Keuschheit entschlossen. Der Tod der Eltern erspart ihr die Unbotmäßigkeit, von der selbst Maria freigesprochen werden mußte: Virginität gegen das eigene Geschlecht durchzusetzen. Im Vertrauen auf Gott folgt sie schließlich ihren vrünt und stimmt der Ehe mit Heinrich zu. Da dieser gleichfalls Keuschheit gelobt hat, können die konkurrierenden Lebensentwürfe versöhnt werden: Während nach außen das Interesse an Nachkommenschaft sich durchsetzt und beide vor Gott und vor der Welt eine vorbildliche Ehe führen, leben sie tatsächlich keusch:40 er lac bi der brüte durch die rede der lüte, der geistlichen minne wart doch nieman inne, enwere got al eine ( 1 1 9 5 - 1 1 9 9 ) .
Die Verweigerung des Ehevollzugs darf nicht öffentlich werden. Insoweit sind die Sphären individueller Frömmigkeit und herrscherlicher Verpflichtung dissoziiert. Erst die Keuschheitsprobe, der sich Kunigunde unterziehen muß, verbreitet überall ir magetuomes schal (1612). Als maget ist die Kaiserin mariengleich (1597-1599)· Nach Heinrichs Tod unvermählt, lebt sie gleich in doppelter Hinsicht ein vorbildliches christliches Leben: sie ist witwe und iedoch meit (3167). So wird das Modell der Heiligen Familie in die feudale Ehe implantiert: wan küscheit gote ist wundertrut (3058). Indem das Nachfolgeproblem, das die Brautwerbung motivierte, nach Heinrichs Tod glatt gelöst wird (2530^), ist der Antagonismus der Lebensmuster entproblematisiert.
« M. Müller (1995). s · i7 5f791-793; 886-890; 897-903; 914-918; 1169-1194.
40
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Feudale Reproduktion und Virginität D a s hier nur latente Brautwerbungsschema ist in der Geschichte K ö n i g Oswalds ausgeführt. Brautwerbungsepik ist auf die Fortsetzung einer adligen Dynastie angelegt, das Z e u g e n v o n N a c h k o m m e n aber widerspricht dem Virginitätsideal. D a s E p o s soll beides versöhnen, was gelingt, indem es die entgegengesetzten Modelle hintereinanderschaltet:. Oswald erwirbt in einer gefährlichen Werbungsfahrt eine Frau, doch verzichtet er auf den Vollzug der Ehe. Das hat seit je das B e f r e m d e n der Forschung 4 ' ausgelöst, die mit allerlei Mitteln, von textkritischen K o n j e k t u r e n bis zu interpretatorischen Harmonisierungsbemühungen den ,Widerspruch' zu bewältigen suchte. B e v o r man aber in die Debatte über ästhetisches (oder ideologisches) G e l i n g e n oder Mißlingen überhaupt eintritt, wäre festzuhalten, daß auch hier zwei gleichermaßen mit einem Höchstwert besetzte Erzählkerne - gefährliche Brautw e r b u n g bzw. Weltabkehr - in einem und demselben narrativen Z u s a m m e n h a n g realisiert werden sollen. Das hat Spannungen zur Folge, die die Fassungen der Sage auf unterschiedliche Weise zu bewältigen versuchen. Im ,Wiener Oswald' ist v o n der Brautwerbungshandlung fast nur die A u s g a n g s situation übriggeblieben. Alle Vasallen raten dem K ö n i g zwar, her so/de da^ mit nichte lan, her enneme endelich eine frouwen lobelich, di im »öl ge^eme unde ir gehurt im eben queme. (WO 36-40). 4i D o c h ist, mindestens zwei Handschriften zufolge, G o t t v o n A n f a n g an gegen diesen Wunsch (4oa-c), und so richtet sich auch Oswalds Verlangen v o n A n f a n g an auf eine keusche Braut. D i e Rolle v o n Ratgebern und Werbungshelfern ist auf verschiedene Handlungsträger verteilt. Oswald fragt den Pilger Tragemunt nach einer juncfrouwen so ho geborη, / di im
nemen föchte (54^), doch sogleich mit der Maßgabe,
da her mit bliben mochte / kusche bi^ an sin ende (5 6f.). Tragemunt weiß zunächst keine,
41
D i e ältere F o r s c h u n g hat immer wieder die Unangemessenheit des Brautwerbungsschemas für die Oswald- (und die Orendel-)Legende konstatiert bzw. den legendenhaften Schluß der B r a u t w e r b u n g als unpassendes religiöses Implantat kritisiert. Tatsächlich ist kein „stofflicher V o r w u r f denkbar, der ungeeigneter sein könnte für die Idealisierung einer jungfräulichen E h e als das Brautwerbungsschema" (M. Müller, 1995, S. 126). Die historische Überlieferung von K ö n i g Oswald kennt das Problem nicht, hier hat Oswald einen S o h n und setzt die northumbrische Dynastie fort; erst nachträglich entschließt er sich, der L e g e n d e des 12. Jahrhunderts z u f o l g e , zur Keuschheit (S. 129). Biesterfeldt (2004) hat die Kritik zu entkräften versucht, indem sie die religiöse G r u n d h a l t u n g des E p o s insgesamt, auch schon der B r a u t w e r b u n g s h a n d l u n g , herausgearbeitet hat. D a s ist zwar richtig, löst das narrative Problem aber nicht.
41
Ich zitiere nach der A u s g a b e v o n Baesecke, der allerdings nahezu die ganze Keuschheitsproblematik, zumal in den A n f a n g s p a r t i e n des E p o s für interpoliert hält, so den anschließenden Vers des notde unser herre niht (41; vgl. S. X X V I I f . X X X I I I f . ) . Die A u s g a b e von Fuchs kontaminiert zwar verschiedene Handschriften, doch ist in ihr der Textbestand der Wiener Handschrift \\ , der ich folge, noch deutlicher zu erkennen; sie ist nicht mit den weitreichenden Interpolationshvpothesen Baeseckes belastet.
125
Antagonistische Lebensformen
doch wenig später nennt er vor den herren auf dieselbe Frage (83—86)45 die Königstochter Spange: si blibet kusche bi% an ir ende (100). Damit ist sie wenigstens für Oswald geeignet. Er schickt ihr einen prächtig geschmückten Raben als Werber. Der Rabe fragt Spange zwar, ob sie Oswalds bule sein wolle (450) und verspricht ihr seine truwe (452), doch wieder mit der Bedingung, Oswald wolle kusche bi% an da% ende sin mit ihr leben (453). Spanges Antwort leitet vorübergehend ins Schema zurück: Der Vater hat nach dem Tod der Mutter angekündigt, sie zur Frau zu nehmen und deshalb schon hunderte von Werbern getötet (459-467). Mit ihrer Zusage zur keuschen Ehe entgeht sie also nicht nur einer ganz besonders sündigen Form von Sexualität, sondern den üblichen Ausgangsbedingungen der Brautwerbungsfabel mit dem Vater als Feind des Werbers. Wichtiger ist das erste. Der Rabe kann Oswald verkünden: dir wil si sich irgeben / unde kusche mit dir leben / an ires libes ende (757-759)· Es folgt die übliche gefährliche Werbungsfahrt mit den gewöhnlichen Komplikationen. Zu deren Lösung sind weniger Heldentaten nötig als verschärftes Fasten (95 5f.). Gott hat die Eroberung der Braut zu unterstützen, indem Oswald ihm vorrückt da% ich durch den willen din / und durch rechte kuscheit, /geliten habe dise leit (1109— i m ) . Er hat die Frau verdient. Wenn er Spange endlich begegnet, umarmt und küßt er sie, doch ane allen argen wan, / vurba% her si nimer an /gerurte ^u keiner stunt ( 1 1 3 6 - 1 1 3 8 ) . Er lebt fortan, wie vorgesehen, mit ihr in rechter kuscheit (1143). Die Keuschheit des Paars verpflichtet Gott wieder, die erforderlichen Wunder zu wirken, die schließlich auch Spanges heidnischen Vater zum Glauben bekehren (i2o4f.; 1365 f.; 1378-1382). Wenn die wiederauferstandenen und getauften Heiden schließlich rufen: sinte Oswalt ist ein heilig man, / der di% wunder hat getan (i44of.), dann triumphiert im wunder die von Anfang an vorgesehene Keuschheit; der Ausgangspunkt einer Brautwerbung ist vergessen. Sie liefert nur den Rahmen, in der die keusche Ehe als Ergebnis heroischer Anstrengung erscheinen kann. Die Schwierigkeit, heiligmäßige Virginität mit dynastischem Prokreationsinteresse zu verbinden, tritt im ,Münchner Oswald' dagegen weit stärker hervor. Das wurde erst recht als ,Bruch' der Werkkonzeption gesehen.44 Hier bestimmt das Keuschheitsmotiv die Handlung nicht von Anfang an, sondern es klingt nur der Wunsch nach einer Ehe ,ohne Sünde' an: ich näm geren ain magedein,/ möcht nur an sund gesein (MO 39f.). Je nach Deutung von sund ist das mit dem Entschluß, das Erbe zu sichern, schwer zu vereinbaren.45
4
> In 86 (und kusche mit mir leben mochte) hält Baesecke kusche für interpoliert, ebenso in 104, 45 3 und 758. Ich halte mich an den überlieferten Text. 44 Miller (1978) hat diese These einer gründlichen Kritik unterzogen (S. 226£). Seine Lösung: die Ehe werde aufgewertet, hat allerdings auch Probleme: Wenn der Zweck der Ehe ausgeschaltet wird, kann von ihrer Valorisierung im Sinne Wolframs kaum die Rede sein (S. 228f.). 4> A m ehesten ist sund wohl auf den Vollzug der Ehe zu beziehen (so auch 3850). 126
Feudale Reproduktion und Virginität Wie üblich ist der junge und elternlose Herrscher ohne Frau. D o c h nicht die Vasallen, ums Reich besorgt, fordern ihn zur Eheschließung auf, vielmehr fragt ihn das hert^ nachts: Oswalt, sullend deineu land an ein frauen stan? treun, daζ ist nicht guot getan! ^weu sullen dir weiteu kunikreich, du bietst dann ain frauen tugentleich? sturbstu, so ivurd erblos: nim dir aine die sei dein genoß! (45-50) Damit wird bereits die innere L o g i k des heroischen Gemeinschaftshandelns von Herrscher und Herrschaftsverband geschwächt. Indem Oswald allein sich Gedanken macht, beginnt sich das politische zu einem persönlichen Problem zu verschieben. A u f dieser Ebene hat aber individuelle Heilssorge Vorrang vor sinnlichem Begehren wie vor dem allgemeinen Interesse. Natürlich ist der Held zuerst unsicher, wen er wählen soll, doch wieder ist es nicht der Herrschaftsverband, der Rat weiß, sondern sein engel (59). Der Engel empfiehlt Oswald, keine Frau aus dem eigenen Land zu nehmen, sondern eine haidniscbe[] kunigin (65). Damit beginnt sich schon das ursprüngliche Ziel zu verschieben: statt Herrschaftssicherung Mehrung des christlichen Glaubens. Die Brautwerbung folgt himmlischer Regie, die ihre eigenen Ziele verfolgt. Das profane Ziel des Erben rückt in den Hintergrund. Das übliche Motiv des Rats der Vasallen muß nachgeholt werden; es bleibt indes blind. Die Vasallen werden zwar ausführlich konsultiert, doch sind sie außerstande, einen Rat zu geben, welche Frau die geeignete ist. Das Schema demonstriert also nicht mehr das ideale Zusammenwirken von Herrscher und Herrschaftsverband, sondern ersetzt es durch das Zusammenwirken des Herrschers mit Gott. 46 Deshalb muß ein Pilger (wallet) einspringen, dem Oswald genauere K u n d e von der geeigneten Braut verdankt; si ist ein haidmischeu [!] kunigin/und gelaubt an got und an die muoter sein ( 2 4 3 ^ , müsse dies aber vor ihrer Umgebung verbergen und könne sich nicht zum Christentum bekennen. Oswalds Entschluß, sie zu erringen, hat ein neues Ziel: ich hilf in %uo der tauf (257). D e m Pilger, nicht den Vasallen, fällt die (ebenso obligatorische wie vergebliche) Rolle zu, von der Braut abzuraten (was übrigens inkonsequenterweise Oswald von seiner christlichen A u f g a b e abbringen würde). Die nächste typische Vasallenaufgabe, Oswalds Bote beim Vater der Braut
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„ D i e Ratlosigkeit der Landesherren ist gleichwohl ein entscheidender V o r g a n g in der E r z ä h l u n g , denn mit ihr wird die im Schema vorgesehene Beratungsinstanz ihrer F u n k t i o n enthoben und die B r a u t w e r b u n g s h a n d l u n g demonstrativ einer höheren, nicht im Bannkreis des politischen Herrschaftsbereichs befangenen Beratungsinstanz unterstellt" (Miller, 1978, S. 233). D u r c h die E n t w e r t u n g der .niederen' durch die .höhere' Instanz läuft das Schema aber ins Leere. Wird damit tatsächlich die .niedere' „disqualifiziert" (M. Müller, 1995, S. 1 3 1 ) , oder ist sie nicht notwendige Station der Handlung, um Oswalds Idealität auch als G e f o l g s c h a f t s h e r r festzustellen?
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Antagonistische Lebensformen
zu sein, lehnt der Pilger aber ab und verweist stattdessen auf einen sprachkundigen Raben an Oswalds Hof. Die Kette der Ersetzungen offenbart das narrative Dilemma, geeignete Rollenträger zu finden, wenn die Vasallen, in deren politischem Interesse die Brautwerbung liegt, ausgeschaltet werden und an die Stelle der politischen Komponente eine religiöse tritt. Indem der Rabe beim Aufbruch zur Werbungsfahrt ,vergessen' wird,47 wird noch einmal unterstrichen, daß die Umstände dieser Fahrt wie später ihr Gelingen ,wunderbar' sind.48 Oswald hat daran weniger als Kriegsherr denn als Beter Anteil, der Gottes unerhörte Wunder herbeifleht, um den Heiden seine und seines Glaubens Überlegenheit zu beweisen.49 Wie schwierig die neue Sinngebung der Werbung ist, zeigt sich, wenn die fromme Askese des Paars am Schluß mehrfach zusätzlich motiviert werden muß: Als er auf der Seefahrt in tödliche Gefahr gerät, legt Oswald das Gelübde ab, er wolle nie etwas abschlagen, um das er im Namen des Herrn gebeten werde (2800-2803). Er erneuert es bei jeder Probe, die der Heidenkönig von ihm fordert. Damit sind die Weichen gestellt. Nachdem das Unternehmen geglückt ist, die Heiden besiegt und bekehrt und Oswald Hochzeit feiert, setzt die Erprobung seiner Heiligkeit ein. In der Gestalt eines Pilgers kommt Gott an Oswalds Hof und verlangt - zum Zorn der Höflinge - immer unverschämter, immer mehr und immer kostbarere Geschenke, bis er schließlich Oswalds lant und zuletzt seine Frau fordert (3430; 3440). Er gibt damit Oswald Gelegenheit, seine vorbildliche herrscherliche milte unter Beweis stellen, von Forderung zu Forderung aber zugleich stärker seinen frommen Verzicht auf die Welt beispielhaft zu beweisen: Alles will er hingeben und sich ainem armen man, d.h. einem pauper Christi, angleichen (3462), der als Pilger, Gott dienend, herumzieht. Oswald ist zur rückhaltlosen imitatio Christi bereit. Tatsächlich ist das eine Komödie, denn Gott genügt die Bereitschaft zum Opfer. Oswald darf König bleiben, allerdings unter einem Vorbehalt: du solt aber chainer sunden mit der frauen pflegen (3510). So wird zwar die Herrenexistenz wiederhergestellt, aber unter der Bedingung von Virginität, also unter Ausblendung der notwendigen dynastischen Reproduktion, auf die das Brautwerbungsmuster angelegt war. 50 Zur Uber-
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Ähnlich wenn der Held im ,Ortnit' den Zwerg Alberich, seinen Vater, .vergißt'. Solche Schleifen wirken wie Ausrufezeichen: Was vergessen wird, daher scheinbar fehlt oder erst noch geholt werden muß, ist unersetzlich. Das .Vergessen' ist also nicht Oswald als Fehler anzurechnen. 4 " Miller (1978), S. 235-237. 49 Auch das ist kaum als Versagen des Herrschers zu werten (M. Müller, 1995, S. 13 Jf.), als der er sich ja zuletzt bewährt. Vielmehr verschiebt sich das Gewicht auf das Wirken Gottes. Wie ein dem Schema entsprechender moniage aussehen könnte, zeigt nicht nur die lateinische Oswaldlegende, sondern auch das Brautwerbungsepos ,König Rother': Rother und seine Frau ziehen sich erst von der Welt zurück, wenn sie einen Sohn haben und nachdem dieser Sohn zur Übernahme der Herrschaft befähigt, somit das letztendliche Ziel der gefährlichen Brautwerbung erreicht ist. Ihr Rückzug von der Welt muß, wie Biesterfeldt (2004), S. 44-63 gezeigt hat, keineswegs als funktionsloses Anhängsel betrachtet werden, sondern krönt die erfolgreiche Brautwerbung. E r wird sorgfältig 128
Feudale Reproduktion und Virginität w i n d u n g sinnlicher Begierde empfiehlt der Pilger Oswald einen Bottich kalten Wassers, in den er und die Frau immer springen sollen, wenn sie das Begehren zu übermannen droht - das probate Mittel mönchischer Askese, aber auch schwankhaftes Zeichen der Unüberwindbarkeit sinnlichen Begehrens. D i e beiden leben noch zwei J a h r e glücklich als K ö n i g s p a a r - die Weltabsage wird also hinausgeschoben
si begunden liebleich pei einander ligen,/ aber weltleicber lieb si sich gar ver^igen
(3 5 31 f.). D a n n nimmt G o t t sie ins Himmelreich auf. S o hat das religiöse Muster unbedingter Askese zuletzt das Brautwerbungsmuster aufgesogen. D e r ,Münchner Oswald' bezeugt die Hybridisierung heterogener Erzählmuster, die Uberlagerung v o n Brautwerbungs-, Legenden- und S c h w a n k e ^ d m . " Sie erlaubt, antagonistische L e b e n s f o r m e n narrativ aufeinander zu beziehen, und gestattet Oswald, beides zu sein: heroischer K ö n i g und keuscher K o n v e r s e , wobei v o n A n f a n g an die Alternativen einander angenähert w e r d e n . " Ahnliche Impulse wirken sich auch außerhalb der Heiligenlegende aus, so in ,Mai und Beaflor'. D i e Ü b e r f o r m u n g der prüfungsreichen Liebesgeschichte durch implizit legendarische Erzählmuster* 3 erlaubt, das Verhältnis v o n f r o m m e r K e u s c h heit und normgerechter Ehepraxis ohne radikal asketische K o n s e q u e n z auszuhandeln. D i e Beliebtheit des S t o f f e s belegt, daß hier ein Punkt der B e u n r u h i g u n g liegt, auch wenn nicht in allen Fassungen die Problemkonstellation so deutlich wie in der anonymen deutschen ist. 54 Erzählt wird das unwahrscheinliche Z u s t a n d e k o m m e n und die ebenso unwahrscheinliche B e w ä h r u n g der E h e des G r a f e n Mai und der Kaisertochter Beaflor, wobei als deren abgewiesene Alternativen durchweg sexuelle A u s s c h w e i f u n g einerseits und völliger Verzicht auf Sexualität andererseits präsent gehalten werden. Sexualität erscheint, indem die Heldin v o r dem Inzest mit dem Vater fliehen muß, zunächst in der F o r m des Verbrechens." B e a f l o r will daraufhin
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vorbereitet, indem auch an dieser E n t s c h e i d u n g Berhter, R o t h e r s wichtigster Helfer bei der Brautw e r b u n g und der Sicherung v o n Reich und Dynastie, den Rat, ans Seelenheil zu denken, gibt. Vgl. M. M ü l l e r (1995), S. 156: „ I n k o h ä r e n z der literarischen Struktur' bei ,,klare[r] gedanklichejr] Linie". Beim spät überlieferten ,Orendel', der einen ähnlichen Schluß hat, ist mir unerfindlich, warum er nach wie v o r im K o n t e x t der Brautwerbungsepen betrachtet wird, nachdem der ursprünglich angenommene literaturgeschichtliche Z u s a m m e n h a n g - das K o n s t r u k t einer Spielmannsepik - längst verabschiedet ist (Curschmann, 1964). D e r Text entnimmt nur einige oberflächliche M o t i v e den Brautwerbungsepen und zitiert deren Konstellationen höchst ungenau (Biesterfeldt, 2004, S. 66-68; 81). D a s „ K e u s c h h e i t s g e b o t " zerstört die L o g i k der ohnehin beispiellos wirren H a n d l u n g , die keinen Versuch unternimmt, antagonistische E n t w ü r f e zu integrieren (vgl. auch die Z u s a m m e n f a s s u n g von M . Müller, 1 9 9 ; , S. 1 4 1 - 1 5 5 ) . Hierzu Schulz/Walliczek (2005), S. 2 5 - 2 7 . Kasten (1993b), S. 1. Kasten (1993b) hat gezeigt, wie die E r z ä h l u n g in der Auseinandersetzung zwischen feudalen und kirchlichen E h e n o r m e n (hierzu S. 6 - 8 ; hierzu auch R u d o l f Weigand: L i e b e und E h e bei den D e kretisten des 12. Jahrhunderts, in: L o v e and Marriage in the Twelfth Century, hg. ν. Willy H o r c k e u. Andries Welkenhuysen, L e u v e n 1 9 8 1 , S. 4 1 - 5 8 . ) Position bezieht, insbesondere durch die A u f w e r tung des Konsensprinzips. Während in der Fassung Philippes de Beaumanoir sogar der inzestuöse 129
Antagonistische Lebensformen auf alle Zeichen ihres Status und auf alle werbliche [ ] minne und wertliche ere (S. 74,27 bzw. 30) zugunsten der Liebe zu G o t t verzichten, also in keuscher A s k e s e leben. D o c h wird ihr dies verwehrt. Vornehm ausgestattet,' 6 gelangt sie ins L a n d des G r a f e n Mai und reizt durch ihre Schönheit sein Begehren. Weiterhin bleibt Sexualität vorerst negativ besetzt, indem die F r e m d e als Prostituierte verdächtigt wird 5 7 und als solche Mais K o n k u b i n e werden soll. D o c h B e a f l o r weist einen entsprechenden Vorschlag Mais zuerst mit den Worten zurück, sie habe ihr leben gegeben/von dem wir immer miie^en leben (S. 66,i9f.), muß dann aber den Entschluß zur Virginität im Dienst Gottes (S. 76,35; 80,1) aufgeben und in eine E h e einwilligen.' 8 D u r c h diese V e r k n ü p f u n g der H a n d l u n g erscheint die E h e als Vermeidung v o n fornicatio\ nur in ihr ist Sexualität mit eren und äne sünde (S. 64,40^) möglich. D i e E h e bleibt eingespannt zwischen Laster und Virginität. Mai zweifelt immer noch an Beaflors Jungfräulichkeit, bis er in der Hochzeitsnacht eines Besseren belehrt wird (S. 9 3 , 1 3 - 1 5 ) . Keuschheit bleibt als religiöses Ideal präsent. Deshalb will B e a f l o r Mai in der Hochzeitsnacht nach dem Vorbild des Tobias (S. 92,6-9) zur Enthaltsamkeit veranlassen. So will sie in der E h e Keuschheit und Sexualität vere i n b a r e n . " Sie gibt dann zwar rasch nach und wird sogleich schwanger (S. 97,14). D o c h tritt E r o t i k nur für einen M o m e n t in den Vordergrund. D a s künftige L e b e n des Paares ist als Gottesdienst verstanden (S. 97,36-38). 6 0 D i e Alternative des Lasters droht weiter. Trotz ihrer Keuschheit wird B e a f l o r des E h e b r u c h s verdächtigt. Mais Mutter redet ihrem S o h n mittels eines gefälschten Briefs ein, B e a f l o r habe einen Wechselbalg zur Welt gebracht, den sie v o n einem anderen M a n n e m p f a n g e n habe. Mai glaubt den B r i e f seltsamerweise, ist aber zur
Heiratswunsch des Vaters die Zustimmung der Vasallen findet (was in dieser Radikalität monströs ist, aber die von der Kirche als .inzestuös' bekämpfte, zur Endogamie tendierende Ehepraxis des Adels polemisch kennzeichnet), ist die anonyme deutsche Fassung von vorneherein eher auf Kompromiß angelegt, der Heiratswunsch des Vaters entsprechend ,unmöglich'; zum Inzest M. Schulz (2005), S. 17-25. >' Das wird ausdrücklich als von Beaflors Wünschen abweichend markiert (Schulz/Walliczek, 2005, S. 20f.). " Mais böse Mutter beobachtet sie nackt und taxiert ihre sexuellen Reize (S. 67,31). Die Mutter vertritt (und diskreditiert) den Standpunkt des „männlichen Laienadels", der nur Konkubinat, nicht aber Allianz mit der Fremden zuläßt (Kasten, 1993b, S. 14; vgl. S. 1 2 - 1 6 ) . ,s Beaflors Schönheit und der Besitz, den sie bei ihrer Flucht mitgeführt hat, sind zwar keine hinreichende Bedingung für eine feudale Allianz, schwächen aber Einwände ab, und nicht nur Mais Liebeswerben, sondern alle Vasallen erreichen durch ihr Flehen, daß Beaflor der Eheschließung schließlich zustimmt, die damit doppelt legitimiert ist (Kasten, 1993b, S. 15; Mertens, 1994, S. 399). "
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Ähnlich steht am Anfang von Parzivals Ehe sexuelle Enthaltsamkeit in drei ,Tobiasnächten'; auch ist der Held nahezu den gesamten Roman hindurch von seiner Frau getrennt. Die Ehe des Gralskönigs bleibt auf ehelose Lebensformen bezogen. Schulz/Walliczek (2005), S. 31 betonen, daß nach der Hochzeitsnacht nicht wieder von Sexualität die Rede ist. Mir scheinen deshalb „die religiösen Verhaltensmuster" nicht gegenüber der Feier der Liebe zurückzutreten (so Mertens, 1994, S. 400), sondern in den Kompromiß dieser Liebesbeziehung hineingenommen, so sehr auch das sinnliche Moment dieser Liebe betont wird (S. 401).
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Feudale Reproduktion und Virginität Vergebung bereit (was für ihn den Verzicht auf das Ziel seiner E h e bedeuten würde, den Erben). Doch der Mutter gelingt es, einen zweiten Brief zu fälschen und Beaflor vorzutäuschen, Mai wolle sich an ihr rächen. Beaflor flieht zurück nach R o m , entsagt ihrem Ehemann und lebt mit dem Sohn in keuscher Zurückgezogenheit, einer Art freiwilliger Witwenschaft. Nach langer Zeit der Buße gelingt es Mai, sie zu finden. A u f dem Kaiserthron können beide das gemeinsame Leben fortsetzen. Das eheliche Leben war für beide ein märtyrerhafter Leidens- und Bußweg. In einem heiligmäßigen Leben finden sie wieder zusammen. Indem der Erbe dann längst gezeugt ist, bleibt Sexualität weiter marginalisiert. Das „ K o m p r o m i ß modell zwischen Askese und höfischer Liebe" 6 ' läßt die dynastische E h e nur auf dem Umweg über ihre asketische Alternative zu. Beaflors Vater und Mais Mutter repräsentieren mit ihren Plänen für Beaflor die Variante des Lasters, die Mutter die Prostitution, der Vater den Inzest. Beide verfehlen damit das dynastische Ziel der Fortsetzung des Geschlechts. Das Handeln der Mutter bleibt rein destruktiv (sie wird folgerichtig liquidiert), während der Vater (der deshalb bereuen darf und in das versöhnliche Schlußbild hineingenommen werden kann) das dynastische Prinzip nur auf eine radikal falsche Weise verfolgt: Ohne männlichen Erben strebt er eine rein endogame, illegitime dynastische Beziehung an. Beaflor dagegen, die sich seinem inzestuösen Begehren entzieht, erreicht ausgerechnet dank ihrer Zurückweisung illegitimer Sexualität die exogame Verbindung, die dem T h r o n in R o m den fehlenden männlichen Erben schenkt. Dieser wird ,außerhalb' gezeugt, in dem kurzen Zeitraum zwischen zwei Phasen frommer Enthaltsamkeit, wenn Beaflor widerstrebend ihre Entscheidung für Virginität zugunsten einer legalen Verbindung aufgibt. Die Dynastie wird von gewöhnlicher Prokreation freigehalten. Auch dort, w o das genealogische Interesse an familialer Reproduktion dominiert, kann die E h e nach dem Vorbild der Heiligen Familie modelliert werden. Der ,Reinfried von Braunschweig' erzählt von der Liebe des Helden zur dänischen Prinzessin Yrcane, wobei verschiedene Modelle idealer höfischer Minnebeziehungen hintereinander geschaltet werden/' 2 Die minne mündet in eine gottgewollte Ehe/'' Die E h e ist schände und sünden frt (10881), denn ihr orden wurde im Paradies eingesetzt; ohne sie wäre die Geburt des Erlösers nie erfolgt, denn Jesus stammt von der Mutter her aus menschlichem Geschlecht, und er zeichnete die Ehe aus, indem er sein erstes Wunder auf der Hochzeit zu Kana vollbrachte (10872-10900).
'"
Schulz/Walliczek (2005), S. 31. D o c h geht es m . E . nicht nur um einen „pervertierten M i n n e r o m a n " (S. 36), sondern um die E r m ö g l i c h u n g dynastischer Prokreation bei weitestgehender Ausschaltung von Sexualität. I m Interesse eines f r o m m e n K o m p r o m i s s e s werden auch Elemente passionierter Liebe wie Isoldes Liebesleid ohne Rücksicht darauf, o b sie passen (S. 35, 37), in die Geschichte integriert. Vgl. S. 404-407. ''' Parallel zur Sakralisierung der E h e geht hier freilich ihre Sexualisierung (vgl. S. 407).
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3
Antagonistische Lebensformen
Umso auffälliger ist es, daß der rehte[] erbe[] (13183) lange Zeit ausbleibt. Auch hier entsteht eine Leerstelle, die im Rekurs auf das biblische Vorbild gefüllt werden muß: Yrcane beruft sich auf das Vorbild der heiligen Anna und die Geburt Mariens (dazu auf die ebenfalls lange kinderlose Ehe von Elisabeth und Zacharias), um doch noch ein Kind zu erflehen. Diesmal ist es die Gottesmutter selbst, die ihr ein Kind ankündigt. Damit wird auch hier der Erbe aus der profanen adligen Geschlechterordnung herausgenommen; er ist ein Geschenk Gottes (23430^. 6 4 Die religiöse Legitimation ist hier freilich schon hybrid: Die vom Himmel angekündigte Zeugung ereignet sich in einer Liebesnacht, die der Erzähler hingebungsvoll und mit ausführlichen Details ausmalt (14832-14845). Doch kann offenbar selbst die erotische Kultur des Hofes auf religiöse Legitimation nicht verzichten.
Prozessierung der Lebensformen Das Virginitätsideal beeinflußt höfische Minneromane. Soll minne wertbesetzt sein, darf sie nicht im sexuellen Begehren wurzeln und muß wenigstens vorübergehend asexuell sein. Eine Lösung bietet die Kinderminne, wie sie Konrad Flecks ,Flore'Roman schildert. Doch bleibt auch später das Liebesverhältnis bis zuletzt keusch, bis die minne in der Ehe legalisiert ist. Immer wieder neu wird geschlechtliche Liebe abgewiesen: Flore wird bei seiner Suche nach Blanscheflur wegen seiner physischen Ähnlichkeit mit ihr für ihren Bruder gehalten und sucht sich deshalb nicht als ihr Liebhaber, sondern als ihr Bruder auszugeben (KFuB 4054f.). Die Bruder-Schwester-Beziehung ist nämlich zwar eine intime, grenzt aber sexuelles Begehren aus, indem sie emotionale Attraktion in Verwandtschaft umdeutet. Oder: wenn es Flore nach langer Irrfahrt gelingt, bis ins Schlafgemach seiner Geliebten vorzudringen, bleibt trotz Nähe und Heimlichkeit Sexualität ausgespart: Helsen küssen umbevähen, / diu elliu do geschähen (5849^ und: keiner fröude sie vergäben,/ diu ^e minnen treffen mac (6c>94f.), jedoch da% lihte ein törper haben wil für dati beste an der minne, daζ er von siner friundinne iendert gewinnet, und durch niht enminnet wan durch ein btligen. (6097-6103)
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Für den Vater Reinfried hat seine Geburt gleichfalls eine religiöse Bedeutung: Der Sohn solle ihn für seinen Kampf gegen die Heiden belohnen. Um das Erzählmuster ,Verdacht der Untreue bei Geburt eines Kindes in Abwesenheit des Ehemannes' abzuweisen, eröffnet Yrcane Reinfried gleich nach der Nacht, in der der Sohn gezeugt wurde, ihre Vermutung, schwanger geworden zu sein.
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Pro^essierung
der
Lebensformen
Das ideale Liebesverhältnis unterliegt strenger Kontrolle; man handelt nicht so, als sei man walde (6114), in einer unzivilisierten Gegenwelt. Wenn die Liebenden zusammen im Bett ertappt werden, denkt der Entdecker im ersten Augenblick nicht an ein Liebesverhältnis, sondern glaubt, zwei Mädchen zu sehen. Im anschließenden Gerichtsverfahren erweist sich die Unschuld einer Liebe zweier kinde als tumber (7021). Kinder, Geschwister, Freundinnen: Bevor minne zuletzt in die Ehe überführt werden darf, bleibt trotz aller Leidenschaft die Virginität unverletzt. Der vorehelichen Enthaltsamkeit entspricht die Askese in der Ehe. Von ihr erzählt die ,Gute Frau'. Auch hier ist die Heilige Familie Vorbild. Wird in den Marienleben die Ausnahmefamilie schlechthin mehr oder minder an eine vollkommene Adelsfamilie herangeschrieben, doch ohne ihr den Status des Wunderbaren abzusprechen und das biblische Keuschheitsgebot aufzugeben, so wird hier eine vorbildliche Adelsfamilie zeitweise der Heiligen Familie angenähert, ohne daß die Prokreation legitimer Nachkommenschaft in Frage gestellt würde. Werden im ersten Fall die Maßstäbe einer vornehmen und in der Welt angesehenen Familie erfüllt, um durch den Verzicht auf deren Prämien in einer ganz auf Gott hin orientierten Gemeinschaft überwunden zu werden, so ist hier eine maßstäbliche Adelsfamilie Ausgangspunkt und Ziel, die Uberwindung der Welt im Verzicht auf alles, was sie zu bieten hat, bloße Durchgangsstation. K a u m ist die ideale E h e der Guten Frau mit ihrem Geliebten von Kindesbeinen an geschlossen, wird sie eines höheren Ziels wegen wieder aufgegeben: Der Mann erfährt von den christlichen Wohltaten seiner Frau, erkennt die Nichtigkeit seines bisherigen Lebens in der Welt und beschließt, auf alles zu verzichten. 6 ' Das müßte eigentlich die Auflösung der familialen Gemeinschaft zugunsten eines Lebens für Christus bedeuten. In der Tat gibt es Beispiele solch radikaler Entscheidung. In der Faustinian-Episode der Kaiserchronik rechtfertigt z.B. der Apostel Petrus selbst die scidunge ( K C h r 2282) von der Familie um Christi willen: swer hie in siner %ft verlat kint ode wip, aigen ode iehen, durh willen unsers herren, ode iht des er hat, dem vergilt got hie £ehen^ecvalt unt dort sin himelriche da wonet er iemer ewidhhe (2297-2304).
In der ,Guten Frau' dagegen umgeht der Erzähler diese radikale Lösung, indem er die Ehe selbst zum Ort der Askese macht. Gemeinsam entsagt das Paar allen Glücksgütern. Die conversio schließt aber nicht den Verzicht auf Sexualität ein. Im 6
' G r u n d der Askese ist wie für viele mittelalterliche Eremiten kein konkretes Vergehen, sondern Einsicht in die allgemeine Sündhaftigkeit des Menschen; vgl. zur eremitischen Existenz Mertens (1978), S. 49-54· 33
Antagonistische Lebensformen Gegenteil werden die Kinder nach dem Entschluß zu radikaler Armut in Christo gezeugt (GF 16 3 7f.) und während des Herumziehens als Bettler geboren. ,Familie' steht nicht in Gegensatz zu einem Leben für Gott, sondern wird in dieses Leben eingeschlossen. Die Sorge für die Kinder verschärft noch die Härten des Bettlerlebens. Deshalb muß die Askese durch den Verzicht auf die Familiengemeinschaft noch einmal gesteigert werden. Die Frau ist schließlich, völlig entkräftet, den Mühen des Bettlerlebens mit Mann und Kindern nicht mehr gewachsen. Sie läßt sich, um den Unterhalt der Familie zu sichern, von ihrem Mann als Dienerin an eine adlige Dame verkaufen. Mit dem Verkauf gibt sie sogar noch die Grundqualität von Adel Freiheit - auf; die Familie wird auseinandergerissen; der Mann verliert die Kinder und wird selbst all seiner Habe beraubt; die Frau ist zwar gesichert, doch ist die Trennung der Familie schlimmer als zuvor der Verzicht auf ihre Stellung (i89of.). Paradoxerweise ist dieses Opfer Voraussetzung für die Wiederherstellung und Überbietung des früheren Rangs in der Welt. Fortan erfährt nur noch der Mann kumber unde arbeit (1930), während die Kinder von vornehmen Leuten gefunden und aufgezogen werden und wie die Frau gemach finden (1928—1930). Der Wiederaufstieg der Guten Frau erfolgt über ungewöhnliche Heiratskarrieren. In ihnen sind Virginität und Eheleben auf vertrackte Weise kombiniert. Die Gute Frau erwirbt sich in dem vornehmen Haus, in das sie verkauft wurde, durch ihre Schönheit und ihre kunsthandwerklichen Fertigkeiten hohes Ansehen. So kauft sie der Graf von Bleis von ihrem Besitzer, zunächst in der Absicht, sie zur Konkubine zu machen (wieder die Alternative des Lasters). Der Graf nimmt sie in sein Bett, doch Gott schützt sie, so daß der Graf nicht mit ihr schlafen kann. Verunsichert fragt er nach ihren Bewandtnissen, erfährt ihre Geschichte und heiratet sie gerührt. Da sie glaubt, ihr erster Mann sei tot, stimmt sie der Verbindung zu. Gott aber, der das besser weiß, sorgt dafür, daß der Graf auch als Ehemann trotz leidenschaftlicher Liebe (2120-2130) sie nicht anrühren kann. Die Gute Frau lebt wunschgemäß wie eine keusche Witwe. Die drohende illegitime Sexualität wird ausdrücklich abgewiesen, da sie den Verlust von sele und ere (2005) bedeuten würde; doch auch eheliche Sexualität ist ausgespart. Wenn der Graf stirbt, will der König von Frankreich sie heiraten (2004-2006). Wieder ist illegitime Sexualität, diesmal verschoben auf den Ehebruch der Königin, die den König betrogen und verlassen hat, die abgewiesene Alternative. Wenn der König um sie wirbt, sucht die Gute Frau Rat bei Gott. Gott aber rät keineswegs zur Witwenschaft, sondern zur Annahme der Werbung. Eine himmlische Stimme verkündet, sie solle Königin von Frankreich werden und später dann im Himmel Krone tragen. Faktisch ist das aber ein Rat zur Keuschheit, denn wieder kann der Mann die Ehe nicht vollziehen:66 "
Diesmal ist der Grund für die Impotenz des Ehemannes die Verzauberung durch seine erste Frau.
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Pro^essierung da von der künec sware
der
Lebensformen
truoc,
da von gewan si vreude genuoc und was es innecliche geil. si dühte da£ ein guot heil da\ si got der guote vor schänden behuote
(2489-2494).
Ehe, aber Bewahrung vor schänden. Auch nach dem (dankenswert rasch erfolgenden) Tod des K ö n i g s erwägt die neue Königin fromme Witwenschaft nur vorübergehend: Das Königreich Frankreich braucht ein intaktes Herrschergeschlecht, das legitime E r b f o l g e garantiert. Dem muß sich die Gute Frau beugen, doch lehnt sie eine weitere Ehe, um Nachwuchs zu erzielen, ab. Sie erreicht, daß sie ein Trauerjahr mit frommen Werken verbringen darf; kommt ihr erster Mann nicht inzwischen zurück, will sie auf die K r o n e verzichten. Natürlich findet sich der Mann wieder: den hat uns got her gesant/ einem künege in da% lant (278if.). So wird das dynastische Ziel auf dem Umweg über zwei Josephsehen'' 1 mit Gottes Hilfe erreicht, auch die Kinder werden gefunden, so daß es wieder ein Herrschergeschlecht auf dem T h r o n von Frankreich gibt, aus dem die Karolinger stammen. Die Folge der Ehen weist damit wieder eine Kompromißstruktur auf, die zwischen dem Anspruch auf Sicherung feudaler Herrschaft und der Forderung eines ,reinen' Lebens vermittelt. Zuletzt setzt sich die feudale Reproduktionsgemeinschaft durch, die schon zu A n f a n g bestand, doch jetzt auf höherem Niveau. Die Protagonisten müssen zuerst durch christliche Askese gehen, die anfangs noch familiäre Gemeinschaft und eheliche Sexualität einschloß, bis auch diese aufgegeben werden mußten. Von diesem Nullpunkt aus bereitete sich die Wiederherstellung wieder vor. Die neue Dynastie verdankt sich religiöser Erniedrigung und Asexualität. So entsteht ein Ausgleich zwischen sexueller Enthaltsamkeit und feudaler Familienordnung. Die erneuerte E h e muß nicht mehr dem Ziel der Fortpflanzung dienen, denn die hat schon stattgefunden. E s entsteht eine dynastische Form von Heiligkeit. Die Gute Frau, Stammutter des neuen Herrschergeschlechts (di^ reine künne, 3046) nimmt zuletzt mariengleiche Z ü g e an, als der rose in dem touwe (2972), und in der übernächsten Generation wird eine veritable Heilige auftreten, die hl. Gertrud. Abgeschwächt wiederholt sich das Modell in Ulrichs von Etzenbach .Wilhelm von Wenden', w o auch die dynastisch-genealogische Ordnung eine zeitlang außer K r a f t gesetzt ist, um durch religiöse Askese erneuert zu werden. Willehalm gibt um Christi willen alles auf, was ihm lieb ist, auch seine Frau Bene. Doch auch hier
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Der Verdacht einer (wenn auch unbewußten) Bigamie wird zurückgewiesen. Die Gute Frau offenbart, daß sie in den beiden Folgeehen keusch geblieben ist (der Graf von Bleis doch nie wart ir man, 2774); zur Kumulierung unterschiedlicher Legitimationsmuster auch S. 376-378.
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Antagonistische Lebensformen verschwindet die Familie keineswegs, sondern bleibt zunächst der Ort radikaler Askese. Bene kann Willehalm überreden, daß er sie mitnimmt und das vorbildliche E h e p a a r zusammenbleibt; in armuot (WvW 2200; vgl. 1882; 245 5f.) werden dem Paar zwei Söhne geboren. Wenn Willehalm dann noch weitergeht und auf Familie und eheliche Gemeinschaft verzichtet, Bene zurückläßt und die K i n d e r verkauft, dann ist dieser Schritt radikaler Weltabsage wieder kein endgültiger. Willehalm macht sich Vorwürfe: din [Benes] höhen art, din kläre geburt/ellendiclich
hän ich vervuort
(2223f.), und er bedauert, wie die K i n d e r in swachem werde (2236) geboren werden (2960-2979), auch wenn alles Krist zuliebe geschehen muß (2950-2957). D i e alternativen L e b e n s f o r m e n sind zwar eindeutig hierarchisiert. D o c h wird die geringerwertige stets präsent gehalten. D a s Zertrennen familialer B i n d u n g e n bleibt deshalb wieder nur Durchgangsstation. Willehalm muß Schritt f ü r Schritt wiederherstellen, was er aufgegeben hatte. Sein L e b e n als Ritter erhält von des toufes kraft
(3 5 37 f.)
neuen Sinn. D i e Söhne, zwar christlich erzogen, doch auf die schiefe B a h n geraten, müssen in die O r d n u n g des Landes zurückgeführt werden; die E h e f r a u muß sich taufen lassen, und sogar der Herrschaftsverband muß en bloc christlich werden. A m E n d e hat sich das Herrschergeschlecht im D u r c h g a n g durch seine A u f l ö s u n g legitimiert. Selbst ein E r z ä h l k o m p l e x wie der um den heiligen M a r k g r a f e n Wilhelm v o n Orange k o m m t ohne A n s p i e l u n g auf das G e g e n m o d e l l der geistlichen L e b e n s f o r m nicht aus. N u r im K e r n s t ü c k , in Wolframs ,Willehalm', fehlt es in der Geschichte der Protagonisten. D o c h bedarf Wolframs Preis der auf L i e b e gegründeten, Sexualität einschließenden (dynastischen) E h e in der Vor- wie der Nachgeschichte (Ulrich v o n dem T ü r l i n bzw. Ulrich v o n T ü r h e i m ) o f f e n b a r der E r g ä n z u n g . Ulrichs v o n dem T ü r l i n ,Arabel' hat die höfische U b e r f o r m u n g des S t o f f e s weit über Wolfram hinaus gesteigert, in ausführlichen Beschreibungen v o n Festen, Mahlzeiten, K l e i dern und v o r allem, indem er die minne zum zentralen M o t i v der H a n d l u n g macht. Wie verträgt sich damit das G e g e n m o d e l l f r o m m e r Virginität? Ulrich hat das Problem gelöst, indem er es nicht syntagmatisch der G e s c h e h e n s f o l g e implantierte, sondern es paradigmatisch auf sie bezog. 6 8 Schon zwischen Arabel und dem Heidenkönig Tibalt besteht eine enge, eindringlich geschilderte minne (UWh X C I , 2 - 3 1 ; X C V , 2 1 - 2 3
u
- ö · ) , doch wenn Tibalt
Arabel f ü r eine Zeit verläßt, bahnt sich eine »/'»««-Beziehung auch zu dem gefangenen Willehalm an (C, 1 3 - 1 5 ; CI, 7f. usw.). Was zeichnet diese aus? Zunächst liebt
"
Strohschneider (2000b), S. 36 hat auf E n t s p r e c h u n g e n auch auf der syntagmatischen E b e n e verwiesen: Wenn die längst verheiratete Heidin Arabel zur christlichen M a r k g r ä f i n G y b u r g wird, dann verliert sie nicht nur ihren gesellschaftlichen ( K ö n i g i n ) und ihren religiösen Status (Heidin), sondern auch den der verheirateten Frau, indem „zunächst die Virginität der K ö n i g s g a t t i n und Mutter restituiert werden muß, damit sie als J u n g f r a u sodann den heiligmäßigen K r i e g e r h e l d e n Willehalm heiraten kann". E r führt für die R ü c k k e h r in den Stand der Unverheirateten das L e h r g e s p r ä c h der Frauen v o r der Hochzeitsnacht an. 136
Pro^essierung der I^ebensformen Willehalm Arabel v o n ferne; seine minne bleibt aber verdeckt, auf höfische Gesten beschränkt ( C V I , 3of.), verdichtet sich nur in der erotischen Metapher des Schachspiels. Ausgerechnet dabei wird Virginität eingespielt. Das Schachspiel setzt nämlich nicht die erotische A n n ä h e r u n g fort, und es ist auch nicht Allegorie des Liebeskampfes, sondern Anlaß f ü r eine religiöse Diskussion. Willehalm droht - und das entspricht dem bis dahin erzählten Verhältnis zwischen beiden - das Schachspiel zu verlieren und wendet sich mit einem G e b e t um Hilfe an Maria. In diesem G e b e t apostrophiert er fünfmal die Keuschheit und J u n g f r a u e n s c h a f t der Gottesmutter ( C V I I I , 1 0 - 3 1 ) . Dadurch weckt er Arabels Neugier; sie ml/
[...] wissen, wie dem si:/
ein maget und muoter manne vri ( C I X , 26-28). D a m i t gibt Arabel Willehalm Gelegenheit, ihr die christliche L e h r e vorzutragen ( C X I - C X I V ) und auszudeuten/' 9 D i e höfische K o n v e r s a t i o n , deren geheimes Z e n t r u m stets minne ist, mündet in ein Religionsgespräch, dessen K e r n - Arabels Frage gemäß - Gottes Liebe zur Heiligen J u n g f r a u ist. der minne mit minne wart geminnet von dem, der si durch minne erkös, da£ si magtuomes pris nie verlos, diu im sitzet in dem träne bi (CIV, 8 - 1 1 ) . Diese Rede geht Arabel zu Herzen; die Gottes-minne setzt sich an den Platz höfischer minne·. mit Hebe was in ir her^e komen ein minne, diu si von minnen schiet, der minne liebe ir widerriet, so da£ si minne durch minne lie^e. Wa^ ir diu minne darumbe gebiete, da^ si sich minne durch minne bewage und dannoch minn in minne pflage? [...]
(CX V, 22-28).
D i e Liebe zum markis wird religiös überschrieben, und deshalb ist die neue minne der früheren zu Tibalt unendlich überlegen: Uncristen minn unminne gert, so disiu minne minne wert. (CXVI, if.).
'"' In den Handschriften B D findet sich nach C X I , 9 ein Hinschub v o m U m f a n g eines Abschnitts ( } i Verse, plus Veränderung der Uberleitungsverse), der allein Maria und ihrer J u n g f r ä u l i c h k e i t gilt (vgl. S. 136). In denselben Handschriften sind auch später in Arabels Bekenntnis zu W'illehalm ( C X X X V ) f ü n f Abschnitte eingeschoben, von denen drei der Trinität und dem Mvsterium der J u n g f r a u e n g e b u r t gelten. D a s anschließende L o b v o n wibes Heb mündet wieder in der Liebe G o t t e s zur heiligen J u n g f r a u (S. 1 6 3 - 1 6 5 ) . D e r Schreiber vermerkt ausdrücklich: Disiu rede vorder maer niht krenket ( C X X X V 1 , 1) - und macht eben dadurch auf die schlechte E i n p a s s u n g und umso größere B e d e u t u n g des Virginitätsmotivs aufmerksam.
137
Antagonistische Lebensformen Die religiöse Botschaft veranlaßt auch Arabels Gefährtinnen, ihre Flucht aus der heidnischen Ehe zu unterstützen. Bei weiteren Schachspielen wird sie vorbereitet. Weiterhin steht Arabels minne zu Willehalm vor dem Hintergrund von Marias Jungfräulichkeit. Auch später wird an den Auslöser ihres Entschlusses, die Kunde von der Jungfrauengeburt, erinnert ( C C X X X V , 22-28). Erst daneben wirkt sich die erotische Komponente höfischer minne aus. Schon vor der Flucht kommen Willehalm und Arabel ungestört zusammen ( C X X X , i 2 - C X X X I , i 5), zuerst wenn sie auf ihr Schiff warten. A u f diese Szene und das, was sich auf dem maträ^ abspielte, kommt Ulrich mehrfach, meist andeutend und verhüllend, zurück; 70 auch die gemeinsame Rückkehr nach Frankreich ist eine Kette von »/»»«-Begegnungen. Trotzdem, wenn beide durch Heirat verbunden sind, stellt die Personifikation der Kiusche klar, daß bei all diesen Begegnungen die Normen christlicher minne nicht verletzt worden sind (CCCIII,24-CCCV, 13). E s besteht kein Zweifel, daß eine enge erotische Beziehung Willehalm und Arabel schon vor ihrer Heirat verbindet, aber es besteht ebenso wenig ein Zweifel, daß ihre minne erst durch den touf vollkommen wird: Uolrich, nü ban ich dir bescheiden/ kristen süe^e und ouch der beiden. (CCCIV, jof.) Gelenkstelle ist das Gespräch über den Zusammenhang zwischen Virginität und Erlösung. Virginität kann auf Dauer kein Leitbild für die Heldin eines /»/»»«-Romans sein. Aber in den Nächten vor und nach der Taufe ist den Liebenden Trennung auferlegt (CCLVII, 1 5 - 3 1 ; C C L X X X V I , i8f.). Die Formel, mit der der Papst Arabel-Gyburg ihrem Ehemann übergibt, erinnert wieder an Marias Jungfräulichkeit und spielt auf einen Vorgang der Passionsgeschichte an: Wie Jesus Johannes die Sorge für seine Mutter überträgt, gibt er G y b u r g in die Obhut Willehalms: leb bevilhe dich saelden riehen Dem markys, minem neven, hie Mit der triuwen, alse ergie, dö sante Johannes bevolhen wart diu süe^iu, der magetuom bespart was, do sie den gebar, des wort besliu^et die weite gar, und noch ist maget und ouch iemer. (CCLXXXVIII, 20-27)71 70
71
In ihr wird die «der Heiden durch die der Christen besiegt ( C X X X I , 8£). An ihrem Ende steht eine Tageliedsituation mit Wächter ( C X X X I I , 6—9). Die Andeutungen über Umarmungen und Beilager bleiben offen. Der sexuelle Vollzug scheint hier und später ausgespart zu bleiben: Da\ minne da wart von mir entwert/minnsüe^e und minnelihens,/ owe des ver^ibens/in minne durch geloubens eren! [...] sus bin ich noch ir minne an,/ da\ weiζ si wot unde got ( C C X X X V I I , 1 8 - 2 1 ; vgl. die ganze Stelle C C X X X V I I , 10-27 sowie C X L V I I I , 22-29; C L I V > I O " 1 2 ; [implizit] CLVII, 20-23; C C X X I V , 1 - 1 1 ; CCCIII, 1 8 - 2 1 ) . Arabel antwortet mit dem nochmaligen Verzicht auf ihre Stellung als Königin ( C C L X X X I X , 1 - 1 1 ) : ein Akt der humiliatio. 138
Pro^essierung der hebensformen
E i n e höfische minne, deren E r o t i k Ulrich nicht müde wird auszumalen, wird paradigmatisch auf das Urbild geistlicher Caritas bezogen. Bis dahin war Willehalms und Arabels minne der zwischen Arabel und Tibalt durchaus verwandt; 7 2 jetzt ist sie mehr. Dieselbe Tendenz zur Sakralisierung zeigt sich im ,Rennewart' Ulrichs v o n T ü r heim an der E h e Mallefers. Statt einer der üblichen feudalen Allianzen ist sie ein Werk des Himmels und steht v o r dem Hintergrund der asketischen Alternative, v o n Ehelosigkeit. E i n E n g e l weist Mallefer seine künftige Frau an und befiehlt dieser, ihren Jungfrauenstatus aufzugeben. Beide treten jungfräulich in den E h e stand ( U R e 32297)· Indem der Verzicht auf Virginität Werk des Himmels selbst ist (32603f.), wird die Fortsetzung der Dynastie religiös aufgewertet. A u c h die Liebesgemeinschaft v o n K y b u r g und Willehalm hat sich mit dem religiösen Ideal der Ehelosigkeit auseinanderzusetzen. N u r nach langem Widerstand folgt Willehalm K y b u r g s Vorschlag, um des Seelenheils willen sich von ihr zu trennen, in ein K l o s t e r zu gehen und eheliche Liebe durch Caritas (kartat)
zu er-
setzen. D e r R ü c k z u g v o n der Welt bedeutet keineswegs automatisch ein besseres Leben: wer sin e rebte hat, dem mag sin sete ba% genesen danne der clusner ivesen. [...] swer rehte lebt mit siner e, des sete vert dem paradys. (33320-33322; 3332Öf.)
Wenn schließlich doch der S o h n der maget (33437; 33536) siegt - wieder assoziativ das M o t i v der Jungfräulichkeit - und Willehalm der Welt entsagt, dann verschwindet die höfische minne-Bindung
nicht vollständig. Z w a r heißt Willehalms L e b e n
jetzt vil kusbe und vil reine (33825), doch was jmmer
sin gedang/da^ senen an Kyburge lip
(33832^). Z u m Abschied hat er v o n K y b u r g einen kostbaren Gürtel als Liebespfand erhalten (33664-33674), den er unter seinem Mönchshabit trägt, einen höfischen Talisman, der ihn weiter mit K y b u r g und seinem früheren L e b e n verbindet und den er trotz des Gelübdes monastischer Gewaltlosigkeit gewaltsam gegen Räuber verteidigt. S o werden bis zuletzt geistliche und weltliche L e b e n s f o r m narrativ miteinander vermittelt. Insgesamt erzählt der Willehalm-Zyklus eine A b f o l g e zwischen defizitärer heidnisch-irdischer Liebe, christlicher minne im Zeichen der Virginität, idealer ehelicher Gemeinschaft und zuletzt Keuschheit im Interesse des Seelenheils. D i e durchgängige Idealisierung höfischer minne ist durch Virginität gerahmt, das religiöse Muster durch Sakralisierung seiner Alternative ausbalanciert. 72
Das zeigt Ulrich durch die Beschreibung von Tibalts prächtigem Zelt an. E s zeigt mythologisch überhöht durch die Gestalt der Venus die minne, die Arabel mit dem Heidenkönig verband ( C C X X V , 12— 18; C C L X , 1 - 5 ; 2 j - C C L X I , 19). Diese F o r m der minne ist ,übertragbar'. Arabel schenkt das Zelt VC'illehalm ( C C L X I I I , 1—3). Vor ihrer Taufe hatte Willehalm gescherzt: ich wil dich durch kristenruomj
siieziu, küssen in dem heidentuom,/ Tjbalden
leide (CCLVI, 9-11). r
39
Antagonistische Lebensformen In dieser Perspektive sollte auch noch einmal die Schlußwendung in Hartmanns ,Armem Heinrich' bedacht werden. Dort entschließt sich das Mädchen, für den aussätzigen Heinrich sein Leben zu opfern, auf werltlich gelust für immer zu verzichten (HaH 690) und sich alsus reine Gott zu überantworten (698^. Auch hier wird die grundsätzliche Weltabsage um des Seelenheils willen mit möglichen Alternativen konfrontiert, die nicht nur, solange sie im üblichen ständischen Rahmen bleiben,73 zurückgewiesen werden. Das Mädchen lehnt auch die Ehe mit einem Mann, der riebe und wert ist und den sie liebt (761; 766), ab, denn bei Christus werde sie mehr Glück finden als bei jedem irdischen Mann. Wie ist von hier aus der Schluß zu beurteilen: märchenhafte Lösung oder Katastrophe? 74 Wenn Heinrich im letzten Augenblick das Opfer des Mädchens nicht annimmt, wendet sich dessen Protest gegen das doppelte Scheitern des Rettungswerks: so ware im der lip genesen,/ und miiese ich iemer salic wesen ( i j o j f . ) . Doch es irrt: Gott verhindert dieses Scheitern. E r läßt die Heilung gnadenhaft auch ohne Opfer gelingen und löst damit die Verklammerung auf; damit wird der Entschluß des Mädchens, sein Leben für Heinrich zu opfern, gegenstandslos. Andere Regeln treten in Kraft. Nachdem sein adeliger Körper wiederhergestellt ist, denkt Heinrich wie die wisen (1449) seiner Umgebung (und wie es seinem Stand entspricht) ganz selbstverständlich an Gliche hirät (145 3).75 Wie üblich gibt es unterschiedliche Empfehlungen. Heinrich aber will sich Gott dankbar zeigen, der ihn erst wieder ehefähig gemacht hat (1482-1486). Seine Entscheidung für das Mädchen (dem er mit seinen Eltern zuvor schon die Freiheit geschenkt hat) ist Konsequenz dieses Wunsches. Seine Erfüllung macht er überdies von der Zustimmung der vriunde abhängig; sonst wolle er ehelos bleiben. Alle finden, eζ ware ein michel vuoge (1511): sowohl ständisch wie religiös angemessen.76 Nachdem der Himmel das radikale Angebot des Mädchens nicht angenommen hat, ,fügt' er eine vorbildliche Ehe. Was Heinrich wie den
7i
74
7!
76
Der himmlische Bräutigam, als ein vrier bäman (775) phantasiert, bietet nicht nur die Alternative zum mühseligen Leben einer bäuerlichen Ehefrau (M. Müller, 1995, S. 27of.), sondern überbietet jedes adlige Konnubium als feiner küneginne (812). Wynn hat vor dem Hintergrund weiblicher Lebensentwürfe um 1200 die Frage gestellt, ob das Mädchen nicht grausam gezwungen werde, ihre geistliche Vermählung mit Christus aufzugeben (vgl. Wynn, 1994, S. 2j2f.): Statt der väterlichen Gewalt werde es der eheherrlichen ausgeliefert; von wechselseitiger Liebe sei nicht die Rede, so daß die Ehe als „a corrective blow of the utmost severity" erscheine. Auch für das Mädchen war ein Leben als jungfräuliche mulier religiosa, wie sie für die Zeitgenossen eine bekannte und nachvollziehbare Option gewesen sein mag, nie eine Alternative, es gab nur das Selbstopfer im Tod. Kraß (2006), S. 218 stellt als Ergebnis des Kasus fest: „Man muß die Welt nicht verlassen, um seine Seele zu retten", doch sieht er in der überraschenden Wendung gleichfalls eine „Aporie". Die Diskussion in sozialgeschichtlichen Kategorien geht deshalb am Problem vorbei (vgl. auch M. Müller, 199;, S. 288f.), und für die „Außeralltäglichkeit" (ebd., S. 291) des Schlusses spielt die Psyche der Protagonisten keine Rolle - wie sich auch vorher die Entscheidung für den himmlischen Bräutigam nicht in Kategorien wie Selbstsucht oder Selbstlosigkeit fassen läßt.
140
Die Ersetzung des Vaters when vuoge scheint, belohnt G o t t zuletzt mit dem Himmelreich: ein höfischer K o m promiß. Dieser Schluß bleibt v o n der A n l a g e der Geschichte her allerdings nicht unproblematisch. Z w a r bemüht er sich, alternative L e b e n s f o r m e n zu harmonisieren. D i e E h e ist als Dankbarkeit gegenüber G o t t begründet, und als solche wird sie in den üblichen F o r m e n der Beratung des K o n n u b i u m s v o n den vriunden gebilligt. D a ß die L ö s u n g trotzdem nicht bruchlos aufgeht, belegt eine Variante in Handschrift B , die zwar meist als sekundär angesehen wird, 7 7 mindestens aber auf die Inkommensurabilität der Lebensmuster verweist. Ihr zufolge wird die letztlich v o n G o t t gestiftete E h e nämlich nicht vollzogen; Heinrich und das Mädchen gehen in ein Kloster. A u s der Fortpflanzungsgemeinschaft wird eine spirituelle Verbindung. Damit wird der K o m p r o m i ß ein wenig weiter zur anderen Seite verschoben. Beide Schlüsse sind alles andere als eine ,Tragödie', 7 8 nämlich wie in der , G u t e n Frau' oder dem ,Wilhelm v o n Wenden' der Versuch, konkurrierende Lebensordnungen prozeßhaft zu harmonisieren.
D i e Ersetzung des Vaters In den heilig-profanen E h e n ist die K o m p o n e n t e der Geschlechtsgemeinschaft zurückgedrängt, so daß narrativ ein K o m p r o m i ß zwischen Heiligkeit und feudaler Familienordnung angestrebt werden kann. D i e familiale Normalität muß erst mühsam und auf dem U m w e g über einen Verzicht auf sie gerechtfertigt werden. D i e späteren E h e n der G u t e n Frau sind J o s e p h s e h e n ' ; weder der G r a f v o n Bleis noch der K ö n i g v o n Frankreich werden Väter. In K o n r a d s ,Silvester' wird der künftige Papst als Sohn einer Witwe eingeführt ( K S i 1 0 1 ) ; der Vater fehlt v o n A n f a n g an. Im ,Eraclius' wird er früh eliminiert; ihr ,heiligmäßiges' L e b e n beginnen Mutter und Sohn erst nach seinem Tod. I m ,Wilhelm v o n Wenden' verabschiedet sich der Vater aus der Geschichte. 7 9 Rasch verschwindet auch der Vater des G r e g o r i u s . G r e g o r i u s kann nicht Vater werden. Natürlich ist es undenkbar, daß der Vater in höfischer E p i k wie in L e g e n d e n oder der Geschichte v o n der Heiligen Familie marginalisiert wird, 8 0 doch wird seine R o l l e gleichfalls in auffälliger Weise zurückgedrängt. D a s hat gewiß mit der höfi-
11 78
80
Problematisierend hierzu auch K r a ß (2006), S. 219. Wynn (1994), S. 2 j 4 f . D i e Abwesenheit des Vaters hat die A u f w e r t u n g der Frau zur F o l g e , weniger als Mutter denn als Herrscherin. Im ,Wilhelm v o n Wenden' schafft B e n e ohne männliche Hilfe als Landesherrin Frieden. Sie verdankt ihre Stellung als Landesherrin nicht dynastischer Legitimität - der G e n e a l o g i e sondern einer Wahl (vgl. J . - D . Müller, 1986c). D i e G u t e Frau bewährt sich nur an der Seite des jeweiligen Landesherrn, doch fällt ihr nach dessen T o d die Landesherrschaft zu. Wie dies K o s c h o r k e (2000), S. jof. f ü r die Heilige Familie gezeigt hat.
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Antagonistische
Lebensformen
sehen Form der Vergesellschaftung zu tun, die eine ältere, eher tribale Vergesellschaftung der frühmittelalterlichen Feudalgesellschaft ablöst 8 ' und stärker christlich überformt ist, so daß christliche Lebensentwürfe das Familien- und Vaterbild beeinflussen. Parzival wird ,ohne Vater geboren' und lebt zuerst in der Obhut Herzeloydes. 82 Lancelot tritt als Held ohne Vater in die Ritterwelt ein, ebenso wie seine Verwandten aus der Bansippe; die konkurrierende Gawein-Sippe besteht nur aus Brüdern; Tristan wird vorehelich vom todwunden Riwalin gezeugt; verwaist, hat er sich zwischen den beiden Ersatzvätern M a r k e und Rual zu entscheiden. Auch in der Heldenepik ist der Heros zwar häufig vaterlos, aber das hat einen anderen Grund als im höfischen Roman. Es dominieren in der Regel die erwachsenen Männer, während die Frauen und die Kinder überwiegend - bis auf die Protagonistinnen des .Nibelungenliedes', Kriemhild und Brünhild, - Randfiguren sind. Kriemhild und Brünhild haben Kinder, aber sie agieren nie als Mütter. 8 5 Nicht die Familie, der Geschlechterverband steht im Vordergrund, freilich als momentan unterbrochener, damit der Heros seine Chance erhält. 84 Im ,Buch von Bern' ist Dietrich von Bern der Sohn Dietmars, doch Dietmar ist tot, wenn Dietrich seine unglücklichen Kämpfe gegen Ermanrich beginnt. Hugdietrich, der Vater Wolfdietrichs verschwindet rasch, damit der Sohn den lebenslangen Kampf um sein Erbe ausfechten kann. Ortnit ist schon tot, wenn sein Erbe Wolfdietrich sich erkämpfen muß, was Ortnit besaß. Auch im ,Nibelungenlied' ist Dancrat, der Vater der burgondischen Könige tot und hat damit die gemeinsame Herrschaft der drei Brüder ermöglicht. Tot ist auch der Vater von Schildunc und Nibelunc, die damit die Erben seines Hortes werden. Doch können die Söhne sich ihr Erbe nicht sichern. Es fällt an den zufällig hinzukommenden Heros. Gewöhnliche Erbfolge gibt es nicht, auch nicht bei Siegfried. Zwar tritt irgendwann der Sohn an die Stelle des
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Mit Luhmann (1980), S. 2 5 f. kann man vom Übergang von einer sektoralen zu einer stratifikatorischen Gesellschaft sprechen. Die sektorale Gesellschaft ist in patriarchalen Familienverbänden organisiert. Wie wenig es dabei auf die familiale Rolle der Mutter ankommt, zeigt sich daran, wie rasch die Mutter Herzeloyde durch eine andere Frau - Sigune - ersetzt werden kann. Z u überlegen wäre deshalb, ob die Bedeutung des Avunkulats im ,Parzival' und in zahlreichen anderen Epen (Schmid, 1986, S. 172-194) damit zusammenhängen könnte, daß zwar ein Mann, jedoch nicht in seiner sexuellen Rolle benötigt wird. So könnte sich der scheinbare „trait pseudo-matrilineaire dans un regime paternel" (S. 191 nach Levi-Strauss) erklären; vgl. Peters (1999), S. 5 2f. Wie immer man Kriemhilds Rolle beim Ausbruch des Kampfes zwischen Burgunden und Hunnen sieht: In jedem Fall ist ihr Sohn Ortlieb eine Figur im Spiel um Rache, die bei Bedarf geopfert werden muß. E s gibt fünfmal die Dreierkonstellation der Kleinfamilie, viermal mit einem Sohn, einmal mit einer Tochter: Siegmund, Sieglinde und Siegfried; Siegfried, Kriemhild und der jüngere Gunther; Gunther, Brünhild und der jüngere Siegfried; Etzel, Kriemhild und Ortlieb; Rüdeger, Gotlind und die junge tnaregravitme. Allerdings verschwindet jedes Mal sehr bald eine der Positionen. Im ersten Fall wird - noch vor der Ermordung Siegfrieds - die Mutter eliminiert; in den Fällen 2-4 fallen die Söhne rasch aus, nur in 5 der Vater. Dort, wo das Dreieck am längsten intakt ist, im Verhältnis Kriemhild Etzel - Ortlieb, ist anstelle der engen Mutter-Kind-Beziehung deren skrupellose Perversion getreten. 142
Die Ersetzung des Vaters Vaters Siegmund, doch dann tritt auch wieder der Vater an die Stelle des Sohns (nach Siegfrieds Tod nämlich). Ein ,vertikales' Beziehungsmuster (Vater-Sohn) wird durch ein ,horizontales' ersetzt: Siegmund und Siegfried scheinen Vertreter einer und derselben Generation. Wie ,überflüssig' Siegmund ist, zeigt sich, wenn er Siegfried und Kriemhild zum Fest in Worms begleitet. Die Königsherrschaft hat bereits der Sohn inne; als Herrscher zählt Siegmund nicht mehr. Aber auch als Rächer seines Sohnes fällt er aus; er reist ab, als sich herausstellt, daß er zur Rache zu schwach ist, und überläßt seinen Platz Kriemhild. Was mit ihm, seinem Enkel und seinem Land künftig geschieht, ist ohne Belang. Er ist eine unwichtige Randfigur. Ebenso gilt das für die Söhne der Heroen, die frühzeitig eliminiert (Ortlieb) oder schlicht vergessen werden (die jungen Gunther und Siegfried). 8 ' Im heroischen Epos besteht kein Interesse an der Generationenfolge. Der Heros ist in sie eingelassen, doch handelt er voraussetzungslos. Er verdankt nicht, was er ist, väterlichem Erbe, und seine Einmaligkeit bleibt ohne Fortsetzung. Das Modell der Artusrunde ist in anderer Weise in Distanz zum genealogischen Verband und der patriarchalen Familie entworfen. 8 6 Dies verbindet sie mit religiösen Gemeinschaften - wieder eine Kompromißstruktur. A m Hof des Artus gibt es in der Regel keine Väter. Artus ist der virtuelle, nicht der leibliche ,Vater' der Runde und hat in den meisten Fällen keinen Sohn (und wenn, dann einen illegitimen). Die Bindung der Artushelden untereinander ist stärker als diejenige an die eigene Familie. Am klarsten ist das im Prosa-Lancelot beschrieben: Wann ir mögent wol sehen das von andern landen da ritter pflegen weheren, es sy in der cristenheit oder in der heidenschafft, koment die ritter der tajeirunden. Wann gottyn die gnad thut das sie sint ritter und gesellen, dann so halten sie sich vor vil glückhafjtiger wann ob sie alle die weit gewonnen betten, wann man wo! siecht das sie laßent ir vetter und mutter und wyber und kinder, umb gesellen da %u sin. (PrL III S. 101,4-9)
Die Artusritter agieren weder als Söhne von Vätern und Müttern, noch als Väter und Gatten. Sie stammen durchweg aus großem Haus, doch ist vom Vater selten mehr als der gute Name präsent. 87 Die Väter sind meist abwesend, solange der Held s
'
Die , K l a g e ' holt völlig überraschend G u n t h e r s S o h n Siegfried, von dem nie mehr die R e d e gewesen war, wieder hervor, w e n n v o n der Fortsetzung des Wormser K ö n i g t u m s erzählt werden soll. D a s demonstriert einmal mehr die Verabschiedung des heroischen E p o s . D e r junge G u n t h e r wird immerhin erwähnt, wenn S i e g m u n d vorschlägt, K r i e m h i l d solle mit ihm zurückkehren und in X a n t e n als Landesherrin herrschen: der tröstet in den muot, wenn er einmal herangewachsen sei (1087,3) ( = Β 1084; C 1098). K r i e m h i l d geht in ihrer A n t w o r t auf dieses A r g u m e n t gar nicht ein.
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D e r höfische R o m a n bietet „ i m Vergleich zu den Chansons de geste ein m e r k w ü r d i g reduziertes Bild von der Adelsfamilie, wie sie dem Protagonisten zugeordnet w i r d " (Peters, 1999, S. 296; vgl. S. 292 zu den D i f f e r e n z e n zur chanson de geste sowie S. 2 6 7 - 3 2 0 zum Bild der Adelsfamilie im höfischen Roman).
*7 A u s n a h m e n sind eher selten: K ö n i g L o t , der Vater Walweins, der in Ulrichs ,Lanzelet' ein Turnier ausrichtet, an dem A r t u s und seine Ritter teilnehmen. E r bestätigt insofern die R e g e l , als er in diesem Turnier unterliegt und v o n seinem S o h n ausgelöst werden muß. A u c h ist er nicht Vater des Helden. D e r ist schon tot, und es muß lange gesucht werden, bis man weiß, wer er war.
143
Antagonistische
Lebensformen
sich am Hof des Artus, ihrer aller Vater, aufhält; kaum je treten sie auf, oft nur, um dem Sohn die Herrschaft zu übergeben. Manchmal werden sie auch - wie in den Lancelot-Romanen - gleich zu Beginn eliminiert. Am Hof des Artus leben viele Frauen, aber ebenfalls keine Mütter. Wo die Geschichten der Söhne von Müttern erzählt werden (Wigalois, Parzival, Galaad usw.), wachsen diese gerade nicht am Artushof auf, sondern weit entfernt. Ihre Aufgabe aber finden sie erst, wenn sie sich aus dem familialen Verband entfernen. Das Sozialmodell der Tafelrunde relativiert damit die Institution der Ehe. Diese ist zwar Ziel der höfischen minne, liegt damit aber jenseits des üblichen Handlungsrahmens. Wo wie im ,Prosa-Lancelot' minne in Frage gestellt wird, geschieht das nicht zugunsten der Ehe, sondern im Namen frommer Virginität. 88 Am Hof sind Männer und Frauen durch minne verbunden, und diese minne wird oft in die Ehe überführt, aber die Ehe scheint weniger Ort genealogischer Reproduktion als derjenige der Legalisierung erotischer Beziehungen. Die Geschichte von Erec und Enite ist so wenig wie die von Iwein und Laudine eine Geschichte von Eltern, und die Vorstellung, daß Isolde von dem doch offensichtlich sexuell recht aktiven Marke ein Kind empfangen hätte, ist absurd. Erst der Ausgang der höfischen Romane verlängert oft die Perspektive der minne-Ehe zu einer glorreichen Nachkommenschaft, was die Entfernung vom Artushof voraussetzt. Wieder ist im ,Prosa-Lancelot' das Problem am schärfsten konfiguriert. Da gibt es einerseits das kaum übersehbare Geflecht patrilinearer Genealogien, in denen jeder seinen ,richtigen' Ort einzunehmen hat. Sexuelle Reproduktion aber wird vornehmlich außerhalb der Ehe zum Thema, das heißt aber, daß sie genealogisch prekär ist und zugleich Verstoß gegen die küscheit. Lancelots Vaterschaft ist sünde, auch wenn der Sohn zum Erlöser wird. Mordred, der leibliche Sohn des Artus, ist illegitim und bringt das Artusreich zum Einsturz. Es gibt Ubergänge zwischen feudaler und klerikaler Ordnung. In Wolframs p a r zival' steht die Gralsgesellschaft auf der Grenze zwischen Ritterorden und profanem politischem Verband. Ihre Regeln verbinden die Forderung sexueller Enthaltsamkeit (für die Ritter) mit streng regulierten Eheschließungsvorschriften (für den König) und schließen sexuelle Aktivität vor der Ehe aus."9 Sie erneuert sich durch Berufung, indem ihre Mitglieder aus dem angeborenen dynastischen Zusammenhang herausgelöst werden, um in einer ehelosen Ordensgemeinschaft zu leben. Doch wenn irgendwo der dynastische Zusammenhang und damit die gewöhnliche Herrschaftsfolge bedroht ist, kann der Gral wieder Ritter aussenden, die sie fort-
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Knapp (1986), S. 31 hat sich gegen die angeblich „sehr hohe Wertschätzung der Ehe in dem Roman" gewandt; die Ehe sei nicht „Ideal", sondern „Zugeständnis an den schwachen Menschen". „Als Gegengewicht gegen die [...] Liebe Lancelots und Guenievres oder gar als deren Uberbietung taugt sie jedoch nicht. Diese Stelle nimmt vielmehr die Virginität ein". Arthur Groos: Treating the Fisher King (,Parzival', Book IX), in: German Narrative Literature (1994), S. 276.
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Die Ersetzung des Vaters
setzen und durch Heirat ein Herrschergeschlecht neu begründen (die ,Lohengrin'Sage). Die Töchter der Gralskönige sind ohnehin in das profane adelige Konnubium integriert. Die Stellung des Gralskönigs ist zugleich genealogisch und durch geistliches Charisma (die Berufung durch den Gral) begründet. Das Konnubium unterliegt strengen Beschränkungen. Die Marginalisierung des Geschlechterverbandes zeigt sich gerade dort, wo ihm mehr Raum gegeben zu sein scheint wie in Wirnts ,Wigalois'. Dort steht anfangs der Vater des Titelhelden, Gawein, im Zentrum. Gawein lebt, fern von seiner Herkunft, am Artushof; von dort wird er ins Land der Florie gelockt, mit der er den Sohn Wigalois zeugt. Doch löst er sich sogleich wieder aus dem Familienverband. Er will weiter äventiuren bestehen, verläßt Florie und findet nicht mehr in ihr Land zurück. Das wird doppelt begründet: Zurückfinden könnte er nur mit Hilfe des Vaters seiner Frau (daζ nietnen mohte in da^ lant/ an des küniges geleite kamen, WW 1096) - die aber hat er als Artusritter nicht-, und außerdem kann dies nur mit Hilfe eines Zaubergürtels geschehen - den hat er seiner Dame geschenkt. Das ist eine Uberdetermination: der Artusheld kommt nie zurück. Das zeigt sich an Wigalois selbst, der den Gürtel bekommt und trotzdem nicht zurückfindet. Die Sehnsucht der Florie nach Mann und Sohn bleibt leere Geste. Erfüllt wird sie nie. In Wigalois' Geschichte wird der Vater Gawein zur Nebenfigur. Wigalois wächst vaterlos auf; dies und die Fama des Vaters verpflichtet ihn zwar zur Suche (1273-1285), 9 0 doch, einmal aufgebrochen, verliert er dieses Ziel aus den Augen. Wenn er am Artushof Gawein begegnet, trifft er nicht den Vater (daß Gawein sein Vater ist, erfährt er erst viel später, 4807-4812), sondern den vollendeten Artusritter. Gawein wird als Unbekannter 9 ' Wigalois' Erzieher (i6oif.). Dann verschwindet er aus der Handlung. Erst nachdem der Sohn eine Reihe schwieriger äventiuren bestanden und sich selbst Frau und Herrschaft erstritten hat, trifft er den Vater Gawein wieder. Doch kehrt der Sohn nicht zu ihm zurück, sondern der Vater Gawein sucht ihn in Begleitung dreier Artusritter an seinem neuen Herrschaftssitz aus väterliche[r]/ triuwe (963of.) auf. Der Hof kommt zum Helden.92 Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Artusrunde und Artusritter wird also umgekehrt. Die Herkunftsfamilie bleibt am Rand. Wenn Wigalois den Vater an seine Frau Florie erinnert, denkt Gawein nicht an die Mutter seines Sohnes, sondern an seine Minnedame. Er beklagt die Trennung; doch entschließt er sich nicht zur Rückkehr. Die Bindung an die Ehefrau ist dem Frauendienst allgemein, die Familienbindung derjenigen an die Artusgesellschaft nachgeordnet: 90
D a s M o t i v wird breit entfaltet, aber völlig entfunktionalisiert (Fuchs 1997, S. 1 1 5 - 1 1 9 ) ; der Held erhält v o m Vater nichts, was er nicht schon hätte, und die Suche hat keine A u s w i r k u n g e n auf N a m e und Status, die immer bekannt sind (vgl. Cormeau, 1977, S. 20f.). D a s M o t i v auch in ,Biterolf und Dietleib': charakteristisch für die A u f l ö s u n g naturwüchsiger Bindungen. 9 * D a s hängt gewiß auch mit der fleckenlosen Exemplarität des Helden zusammen (Fuchs, 1997, S. I i 3 - 1 2 2 u . ö . ) , die jede Instanz, v o n der er A n e r k e n n u n g suchen muß, überflüssig macht.
Mi
Antagonistische Lebensformen durch miner vrouwen ere ich wil allen wiben wesen holt und si liutern als ein golt mit Worten swä ich immer kan. Ich wil ir aller dienestman Und ir kempfe immer wesen (9672-9677).
Es ist nur konsequent, daß Florie bald - heftig betrauert - stirbt.95 Der Vater Gawein wird durch den gemeinsamen Vater Artus ersetzt, der bei Wigalois erscheint, um den neuen Herrscher zu ehren.94 Auch außerhalb der Artuswelt wird im höfischen Roman der Vater zurückgedrängt. Im ,Wilhelm von Orlens' des Rudolf von Ems heißt Wilhalm, der Ahnherr Gottfrieds von Bouillon, der ,Held, dessen vatter vor im starp' (WvO 79). Dieser Vater wird gleich mehrfach ersetzt. Wilhalm stammt aus einer vorbildlichen Familie. Sein gleichnamiger Vater kann alle Qualitäten hohen Adels auf den Sohn vererben: Lehen, Eigenbesitz, die Anerkennung seines fürstlichen Rangs, eine ausgedehnte Verwandtschaft. 9 ' Herausragend sind auch seine persönlichen Qualitäten als Ritter (167-177) und vorbildlich seine Liebesehe mit einer Frau, die ihm nach ererbtem Rang und individueller wrdekait ebenbürtig ist: ein ideales Paar, in inniger Zuneigung füreinander. Doch ist die Schilderung eine Falle, denn damit ist keineswegs die Geschichte des Sohnes vorgezeichnet. Der ältere Wilhalm gerät in einen Rechtsstreit mit Jofrit von Brabant.96 In der Fehde kommt er ums Leben. Sein Tod ereignet sich aus übertriebener Fairness.97 Damit hat der Held seinen Vater verloren. Anfangs sieht es so aus, als trete der Sohn problemlos an die Stelle des Vaters und als setze er die dynastische Ordnung
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94
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Antagonistische Lebensformen er mac gotes ritter gerner wesen danne ein betrogen klosterman.
(1531-1535)
Der Abt bestätigt ihm, du bist [...]/ des muotes niht ein klosterman (163 5£). Natürlich gehören zum muot die passenden Umstände. Das guot bestätigt aber nur nachträglich, was der muot schon entschieden hat." 6 Gregorius assoziiert guot mit gemach (1680) und will materielle Ausstattung durch Ethos ersetzen, das sein Inneres bestimme: ich trage si alle samet hie,/ die huobe die mir min vater lie (1695f.). Was Mangel scheint, ist im Gegenteil ein Ansporn ritterlichen Lebens: ob ich mit rehter arbeit, mit sinne und mit manheit erwirbe guot und ere, des priset man mich mere dan dem sin vater wunder lie und da^ mit schänden %egie.
(1715-1720)
Damit ist der Abt geschlagen, und so übergibt er Gregorius auch den Besitz, der dem Kind mitgegeben wurde und den er gemehrt hat. Erst jetzt erfährt Gregorius von der Schuld der Eltern. Das religiöse Motiv der sündigen Geburt klingt sehr spät an und ändert an der getroffenen Entscheidung nichts mehr. Die Diskussion darüber mit dem Abt ist sehr kurz. Dieser rät noch einmal ganz allgemein, kur^e tage/umbe da^ ewige leben ^u geben {ιηφί.). Eine besondere Kritik an der Entscheidung des Gregorius erwächst daraus nicht. Es geht bei dieser ersten Entscheidung gar nicht um die Entscheidung zwischen Weltleben und Leben für Gott, sondern um eine ständische Alternative. 1 ' 7 Beide Lebensformen liegen auf einer Ebene. Der eine Stand ist falsch, weil er Gregorius' art nicht entspricht, der andere verstrickt ihn in den Inzest. Gregorius wird ein vorbildlicher Ritter, der sich bemüht, den angeborenen Platz in der Feudalgesellschaft zu erlangen, 118 durch Rettung einer Frau, Sieg über ein Usurpator, Erkämpfen einer eigenen Herrschaft. Schemagerecht bekundet er, wenn er von der Bedrängnis der Landesherrin - seiner Mutter - erfährt, daζ ich mine junge stunde niht müe^ic enlage, da man urliuges phlage. geruochet es diu vrouwe min, ich wilgerne ir soldencere sin.
(1872-1876)"'
Z u m Verhältnis v o n muot und Ausstattung bei der B e s t i m m u n g v o n Identität S. 2 4 j f . Wie Schmitt (2002b), S. 1 4 0 bemerkt, bezieht G r e g o r i u s „die freie Wahl [...] des L e b e n s e n t w u r f s " „nicht auf die E n t s c h e i d u n g zwischen Heilsweg und Verderben", sondern nimmt sie „ f ü r die Wahl der sozialen Identität als Ritter in A n s p r u c h " , d.h. die Wahl ist ständisch konditioniert. " ' D a s entspricht einer vorbildlichen ritterlichen L a u f b a h n (Schmitt, 2002b, S. 143). Vgl. sein Selbstgespräch 2028-2065.
1,7
156
Disparität der Lebensordnungen In der Konsequenz dieser Bewährung liegt die minne zur Landesherrin und deren Legalisierung in der Ehe. Bei den Eltern war der Inzest ein Verstoß gegen die geltenden Normen; bei Gregorius folgt er aus ihrer Erfüllung. Ohne die (vorbildliche) E h e kein Inzest! Wie sehr die bisherigen Lebensformen vergleichbar sind, zeigt der Erzähler, wenn er für die Empfehlung der E h e die gleiche Formulierung wie für die des Klosterlebens wählt: eltch hirät ist das aller beste leben / da% got der werlde hat gegeben (2222-2224). Das entspricht der durchgängigen Valorisierung der E h e in der feudalen E p i k . Die fromme Buße, die Gregorius stellvertretend für seine Eltern übt, scheint den gelungenen K o m p r o m i ß anzuzeigen.' 20 Doch genau dieser Kompromiß erweist sich als unmöglich, und so ist gerade die Buße nicht Sühne für den ersten Inzest, sondern Anlaß für die Aufdeckung des zweiten. Die beiden Lebensformen werden hintereinandergeschaltet, um beide zu v e r w e r f e n . m Die Kompromißstruktur dynastisch-frommer Ehen nach Art der ,Guten Frau' wird angespielt, doch nur um durch den Fortgang desavouiert zu werden. Im Inzest ist die Opposition zum Virginitätsideal überdehnt; unter seiner Bedingung ist Fortpflanzung Verbrechen. Minne, die in der E h e selbst den Worten des Erzählers zufolge ihre gottgefällige Form zu erhalten schien, gibt es aber in der Geschichte des Gregorius nur in der Form des Inzests, des schuldhaft-absichtlichen der Eltern, des schuldlos-unabsichtlichen des Helden. Wie radikal sich die Legende gegen eine auf familiären Zusammenhängen beruhende Ordnung richtet, zeigt sich noch am Scheitern der Papstwahl an den eigensüchtigen Interessen rivalisierender Familien in R o m , von denen jede das höchste A m t der Christenheit für sich beansprucht (besunder sinem künne, 3147). Gregorius und seine Mutter müssen ihre besondere Geschichte hinter sich lassen, damit sich zuletzt erweltiu gotes kint begegnen können (3954). Erst durch die Uberschreibung der Mutter-Sohn-Beziehung durch die Beziehung des Beichtkindes zum geistlichen Vater wird die heillose verwandtschaftliche Verwirrung überwunden. Der ,Gregorius' steht jenseits der Alternative eines ritterlichen oder klösterlichen Lebens. Die Nicht-Existenz in der Einöde - und eben nicht ein Aufstieg in der kirchlichen Hierarchie - ist Bedingung der Erhebung zum Papst. Diese setzt den radikalen Bruch mit der Welt voraus. Das siebzehnjährige Leben auf dem Stein, die völlige Askese eines Eremiten, widerruft beide Lebensformen, die vom Abt vorgezeichnete wie das Ritterleben. E s gibt keine Rückkehr ins Kloster, sondern nur die
Solche Buße ist freiwillig; sie kann mitten in der Welt - im Z e n t r u m seines Landesherrenlebens geübt werden (vgl. Mertens, 1978, S. 74f.).
-
' " Bei der Mutter wird die alternative L e b e n s f o r m immerhin noch angespielt, indem sie nach ihrer Schuld Enthaltsamkeit gelobt, um „als Braut Christi zu leben" ( 8 7 1 - 8 9 8 ) ; selbst dies wird noch vor der Folie dynastischen K o n n u b i u m s beschrieben, das ersetzt werden soll; die Mutter wählt einen statt« helt/den aller tiuristen man/der ie nametigewan (872-874). D o c h auch sie verhält sich, wenn G r e g o r i u s sie gerettet hat, r e g e l k o n f o r m wie andere f r o m m e Herrscher(innen), wenn sie dem Rat der Vasallen, sich einen E h e m a n n zu nehmen, folgt (vgl. Kasten, 1995, S. 4 1 5 ) .
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Antagonistische Lebensformen
Flucht in die Wildnis. Hartmann schaltet die antagonistischen Lebensformen hintereinander, um sie beide zu überwinden.
Das Phantasma des moniage Das stellt den ,Gregorius' gegen die vielen Geschichten von Helden, die zuletzt ihres Seelenheils wegen ins Kloster gehen. Sie finden sich vor allem im Umkreis des Heldenepos und der Brautwerbungserzählungen. Im moniage werden zwar die antagonistischen Lebensformen aufeinander bezogen, bleiben aber, anders als im ,Gregorius', jede fur sich gültig. In der ,Mönchswerdung' ! " ist der Gegensatz milesclericus manchmal verschärft, manchmal versöhnt. Moniage erlaubt, die in beiden repräsentierten Ordnungen zueinander in Beziehung zu setzen, ist aber in volkssprachigen Texten im Sinne der einen Seite perspektiviert: Der Held sucht sich der Definitionsmacht des Klerikers zu versichern, indem er dessen Lebensmaximen zuletzt übernimmt, ohne jedoch seine Identität als feudaler Heros aufzugeben. Deshalb ist moniage zu unterscheiden von der conversio am Ende eines ritterlichen Lebens, wie sie sich etwa im ,Prosa-Lancelot' findet. Conversio bedeutet den unwiderruflichen Ubertritt in eine andere Lebensform. Der Ritter wird zum Büßer: Ir sint gewest mjn gesellen vor der wollust dißer weit. Nu wil ich uch gesellschafft thun in der arbeyt dißer weit und in dißem leben (PrL III S. 780,10-12). In diesem Sinne lebt Lancelot vier Jahre das da keyn man enwas der da also geistlich macht gelebet hann als er det mit beten und mit fasten und mit fru off stan und mit wachen (III S. 782, i9f.). Lancelots conversio ist Vorbereitung auf den Tod. Es gibt keine neuen Kämpfe mehr, nurmehr ein Leben in Buße und Askese. Dagegen bedeutet moniage, daß die frühere art nicht vollständig ausgelöscht wird und der Gegensatz im früheren Heros weiter angelegt bleibt. Das Spannungsverhältnis wird mit wechselnden Akzentuierungen ausagiert. Das eine Mal erweist sich die heroische art als stärker, das andere Mal ist die Hinwendung zum Dienst Gottes entscheidend. Der Held, der Mönch wird, hat in der Regel seine Laufbahn als Held abgeschlossen; er hat Nachkommen gezeugt (oder mindestens seine Nachfolge geregelt), und er widmet sich ganz dem Dienst Gottes. Aber er verliert seine alte art
" ' Z u m Begriff: Biesterfeldt (2004), die ihn allerdings allgemein als „Rückzug von der Welt" beschreibt (vgl. S. 10-14). Das ist zu unspezifisch und schließt zu unterschiedliche Formen geistlichen Lebens ein. Dadurch wird das Textcorpus potentiell sehr groß (Kaiserchronik, ,Barlaam und Josaphat'; vgl. den Ausblick S. 150). Hier sollen ausschließlich Texte diskutiert werden, in denen moniage als K o n kurrenz zur Lebensform des Ritters aufgefaßt und zu dieser Lebensform in Beziehung gesetzt wird. Deshalb werden die eindeutig legendarischen Texte (wie z.B. der ,Barlaam') nicht berücksichtigt. Der moniage ist auch als Erzählschluß ohne konzeptionelle Ausgestaltung weit verbreitet; vgl. auch Corinna Biesterfeldt: Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als J a zu Gott und der Welt, Wolfram-Studien 18 (2004), S. 2 1 1 - 2 3 1 ; vgl. S. 2 i i f . zum .Wilhelm von Wenden'.
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Das Phantasma des moniage nicht vollständig, und deshalb ist moniage nicht unwiderruflich; vielmehr zeigt sich gerade an den Mönch werdenden Kriegern, wie beide Welten aufeinander angewiesen sind. In einem Teil der Heldenepik dominiert der Gegensatz. Im ,Großen Rosengarten' z.B. erscheint der Mönch als oberflächlich verchristlichter Haudegen. Der Text ist nicht auf Ausgleich, sondern auf Kontrast der Lebensformen angelegt, mit dem Ziel die eine - die monastische - lächerlich zu machen. Gegenbild der heroischen Welt der Dietrich-Helden ist einerseits eine höfische Turnierwelt in Worms, andererseits die Mönchsgemeinschaft des Klosters. Beide erweisen sich als gleich jämmerlich. Kriemhild lädt die Dietrichs-Helden nach Worms zu einem nur scheinbar höfischen, tatsächlich seinen rohen Gewaltcharakter kaum verschleiernden Turnier. Sie wird dabei erfahren müsen, daß ihre Turnierkämpfer, Siegfried eingeschlossen, den echten Dietrich-Helden unterlegen sind. Z u r Unterstützung holt Dietrich auch den Mönch Ilsan aus dem Kloster, in das er V o r j a h r e n eingetreten ist.' 2 ' Ilsan erweist sich tatsächlich als einer der effizientesten K ä m p f e r , der die effeminierten Wormser Helden, die gegen ihn antreten, klar besiegt. Erst recht ist er unter den ängstlichen Mönchen ein Fremdkörper. Schon wenn die Dietrich-Helden vor dem Kloster Isenburg erscheinen, schiebt er sein Mönchsleben rasch beiseite: Nu ware ich gein gote vil gerne ein guoter man. Des enivellen übel herren und boese Hute niht. Ich hebe mich wider an den mort, sivaζ mir davon geschiht. (Ro A 133,4-134,2; vgl. D 92-94) Gleich ist er gerüstet und fängt sogar fast einen K a m p f mit seinem Bruder Hildebrand an, der ihn doch nur aus dem Kloster holen wollte. Sol da\ kloster niht genießen der miner manheit? Bint uf den heim vil schiere, dir si widerseit. (A 147,1 f.) Wenn er dann von Dietrichs Wunsch erfährt, läßt die typisch heroische Aussicht, daß man noch 1000 Jahre von dem K a m p f in Worms erzählen wird, den Mönch und gewesenen Heros gleich die Teilnahme am Turnier zusagen. Der normgerechte kleinen Vorbehalt: erloubet mir\ der abbet (A 153,2) ist ohne Bedeutung. G e g e n heroisches Ethos richtet die Klosterregel nichts aus. Die zaghafte Einrede des Abts wird mit dem Versprechen zurückgewiesen, ihm einen von Kriemhilds Rosenkränzen mitzubringen, und für den gleichen L o h n verpflichten sich die Mönche, für Ilsan zu beten. Nichts stimmt im Kloster. Rosenkränze passen für die Mönche allenfalls, weil sie weibisch sind, und die Gebete sind vergiftet, denn tatsächlich wollen die Mönche Ilsan los sein und beten für seinen Tod vor Worms. ,i!
Laut R o D 77,2 ist Ilsan schon 20 J a h r e im K l o s t e r . - D i e A u s g a b e des ,Wormser R o s e n g a r t e n ' ist textkritisch besonders problematisch. D a s kann hier hingenommen werden, weil es nur um einige basale Konstellationen geht, die den Fassungen gemeinsam scheinen. Ich gehe v o n Α (nach Holz) aus ufid beziehe nur, w o signifikante Ä n d e r u n g e n und Zusätze sich finden, D ein.
M9
Antagonistische I^ebensformen Do si solten biten umb des münches heil, do santen sie im vlüeche nach ein michel teil. Sie bäten Crist von himel, da^ will ich iuch sagen, da^ er niemer käme wider, er würde tot geslagen. (A 164) 124
Kloster und Hof erscheinen in verzerrt heroischer Perspektive. Wenn Ilsan in Worms in den Kampf eingreift, ist die Mönchskutte nur ein Accessoire seiner Ausstattung als Heros: er t(pch ein kutten über sin stähelingewant (A 249,3). I!5 Nicht ein Mönch wird wieder Heros, sondern der Heros kleidet sich als Mönch. Das provoziert derbe Witze, ob er nicht lieber ^e kore geht und mit den anderen Mönchen singt (A 2 50,3f.) und ob er nicht Dietrichs Narr ist (A 252,3), ob sich so ein Kampf mit seinem Amt verträgt (D 43 3) und was für einen predegerstap er mit sich führt. (D 434,1; vgl. 105,4). Den orden trage ich rehte: sich an den predegerstap, den mir in dem kloster der abbet selbe gap. Er hat mich Abgesendet, ich sol bihte hären. (D 434,1-3) 1 2 6
Ebensowenig wie die religiöse hat die höfische Ordnung vor dem Mönch Bestand. Preis für jeden Sieg im Turnier ist ein Kranz von Rosen und ein helsen und küssen durch Kriemhild, die Herrin des Turniers. Da nun Ilsan neben dem riesenhaften Studenfuhs noch weitere 52 Gegner erledigt, stehen ihm weitere 52 Umarmungen Kriemhilds zu. Doch sein rauher Bart' 27 zerkratzt Kriemhilds Gesicht, so daß sie am Ende blutüberströmt ist. Das provoziert schadenfrohes Lachen. Der Idn der Dame - hier eine ungetriuwe meit (A 376,3) - verletzt ihre unberührbare Schönheit; männliche Aggression rächt sich an der Zumutung höfischen Frauendienstes. Der scheinbar zum Mönch domestizierte Heros denunziert die alternative, höfisch geprägte Lebensform. 128 Bei der Rückkehr des Helden-Mönchs in sein Kloster 129 wiederholt sich diese Figur, jetzt aber gegen die eigenen Klosterbrüder und ihr friedlich-frommes Leben 114
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Besonders drastisch in D 1 (Holz S. 177): sie vluochten alle geltche dem starken tnüneche Ilsan (22,1). Der entgegengesetzte Vorgang in D, wenn die Dietrichshelden Ilsan abholen: do %ßch er abe die kutten und warf sie in da^gras: / hei, wie wiinnecliche der miinech gewäfent was (D 104, jf.). Hier trägt er auch später schon, wenn er zum Kampf kommt, die Rüstung unter der Kutte (D 427,1). Volker wirft ihm vor, die Kutte sei für ihn nicht geeignet (D 457, jf.). A m Witz, Sakramente und Attribute des Priesters im gewalttätigen Wüten des Heros aufzufinden, kann vor allem D nicht genug bekommen (vgl. D 435,3: 454,3f.; 456,3; 461,4; 6o6f.). Der Mönch schaut außerdem nach den Frauen, so daß Hildebrant schon mahnt, er solle nicht den orden stoeren (448,1). Der schoenen vrouwen wegen hätte Ilsan gern auf die Gelübde verzichtet (j95,3£). Dietrich mahnt ab.
" 7 In D werden ihm deshalb zuerst die Küsse verweigert (D 588,3f.). I1 * Dieser Affekt gegen die höfische Welt charakterisiert das Heldenepos, etwa in der blutigen Katastrophe im ,Nibelungenlied' (J.-D. Müller, 1998, S. 389-434). Im .Rosengarten' kommt es im Zertrampeln der Rosen und der Verwüstung des Gartens zum Ausdruck, ähnlich im ,Laurin'. 129 In D kommen Mönch-Heros und Kloster nur noch im Zeichen der Gewalt zusammen: Do der miinech Ilsan wider heim kam,/man wolte in niht in lä^en, den wunderkiienen man./ er stie\ an die porten, da\ si üf brach./ Do schuof er in dem Kloster alleζ ungemach. (D 631)
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Das Phantasma des moniage gerichtet: Ilsan bringt v o n seinen Siegen für jeden M ö n c h einen Rosenkranz mit. Scheinbar überführt er die Trophäen erfolgreichen K a m p f e s in den klösterlichen Friedensbereich. In der Weise, wie das geschieht, wird der Sinn der symbolischen Prämie, die im höfischen Turnier die materielle Siegestrophäe ersetzen soll, freilich verkehrt: Ilsan drückt die K r ä n z e seinen Klosterbrüdern auf den (geschorenen) K o p f , so daß ihnen das Blut das Gesicht herunterläuft. Er sprach: ,diu rösenkren^elin kämen mich niht umb sus an. Namet ir si an smer^en, diu rösenkren^elin, des betet ir grd^e sünde, vil lieben bruoder min. (388,2-4) Verspottet wird auch die kirchliche Praxis stellvertretenden Büßens. Ilsan verlangt: ir biie^et mine sünde, die ich hän getan (389,2) - die Sünde des Tötens? Buße für die Sünde durch die schmerzhaften Rosenkränze? - K e i n e r wagt zu widersprechen; sie vorhten sinen ζorn (A 389,4). D i e ängstlichen M ö n c h e unterwerfen sich dem Heros: Sie sprachen: ,lieber herre, sit ir sit wider komen, so hän wir imver sünde gar üf uns genomen. des vröuwet sich unser gemiiete und ist uns allen liep.' hie mite endet sich da^ Rosengarten liet. (A 390) Hier geht es nicht um einen K o m p r o m i ß , sondern um die Verhöhnung der einen L e b e n s o r d n u n g durch die andere. Feudale G e w a l t behauptet sich auch da, w o sie ausgeschlossen zu sein schien. Was im ,Rosengarten' heroische Parodie auf höfische wie geistliche L e b e n s f o r m ist, wird in anderen Heldenepen zum Versuch einer Ü b e r h ö h u n g heroischer E x i stenz: A l s Held hat Wolfdietrich alles erreicht, wenn er sich zum Eintritt ins K l o s t e r entschließt; moniage ersetzt nicht die heroische Existenz, sondern supplementiert sie nur. Wolfdietrich war als keiser N a c h f o l g e r Ortnits, er hat einen S o h n gezeugt, die Heiden besiegt, hat - durchgängiges, doch o f t hunderte v o n Versen lang vergessenes M o v e n s der H a n d l u n g — seine geliebten Dienstmannen aus ihrer G e f a n g e n schaft am H o f v o n Konstantinopel befreit und seine Länder an Getreue verteilt. A u f dem H ö h e p u n k t erfolgt ein B r u c h , der T o d der Kaiserin, der Wolfdietrich veranlaßt, ins K l o s t e r zu gehen: ich muos sicherliche besorgen die sele min (WoD 2 1 2 1 , 2 ) . E r opfert seine Waffen auf dem Altar auf.''° N u r bei B e d r o h u n g des Klosters wolle er sie wieder nehmen. Als M ö n c h achtet er auf besonders strenge Observanz der Ordensregeln; er übt strengste Askese mit fasten vnd mit gebet (2234,4), mehr als der Rest der Mönche. D e r Heros verzichtet auf adlige Prärogative; er will keine Vorzugsbehandlung: sol man nit den armen also gliche koste geben/also mir vnd den besten? ( 2 1 2 9 , 2 ^ . D e r starke Herrscher v o n früher setzt die Klosterzucht gewaltsam gegen aufbegehrende A d lige durch: Die do betten fürsten j
namen, die Woltern^ vnder stan ( 2 1 3 2 , 1 ) , doch Wolf-
'° Z u seiner Devestitur K r a ß (2006), S. 2 3 1 .
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Antagonistische Lebensformen
dietrich bindet sie je zu zweit mit ihren Bärten zusammen und hängt sie an Stangen über einen Abgrund: sy sat^ten sich niemer me wider den werden man (2133,4). So wird bewiesen: adlige disciplina ist religiöser überlegen. Da das frühere Leben insofern nie ganz aufgegeben, sondern nur in den religiösen Bereich verlängert wird, ist die Rückkehr schon angelegt. Das Gelübde, auf Waffen zu verzichten, ist notwendig, damit erzählt werden kann, wie es gebrochen werden muß. Wenn ein Heidenkönig wieder einmal angreift, muß Wolfdietrich noch einmal Heros werden. Bei der Kriegserklärung rufen alle nach Wolfdietrich, der sogleich den heidnischen Boten mit seinem Schwert bedroht. Die Rückkehr des Heros wird als Metaphorisierung klösterlicher ^uht erzählt. Besonders eine Metapher hat es dem Erzähler angetan: Der Heros ist in der Lage, ,schlimme Schrift den Heiden vorzulesen' (2141,4; 2147,4) und ,statt mit dem Griffel mit dem Schwert', ,statt mit Tinte mit Blut zu schreiben' (2148,1; 2193,if.; 2201,3). Auf metaphorischer Ebene fallen Heros und Heiliger zusammen. Die Kulturtechnik, die die Mönche den Kriegern vorauszuhaben scheinen, beherrschen diese, wenn es darauf ankommt, auf ihre Weise doch noch besser. Wolfdietrich kann effektiver segnen und predigen als die Mönche, indem er nämlich die Heiden niedermetzelt: er ist in disem strite ein übeler brediger./ Wer enpfobet sinen segen, der wurt sin ungesunt (2201,4; 2202,1). Im Heros triumphiert der Missionsauftrag an die clerici. Nach der Rückkehr aus dem Kampf wird die Klosterzucht noch einmal gesteigert, indem Wolfdietrich sich wieder strengere Bußübungen auferlegt. So will er eine Nacht lang auf einer Bahre in der Kirche liegen und für seine Sünden leiden: do buoste er sin sünde mit (2236,4). Auch diese Buße ist eine Buße nach Art von Heroen. Die Metaphern des Epheserbriefes für einen geistigen Kampf, die die Ausbildung einer christlichen nova militia prägen, werden in einen erbitterten, den Körper erschöpfenden Kampf mit der Waffe umgesetzt, in die Abwehr der Geister derer, die Wolfdietrich einst erschlug: die er ie %uo tode gesluog, die koment gewoffent dar. mit den bat er erbeit genuog; er sas vf der bar. Sy gobent ym wider strit, stesse vnd mangen slag. wa£ er by siner %it e berter stürme gepflag, da% wa% ein wint gegen disem. er bet in sime wan, dat^ er tusent risen lieber bette bestan. {ιζ^η,ι,—ζζ^ηΚ,^)
Das Geisterheer fürchtet verständlicherweise den Tod nicht, und so schlägt es auf Wolfdietrich ein, bis der in Ohnmacht fällt; sein Haar ist weiß geworden. Doch der Erfolg ist durchschlagend. Wozu der Mönch sein ganzes Leben braucht, das gelingt dem Heros in einer einzigen Nacht: seine Sünde zu büßen (2241,4). Der MönchsHeros findet seinen eigenen Weg zum Heil. Nach dem nächtlichen Kampf ist Wolfdietrich von seiner Schuld befreit; er kommt wieder zu Kräften und stirbt erst 16 Jahre später; seine Seele geleiten Engel zu Gott. Metaphorisch werden die alter162
Das Phantasma des moniage nativen Lebensformen hintereinandergestellt, miteinander verklammert und auf den gemeinsamen Zielpunkt einer christlichen militia bezogen. Um einen wirklichen K o m p r o m i ß geht es am Schluß des höfisch überformten ,Willehalm'-Epos. Wolframs Fragment apostrophiert seinen Helden zwar als Heiligen, enthält aber nicht mehr den letzten Abschnitt der Vita, das heiligmäßige Klosterleben. Erst Ulrichs von Türheim ,Rennewart' erzählt die Ablösung der einen Lebensform durch die andere, und zwar als einen mühsamen Prozeß auf Widerruf. Zuerst entschließt sich Rennewart zum Eintritt ins Kloster ( U R e 25222-25236); er will künftig nicht mehr töten, wie es seinem Kriegerberuf entspricht (25261 f.).' 3 ' Doch bei ihm kümmert sich der A b t noch um standesgemäßes gut gemach (25547), gutes Essen, Trinken, Unterbringung; keine Rede von asketischer Lebensform, sondern ein standesgemäßes Leben im Kloster, bis Rennewart nach kurzer Zeit stirbt und, wie ein Engel verkündet, das ewige Leben gewinnt (25850-25860). Bei Willehalm selbst ist das anders. Das Heraustreten aus dem Stand ist problematisch: unser art da% missestat (33468); es kann nie vollständig sein. Willehalm überlegt die Folgen des Verzichts, die Besitzlosigkeit: ob ich ein munch nu wirde, wes sol ich danne mich began? bi mime gute wil ich be stan (33510— 33512,). E r fragt sich, ob er das gut nicht aufbessere Weise durch got einsetzen kann (33515 f.), in der Weise eines milte übenden Herrschers. Doch dann gibt er das Leben des seiner Christenpflicht bewußten Herrn auf, trennt sich von wibe und von gute beiden (33718) und unterwirft sich der Klosterregel. Den Harnisch muß er ablegen und tragen, als unser regel habe,/ blatten und munches cleit (33732f.). So legt er den Harnisch ab (33738), aber der Erzähler deutet sogleich an, daß Devestitur und Investitur auf Widerruf gelten: man solte shone pflegen, wol erziehen und ervegen, so mag verderben niht. wa^ ob lihte da£ geshiht da% man uns wil daζ unser nemen, so kan mich, herre, des ge^emen da% ich wil mit in s tri ten.
(33739-33745)
Die Ritterlaufbahn ist nur unterbrochen. Gewalt ist von jetzt an aber geistlich gerahmt: Notwehr zur Verteidigung des Klosterbesitzes, Heidenkampf, Befreiung von Unholden. Einmal folgt sie dem typologischen Muster Samson. 1 , 2 Sein jsencleit (25541) will er nie mehr anlegen, mit der Kinschränkung e% enbedürfe saute Julian - der Patron des Klosters — dem man sine lan (25 543f.). Vgl S. 167. 163
Antagonistische Lebensformen Der A b t hat den neuen Mönch gleich als Willehelm der markys (33755) erkannt, und so bleibt sein voriger Status immer präsent, zumal er nicht Priester werden kann (ich han manigen man erslagen, 33772). Willehalm unterwirft sich vorbildlich der Klosterzucht, doch erweist sich das neue Leben zunächst als Abbild des alten im Geist christlicher Demut. Willehalm erwarten Aufgaben, die an die frühere Herrenexistenz erinnern. So überträgt ihm der Abt die Aufgabe, sich um die Bewirtung der Klostergäste zu kümmern. Willehalm weigert sich zunächst: dazu hätte er Provence da% lant nicht aufgeben müssen (33851); doch muß er sich dem Gehorsamsgebot unterwerfen. So verteilt er den Gästen guten win und shones brot/ [...] und spise vrishe,/gut vleish und gro^e vishe,/ und anders maniger slahte (33894-33897). Obwohl er die Klosterpflichten erfüllt, möchte er mehr wie ein Mönch leben. E r wirft sich dem A b t zu Füßen, was diesem Gelegenheit gibt, die unfuge (35933) einer solchen demütigen Geste für Willehalms hohe) ]art herauszustreichen: des valles mähte genügen/ Loysen den Romcere,/ da£ er vor im geshehen ware/von einer also hohen art (33934-33937)· Auch die nächste Aufgabe, die der Abt ihm überträgt, bestätigt seinen alten Status. E r soll gegen Holzdiebe den Wald bewachen. Das ist nichts für gewöhnliche Mönche; es erfordert den früheren Krieger. Willehalm stimmt zu, sit ich mit dirre hüte/verdienen mag da^paradys (33976f.). Wenn er die Räuber überrascht und diese ihn als alten Klosterbruder verspotten, wird er gleich wieder zum Heros und schlägt sie alle neun mit einem Ast tot: sin müt der wart verwandelt (34017). E r handelt als Landesherr: ich wil befriden disen wait/vor iu. ir mittet ligen tot (34040f.). Die Gewalt wird mit Notwehr (3406) entschuldigt. Wenn der Abt davon erfährt, erhält Willehalm daher keine Buße auferlegt, wie es zu erwarten wäre: Niemand werde ihn im Paradies geringer achten, denn Gott wolle, da?y der man were da^ sine (34091). Das Gebot des Friedens und Gewaltverzichts gilt für Willehalm nicht uneingeschränkt. Wie prekär dies gleichwohl ist, zeigt sich, wenn der Abt nachschiebt, die Räuber seien Sarra^ine gewesen (34092): din lip der beiden nit slugj/ sie slug der den diu maget trug:/ des kraft was in dem aste (34095- 34097). Immer noch reicht das nicht aus. E r habe, sagt Willehalm, als er im Wald auf das Holz aufpaßte, die Klosterregel vernachlässigt: deine gesungen und gelesen (34108). So bittet er den Abt um das hoste ammet (34112). In einer Wendung, die an die Charakterisierung des Ritterlebens durch den Waldmenschen im ,Iwein' erinnert, schließt der Abt: da^ du vliuhes da^ gemach/und wilt mit ungemache leben (34126f.). Das mönchische Leben wird als genaues Äquivalent des ritterlichen erzählt, dessen Umkehrung es zugleich ist. 133 Eine weitere parodistische Verkehrung seiner früheren Herrenrolle und zugleich ein Höchstmaß an Selbstverleugnung: E r erhält die A u f -
Vgl. Hai 545: Den Worten Kalogrenants entnimmt der Waldmensch, ein Ritter wolle nach ungemache streben. Die Verkehrung kommt auch im Lachen zum Ausdruck, das Willehalms Kommentar zu der neuen Aufgabe erregt (34136-34141).
164
Das Phantasma des montage sieht über die Hühner, die er vorbildlich - bis hin zur regelmäßigen Versorgung mit E i e r n - ausübt: der hatte manig sper en^ivei gestochen da% der hunre pflag, dar an ich wol kiesen mag da?i got mit der weite tut alles daζ in dunket gut. (3 4146- 3 415 o). D e r M ö n c h erniedrigt sich um seines Seelenheils willen, aber es bleibt der M ö n c h Heros, der sich erniedrigt. D a s alte L e b e n (sper\) wird weiter präsent gehalten, denn nur so ist die G r ö ß e des Verzichts, damit das Verhältnis v o n diesseitigem und künftigem L e b e n erkennbar. Mit K y b u r g s T o d , die in einem anderen K l o s t e r büßt, ist diese Zwischenstufe des M ö n c h - H e r o s samt ihren K o m p r o m i s s e n beendet. E r s t jetzt kann Willehalms D e v o t i o n in vollem Maße gelingen: so enwil ich niht wan leides pflegen (34206). E r will das Leben im K o n v e n t aufgeben, auf alles verzichten des der lip sol leben:/ vishe, kaese, dar
da% brot (34218f.) und als Einsiedler leben. Einerseits ist dieses L e b e n N e -
gation des früheren (kein palas,
kein weiches Bett, keine Diener, keine vriunde,
zerlumpte Kleider, verwilderte Erscheinung usw.), andererseits sorgt G o t t selbst dafür, daß Willehalm wie ein Herr lebt. E r läßt nämlich den Büßer-Heros in seiner ärmlichen Hütte im Wald nicht verhungern, sondern in zivilisierten F o r m e n - auf einem weißen Tischtuch - standesgemäßes Essen und Trinken servieren, ohne daß Willehalm weiß, wer ihm den Becher kredenzt oder das E s s e n briete oder sitte (34272). N o c h im Wald gibt es einige höfische Annehmlichkeiten. D o c h auch das ist nicht unwiderruflich. D i e R ü c k k e h r in die Rolle des Heidenkämpfers unterscheidet sich deutlich v o n der Drastik des ,Rosengarten' oder selbst des ,Wolfdietrich'. Wenn der Heidenkönig Matribuleiz das römische Reich bedroht, läßt K ö n i g L o y s 1000 M a n n nach seinem besten Helfer suchen. E i n Bote findet Willehalm, und sofort ist dieser wieder der große Herr, der andere, wenn auch v o n Gottes G n a d e n , bewirten kann. D e r hungrige Bote wird nämlich wie Willehalm durch die himmlische Speise gestärkt, 1 ® 4 denn der here geist (34522) um die Verp f l e g u n g besorgt, weiß natürlich, daß es zwei E s s e r gibt und serviert reichlich: was da^ niht ein ^eichen? (34525). G o t t selbst verpflichtet Willehalm, wieder g e g e n die Heiden zu kämpfen. D o c h dazu kann dieser, wie auch der Bote bemerkt, nicht bleiben, wie er ist; er muß wieder als Ritter ausstaffiert werden. D i e Ausstattung des Kreuzfahrers macht die E i n k l e i d u n g ins Klosterhabit rückgängig. Willehalm fordert gutiu cleit von sharlachen, dazu ein hemde und ein nider cleit sowie das bewährte R o ß Volatin (vgl. 34601-34606).
1,4
Himmelsspeise und irdische Speise sind eins. Wenn der Bote fragt, von w e m die Speise kommen soll,
antwortet Willehalm: da? tut der hat da^ paradis/der kann geben und nemen (34514f.). .65
Antagonistische
Lebensformen
Aufwendig erzählt Ulrich, wie dafür gesorgt wird und Willehalm, inzwischen wol gestralt und getwagen (34723), die kostbaren Kleider anlegt. Mit der Investitur ist er gleich wieder, wer er war: da ergetet diu cleider an,/ e% enwart nie ba^geshicket man/dan da er sichgegurte (34733-34735), Sporen, Helm, sein Schwert, das Roß: der Heros ist wieder er selbst: vil wol da% sime hert^en tet;/ ich wcene, venie und gebet/bete geladen sin gedang,/ da Volatin so wite sprang (34761-34764). Beim ehrenvollen Empfang durch den König zeigt sich, daß der Mönch nie aufhörte, ein großer Herr zu sein. Schon Willehalms Auftreten jagt die Heiden in die Flucht.' 55 Die Stimme Gottes aber, die den schlafenden Willehalm in seine alte Rolle rief, weist ihn, wieder im Schlaf, zurück in die Wildnis. Alle Versprechungen und Bitten von König und Königin verfangen nicht: ich ml spate und vru/ arbeiten vaste den Up (35046^. Der Abschied wird umständlich und mit allem Pomp begangen (35020-35184), und die Rückkehr {so wil ich varn an eine stat,/ da menshen fu^ selten trat, 3 51 ζ3 f.) ist immer noch ein Triumphzug des prächtig auf Volatin daherreitenden Heros. Niemand wagt, sich ihm in den Weg zu stellen. 1 ' 6 Sogar einen Riesen erschlägt er als ein Werkzeug Gottes: der ist der den risen slue (35362). Willehalm ist Heros ist noch auf dem Weg zum Mönch. Dann aber ist der Abschied von der Welt endgültig. Wieder baut er eine Hütte und bedeckt seine Blöße mit Rinde, alles wieder erzählt vor dem Hintergrund seines Lebens früher: ob ie sper von im erkrahte, wart schilt von im durch stochen ie, dem gebarte er niht geliche hie (3 5486-3 5488).
Der König will den Bau des Klosters unterstützen, 1 " doch Willehalm will niht wan die notdurft (35 535): immer wieder explizite Zurückweisung dessen, was ihm eigentlich zukommt. 1 ' 8
1.6
1.7
1.8
Wenn man sich auf Alischanz überzeugt, daß die Heiden vor der Schlacht geflohen sind, erscheint Willehalm noch einmal als Heros. E r läßt Volatimn/in solhen springen shinen,/ als er war ein swert degen (34983-3498;). Der Versuch, ihn aufzuhalten, wird von einem Richter rasch vereitelt (3; 188-35243); das ist ein Zitat aus Wolframs .Willehalm', doch diesmal ist es nicht der abgerissene Verlierer der ersten Schlacht von Alischanz, sondern der machtvoll und in kostbaren Kleidern einherreitende Fürst, den man passieren lassen muß. Ulrich entproblematisiert die Konstellation Wolframs. Auch im neuen Stand erweist Willehalm seine überlegene Kraft, wenn der Teufel eine Brücke, die zum Kloster fuhrt, immer wieder zerstört: indem er ihn ins Wasser wirft - wieder eine körperhafte Umsetzung der militia Christi, ganz buchstäblich, nicht mit den Waffen des Geistes wie im Epheserbrief. Die Integration der Lebensformen setzt sich im Aufstieg des Klosters fort, das zu einem Adelskloster wird: Der Bischof von Morgolonie (Maguelonne) weiht es. E r wird trotz der Einöde dank königlicher Dotierung fürstlich bewirtet und tritt zuletzt selbst ein. Kyburgs Gebeine werden dorthin überfuhrt. Später kommen noch die Gräber der Königstochter Alyse, der Frau Rennewarts, und der Königin von Frankreich hinzu. Das Kloster wird zur adligen Grablege. Es wird immer reicher ausgestattet; neue Priester und ein neuer Abt führen es zu hoher Blüte. 166
Das Phantasma des moniage Besonders auffällig werden in seinem letzten Abenteuer höfische und monastische Lebensordnung miteinander verschmolzen. Wieder bedrohen Räuber das Kloster, rauben die Speise: vische, win, dar brot (35977)· Diesmal will Willehalm auf Gewalt verzichten, die Räuber nur bitten, von ihrem Treiben abzulassen. Der A b t gibt ihm auf, kein gut gegen sie zu verteidigen, niht wan uwer nider wat./ ir sit geschant, ob ir die lat,/ bruder, wil sie ieman Rieben abe (35988-35990): eine weitere Stufe der Demut und ein weiterer Verzicht, Gewalt zu üben, mit der Folge, daß er umso legitimer Gewalt üben kann, wenn diese Grenze überschritten wird. N u r mit einer krucken cleine (36001) bewaffnet, fährt Willehalm Speise holen, bereit, sie zur N o t den Räubern zu lassen. Die Räuber verspotten ihn, erniedrigen ihn, zwingen ihn, die Kutte auszuziehen. Damit bringen sie erneut die andere, unter dem Mönchshabit verborgene Existenz Willehalms ans Licht: Sie entdecken in der nider wete den Gürtel von siden und von golde (36031-36033), den Willehalm von K y b u r g empfangen hat. Sie höhnen, so etwas komme dem Mönch nicht zu, und fordern den Gürtel. Jetzt darf Willehalm sich verteidigen, denn er hat das Gebot des Abtes auf seiner Seite: swer mir nemen wolde die bruch, da% ich die solde mit großen siegen iveren (36041-56043). Der Heros als Verteidiger seiner Unterhose: Das klingt nur wie Parodie, ist aber letzte Konsequenz des Versuchs, monastische und ritterliche Lebensform zu integrieren. Willehalm handelt als höfischer Ritter, der sich das Liebespfand seiner Dame nicht nehmen läßt. Sein Z o r n ist durch die geistliche Autorität gerechtfertigt, obwohl hinter ihm eine rein säkulare Ethik steht. K y b u r g s Liebespfand und die bruch verteidigend, schlägt Willehalm die Räuber mit dem buc eines Maultiers tot (36047). Auch typologisch wird der neue Samson gerechtfertigt. Gott zeigt zweifelsfrei, daß er die Tat billigt, indem er das Maultier, von dem der Kinnbacken stammt, wieder heilt. Auch der Abt spricht Willehalm von jeder Schuld frei, indem er ihn zum Werkzeug Gottes erklärt: mit uwer hant e^ niht geschach,/got eζ selbe hat getan (36104^). Wenn Willehalm nach immer schärferer Askese endlich stirbt, breitet sich denn auch sofort der D u f t der Heiligkeit aus. Ulrich von Türheim hat in den Handlungswindungen von Willehalms moniage die Amalgamierung ritterlicher und monastischer Lebensform erzählt. Der Abschied von der ersten darf nie vollständig sein, ihre Geltung nie grundsätzlich in Frage gestellt werden. Ulrich erfindet immer neue Situationen, in denen Willehalm beides ist, Heidenkämpfer, Heros, Minnediener einerseits und der demütige Diener Gottes andererseits, in denen er, wie es sich für einen Feudalherrn gehört, Gewalt üben darf, doch vor dem Hintergrund der N o r m monastischer Gewaltlosigkeit. Die nova militia umfaßt beides: klösterliche Disziplin und Dienst mit der Waffe.
167
Antagonistische Lebensformen Wie sehr dieser E n t w u r f auf das kulturelle Imaginäre einer Adelsgesellschaft ausgerichtet ist, f ü r die Ulrich schreibt, und wie programmatisch er konkurrierende hochmittelalterliche L e b e n s f o r m e n unter Einschluß der minne gegeneinander austariert, ohne die eine der anderen zu opfern, zeigt der Vergleich mit der auf seinen Versen beruhenden spätmittelalterlichen Wilhelm-Prosa (15. Jahrhundert). Sie verändert die Akzente nur in Kleinigkeiten, die aber genau Ulrichs Ziel der Integration eines höfischen Ritterethos und eines monastischen Leitbildes betreffen, so daß die G e g e n p o s i t i o n zum Mönchs-Heiligen nicht mehr der ritterliche Heros und Fürst, sondern ganz allgemein der Weltmensch wird. Wie bei Ulrich behält in der Prosa Wilhelm beim Eintritt ins K l o s t e r die Zeichen seines Standes, übergibt seine Waffen dem A b t , aber ihre Pflege erscheint weniger als Vorsorge f ü r eine etwaige Wiederverwendung denn als sorgsame Behandlung eines Wertgegenstandes: das alles vilgut^ wert was."''3 A u c h hier sind in den Stationen v o n Wilhalms Mönchskarriere Reste des früheren Lebens, zu erkennen, etwa wenn er sich im gasthus um die geste zu k ü m m e r n hat. D o c h zeigt das jetzt seine fortdauernde Verstrickung in die Welt: E r muß sich mit der weit bekümbre[n].
A u c h hier
schützt er den Wald v o r Holzdieben, jedoch aus Folgsamkeit gegenüber der Benediktinerregel, die ihn verpflichtet, das G e b o t des A b t e s auszuführen: Ich
wilgern
gehorsam sin, verdienen ich als wol da^ himelrich an dem, als ob ich hie sung vnd les, denn v o r G o t t sind alle religiösen Ü b u n g e n gleich. A u c h hier wird er v o n Dieben verspottet, doch entdecken diese unter seiner K u t t e kein L i e b e s p f a n d , sondern den Harnisch, den er zwecks verschärfter K a s t e i u n g trägt (do sahent si, das er ein harnest an hatt; do spoteten si sin). F ü r Willehalm ist das eine Herausforderung sich in christlicher G e d u l d zu üben. 1 4 0 D a s Handeln als Heros wird f r a g w ü r d i g . Grundsätzlich widerspricht dessen G e waltsamkeit einer christlichen L e b e n s o r d n u n g : A l s früherer Feudalherr kann Willehalm nicht Priester werden (won ich manschlechtig bin14'),
denn die Tätigkeit des
K r i e g e r s ist mit der des Priesters unvereinbar. Seine Gewalttaten als M ö n c h , für Ulrich Beweis f ü r die wechselseitige D u r c h d r i n g u n g der L e b e n s o r d n u n g e n , müssen abgeschwächt und entschuldigt werden. Wo im Versepos der A f f e k t mit ihm durchgeht und er seine G e g n e r mit seiner überlegenen K r a f t tötet, schlägt Wilhelm nicht zu. E s reicht die bloße Geste, daß er die H a n d hebt, damit vier Holzdiebe tot umfallen, zwei andere fliehen. Wilhelm ist erschrocken über die W i r k u n g
seiner
H a n d b e w e g u n g und bereit, f ü r die Schuld zu büßen. D e r A b t kann sich zwar nicht vorstellen, daß er keine Schuld hat, doch verspricht er ihm Absolution. 1 4 2 D e r letzte Die Zitate WPr nach Deifuß (200;), S. 315; die Kostbarkeit wird in den konkurrierenden Handschriften noch stärker betont. ,4 ° Die Zitate alle Deifuß (2005), S. 316. ,4 ' So die Varianten der Handschriften P, und P 2 nach Deifuß (2005), S. 315. ' 4 i So verstehe ich den Satz: Jch kann nit gedencken, das du kein schuld daran habest, die du biissen siillest, doch sprich din schuld, so will ich dir ablaß sprechen (Deifuß, 2005, S. 316). 168
Das Phantasma des moniage
Rest heroischer Gewalt ist getilgt. Nur im Kampf gegen die Heiden, die Feinde Gottes, darf Wilhalm noch einmal Held werden, doch auch da muß er nicht kämpfen. Die Heiden werden allein durch sein Erscheinen und später noch einmal, als Wilhelm sie in dem namen vnsers herren beschwört, vertrieben.' 4 ' E r stirbt als Heiliger. Die Gegenposition des Mönchlebens, das Leben des überlegene Gewalt übenden, zuletzt im Dienste Gottes aufgehenden Kriegers, hat hier keinen Platz mehr. Hatte der moniage bei Ulrich von Türheim nur einen Firnis über die Mechanismen ritterlichen Handelns gelegt, das erst in der Interpretation des Abtes als Handeln Gottes erschien, so verwandelt sich in der Prosa Gewalt ins legendenhaft Wunderbare. Noch der Umstand, daß Wilhelm den Harnisch nicht ganz abgelegt hatte, wird in einen Akt frommer Devotion umgedeutet; er hatt, do er noch denn daheim was, ein kleinen harnest an blase hut geleit; den trug er vncζ an sin tod, das er jn nie abgetett,l+4 Das Zeichen zeigt weniger wie bei Ulrich, daß in das neue Leben das alte hineinragt, sondern ist besondere Bußleistung. Wilhelm ist ein Heiliger (sein Fest der 28.5.), der vor allem Rittern hilft, doch nicht mehr nur ihnen allein, sondern überhaupt in geistlichen vnd liplichen striten, wonn er si beidgestritten bat, nach 23 Jahren, in denen er ein geistlich, göttlich, selig leben geführt hat, ein hert, streng leben.145 Echte conversio hat die Hybridisierung alternativer Lebensformen abgelöst. Der Erzählkern des moniage erlaubt es, Geschichten zu generieren, die die konkurrierenden Lebensformen des adligen Ritters und des (monastischen) Dieners Gottes zueinander in Beziehung setzen. Dies scheint am Erzählmuster moniage fasziniert zu haben, gleich wie sich dann genau der Held als Mönch oder der Mönch als Held verhält.
144 141
D e i f u ß (2005), S. 3 1 9 bzw. 521. D e i f u ß (2005), S. 3 1 ; . D e i f u ß (2005), S. 322. 169
3 NAMENSSPIELE
Namenstypen Genealogie und familiärer Zusammenhang bestimmen, was jeder ist. Doch artikuliert die Epik u m 1200 zunehmend ein Interesse daran, was jeden als einzelnen auszeichnet. Die Determination durch art wird in dem Maße unzureichend, wie sich der Blick vom Kollektiv auf den einzelnen Menschen verschiebt. Die höfische Epik bezieht hier eine eigentümliche Zwischenposition. Sie läßt sich anhand von ,Name' verdeutlichen. Mit ,Name' ist eine thematische Konstellation aufgerufen, aus der eine Reihe von im Kern verwandten Erzählungen hervorgeht, die um die Pole Kollektiv und Einzelmenschlichkeit kreisen. Um diesen gemeinsamen Kern und um die Varianten, die er zuläßt, soll es im folgenden gehen. Was den einzelnen Menschen identifizierbar macht, ist sein Eigenname. 1 Der Eigenname bezeichnet freilich nie nur ihn allein, sondern macht ihn auch als Mitglied einer Familie (eines Geschlechts) kenntlich. Zwar bildet sich die moderne Struktur des Eigen- und Familiennamens erst seit dem Spätmittelalter aus, doch steckt auch in den mittelalterlichen Eigennamen eine doppelte Information, die individuelle Bezeichnung des Trägers und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe/ Es gibt unterschiedliche Typen von Namen, Eigennamen und generische Namen. ,Generische Namen' sind die Nennung nach einem Geschlecht, ohne individualisierenden Zusatz - der von X Y - (sie spielen in der Literatur nur eine geringe Rolle), Appellative, die zum Eigennamen hinzutreten können — der Ernste, Eiserne o. ä. - (wie sie vor allem im Spätmittelalter zu den Namen regierender Fürsten traten), oder auch heraldische Namen nach Wappenzeichen oder -färben - der weiße Ritter, der mit dem Löwen. Der generische Aspekt scheint im Mittelalter wichtiger als der individuelle. 1
1
Vgl. Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg.v. Dieter Geuenich, Wolfgang Haubrichs, J ö r g Jarnut (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16), Berlin/New York 1997; insbes. J ö r g Jarnut: Nobilis non vilis, cuius et nomen et gens scitur, S. 1 1 6 - 1 2 6 ; vgl. auch zur Konstitution und Namengebung von Familienverbänden den Überblick bei Peters (1999), S. 17-74. Die Zugehörigkeit zu solch einer Gruppe kann auch durch wiederkehrende Namen (Liudolfinger) oder Namensbestandteile (Sigi-) ausgedrückt werden. Hinzu kommt die Benennung nach einem Herrschaftssitz (meist noch nicht nach einem Geschlecht). Wer nur den Eigennamen hat, wird damit als jemand kenntlich, dessen Familie in der Ständegesellschaft nichts bedeutet; er ist ,kein Geborener'. 170
Namenstypen
Die unterschiedlichen Komponenten des Namens müssen miteinander verknüpft werden; ihr Verhältnis zueinander kann problematisiert, sie können probeweise getrennt oder auf prekäre Weise zusammengeführt werden. Die Namensproblematik bildet den Kern vieler Geschichten und wird in der höfischen Epik variantenreich durchgespielt. Namen nach der jeweiligen Rüstung machen den Träger zwar ständisch identifizierbar,' aber nicht als Einzelperson; sie geben ihm gewissermaßen ein bestimmtes Incognito. Für den Rezipienten der Romane ist das Incognito meist durchschaubar, während die Umgebung des Helden im Dunkeln tappt. Solche Namen sind meist zu unbestimmt, um ihn eindeutig und auf Dauer gegenüber allen anderen abzuheben.4 Der ,weiße Ritter' bezeichnet einen ganz bestimmten Ritter, aber ist nur solange ,dieser Ritter', als kein zweiter in seiner Farbe auftritt. Der Name funktioniert nur im ,Zeigraum' (Bühler). Wappenzeichen wirken ähnlich. Sie bezeichnen ihren Träger als Angehörigen eines bestimmten Geschlechts oder einer bestimmten Gemeinschaft.' Daher können auch sie mehrdeutig sein: Ein Ritter, der Wigalois unterlegen ist, gibt sich mit der Auskunft, der Sieger sei der riter mit dem rade nicht zufrieden (WW 3102), da vüert vil manic man da% rat/der nimmer kumt an iuwer stat/an gehurt und an manheit (3107-3109). So muß Wigalois ihm außerdem auch seinen Namen nennen. Andererseits bedeutet, das Wappen zu ändern die Identität verbergen: Der ritter was Giflet Dues sun und hett sin wapen verwandelt; darumb kant sin myn herre Gawan nit (PrL I S. 406,jf.). Der Ubergang zwischen Eigenname und heraldischem Zeichen ist fließend; der Eigenname kann durch ein heraldisches Zeichen motiviert sein wie bei Lionel (I S. 395,10-15), der seinen Namen dank dem Zeichen eines Löwen auf seiner Brust erhält, der also quasi heraldisch gezeichnet ist. Eigenname und generischer Name hängen insofern eng zusammen. Den Namen erhält man von anderen. Uber den Eigennamen entscheidet der Vater als Repräsentant des Geschlechts. Abweichungen davon sind auffällig; wirkliche Eigen-namen bedürfen besonderer Begründung. So muß bei der Geburt Johannes' des Täufers die durch den Vater vertretene genealogische Ordnung eigens an den Rand gedrängt werden, damit Johannes den ihm vom Himmel bestimmten
'
D a s Wappenzeichen kann v o r allem dort an die Stelle des N a m e n s treten, w o sein Träger auf eine ständische Rolle, z . B . des Turnierkämpfers, reduziert ist. In diesem Sinne ist in der ,Creme' beim Turnier des L e i g a m a r nur v o m Schwan, E i n h o r n , A d l e r usw. die R e d e ( H C r 18354, 18375, 1 8 4 1 7 ) . D i e Bezeichnungsfunktion v o n Wappen ist breit erforscht. In diesem Z u s a m m e n h a n g ist es nicht nötig, darauf einzugehen.
4
„ D i e R ü s t u n g [ . . . ] gewährleistet einerseits das I n k o g n i t o , andererseits bietet sie dem Helden die Möglichkeit, sich in den A u g e n der anderen zu v e r v i e l f a c h e n " (Schmid, 1986, S. 69). Z u diesem Bezeichnungstypus würde ich auch den C u p i d o - H e l m im ,Wilhelm von Österreich' zählen. G e w i ß ist der H e l m nicht heraldisches Zeichen, sondern „ Z e i c h e n der inneren Verfaßtheit des P r o t a g o n i s t e n " (Schneider, 2004, S. 4 1 ; besser wohl: einer für den ritterlichen Helden tvpischen .Verfassung'). Wildheim erscheint damit hier als Träger eines Prinzips.
1
E t w a die Z u g e h ö r i g k e i t zur Tafelrunde (WW 6161—6166).
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Namensspiele Namen erhält. Der Vater Zacharias verliert deshalb bis zur Geburt des Kindes die Sprache (FA Johannes 4,4-6). Damit ist der maßgebliche Namengeber verstummt. An seine Stelle treten die Repräsentanten des Sippenverbandes, friunde unde mage (11,2-6), die, patrilinearem Denken gemäß, dem neugeborenen Kind den Namen des Vaters geben wollen. Normalerweise wäre ihr Votum entscheidend, doch die Mutter erinnert an den Namen, den der Engel gab. Zacharias muß diesem Namen Geltung verschaffen, indem er ihn aufschreibt: want e^ ime woi chunt was (11,7). Noch der Himmelsname bedarf väterlicher Bestätigung. 6 Er bezeichnet jetzt nicht mehr den Angehörigen eines Geschlechts, sondern eine Mission. 7 Der Name faßt Identität in der Sicht der anderen zusammen. Name bedeutet Status. Neben dem Eigennamen trägt man den des Standes, der die Verpflichtung zu bestimmten Taten einschließt.8 Ritters namen kann man verlieren (ULa 2643, 4652 u.ö.), wibes namen (WvO 4838) schänden, den Namen eines Königs oder einer Königin erwerben, wie dies z.B. bei der jungen Maria von spilesgamen geschieht (SWM 1 1 7 0 - 1 1 7 2 ; i2o8f.). Mit dem Namen verbindet sich ein Ethos; ,Name' wird dann Synonym von ,Ehre'. Der Name bezeichnet nicht nur die kontingente Person, sondern immer auch, was sie gilt. Uber Gawein heißt es im ,Wigalois': er het erworben daζ sin nam/von siner tugent was erkant (WW io32f.); wenn Hilfe gebraucht wird, denkt man an ihn (i902f.). Sein Sohn Wigalois dagegen hat ,noch keinen Namen' (1901), weshalb man ihn als Kämpfer ablehnt. Von bestimmten Taten kann auf einen bestimmten Namen geschlossen werden. Herre Gawin prufft die date und große ritterschafft, die Lant^elot thet, und dachte inn syme synne, diß konde kein ander mentsche zubringen von guten deten die der ritter thut, es ensij dan Lancelot selber (PrL II S. 17,23-25).' Incognito kämpft Lancelot so, daß Gawein befindet: betten wir Lancelot nit siech gelaßen da heymen, ich Sprech, er were es (III S. 407,2f.; vgl. II S. 75 2,9f.). Mit dem Eigennamen verknüpft sich nie nur eine individuelle Biographie. Im Namen treffen individuelle und ständisch-gesellschaftliche Komponenten zusammen. Am Spiel mit dem Namen kann daher verhandelt werden, welche Bedeutung die eine oder die andere für den Helden hat. Dies macht in der höfischen Epik Geschichten vom verlorenen, verborgenen oder wiedergewonnenen Namens - des generischen wie des individuellen - so attraktiv.
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Eine Variante ist die Namensgebung von Mallefers Sohn in Ulrichs von Türheim Rennewart: Ein Engel schreibt den Namen - es ist wieder Johannes - dem Kind auf den Rücken (URe 32690-32694; 32 7 oof.). Ähnlich auffällig der Name Wildhelms von Österreich; auch hier ist es der Vater, der ausdrücklich von der Tradition abweicht; der .unangemessene' Gentilname wird von der Mutter vertreten, was seine Illegitimität anzeigt (vgl. WvO S. 2 7 9 ^ Appendix I sowie S. 2 1 ; ) . Schmid (1986), S. 69; ritters name ist Inbegriff dessen, was einen Ritter ausmacht (vgl. auch WW 1940); „man erkennt den Fremden nur dann am Namen, wenn er seine Taten mit dem Namen firmiert hat" (Schmid, ebd.). Ahnlich II S. 604,1 if.; 605,22-24.
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Krisen: verlorene, %erlegte, zusammengesetzte Namen Krisen: verlorene, zerlegte, zusammengesetzte N a m e n I m ,Apollonius' des Heinrich v o n Neustadt ist der N a m e nur vollständig, wenn die allgemeine und die individuelle K o m p o n e n t e zusammenkommen. Ihr Auseinandertreten ist ein D e f e k t . D a s beginnt mit der Geschichte des Inzests des Antiochus mit seiner Tochter. Diese beklagt, durch den Inzest habe sie Zwen herliche namenn verloren, den einer J u n g f r a u (magett) und den einer Tochter (vatters kind), denn sie sei jetzt ja die Frau des Vaters ( H A p 287-290). Ihr E i g e n n a m e ist ohne Interesse; man erfährt ihn nicht; er k o m m t ihr nicht zu. D e r Verlust der beiden anderen N a m e n löscht sie als Person aus. Sie ist eine andere, weil sie ihre Stellung im O r d o eingebüßt hat, und muß rasch aus der Geschichte verschwinden. Ähnlich sagt Apollonius, wenn er nur sein nacktes L e b e n aus einem S c h i f f b r u c h rettet Ich bab auff dem mer verloren Meinen herlichen namenn, Deß ich mich ymer darffe schamenn; Zu Tarsis ist main ere peüben: Mich hatt ungeluck hergetriben. (1681-1685) D e r herliche[]
name[ ] ist der N a m e , Titel und Status eines Herrn, nicht der E i g e n -
name Apollonius-, er ist identisch mit ere. D a ß mit dem Verlust nicht der E i g e n n a m e gemeint ist,'° sondern der verlorene Status, wird spätestens klar, wenn Apollonius später seinen Rettern sogleich diesen E i g e n n a m e n und sogar den des Vaters und dessen R a n g nennt, obwohl er weiterhin das Fehlen seines herlichen namenn - seiner königlichen Stellung - beklagen muß: Ich pin Appolonius genant, Deß kuniges sun von Tyrlandt. Chaliden mein vatter hieß. (1692-1694) D i e verschiedenen K o m p o n e n t e n des N a m e n s können miteinander kombiniert werden. Apollonius heißt auch nach seinem Reich: Tyrus hyeß da [!] reiche land, Von dem was der weygant Geläutt namett Tyrus: Sein nam was Appolonius. (449-452) D e n Fremden begrüßt man mit den Worten: Werder Appolonius, Von rechter art ain Tyrus!
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(16327^)
Deshalb ist mit dem Verlust des N a m e n s auch kein vollständiger „Identitätsverlust" \'erbunden (so aber Schneider, 2004, S. 208).
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Namensspiele
Die beiden Namen sind gleichwertig. Vor allem zu Beginn wird der Held statt Apollonius häufig nur Tyrus genannt (469; 513; 525; 583; 645 usw.). Der eine Name kann für den anderen eintreten: Nach seinem Namen gefragt, sagt Apollonius: ,Ich pin Appolonius genant.'/ Si sprach ,pistus Tyrus?/ Er sprach ,ja, ich haiß alsuß.' (52045206). Da der Name Appollonius ebenso wie der Name Tyrus das Ganze, die Person und ihren königlichen Status, ausdrückt, verkürzt ihn Apollonius, wenn er ein landloser Fremder und in der Gefangenschaft eines anderen Fürsten ist, und nennt sich bloß Lonius mit dem parte (8056). Der Name wird gleich zweifach coupiert; er verliert die ersten beiden Silben und die Verknüpfung mit einer Herrschaft. Das zeigt den defizienten Status an. Wenn Apollonius sich aus der Gewalt des fremden Fürsten befreit hat, ist sogleich der Zusammenhang von Eigenname und Rang wiederhergestellt, der Name wieder vollständig. Man erfährt, Das Lonius war von Tyrland Kunig Appolonius genant. (9i63f.)
Lonius ist kein Pseudonym, sondern eine Abspaltung von der vollständigen Identität des Königs Apollonius von Tyrus. Heinrich von Neustadt hat dies reflektiert, wenn später in einer der Tugendproben des Helden die Frage aufgeworfen wird, ob Apollonius nicht gelogen habe, als er sich bloß Lonius nannte. Apollonius rechtfertigt sich, indem er das Verhältnis der beiden Namensformen mit dem von Hainrich und Haint^elein vergleicht (12703): Unterschieden wird der öffentlich geltende Name, der personale und soziale Identität verbürgt, vom privaten Rufnamen, der die kontingente Einzelperson benennt. Nur der erste ist Name in vollem Sinne, der zweite ist unvollständig. Aus diesem Grunde weist Apollonius den Vorwurf der Lüge zurück; in der Gefangenschaft gehörte er sich selbst nicht: Mein ding was so ergangen Das ich ward gefangen: Do was ich mein aigen nicht, Mein gant^er name was enwicht: Da was ich käme Haint^elein. (12709-12713)
Heinrich hat damit eine Voraussetzung des höfischen Romans noch einmal prägnant gefaßt: Der Held des Romans ist nur ausnahmsweise eine kontingente Einzelperson, Lonius. Meist ist er beides, Träger eines Eigennamens und einer Standesrolle. Wer seine Ehre verliert, verliert seinen Namen. Wandhoff hat beobachtet, daß der besiegte Iders in Hartmanns ,Erec' (im Gegensatz zu dem Chretiens) nicht mehr mit Namen genannt wird, wenn er am Artushof von seiner Niederlage gegen Erec berichtet." Jemanden zur Preisgabe des Eigennamens im Kampf zu zwingen, be"
Heiko Wandhoff: Aventiure als Nachricht für Augen und Ohren. Z u Hartmanns von Aue ,Erec' und ,Iwein', Z f d P h 1 1 3 (1994), S. 1 - 2 2 , hier S. 10.
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Krisen: verlorene, ^erlegte, zusammengesetzte Namen deutet demgemäß, sich seiner ständischen Position zu bemächtigen. 1 2 Deshalb zieht die nur scheinbar harmlose Bitte, v o m unterlegenen G e g n e r den N a m e n zu erfahren, immer wieder komplizierte Prozeduren nach sich, die den drohenden E h r v e r lust vermeiden sollen ( P r L 745,26-30). D i e B e f ü r c h t u n g , wenn man durch vorhte und betwungenliche (WPa 745,22/24) den N a m e n preisgibt, die ere zu verlieren, scheint eine nachträgliche Rationalisierung dieses im K e r n magischen Vorgangs zu sein. Verlust des Namens und Verlust der mit dem N a m e n verknüpften gesellschaftlichen Merkmale fallen ineins. N u r unter Z w a n g wird der N a m e verweigert; sonst soll er überall genannt werden wie Gaweins N a m e , der H e r k u n f t , Taten und eine besonderen F i g u r bezeichnet: ,Min nam ist vnuerswiegen, Wann ich mich sin nye geschammt: Gawein bin ich %}var genant, Das weis£ die weit allesamt.' Bi disem nammen kant er jne (HCr 1763 2—17636). D e r E i g e n n a m e kann zeitweise fortfallen oder durch andere Bezeichnungen mit individualisierendem Index ersetzt werden. Trotzdem müssen beide Bestandteile aufeinander bezogen bleiben. A n diesem Punkt setzen viele höfische Erzählungen an. Narrativ müssen die unterschiedlichen K o m p o n e n t e n des Namens zusammengeführt werden. D i e L ö s u n g wird zur Steigerung der Spannung mehr oder minder lange hinausgezögert. D i e Unterscheidung zwischen Erzähler- und
Figurenper-
spektive erlaubt, unterschiedliche K o m p o n e n t e n des Namens gegeneinander zu führen und ihr Verhältnis zueinander durchzuspielen. Im ,Garel' des Pleier, der Geschichte eines ebenso schattenlos idealen wie in seinen Handlungen und Haltungen durchschnittlichen Artusritters, kehrt der Held nach glänzenden Siegen incognito an den A r t u s h o f zurück; incognito kämpft er gegen K e i e als den V o r k ä m p f e r des A r t u s h o f e s und besiegt das G r o ß m a u l (eine der üblichen , N u m m e r n ' der Artusepik). N a c h seinem N a m e n gefragt, gibt Garel dem besiegten K e i e nicht mehr A u s k u n f t , als dieser schon weiß: E r sei der, der ihm das Pferd abgewonnen habe (18256). K e i e kann deshalb v o r dem H o f nur in allgemeinen Superlativen v o n seinem G e g n e r sprechen: So chuenen man ich nie gesach (18435). D e r H ö r e r weiß natürlich, wer der chuene[]
man ist, und kann sich über das Miß-
verständnis freuen, zumal wenn K e i e das L o b des Fremden unpassenderweise mit einer Spitze gegen Garel verbindet: der prahle nur mit Heldentaten, statt sie wie jener zu vollbringen. So entsteht eine (dem Hörer leicht durchschaubare) S p a n n u n g , die sich noch steigert, als A r t u s eine Ähnlichkeit zwischen dem Wappen des Fremden und dem11
Haferland (1988), S. 1 3 7 ; S i m o n (1990a), S. 16: „ H a t der Sieger den N a m e n des Besiegten, so kann er ihn zum Vasallen machen und als K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l gebrauchen, ohne befurchten zu müssen, daß er durch Flucht oder L ü g e die K o m m u n i k a t i o n abbricht oder stört".
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Namensspiele
jenigen Gareis entdeckt. Freilich gibt es auch einen Unterschied - der Fremde trägt das Wappentier gekrönt was den Hof im Ungewissen darüber läßt, ob es sich um Artus' neve Garel handelt (18541). Der Hörer kennt den Grund für die unterschiedlichen Wappen und weiß, daß Gareis Wappentier inzwischen eine Krone trägt, weil der Held ein Königreich erworben hat. Artus' und des Hofes Spannung löst sich, als ein Bote erscheint, der Garel mit seinem neuen Titel - König von Anferre nennt, seine Taten rühmt und zuletzt seinen Namen offenbart: der herre mein, Der hat vil hoch wirdichait Mit beides^ banden unver^ait Betagt in manigen landen. Sein hoher preis vor schänden Ist wol hehut, sein lob ist hei. Er ist gehalten Garel. (18638-18644)
Im Resümee seiner Taten, im Empfang Gareis durch Artus, durch die Tafelrunder, die Königin und ihre Damen, alles in ausführlichen Ritualen geschildert, bestätigt sich die Identität von gesellschaftlicher Norm und besonderer Geschichte. Geradezu bilderbuchhaft wird der Aufbau eines ritterlichen Helden vorgeführt: die singulare Großtat eines Unbekannten, das unbestimmte, doch schon in die richtige Richtung weisende fürstliche Wappen, der Herrschaftstitel, die Summe ritterlicher Taten und zuletzt der Eigenname. Die Verzögerung der Auflösung scheint einen besonderen Reiz gehabt zu haben, denn in ihr kann in umständlichen Erzählschleifen entfaltet werden, was alles sich mit dem Namen Garel verknüpft. Die Ehre, die erst den Namen vervollständigt, darf sich das kontingente Ich nie selbst zuschreiben. Wer sich hervortun will, muß das im Vergleich mit allen anderen, keinesfalls aber auf deren Kosten tun. E r darf sich selbst nicht rüemen, muß sogar vermeiden, daß er sich mittels seines Eigennamens Vorteile gegenüber den Konkurrenten um die Ehre verschafft. Dies ist ein weiterer Anlaß, die unterschiedlichen Komponenten des Namens zu trennen. Die Reduktion auf heraldische Zeichen oder die Farbe der Rüstung erlaubt dem Ritter, sich unerkannt als bester zu erweisen. Er löst damit die Neugier der anderen aus, die sich bemühen müssen herauszufinden, wer unter der Rüstung, hinter dem Schild steckt, um nachträglich die Fama auf ihn und seinen Eigennamen zu übertragen. Der Eigenname wird vorübergehend verdunkelt, um später umso glanzvoller von allen gefeiert zu werden. Der ,Daniel' des Stricker hat das Paradox, daß verschwiegen werden muß, was doch unauflösbar zur Identität des Ritters gehört, in mehreren Episoden durchgespielt. Der Hörer erfährt zwar, daß es Daniel war, dem Artus seinen Sieg über das Reich des König Matur verdankt oder den Erwerb eines Wunderschwertes, mit dessen Hilfe scheinbar unverwundbare Gegner getötet oder ein unzugängliches Gebirge überwunden werden konnte, die Mitspieler im Roman aber erfahren es 176
Krisen: verlorene, ζerlegte, zusammengesetzte Namen zunächst nicht, denn Daniel begnügt sich damit, daß alle feststellen, daß der, der das alles leistete, der ivas ein belt %uo den banden ( S t D 4975)· E r ist verholne (5024) allein losgeritten; andere müssen sein Incognito lüften: swa^ hie wunder ist began,/ da% hat her Daniel getan
^öijf.).1'
Sogar w o Selbstnennung lebensnotwendig wäre, bleibt sie anstößig. N a c h d e m der ,Riesenvater' K ö n i g Artus entführt hat und mit dem Tode bedroht, fordert er die Mitglieder der Artusrunde auf, daß der beste (7146) seine Bereitschaft erklärt, die Rettung des K ö n i g s zu versuchen. D a s stürzt die R u n d e in ein kaum lösbares Dilemma: Als den ,besten' darf niemand sich selbst bezeichnen, aber er darf auch keinen anderen als besten nennen, weil er ihn damit in L e b e n s g e f a h r durch einen fast aussichtslosen K a m p f brächte: wände er sin lop ^erbräche swer offenliche spräche: „ich quam der aller beste her." spräche er aber: „e% ist der," müese er darumbe tot geiigen, da ware er schuldic an geizigen. sus wolde nieman sprechen (7169-717;). Parzival verstößt schließlich doch g e g e n die R e g e l , um den K ö n i g zu retten: Die %ubt begunde brechen Parzival der helt guot durch den manlichen muot, daζ er den künic ungerne lie, er sprach: „ich bin der tiurste hie, ob ich dran niht enliuge. ich hän es niht genüge, doch wil ich mich selben loben [...] "
(7176-7185)
O b w o h l Zeichen v o n H i n g a b e an den K ö n i g , bleibt das ein Verstoß gegen die %uht, der bestraft werden muß. Parzival wird folglich überwältigt und wie A r t u s gefangen. Daniel kann das Abenteuer dann schließlich bestehen, Voraussetzung ist, daß er, wenn er den G e g n e r herausfordert, jede Selbstrühmung meidet (7444-7450). D e r ,Daniel', der in vielerlei Hinsicht eine R e f l e x i o n auf die Voraussetzungen des höfischen R o m a n s ist, gerät das Spiel mit dem prekären Verhältnis v o n E i g e n n a m e und Zuschreibungen an eine Grenze. In einer parodistischen Szene fragt das bücblöse Ungeheuer, mit dem der Held zu kämpfen hat, nach dessen N a m e n ; die F r a g e zielt natürlich auf das mit dem N a m e n verbundene Renommee: ich enlace dich niht lenger leben dün sagst mir din gewerp %ehant und wie du selber sist genant und din geslahte da hi [...] (2036-2039). "
Vgl. 4973-4990; 5022-5024; 5368-5376).
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Daniel tut so, als verstünde er nicht: Er heiße, wie der Priester ihn getauft habe, und sein Geschlecht sei das von Vater und Mutter. Er setzt die radikale Kontingenz seines Eigennamens und seiner Existenz gegen deren Bedeutung an der Börse der ere. Das ist freilich nur unter diesen besonderen Umständen möglich: Ein Unhold wie dieser unritterliche Gegner verdient ebensowenig eine ernsthafte Antwort, wie er Anspruch auf ritterliche Behandlung hat. Von der Grenze der ritterlichen Welt her kann gezeigt werden, was im Namen des höfischen Ritters alles zusammenschießt.
Eigenname und Kollektiv In der Heldenepik stimmen Eigen- und Gruppenname, Einzelperson und Fama zusammen. Wenn Siegfried im ,Nibelungenlied' im Nibelungenland, am Hof Gunthers oder Brünhilds erscheint, erkennt man den Ankömmling, den man vor Augen hat, als den Repräsentanten des Sagenruhms, der den Namen Siegfried trägt.' 4 Zwar kann auch in der Heldenepik diese Ubereinstimmung gelegentlich ironisch in Frage gestellt werden, etwa wenn im ,Eckenlied' der Riese Ecke Dietrich im Wald trifft, um mit ihm zu kämpfen. Er vergewissert sich durch Nachfragen, ob er den richtigen Gegner vor sich hat, und Dietrich tut zum Schein so tut, als wisse er nicht, wen Ecke mit,Dietrich' meint: in Bern gebe es viele dieses Namens. 15 Das ist eine komische ,Nummer', die nur bestätigt, was man ohnehin weiß, daß es für Ecke wie für die Heldensage überhaupt nur einen, nämlich ,den' Dietrich von Bern gibt, auch wenn vielleicht viele Leute in Bern diesen Namen tragen mögen. Die Differenz von kontingenter Einzelperson - die Ecke vor sich hat - und heroischer ,Legende' - an der er sich zu messen sucht - ist also bloßer Schein. Im Heldenepos ist der Eigenname metonymisch, schließt unermeßlichen Ruhm, unermeßliche Kraft und hohen Rang ein. Der Schlenker bestätigt, was ohnehin gilt, indem einen Moment lang so getan wird, als gebe es noch eine andere Möglichkeit. Der Sagenruhm ist von der kontingenten Person zu unterscheiden. Er ist es erst, der ihr in vollem Sinne einen Namen gibt. Das zeigt sich am Dietrich-Helden Alphart (,Alpharts Tod'). Alphart legt, wenn er auf eine gefährliche Mission reitet, wert darauf, daß ihn dabei niemand kennt (AT 114,2). Er läßt deshalb seinen Schild
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J.-D. Müller (1998), S. 132. Aus diesem Grund erkennt Hagen Siegfried, ohne ihn je gesehen zu haben und weiß von seinen Taten und seinem königlichen Status, und aus diesem Grund weiß Brünhild bei der Ankunft der Burgunden in Isenstein sogleich, wer der Held ist. Sie täuscht sich nicht, sondern vermag einen Augenblick lang das Gespinst aus Täuschung zu durchschauen, in dem die Wormser sie fangen wollen.
11
J.-D. Müller (1992b), S. i o j f . Die bekannte Kampfscheu Dietrichs mag die Episode mitmotiviert haben, doch erklärt sie nicht das Spiel mit dem Namen. Der Umweg findet sich auch nicht in allen Fassungen (er fehlt z.B. im Druck e j , ist also für die Handlungslogik entbehrlich. 178
Eigenname und Kollektiv
verdecken, so daß nicht einmal seine Zugehörigkeit zur Gefolgschaft Dietrichs von Bern sichtbar ist. Er will nicht vom Ruhm Dietrichs und seiner Leute zehren und sicherstellen, daß der Kampfruhm allein seiner ist: ,hei%ent mir verdecken den lewen und den arn, daζ mich nieman kenne' sprach der unver^eit, ,sivann ich die vinde anrenne, da% der bris werde breit.'
(94,2-4)
Damit will er sich freilich, wie sich in der Folge zeigt, keineswegs vom Gefolgschaftsverband abspalten, sondern ihn nur vorübergehend in den Hintergrund treten lassen, um sich dann nachträglich als hervorragender Vertreter der DietrichHelden zu erweisen und durch seinen bris den Ruhm dieses Verbandes zu bestätigen. Er wählt einen Schild, den man nicht zuordnen kann, verwischt seine Gruppenzugehörigkeit und schreibt sich eine unbekannte Gruppenzugehörigkeit zu.' 6 Die richtige soll sich erst nach dem Kampf offenbaren. Die Verklammerung von einzigartigem Ruhm und kollektiver Identität wird also nicht grundsätzlich aufgehoben. Alphart will der beste sein, der den namen eines allerküensten ritterfs] (120,3) trägt. 17 Im Kampf ist jeder Repräsentant dieses Allgemeinen (,Ritter sein'), doch ist er es mehr oder weniger herausragend. Kämpfen in unbekannter Rüstung erlaubt, die Spannung zwischen Einzigartigkeit und kollektiver Identifizierbarkeit darzustellen und zuletzt aufzulösen. Hildebrant versucht, Alphart von seinem gefährlichen Vorhaben abzubringen und zu Dietrich zurückzuführen. Auch er trägt eine fremde Rüstung. Daher vermutet Alphart in ihm des keisers diener (124,4), d.h. einen Vorkämpfer des gegnerischen Heers. Hildebrant will Alphart hindern, sich unnötig in Gefahr zu begeben. Als Mitglied des gleichen Verbandes, dem Alphart nach wie vor zugehört, kann er das nicht in den Waffen dieses Verbandes; einen solchen Kampf kann und darf es nicht geben. Hildebrand kämpft also aus einem anderen Grund incognito. Wenn er unterliegt und Alphart um Schonung bittet (ich bin£ din oheim Hildebrant, 131,4), hält Alphart das zuerst für eine Lüge und glaubt ihm erst, als er Hildebrant den Helm abnimmt und ihn under dougen sieht (135,2). Jetzt weiß er, daß er es mit einem Mann aus der eigenen Gruppe zu tun hat, an dem er erfolgreich und ohne gefährliche Folgen seine heroische Überlegenheit vorführen konnte. Täuschungen auf der Oberfläche sind möglich, doch können sie ohne Rest aufgeklärt werden und erhöhen sogar noch den Ruhm. Obwohl Folge eines Verkennens, erlaubt der Kampf unter Freunden - im höfischen Roman gefürchtet und beklagt' 8 - die Vortrefflichkeit beider zu bestätigen. Der Verband, dem beide angehören, bleibt unbeschädigt. '6
D e r Schild ist nicht ganz verdeckt. In 260,2 ist plötzlich ein L ö w e auf ihm zu sehen; die beiden A u s s a g e n stimmen nicht recht zusammen. O f f e n b a r geht es aber allein darum zu zeigen, daß Alphart nicht durch das A d l e r w a p p e n als Dietrichs Mann identifizierbar ist. ' 7 Ahnlich 140,2: ritters namen. '* Harms (1963).
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Namensspiele Obwohl incognito und als Einzelkämpfer angetreten, definiert Alphart sich und seine Gegner ganz selbstverständlich über den jeweiligen Herrn, d.h. den Gefolgschaftsverband, dem er angehört. Z u r Bestimmung seiner Position gegenüber dem gegnerischen Verband reicht es aus, daß er den Leuten des Kaisers Ermenrich sagt: deich iuwer vient bin (148,2). Wenn Ermenrich genauer wissen will, wem seine Krieger unterlegen sind, ist die Frage, wer was der selbe recke (186,2) identisch mit der Frage: wa% vüert er an dem Schilde? [...]/ deich in da bi erkenne swä man in siht da% wdpen tragen? (i86,3f.). Ermenrich erfährt: er vüeret einen wi^en schilt, ein lernen von golde rot, dar obe ein guldtn crone: also sach ich in varn. ja vüert er ninder wäpen hern Dietriches, den am. (193,2-4) Dieses Wappen ist unbekannt. Alphart ist Feind, aber nicht notwendig Dietrichs Gefolgsmann. Auch andere Möglichkeiten heroischer Identifizierung fallen aus: Der Held führt keine der unter Heroen bekannte Waffen (wie z.B. Hildengrin, 194,1). Daß man nicht weiß, wer er ist, wird in den (eigentlich doch ganz anderes bedeutenden) Satz gekleidet: den selben helt den hän ich selten mer gesehen (195,2). ,Bekannt' ist man durch äußere Zeichen; wer bekannt ist, den ,hat man gesehen', denn man hat seine Zeichen gesehen. Sonst muß es sich um einen Fremden {gast) handeln, der Dietrich zu Hilfe gekommen ist (196,1). Wer ,gesehen worden ist', ,νοη dem spricht man': Alphart will Ruhm erwerben, damit er so wie Witege von sich sagen kann: man sprach mir ie da%? beste (227,2). Auch dieser Ruhm ist primär über die Gefolgschaft eines Herrn vermittelt. Wenn nämlich Witege ihn fragt, wer ir sit (221,4), gibt Alphart seinen Namen nicht preis, sondern kritisiert die Frage: ,Waΐζ hästü nü \e vrägen nach dem namen min? du maht lieber vrägen „wer ist der herre din?" durch den ich mich libes und lebens hcete erwegen'. (222,1-3) ,Hatestü rehte sinne, du liest din vrägen sin' sprach Alphart der junge „nach dem namen min. jä %iuhe ich%_ an dich selben, wurdestü ervalt, so müest man mich erkennen' sprach Alphart der helt bait.
(223)
Obwohl die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe verbergend, versteht sich Alphart als Gefolgsmann eines Herrn. Mit der Betonung dieser Bindung setzt er sich zugleich von Witege ab. Witege nämlich war triwelos (215,3), w ' e Alphart ihm mehrfach vorwirft: E r hat sich von Dietrich abgewendet. Sein Ruhm als Krieger - so sehr er ihn aus allen übrigen heraushebt - ist der Ruhm eines Verräters, der sich auf Kosten des Gefolgschaftsverbandes profiliert hat, dem er eigentlich angehörte. 1 '
Witeges R o l l e (vgl. auch die ,Rabenschlacht') entspricht der der Verrätersippe in den Chansons de geste; er ragt wie jene zwar als K r i e g e r hervor, doch auf G r u n d zweifelhafter Voraussetzungen.
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Eigenname und Kollektiv Indem Witege nach dem falschen, dem E i g e n n a m e n fragt, erweist er sich einmal mehr als Verräter. Witeges K r i e g e r r u h m ist allein selbstbezogen, obwohl er o f f e n als M a n n Ermenrichs agiert, während Alphart sich allein für seinen Herrn einsetzt, obwohl er seinem Sagenruhm zuliebe seine B i n d u n g an Dietrich gerade verbirgt. In einer F o l g e v o n Szenen wird erzählt, wie Alphart sich als kontingente E i n zelperson möglichst vollständig auslöscht. S o lehnt er zunächst Heimes - des zweiten G e g n e r s - Bitte ab, sein Gesicht zu entblößen (248,1). A u c h alle Versuche, die tödliche Entscheidung zu vermeiden, lehnt er ab. Seine Weigerung, Dietrichs Wappen zu tragen, reduziert ihn für seine G e g n e r auf einen gefährlichen, unbedingt auszuschaltenden Feind. D a s Wappen dagegen hätte ihn geschützt, wie Heime klarstellt: ,sahe ich an dem schilte den lewen oder den am, hern Dietriches wäfen, ich wolt iuwer niht bestän.'
(26o,2f.)z°
Alphart verzichtet auf den Vorteil, den eine Identifizierung als Dietrichs man böte. E r s t recht lehnt er es ab, Heime N a m e n und Geschlecht zu sagen, denn das käme dem Eingeständnis der Niederlage gleich: , war niht guot getan, da% mich des betwunge ein einiger man, da£ ich im iemer seite rehte minen namen, wer min gesiebte ware: des müeste ich mich immer schämen.' (264,1-4) Alpharts Verweigerung des N a m e n s steht gegen die unablässig genannten E i g e n namen v o n Heime und Witege, die zu zweit einen unfairen K a m p f gegen einen kämpfen, der ihnen bei ,allen' Schande bringt. Diese Eigennamen vereinzeln, w o Alpharts zeitweilige A n o n y m i t ä t seinen N a m e n unsterblich macht, als den DietrichHelden, der durch Verräter fiel. N u r deshalb ist sein Tod beklagenswert: Wurd ich von iuwerm einem erlich erslagen Mine riehen mögen dorften mich nimmer clagen (277,1 f.) Heime tötet Alphart zuletzt noch mit einem heimtückischen Stich. Alpharts R u h m setzt die A u s l ö s c h u n g seiner kontingenten Person voraus. A n dieser Stelle hat freilich die einzige Handschrift eine Lücke. E s bleibt o f f e n , wie aus dem anonymen K ä m p f e r der berühmte Alphart wird. Seine Verweigerung v o n Eigenname, G e n tilname, Wappen scheint bewirkt zu haben, was er beabsichtigte, daß sein N a m e im literarischen M o n u m e n t überlebt und er als hervorragender K r i e g e r Dietrichs gefeiert wird. N o c h w o er sich vereinzelt, bleibt der Heros auf das K o l l e k t i v bezogen, dem er angehört. Deshalb geht das E p o s nach dem Z e u g n i s der Handschrift nach Alpharts T o d weiter, denn es geht nie nur um den einzelnen Helden. 20
XX'itege kritisiert dies wieder als unangemessene Versöhnungsbereitschaft (260); für ihn wäre die Z u g e h ö r i g k e i t zur gegnerischen Partei ausschlaggebend: Z w i s c h e n den beiden wird hinsichtlich imtriua'e, aber auch in bezug auf das Verhältnis v o n Heros und K o l l e k t i v noch einmal unterschieden.
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Namensspiele
Wenn dagegen die Artushelden incognito kämpfen, um den eigenen Ruhm zu steigern, ist das Verhältnis zwischen angeborener und erworbener Position, zwischen einzelnem Helden und Kollektiv, ein anderes. Der Held verkörpert zwar weiterhin eine überindividuelle Norm, zu der bestimmte ständische und ethische Qualitäten gehören, doch tut er es in radikaler Vereinzelung. Wo Alphart vor allem immer Dietrichheld war und seinen Ruhm zwar für sich, aber immer als Dietrichs Gefolgsmann, gewann, handelt der Artusheld auf eigene Rechnung. Im Artusroman hält nur die Sitte, besiegte Gegner an den Artushof zu schicken, eine minimale Verbindung aufrecht. Sie hat den Zweck, das Ansehen des siegreichen Helden an der maßgeblichen Börse der Ehre zu steigern und damit zugleich das Ansehen des Kollektivs, dem er zugehört. Daher auch die ,Gewohnheit', sich erst zu Tisch zu setzen, nachdem eine äventiure erzählt worden ist: Damit versichert sich umgekehrt der Hof des Maßes an Ehre, das aus den gemeinsamen Taten seiner Mitglieder kumuliert ist. Insoweit bleiben beide Seiten, die im Namen zusammengeschlossen sind, aufeinander angewiesen. Die Akzentverschiebung zwischen den Komponenten des Namens erfolgt freilich zögernd. Noch der (späte) ,Meieranz' zeigt den geringen Spielraum für den Eigennamen, und zwar paradoxerweise gerade, indem dieser Spielraum ausgetestet wird. Der Roman beginnt mit einer Ubersicht über die Familien des Artus und seiner drei Schwestern, in der der Held Meieranz genealogisch verortet wird: als Sohn der Olimpja und des Königs von Franken rieh ist er Neffe des Artus wie Gawan. Er ist also von Anfang an der Träger einer berühmten Familientradition. Gerade deswegen beschließt er, heimlich an den Hof des Artus zu reiten, wo man zwar seine Familie, nicht aber seinen Eigennamen kennt, so daß er unter diesem Namen gleichwohl incognito bleibt: mins willen wil ich nieman jehen: ich wil mine reise heln und wil mich heimlich versteh, da%_ des ieman werde gewar, und wil alleine riten dar, da^ ich ieman si bekant, swenn ich kum in mins aheims lant. ich wil besehen, ob ich kan wie man einen frömden man in stnem hove griie^e. (PMe 188-197; vgl. 970-986)
Meleranz will keineswegs weder unbekannten Eigennamen bekannt machen noch den Ruhm seines Geschlechts steigern, sondern den bekannten Namen seines Geschlechts eine zeitlang von diesem Eigennamen trennen, damit er sieht, wie weit er ohne den Rückhalt des Gentilnamens kommt. Um zu zeigen, wie wenig jedoch von Anfang an beide Seiten ohne einander auskommen, nimmt der Pleier Zuflucht zu bizarren Erklärungen. Wenn Meleranz 182
Eigenname und Kollektiv bei seiner künftigen Geliebten erscheint, darf diese in ihm nicht nur einen fremden jungen Ritter sehen, sondern sie weiß dank ihrer stern- und zauberkundigen meisterin Bescheid: der ist eins riehen küniges kint ($35), der Sohn des künc von
Franken
riebe (540). Meieranz bestreitet das zwar und behauptet ein armer kneht zu sein (940). D o c h das hilft ihm nichts. D a n k ihrer mantischen Hilfsmittel kann sie ihm N a c h richt v o n seinen Eltern geben, ihn seinem Status gemäß ehren ( 1 1 8 3 - 1 1 9 0 ) und sogar aus den Sternen seinen künftigen R u h m vorhersagen ( 1 7 9 5 - 1 8 0 5 ) . S o hat er beides, die persönliche A c h t u n g und die dem ererbten N a m e n zukommende Ehre. Wenn er sich dem H o f des A r t u s nähert, wiederholt sich die Geschichte: ein G e f o l g s m a n n erkennt seine (verwandtschaftlich bedingte) Ähnlichkeit mit Artus (i796f.), 2 1 erfährt jedoch nur, daß Meieranz sich dem K ö n i g
knehte und ouch
gesinde (2003) anbieten wolle. Trotz der Ähnlichkeit (2140) erkennt ihn niemand (2066), und v o r dem K ö n i g behauptet er, seine H e r k u n f t nicht zu kennen (2185). D i e Sippenzugehörigkeit soll gleichzeitig angedeutet und verkannt werden. D a g e gen nennt Meieranz, anders als Alphart, bereitwillig seinen E i g e n n a m e n (2193). S o ist er in einer Hinsicht ,wohl vertraut', in anderer ,unbekannt': si künden nie da£ geahten, von welhem lande er ware. sus was der lobebare in sines aheimes lande da£ in nieman da bekande
(2248-2252)
E r s t wenn die Eltern den verlorenen S o h n suchen lassen und ihre Boten zu A r t u s k o m m e n , " können N a m e und Geschlecht v e r k n ü p f t werden. D e r Zustand vorher war defizient. Artus w i r f t Meieranz vor: wie kundestu ie da^ getuon/da^ du dich also h&le/und mir vor verstale/din
geburt: da£ ist missetän ( 2 3 4 8 - 2 3 5 1 ) . D e r E i g e n n a m e
allein reicht nicht. Jetzt erst kann A r t u s den Eltern ausrichten, daß Meieranz, v o n dem er nie erfuhr, von welhem lande und welher art/er und sin gesiebte ware (246of.), än alle schände (2464) an seinem H o f gelebt hat. Andererseits ist an Meieranz sichtbar geworden, wie gut der A r t u s h o f Unbekannte aufnimmt (2356-2366). Einzelritter und H o f haben sich wechselseitig bestätigt, nicht der Heros sich als würdiger Repräsentant des K o l l e k t i v s erwiesen. D a s Experiment ist beendet, bevor es zu K o m plikationen k o m m e n kann. 2 ' A u f f ä l l i g ist, daß bis dahin der N a m e Meieranz durchaus noch nicht mit herausragenden Rittertaten v e r k n ü p f t wird. E s ist wirklich der nackte E i g e n n a m e ohne
"
A u c h die K ö n i g i n schließt später aus der Ähnlichkeit ( 2 2 1 4 ) er mac dir wotgesippet
"
A r t u s läßt bei den Eltern nach der D a u e r der Abwesenheit des Sohnes und nach dessen N a m e n fragen, erfährt den N a m e n seines N e f f e n s Meieranz sowie v o n dessen Ähnlichkeit mit ihm und kann nun selbst sehen, was nie im Z w e i f e l war: daß der Fremde an seinem H o f sein Verwandter ist (ich η·αη den neven min/jiir einen gast behalten hän, 2302^). D e r von K ö h l e r (1963), insbes. S. 66-88 beschriebene Prozeß der Re-integration geht also hier der eigentlichen Ritterkarriere voraus.
''
183
sin (2216).
Namensspiele
irgendwelche Zuschreibungen. Ein solcher Name ist ,leer', weshalb die Mitspieler von Anfang an sich bemühen, ihn mit genealogischer Information zu füllen, und der Held, bis diese bestätigt ist, buchstäblich ,nichts' sein darf. Erst wenn Meieranz jetzt einen Namen hat, der seinen ererbten Rang einschließt, zieht er auf Abenteuer.24 Nach einem Jahr bei Artus (3818), standesgemäß ausgestattet vom Vater (415 5 f.), sucht er seinem bekannten Namen durch Taten pris hinzuzufügen (4199) und so zu zeigen, daß er den ererbten Namen zurecht trägt, indem er bei seinen Eroberungs- und Rettungstaten namen und art (6489) stolz nennt. Die Nachträglichkeit der Taten, die ohne den Gentilnamen, der den königlichem Rang bezeugt, nichts gelten (6601-6603), 25 weist auf die Hierarchie der Namenskomponenten. Was hier umständlich durchbuchstabiert wird, steht implizit von Anfang an im Hintergrund höfischer Namensgebung, die nie nur den einzelnen Namensträger allein betrifft, allerdings in den Werken Hartmanns, Gottfrieds oder Wolframs der Profilierung des einzelnen Helden gegen kollektive Vorgaben weit mehr Raum gibt. Auch in den ersten beiden Büchern von Wolframs ,Parzival' ist Gahmurets Name zunächst ,unvollständig': ein Eigenname, verknüpft mit einem heraldischen Zeichen, doch nicht verbunden mit einer Herrschaft. Der unvollständige Name ist durch die ständisch-politischen Verhältnisse bedingt. Galoes, Gahmurets erstgeborener Bruder, trägt als Erbe der Herrschaft den Namen seines Hauses; bei dem nachgeborenen Gahmuret versteht sich das nicht von selbst. Deshalb mahnen die Vasallen Galoes, auch Gahmuret sines landes [...] hantgemalde zu überlassen und damit die Adelsqualität seines Namens sichtbar zu machen, [...] da^ man möhte sehen, da von der herre müese jehen sins namen und siner vriheit.
24
(WPa 6 , 1 9 - 2 1 )
Dabei wiederholt sich ein weiteres Mal die Geschichte um den verborgenen und offenbarten Namen: Sein Gegner ist ein Ritter, der gleichfalls ein Jahr fern von seiner Heimat und vornehmen Verwandtschaft - da du nieman sist erkant (5 502) - sich im Dienst seiner Dame, zuerst gegen Meieranz, bewähren will. Erst nach dem Kampf nennt er namen und art (3571), dazu das Land des Vaters; natürlich ist es gleichfalls jemand aus dem gesiebte des Artus (3716). Anders als bei Meieranz ist seine Mission aber noch nicht zuende: er muß durch ritterspris (3730) weiterziehen. Die Vasallen eines Fürsten, den Meieranz besiegt hat, unterwerfen sich nur unter Vorbehalt: ist ab er so swacher art geborn,/ so sul wir sin herrn embern./ so endarf er des niht gern, / da% wir im werden undertän (6624-6627). Meieranz' Abkunft aus dem Hause Frankreich aber und seine Verwandtschaft mit Artus können sie beruhigen. Auch beim Kampf gegen einen unerwünschten Werber seiner Geliebten läßt sich dieser versichern, daß er es mit einem künic her zu tun habe (9384), sonst ziehe er den Tod einer Unterwerfung vor (10233-10243; 10270-10275). Ein letztes Mal bewährt sich dieses Prinzip, wenn Meieranz sich gegen den Onkel seiner Geliebten durchsetzt und dieser feststellt, daß er geborn von so höher art ist (11959), daß er froh sein muß, ihn als friunt (11961) gewonnen zu haben (vgl. 11655; 12232). Erst dadurch wird legitimiert, daß seine hant/die künigin und %wei lant erobert hat (12615f.).
184
Eigenname und Kollektiv
Der K ö n i g stimmt sogleich zu und betont, daß Gahmuret der Gentilname zusteht: wan nennet ir den bruoder min Gahmuret Anschevin? Anschouwe ist min lant: da wesen beide von genant. (WPa 6,2 5-28) 2 6
Wolfram unterscheidet hier sehr genau zwischen Eigenname und Herkunftsbezeichnung (die Gahmuret selbstverständlich führt) einerseits und andererseits Herrschaft und Herrschaftszeichen (die er erst nach Galoes' Tod beanspruchen kann). Wenn Gahmuret das Angebot des Bruders ausschlägt, in seine familia (Ingesinde) aufgenommen zu werden, dann weil er dem gemach dort die Bewährung als Ritter vorzieht (7,20), weshalb er nur darum bittet, ritterlich ausgestattet zu werden. So gibt er nicht Name und Geschlecht, sondern nur die (wie immer näher zu charakterisierende) Teilhabe an der Herrschaft auf. Im Vergleich mit seinem Bruder fehlt eine Komponente. Kenntlich wird das an seinem Wappen, dem Anker ( 1 4 , 1 2 - 1 4 ) . E r bezeichnet seine unsichere und vorläufige Existenz als landloser Ritter, verundeutlicht damit seine Herkunft, so daß er im K a m p f selbst von Verwandten nicht sofort als ,Gahmuret von Anschouwe' erkannt werden kann (50,1), obwohl er doch als Anschevin von höher art ( 2 1 , 1 3 ) gilt. der, wenn er Belakane verläßt, selbst auf seine hohe A b k u n f t verweist (56,1). Das Wappenzeichen zeigt an, daß er seinen ritterlichen Namen aus keinem bestimmten Land herleitet, sondern erst noch den Platz finden muß ( 1 4 , 2 8 - 1 5 , 7 ) , w o er ,ankert'. Das Wappen individualisiert hier also stärker als der Eigenname, da es sich nur auf eine bestimmte Lebensphase bezieht, bezeichnet aber zugleich einen Defekt. Erst wenn durch den Tod des Bruders Anschouwe an ihn gefallen ist, hat der Anker G r u n d gewonnen, wie ausdrücklich gesagt wird (92,12f.; 99,1 3f.), und wird folglich durch das väterliche Wappen ersetzt: der anker ist ein recken / den trage und nem nu swer der will. (99,15 f.). Erst jetzt stimmen Eigenname, art, heraldisches Zeichen und Position im Herrschaftsgefüge zusammen. Die mit dem Namen Gahmuret verknüpfte besondere Geschichte hat aber weit früher begonnen, und sie läuft in den bisherigen Bahnen ihrem traurigen E n d e entgegen, ohne daß der neue Status, der sich im vollständigen Namen zeigt, die geringste Rolle dabei spielte.
Delabar (1990) glaubt in der Szene den Versuch eines „Staatsstreichs" (S. 62) entdecken zu können, der auf „ E n t m a c h t u n g " des K ö n i g s ziele (S. 64), den G a l o e s aber abwehre, indem er den Vorschlag der Vasallen, den Bruder mit einem hantgemal auszustatten, zurückweist. O h n e auf die umstrittene herrschaftspolitische B e w e r t u n g des V o r g a n g s hier detailliert eingehen zu können: in diesem Punkt beruht seine Interpretation auf einer Fehllektüre. Delabar liest nämlich anstelle von wan nenne/ ir den bruoder min/Gahmuret Anschevin (6,25f.) ein schon grammatisch unmögliches Was [!] nennet ir den bruoder min [...] (S. 65). D a s w ü r d e allerdings bedeuten, daß G a l o e s dem Bruder das Recht, den Gentilnamen zu tragen, abspricht, während er tatsächlich die Vasallen fragt, w a r u m sie ihrer Bitte für G a h m u r e t nicht den Gentilnamen hinzufügen, der G a h m u r e t zusteht, auch wenn er keine eigene Herrschaft hat {wanne, N b f . warn ,warum nicht').
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Namensspiele In der Geschichte Gahmurets lassen sich also die drei Komponenten des Namens klar unterscheiden: der Eigenname, der Name des Geschlechts und der Name der Herrschaft, der durch das ,richtige' Wappen angezeigt werden muß. Der - ursprünglich kontingente - Eigenname (locker verbunden mit dem des Geschlechtes) muß seine exemplarische Bedeutung - seine Bedeutung als Name eines hervorragenden Ritters - erst noch gewinnen; dies geschieht unter dem Teil-Incognito des Anker-Wappens. Unter dem Zeichen des Ankers wird der landlose Ritter zum berühmten Gahmuret, dem dann auch die Herrschaft zufällt. Nur wenn alle drei Komponenten zusammenkommen, ist Gahmuret in vollem Sinne etabliert, ist sein Name vollständig. Diese Voraussetzungen sind erst bei seiner Heirat mit Herzeloyde - und nicht schon bei der Heidenkönigin Belakane 27 - alle erfüllt. Namenssuche Der Verlust des Namens oder einer seiner Komponenten ist ein schwerer Defekt. Er ist im ,Wilhelm von Orlens' Teil der Bestrafung. Zu dieser gehört nämlich das Verbot zu sprechen. Wer sich aber nicht nennen kann, kann auch nicht genannt werden. Solange die Strafe andauert, verliert Wilhalm nicht nur seinen Eigennamen, sondern jedwede Benennbarkeit, sowohl die mittels eines nom de guerre wie die durch Herkunft oder Herrschaftsrechte. Er ist nichts mehr, auf die Kontingenz seiner isolierten Existenz zurückgeworfen. Es bestehen Zweifel, wer der unbekannte Ritter ist, der am Hof von Norwegen lebt und sich im Kampf gegen die Feinde des Königs hervortut. Man weiß nicht einmal, ob er zur höfischen Gesellschaft gehört. Er bleibt ein anonymer Stummer. In Wilhalms Strafe fallen alle Aspekte des Namens zusammen, und so können sie auch alle auf einen Schlag wiederhergestellt werden. Häufiger fehlen dem Namen nur einzelne Komponenten, so in den Romanen, die das Lancelotmotiv abwandeln. Lancelot ist zwar von vornehmer Herkunft, aber man weiß nicht welcher. Man kennt ihn als besten Ritter und kann ihm als bestem Ritter sogar einen Namen geben, aber solange der Name nicht mit einer Herkunft und einer Herrschaft verbunden ist, ist er unvollständig. Nicht notwendig führt die Entdeckung der Herkunft zur Restitution als Herrscher, 28 aber ohne sie geht es nie. Das entspricht der Bedeutung des Vaternamens in anderen höfischen Romanen. 2 ' In Ulrichs von Zatzikoven ,Lanzelet' übertrifft sie die des Eigennamens. *7 Dies könnte ein weiterer Grund sein, aus dem sie aufgegeben werden muß. 18 So etwa nicht im ,Prosa-Lancelot'; zum Motiv der Vatersuche Cormeau (1977), S. 26. Vater- und Namensuche hängen allerdings nicht notwendig zusammen. Feirefiz kennt sein Geschlecht schon, wünscht aber trotzdem den Vater zu finden (WPa 750,27-30). z ' Das gilt für Männer wie für Frauen. Cipproner, die Tochter der Zwergenkönigin Jerome, die der Romanheld Friedrich von Schwaben um einer anderen willen verlassen hat, muß wissen, wer ihr Vater ist: Ob er wer edel oder achtber/Oder wer er wer von geschlecht (FvS 66}8f.). Und wie die ritterlichen Helden wird sie ausziehen, ihren Vater zu suchen (6688). 186
Namenssuche
Für den Lancelot-Stoff ist charakteristisch, daß die Vaterposition eine Leerstelle ist. Vaterlosigkeit gehört zu der Figur, mit der Konsequenz, daß dort, w o von Lancelots Vater dann doch die Rede ist, in den einzelnen Romanen die Väter ganz verschiedene Namen tragen. Eigentlich nämlich ist die Stelle unbesetzt. Die Leerstelle muß narrativ gefüllt werden. Die Suche nach dem Namen mittels Suche nach dem Vater ist ein langwieriger und an Rückschlägen reicher Prozeß. E r zeigt, daß der Eigenname nicht genügt. Das Problem benennt Ulrich gleich eingangs, wenn er von seinem Helden sagt: noch denne was im unbekant, wie er selbe was genant und welhes adels er ware (ULa 31-33)·
Gelöst wird es auf zweifache Weise: durch Verdienst und durch die Wiederentdekkung der Herkunft. Diese wird narrativ an jenes geknüpft. Lanzelet ist so lange nicht er selbst: unζ daζ der helt mare geschuoj mit siner manheit, da£ im sin name wart geseit
und dar
gar sin künneschaft.
(34-37).
Der anonyme ,Ritter vom See' verdankt seine Sonderstellung einer Störung. Lanzelet ist Sohn von Pant, dem K ö n i g Genewis, der zwar ein vorzüglicher Kriegsheld ist, aber Recht und Herrscherpflichten nicht achtet. E r wird von seinen Vasallen in der Burg belagert und besiegt; dabei erliegt er seinen Wunden.' 0 Lanzelet wird dadurch vaterlos. Der ,Ritter vom See' ,hat' keinen Vater, sondern ,erwirbt' sich einen, der sich als der richtige erweist. Die ganze erste Hälfte von Ulrichs Roman ist ein Spiel mit dem Verhältnis von Eigenname, ererbtem und erworbenem Namen, von ,sich einen Namen machen' und ,einen Namen haben'. Der Schutz der Fee kann den fehlenden Vater so wenig ersetzen wie die Bewährung als Ritter. Die Fee kann nur die Voraussetzung dafür schaffen, daß Lanzelet wieder wird, was er von Geburt schon ist. Die vrouwe, eine merminne und küniginne ( 1 9 2 - 1 9 4 ) , Herrscherin über 10.000 vrowen, läßt ihm eine vorbildliche höfische E r ziehung geben - wan er von adele was geborn (260) - , aber auf Dauer halten kann sie ihn in der Gesellschaft der Frauen nicht. Wenn Lanzelet aus ihrem Reich in die Welt zurückkehrt, verschweigt sie ihm seinen Namen ausdrücklich - begründet mit schämen und mit manecvalt not (317; 322) denn der vom Vater ererbte Name soll die
i0
Hier ergibt sich die Vertreibung des Vaters aus dem Recht der Vasallen; die alte O r d n u n g kann v o m S o h n Lanzelet wiederhergestellt werden, indem er dieses Recht anerkennt. I m ,Prosa-Lancelot' dagegen ist die Vertreibung Unrecht, erweist sich aber trotz des Sieges über den Usurpator als nicht korrigierbar. I m ,Wigamur' wird die väterliche Herrschaft gar nicht erst angetastet, so daß der (entführte) Sohn problemlos in die ihm angeborene R o l l e zurückfinden kann. D i e Versuchsano r d n u n g geht jedesmal also v o n einer anderen Variante aus.
187
Namensspiele
Prämie für ritterliche Bewährung sein. Lanzelet soll ihn erfahren, wenn er den besten ritter der ie wart besiegt (3 29). 51 E r ist trotz dieses Handicaps bereit: ,s6 länt mich ungenant varn, min name wirf mir wol erkant.'
(}2.6{.)
Lanzelet wird wissen, wer er ist, ist, wenn er zeigt, was er kann.' 2 Doch will er nicht etwa sich, den Niemand, bekannt machen, sondern den Namen, den er schon hat, durch seine Taten wiedererringen. Das Verhältnis von Herkunft und Einzelmenschlichkeit wird in dieser Versuchsanordnung gegenüber der Heldenepik umgekehrt: Nicht das Geschlecht zieht den Wert des Einzelnen nach sich, sondern der Wert des Einzelnen hat die Entdeckung des Geschlechts zur Folge. Dabei ist Lanzelet für den Rezipienten keineswegs .namenlos', sondern allenfalls für seine Umgebung, die ihn nach seinem Namen fragt und dabei stets vermutet, daß er einen großen Namen geerbt hat, so kühn, wie er ist. Der Rezipient weiß dagegen von Anfang an, was zusammengehört. Angeborener und erworbener Name, Geburt und Bewährung müssen narrativ miteinander verknüpft werden. Das gelingt nur in einer umständlichen, an Windungen und Rückschlägen reichen Geschichte. Lanzelet bricht durch niht wan umb ere auf (351)· E r f o l g hat er als der namelose (2241). Der E r f o l g bewirkt, daß sich sein Ruhm - der eines Namenlosen - verbreitet." Wenn er nach seinem Namen gefragt wird - ist die Antwort stereotyp: mins namen i'u nibt gesellen kan, wan ich in selbe nie bevant: mine friunt die sint mir unbekant: dar %uo hän ich vermisset gar,
wer ich bin und war ich var.
(524-528)
E s geht um Einbettung in den Verwandtenverband (friunt). Solange Lanzelet nicht weiß, ,wer er ist', weiß er nicht: ,wohin es geht'. Daher ist die erste Hälfte des Romans eine Irrfahrt. Während er über sein individuelles Ziel keine Auskunft geben kann, hat er genaue Vorstellungen vom kollektiv verbindlichen ritters namen: nu wolt ich gerne schouwenIritter und ir manheit (54of.), vehten[J (543), sein Leben umb ere aid umbe mp einsetzen (546), alles, um sg lobe zu gelangen (548). Das ist, wie das Lachen seines
>' Die Dame vom See verfolgt bei dieser Bedingung auch eigene Interessen, indem dieser Iweret das Land ihres unfähigen Sohnes Mabuz bedroht, verheert und zu einem Teil an sich bringt. Ähnlich Wigalois, der um jeden Preis seinen berühmten Vater suchen und zugleich erreichen will, da\ man mich von rehte ba^J erkenne danne ein andern man,/ als min vater hat getan (WW 1296-1298). Die gleiche Verklammerung der Motive findet sich in Wigalois' Gespräch mit der Mutter ( 1 3 0 2 - 1 3 1 0 bzw. 1350—1357). Wigalois kennt zwar den eigenen Namen (1574), nicht aber den des Vaters (1567f.). " Der Erzähler konstatiert, da^ sich sin manheit niht verhal/und sin prts erschal/allenthalben in diu lant. (2251-2253) 188
Namenssuche
Gesprächspartners anzeigt, zwar ein recht naives Bild von Rittertum, wie es für einen kindischen degen paßt (565), aber es entspricht Lanzelets Laufbahn. Der kollektive name geht der Entdeckung des eigenen Namens voraus. E r hat E r f o l g und erringt gleich beim ersten Abenteuer, was immer wieder Ziel ritterlicher aventiure ist, eine Geliebte und deren Erbe, liut unde lant (1246). Doch muß er beide als vorläufig aufgeben, denn er hat noch keinen Namen.' 4 So reitet er weiter. Der ungenande (1287) lehnt auch den Rat, Artus aufzusuchen, ab: ware
ein michel
schände,
da^ ich flüge ungeveder. (i288f.) Lanzelet ,ist noch nicht ausgewachsen' wie der junge Vogel, denn er kann sieb nieman nennen (1348). M So bleibt auch sein zweites Abenteuer folgenlos. Die dabei erworbene Frau ebenso wie das dabei erworbene Land verliert er zwar nicht so schnell wieder wie beim ersten Mal, doch verschwinden auch sie nach einiger Zeit spurlos aus der Geschichte. Was er gewonnen hat, gilt, solange man den Namen nicht weiß, nur vorübergehend. Dieser zweite E r f o l g , die Eroberung der Ade, bringt ihn immerhin dem Namen und der damit verbundenen Integration in die höfische Gesellschaft ein Stück näher. Die Verbindung steht schon unter dem Vorbehalt, ob ir sint so wol geborn,/ als iwerr manheit geatmet (i492f.). Tapferkeit allein begründet noch keinen guten Namen, sondern der gute Name gehört rechtens zur Tapferkeit. Diesmal wird der ritter äne namen (1685) nach einigen Hindernissen schon in einen Verwandtschaftsverband aufgenommen. E r besteht - neben der zu erobernden Frau - aus deren Erbonkel Linier, dem Vater Patricjus, dem Bruder Diepald und weiteren friunden und magenJ'' Lanzelet erhält also dank seiner immer weiter gerühmten ritterlichen Tüchtigkeit' 7 eine ganze Sippe, nur leider vorläufig die falsche. Deshalb wird er seine neuen vriunde bei der ersten Störung verlieren. Schließlich weiß er seinen Namen immer noch nicht. Immerhin ist er jetzt an seinem Wappentier, einem Adler, identifizierbar. Die K u n d e der Taten des ,Ritters mit dem Adler' gelangt zum Artushof, wo alle seine außerordentliche manheit crkennen und über lüt verlangen, ihn zu sehen (2274-2280). Durch Artus erhält er einen weiteren Namen, den Namen seiner unbekannten Herkunft ,vom See': 14
Die erotische Abenteuerlust des wipstrligen Helden, die man dafür verantwortlich gemacht hat, ist demgegenüber sekundär; sobald er seinen Namen weiß, kommt er zur Ruhe.
" ''
Ulrich insistiert auf seiner Namenlosigkeit (1880; 1904; 2045; 2059; 2241; 2269; 2295). Zunächst hatte der Held auf die Frage, wer er lfttr und von wannen (1669), keine Antwort geben können. Das erregt, wo geordnete Verwandtschaftsverhältnisse herrschen, \Xut: Ades Onkel Linier fühlt sich verhöhnt und läßt Lanzelet einkerkern, womit dessen weisungslose ritterliche Laufbahn zunächst einmal zu Ende ist. Doch auch diesen Mangel kann er dank seiner ritterlichen Überlegenheit beheben und damit sich erkämpfen, was ihm fehlte, eine vornehme Verwandtschaft. D o c h ist er weiter der namelöse (2241). Die aventiure bringt Lanzelet zwar an den Rand des Todes, steigert aber noch einmal seinen Ruhm. Dieser R u h m ist ,öffentlich': sinen kämpf sach manic wigant/und Volkes ein michel wunder (2254^).
r
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Namensspiele man nennt in, und niht anders me, wan der stolze degen vonme Se. er ist durch nei^wa·^ namelos. (2293-2295)
Der Eigenname eines Namenlosen kann nicht die Kenntnis von Vater, Geschlecht und Herrschaftsgebiet ersetzen. Lanzelet sucht daher weiterhin Kämpfe, um ,sich selber kennenzulernen' (da% er bekande,/ wa% er an im selben möhte hän, 2}4of.), ganz gleich gegen wen (2342-2344). E r trifft auf Walwein, der ihn von sage kennt (2377), doch weigert sich Lanzelet, Walwein zum Artushof zu folgen, e ich andriu mcere habe vernomen (2482).38 Walwein hat das, was Lanzelet fehlt: einen Namen und folglich eine Geschichte {mcere). Er kann ihm umfassend und äne schäme von sich Auskunft geben (2488-2495)." Der Kampf mit dem berühmten Walwein40 und ein Turnier am Artushof können nur die allgemeine Komponente des Namens, ritters namen, bestätigen (2642-2645). Entsprechend tritt Lanzelet nicht als Einzelperson auf, sondern in drei anonymisierten Verkörperungen von Rittertum: als grüner, weißer und roter Ritter. In allen drei Rüstungen vollbringt er Wundertaten, und in allen drei Fällen erkennt man nach einiger Irritation, daß es sich um dieselbe Person handelt und diese mit dem unbekannten Ritter identisch ist.41 Trotzdem, es bleibt ein Defekt, daß Lanzelet seinen Namen nicht sagen kann (sit nieman weiwer ich bin, 3077): da% tet er niht durch bergen wan da% in dühte ein schände, da% ern selbe niht erkande. (3226-3228)
Schande ist hier ganz konkret als Mangel von ere zu verstehen. Lanzelet gehört jetzt zwar ,dazu', deshalb heißt er unser vriunt (3374) oder unser belt (3415; 3475; 3524), unser[] geselle[] (3452), doch bleibt er der vremde ritter (3398), der helt der sich niht nande (3444), der helt der gerne vaht (3458), de[r] vremde[ ] jungelinc (3461). Die Umschreibungen zeigen an, daß Lanzelet sich aufs Zentrum der höfischen Welt zubewegt hat, ihm aber der Name fehlt, der ihn über den Vater mit einem berühmten Geschlecht verbindet.
Hier kommt noch ein anderes Motiv hinzu: Lanzelet schlägt das Angebot aus, weil es ihn ins Gerede (p^e mare) bringen werde, Walwein ,wie ein Gefangener' zu folgen (2430; 2433). " Als Lanzelet erfährt, welchen berühmten Ritter er vor sich hat, will er sogleich im Kampf mit ihm seinen eigenen Namen bewähren; er könne dabei nur gewinnen, pris und ere (2512), wogegen er nichts gegen einen so berühmten Mann zu verlieren habe. Da für ihn alles auf dem Spiel steht, muß er Walwein zunächst von seiner Kampfwürdigkeit überzeugen: ir endurfent ruochen wer ich bin (2518). Indem Lanzelet die Verweigerung des Kampfes als unere brandmarkt, hat Walwein keine Wahl. 40 E r wird abgebrochen, als ein Bote auf die Kämpfenden trifft und ihnen vorhält, niemand sehe zu in dirre wilden wüeste (2609). Lanzelets Großtaten brauchen Zeugen, die ihm seine ere zusprechen: da% wol mugent schouwen/ritter unde vrouwen (2621 f.). Auch später wird er nicht zu Ende gekämpft, bleibt beim Turnier eine rasch unterbrochene Episode und findet ohne weiteren Kommentar keine Fortsetzung, wenn Lanzelet erst einmal seinen Namen gefunden hat. 41 Man weiß, es ist der, von dem uns dicke ist gesaget,/ der so manegenpris bat bejaget. / üf der erden lebet niht sin gelich (3019-3021; vgl. 3 1 1 8 - 3 1 2 0 ; 3448-3453).
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Namenssuche
Bevor er ihn erfährt, muß er noch einmal alles verlieren, was er bis dahin an ,Name' gewonnen hat. Das geschieht im Reich des Mabuz, im Schatel le mort. Der Ort markiert den symbolischen Tod einer ritterlichen Existenz, die allein auf seinen persönlichen Verdiensten beruht. In der Zauberburg wird er zum Feigling. Sein Ruhm ist sofort dahin, und damit büßt er auch umstandslos ein, was er mittels ritterlicher Qualitäten bisher erworben hat: die Geliebte Ade, die - in ihrem Bruder Diepalt symbolisierte - Einbindung in deren Verwandtschaftsverband und den A n spruch auf ein Reich, dessen Erbe sie ist. Ade und Diepalt verschwinden auf Nimmerwiedersehen: tu ernvirt mer niht geseit/von ir dewederem ein wort {^βη^ί.). Die bloß erworbene Position wird ausgelöscht, bevor Lanzelet die angeborene erringt. E r kann sich schließlich aus der Gefangenschaft des Mabuz befreien und gelangt an den Ort, an dem er die A u f g a b e erfüllen wird, Iweret, den Gegner der Dame vom See, zu töten und so Mabuz, ihren zur Gegenwehr unfähigen Sohn, vor dessen Gewalt zu retten. Iweret besaß von erbe drei Königreiche (3875) und ist von küneges kiinne hoch erborn (4047), hat also alles, was Lanzelet noch fehlt. Doch entscheidend ist, daß Lanzelet nach seinem Sieg seinen Namen erfährt, dazu den Namen von Vater und ererbtem Land und die Geschichte der Eltern. Jetzt weiß er, daß er vongebürte scelic undegro% ist (4707). Weil der Sieg diesmal mit der Bestätigung von Name und Geschlecht verbunden ist, kann Lanzelet, was er erkämpft hat, behalten, Iwerets Tochter und sein Land. 42 Seine Einbindung in die Artusgesellschaft ist gesichert, als Artüses swester barn und mä[c] des Walwein (4959 und 4963); sin gesiebte erkande man %ehant (5223). E r trifft von nun an überall auf Verwandte. 4 ' Entscheidend ist die Gewinnung des Namens, erst sekundär die damit verbundenen Herrschaftsrechte. A u f sie kann Lanzelet noch längere Zeit warten. 44 Erst ganz am E n d e des Romans, nach immer neuen Verzögerungen, haben Name und durch Verdienst erworbener R u h m zusammengefunden. Wenn für den höfischen Roman, anders als fürs Heldenepos, die Vereinzelung des Helden typisch ist, so muß der Held in dieser Vereinzelung doch auch als herausragender Repräsentant eines Allgemeinen erkannt werden: ritters namen er41
VC'o der N a m e bekannt ist, entfallen alle anderen Hindernisse: D a s Mädchen ist verpflichtet, dem eilenden man (4575) Wort zu halten und zu vergessen, da% er ir vater het erslagen (4601). N u r Iwerets Vasallen dürfen noch nicht wissen, wer er was und war er Juor (4649), außer, er sei der schaneste man,/ der ritters namen ie gewan (4651 f.).
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S o begrüßt ihn die Herzogin v o m weißen See: Landetet du Lac,/ dm vater der was der neve min/und ist diu liebe muoter din/mines berren kiinne (5092-5095). E r s t als die Verwicklungen der A r t u s r u n d e gelöst sind und er v o r allen sich als der beste Ritter erwiesen hat (7968-7975), nimmt er seine Herrschaft ein. D a s geschieht problemlos, wenn auch a u f w e n d i g inszeniert: E r erinnert sich an sin erbe £e Genewis,/ wan in duhte ein unpris,/ da% stuont an vremder hant (8061-8053). E i n e Heerfahrt, bei der ihn A r t u s unterstützt, erweist sich als überflüssig, denn man übergibt ihm bereitwillig, w o r a u f er als Sohn des K ö n i g Pant A n s p r u c h hat. Ähnlich problemlos gewinnt er die K ö n i g r e i c h e des Iweret. D i e Vasallen suchen ihn als Mann der Iblis und folglich als den legitimen N a c h f o l g e r ihres Herrn. Was er mit manheit gewann (8627), soll er als gekrönter Herrscher besitzen (9204-9208).
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Namensspiele
werben. Als er selbst kann er erst identifiziert werden, wenn man seinen genauen Platz in der feudalen Ordnung kennt. Dieses Erzählmuster ist keineswegs nur an die Lancelot-Thematik geknüpft. Der ,Wigamur' etwa liest sich über weite Strecken wie ein entproblematisierender Neuaufguß der Geschichte Lanzelets. 45 Dank der Entproblematisierung treten einige Z ü g e der zugrundeliegenden Matrix sogar noch schärfer hervor. Entproblematisiert ist schon der Beginn: Nicht ein Streit des königlichen Vaters mit seinen Vasallen (,Lanzelet') bringt den Held um Land und Namen, sondern der Uberfall eines wilden Weibes, das die Abwesenheit des Vaters am Artushof ausnutzt, um den Königssohn zu entfuhren. Von solch einer Unholdin ist, anders als von der Dame vom See, keine höfische Erziehung zu erwarten, weshalb eine weitere Handlungsschleife eingefügt werden muß, an deren Ende sich Wigamur in der Obhut eines erziehungsbegabten merwunders befindet. Von ihm bricht er zu seinen Ritterfahrten auf, auf denen er seinen Namen wiedergewinnen muß. Wieder anders als im ,Lanzelet' wird ihm dieser Name nicht bewußt verschwiegen, bis er seine Aufgabe als Ritter erfüllt hat. Der Name ist also nicht Prämie für seine Taten als einzelner Ritter, sondern er ist dem merwunder naheliegenderweise ganz einfach unbekannt (Wig 353-365), und so schickt es den jungen Wigamur statt zu seinen Verwandten unbestimmt dorthin, wo dich hin duncket guot (39*)· Der Defekt rührt also nicht aus einem Feudalkonflikt, der krisenhaften Zerstörung des Feudalverbandes her, sondern aus einer Verkettung unglücklicher Zufälle, doch seine Konsequenzen gleichen denen des ,Lanzelet'. Man erkennt an Wigamur zwar allgemein, da\ er was von hoher art (984 nach M) und rühmt seine Taten, doch wo er nicht weiß, wie er heißt, woher er kommt und wohin er will (1268-1272), findet er vorerst keinen Platz in der höfischen Gesellschaft. So muß er ähnlich umständlich wie Lanzelet diesen Platz Schritt für Schritt erobern. Zuerst muß er zum Ritter gemacht werden, dann die Taten eines Ritters - auf preyß und auf ere (1358) - vollbringen. Solange er unbekannt ist (1418, 1 4 2 1 - 1 4 2 4 ) , kann er nirgends bleiben. So will er lieber sterben oder mein nam wirt bekannt, wo eren wirt gemannt, und andern rittern genosßlich. (143 2-1434)
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> Dazu gehören neben der Namensproblematik auch solche Details wie, daß der junge Held sich anfangs kaum auf seinem Pferd halten kann und auch mit seiner Rüstung nicht zurechtkommt. Überhaupt beschert der Roman eine Menge von i^'a-w-Erfahrungen: So findet sich das Ingenu-Motiv (wie im ,Parzival'), indem der witzlos man (519) ritterliche Fehde oder feudale Ordnung nicht versteht (508-514; 6 8 1 - 5 8 ; ) und sich alles erst erklären lassen muß. Den namengebenden Adler, der ihn begleitet (der ,Ritter mit dem Adler'), gewinnt er - wie Iwein den Löwen - , als der Adler mit einem weniger edlen Tier (diesmal einem Geier) kämpft. Ebenfalls aus dem ,Iwein' stammt ein Gerichtskampf ums Erbe. 192
Namenssuche D e r erste N a m e , den er erwirbt, ist noch keineswegs der ererbte Eigenname, sondern der nom de guerre ,Ritter mit dem A d l e r ' , unter dem sich sein R u h m verbreitet. W i g a m u r wird von dem arn wol bekant und andirs niht genant, swa er hin quam gevarn, wan der riiter mit dem adilarn.
(1736-1739, nach M)
D e r nom de guerre ist aber auch hier zu wenig. E r kann zwar Wigamurs Platz auf der Stufenleiter ritterlicher E h r e befestigen, nicht aber seinen ererbten A n s p r u c h auf Herrschaft. S o nennt er sich weiterhin (gegenüber einer D a m e , die seine Hilfe als Ritter beansprucht) ungeno^lich/an eren und an gute ( 1 7 1 i f . , nach M ) oder ungeleycb ( 1 7 1 1 , nach W). E r schlägt die Hand einer anderen D a m e , die er im G e r i c h t s k a m p f gewonnen hat, mit der B e g r ü n d u n g aus: ich bin nit so reich, noch so mächtig und gleych guottes und eren, das ich solte kerren \u euch, fr awe grosß; wer ich haltymmer so genoß, und das ich war bekannt. sunst han ich weder bürg noch land, das ich ir sey genosen dan. (1954-1962) Selbst ein heimgefallenes Lehen, ein H e r z o g t u m , das Artus als K a m p f p r e i s für ein Turnier ausgesetzt hat, lehnt er ab: J e d e Integration allein auf G r u n d v o n ritterlicher Leistung wird zurückgewiesen. D a s Erzählmuster erlaubt, widerstreitende Prinzipien - das Prinzip , G e b u r t ' und das Prinzip ,selbsterworbene E h r e ' - im narrativen Prozeß eindeutig zu hierarchisieren: D i e Artusritter verkünden zwar der Reihe nach öffentlich (unvirborgen, 2 1 7 2 ) , daß W i g a m u r sich als der beste erwiesen hat, doch kann das den Makel des fehlenden N a m e n s nicht wettmachen, und so bleibt der Held bei seiner A b l e h n u n g , mit der B e g r ü n d u n g , ihm fehle die geburt (2265), er habe weder vriunt noch guot (2274); ein kunincriche und land/were mir t(uo gröblich (2279f.). D e r Verzicht wird noch einmal gesteigert, wenn Ysopei, die A r t u s zu Hilfe ruft, beim A n b l i c k Wigamurs gleich seinen Adel erkennt (das er was von gepurd hoch, 2719), er sich natürlich wieder als bester Ritter bewährt, Landesherr werden soll, ihn sogar die Vasallen der Y s o p e i als Herrn wollen und K ö n i g , K ö n i g i n und alle die ritterschafft (3428) W i g a m u r das höchste L o b zusprechen. Wieder wird nichts daraus, denn W i g a m u r - obwohl inzwischen recht berühmt - nennt sich nahent und ferre/allenthalben
unbekant (344of.); zuerst wolle er deshalb, das auch der nam mein/
under andern rittern werd geaalt ( 3 4 4 4 ^ . Damit kann nicht der N a m e ,Ritter mit dem A d l e r ' gemeint sein; denn der genießt bereits beträchtliches Ansehen, sondern nur der ererbte. '93
Namensspiele
Erst das folgende Abenteuer bringt die Lösung. Wigamur gerät in einen Streit um das Land des ihm unbekannten eigenen Vaters. In diesem Streit stehen sich nahezu gleichwertige Ansprüche gegenüber, indem sich ein Verwandter von Mutterund einer von Vaterseite (oheim und vetter) um das Land streiten.46 Wigamur engagiert sich zuerst bei den Gegnern seines Vaters. Ein tragischer Konflikt scheint sich vorzubereiten. Wes schlegst du deines vaters nam? (3825), fragt der Erzähler besorgt. Wenn er in einem Zweikampf gegen den Anführer der Gegenseite, seinen Vater, antreten soll, reicht dem Vater zwar der Ruhm des Ritters mit dem Adler so wenig wie zuvor seinem Sohn.47 Doch indem er Wigamur veranlaßt, zu erklären, warum er sein Geschlecht ikuenn, vater und muoter) nicht weiß, können Vater und Sohn einander erkennen: herr, ir sejt wol mein genoß (4146). Sogleich kann Frieden gestiftet werden, indem Wigamur das Erbe des Vaters antritt und gleichzeitig die Tochter von dessen Rivalen zur Frau erhält, denn sye sindpaide wolgeporn (4193). Im Zweikampf zwischen Vater und Sohn würden sich paradigmatisch erworbener und ererbter Name, fitters name und Name des Geschlechts, gegenüberstehen. Doch fällt der Zweikampf aus; der Konflikt wird versöhnt. Wigamur heißt jetzt der kunig mit dem arnn (4181): ererbter und erworbener Name haben zusammengefunden. Das Harmoniemodell des ,Wigamur' sieht seitens der Herrschaftsträger maximale Bereitschaft zur Uberwindung ständischer Schranken vor, seitens des Ritters ohne Namen umgekehrt maximale Bereitschaft, sie streng zu respektieren. Wie sich zuletzt zeigt, führt genau das zum glücklichen Ende, von dem alle wissen, daß Gott selbst es herbeigeführt hat. In den Varianten des Namensspiels kann der Antagonismus zwischen traditionalgenealogischer Ordnung und exzeptioneller Leistung des einzelnen Ritters durchgespielt und entschieden werden. Noch entschiedener als Ulrichs ,Lanzelet' zeigt der ,Wigamur' daß der Einzelne nichts ist, solange er nicht über seinen Namen seinen Platz in der ständischen Ordnung kennt. Einzelanalysen von Romanen dieses Typus würden auf unterschiedliche Gesellschaftsbilder und Interessen stoßen. Hier kommt es darauf an, daß die Varianten auf ein gemeinsames Problem weisen, das Erzählungen generiert.
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Z u r Verwandtschaftskonstellation, die eine trivialisierte Variante des Chretienschen Gralsmythos ist: Schmid (1986), S. 61-64. Ein letztes Mal schlägt er es aus, als Lohn für seine Unterstützung im Erbstreit die Hand der Königstochter sowie bürg, stet und landt (3909) bloß durch seine Waffentat zu gewinnen (3926-3929). Diesmal kommt es anders. Der verlustreiche Krieg soll zuletzt durch einen Zweikampf ersetzt werden, in dem Wigamur anstelle seines Oheims gegen seinen Vater antreten soll. Als der Vater sich weigert, gegen einen bloßen kempfe seines Gegners anzutreten, und wenigstens wissen will: seit ir ritter oder kmcht [...] aygenn oderfrey (4032/4034), ist Gelegenheit Wigamurs Geschichte auszubreiten.
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Dissoziation der Namen
Dissoziation der Namen Auch wenn ,Lanzelet' und ,Wigamur' einen schlichten Kompromiß anstreben, bezeugen sie, wie die selbstverständliche Koinzidenz von Eigennamen und ererbtem Namen Risse erhält. Das Verhältnis der verschiedenen Komponenten des Eigennamens zueinander ist eins der Themen in Hartmanns ,Iwein'. Von Anfang an ist Iwein - auch schon als unerfahrener Ritter - nicht irgendeine Einzelperson, sondern der berühmte Repräsentant des Artushofs. Ritterliche Tat, Fama, Geschlecht und Name sind eins. Wenn Lunete ihrer Herrin einen Ersatz für den erschlagenen Ascalon vorschlägt, dann zählt für Laudine nur der Name und das Renommee des Kandidaten. Weil sie Iweins Namen und den seines Vaters kennt, weiß sie: und wirf er mir, so hän ich heil (Hai 2114). Der Ritter, der eben ihren Mann getötet hat, verschwindet hinter seiner Fama.48 Diese auffällige Selbstverständlichkeit hat Hartmann freilich problematisiert, und die Anstrengung, beide Aspekte des Namens zusammenzuführen, bestimmt einen großen Teil der Handlung. Es kommt von Anfang an anders: Nicht der berühmte Iwein erscheint vor Laudine als ihr künftiger Herr, sondern der verliebte Iwein ergibt sich ihr als Gefangener (2239), als ein schuldiger man (2285), der sich ihrer Rache unterwerfen will. Damit hat Hartmann den Rahmen für eine Erzählung entworfen, in dem die beiden mit dem Namen verknüpften Seiten der Person auseinandertreten können, vorerst noch unbemerkt. Offenkundig wird dies jedoch in Iweins Terminversäumnis: Er ist dem gefolgt, was ihm seine Fama und riters name aufzuerlegen scheinen, und hat damit gegen seine minne zu Laudine verstoßen. Geahndet wird der Verstoß durch den Verlust seines öffentlichen' Namens, des Namens eines geehrten Artusritters. Diesen nämlich spricht Lunete Iwein vor der Artusrunde ab: der ist ϋζ der ^al (3116): und mac sich der künec iemer schämen, hat er iuch mere in riters namen (318 8 f.).
Die Verstoßung durch Laudine und der Verlust der mit dem Namen des Artusritters verknüpften Ehre löschen die Person Iweins vollständig aus. Nachdem er nackt und wahnsinnig im Wald gelebt hat und zuletzt von einigen Frauen als Iwein erkannt und geheilt worden ist, tritt die Spaltung des Namens offen hervor. Für die Frauen ist weiterhin der Name Iwein mit seiner (früheren) Fama, erkennbar an einer Narbe, identisch,49 nicht aber für Iwein selbst, der mit der Frage bistü^ Iwein, ode wer? (3509) aus seinem Wahnsinn erwacht. In der anschließenden Szene gewinnt er zwar die Gewißheit, wer er ist und wie er heißt, wieder,' 0 aber die Spaltung zwischen den beiden Aspekten des Namens bleibt bestehen. 4
* Wandhoff (1999), S. n 6 f . ; vgl. dort allgemein zu Hartmanns Spiel mit dem N a m e n ,Iwein'. Wandhoff (1999), S. 120 betont, daß die D a m e n „ihre E n t s c h e i d u n g allein auf das R e n o m m e e seines N a m e n s stützen", gegen den Augenschein des „offensichtlich kranken K ö r p e r [ s ] " . Hierzu S. 2 4 1 - 2 4 5 .
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Namensspiele
Im ersten Abenteuer nach der Heilung erfüllt Iwein die in ,Iwein' gesetzten Erwartungen und besiegt den Gegner der Dame, die ihn heilen ließ, aber er ist noch nicht wieder im vollen Sinne er selbst, solange sein Verhältnis zu Laudine gestört ist, und deshalb tritt er auch noch nicht in die frühere Rolle des berühmten Iwein ein, sondern entfernt sich, um incognito das verlorene Ehrkapital erneut anzusammeln. Die Komponenten seines Ich sind dissoziiert. Was Erzähler und Hörer als Einheit wissen, ist für die Mitwelt allenfalls augenblicksweise und von einigen (Dame von Narison, Lunete) als Einheit erkennbar, für alle anderen jedoch nicht. Einen neuen Namen macht Iwein sich nicht als ,Iwein', sondern als ,Ritter mit dem Löwen'.' 1 ,Iwein' hält man dagegen für tot oder verschollen. Der ,Ritter mit dem Löwen' tritt an die Stelle ,Iweins', indem er dessen Fama ersetzt. Zufällig gelangt der Löwenritter an den Ort, an dem Lunete gefangengehalten wird, die für ihren angeblichen Verrat an Laudine hingerichtet werden soll, sofern sie keinen Ritter findet, der ihre Unschuld in einem Gerichtskampf verteidigt. Dazu wird wieder ein berühmter Name gebraucht, wie Lunete glaubt: ein Musterritter wie Gawein oder Iwein. Sie weiß zwar, daß der eine Namensträger ihr übel mitgespielt hat, aber sie braucht die mit dem Namen assoziierte Kampfkraft. Der wirkliche Iwein begegnet in ihrem Wunsch seinem früheren, mit seiner Fama verbundenen Namen wie dem Namen eines Fremden. Deshalb fragt er: Weihen Iwein meinet ir (4179)· Das ist nicht mehr das ironische Spiel des Heldenepos, die vorgetäuschte Frage im ,Eckenlied', welcher Dietrich gemeint sei, mit dem Ecke kämpfen wolle - wo es doch in der Heldensage nur einen Dietrich von Bern gibt. Iweins Worte deuten auf den Riß, der zwischen dem kontingenten Namensträger und der im Namen aufgerufenen Fama aufgetreten ist. Anders als Dietrich spielt Iwein nicht mit der Fama, die sich, von niemandem ernsthaft bestritten, weiterhin an seinen Namen heftet. Er bringt den Namen, den er trägt und dessen er sich beim Erwachen aus dem Wahnsinn versichert hatte, nur nicht mit dem Namen des berühmten Iwein zusammen. Lunete nennt Iweins Vater - ordnet den Namen also in die allgemeine Geschichte einer Dynastie ein - und erzählt Iweins Geschichte bis zu dem Punkt, an dem sie ihm vor Artus' Hof vorwarf, seinen Eid gebrochen zu haben. Jetzt erkennt Iwein daß er gemeint ist und daß für Lunete der berühmte Ritter und der treulose Mann der Laudine eine und dieselbe Person sind, so wie er ja auch die Geschichte dieses Iwein als seine eigene kennt. Der Name hat aber für ihn eine andere Bedeutung als Ruhm. Das zeigen seine Worte: ich bin^ iwein der arme (4213). Mit arm ist weniger sein persönliches Unglück aufgerufen, als der Verlust seines Status, die Reduktion 51
Der Löwe ist einerseits ,wildes' Tier, andererseits Symbol von triuwe als der zentralen Tugend des Ritters. Diese beiden Komponenten müssen, wie Quast (2001), S. iz6i. gezeigt hat, von Iwein integriert werden. Mit diesem Problem ist das der unterschiedlichen Namen verbunden. 196
Dissoziation der Namen auf die kontingente Einzelmenschlichkeit des pauper, die für nichts steht als sich selbst. Iwein der arme ist nicht mehr der Inbegriff seiner Fama, sondern der, der seine eren achtlos weggeworfen hatte und daher nicht mehr ist, der er war.' 2 Er kann in die alte Rolle nicht einfach zurückkehren. So erklärt er sich zwar bereit, für Lunete zu kämpfen, doch unter der Bedingung der Anonymität, unter Verschweigen eben des Namens, der ihn in Lunetes A u g e n für den Kampf qualifizierte. Niemand, auch nicht Laudine, die dem Kampf zuschauen wird, soll wissen, wer er ist (4239; 4311)· Nach dem Kampf will er sich selbst mit dem Tod bestrafen, damit Laudine Genugtuung erfährt; erst dann darf sie erfahren, wer er war (4232-4246). Nur in der postumen memoria will Iwein wieder eins mit seiner Fama werden. Das scheint mit ,Alphart' verwandt, und hat doch ganz andere Implikationen. Der Tod würde nicht Iweins R u h m besiegeln, sondern wäre Schlußpunkt eines unglücklich scheiternden Lebens. Es kommt anders. Der Gerichtskampf stellt den vorigen R u h m wieder her, doch als R u h m des .Ritters mit dem Löwen'. Als ,Ritter mit dem Löwen' findet Iwein sogar Laudines Anerkennung. Weil dieser Name nur die eine, die öffentliche Seite seiner Existenz bezeichnet, ist es konsequent, daß Laudine den Mann, der vor ihr steht, nicht erkennt, .obwohl sie doch sein Herz bei sich trägt'. Sie hat ja auch gar nicht den, den sie früher liebte, vor sich. Auch Iwein hält an seiner Namenlosigkeit fest: Noch erkand in da ivtp noch man (5451). Den rehten namen (5499), der beide Seiten einschloß, der sich aber den Haß Laudines zugezogen hat, verschweigt er (5494-5506). Es ist der Name eines unglücklich Liebenden, den ihm nur die Geliebte zurückgeben kann: ich muo% ir hulde e haben ba% (5493):" mim werde ir gnade ba^ beschert, so mil ich mich iemer schämen mins lebens und mins rehten namen: ich wil mich niemer gevreun. ich hei^e der riter mittem leun (5498-5502). Iwein kehrt nicht zum früheren Namen zurück, der durch Treubruch und Verstoßung befleckt ist, sondern will einen neuen erwerben (5 511-55 20), damit er durch ihn erkander wird (5 516),54 nämlich als Löwenritter:
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Z u dieser Szene Wandhoff (1999), S. i 2 i f . , der ihre B e d e u t u n g für die Selbstfindung Iweins herausgearbeitet hat. Ich lese die Szene als R e f l e x i o n über die B e d e u t u n g von N a m e n und möchte stärker die auch hier noch fortdauernde Spaltung zwischen der .exemplarischen' und der .individuellen' B e d e u t u n g des N a m e n s hervorheben, die erst ganz zuletzt, in dem .doppelten Schluß' des R o m a n s a u f g e h o b e n wird.
"
E r legt den N a m e n Iwein also nicht ab (Wandhoff, 1999, S. 1 2 3 ) , sondern verzichtet nur vorübergehend auf einen Teil seiner Implikationen. Laudine hatte g e f r a g t , wieso sie v o n ihm noch nicht gehört habe (5507-5509); Iwein hatte es auf die unwerdekeit zurückgeführt, da der Löwenritter erst begonnen habe, .sich einen N a m e n zu machen'. A n d e r s als hinter ,Iwein' steht hinter dem Löwenritter nicht ein berühmtes Geschlecht.
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Namensspiele wirf min gelücke also guot so min her^e unt der muot, ich weii^ wol, so gedien ich daζ da^ ir mich erkennet ba^ ( 5 5 1 7 - 5 5 2 0 ) . Der Weg zum vollständigen Namen führt also über den halb anonymen heraldischen Namen." Da aber der heraldische Name kein vollständiger Name ist, heißt Iwein weiterhin der namelose (5465). Namenlos ist er nicht mehr als Ritter, sondern als der von Laudine Verstoßene. Als Löwenritter erobert Iwein den Namen zurück, den er schon einmal hatte. Als Löwenritter nämlich (und nicht mehr als ,Iwein') wird er für einen Gerichtskampf gesucht. Dieser Name ist zwar unvollständig, aber in aller Munde. Das Mädchen, das Iweins Hilfe sucht, kennt ihn {und wart mir anders nihtgenant,/ wan da% ein lewe mit im ist, 595of.). Beim Gerichtskampf geht es ums Recht, nicht ums Renommee. Deshalb werden zuerst alle Eigennamen gelöscht. E r findet völlig anonym statt. Auch Gawein will sich nicht nennen; er hat sich heimlich entfernt und ist in vremden wäfen (6892) zurückgekehrt. Iwein erscheint ohne den Löwen, so daß niemand weiß, wie der riter ware genant (6906). Ausgangspunkt der Szene, in der die Bestandteile des Namens wieder richtig zusammengesetzt werden sollen, ist die vollständige Namenlosigkeit. Wenn dann aber beim Einbruch der Nacht der unentschiedene Kampf unterbrochen wird und keiner Zwang auf den anderen, sich zu nennen, ausübt, kann Iwein fragen: ir möhtent äne schände/mir wol sagen iuwern namen (7428f.). Gawein nennt sich, und Iwein folgt ihm, doch nennt er sich jetzt mit dem Namen, unter dem man ihn kannte: Iwein. Vor dem Hof ist sein Name wiederhergestellt. Erst danach kommt der Löwe hinzu, so daß alle sehen können, daß dieser Iwein der inzwischen berühmte Ritter mit dem Löwen war (7740-7743). Der alte Name nimmt das Renommee des neuen, des Löwenritters, in sich auf. Damit ist die Rehabilitation vor dem Hof abgeschlossen, doch offensichtlich reicht das nicht zur völligen Wiederherstellung der Person Iwein, der die hulde der Geliebten verloren hat. Noch einmal wird das Verhältnis der beiden Teile des Namens zum Problem. Zum zweiten Mal - wie nach der öffentlichen Anklage Lunetes - stiehlt sich Iwein vom Hof, da% es nieman wart gewar (7806).'6 Die Versöhnung mit Laudine kehrt den beim Gerichtskampf erzählten Ablauf der Integration der beiden ,offiziellen' Teilnamen um. Iwein muß vom Ansehen des Löwenritters {mit tem der lewe varend ist, 7927) profitieren, der die Zauberquelle künftig vor Angreifern zu schützen soll, um Laudines Gunst zu gewinnen. Daß der Löwenrit"
549 6f ·; 5 i 2 ; f · ; 5948-5951 •
' 6 Nahezu wörtlich 3 2 2 7 ^ zwar fehlt die Bemerkung Er verlos sin selbes hulde (3221), doch entfernt sich Iwein auch hier aus dem sozialen Zusammenhang des Hofes und entschließt sich zu einem a-sozialen Verhalten, zu blinder, unablässig wiederholter Zerstörung, um Laudines Aufmerksamkeit zu erzwingen. 198
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ter Iwein ist, ist für Laudine eine Überraschung. Lunete präsentiert den Löwenritter mit den Worten: ist her Iwein iuwer man (8074). Dank dem Eid, den Lunete Laudine abgenommen hat, muß Laudine diesem Iwein bei seiner Dame - sich selbst - ,zur Gunst verhelfen'. Die Fama des Löwenritters hat den Makel des terminvergessenen Iwein ausgelöscht. Auf riskante Weise bringt der Erzähler ,individualisierende' und generalisierende' Perspektive zur Deckung. Daß die Spannung fortbesteht, zeigt der viel diskutierte Überlieferungsbefund, der in der handschriftlichen Tradition' 7 die Versöhnung einmal mit, einmal ohne einen Fußfall Laudines besiegelt. Wie immer man die beiden Fassungen gewichten will: Der Fußfall korrigiert den Eindruck, daß das glückliche Ende, die Zusammenführung von Iwein und dem Löwenritter, sich nur einem Trick verdankt, der Laudine zwingt, einen Eid einzuhalten, den sie unter ganz anderen Bedingungen gegeben hatte. Laudines Fußfall würde Iweins Verfehlung relativieren - und den Eindruck, daß Laudine wieder nur den Träger eines berühmten Ritternamens akzeptiert; er würde der Person Iwein gelten, die sie verstoßen hatte. Dies liegt, ob nun nachträglicher Zusatz oder nicht, in der Konsequenz der Auseinandersetzung um die richtige Bedeutung des Namens. Wenn es im ,Iwein' um das Verhältnis des ,Namens für die anderen' zum ,Namen für einen selbst' geht, dann bei Parzival umgekehrt um das Verhältnis des Eigennamens zu der kollektiven Rolle, die im Namen vorgezeichnet ist. In Parzivals Vater Gahmuret waren, wie dargestellt, alle wesentlichen Aspekte des Namens, kollektive wie individuelle, in der ,richtigen' Reihenfolge vereint worden. Indem er getötet wird und Parzival von der Welt isoliert aufwächst, sind diese Voraussetzungen für Parzival nicht gegeben, und die Reihenfolge, in der Parzival zu seinen verschiedenen Namen kommt, ist gestört. Parzival soll nach dem Willen der Mutter aus dem Gentilzusammenhang der Rittergesellschaft herausgehalten werden; er soll keinen Namen und damit keine allgemeine Vorgabe, was er zu sein hat, erben. Eingeführt wird er namenlos durch den Erzähler. Er ist der, dem di^ mare wart erkorn (WoP 112,12). In der Geschichte seiner Kindheit wird er meistens nur kint, juncherre, knappe/ knabe genannt.' 8 Nur der Hörer kennt seine väterliche und mütterliche Abkunft, aber das bedeutet nicht mehr als den Namen des Geschlechts. Daher kann der Erzähler ihn des werden Gahmuretes kint (117,15), fil Ii roy Gahmuret (122,28) nennen. Wenn ihm die Mutter unfreiwillig etwas von sich erzählen muß, erfährt er den Namen einer Herrschaft, 17
Vgl. Albrecht Hausmann: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. .Laudines Kniefair und das Problem des .ganzen Textes', in: Text und Kultur (2001), S. 7 2 - 9 ; ; zum Interpretationsdilemma bes. S. 9of.; aus dem Kontext, in dem auch die ,Kniefallszene' steht, folgert Hausmann: „Der ,Iwein' ist nicht die Geschichte einer Minne zwischen Laudine und Iwein, sondern die Geschichte von der Integration Iweins in die von Laudine verkörperte Normenwelt" (S. 91). ' ' Etwa kint/kinde [ in] (112,6; 22; 118,27), juncherre (122,15; 123,8), knappe (117,30; 119,9; 119,16; 120,28; i 2 i , i usw.) oder knabe (129,3 u.ö.). 199
Namensspiele
die ihm gehören sollte (128,7). Doch wird ihm dieser Name im selben Augenblick entzogen, indem die Mutter ihm mitteilt, daß er diese Herrschaft verloren habe. Namenlosigkeit und mangelnde Verortung im genealogisch-politischen System gehören zusammen. Erst in der ersten Begegnung mit Sigune erfährt der Hörer Parzivals Eigennamen, zugleich mit dem Helden: Sigune hat den Helden nach seinem Namen gefragt und zur Antwort die Kosenamen erhalten, die Herzeloyde ihm gab ibon ß^ scher fisfr beaß\, 113,4; 140,6). Es sind Namen, die in der Nahkommunikation zwischen Mutter und Kind absolut eindeutig sind (nur dieser einen Person zukommen), außerhalb aber ihre eindeutige Bezeichnungsfunktion verlieren. Sie sind also wieder defizient. Parzival scheint die Worte für seinen Namen zu halten; er bestimmt sich als (kleines) Kind in der Nähe der Mutter, wo die Mutter ihn als expropriierten Feudalherrn bestimmt hatte. Beides ist bei seinem Eintritt in die Welt zu wenig. Sigune kennt seinen richtigen Namen: Do diu rede was getan, si erkant in bi dem namen sän nu hart in rehter nennen, da^ ir ivol müget erkennen wer dirre aventiur herre si: der hielt der juncfrouwen bi. ir roter munt sprach sunder twäl ,deiswar du heilest Ρarrival [ . . . ] ( 1 4 0 , 9 - 1 6 )
Handlungslogisch ist Sigunes Rede schwer nachvollziehbar.60 Die Nennung ist nicht aus dem vorher Gesprochenen ableitbar. Parzivals Name wird genannt, weil ,jetzt der richtige Moment ist', in dem der Hörer den Namen des Helden erfährt (1da^ ir wol müget erkennen/wer
dirre äventiur herre si, 1 4 0 , 1 2 f . ) . E n t s c h e i d e n d ist der
Zeitpunkt. Parzival ,tritt in seine Geschichte ein', und das ist für den mittelalterlichen Erzähler gleichbedeutend mit ,er tritt in einen Geschlechtszusammenhang ein'. Sigune als dessen Repräsentantin ist in der Lage, ihm seinen Namen zu sagen. Gleichzeitig ist der Name, mit dem sie ihn nennt und den sie im folgenden erklärt, sprechend'; er antizipiert etwas von dem, was die Geschichte von dem Helden erzählen wird. Es ist Parzivals ,Eigenname', insofern er sein Schicksal vorwegnimmt.
"
Wohl zu übersetzen: ,Sie erkannte ihn gleich mit seinem Namen', nicht aber ,Sie erkannte ihn gleich an seinem Namen' (zu beziehen auf die Kosenamen): Der Erzähler macht Sigune zu seinem Sprachrohr; sie verkündet, was er weiß. Diese Konstellation wiederholt sich nach Parzivals Besuch auf der Gralsburg, indem Sigune auch dort über das Wissen des Erzählers verfügt.
60
Dieses „Mysterium" schon bei Chretien: „Die mütterlichen Verwandten aber erkennen den Verwandten am Namen, den ihm weder Vater noch Mutter gab". Sie „erkennen aus dem Namen die konkrete, bestimmte Geschichte der Person"; „in ihrem Bereich" taugt „die diskursive Vermittlung des Wissens" nicht (Schmid, 1986, S. 69-71).
200
Dissoziation
der
Namen
Aber wer hat dem Helden diesen Namen gegeben? Der Vater war tot; die Mutter wollte ihn der Ritterwelt fernhalten und begnügte sich mit Kosenamen; von anderen, die den Namen geben konnten, war nie die Rede. Sigunes Worte demonstrieren die Priorität des Namens, über den das Geschlecht verfügt, gegenüber irgendwelchen kontingenten Bezeichnungen für die Einzelperson, wie sie die Kosenamen der Mutter darstellten. ,Parzival' ist ein Eigenname, doch er befindet sich im ,Besitz', im ,Wissen' der (mütterlichen) Verwandtschaft. Parzival hat einen Namen, ohne je benannt worden zu sein. Der Name bezeichnet ihn in seinem besonderen Schicksal, doch ist das vorerst Versprechen von Künftigem. Vor dieser Szene war Parzival ,noch nicht Parzival'. Der Name kommt noch nicht dem Jungen aus der Wildnis zu (der kennt nur die Kosenamen, die die Mutter ihm gab); er heftet sich noch nicht an den Tölpel, der seine ersten Schritte in der Außenwelt tut (und bei Jeschute fürchterliches Unheil anrichtet), sondern er bezeichnet erst den, der sich anschickt, in die Ritterwelt einzutreten. Deshalb gibt ihm Sigune nicht nur den Namen, sondern erklärt Parzival außerdem dessen Bedeutung, die sich seiner Biographie verwirklichen wird. Zum Namen gehören das Geschlecht des Vaters und der Mutter, die ererbten Herrschaftstitel und die Gegner, die ihn um dieses Erbe brachten. Erst all das zusammen macht .Parzival' aus. Dank Sigune kennt Parzival in vollem Sinn sich selbst, insoweit dieses Selbst durch seine Herkunft bestimmt ist. Doch ist mit diesem Vorgriff Parzival noch lange nicht er selbst. Der Name ist nichts Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes. Der vollständige Name kommt zu früh. Sigune weiß etwas, das sich erst noch zeigen muß und lange Zeit nicht zeigen wird. Weder weiß Parzival, was an Erwartungen sich mit der mütterlichen Sippe verbindet, noch, welchen Rahmen ihm die väterliche Herkunft setzt. Zwischen dem kontingenten Namensträger, dem jungen Mann in den Kleidern und mit den Waffen eines Tölpels, dem Sigune seinen Namen genannt hat, und den Verpflichtungen und Rollen, die der Name impliziert, klafft eine Lücke. Deshalb wird der Held seinen Weg vorerst namenlos fortsetzen. Er weiß jetzt, daß er Parzival heißt, aber den anderen bleiben sein Name und sein Geschlecht weiterhin verborgen, und sie werden ihn noch lange nicht erfahren. Parzival gelangt zu Artus, tötet Ither, wird von Gurnemanz belehrt, wird Landesherr und Ehemann der Condwiramurs, gelangt auf die Gralsburg, schickt besiegte Ritter zum Artushof. Doch all das geschieht noch nicht unter seinem Eigennamen, sondern unter dem nom de guerre des ,roten Ritters', den er, nachdem er seinen wirklichen Namen schon weiß, vor Artus' Stadt durch den Sieg über Ither erworben hat, indem er sich dessen Rüstung aneignet. Durch diesen Kampf erhält er eine soziale Identität, die sich ,über' das legt, was er bisher war. Wolfram hat das dadurch konkretisiert, daß Parzival anfangs die Rüstung über seinen Torenkleidern trägt. Erst wenn zur ritterlichen Komponente durch Gurnemanz die höfische kommt, verschwindet die unter der Rüstung liegende ,zweite Haut' des Tölpels, indem Parzival die Torenkleider ablegt. Unter dem Namen und der Rüstung des 201
Namensspiele
,roten Ritters' bleibt aber weiterhin verborgen, was der Name ankündigt und aufgibt. Was ,Parzival' zu sein hat, wird vom ,roten Ritter' verfehlt. Wieder bleibt der Riß lange verborgen. Noch wenn Parzival Orilus besiegt hat, kennt ihn dieser nur unter dem Namen des ,roten Ritters', und auch bei seiner Rückkehr zum Artushof wird er als ,roter Ritter' begrüßt (276,4; 276,21; 278,25; ähnlich 307,18; 309,16): Der Beiname bezeichnet den Teil seiner Existenz, in dem er sich bisher bewährt hat, sein Artusrittertum, in dem er aber auch an entscheidender Stelle versagt. Vom Aufbau her scheint angelegt, daß - wie am Schluß des ,Iwein' - alle bei Parzivals triumphaler Rückkehr zum Artushof den Eigennamen des roten Ritters und seine Herkunft erfahren und Parzival unter seinem vollen Namen (Eigenname, Geschlecht, Waffen/Wappen) vom Hof gefeiert wird. Tatsächlich werden durch Cundrie namn, art und Geschlecht auch bekannt (325,17—20), doch im Rahmen einer tödlichen Anschuldigung: Bruch der triuwe und Versagen auf der Gralsburg. Was Besiegelung eines Triumphs sein müßte, erscheint als Schande. Cundrie spricht Parzival ab, was Ziel seiner Taten als roter Ritter war, was von der Artusrunde anerkannt wurde und zu seinem Eigennamen gehören sollte: ere. Ihr Gruß lautet gunerter lip, her Parzival (316,25). Indem sie an seine berühmten Verwandten erinnert, bestimmt sie nicht Parzivals Platz in der Rittergesellschaft, sondern schließt ihn daraus aus. Parzival wird zum Outcast in dem Moment, in dem alle erfahren, wohin er gehört. Die Konvergenz von Eigenname, Rittername und Gentilname in der Fama des Helden scheitert im selben Moment, in dem sie zu gelingen scheint. Parzival verliert, wenn er aus der Artusrunde ausscheidet, seinen Eigennamen wieder (und das impliziert: den Namen seines Geschlechts). Er wird wieder zum anonymen roten Ritter. Als roter Ritter agiert er am Rande der Ritterwelt, nur an seinen Waffen erkennbar, jemand, der keinen Namen führt und durch eine Gewalttat Ritter geworden ist.6' Er ist der ritter allenthalben rot:/ der hie^ der ungenante (383,24f.; vgl. 392,20), der, der bi rotem wäpen unrekant ist (398,5). Wie leer die Bestimmung durch die Waffen und überlegene Waffentaten ist, zeigt sich daran, daß Parzival einmal auf der ,richtigen', einmal auf der ,falschen' Seite kämpft. Anders als Iwein kann er nicht unter dem nom de guerre die an seinen Eigennamen geknüpfte Fama zurückgewinnen; beide Namen haben nichts miteinander zu tun und werden nicht zusammengeführt. Als roter Ritter ist und bleibt Parzival berühmt, doch seinen Eigennamen stellen dessen Taten nicht wieder her. Das gelingt zuerst außerhalb der Ritterwelt, wenn er auf die trauernde Sigune trifft und, indem er sie an ihrer Geschichte erkennt, zeigt, was ihm vorher fehlte: Mitleid. Unter dem
Green (1978), S. 46 macht darauf aufmerksam, daß Wolfram über weite Strecken Parzival nicht mit seinem Eigennamen noch dem des Geschlechts nennt, sondern ,der rote Ritter', womit er die Erinnerung an den Totschlag wachhält, dem Parzival seinen Eintritt in die Ritterwelt verdankt (vgl. S. 58-60). 202
Dissoziation der Namen nom de guerre kommt der andere Parzival zum Vorschein: E r nimmt seinen Helm ab die Hülle, die ihn als roten Ritter identifizierbar macht - , so daß sie sehen kann: ir sither Parzival (440,29). Mit dem Namen verknüpft sich hier nichts als die besondere Physiognomie eines einzelnen Menschen. E r ist kontingent. Natürlich weiß Sigune von seiner Verwandtschaft {neve, 441,19), aber der Name ist jetzt vor allem mit seiner Schuld - nicht mit Status oder R u h m - assoziiert. Die Orientierungslosigkeit, die der Verlust des Namens vor der Artusrunde nach sich gezogen hatte, ist damit noch keineswegs beendet. Der Versuch, die Schuld wiedergutzumachen, scheitert weiterhin, sichtbar daran, daß Parzival die Spur verliert, die ihm Sigune zur Gralsburg wies. Und wieder reit er, ern wiste war (445,27), in die Irre. ,Parzival' ist er noch lange nicht wieder. E r kennt weder Ort noch Zeit (desn priieve ich niht der wochen 446,3). Die Verknüpfung des Namens mit der Schuld setzt sich in der Begegnung mit Trevrizent fort. Parzival kommt zu ihm als namenloser Büßer: ich bin ein man der sünde hat (456,30). Schritt für Schritt nähert er sich wieder seinem Namen. E s ist nicht der Name des berühmten Parzival, denn er hat seine ere eingebüßt (460,13f.) und ist wiselös herumgeirrt (460,29). Als Sünder könnte er auch jemand ganz anderer sein, vielleicht der Erzfeind des Gralsgeschlechts: Herre, sit Ιπζ Lähelin (474,1)? 62 Das ist die maximale Entfernung vom Namen des Heilsbringers, der Parzival sein sollte.' 5 D e m richtigen Namen nähert sich Trevrizent wieder auf dem gewöhnlichen Weg, über das Geschlecht: oivt her, wanne ist iwer vart?/ nu ruocht mir prüeven iwern art (474,23f.)? Darauf nennt Parzival Vater und Geschlecht (min vater der hie^ Gahmuret,/ er was von arde ein Anschevin/'herre, in bin^ niht Lähelin, 475,2-4), dazu den Totschlag Ithers und die Leichenfledderei. Sein eigener Name fällt nicht. E r ist nur indirekt präsent in der Schuld, die er jetzt gesteht und die er zuvor verschwiegen hatte (468,19): daß er einen Verwandten getötet hat und derjenige war, der das Leid des Gralskönigs verlängerte. Indem seine unterdrückte Geschichte ans Licht kommt, ist Parzival mindestens für Trevrizent wieder ,Parzival', der, der seine A u f g a b e verfehlt hat. Immer noch aber ist das, was sein Name versprach, nicht wiederhergestellt. Daher geht, nachdem er Trevrizent verlassen hat, die leere Existenz als ,roter Ritter' am Rande der höfischen Gesellschaft weiter. Die beiden Teile, die noch nicht wieder zueinander gefunden haben, klingen im Fazit des Erzählers an: wand in der wirt von sünden schiet/unt im doch riterlichen riet ( 5 0 1 , i j f . ) . Die Sünde nimmt Trevrizent ihm ab (502,25), der Rest bleibt H o f f n u n g : beUp des willen unverzagt (502,28).
61
Trevrizent fragt ihn, wa\ ir kumbers unde sünden hat (467,21). Parzival nennt seine not [...] umben und umb min selbes wi'p (467,z6f.) und veranlaßt so Trevrizent, v o m G r a l zu erzählen. In diesem K o n t e x t fällt die F r a g e nach Lähelin. Die mehrfache Fehl-Identifikation einer F i g u r als Lähelin verweist immer auf deren destruktive K o m p o n e n t e n : Parzival könnte Lähelin sein (vgl. G r e e n , 1978, S. 67f.). 205
grät
Namensspiele
,Parzival' ist der Held weiterhin nur für sich selbst, den Erzähler und den Hörer. In drei Stufen hat Wolfram die Re-integration von Eigenname und Rittername inszeniert, zuerst wenn Parzival als unbekannter Ritter dabei ist, seinen Freund Gawan zu erschlagen, im letzten Moment dessen Namen hört (688,17) und daraufhin mit seinem Schwert die Rolle des unbezwinglichen roten Ritters von sich wirft. Ritter nennt er den, der sich selbst tötet, indem er seinesgleichen tötet (688,21-689,8). 64 Jetzt kann er sich nennen, und zwar mit seinem Eigennamen und sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Gawan betonend: ich pin£ din neve Parzival (689,24). Den Eigennamen nimmt er in dem Augenblick wieder an, in dem er die übliche Determination von riters name verweigert. Als ,Parzival' kehrt er in die Artusrunde zurück und erfährt dort das Lob, das ihm vor der Verfluchung durch Cundrie zugedacht gewesen war: der da den pris genomen hat. welt irs jehn, deist Parzival. (69 5,6f.)
Diese Konstellation wiederholt sich im Kampf gegen den Bruder Feirefiz, gegen den er zu unterliegen droht, als sein Schwert - das Schwert des roten Ritters zerbricht. Noch deutlicher wird die Namensnennung von riters name abgekoppelt. Es gibt eine Verzögerung. Obwohl wehrlos weigert sich Parzival, durch vorhte seinen namen und seine art dem Gegner zu sagen (745,22/19). Feirefiz' Bereitschaft, sich gegen die Regeln von Sieg und Niederlage als erster zu nennen - lä da% laster wesen min (745,27) - verabschiedet das ritterliche Kampfritual ein weiteres Mal. Erkennen bedeutet wieder Ablegen der ritterlichen Waffen (748,1-8). Die dritte Stufe ist Parzivals Berufung zum Gralskönig, nachdem er längst am Artushof wieder als .Parzival' geehrt wird. Cundrie schließt, wenn sie Parzival die Nachricht überbringt, die Namen von Vater, Mutter, Frau und Söhnen ein (781,2-30), weist ihm also den im mittelalterlichen Sinn vollen Namen zu. Den Eigennamen Parzival muß sie gar nicht mehr nennen: owol dich, Gahmuretes son!/ [...]/ ich mein den Her^eloyde bar (781,3/5). Voraussetzung bleibt, daß Parzival abgelegt hat, was er als roter Ritter lange Zeit war. ,Parzival' definiert sich nicht mehr über ritterliche Ehre, aber es auch nicht mehr ein kontingenter Name, sondern sein Träger kann als Erbe zweier berühmter Geschlechter jetzt alles erfüllen, was in der vorzeitigen Namensnennung angelegt war. ,Roter Ritter' ist nicht mehr Bestandteil des Namens.
64
Z u dieser und der folgenden Szene Green (1978), S. 65f.; auch Mabonagrin heißt in Hartmanns ,Erec' in der Hitze des blutigen Kampfes nur der rote man (9274; 9317); zur Affinität zwischen beiden ebd., S. 72.
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Der verweigerte Name:
,Prosa-Lancelot'
Der verweigerte Name: ,Prosa-Lancelot' Im Prosa-Lancelot wird das Verhältnis von Eigenname und ritterlich-höfischer Ordnung noch stärker problematisiert. 6 ' Wie in anderen Lancelot-Romanen muß der Held seinen Namen erst noch gewinnen, aber das ist nicht mehr das Ziel der Handlung wie bei Ulrich von Zatzikoven, sondern bloße Durchgangsstation. Wie Ulrichs Lanzelet ist Lancelot aus der angeborenen Position vertrieben, doch durch Unrecht, statt in Wahrung eines Rechtsanspruchs: König Claudas hat Lancelots Vater, König Ban von Bonewig, in einer Fehde verjagt, in den Tod getrieben und sein Reich an sich gebracht. Lancelot ist enterbt, und diesen Status wird er nie überwinden, auch nicht, wenn er über seine Herkunft Bescheid weiß. Dabei beginnt die Geschichte wie in anderen Lancelot-Romanen. Lancelots Weg zu seinem Namen ist windungsreich. Bei der Dame vom See heißt er nur der schön jüngling oder des koniges sün (I S. 21,2), wobei ihm seine königliche Herkunft solange wie möglich verheimlicht wird: er wonde das die jungfrauw sin mutter were (I S. 2i,4f.). Natürlich zeigt sich früh seine königliche art im herrenmäßigen Umgang mit seinem Lehrer. Gestalt, Gebaren und Erziehung sind gleich adelig (I S. 34f.). Jemand stellt eine physiognomische Ähnlichkeit mit dem verstorbenen König Ban fest (I S. 38,29f.). Lancelot ist seinem Selbstgefühl nach koniges kint (I S. 41,25-32). Und wes sun ir sint, so ist das werlich das ir eins koniges sons bereu>; hant (I S. 42,4f.), sagt die Jungfrau vom See: Status als Kategorie des Inneren.66 Die Nennung des Namens ist nicht wie in Ulrichs ,Lanzelet' Mangel; sie wird nur hinausgezögert. An Lancelots von den Ahnen ererbten Vortrefflichkeit besteht nie ein Zweifel: Bekentet ir auch uwers vatters gesiecht und uwer mutter, ir dörfftent wenig daran %wyveln, ir wurdent ein gut man. Von so hohem gesiecht als ir sint enmag nymer böse man werden (I S. 124,22-24).
Erst kurz bevor Artus ihn zum Ritter machen will, offenbart ihm die Jungfrau, daß Lancelot nicht ihr Sohn ist, sondern von höchster Abkunft, doch mehr verrät sie nicht: Ir warent eins des bjderbsten manne s sün und des besten ritt ers der in der weit lebte. Ir wart einer der schönsten frauiven kint und einer der besten die nü lebet. Nu ensag ich uch nit me von uwerm vatter noch von uwer miitter wer si weren, ir solt es selb wol erjarn in kurc^en stunden (I S. 129,38-130,4)/"
66
67
Vgl. die A n a l y s e des N a m e n s p r o b l e m s bei K l i n g e r (2001), S. 7 5 - 1 1 5 . K l i n g e r (2001), S. 69t.; 89; 102, 1 3 0 u.ö. spricht von „Herzensadel". D o c h geht es eher um seinen königlichen Habitus. Im übrigen bestätigt sie nur die Verwandtschaft mit den %u'en kuniges sün Lionel und B o h o r t : ir sint wol
als edel als sie sint (I S. 130,16f.).
20;
Namensspiele
Noch am Artushof fragt ihn die Königin vergeblich, wie er heißt, wer syn vatter were und von wannen er genant sy (I S. 13 3,7), und er kann nur antworten, das wisse er nicht. Die Investitur als Ritter verschafft ihm die Halbindividualität des nom de guerre. E r ist der ritter mit den wißen wapen (I S. 147,2) oder auch einfach der miß ritter (I S. 154,22 u.ö.). Der Aufbau seiner Identität ist zwar der von Lanzelet oder Wigamur verwandt; doch anders als diese ist er nie in Zweifel über seinen Platz in der höfischen Gesellschaft; anders als diesen sichert ihm sein wirklicher Name aber auch, nachdem er ihn erfahren hat, nicht selbstverständlich seinen Platz dort. Das Erzählmuster der Namenssuche führt vor, wie die Determination durch das Geschlecht und den Vater an Bedeutung verliert. Man kann deshalb nicht einmal sagen, daß Lancelot seinen Namen sucht. Daß er ihn erfährt, ergibt sich nahezu nebenbei, als er, seinem neuen Status als Ritter entsprechend, wenn auch noch unzulänglich gerüstet, seiner Verpflichtung, Abenteuer zu bestehen, nachkommt. Wenn er am Ort des Abenteuers, vor der Dolorose Garde, erscheint, wird ihm verkündet, er werde morn seinen und seiner Eltern Namen erfahren (I S. 1 5 9 , 2 2 ^ : der Name erscheint hier nebenher als Zugabe zum Abenteuer. 68 Lancelot kann es nicht abwarten, der beste Ritter der Welt zu werden,69 und schon indem er es wird (und nicht wie Lanzelet oder Wigamur erst viel später), liest er, wie er heißt. Er begegnet seinem Namen auf dem Friedhof, als Grabschrift: In dißem grab sol Lancelot ligen von dem Lacke, des koniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes (I S. 165,34-36). Zwar verdankt er den Namen seiner ritterlichen Überlegenheit - einer Prophezeiung zufolge ist er der einzige, der die Grabplatte heben und den Namen lesen und als seinen erkennen kann,70 - doch erscheint der Name sub specie mortis, gebunden an seine Existenz als sterblicher Mensch. Auch ist die Botschaft der Schrift für Lancelot allein bestimmt, nicht für die höfische Öffentlichkeit; er bestimmt also nicht Lancelots Platz dort. Wenn Gawan zum Grabmonument kommt, kann er die Grabplatte nicht heben, den Namen nicht lesen und muß die Suche nach Lancelot fortsetzen (I S. 206,18). Damit hat Lancelots Name einen völlig anderen Status als die Namen, die Lanzelet oder Wigamur finden. Vor der Hofgesellschaft bleibt Lancelot bis zum Ende des Abenteuerkomplexes um die Dolorose Garde der große Unbekannte. Die Suche der anderen nach seinem Namen zieht sich über Dutzende von Seiten. Lancelot verbietet, den Namen bekannt zu machen. Die anderen Ritter kennen ihn nur als weißen Ritter, wissen, daß er der nüw ritter der Königin ist, preisen ihn als den, der die Dolorose Garde
68 65
70
Vgl. auch V. Merveldt (2004), S. 7 8f. Wo Lanzelet (oder Wigamur) längst ein vollendeter Ritter ist, wenn er seinen Namen erfährt, ist Lancelots Aufbruch defizient: noch als knapp (da Artus .vergaß', ihn zum Ritter zu machen), ohne Schwert, nur mit Lanze und Schild. E r wüst wol das das syn name was den er funden hett (I S. 165,36-166,1). 206
Der verweigerte Name: , Prosa-Lancelot' bestanden hat, oder beklagen seinen Tod. Das alles betrifft nur seine exemplarische Rolle als Musterritter. D o c h Lancelot beansprucht die Ehre, die sich daraus ergeben müßte, nicht für sich als Person. E r zieht sich auf die Minimalposition des Standes zurück: Ich bin ein ritter, als ir geseht [...] nicht me mögent irs yct^ünt wißen (I S. i87,28f.). 7 1 Wenn die Gefahr besteht, daß man ihn einordnen könnte, wenn z.B. Gawan seinen Namen von jemand anders erfährt, dann bestätigt Lancelot, rot vor Z o r n darüber, den Namen nicht (Ich wil dar^u nit vil reden ob es war sj oder nit, I S. 218,26) und verläßt sogleich den Ort des Geschehens. Selbst wenn er gefangen ist und durch Nennung des Namens beurlaubt werden könnte, will er sein Schweigen erst brechen, ,wenn es an der Zeit ist': ich will uch sichern das ich uch will mynen namen sagen als mich duncket das es sin mag und %ytt ist (I 239,18-20), und wenig später sagt er: mir ist in der weit nymant als lieb dem ichs sagen wolt (I 2 56,3of). Gawan verkündet Lancelots Namen der Königin und dem ganzen Hof. Lancelot heißt jetzt der ritter des namen myn herre Gawan hoff bracht (I S. 224,ηΐ.)\ das ist eine Umschreibung für den, der sich nicht nennen will. Eine andere Umschreibung ist ,Ritter der Königin': Mynes namen mögent ir nit wißen, wann sagent ir wie gethan myn schilt sy und das ir durchyren willen erloßt sint (I S. i9i,37f.). 7 2 Öffentlich akzeptiert Lancelot seinen Namen erst vor Ginover. Aber selbst vor ihr gibt er nur widerwillig preis, daß alle Taten, die sie aufzählt, seine waren. Immerhin gesteht er, daß er von ihr sein Schwert empfing und seitdem ihr Ritter ist: Da prüfete sie an manigen dingen das er Lancelot were, von dem myn herre Gawan so viel ^u hoff hett gesaget (I 292,31 f.). Jetzt spricht sie es aus: ,nu weiß ich wol were ir sint, ir heißent Lancelot von dem Lack'. Da schweig er schon und antwort ir nit, ,Es ist vil lang', sprach sie, ,das wir uwern namen wüsten, myn herre Gawan brachtyn hofe.' (I S. 2 9 3 , 1 0 - 1 3 ) . Der Name wird, statt an Tatenruhm, an die minne gebunden, er bezeichnet seine „Minne-Identität". 7 3 Aber nicht einmal auf die Rolle des Liebhabers der K ö n i g i n läßt sich Lancelot bis zuletzt festlegen. Die Kontingenz des Einzellebens geht nicht in der Geschichte des berühmten Liebespaares auf. Zuletzt ist Lancelot nicht mehr der Ritter der Königin, sondern ein Mensch, der sich büßend auf seinen Tod vorbereitet. E r löst sich von seiner ,Minne-Identität'. Diese ist mithin alles andere als stabil. Die Verbindung zwischen Name und Person ist keineswegs für alle Zeit
71
Ähnlich wenn Lancelot g e g e n ü b e r G a w a n preisgibt, daß er es ist, der hinter allen unbekannten, verschieden gerüsteten Musterrittern steckte (I S. 2 1 1 , 2 3 - 2 8 ) : E r tut das nämlich seltsamerweise, ohne seinen N a m e n zu nennen, und beschränkt sich auf die A u s k u n f t , daß ich ein ritter bin ich als ir wol sehent (II S. 284,7)'.; v g ' · H I . S. 397,14).
"
Als .Ritter der K ö n i g i n ' kann er weitere kontingente Rollen annehmen. S o läßt sich Lancelot v o r A r t u s als ritter, der ir [d.h. der K ö n i g i n ] das schach^abelbret geschickt hat (vgl. II S. 385,4; 396,19) präsentieren.
"> Reil (1996), S. 104; ähnlich S. 17 „Liebesidentität". D i e F a m a des unbekannten Ritters darf erst G i n o v e r mit dem N a m e n der Person, die sie v o r sich hat, v e r k n ü p f e n , und erst sie darf seinen N a m e n verkünden, zuerst G a l a h o t (I S. 2 9 7 , 1 6 - 1 9 ) , dann der D a m e von Maloaut, erst danach ist Lancelot o f f e n Lancelot.
207
Namensspiele
gesichert. Gewiß hat Lancelot manchmal Grund, seinen Namen zu verbergen, etwa um nicht vom Kredit dieses Namens zu zehren, oder aus Vorsicht, um den Ehebruch mit der Königin zu kaschieren.74 Auch offenbart er, wo dies angemessen ist, bereitwillig seinen Namen. 75 Warum aber hat er dann wieder groß angst [...] das siejn kennen solten (II S. 406,4-7; vgl. 406,14-17)? Warum ist es Lancelot nicht recht, wenn man ihn errät, und warum wagen auch, die es wissen, nicht, es zu sagen? Warum ist der Name eine Sache, die die anderen nichts angeht? Offensichtlich gibt es einen Bruch zwischen der kontingenten Einzelperson und der mit dem Namen verbundenen exemplarischen Rolle, mit dem, was ,Lancelot' für die Artusgesellschaft, aber auch als Vorkämpfer für seine Dame bedeutet. Das zeigt sich an der seltsamen Episode, in der Lancelot, nachdem er schon lange bekannt ist, zwar seinen Namen nicht nennen will, aber sein Gesicht entblößt, so daß Artus ihn erkennen kann (II S. 431,10-20). 1 6 Hier wird die Differenz aufgerufen zwischen dem mit dem Namen verbundenen Renommee und dem Namensträger, der für die, die ihn kennen, an seiner Physiognomie erkannt werden kann, d.h. zwischen der ,öffentlichen' Person ,Lancelot' (,der beste Ritter der Welt') und der Einzelperson mit ihren charakteristischen Gesichtszügen. Das Defizit der Namenlosigkeit des Helden wird also zwar verhältnismäßig früh behoben (für den Leser existiert es ohnehin nicht), so daß der Mangel einer ungewissen Stellung in der Rittergesellschaft nicht länger bestehen müßte.77 Daß er zusammen mit dem Namen nicht die verlorene Herrschaft seines Vaters und also nicht die Stellung eines Königs wiedergewinnt, wird keineswegs als Defizit erzählt, sondern erlaubt, die Außergewöhnlichkeit und das Ansehen des ,besten Ritters der Welt' noch einmal zu steigern.78 Die Selbsterniedrigung läßt damit das Lob nur desto heller strahlen. 74
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II S. 247,17-20. Auch das Bemühen, dem Verdikt des rüemens zu entgehen (PrL I S. 291,13), erklärt die Maskeraden nicht vollständig (vgl. Klinger, 2001, S. I27f.). So II S. 2 9 1 , 1 4 - 1 9 (hier scheint der Name des Vaters für den Fragenden Garant für Lancelots Tüchtigkeit zu sein); so II 374,19-23 (hier verschafft ihm die Preisgabe von Name und Geschlecht die Befreiung aus Gefangenschaft); vgl. II S. 456,15; 460,8; 472,26; 526,i8f.; 590,16-18. Vgl. II S. 104, 25-28. Etwas anderes ist es, wenn Morgane Lancelot zwingt, seinen Helm abzunehmen, ihn erkennt und ihm droht: da geht es um die Identifikation eines Feindes, nicht um das Verhältnis von Fama und kontingenter Person. Deshalb hatte sich Lancelot auf die Auskunft beschränkt: Ich bin ein ritter von konig Artus hoff, geselle von der tafeirunde und mynerfrauwen der konigin ritter (II S. 392,19t). Klinger (2001), S. 52-54 sieht in Lancelots Namenlosigkeit weithin ein Moment der Labilität und des Verlustes an adelig-herrschaftlicher Identität. In der Tat kann die Namenlosigkeit auch in dieser Perspektive erscheinen, aber doch immer nur, damit diese Interpretation zurückgewiesen wird. Z u eng dramaturgisch-technisch ist die Meinung, das Spiel von „Spurenlegen und -verwischen" (Reil, 1996, S. 15) solle das Interesse am Helden wach halten und seinen exzeptionellen Rang immer neu bestätigen. Klinger (2001), S. 55; 66. Darin unterscheidet sich der Prosa-Lancelot von anderen Erzählungen der Namenssuche. Klinger (S. 89) sieht darin einen Defekt, der Lancelots Laufbahn von Anfang bis Ende beeinträchtige. Aber Lancelots enterhniß tangiert an keiner Stelle seinen Rang als Ritter (anders Klinger, S. 114). Wenn eine Integration „von Herrschaft und Rittertum für Lancelot nicht denkbar 208
Der verweigerte Name: , Prosa-Lancelot'
Im A n f a n g , bevor er sich der Königin offenbart hat, könnte es scheinen, als gehe es noch darum, ritterliche E h r e zu akkumulieren, damit die Geliebte seinen Wert erkennt, wenn sie von seiner minne erfährt. 79 Danach aber müßte ihm doch daran gelegen sein, daß Ginover alles erfährt, was er in ihrem Dienst vollbringt. D o c h fährt er fort, seine Identifizierbarkeit zu blockieren und will als unbekante[r] ritter (I S. 276,33) agieren. Lancelots Verweigerung des Namens zwingt dazu, den Blick weg vom Repräsentanten kollektiver Werte und hin auf die kontingente Einzelfigur zu wenden. 80 Das geschieht paradoxerweise gerade dadurch, daß er als ,bestimmter Anonymus' auftritt, als an seinen Waffen kenntlicher, aber nicht als Lancelot identifizierbarer Ritter. 8 ' Lancelot spielt das Spiel, daß der Unbekannte sich irgendwann enttarnt und man im exemplarischen (weißen, roten, grünen usw.) Ritter den Träger eines bestimmten Namens entdeckt, daß also kontingente und exemplarische Person zusammengeführt werden, nicht zu Ende. Prinzipiell wäre ja möglich, daß der Ritter sich in viele Masken vervielfältigt, damit er am Ende als Träger aller Masken identifiziert wird. So geschieht das z.B. mit Ulrich von Liechtenstein. A b e r Lancelot will nicht identifiziert werden. Indem er immer andere Farben wählt, ohne das Rätsel aufzulösen, kappt er die Verbindung zwischen sich und dem exemplarischen Repräsentanten von Rittertum. Selbst die Ritterrolle gibt er zeitweise auf, wenn er gewapent one helm und one schilt also auch nicht an seinen Waffen identifizierbar - ausreitet und den Schild verdeckt von einem Knecht tragen läßt (I S. 219,30) oder wenn er vorgibt, wegen Krankheit einem Turnier fernbleiben zu wollen, damit er noch von fremden noch von heimschen erkannt wird (III S. 394,iof.; 395,16). E r nimmt achtlos die Rüstung eines anderen, auch eines noch gänzlich unbekannten Anfängers (III S. 3 9 6 , 1 3 - 3 9 7 , 1 1 ; 405,if.), ja legt sogar die des ewigen Verlierers Keie an (II S. 647,5-9), obwohl dem dann die Taten zugerechnet werden, die Lancelot vollbringt (II S. 650-652). Die Zuschreibung von Taten und der damit errungenen Ehre an einen Namen wird damit blockiert. Allerdings, nur für die Artusgesellschaft, nicht für den Leser können Lancelot und der bekannte Musterritter ,Lancelot' auseinandertreten. Die prätendierte K o n -
ist" (S. 152), dann mindert dies sein Rittertum gerade nicht. „Seine soziale Position ist ihm gleichg ü l t i g " (S. 1 5 5 ; zur Herrschaftslosigkeit auch Reil, 1996, S. 104; sie sei B e d i n g u n g seiner „ M i n n e Identität"). Allein „ v o m Beginn der D o l o r o s e G a r d e - A v e n t i u r e bis zum E n d e der ersten G a w a n - S u c h e " zählt K l i n g e r (2001), S. 1 1 5 sechs verschiedene wapen, doch setzt sich das später fort. 80
"
A u f die „nicht mehr austauschbare[ ] P e r s o n " : Ingrid Hahn: Z u m Selbstbezug der Person im ,ProsaLancelot', in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte (2005), S. 2 2 5 - 2 5 6 ; hier S. 230. S o wählt er einmal statt des weißen einen roten Schild mit silbernen Barren, dann einen einfach roten, umb das er irolt das man sjn höre nit keilte noch dem urtoge (I S. 1 9 7 , z j f . ) , dann verdeckt er auch diesen, schließlich trägt er einen silbernen mit schwarzen Barren und dann noch einen ganz schwarzen und einen ganz roten. E r läßt sich einen anderen Schild geben, das ich nit behaut uiird; wann es mocht der den schilt den ich her gefurt han gesehen, er kennet mich und trust darnach were ich were (II S. 5 9 6 , 2 1 - 2 3 ) .
209
Namensspiele tingenz steht vor dem Hintergrund gesicherter Exemplarität. Als Unbekannter kann Lancelot scheinbar den berühmten Lancelot vom Lac überbieten: Lancelot vom Lac, der der best ritter sol syn von aller weit, gedet nye halb als vil als der mit synem lib off dißen hutigen tag getan hat, bemerkt der König, wenn er einen besonders guten Kämpfer sieht - es ist natürlich Lancelot (II S. 4io,24f.). 82 Man glaubt, nur der berühmte Lancelot sei in der Lage, einem unbekannten Fremden (natürlich ist es Lancelot) Paroli zu bieten (II S. 407,7-11). Man sucht am Unbekannten Schwächen, die ihn von .Lancelot' unterscheiden könnten (II S. 604,22-25). Gawan wünscht sich einen spektakulären Kampf zwischen dem Unbekannten und Lancelot (II S. 4i9,i4f.). Lancelot multipliziert seine Präsenz als bester Ritter, tritt einmal als er selber, einmal als sein einziger ebenbürtiger Rivale, einmal als irgend jemand sonst auf. 8 ' Indem er die Komplexität der sozialen und individuellen Zuschreibungen, die sich gewöhnlich mit dem Namen verbinden, verweigert, muß er sich als namenlos inszenieren. Lancelot ,macht sich einen Namen', indem er seinen Namen verschweigt. Durch die Verweigerung des Namens wird, in scharfem Gegensatz zu Lanzelet und Wigamur, die Integration in die Feudalordnung verhindert.84 Lancelot sucht nicht seine Heimat, den Ort, wo man ihn kennen müßte, sondern die Fremde. 8 ' E r .gehört' nicht selbstverständlich ,dazu'. Deshalb bedarf es einiger Anstrengung - und der Mitwirkung Ginovers um ihn für die Artusrunde zu gewinnen; er lehnt deren gesellekeit ab, obwohl Artus selbst wie die anderen sich um ihn als geselle bemühen. Und so ist er auch, obgleich erster Repräsentant ihrer Werte, nie voll in die Artusrunde integriert.86 Deren Mitglieder sind stets untereinander kenntlich, wann sie all off ein maßge^eichent warn (II 410,7). Nicht so Lancelot: Als bester Ritter kämpft er manchmal für, manchmal gegen sie und entscheidet damit den Kampf. Damit will er keineswegs bloß spielerisch seine Kräfte gegen die besten Ritter erproben und zeigen, daß er auch ohne seine Fama der beste ist, sondern seine Parteinahme ist blutiger, für die Artusrunde verheerender Ernst: als bald er sich wiedder die von der tafelronde gestalt hatt, dot er was im begegnen mocht (II, S. 410,iif.). Und was für die Artusrunde gilt, gilt auch für sonstige Parteiungen in der Ritter-
Vgl. II S. 418,17f.; Artus glaubt, der Fremde hätte alle unser gesellen von der tafeirunde machen umbwenden und die flucht thun geben (II S. 419,19f.). s ' Lancelot kann, der mapen halb [...] verwandelt, d.h. in neuer Rüstung, immer wieder als ein anderer sich an die Spitze ritterlicher Ehrkonkurrenz setzen (II S. 429,18). Wenn gefragt wird, wer der grüne Ritter war, der alle besiegte, weist Lancelot auf einen anderen (II S. 426,2-4), um als weißer Ritter den grünen und ,Lancelot' in den Schatten zu stellen. Klinger (2001), S. 121 spricht von „Negation von Gesellschaftlichkeit"; vgl. S. 1 2 ; . E r verläßt den Hof, wann wurd ich bekant, es rnüst mir sere schaden (I S. 200,22); da det er sich füren in das fremdest iant das manyrgen künde finden, das er nicht enwolt das manyn bekente (I S. 202,30-32). ,Er ist von mym lande nicht', sagt Galahot. ,Also enist er auch von dem mynen', sprach der konig, ,als ich wenen wii' (I S. 284,3 χ f.). "
Voss (1970), S. 50-58 zum problematischen Verhältnis Held - Hof. 210
Der verweigerte Name:
,Prosa-l^ancelot'
weit, in denen Lancelot mal für die eine, mal für die andere Seite engagiert. Wo bei Wolframs Parzival das wahllose K ä m p f e n mal auf der richtigen, mal auf der falschen Seite Zeichen für das Schicksal des roten Ritters ist, der noch nicht wieder Parzival sein darf, ist es für Lancelot die angemessene Existenzform. Freiwillig stellt er sich als einzelner gegen das Kollektiv, isoliert sich mit verstalt wapen als ,Fremder' (II S. 604,9). A n Lancelot wird das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft zum Problem, und dieses Problem wird ausgehend vom Namen entfaltet. Die Isolation von der Gemeinschaft weckt Aggressionen. Nachdem Lancelot beim Turnier vom K a malot den Namen verheimlicht und unerkannt in fremden Waffen — das er nit bekant wurd (II 403,13) - gegen die Tafelrunder gekämpft hat, bricht die latente Rivalität zwischen der Gruppe und dem ,besten Ritter der Welt' offen aus. Noch bevor klar ist, auf welcher Seite Lancelot kämpfen wird, beschließen die Tafelrunder, sich aus dem Turnier zurückzuziehen, sollte Lancelot zu ihrer Partei gehören, denn dann werde ein etwaiger Sieg ohnehin nur ihm gutgeschrieben (II S. 4 0 1 , 1 4 - 2 1 ) . Später wecken Lancelots alle anderen Ritter überstrahlender Ruhm, seine Taten, die den Gegnern der Artusrunde zum Sieg verholfen und den hochmut [...] von der tafelrond genydert haben, einen tödlichen Neid: Der reden wurden sie so sere %ornig das sie darnach Lanceloten nymmer me lieb gewunnen und haßtenyn biß inn den dot (II S. 4 3 7 , 1 2 - 1 $).8" Von dieser Feindschaft sind die hervorragendsten Mitglieder des Hofs anfangs ausgenommen. Sie bleibt lange Zeit folgenlos und könnte ein blindes Motiv scheinen, käme sie nicht später im Haß zwischen der Artus-Gawein- und der Bansippe und in den Auseinandersetzungen, die zu Artus' Tod fuhren, zum Ausbruch. Handlungslogisch wird Lancelot vom Untergang des Artusreichs entlastet. 88 Das zeigt, daß der Bruch ein struktureller ist, indem sich der herausragende Einzelne und die Gemeinschaft unversöhnlich gegenüberstehen. Lancelots freiwillige Fremdheit ist für die Hofgesellschaft um Artus unerträglich, denn er stellt ein zentrales Moment höfischer Gesellschaftlichkeit in Frage. Der H o f sucht, in Unkenntnis des Ehebruchs mit der Königin, den best ritter von der welt (I S. 2 1 8 , 1 2 f . ) für sich zu reklamieren, während Lancelot wegen dieses Ehebruchs immer Außenseiter bleibt. Seine faktische, durch die Fama nur verdeckte Außenseiterposition ist daran erkenntbar, daß er unablässig gesucht werden muß. 8 ' Die Suche hat meist das Ziel, ihn in die Tafelrunde (zurück) zu holen, aber auch - wenn er nach dem Zerwürfnis mit Ginover in sym hemd und barfuß (II S. 784,20) den H o f verläßt —, ihn davor zu bewahren, sich selbst ganz zu verlieren (II S. 783-785). Über weiteste Strecken des Romans ist Lancelot abwesend oder wird sogar für tot ge-
,7
Vgl. II 4 3 2 , 2 1 - 2 3 ; schwächer die Reaktion II S. 6 1 1 , 2 2 - 2 4 . "« S. 4 7 6 f . *' D i e Suche nach Lancelot ist einer der wichtigsten Handlungsimpulse. Sie wird mit der Suche nach dem G r a l verglichen (I 254,20): In Lancelot ist ein weltimmanentes Ritterheil materialisiert. 211
Namensspiele halten (II S. 518,27). 90 Seine Abwesenheit hält die Handlung in Gang; wenn er irgendwo erscheint, dann wirkt das unwahrscheinlich: Lancelot? [...] das wait gott, ich meynt, er were dot (II 283, i6f.). Die Gerüchte über seinen Tod sind Ausdruck seines ambivalenten Status: Als Toter lebt er hochgepriesen in der memoria fort, als Lebender stört er durch seine ehebrecherische Liebe die Ordnung, die sich in seinem Ruhm spiegeln will (II S. 232-236). Die Entfremdung zwischen Einzelnem und Hof scheint der Grund dafür, daß Lancelot sich als Außenseiter ohne Name, als armer enterbter ritter (II S. 541,7) inszeniert. Einen armen ritter (I S. 510,6; II S. 277,154), nennt er sich, wo er sich mit Potentaten vergleicht, die ihn als besten Ritter preisen. Das steigert seinen Glanz. E r tritt ohne Gefolge auf (II S. 669,z(.) und nennt sich bei all seinem Ruhm einen landlosen, aus seinem Erbe vertriebenen, unglücklichen Ritter: sitt der %ytt das ich in der wiegen lag da verlor ich mynen vatter, der ein frümm man und gut ritter was. Ich ward enterbt und vertrieben uß mjner herschafft und so jungk darußgeworffen, die nit klein enwas so mir die bliben were (II S. 271,9-12). Doch scheint der soziale Aspekt nebensächlich. Anders als die Artusritter sonst,9' kümmert er sich nicht darum, den Mangel zu beseitigen. Erst spät setzt der Artushof - und keineswegs Lancelot selbst (II S. 683,2) - die Rache für die ungetruwe verretery, die Lancelot um sein Erbe gebracht hat, in Gang 92 und fangt einen Krieg an, um es zurückzuerobern (II S. 679,28f.). Lancelot bleibt diesem Krieg fern (II S. joj, Natürlich kann dadurch sein Erscheinen als kriegsentscheidend erzählt werden, doch vor allem zeigt sich seine Distanz zur Herrschaftsordnung. Da er in ihr keinen Platz hat, wird er nicht als als Feudalherr restituiert,94 sondern kehrt in seine doppelt prekäre Rolle am Hof des Artus zurück, in die kollektive Identität des besten Ritters und die labile Identität des Liebhabers der Königin. Die Rückeroberung seiner Herrschaft geht bezeichnenderweise der Geschichte von Lancelots radikalster Isolation, dem längsten Selbstverlust im Wahnsinn voraus, durch den der Held zeitweise völlig aus der Artuswelt verschwindet und von allen aufgegeben wird.95
90
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" 94
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II S. 667,19; 678,2 u.ö. Diese Befürchtung gilt manchmal auch für andere Artusritter (II S. 556,23; 580,16). Der Status der wandelritter erscheint allerdings durchweg mit Landlosigkeit assoziiert (so auch bei Gawan II S. 576,11; 2of.); vgl. Knapp (1986), S. 1 4 - 1 7 ; zu den sozialgeschichtlichen Hypostasierungen widersprechenden Folgerungen S. 1 8 - 2 1 . Claudas hat ihn um sein Erbe gebracht und hat es weiter inne (II S. 55i,4f.). E r höhnt, daß Lancelot so frumm und byderb ist das er nit eins fuß breit lands hat das syn sy (II S. 5 J9,26f.). Gewiß wird das auch mit Ginover motiviert: Lancelot hat gut leben mit dem konig, noch vil beßer leben hett er mit der koniginn, wann sie im nichts versagt wes er an ir begeren odergesynnen was (II S. 7 0 8 , 1 3 - 1 5 ) . Sein Erbe wird an andere übertragen. Zwar erhält er von Artus das land von Gäulen, doch gibt er es an Lionel weiter, und die Länder des Claudas erhalten andere; Bonewig, das dieser Lancelots Vater abgenommen hat, geht an Lancelots Halbbruder Hector (II S. 777). Solcher Verzicht kennzeichnet nicht Lancelot allein; Bohort weigert sich gleichfalls, Herrscher zu werden; er will Ritter bleiben. S. 262-269. 212
Der verweigerte Name: , Prosa-Lancelot' D e r Held ,zerfällt' zwar nur scheinbar „in eine Vielzahl unverbundener Erscheinungen". 9 6 In Wirklichkeit ist er - v o n A n f a n g an für den Rezipienten und bald auch für den A r t u s h o f - immer derselbe: der Musterritter schlechthin. A b e r welche Person hinter solch einem Musterritter steht, wird immer wieder als zweifelhaft erzählt. Dahinter steckt letztlich ein religiöses Identitätskonzept. 9 7 A u f f ä l l i g e r w e i s e nämlich verschweigt Lancelot nur in seiner Ritterkarriere seinen N a m e n ; in der Beichte nennt er ihn sofort (III S. 8 i , i 4 f . ) , denn hier geht es um sein Seelenheil als ein einzelner Mensch, während es dort um das Verhältnis zu einer exemplarischen R o l l e geht. 98 Lancelot sucht seinen N a m e n - den N a m e n , den er an seinem künftigen G r a b erfuhr - durchweg v o n seiner Fama als Ritter getrennt zu halten. E r zieht es vor, anonym zu sein statt der berühmte Lancelot. 9 9 E r löscht sich, indem er den N a m e n verweigert, gewissermaßen aus. 100 Damit hängt zusammen, daß Lancelot zwei N a m e n trägt. Z u B e g i n n des R o m a n s erfährt man nämlich, der N a m e Lancelot sei nur der %uname gewesen, wann er was getauffet
Galaad
(I S. 1,7). 1 0 1 A b e r das ist nicht nur ein N a m e , der geistliche Ver-
wandtschaft anzeigt." 52 D e r N a m e Galaad ist nämlich als N a m e des Großvaters auch genealogisch begründet; Lancelot erfährt: Din rechter nam ist Lancelot nit, du wurt in dem tauff Galaad genant; wann din vatter nante dich selb also, wann sin vatter denselben namen het (I S. 6 1 7 , 7 - 9 ) . E b e n s o k o m m t der N a m e Lancelot in der gens vor, wieder für Lancelots Großvater. 1 " 5 D e r Widerspruch m a g sich aus dem Kompilationscharakter des Werks ergeben. 1 0 4 Lancelot-Galaad war vielleicht als Erlöser vorge96
K l i n g e r (2001), S. 1 1 6 ; vgl. aber S. 1 1 9 zum Wissen des Lesers.
ψ
Mertens (1994), S. 391: Allerdings ist dieses anfangs noch nicht mit ,Sünde' verknüpft. D e r R u h m als Ritter setzt nicht unbedingt Kenntnis der Einzelperson voraus. S o heißt es v o n Bohort: Bohort deth so viΊ vor aller ritterschafft dasyn die von Rom kanten und hettenjne doch nye gesehen (II S. 754,Z2f.). In dieser Reaktion unterscheidet er sich grundlegend v o n G a w a n . G a w a n repräsentiert exemplarisch den A r t u s h o f als Ordnungsinstanz in einer chaotischen Welt; er muß daher in allem, was er tut auf diese Instanz verweisen.· my η name wart nie manne verholn derjn wißen ii'o/t; ich emiil/en auch vor uch nit he/n: ich heißen Gawan des konig Ar/us neve (I, 4 2 2 , 4 - 7 ; ähnlich II S. 584,4^). D a s scheint — auch ausweislich der , C r ö n e ' - zur Charakteristik der G a w a n - G e s t a l t zu gehören, was nicht ausschließt, daß G a w a n unter bestimmten B e d i n g u n g e n (z.B. W P a 6 2 0 , 2 - 1 0 ) sein Incognito wahren möchte.
98
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In H a n d l u n g umgesetzt ist diese Selbstauslöschung in Hartmanns , G r e g o r i u s ' . K l i n g e r (2001), S. 315—321 hat das intrikate Verhältnis der beiden N a m e n und ihre genealogischen Implikationen untersucht. Ihre E r g e b n i s s e sind im folgenden vorausgesetzt. Reils Vermutung (1996,
S. 59f.), daß sich im doppelten N a m e n die . A u f s p a l t u n g ' in Artus- und Gralsbereich spiegelt, hat keine Basis im Text, denn die Bansippe gehört beiden Bereichen an. 102 S o K l i n g e r (2001), S. 3 1 7 . '°> Wenn Lancelots Sohn Galaad im Sorglichen Wald das G r a b dieses Großvaters entdeckt, erfährt man, daß er gleichfalls den N a m e n Lancelot trug (II S. 5 2 1 , 4 - 7 ) . Z u v o r hat Lancelot das G r a b eines Galaas [Galaad?] (I S. 6 1 5 ) g e ö f f n e t , der laut K l i n g e r (2001), S. 3 1 7 als „patrilinearer Spitzenahn" aufzufassen ist. Wie man das Verhältnis im einzelnen erklären mag: Allein der, der nur Galaad ist und nicht wie der ältere und jüngere Lancelot einen berühmten Ritter-Namen (daneben?) trägt, kann den Gral gewinnen. Während Lancelot Galaas erlösen kann, bleibt die E r l ö s u n g des älteren Lancelot Galaad vorbehalten. ,0 1
" E i n e in der Genese des L a n c e l o t - S t o f f e s angelegte V e r k n ü p f u n g zweier Traditionen ist nicht ausge-
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3
Namensspiele
sehen. Die Lancelot-Kompilation legt dieses Wissen in die genealogische Abfolge Lancelot/Galaad - Ban - Lancelot/Galaad - Galaad auseinander. In dieser Reihe trägt der Erlöser nur einen Namen: Galaad. Galaads Vater Lancelot-Galaad ist als Ehebrecher für diese Rolle nicht mehr geeignet; 10 ' so darf er zwar den Namen Lancelot behalten, aber den anderen Namen ,vergißt man', denn die einem Galaad vorbehaltene Aufgabe wird auf den reinen, von jedem Makel freien Sohn übertragen. Der doppelte Name deutet darauf hin, daß, anders als im ,Lanzelet' und ,Wigamur', die mittels des Namens angestrebte Verknüpfung des einzelnen mit einem Ganzen, mit seinem Geschlecht, mit der höfischen Adelsgesellschaft oder darüber hinaus mit einer quasi heilsgeschichtlichen Aufgabe wie dem Gralsabenteuer, mißlingt. Wenn der Erzähler den Namen Galaad neben dem bekannten Namen erwähnt, zeigt er, daß Lancelot nicht, wie der Held des höfischen Romans doch sonst, mit seinem Namen eine eindeutige Bestimmung erhält. Das genaue Verhältnis zwischen den verschiedenen Lancelots und Galaads ist unsicher, und unsicher ist die Bedeutung der Namen. Beides sind Gentilnamen, ,Galaad' aber ist mehr als nur das, bezeichnet nämlich eine Bestimmung. Dieser Name kommt Lancelot abhanden. Der Name Galaad paßt auf Lancelot, mag er auch genealogische Tradition haben, insofern gerade nicht. Wenn ,Galaad' als Lancelots Taufname der rehte[] nam ist, den schon ein Ahnherr führte, wie kam es dann zu dem ^uname[n] Lancelot, und was bedeutet ein solcher %uname? Mit Lancelots Namen ist etwas nicht in Ordnung; er ,gehört' dem Helden nicht einmal wirklich zu. Da der Erzähler den Doppelnamen rasch vergißt, bleibt der zweite Name erratisch. Trotzdem verstärkt er die Unsicherheit darüber, wer der Held ist. Kein Name kann ihn voll identifizieren. Lancelot steht im Schnittpunkt zweier Ordnungen, einer gentilen und einer heilsgeschichtlichen. Durch seinen Namen hat er an beiden teil, doch gehört er beiden nicht voll zu. Im Schnittpunkt der Namen wird die kontingente Einzelperson sichtbar, der die Distanz zur Erlöserrolle ebenso eingeschrieben ist wie die zum vollkommensten Ritter. Auch wenn der Doppelname überlieferungsgeschichtlich erklärbar wäre, ist er insofern kein blindes Motiv, denn
schlossen, muß aber Vermutung bleiben. Es könnte eine Kontamination der Namen des ,besten Ritters' und des Gralserlösers vorliegen; man wußte vielleicht, daß es — neben Parzival - in der Sage zwei Namen von Rittern gab, denen es gelingt, die Artus-aventiuren zuende zu bringen und den Gral zu erringen, und man wußte, daß der eine Lancelot hieß und der andere Galaad. Was lag da näher, als die Namensträger zur selben Person zu erklären, ihre Geschichten aber doch auseinanderzuhalten? Der ,Prosa-Lancelot' ist als Summe angelegt, fuhrt also vielfältige Geschichten um Lancelot zusammen. Der Erzähler glaubte vielleicht, am Namen des Gralshelden und Erlösers nicht vorbeigehen zu können. Genutzt für das Gewebe seiner Erzählung hat er den zweiten Namen nicht. lo ' Lancelots Vater Ban ist wie Lancelot durch eine sunde befleckt, die er det mit einer jungfrauwen sither das er din mutter gekaufft het (I 6i7,6f.; vgl. II 307,10-13). An dieser Stelle ist die Schuld des Vaters der Grund, daß Lancelot die aventiuren um den Gral nicht zuende führen kann. Erst später wird das Scheitern aus seiner eigenen Verfehlung begründet. Auch Schuld ist hier genealogisch gefaßt.
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Der Name als individuelle Lebensformel
er zeigt, daß der, der Lancelot (oder auch Galaad) heißt, weder mit dem ,Lancelot, den jeder kennt' identisch ist noch mit,Galaad, auf den das Gralsabenteuer wartet'. Die Verknüpfung von Name und Bestimmung wird ebenso gelöst wie die Verknüpfung von Name und Fama. Lancelot ist meist nicht ,Lancelot'.
Der Name als individuelle Lebensformel Die Entdeckung der Spannung zwischen Name und Einzelperson motiviert Geschichten, in denen der Name nicht mehr das Verhältnis zu einem Kollektiv anzeigt, sondern den Einzelnen charakterisiert. Eine Lebensformel enthält der Name des Helden des ,Wilhelm von Österreich', der explizit nicht Gentilname ist.'°6 Der Familientradition nach sollte er nämlich nach dem Vater Liupold heißen (WvO 5 54).107 Der Vater verfügt jedoch: der tt'ol gestalt ist von hoben gnaden komen, auch ban ich durch in genomen viI wilder vert vest, da von mich dunket da%_ beste da\ man in hai^e Wildhalm (556-561).
.Motiviert' ist dieser Name durch den ersten Bestandteil (wilde) auf zweierlei Weise, durch die abenteuerliche Fahrt des Vaters ans Grab des hl. Johannes in Ephesus und durch die gnadenhafte Geburt. Später kommt die wilde - d.h. ungewöhnliche, abenteuerliche - Lebensgeschichte des jungen Ritters hinzu. Der Name ist sprechend' und auszeichnend'. Es ist der erfundene Name des Protagonisten einer ,wilden' Aventiure; der Name soll etwas über das ,Wesen' des Helden sagen und fällt daher aus genealogischer Kontinuität heraus. Die Herauslösung aus der Dynastie potenziert sich, wenn Wildhelm den väterlichen Hof verläßt, um das Traumbild der Geliebten zu suchen. Dabei läßt er alles zurück, was ihn von Geburt an auszeichnete: die Expektanz auf die Thronfolge, das
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D e r N a m e des Helden sollte aus diesem G r u n d nicht mit dem (genealogisch möglichen) N a m e n ,Wilhelm'/ ,Willehalm' wiedergegeben werden; zusammenfassend zur Namensdiskussion Schneider (2004), S. 13of.; 134f.
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E i n e Stuttgarter Handschrift (S) fügt einige Verse hinzu. Wo der Vater sich für seine Namenswahl darauf beruft Got selber in vns bot gegeben (S. 279, I 1), besteht die Mutter auf leupolt und setzt sich auch zunächst durch: Si schuff do da^ da% kindelein fein/Wart geteuffet leupolt (S. 280, I ι γ ί . ) , aus Liebe zu ihrem M a n n , und das bedeutet auch in der Tradition der Dynastie; doch zuletzt setzt der N a m e , den der Vater g e g e b e n hat, sich durch Yedoch vor so hot er/In genennet Wildehelm (S. 280, I 2 j f . ) ; vgl. Schneider (2004), S. 1 3 7 - 1 3 9 . Wie w e n i g die unterschiedlichen Bestimmungen reflektiert werden, zeigt sich daran, daß der Disput über den passenden N a m e n entweder ein Z u s a t z ist, der ohne Schaden für das ganze weggelassen werden konnte, oder - falls er zur ursprünglichen K o n z e p t i o n gehörte - Abschreibern entbehrlich schien.
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Namensspiele herzogliche Geschlecht des Vaters und den vom Vater gegebenen Namen. A m fremden H o f von Zyzia nimmt er daher das Pseudonym Ryal an. ,o8 Erst als er von dort vertrieben ist und sich in wilder aventuer (9 54z) bewährt, sich also durch Taten seinen Namen verdient, darf er geslaht und namen offenbaren (95 5 6f.). A n diesen Namen heftet sich sein Ruhm. Doch jetzt kann seine Geliebte ihn unter seinem wahren Namen nicht erkennen. Z u r Rede gestellt, rechtfertigt sich Wildhelm-Ryal damit, daß er seinen richtigen Namen aus ,Scham' verschwiegen habe (95 5 8-9560). 109 Scham ist das Antonym von ere. Durch Verzicht auf die angeborene ere war Wildhelm nicht mehr Wildhelm. Aber erst als ,Wildhelm' hat er sich für die dynastische Verbindung qualifiziert, die dem Liebhaber ,Ryal' noch verwehrt worden war. Anders als Lancelot-Galaad wird die doppelte Namengebung nicht zum Problem und eröffnet nicht die Möglichkeit, den Helden in Distanz zu seinen vorgeprägten Rollen zu bestimmen, sondern die Namen bezeichnen zutreffend mehrere Seiten seiner Existenz, die strikt nacheinander entfaltet, dann aber aufeinander bezogen werden. Dabei spielt der eine, dynastische, in der Erzählung kaum eine Rolle." 0 Wichtiger ist Ryal. Mit ihm ist Wildhelms Schicksal als unglücklich Liebender verbunden. E r legt diesen Namen ab, wenn er zur angeborenen ritterlichen Existenz (,Wildhelm') zurückfindet. Der Held wird durch seine drei Namen keineswegs individualisiert', sondern jeweils durch ein anderes Allgemeines bestimmt: als Vertreter einer Dynastie und als Träger der Prinzipien äventiure bzw. minne. Mit dem dynastisch korrekten Namen Friedrich, den Wildhelms Sohn erhält, schwenkt der Roman wieder in die Herrscherreihe Österreichs ein. Z u m Problem wird der Name als Lebensformel in Gottfrieds Tristan'." 1 Die Tristan-Sage kennt immer schon verschiedene Namen für ihren Helden, da dieser als trickster unterschiedliche Rollen zu erfüllen hat und Rollenwechsel sich häufig mit Namenswechsel verbindet. Von diesem Typus setzt Gottfried sich jedoch ab, indem er den Namen Tristan im emphatischen Sinn als Eigen-Namen einführt. Der Name verknüpft den Helden mit einem Schicksal. Eine aufwendige Kettenhand-
j0
' Die Suche nach einer sinngebenden Deutung des Namens (oder gar die Anlehnung an den Rual des .Tristan') scheint mir verfehlt: ,Ryal' soll hauptsächlich exotisch klingen. Vollmann-Profe (1991), S. 126 schließt daraus, daß „der Name und mit ihm die soziale Identität des Helden für seine Existenzweise belanglos sind". Das gilt zwar für sein Verhältnis zu Aglye, doch hat seine Liebe erst in dem Augenblick eine Chance, in dem er seine soziale Identität wiedergewinnt und der angenommene durch den angeborenen Namen ersetzt wird. Erst recht nicht für den Helden selbst. Daher würde ich nicht von „Suche nach einer Identität" sprechen (Schneider, 2004, S. 138). Auch scheinen mir die in den Namen gesetzten Ansprüche nicht „unversöhnlich" (S. 141). " ' In Gottfrieds ,Tristan' gibt es neben der radikalen Individualisierung von name auch die konventionelle Verwendung als Bezeichnung für einen Status: gedenket iuwers namen an mir (10160), warnt Tristan Isolde davor, sich blutig an ihm zu rächen. E s ist die mit dem namen Frau umschriebene höfische Rolle, die Isolde verbietet, Gewalt gegen einen Wehrlosen zu gebrauchen.
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Der Name als individuelle Lebensformel lung erzählt, wie das kleine K i n d seinen N a m e n erhält, und verleiht der N a m e n g e b u n g G e w i c h t ( G T r 1972-2020): D e r taufende Priester fragt Tristans Pflegemutter (die als wirkliche Mutter gilt), wie das K i n d heißen soll. Diese weiß es nicht und unterbricht den Taufakt; sie entfernt sich {gie dari) und fragt ihren Mann, der Vaterstelle an Tristan vertritt und insofern zur N a m e n g e b u n g berechtigt ist: D e r N a m e ist nicht dynastisch vorgegeben; er muß umständlich ,geholt' werden. Rual denkt angestrengt (ange und ange, 1982) über einen N a m e n nach, der zu dem K i n d paßt. Dabei orientiert er sich an des kindes dinc von ende her (1986); mit dinc ist die Geschichte gemeint, die Tristans G e b u r t vorausging. Dieses dinc ist durch triure (Leid, unglückliche Umstände) bestimmt. Deshalb soll das K i n d Tristan heißen. D e r N a m e ist P r o d u k t einer Geschichte, und Tristans Geschichte wird P r o d u k t des N a m e n s sein. D e r Erzähler erklärt, daß Tristan v o n triste k o m m t und triste mit triurej
trüreclich
zusammenhängt. Tatsächlich beweise das mare, daß Tristans L e b e n im Zeichen der triure verlief, bis zum seinem ende [...]/,
da^ alles todes iibergem·^/und aller triure ein
galle was (2014^). Insofern sei der N a m e ime gevallesame/und alle wis gebare er was reht, alse er hieein man und hie^ reht, alse er was, Tristan.
(2oo2f.):
(2oi9f.)
Tristans Lebensgeschichte ,beweist' den N a m e n , so wie die Wildhelms seinen N a men ,bewies'. D e r N a m e ist an eine Geschichte gekoppelt, aus der der Held nicht einfach aussteigen kann. Dieser s c h i c k s a l h a f t e ' N a m e erweist sich aber, anders als im ,Wilhelm v o n Osterreich' im F o r t g a n g der H a n d l u n g als labil. Mal gilt er als unpassend, mal wird er verändert, mal wird seine semantische K o m p o n e n t e in Frage gestellt. D e r N a m e schafft nicht Sicherheit, indem er sagt, wohin jemand gehört, sondern ist Mittel der Verunsicherung. D i e V e r k n ü p f u n g v o n N a m e und Geschichte wird erstmals in Frage gestellt, wenn der landfremde Tristan in Cornwall Markes Hofgesellschaft seinen N a m e n nennt. E i g e n n a m e und (fingierte) Identität, die der H o f an seinem K ö r p e r ablesen zu können glaubt, passen nicht zusammen: du wärest %wäre ba^genant/juvente
bele et la
riant ( 3 1 3 7 f . ) , sagt man. D i e Semantik des N a m e n s wird also verstanden, aber eben deshalb der N a m e v e r w o r f e n und die eine Lebensformel durch die andere, vermeintlich passendere ersetzt: ,schöne strahlende J u g e n d ' . D e n wahren N a m e n verbergen muß Tristan, wenn er beschließt, in Irland Heilung v o m G i f t der Wunde zu suchen, die er beim tödlichen K a m p f gegen Irlands V o r k ä m p f e r M o r o l d e m p f a n g e n hat. D a s gehört scheinbar zur Geschichte des tricksters. D e r richtige N a m e brächte den Helden in L e b e n s g e f a h r , da der irische K ö n i g alle Fremden aus Cornwall töten läßt. D e r G e f a h r begegnet Tristan, indem er sich wieder eine neue Lebensgeschichte - die eines höfischen spilman (7564) - zulegt und dazu einen anderen N a m e n erfindet: Tantris. D i e N a m e n s f o r m scheint aus dem sprechenden einen kontingenten N a m e n zu machen, doch verschafft sie ihm kein 217
Namensspiele
wirkliches Pseudonym, sondern bleibt vom sprechenden Namen Tristan abhängig. ,Tantris' ist gegenüber ,Tristan' desemantisiert und kann so eine Weile die Implikationen von ,Tristan' abwenden, bleibt aber an die Materialität des Namens Tristan' gebunden und kann dank Isoldes Geschick im Lesen und Zusammensetzen von Silben in .Tristan' zurückverwandelt werden. ,Tantris' setzt nicht die Lebensformel, die sich immer als Ineinander von Erfolg und Scheitern, leit und linge, erweist, außer Kraft, sondern verdeckt sie nur für eine Zeit. Bei Eilhart legt sich Tristan dagegen den Namen ,Pro' zu. Das ist handlungslogisch weit plausibler, wenn der Namensträger nicht entdeckt werden soll. ,Pro' ist Platzhalter für jeden beliebigen Namen," 2 der für den richtigen Namen eintritt. Es ist der Name eines tricksters. Für einen ,Pro' ist jedes Schicksal angemessen. ,Tantris' dagegen ist ein nur scheinbar bedeutungsneutrales Anagramm. Der Name ist zwar auf die Materialität der Laute (oder Schriftzeichen) reduziert, doch ist er darauf angelegt, durch deren richtige Kombination mit dem richtigen Namen identifiziert zu werden. Die Entfernung vom Eigennamen ist minimal. Auslöser der Entlarvung des Tantris ist zwar ein äußeres Zeichen, das Schwert, dem ein Stück fehlt. Es verbindet Tantris unabweislich mit dem Vorkämpfer Cornwalls, der Morold getötet hat, und kennzeichnet ihn als Mitglied des feindlichen Kollektivs. Der Erkenntnisprozeß aber, wie ihn Gottfried erzählt, läuft nicht über das Zeichen, das Tantris den Feinden zuweist, noch über den adeligen Körper des nackt im Bade sitzenden Helden, der seine Rolle als Spielmann dementiert, sondern über den ähnlich-unähnlichen Eigennamen, der Tristan ganz allein zukommt. Damit verschiebt Gottfried den Schwerpunkt der Identifizierung vom ständischen Zeichen (adeliger Körper, Schwert) auf das nur dem Helden zugehörige. Isolde kommt Tristan-Tantris auf die Spur, indem sie die sillaben scheide[t] (10120) und neu zusammensetzt. Wenn sie anfängt, dem Geheimnis der Namen ( 1 0 1 1 2 ) nachzuspüren, dann ist das kein hermeneutischer Vorgang. Sie analysiert scheinbar sinnfreie Bestandteile."' Die Formulierung triben[] in dem munde (10114) meint das sprechende Durchprobieren. Isolde stößt {geviet) zuerst auf die buochstabe (10115), die identisch sind, dann auf die sillaben, die man vertauschen kann. So kommt sie rehte üf des namen spor (10122) und entdeckt, daß ,Tantris' gleich ,Tristan' ist. „so bistu, des bin ich gewis, Tantris unde Tristan: die %ivene sint ein veiger man; da\ mir Tristan hät getan,
das muo% üj Tantrisen gän [...]/"
(1 ο 15 2-1 ο 15 6)
Z u beachten ist allerdings, daß Eilhart der Namenssemantik von Tristrant keine Aufmerksamkeit schenkt. Erst Gottfried sucht die (fremdsprachige) Etymologie des Namens zu erschließen. " ' Vgl. auch die Beschreibung ihres Verfahrens für die Mutter (10605-10626). 218
Der Name als individuelle Lebensformel
Indem beide Namen eteswatζ inein haben (10610), gelangt Isolde von der Identität der Buchstabenkörper zur Identität dessen, was sie bezeichnen. Damit spürt sie im falschen Namen den richtigen auf, mit allen Konsequenzen: „da·.ι alle^ ein was; wan swederhalp ich hin las, sone was ie nime dar an wan Tantris oder Tristan und ie an einem beide." (10615-10619)
Die bedeutungslose Buchstabenkombination führt auf den Namen zurück, der Tristan als sein eigener zukommt; aber Isolde entdeckt damit nicht Tristans Lebensformel. Was sie entdeckt, ist die Materialität eines kontingenten Namens, den dieser eine Mensch trägt, nicht den Namen, der das Schicksal des Helden zu bestimmen scheint. ,Tristan' ist bedeutungsneutral. Beide Aspekte sind in der Episode um Isolde Weißhand miteinander verschränkt. Die Verwirrung dort: beruht zum einen darauf, daß es einen Namen für zwei Personen gibt (Zfo?)."4 Diese Personen sind klar unterscheidbar, doch verknüpft der Name sie. Diese Verknüpfung ist kontingent. Trotzdem nähert sich Tristan durch die anwesende Isolde in der Erinnerung wieder der anderen Isdte (18974). Er schreibt dem Namen der einen Frau die Substanz seiner Liebe zur anderen zu. Zuerst zeigt ihm der Name allerdings nicht Identität, sondern Differenz an, Wahres und Falsches zugleich (19000). In Gegenwart der Isolde Weißhand steigert sich die Verwirrung durch die gestörte Wahrnehmung von Auge und Ohr: des gleichen Namens und des ungleichen Anblicks. swenne er sin ouge an sie verlie, so wart er von dem namen ie
so riuwec und sofreudelos [...].
(18977-18979)
so ime Isöt sin her^e ie me in dem namen Isote brach, so er Isote ie gerner sach. (18994-18996)
Der name, sagt Tristan, irret unde wirret/die wärheit und da% lougen/miner sinne und miner ougen (19000-19002), d.h. die eindeutige Referenz des Namens ist aufgehoben. Es gelingt ihm nicht, Präsenz und Erinnerung auseinanderzuhalten (min ouge, da^ Isote siht,/ da% selbe ensiht Isote niht (19007^. Der Name stimuliert Erinnerung und wehrt diese zugleich durch die Präsenz der Namensträgerin ab." 1 Dem bloßen Klang des lieben namen zu vertrauen (19042), würde deshalb Verrat und Abkehr von der vorgezeichneten Laufbahn bedeuten. Der Name erlaubt einerseits Unterscheidung (diu von Arundele ist nicht hot la bele, 1903 5f.) und verwischt andererseits Unterschiede,
" 4 A u s f ü h r l i c h hat Draesner (1996) diese Szene analysiert. Ich k n ü p f e an ihre Beobachtungen an. 111 Ries (1980), S. 327; vgl. Wisbey (1990), S. 269.
219
Namensspiele
denn er bezeichnet für Tristan ein identisches Gefühl für beide (ich fiirhte, ich aber gisotet si, 19010). In gisotet geht es nicht mehr um nur eine Person. Der Name nimmt generische Bedeutung an, und der von Tristan singende Tristan erfährt sich als ein Tristan, der eine Isolde liebt. Tristan singt vor dem Hof: isot ma drüe, isot m'amie,/ en vüs ma mort, en vüs ma vie (i92i7f.). Er meint die eine, doch die andere muß die Worte auf sich beziehen;" 6 tatsächlich schließen die Worte beides ein. Was aber generisch zwingend scheint, erweist sich als faktisch unmöglich. ,Eine' Isolde ist nicht ,die' Isolde, und ,ein' Tristan ist nicht Tristan. Die Einsicht in die individualisierende Funktion des Namens geht Tristan zuletzt verloren. Er kann sich auf Dauer der Suggestion des Namens, der ein Allgemeines bezeichnet, nicht entziehen. bi^ da'.ζ sin ouch en^unde, da£ ime der name
begunde
den oren senften an der
stete,
der ime da vor unsanfte
tete:
er horte und sach
Isolde
vil gerner danne er wolde.
(19115—19120)
In endgültige Verwirrung stürzt ihn schließlich der eigene Name, dessen Bedeutung zweifelhaft wird. Tristan singt vor Isolde Weißhand den edelen leich Tristanden (19205)." 7 Man erfährt nicht mehr über den Leich, weiß also nicht, ob er nur den Namen seines Verfassers trägt oder den Namen des Helden, von dem er handelt. Vermutlich gilt beides, ist Tristan sein Verfasser und sein Gegenstand, dazu noch der, der den Leich zum Sprachrohr seiner Gefühle macht. Das legt der Rückschluß vom Refrain seiner Lieder auf Isot nahe. In diesen Liedern hat sich der, der den Namen Tristan trägt, verdreifacht. Die eigene Geschichte wird ihm zur fremden, und die fremde erlaubt, die eigene zu artikulieren. Allen dreien kommt der Name ,Tristan' zu, dem Sänger, dem sprichwörtlich berühmten Liebhaber und dem Mann, der der zweiten Isolde den Hof macht. Exemplarische und kontingente Rolle, die mit dem Namen verbunden sind, werden ununterscheidbar. Die Bedeutung seines Namens ist dem Helden selbst undurchsichtig geworden. Verdreifacht ist auch der Name Isoldes. Er meint die Person, für die Tristan singt, die, an die er sich erinnert, und die, von der er singt, und das ist nicht mehr nur die reale blonde Isolde," 8 sondern ,die' Isolde schlechthin, die Geliebte von ,Tristan'. Im leich, den man in allen landen singt und schätzt, ist Tristans Liebe Inbegriff von Liebe überhaupt. 1,6
Bei Heinrich v o n Freiberg ist die Verwechslung trivialer, indem Tristan nur im Bett den Namen, der beiden gemeinsam ist, v o r sich hinspricht (HTr 965) und so die Fragen der Weißhand provoziert ( l o j j f . ) , weil sie den N a m e n auf sich beziehen muß [mir, 1 0 3 ; ) . " 7 Z u diesem leich als Typus höfischer Rede S. j i o f . ; dort auch zu anderen Aspekten der Selbstaffektion. " ' Seltsamerweise ist an dieser Stelle nicht davon die Rede, warum Tristan den Namen immer wieder (ie) ausspricht, sondern v o n der Wirkung, die er auf die anderen hat. E r s t 19412 heißt es, daß er die Worte gerne singt. 220
Der Name als individuelle Lebensformel
Die Namen bezeichnen nicht mehr eindeutig, man kann sich nicht mehr auf ihre Referenz einigen: Tristan der wolte feiner not ein ander Isolde, und Isot diu enwolde keinen anderen Tristanden ( 1 9 5 1 0 - 1 9 3 1 3 ) .
Indem Tristan sich zuletzt an das halten will, was der Name gegenwärtig bezeichnet, die zweite Isolde zu lieben glaubt und zur Frau nehmen will, hofft er ein triureldser Tristan zu werden (19468). Ging es bis dahin um ein Verkennen der Bezeichnungsfunktion von Namen, so kommt jetzt das Verhältnis von Eigenname und Lebensformel ins Spiel." 9 Zu Beginn der Verwirrung hatte Tristan sich vorgeworfen, durch die neue Liebe ein triuweloser Tristan zu sein (19158). Die Ähnlichkeit des Klangs (triure/triuwe) verdeckt wie oft bei Gottfried eine fundamentale semantische Differenz: triuwelds ist ein ethisches Prädikat, das sich aus seiner Entscheidung für oder gegen die Weißhand ergibt. Dagegen ist die Frage, ob Tristan triurelos sein kann, seiner Entscheidung entzogen; triurelös ist, wie man seit langem gesehen hat, synonym mit ,nicht Tristan seiend'. 120 Ein triureloser Tristan wäre eine contradictio in adiecto,12' und der weitere Verlaufhätte das vermutlich auch bestätigt. Trotzdem fällt mit dem Gedanken eines triurelosefn] Tristan die Namensspekulation aus dem bisherigen Rahmen heraus und radikalisiert die Konsequenzen des Tantris-Experiments. Bei einem triurel6se[n] Tristan wäre nicht nur wie bei ,Tantris' die Verbindung zur Semantik des Namens gelockert, sondern diese wäre vollständig gelöscht. Der Name wäre völlig kontingent. Dies ist unmöglich. ,Tristan' bleibt der an seine Lebensformel Gebundene, der exemplarisch Liebende und exemplarisch Leidende, der bei Isolde Weißhand erfährt, daß er sich von diesen Rollen nicht lösen kann. Indem an die Verbindung von Name und Schicksal erinnert wird, tritt die Kontingenz des Namens, wie ihn Isoldes Silbenspiel und die doppelte Referenz des Namens Isolde voraussetzte, in den Hintergrund. Mit seinem Spiel mit Namen - exemplarisch, individuelle Lebensformel, kontingent - bleibt Gottfried in der deutschen Literatur um 1200 einmalig. Wo die Fortsetzer die Namensproblematik aufgreifen, fallen sie in das übliche Rollenspiel zurück. Ernüchternd zeigt das Heinrich von Freiberg. Sein Peilnetdsi ist einfach die Umkehrung von Isotenliep, des Namens für die exemplarische Rolle, die Tristan zufällt. Das scheint der Normaltypus. Auch Parzival bleibt ,Parzival', nachdem
" ' Vgl. H u b e r (2000), S- i 2 2 f . - D e m g e g e n ü b e r scheint der Versuch, der Liebeslehre O v i d s zu folgen und über der neuen die alte Liebe zu vergessen, sekundär. E r ist an keinerlei Namensidentität gebunden. Heinrich von Freiberg hat das noch expliziter herausgehoben: Der trürige Tristan,/ dem trüren was geboren an/und vil trürens bet gepflogen/und in trüre was erlogen,/gar trüric in gedanken (HTr 1 1 1 - 1 1 5 ) . K l i n g e r (1999), S. 128; 145. 221
Namensspiele
Sigune seinen Namen erklärt hat, selbst wenn er sich eine Zeit lang von den Vorgaben seines Geschlechts und seiner Bestimmung als Herr des Grals entfernt. Bei Gottfried kann der Riß nicht mehr geschlossen werden. Allenfalls in Konrads von Würzburg ,Engelhard' findet sich Vergleichbares. Ausgangspunkt ist bei ihm von vorneherein die Beliebigkeit von Namen. Die Namen Engelhard und Dietrich sind nicht mit der Herkunft aus einem bestimmten Geschlecht oder mit einem bestimmten Platz in der ständischen Hierarchie verbunden. Anders als in der verwandten Geschichte von ,Amicus und Amelius' zeigen die Namen auch nicht die Zusammengehörigkeit der beiden Helden durch einen gemeinsamen Namensbestandteil an. Sie sind gleich-gültig. Im Laufe der Geschichte ändert sich das, denn Engelhards Namen wird Bedeutsamkeit zugeschrieben; Dietrichs nicht. Die Namen dienen - wie die Kleidung - der Unterscheidung der beiden Ritter, die sich im übrigen äußerlich wie innerlich vollständig gleichen. Der Name hebt die Einzelperson also gerade dort heraus, wo sie als Repräsentantin allgemeiner Vollkommenheit ununterscheidbar zu werden droht. Er ist das proprium bei sonstiger Gleichheit. Das bestätigt ein Vergleich mit der Kaiserchronik aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Dort tragen die grundverschiedenen Zwillingssöhne des Kaisers Narcissus, die um die Königstochter Crescentia werben, beide denselben Namen Dietrich.' 22 Der eine Dietrich ist häßlich (schwarzhaarig und dunkelhäutig, 1 1 4 0 3 ^ , der andere schön (ein helt bevollen herlich, 11399). Hier bedarf es nicht der Unterscheidungsfunktion des Namen, denn in den beiden stehen sich alternative Prinzipien gegenüber. Die Identität des Eigennamens ist Folie der Wesensverschiedenheit, auf die es allein ankommt. Wenn Crescentia sich für den ungetanen Dietrich entscheidet, der ihr in dem muote ( 1 1 4 1 1 ) gefällt, und wenn sie, als ihr Mann in den Krieg zieht, die Nachstellungen des sconen Dietrich, nach seiner Rückkehr dessen Verleumdungen zu dulden hat, dann richtet sich die Botschaft gegen den gefährlichen Schein weltlichen Glanzes. Die beiden Brüder sind jeder für sich Repräsentanten eines Allgemeinen, dessen Gegensätzlichkeit (schön - häßlich/böse — gut/weltlich - geistlich 123 ) umso schärfer hervortritt, je mehr sie sich in anderer Hinsicht gleichen: Herkunft, Herrscheramt, Liebe zur selben Frau und sogar Name. Gegenüber der Grundopposition ist der Name bloßes Akzidens.
121
Daß dies auffällig ist, zeigt sich in der Bemerkung des Erzählers, solche Namengebung sei ,bei den Heiden der Brauch gewesen' {nach haidiniskerphaht, K C h r 11367); vgl. Biesterfeldt (2004), S. 29. Anders als Kiening (2007), S. 89 sehe ich in ihnen weniger Christliches und Widerchristliches repräsentiert als antagonistische ethische Prinzipien, die der Vorstellung von schön = gut widersprechen. Die Opposition tritt freilich zeitweise zurück: auch der häßliche Dietrich beteiligt sich an den Verfolgungen Crescentias und wird dafür mit Aussatz gestraft, und der schöne Dietrich wird immerhin helt genannt. Dagegen trennen sich ihre Wege, wenn nach Crescentias Rehabilitation der häßliche Dietrich der Herrschaft entsagt und gaistliche lebt, während sein schöner Bruder das Reich erhält (12780-1280;). 222
Der Name als individuelle Lebensformel
In Konrads ,Engelhard' ist es genau umgekehrt: Die beiden Protagonisten sind in Gestalt, Verhalten und vorbildlichem Ethos gänzlich ununterscheidbar; aber es sind, ablesbar am Eigennamen, eben doch zwei verschiedene Menschen. Auf Grund ihrer allgemein anerkannten Vorzüge kommen beide als Liebhaber der Königstochter in Frage. Wie üblich macht Engeltrud ihre Entscheidung zunächst vom allgemeinen Wert abhängig, der sich in jedem der beiden verkörpert. Anders als Crescentia kann sie aber in dieser Hinsicht keinen Unterschied entdecken. Wo kollektive Vorzüge im Blick stehen, muß sie sich in beide mit libe und ouch mit sinnen verlieben ( K E 986), zumal, wie üblich, der gleichen Erscheinung gleicher muot und gleicher sin (1065) entsprechen. des wart diu maget also blint an ir menneschlicher art Dieterich und Engelhart ir wären als ein einic man. ir her^e nach in beiden bran in eines mannes bilde. (1068-1073)
Die Entscheidung fällt, wenn Engeltrud beider Namen vergleicht und die Klangähnlichkeit ihres eigenen Namens mit dem Engelhards entdeckt. 1 ' 4 Das gibt den Ausschlag. Engeltruds Entscheidung basiert allein auf dem, was Engelhard ganz allein ,eigen' ist. Engelhards Name ist wirklich ,Eigen'-name. Der Namensbestandteil Engel-, den sie mit Engelhard gemeinsam hat, ist, anders als in den Gentilnamen vor allem des Frühen Mittelalters üblich, nicht Zeichen einer verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeit der beiden. 12 ' Die Seelenverwandtschaft, die die ,Süße' des Namens suggeriert, und die geradezu sakrale Bestimmung der beiden füreinander 1 ' 6 werden in der Handlung nicht ausgeführt. Engelhard und Engeltrud gehören weder nach Stand zusammen (sie ist Königstochter; er stammt aus einem armen Adelsgeschlecht), noch nach dem Prinzip, daß die Schönste zum Stärksten paßt (Dietrich ist gleich schön und gleich stark), noch ,verdient' Engelhard die Geliebte nach irgendeiner Eirzähllogik (es gibt vorerst kein Abenteuer, in dem Engelhard Engeltrud ,gewinnt'). Der Name enthält aber auch keine ,Lebensformel'. Seman-
124
1Z1
"6
Diese Szene - das .Schmecken' der Namen - ist ausführlich erläutert von A. Schulz (2002a). E r hebt das Moment sinnlicher Wahrnehmung an der Wahl des Geliebten hervor. Kraß (2006), S. 326 glaubt, daß Engeltrud sich täuscht, denn „engelhaftes Wesen verbindet nicht sie mit Engelhard, sondern Engelhard mit Dietrich" (unter Berufung auf 7 8 3 ^ ; aber es geht hier gerade nicht um die semantische Komponente des Namens, sondern um den kontingenten Klang. Zum Namensbestandteil Engel- vgl. Dietmar Peschel: Geglückte Pubertät? Diet-rich, Rich-hart, Engel-hart, Engel-trut. Vom Erwachsenwerden eines jungen Adligen in der Erzählung ,Engelhart' Konrads von Würzburg, J b . f. Internationale Germanistik 33 (2001), S. 8-27, hier S. 1 2 - 1 4 . immer man die Namenssemantik deuten will (Ritschier ist nicht R!ch-hart\), sie ist nicht motiviert. Das Merkmal .engelhaft' verbindet nicht nur das Liebespaar (vgl. Anm. 1 2 ; ) , und der gemeinsame Namensbestandteil klingt nur nach gelicher art (1207), beruht aber nicht auf ihr. Auf doppelte Weise wird damit die Arbitrarität des Namens betont (was eine symbolische Konnotation nicht ausschließt).
tisch ist der Bestandteil, der Engelhard mit Engeltrud verbindet, - von der allgemeinen positiven Konnotation abgesehen - leer. Trotzdem kann er die beiden als Paar gegenüber dem Rest der Hofgesellschaft ausgrenzen. Er erlaubt, zwischen Engelhard und Dietrich zu unterscheiden. Engeltrud spricht sich beider Namen vor: ob ir einer[,] / iht siie^er unde iht reiner/ dan der ander hülle ( 1 1 7 5 - 1 1 7 7 ) . Der Klang der Namen spricht für Engelhart, dessen Name zu Engeltrüt passe. Überraschend eindeutig und radikal beschließt Engeltrud: si wolte gerne liden durch Engelharten senenot und Dieteriche also den tot wünschen jailer stunde, ( K E 12 3 2 - 1 2 3 5)
Damit wird der Eigenname gegen Exemplarität ausgespielt. Dietrich ist in nicht geringerem Maße vorbildlich als Engelhard, aber der Bestandteil Engel- verschafft dem Freund den Vorteil. Freilich gelingt die Ersetzung der exemplarischen durch die kontingente Einzelperson nicht völlig. So versucht Engeltrud vergeblich, ihre Gefühle ganz von Dietrich, von dessen Vollkommenheit sie angezogen ist, abzuwenden: so was doch under stunden/ir muot mit ime gebunden, / swenne ir ouge an im erlas/da^ er gelich ir trüte was ( 1 7 1 1 - 1 7 1 4 ) . Die sinnliche Präsenz läßt sich nicht völlig ausschalten. Ihr ha% auf Dietrich bedeutet nur, daß nicht er es ist, den sein Name für ihre minne bestimmt. Wenn Dietrich den Hof verläßt, ist Engeltrud froh, weil ihre Gefühle für Engelhard nicht länger durch die für Dietrich behindert werden. Die Szene bezeugt ein verändertes Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem. Die Liebe zwischen Engelhard und Engeltrud ist voraussetzungslos,' 27 obwohl nichts von Engelhard erzählt wird, was ihn als ,diesen besonderen Menschen' kennzeichnete. Einzig der Name ist Zeichen seiner Besonderheit. Der Name ist seinem Ursprung nach beliebig und wird erst durch Engeltruds Wahl bedeutsam, aber er ersetzt alle anderen möglichen Kriterien für diese Wahl. Engeltrud wählt .diesen einen', obwohl er in allem einem anderen gleicht. Als Eigenname ist der Name hier wirklich kontingent; die Tatsache, daß Engelhard ihn trägt, bleibt unerklärt. Unerklärt bleibt damit letztlich auch, was Engelhard zum Mann der Königstochter bestimmt.
127
Insofern entspricht sie dem Typus, den Luhmann (1982) als ,passionierte Liebe' beschreibt. 224
4 K R I S E N ADLIGER
SELBSTERKENNTNIS1
So tritt in den Namensspielen zunehmend die dynastisch-generische wie die semantische K o m p o n e n t e des N a m e n s zurück. Parallel dazu wird das P r o b l e m der Identität narrativ reflektiert. Beim Versuch zu bestimmen, was Identität im Mittelalter bedeutet, geht man im allgemeinen entweder v o n modernen Individualitätskonzepten aus, deren erste A n z e i c h e n und Spuren (besondere Kennzeichen, besondere Charakterzüge, Valorisierung v o n ,Einzelmenschlichkeit') dann bereits in mittelalterlichen Texten geortet werden. 2 O d e r man untersucht psychologische K o n zepte der mittelalterlichen T h e o l o g i e und Philosophie auf die Frage hin, welchen Spielraum sie für das D e n k e n v o n Individualität lassen.' Hier handelt es sich letztlich um philosophische Fragen, zu deren B e a n t w o r t u n g literarische Texte zwar interessante Fälle beisteuern können, die aber vornehmlich im Rahmen der im weitesten Sinne mit A n t h r o p o l o g i e befaßten Disziplinen, besonders in der T h e o logie, abgehandelt werden, die in erheblicher Distanz zu volkssprachigen D i s k u r s e n stehen. 4 D i e komplexen theoretischen Diskussionen des 12../13. Jahrhunderts um
1
In e i n e r älteren A r b e i t h a b e ich m i c h d e m P r o b l e m ü b e r S i t u a t i o n e n d e s S e l b s t v e r l u s t e s z u n ä h e r n v e r s u c h t ( J - D . M ü l l e r 2004a). T e x t - u n d T h e m e n s p e k t r u m des v o r l i e g e n d e n K a p i t e l s sind d e m g e g e n ü b e r a u s g e w e i t e t ; d o c h w a r e n e i n i g e Ü b e r s c h n e i d u n g e n m i t d e m älteren A u f s a t z u n v e r m e i d l i c h . An
n e u e r e n B e i t r ä g e n z u m P r o b l e m w a r e n f ü r die f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n v o r allem
wichtig:
U n v e r w e c h s e l b a r k e i t (2004), d i e k r i t i s c h e n R e f e r a t e der F o r s c h u n g s d i s k u s s i o n bei K l i n g e r
(1999),
S. 1 3 0 - 1 3 3 ; (2001), S. 1 9 - 3 ; u. S o s n a (2003), S. 1 1 - 2 8 ; S c h n e i d e r (2004), S. 14-20; B y n u m
(2001),
S. 19-28; 1 6 3 - 1 6 6 , die a l l e r d i n g s v o r n e h m l i c h mit d e m P r o b l e m der M e t a m o r p h o s e , der V e r w a n d l u n g eines W e s e n s , eines S t o f f e s in ein(en) anderes/n, b e s c h ä f t i g t ist; die „ S p i e l r e g e l n " , „ S p i e l f e l d e r " u n d „ S p i e l p l ä n e der I d e n t i t ä t " , die K r a ß (2006) u n t e r d e m A s p e k t d e s „ v e s t i m e n t ä r e n C o d e s unters u c h t , s o w i e d i e A u s f u h r u n g e n z u m E r k e n n e n v o n P e r s o n e n v o n A . S c h u l z (2005), d e m ich f ü r A n r e g u n g e n und Diskussion besonders danke. !
M o r r i s ( 1 9 7 2 ) ; D r o n k e (1970); K a s t e n (1995) s p r i c h t bei K o n r a d s , P a r t o n o p i e r ' a n g e s i c h t s d e s Interesses an A f f e k t e n u n d E m o t i o n e n v o n „ S u b j e k t i v i t ä t " ; h i e r z u die E i n l e i t u n g in: I n s z e n i e r u n g e n v o n S u b j e k t i v i t ä t (2005), S. 11—15. Z u m P r o b l e m i m a l l g e m e i n e n : Identitäten, E r i n n e r u n g , G e s c h i c h te, Identität 3, h g . v . A l e i d a A s s m a n n u. H e i d r u n Friese, F r a n k f u r t 1998 (stw 1404); L. O e i n g - H a n h o f f ; s . v . I n d i v i d u a l i t ä t , H i s t o r i s c h e s W ö r t e r b u c h d e r P h i l o s o p h i e 4 ( 1 9 7 6 ) , S p . 300-323. D i e g e l e h r t e L i t e r a t u r e n t w i c k e l t seit B o e t h i u s ein B ü n d e l v o n M e r k m a l e n , mit d e r e n H i l f e ein M e n s c h z u ident i f i z i e r e n ist ( e b d . , S p . 305).
'
K e m p (1990), S. 8 9 - 1 1 0 ; K a r t s c h o k e (1992).
4
D e r e n D i s k u s s i o n e n f i n d e n meist n u r spät u n d a n s a t z w e i s e E i n g a n g in die V o l k s s p r a c h e n ( A . S c h u l z ,
Krisen adliger Selbsterkenntnis
Identität, Individualität und Subjektivität sollen daher hier beiseite bleiben. Stattdessen soll ein vortheoretisches ,narratives' Wissen untersucht werden, das darüber entscheidet, in welcher Hinsicht ein Mensch als ,dieser Mensch' identifiziert wird, durch andere oder auch durch sich selbst, wie sich in volkssprachigen Texten um 1200 das Wissen darüber, wer man ist, konstituiert, warum jemand daran in Zweifel gerät und aus welchen Gründen er sich dann doch als er selbst erkennt. Idealtypische Gegenüberstellungen mittelalterlicher und neuzeitlicher Identität haben allenfalls heuristischen Wert. Wo narrativ über Selbsterkenntnis und Identifizierung verhandelt wird, ist der (alltags)praktische Kontext in konkreten Situationen und Handlungszusammenhängen präsent, in denen ein Ich sich erfährt und sich in Ubereinstimmung mit oder Differenz zu den anderen zu bestimmen hat. In ihnen kann sich seine Besonderheit in bestimmten Grenzen entfalten und gegenüber der Besonderheit anderer profilieren. Es kann gewissermaßen experimentell durchgespielt werden, was zum Zentrum, was zur Peripherie des Ich zählt. Z u untersuchen wird sein, welche Aussagen über die literarischen Figuren möglich sind, welche ausgeschlossen, welches Maß an Besonderung diese Aussagen zulassen, welche Komponenten sie enthalten und wie diese Komponenten zu gewichten sind, welche Geschichten vom Helden erzählt werden können und welcher Typus von Geschichten offenbar besonders faszinierend ist. In der anthropologischen Theorie herrscht weitgehend Konsens darüber, wie Identität im Mittelalter imaginiert wird. 5 Der einzelne weiß sich als Mitglied einer Gruppe (Gefolgschaft, Stand, Ordo), und diese Zugehörigkeit wird ihm von außen bestätigt, zum einen durch eine Reihe äußerer Zeichen, d.h. durch körperliche Gestalt, Kleidung, Bildzeichen wie Wappen, Herrschaftsinsignien, zum anderen durch die Einschätzung der anderen, insbesondere durch die Gruppe, der er sich
2005, S. 4f.; i4f.). Umgekehrt enthalten narrative Entwürfe implizit Konzepte von Identität, für die der zeitgenössischen Theorie die Begriffe fehlen. Wo Transfers relativ selten sind, empfiehlt sich, wissenschaftliche Diskussionen und narrative Problematisierungen zunächst jeweils getrennt zu behandeln. Ein Beispiel: Was Kemp (1990), S. 8 9 - 1 1 0 als charakteristisch für mittelalterliche Individualitätskonzepte herausarbeitet - die Individualisierung durch die je besondere Mischung der vier Körpersäfte bzw. durch die ,Nativität', die besondere astrologische Konstellation bei der Geburt, spielt in der Erzählwelt um 1200 allenfalls eine untergeordnete Rolle (etwa bei der Erklärung von Wahnsinn). Zwar hat man die Bedeutung astrologischer Konstellationen für den Handlungsverlauf in Wolframs von Eschenbach ,Parzival' nachgewiesen oder in der ,Tristan'-Fortsetzung Heinrichs von Freiberg die .astrologische' Deutung der Wirkung des Liebestranks betont, aber beide Male geht es gerade nicht um die Besonderheit des Einflusses auf einen besonderen Menschen, sondern um einen überindividuell determinierten Geschehenszusammenhang. Ahnlich findet man natürlich allenthalben humoralpathologische Hinweise, doch dienen sie nicht der Profilierung individueller Besonderheiten, sondern der Erklärung typischer Züge. Luhmann (1989/1993), S. 149-298; dazu kritisch differenzierend Oexle (1991), S. 58-61; A. Hahn (1997); Fuchs (1999); von Moos (2004), dort insbesondere die Einleitung sowie J.-D. Müller (2004a), S. 297-300; Schnyder (2005); A. Schulz (200;). 226
Der Name als individuelle Lebensformel zugehörig weiß. D i e moderne Frage nach dem „private s e i f ' 6 scheint deshalb, bezogen auf mittelalterliche Phänomene keinen Sinn zu ergeben, denn es fehlt o f f e n sichtlich das Bedürfnis, ein „private s e i f v o n einem sozialen, kollektiven, öffentlichen („public s e i f ) abzugrenzen. 7 Diese Feststellung ist keineswegs identisch mit der Behauptung, das Mittelalter kenne nur ,Typen' und keine ,Individuen'. 8 D i e Beantwortung dieser F r a g e hängt nämlich davon ab, wie man Individualität substantiell bestimmt. Dieses Problem wird im folgenden ausgeklammert. E s geht allein um eine Relation, nämlich um die Frage, welche Wahrnehmungen ihrer U m welt wie ihrer selbst den Figuren in mittelalterlichen Texten erlauben, jedesmal ,ich' zu sagen und sich als eine und dieselbe zu erfahren. Dies ist eine allgemeine Frage menschlichen, ja weithin schon tierischen Lebens, deren neurophysiologische Basis 9 im Mittelalter nirgends zum Problem wird, deren soziale A s p e k t e aber in immer wieder anders inszenierten Krisensituationen durchgespielt werden. Dabei ist auffällig, daß - jedenfalls in der volkssprachigen Fiktion - ein körperbasiertes I c h - G e f ü h l eine geringere Rolle spielt und es durch soziale Zuschreibungen erschüttert werden kann, so daß ein Held sich also nicht mehr als sich selber erkennt, weil ständisch codierte Merkmale seines Selbst ausfallen. D e r hochmittelalterliche R o m a n kennt deshalb Fälle des Selbstverlustes, die heute als krankhaft gelten und in neuzeitlichen Erzählungen ,unwahrscheinlich' wirken würden. Einen Z u g a n g zu solchen Phänomenen eröffnet die Bestimmung mittelalterlicher Identität als ,Inklusionsidentität'. ,Inklusionsidentität" 0 besagt, daß die Besonderheit des
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Vgl. Modell (1993). D i e in neurophysiologischen und psychologischen Ü b e r l e g u n g e n erörterte F r a g e nach dessen Konstitution über die Flüchtigkeit und den dauernden Wechsel v o n Sinneseindrücken, Vorstellungen, G e d a n k e n , K ö r p e r e m p f i n d u n g e n usw. hinweg (Modell: „continuity o f the self as identity and discontinuity o f the self in the flux o f consciousness", S. 48) wird im Mittelalter nur vortheoretisch im K o n t e x t von , E r i n n e r u n g ' gestreift. In A n l e h n u n g an L u h m a n n und S o e f f n e r K l i n g e r (1999), S. 132. Dazu kritisch etwa Oexle ( 1 9 9 1 ) u. Sosna (2003), S. iyf. D i e psychologische F o r s c h u n g hierzu ist nicht mehr übersehbar. Fairbairn nennt diesen A s p e k t „automatic and impersonal" (Modell, 1993, S. 22); E d e l m a n spricht von einem biologischen* Selbst (ebd., S. 4 6 - 5 1 ; 1 5 8 - 1 6 1 ) , das sich schon im frühkindlichen Alter als unterschieden von seiner U m welt erfährt und im Fluß dauernd wechselnder Wahrnehmungen die E r f a h r u n g der Identität des Wahrnehmenden garantiert (S. 7of.). Was man P e r s ö n l i c h k e i t ' nennt, ruht hierauf auf; es prägt sich dem „ n e r v o u s s y s t e m " ein (vgl. Oliver Sacks; nach ebd. S. 50). Vorauszusetzen ist also eine, selbst unbewußte, „generative structure" (S. 162), auf der die höher organisierten Bewußtseinsordnungen aufbauen (Modell, 1993, S. 204). G e g e n w ä r t i g arbeitet man häufig mit einem dreistelligen Modell; so etwa William J a m e s , der ein ,empirisches', körperbasiertes Selbst (der erste Typus) von einem .sozialen' und einem ,geistigen' unterscheidet (vgl. ebd., S. 33; 7of.). D i e folgenden A u s f ü h r u n g e n berühren diesen A s p e k t nicht. D e r B e g r i f f w u r d e v o n L u h m a n n (1989/1993), S. 1 4 9 - 2 5 8 geprägt und v o n A . Hahn (1997/2000) expliziert; vgl. bes. L u h m a n n s Bestimmungen S. 156f.; 166 und das Resümee der Diskussion i n J . - D . Müller (2004a), S. 298t. D e r B e g r i f f wird im folgenden zur Profilierung kulturspezifischer D i f f e r e n zen benutzt. A u ß e r Betracht bleibt, o b er nur eine dominante oder aber eine völlig zureichende B e s t i m m u n g mittelalterlicher Identität ist. Oexle ( 1 9 9 1 ) , S. 58-61 hat d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß L u h manns Fragestellung sich letztlich aus J a c o b Burckhardts Individualitätskonzept in ,Die K u l t u r der
227
Krisen adliger Selbsterkenntnis einzelnen nicht durch .Ausschluß' (,ich im Unterschied zu ...'), sondern durch Einschluß (,ich als Mitglied von . . . ' ) bestimmt wird. Der einzelne wird als Mitglied einer Gruppe (seltener mehrerer), zu der er gehört, aufgefaßt („Inklusion"). E r kann sich gegenüber der Gruppe auszeichnen, indem er ihre Werte auf exorbitante Weise verkörpert (wie der Held), und er kann ihre Normen exemplarisch verfehlen (wie der Sünder), aber er hat nicht die Möglichkeit, sich nicht in irgendeiner Weise in Hinsicht auf sie zu bestimmen." Zwar ist die „Inklusion" nie eine vollständige, und es gibt vielfältige Möglichkeiten individueller Abweichung, doch ist sie dem Gefühl individueller Besonderheit vorgeordnet. Dagegen ist die moderne Gesellschaft durch „partizipative Identität" gekennzeichnet, d. h. durch die Zugehörigkeit jedes einzelnen zu einer ganzen Reihe von Gruppen, die „durch ein Merkmal oder eine ganze Klasse von Merkmalen" konstituiert werden." 2 Was jemanden in der Moderne als diesen ganz besonderen Menschen kennzeichnet, ist die genaue K o m bination der Partizipationen, von denen einige als zentraler, als besonders ,ich-nah' erfahren werden, bis hin zu der Möglichkeit, daß das Ich sich aus der Abgrenzung und Opposition zu all den Gruppen versteht, an denen es partizipiert. Im Mittelalter dagegen scheint die ,Inklusionsidentität' als primäre erfahren zu werden und sich alle anderen Besonderheiten des jeweiligen Individuums, ja sogar seine nur ihm gehörige Geschichte und deren Erinnerung unterzuordnen. Wo jene erschüttert wird, vermögen diese kaum etwas auszurichten. Auch wenn man generell, also auch in der Moderne, mit Mead (1982) das Ich wesentlich als sozial konstituiert begreift, ist das Verhältnis des Einzelnen zum generalisierten anderen', d.h. zur Gesellschaft, im Mittelalter ein anderes. Einige generelle Strukturen, die in der Psychologie bei der Analyse ,partizipativer Identität' herausgearbeitet wurden, lassen sich auch auf die mittelalterliche ,Inklusionsidentität' übertragen. Das Bewußtsein des Selbst ist eine relationale Struktur, die sich im Bezug auf anderes konstituiert. Bewußtsein ist also keine substantielle Einheit, sondern „primarily a selecting agency, directing attention to what is most interesting". 15 Historisch spezifisch ist, was jeweils Gegenstand der Selektion ist. Hier nun läßt sich in der Epik um 1200 eine wichtige Verschiebung beobachten zwischen dem, was als selbstverständlich und unproblematisiert voraus-
Renaissance in Italien' (i860) herleitet, das dieser selbst später relativierte, das aber ungeheuer einflußreich in der Theoriebildung der frühen Soziologie war, während es von der Geschichtswissenschaft, zusammen mit dem zugrundeliegenden Feudalismusbegriff, zunehmend in Frage gestellt wurde. E r hat S. 62-65 Phänomene der mittelalterlichen Gesellschaft benannt, die sich diesem Konzept nicht fügen, und die Vielfalt und Konkurrenz natürlicher' und ,gemachter' Gruppenbindungen betont, in denen sich der einzelne bestimmt. Insofern wird man allenfalls von Tendenzen sprechen können. Trotzdem ist die Gegenüberstellung heuristisch fruchtbar (vgl. auch Luhmanns Replik ebd., S. 66-70). " "
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A. Hahn (1997/2000), S. 28. A. Hahn (1997/2000), S. 13. Modell (1993), S. 30, William James und Gerald Myers' James-Monographie referierend. 228
Identität der Oberfläche gesetzt ist, und dem, was vage und unsicher scheint, aber doch nicht einfach beiseitegeschoben werden kann. Die Steigerung von Komplexität in der höfischen Gesellschaft erhöht die Schwierigkeit gelingender Inklusion und damit die Chancen der Reflexion von solchen Komponenten der Identität, die sich der Inklusion entziehen. Die Identität kann in Frage gestellt werden, indem das Ich auf Sachverhalte stößt, die in Widerspruch zu stehen scheinen zu dem, was die Identität der Gruppe bestimmt, und die mit ihr in Ubereinstimmung gebracht werden müssen. Das kann gelingen, indem andere Sachverhalte die Zweifel beseitigen und die Zugehörigkeit letztlich doch bestätigen, doch kann das Ich dabei auf ein irreduzibles Bewußtsein seiner selbst stoßen, das sich mindestens eine Zeit lang in Opposition zur kollektiv vermittelten und momentan gefährdeten Identität behaupten kann oder sich sogar als unabhängig von dieser erweist. E s wird zu zeigen sein, wie narrativ immer wieder anders zwischen unterschiedlichen Determinationen des Ich verhandelt wird.
Identität der Oberfläche Angesichts der vielfältigen und komplexen Erzählmuster, in denen dies geschieht, stellt sich die Frage, ob das Bild vormoderner Identität nicht doch zu einfach ist' 4 und ob nicht narrative Texte um 1200 Elemente enthalten, die auf die Überschreitung dessen zielen, was die moderne Soziologie als charakteristisch für vormoderne Identität herausgearbeitet hat. Wenn man sich vornehmlich als Mitglied einer G r u p pe und nicht in Distanz zu verschiedenen Gruppen bestimmt, ist zwar die G r u p penzugehörigkeit in weit höherem Maße auf Bestätigungen durch diese Gruppe bzw. durch ständische Markierungen, Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, angewiesen, doch sind, wenn diese Bestätigungen zu einem Teil oder alle ausfallen, kompensatorische Anstrengungen nötig, damit das Selbstbild nicht kollabiert. Gelingende Inklusion ist narrativ unergiebig, im Gegensatz zu deren Krise. Von solchen Krisen ist die höfische Literatur um 1200 seltsam angezogen. Die Literatur wird damit zum Reflexionsmedium für Defizite und Leerstellen hergebrachter Identitätsentwürfe. Epischen Texten liegen rekurrente plots zugrunde, die das Ich Situationen durchlaufen lassen, in denen es in seine Konstituenten zerlegt wird,
'4
L u h m a n n (i989/1995), S. 223 bestreitet noch für das frühe 18. Jahrhundert (am Beispiel des Selbstgesprächs) die M ö g l i c h k e i t von „ S e l b s t e n t f r e m d u n g " oder v o n „Sich-selbst z u m - P r o b l e m - w e r d e n " ; vgl. S. 175; 225. E r hebt an „ K a r r i e r e n " in der M o d e r n e hervor, „daß G e b u r t , häusliche Sozialisation und schichtmäßige L a g e nicht mehr ausreichen, um den N o r m a l v e r l a u f des Lebens erwartbar zu m a c h e n " (S. 232). Dies gilt aber in einem gewissen Sinn auch schon für den höfischen Ritter, wenn er sich aus seinem segmentären Z u s a m m e n h a n g - seiner H e r k u n f t - gelöst hat und die Attribute seines Stratums - des H o f e s - zeitweise verliert.
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Krisen adliger Selbsterkenntnis diese dissoziiert und gegeneinander abgewogen werden. Noch kaum ausgeprägt sind solche Tendenzen in der Heldenepik, die hier beiseite bleiben soll. 1 ' Aber auch in der höfischen Epik ist der Held zunächst durch seine körperliche Gestalt sowie durch äußere Zeichen, Wappen, Kleider usw. als Mitglied einer Gruppe bestimmt. Die Zeichen sind hierarchisiert. Angeborene Beschaffenheit ist konventionellen Zeichen wie Kleidern vorgeordnet: 16 In Gottfrieds ,Tristan' ist Rual, nachdem er Tristan in allen Ländern gesucht und sich dabei immer weiter dem seinem Stand angemessenen Leben entfremdet hat, zwar unhovebargewandeshalp (GTr 4027^), dank seiner überragenden körperlichen Gestalt und seinen herlichen siten (4046) aber sogleich als Adeliger erkennbar: er was an rehter herschaft/aller keiser genotζ (4042^. Wenn er die äußeren Zeichen zurückerhält, bleibt von den Jahren, in denen er sich seiner ständischen Existenz entfremdet hatte, nichts zurück. Was das Zeichen anzeigt, gehört nie nur einem einzelnen, sondern vielen. Figuren werden aus sichtbaren Zeichen aufgebaut. Exemplarisch führt Konrad von Würzburg im ,Turnier von Nantes' in wechselnder Reihenfolge und Kombination der einzelnen Komponenten vor, wie die Person des Ritters und Turnierkämpfers sich mehr oder minder vollständig aus Adelsprädikat, Herkunft, Name, Pferd, körperlicher Gestalt, Wappen, Kleider, Helmzier zusammensetzt.' 7 Vor allem das ritterliche Pferd ist Teil der Person eines Ritters. Ohne Pferd ist er nichts, wie der sonst allzeit hilfsbereite Gawein (,Diu Cröne') erklärt, wenn er es ablehnt, einem anderen Ritter sein Pferd zu überlassen: Ein iglich ritter mins glich, Der dorch prijs^ suchet die land, Dem tauge nit sin ysin geivand, Als er den fus^en suchet den sand. (HCr i9;97-i96oo) 18 Von daher wird auch klar, welche Schande es für Kalogrenant (,Iwein') bedeutet, zu Fuß vom mißlungenen K a m p f gegen Ascalon zurückzukehren.' 9 Ulrich von Türheim nennt das: der ritter sine viie^e reit (UTr 1903). Das ist eine Schande. Der Verlust von Pferd und Waffen erregt Befremden und muß sogleich kompensiert werden. 20 Umso größer ist das Opfer, wenn der Ritter seiner Dame zuliebe zu Fuß " ,6
"
18
Hierzu (2004a), Schultz So z.B.
künftig A. Schulz (200;), S. 34-185; vgl. J.-D. Müller (1992b) bzw. zum ,'Wolfdietrich' S. joof.; Kraß (2006), S. 229. (1996). bei Gottfried von Normandie ( K T N 150-186).
Vgl. Jillings (1980), S. 79f. - Ähnlich 20176-20179: Er weste wol, da\ ritters kraft/War \e vuo%e üf der erde/Gerechent t(e kleinem werde,/ Wie küene ein ritter ware oder PMe 10230-10235, wo der Verlust des
Pferdes den Verlust an salde bedeutet und nicht einmal der Gegner dem Helden eine solche Kränkung zumuten will: ir suit nibt vüe^en gän, sagt er (10664). "> Hai 766: als ein irlöser man\ ohne Pferd kann er seinen Harnisch nicht tragen, der Zeichen seines ritterlichen Standes ist; vgl. den Reflex in HCr 24647. Vgl. P r L II, S. 9 6 , 7 - 1 1 : Ein Ritter zu Fuß erregt Erstaunen. Keie ist im ,Garel' entehrt, weil er sein
Pferd im Kampf verliert: Ich wai% wol, haben sol (PIG 18033-18035).
uebel stet,/ Swa ein man
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fue\\en get,/ Der ritters namen
Identität der Oberfläche geht (WPa 534,10). D a s Verhältnis ist umkehrbar: Wer nichts taugt, hat ein schlechtes Pferd, 2 1 und wer ein schlechtes P f e r d hat, muß sich schleunigst um ein besseres bemühen, damit man seinen Wert erkennt. J e nach Umständen können die konventionellen Zeichen sogar stärker als die Körperzeichen sein. Willehalm in der R ü s t u n g des A r o f e i und auf A r o f e l s P f e r d scheint ein Heide und erregt mit seiner Erscheinung das Mißtrauen der christlichen Verteidiger der B u r g Orange. Selbst seine Frau G y b u r g erkennt ihn nicht an seiner Stimme oder an seinen individuellen Gesichtszügen, sondern erst zuletzt an einer N a r b e , die er bei einem früheren K a m p f erhalten hat und die ihm seinen heroischen Beinamen ,Willehalm mit der kurzen N a s e ' verschafft hat. 22 Natürlich ist auch die N a r b e ein körperliches Zeichen, doch im Sinne einer expliziten ,Markierung', die ihn als Heros v o r anderen Heroen auszeichnet. Sie ist nicht individualisierend. D a s bestätigt ein Rückblick auf den Dietrichhelden Alphart. Dieser tilgt nicht nur auf seiner R ü s t u n g alle Zeichen, sondern weigert sich auch, dem G e g n e r sein Gesicht zu zeigen ( A T 248,1). In der B e g r ü n d u n g dafür ist das Gesicht aber nicht individuelles Erkennungszeichen, sondern M e d i u m heroischer Exorbitanz: Bei seinem Anblick würden die G e g n e r v o r Schreck entfliehen (248,3f.). D a s Gesicht steht nicht für die Besonderheit der Person, sondern ist Metonymie v o n Alpharts heroischer K r a f t . 2 ' E r s t wenn Alphart tot ist und v o n seiner K r a f t nichts mehr zu befürchten steht, dürfen die G e g n e r sein Gesicht sehen - um zu erkennen, w e m der R u h m des aussichtslosen K a m p f e s zuzuschreiben ist. A u c h im höfischen R o m a n besteht zwischen dem K ö r p e r und seinen Hüllen ein enger Z u s a m m e n h a n g . Wenn in der , G u t e n Frau' die Protagonisten ihren vornehmen Stand verlassen und bettelnd durchs L a n d ziehen, wird das lakonisch so formuliert: dö warens in dem lande dä si nieman erkande. dö sich verwandelte ir gewant, verwandelt sich ouch %ehant ir bar und ouch ir varwe (GF 1605-1609). D i e E n t f r e m d u n g v o n der sozialen Rolle, ablesbar an den Kleidern, verfremdet auch die körperliche Gestalt. D a s geht so weit, daß die G u t e Frau, zur K ö n i g i n v o n
"
Wo es um sein eigenes (vorübergehend gestohlenes) Pferd geht, lehnt G a w a n es ab, es, den Turnier-
regeln gemäß, auszuliefern: Jone darf iuch nimmer des ge^emn/da^ ich
fuo\ hinnen ge (WPa 545,2of.).
"
Diese Szene des .Willehalm' steht deutlich in heldenepischem Gattungszusammenhang, der freilich im Text nicht durchgängig dominiert (J.-D. Müller, 1992, S. 89-94; genauer A . Schulz, 2005, S. 1 0 6 - 1 1 6 ) . Bei Wolfram von Eschenbach ist das Problem gegenüber den chansons de geste schon verschoben, indem der identifizierende Beiname Ehcurteneis im Deutschen als K ö r p e r m a l nicht verständlich ist, so daß der Typus heldenepischer Identifikation verwischt wird.
11
Natürlich wäre das Elntblößen des Gesichts auch ein Eingeständnis der Niederlage, das, wie das Nennen des Namens unter Z w a n g , zu vermeiden ist.
2 1
3
Krisen adliger
Selbsterkenntnis
Frankreich aufgestiegen, ihren eigenen M a n n nicht mehr erkennen kann, denn dieser lebt als Bettler. Es gibt keine physiognomische Erinnerung, sondern bedarf wie in Wolframs ,Willehalm' der besonderen Markierung des Körpers, in diesem Fall eines einstmals auf der J a g d verstümmelten Fingers, an dem die Gute Frau entdeckt, wen sie vor sich hat. Der Körper ist ,gezeichnet', wobei die Zeichen zuerst auf den Stand und die damit verbundenen Beschäftigungen (Jagd) verweisen. A n einer Narbe wird auch der wahnsinnige und nackte Iwein von einem Hoffräulein erkannt, wenn er im Wald schläft, nicht an seiner Gestalt oder seinen Gesichtszügen. Das ist die Markierung, die den anderen erlaubt, die in dem berühmten Ritter materialisierte Kraft zu erkennen, die sie sich dienstbar machen wollen. In der anschließenden Szene wird Hartmann freilich diesen Typus der Identifizierung überschreiten. Ein Körpermal, die Markierung durch einen früheren Kampf, ist zur Bestimmung des Selbst zu wenig. Die Entdeckung und Heilung durch das Hoffräulein ist deshalb nur der A u s g a n g s p u n k t eines Bewußtseinsprozesses, den Iwein selbst zu leisten hat. Er muß sich, nachdem alle kulturellen Zeichen an seinem Körper getilgt sind, seine vergangene Geschichte aneignen, um in vollem Sinne wieder Iwein zu werden/ 4 Erst später, wenn das gelungen ist und er längst wieder in seine frühere Rolle zurückgekehrt ist, sind es individualisierende Zeichen, Physiognomie und Stimme, an denen er erkennbar ist. 2 ' Bei Iweins Wiedereintritt in die höfische Welt ist der Körper dagegen zunächst nur Einschreibungsfläche für äußere Markierungen; individuelle Besonderheiten treten nachträglich hinzu. ,Inklusionsidentität' baut sich gewissermaßen aus konzentrischen ,Schalen' auf, die sich um den Helden herumlegen und ihn als diesen besonderen Menschen spezifizieren. In der höfischen Epik beginnt man sich für den Kern, der unter den Schalen liegt, zu interessieren. In der Heldenepik 2 6 sind zwar aus der Außenperspektive Verwechslungen denkbar (der Held χ kann einer falschen Partei zugeordnet, für den Helden y gehalten werden, er kann versehentlich getötet werden usw.), nicht jedoch eine Erschütterung seines Selbstgefühls, ein Zweifel daran, wer
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Vgl. S. 2 4 1 - 2 4 5 . - Insofern w ü r d e ich, anders als K r a ß (2006), S. 1 1 7 , die Restitution „mit den semiotischen Mitteln des alimentären und vestimentären C o d e s " nur als Vorstufe und zuletzt Besieg e l u n g des alles entscheidenden Bewußtseinsprozesses sehen. Im G e r i c h t s k a m p f , den er v o r A r t u s ausficht, muß eigens erklärt werden, daß er und sein Freund G a w e i n einander nicht erkennen. D i e R ü s t u n g bedeckt sie ganz, verbirgt auch ihr Gesicht, und ihre Stimme ist durch sie verzerrt ( 7 5 1 8 - 7 5 2 2 ) . S o können beide erst in einer K a m p f p a u s e erfahren, w e r der andere ist. D a s Z e n t r u m der .Schalen' muß dort gar nicht unbedingt bestimmt werden; es ist ein virtueller P u n k t und kann .leer' sein; vgl. zu Siegfrieds .Häuten' im .Nibelungenlied' J . - D . Müller (199S), S. 247f. In der gelehrten Literatur setzt sich weit früher die Einsicht durch, daß die .Haut' möglicherweise bloßer Schein ist, doch hält sich auch hier gerade bei Mischwesen wie Werwölfen die Ü b e r z e u g u n g , daß die äußere E r s c h e i n u n g wie ein , K l e i d ' übergestreift werden kann ( B y n u m , 2001, S. 16; io8f.). 232
Falsche Oberflächen: die Identität des adligen Herrn man ist. G e n a u an diesem Punkt weicht die höfische Literatur ab, indem sie die F r a g e durchspielt, was denn eigentlich das Z e n t r u m der ,Schalen' ausmacht, was als ich-nah gilt, was als bloß äußerlich dazugehört. D i e Zeichen, denen auch der Heros verdankt, daß er wie alle anderen weiß, wer er ist - also etwa Pferd, R ü s t u n g , Kleider, Wappen und dergleichen
werden dabei keineswegs nebensächlich, nur
wird zum Problem, wieviel sie eigentlich zur Selbstbestimmung beitragen und welche anderen Instanzen es gibt, die ihnen widersprechen können. Identität kann im Extremfall dann nur noch .exzentrisch', d.h. in Spannung zu Determinationen der G r u p p e , der man angehört, gefaßt werden.
Falsche Oberflächen: die Identität des adligen Herrn D i e höfische E p i k ist von dem Problem fasziniert, was geschieht, wenn jemand seine Oberfläche bewußt durch Schminke und Kleider verändert. Dabei wird, anders als in der Heldenepik, das Verhältnis v o n Hülle und K e r n problematisiert. Siegfried im ,Nibelungenlied' ist unter der Tarnkappe einfach ,nicht da', so daß G u n t h e r so tun kann, als handele er. Das hat fatale F o l g e n , doch ausschließlich als K o n s e q u e n z des Umstands, daß G u n t h e r nur v o r g i b t zu tun, was man an ihm sieht. K e i n e r erscheint als ein a n d e r e r . " Von der Tarnkappe verborgen, ist Siegfried nichts als eine nicht personal zuzuordnende K r a f t . Oder, wenn sich M o r o l f die Haut eines J u d e n überzieht, dann tritt der Trickster nur in einer anderen Erschein u n g s f o r m auf, bleibt aber der, der er war. In den höfischen Erzählungen löst sich diese Sicherheit auf. Eilharts ,Tristrant' steht heroischem Erzählen noch recht nahe. 28 E r erzählt, wie Tristrant zum Pilger wird, wenn er über seine höfische K l e i d u n g ein Pilgergewand zieht. D o c h bleibt er der unübertreffliche Held. Wenn er verkleidet an einem ritterlichen Wettkampf teilnimmt, übertrifft er alle. Wenn man wissen will, wer er ist, rettet er sich mit einem außerordentlich weiten Sprung (der o f f e n b a r zu den Kennzeichen des Sagenhelden Tristrant gehört), bei dem das Pilgergewand aufreißt, so daß darunter Tristrants höfische K l e i d u n g sichtbar wird ( E T r 7 8 1 1 - 7 8 1 3). Momentan blitzt unter der ,falschen Haut' die ,richtige Haut' des Heros auf, und erst an beidem zusammen, an der Tat und der Oberfläche, erkennen alle, wen sie v o r sich haben. Gesteigert ist diese Konstellation, wenn Tristrant durch eine Krankheit entstellt ist und seine körperliche Schönheit verloren hat. D a s erleichtert ihm, als häßlicher
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VC'ie dies dann in Wagners . G ö t t e r d ä m m e r u n g ' als Tausch der Gestalten erscheint. Dabei wird die körperliche E r s c h e i n u n g zur bloßen Hülle, durch die - Siegfrieds A u g e ! - die wahre Identität durchscheinen kann. G e n a u an dieser Stelle unterscheiden sich neuzeitliche Identitätskonzeptionen von mittelalterlichen.
'* J . - D . Müller (1990); vgl. (1998), S. 245.
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Krisen adliger Selbsterkenntnis Narr in Isaldes Nähe zu kommen und eine Zeit mit ihr zusammen zu sein. Hier verliert die Oberfläche einen Teil ihrer Bedeutung. Für Isalde ist er, nachdem sie ihn einmal erkannt hat, ihr Geliebter Tristrant. Weder für ihn selbst noch für sie hat sich irgendetwas verändert. Das wird freilich nicht in seiner psychischen Dimension erzählt, wie man dies in einem modernen Roman erwarten würde. Die körperliche Erscheinung ist für die Leidenschaft bedeutungslos; kein Ekel vor der abstoßenden Gestalt löscht sie aus, und kein Bewußtsein der Entstellung läßt den Liebhaber an der Gegenliebe zweifeln.29 Auch für die Hofgesellschaft ist Tristrant derselbe, erweist sich der Narr als ihr alter Herausforderer und Gegner. Wenn man Verdacht schöpft und ihn fangen will, schlägt Tristrant die Angreifer nieder und kommt davon. Jetzt weiß jeder, wer in der häßlichen Körperhülle steckt. Auch die adelige Gestalt ist ein Kleid. Wenn es verloren geht, bleibt die unvergleichliche Körperkraft, die den Heros Tristrant auszeichnet. Sie bleibt durch alle Verkleidungen und Rollen hindurch mit sich identisch. Bei den höfischen Fortsetzern von Gottfrieds .Tristan' ist das nicht mehr so klar. Wenn bei Eilhart wenigstens augenblickshaft die Ubereinstimmung von Wesen und Erscheinung, Kern und Oberfläche wiederhergestellt werden kann (alle erkennen und bewundern schaudernd Tristrant), ihr Auseinanderklaffen aber weder für Tristrant noch für Isald ein Problem darstellt, wird in den Fortsetzungen von Gottfrieds ,Tristan' die Spannung zwischen Erscheinung und Sein als gefährlich für das Selbstbewußtsein des Helden erfahren. Ulrich von Türheim tadelt Tristan, daß er sich in die abscheuliche Gestalt eines Narren verkleidet und so ein unreht lehn (UTr 2503) vortäuscht. Das gehört sich nicht: er tet, des ich niht täte (2501). Die Belastung adeligen Selbstgefühls ist nur mit einem außergewöhnlichen Phänomen, mit Tristans minne, zu erklären, und sie geht vorüber, denn Tristan verkleidet sich nur. Auch Brangasne beklagt, daß ein küneginne amis (2612) als verachteter Narr am Hof lebt. Der mit der Maskerade verbundene Statuswechsel ist so unwahrscheinlich, daß niemand, auch nicht Markes Ratgeber, sich vorstellen kann, daß ein Tristan es sich zumutet nach sinem hohen prise,/ da^ er vüere in toren wise (28 3 5 f.). Der Erzähler, sein höfisches Publikum und Tristans Mitspieler konstatieren die Unvereinbarkeit zweier ständischer Rollen, die nicht eine und dieselbe Figur zugleich aushalten kann. Wer einmal Herr ist, darf (kann?) nicht als Outcast auftreten. Ständische Rollen haben stabil zu bleiben. Mit dem Verweis auf die minne aber ist eine Innendimension angesprochen, die sich dieser Regel offenbar entzieht. Tristan ist in erster Linie der Liebhaber der Isolde und Herr oder Narr nur, je nach dem, was ihn als Liebhaber weiter bringt. Bei Ulrich nutzt Tristan nicht die Entstellung durch eine Krankheit für seinen Auftritt als Narr, denn die Narrenrolle ist bei ihm bloßes Kostüm, das man wieder ablegen kann. Dann ist sogleich Tristans ,richtige'
Das ist, wie Kraß (2006), S. 248f. zurecht moniert hat, in meiner Studie (1990) zu wenig betont. 2
54
Falsche Oberflächen: die Identität des adligen Herrn
Oberfläche wiederhergestellt: sin varwe läter als ein glas (2428) und damit auch ein zeitweise dissimuliertes Selbstgefühl. Ulrich geht damit der Konsequenz aus dem Weg, daß die Veränderung der adligen Gestalt auch eine Veränderung der Person nach sich ziehen könnte. Er stellt die Eindeutigkeit der Inklusionsidentität wieder her. Mit diesem Problem wird auch Heinrichs von Freiberg ,Tristan'-Fortsetzung nicht fertig. Bei ihm verliert Tristan zwar (wie bei Eilhart) durch eine Krankheit seine schöne Gestalt, so daß er wie ein richtiger Narr aussieht an houbt, an glance, an ören (HTr 5102). Er ist mager, hat ein bleiches entstelltes Gesicht, einen dürren Hals. Aber die unfreiwillige Veränderung wird erst durch bewußte Inszenierung vollendet. Tristan muß auch noch seinen Gang toeriscb machen (5112), Narrenkleider anlegen, wie ein Narr reden und sich bewegen. Der adelige Körper ,spricht' also immer noch und muß sich ,verstellen'. Der Maskerade widmet sich Heinrich ausführlich, beschreibt das tdrencleit (5130), das sie perfekt macht: Stoff, Farbe, Schnitt, Accessoires. Erst jetzt werden alle Tristan für einen Narren halten, wird niemand ihn als Tristan erkennen. So kann der, der nie toren wart geno^ (5141), unerkannt in Isoldes Nähe gelangen und sich dort täuschend echt wie ein Narr benehmen (5166-5187). Auch hier ist Narrheit also mindestens zum Teil ein intentionaler Akt, bedingt durch minne. Die Täuschung durch den Körper gelingt so vollkommen, daß niemand Tristan erkennt, auch Brangäne nicht. Selbst Isolde muß durch das Kind Tantrisel darüber aufgeklärt werden, wer der Narr in Wirklichkeit ist. Dann aber behandelt sie ihn als Liebhaber, so als wäre er der alte. Bewußtsein und Oberfläche sind entkoppelt. Tristan bleibt trotz seiner Narrengestalt auch hier Heros. Er nutzt die Verkleidung, mit seinen Gegnern bei Hof brutal abzurechnen: Antret schlägt er ohnmächtig, Melot blendet er, indem er ihm Pfeffer in die Augen streut, und beim Abschied von Isolde tut er jenen ungeheuer weiten Sprung, an dem man ihn erkennen kann.' 0 Das erregt Markes Verdacht, der Narr sei Tristan (5703). Doch alle anderen bei Hof beruhigen ihn, er sei ein rechter tore gewesen (5711); denn ihnen ist unvorstellbar, daß Tristan die Entstellung durch die Krankheit für eine Maskerade ausnutzt, die ihn in den Augen des Hofs als einen schäbigen Narren erscheinen läßt. Auch Heinrich hält immer präsent, daß die Differenz zwischen Stand und Erscheinung eine Ausnahme ist, und erinnert, wenn er vom Narren spricht, daran, was der erenriche Tristan (5487) einmal war: ei, siie^er Riwaltnes sun, wie gar ir nü ein narre sit! ir habet doch alle iuiver ΐζit
,0
S o kann er v o m ,bösen' Pfelerin als Tristan enttarnt werden (5538). Pfelerin v e r f o l g t Tristan, erkennt ihn auch an seinen Gesichtszügen (5584), wird aber von ihm totgeschlagen.
2
3 5
Krisen adliger me starker langen vorswant wan törenkolben in der hant getragen nach der narren site.
Selbsterkenntnis
(5242-5247)
Nur in der Lücke zwischen den antagonistischen Standesrollen zeigt sich etwas, das mit dem Stand nicht verrechnet werden kann. Für Isolde ist der Narr zunächst kein Liebesobjekt. Erst nachdem sie informiert worden ist, erkennt sie die Chance, den Geliebten dauernd bei sich zu haben. Der Liebhaber Tristan scheint für sie also nicht identisch mit seiner vollkommenen höfischen Gestalt. Was Tristan für sie ist, ist mehr als das, was sich auf der Oberfläche seines Körpers und seiner passenden Zurichtung zeigt. ,Eigentlich' aber gehört beides zusammen. Wenn die Narrenepisode zu Ende ist und Tristan die Narrenkleider ablegt, ist Tristan deshalb plötzlich nicht mehr durch Krankheit entstellt. Wenn Heinrich ihn bis zuletzt als idealen höfischen Ritter darstellen will, muß die Entstellung schlicht ,vergessen' werden. So schlagen sich beide Fortsetzer mit dem Problem herum, daß es eine psychische Dimension gibt, die in ständischen Dimensionen nicht aufgeht; bewältigen können sie es nicht. Die Zeichen adeliger Existenz dürfen nur für die Dauer einer schwankhaften Episode verdunkelt werden. Gottfrieds ,Tristan' ging da, wie später zu sehen, viel weiter.
Verlust ständischer Identität: bin ichs? Die Frage bleibt: Was an den Zeichen ständischer Identität ist zentral, was bloßes Beiwerk? Sie hat höfische Erzähler beunruhigt. Im allgemeinen ist das Verhältnis von Standesrolle (ablesbar an äußeren Merkmalen) und (Selbst-)Bestimmung des einzelnen unproblematisch. In gewissem Umfang ist das Selbstgefühl (wenn schon nicht die Einschätzung der anderen) gegenüber äußeren Zeichen stabil. Das war es auch in der Narrenepisode bei Tristan selbst. Stabil ist es umso mehr, wenn man darauf hoffen kann, die Zeichen zurückzugewinnen. Wenn Gawein (,Diu Cröne') in einem Drachenkampf alle Kleider und Waffen verliert, ist das rasch repariert: Als er kam gegangen Daruff nackent und blos Sines namen er da genos^ Der wol wijte was bekant. Harnsch, ros:ζ vnd gewant Bereite sieyme vil schier [...].
(HCr 15227-15232)
Gawein selbst ist sich seiner selbst stets vollkommen gewiß, als jemand, der immer wieder bereit ist, sein Leben zu riskieren: Ich bin es nach Gawein, Als ich auch vor hin was, Der vor maniger freise genas^j
(25619-25621). 236
Verlust ständischer Identität: bin ichs?
Hier wird das Bewußtsein des Helden von sich selbst durch Umstände, die ihn seinem Stand entfremden, nicht grundsätzlich gestört. Dieselbe Sicherheit ist in Heinrichs von Neustadt ,Apollonius' zu beobachten, wenn der Held bei einem Schiffbruch alles, d.h. auch die Insignien seines königlichen Ranges, verliert und sich nackend undploß (1334) findet: Ward ich kuniges sun je? Dem pin ich ungeleich alhie." Gewan ich purgye unde land? Die sind miryet^o unbekant. Pin ichs Appolonius? Nain %war, mir was nicht alsus.
(1 342-1 347).
Die Frage Pin ichs Appolonius ist jedoch rein rhetorisch: Der Held erkennt das Mißverhältnis zwischen dem, was er von seinem Rang weiß, und dem, was er an seinem schiffbrüchigen Körper sieht. Er erinnert die Geschichte, die ihn in die mißliche Situation gebracht hat. Nur weil er sich bewußt bleibt, daß er Apollonius ist, kann er überhaupt mit seinem unverdienten Schicksal hadern.' 2 Wenn er sich fragt Here Got, wem pin ich geleich?/ Ich pin nackent und ploß dann sucht er gleich für sich, so wie er jetzt ist, eine passende ständische Rolle. Er findet sie in der Rolle des Bettlers (1379) und stellt sich sofort darauf ein: Was dar umb? ich lerns wol, Seyt ich pet lens pflegen sol. (ι }82f.)
Da er aber weiß, wer er ist, und die höfischen Fertigkeiten, die er gelernt hat, trotz seines Unglücks nicht vergessen hat, findet er im fremden Land sogleich eine seinem Stand und seiner Erziehung angemessene Position. Man erkennt bei Hof, Das er ist ain edell kintt (15 54), auch wenn er keine vornehmen Kleider trägt (1569f.). So bleibt er trotz der Umstände, der er war, und kann bei erstmöglicher Gelegenheit in seinen Stand restituiert werden. Ebenso rasch erfolgt die Korrektur später, wenn er seine Rüstung verloren hat und glaubt, damit seinen Stand eingebüßt zu haben; Man soll mich fürpaß nummer han/Dann als ainen posen kuchenknecht/Und wirser vil, das ist mein recht (8639-8641). Das reht ist das, was dem Einzelnen als sein Status zukommt; er ist an der äußeren Erscheinung ablesbar. Auch hier erweist sich die Befürchtung als gegenstandslos. Zwar macht die Rüstung den Ritter, aber man kennt den Helden und ersetzt ihm, was er verloren hat.
" ,z
Wörtlich wiederholt n64f.; an diese Beobachtung knüpfen sich Wigalois' und Iweins Selbstzweifel (S. 2j8f.; 241). E r wirft sich vor: Mer laid das det mir nicht so we/Hiet ich es mit ichti verdienet ee (1348f.) und macht sich Vorwürfe, daß er durch seine Werbung um die Königstochter von Antiochia zur Flucht aus seinem Land gezwungen war.
2
37
Krisen adliger Selbsterkenntnis
Diese Sicherheit kennzeichnet meist das Mitglied der höfischen Gesellschaft. Konrads von Würzburg Partonopier wird durch sein Leben in der Wildnis physisch völlig verändert; seine anschaubaren Adelsqualitäten werden zerstört, die den Ritter auszeichnende Kraft geraubt ( K P M 11006-11009). Doch vergißt er nie, wer er ist und was er verloren hat. Das gleiche gilt für Achill in Konrads ,Trojanerkrieg', wenn er von seiner Mutter Thetis aus der Obhut seines Erziehers Schyron entführt wird und sich plötzlich auf dem Meer wiederfindet. Erwachend fragt er sich zwar überrascht: bin ich Achilles oder niht (KTr 14094). Der Grund des Zweifels: er war eben noch in ganz anderer Umgebung, in der Obhut seines Erziehers Schyron. Er glaubt zu träumen, hat Mühe, sich zurechtzufinden, trotzdem weiß er: ja, ^wäre ich bin Achilles./ wa% mähte ich anders sin, denn er? (14095f.). Die Bedeutung äußerer Zeichen und ständischer Zuschreibung für die Identität kann nur reflektiert werden, wenn ihre Auswirkung auf das Selbstgefühl ausgedehnt wird. Das geschieht im Artusroman unter ,unwahrscheinlichen' experimentellen Bedingungen, unter denen die Abwesenheit der Zeichen die Frage: bin ich ich selbst? aufwirft. Achill stellt sich dieselbe Frage (bin ichs ...), die sich auch Wigalois und Iwein stellen, jedoch mit völlig anderem Ergebnis." Beide müssen nach der Antwort lange suchen, wenn sie die äußeren Attribute ihres Standes verloren haben. Beide erwachen aus einer mentalen Absenz, Wigalois aus einer Ohnmacht, Iwein aus dem Wahnsinn.34 Beide sehen sich nackt und zweifeln, daß sie der sind, als den sie sich erinnern. Beide gewinnen erst, als sie Attribute ihres vormaligen Standes entdecken, wieder Sicherheit über ihre Identität. Entscheidend aber ist, daß dies nur gelingt, weil bei beiden eine Ich-Instanz ins Spiel kommt, die sich mit dem, was die äußeren Attribute anzeigen, nicht abfindet. Im ,Wigalois' ist sie nur schwach. Wirnt erzählt die einfachere Geschichte: Gwigälois, der arme man, der het sich üf gerihtet. sin här was ungeslihtet, bluotic und geworren (WW 5791-5794)
Nackt und ohne die sichtbaren Zeichen seines Adels ist er unsicher, was mit ihm ist: Gwigälois, mahtu mir sagen: wa^ Wunders hat dich her getragen od wie stet din dine also? (5802-5804)
"
Ich stütze mich im folgenden auf Überlegungen in J.-D. Müller (2004a); zum Vergleich auch Cormeau (1977), S. 42f. In der Abhängigkeit von äußeren Zeichen und in der Erschütterung des Selbstbewußtseins durch diese Zeichen, obwohl es durch keinerlei Wahnsinn getrübt war (Wigalois weiß beim Erwachen, wer er ist), repräsentiert der ,Wigalois' den weniger als der ,Iwein' entwickelten Typus. >4 Zum Motiv vgl. Matejowski (1996), S. 122-155. 238
Verlust ständischer Identität: bin ichs? E r erinnert sich durchaus an sein vormaliges ritterliches Leben, an seine vornehmen Verwandten, an seine Geliebte. In seiner Erinnerung gehörte er zu dieser höfischen Welt. Die Erinnerung wird freilich durch den Augenschein dementiert. Wenn er seinen nackten K ö r p e r sieht, muß er sich eingestehen: D e m Wigalois, an den er sich erinnert, dem bistu leider ungelich (5807). Verwahrlost (5793f.), wilde (5810), ungebiure (5831), wie er aussieht, hat er nichts von einem höfischen Ritter." Gegen diesen sichtlichen Verlust seiner adligen Erscheinung kommt nun überraschenderweise die zunächst ganz ungefährdete Erinnerung an sein Ritterleben und das Bewußtsein, wie er heißt, nicht an. Sie können ihn gerade nicht dauerhaft „seiner Identität vergewissern] ". ,ei%j wie ich verkaufet bin/mde emvei^ ouch, ιναζ min werden sol (11591-11595). 31 Die Selbstverständlichkeit des Mechanismus zeigt sich bei Heinrich von Freiberg in Tristans Werbung um Isolde Weißhand, diesmal in eigener Sache: Mit der Werbung verspricht er Isoldes Familie eine politische Allianz (und da% er bi uns bltbe, HTr 406). Als sun unde lieber eidem erhält er die Herrschaft über lant unde liute (498—500). 3! Allgemein Barbara Haupt: Der schöne Körper in der höfischen Epik, in: Körperinszenierungen (2002), S. 47-73· " Dies vor allem ist der Grund der „ennobling love" (Jaeger 1999, passim; bes. S. 54-58; 145-154). >4 So werben ζ. Β. im ,Apollonius' drei Grafen um Lucina, die spätere Frau des Helden. Jeder ist von hoher artt (1972), konkurriert mit dem Rivalen aber durch die Höhe der Geldsumme, die er Lucina als morgengab verspricht. Das Kriterium wird eingeführt, um zurückgewiesen zu werden; denn wenn Lucina gefragt wird, wer ihr von den dreien der liebste sey (2072), beachtet sie das Geldangebot 574
Imaginäre
Überhöhungen
nie ausschließlich als persönliche Vorzüge. ,Schönheit' z.B. ist Grund individuellen Begehrens, doch ist sie auch gesellschaftliche Qualität, die den Partnern einer adeligen Allianz regelhaft attribuiert wird und die insofern anderweitige (etwa dynastische) Interessen regelmäßig unterstützt. Ahnliches gilt von edlem Verhalten, das zugleich individuell attraktiv und sozial normkonform ist, gilt von herausragenden Taten, die die Gemeinschaft stützen, das Recht auf die Hand der schönsten Frau begründen und deren Zuneigung bedingen. Der minne wert ist vor allem ritterliche Tat. Sie ist die Ursache, minne die Folge. Die Landesherrin ist Belohnung für ritterliche Tat. Der Held verliebt sich umstandslos in die Frau, die er gegen einen Usurpator und Rivalen zu erretten hat. Er stellt die gefährdete Ordnung wieder her; aus seiner Rettungstat ergibt sich die minne zwischen ihm und der geretteten Frau. M Im ,Wigalois', der diesen Schematismus immer wieder betont,' 6 besteht zwischen minne und äventiure keine Spannung; beide fallen ineins. Die äventiure ist Wigalois vorbestimmt, die minne stellt sich als Konsequenz ein; ihr fehlt damit ein genuin persönlicher Ursprung.' 7 Verwandt mit diesem Typus, doch anders motiviert ist die Bewährung des Mannes im Dienst der geliebten Frau, in einer Äventiure- oder Turnierfahrt. Insbesondere die sog. Minneromane gehen dabei oft von einer ständischen Asymmetrie der Minnepartner (meist dem geringeren Rang des Mannes) aus, die auf einem langen Weg überwunden werden muß.' 8 Auch diesen Typen ist gemeinsam, daß sie mit den politischen Erfordernissen feudaler Allianz versöhnt werden müssen und meist auch tatsächlich versöhnt werden. Deshalb darf die ständische Asymmetrie einen bestimmten Spielraum nicht überschreiten (so wie schon beim Herwic der ,Kudrun'). Wilhalm von Orlens, der um die englische Königstochter wirbt, ist immerhin Landesfürst; Partonopier Graf; Engelhard mindestens adlig, Wildhelm von Osterreich Herzogssohn. Wenn die jeweiligen Rivalen des Helden zwar dynastisch gleichrangige und politisch erwünschtere Partner sind," so ist der Held, da er geliebt wird, der er-
überhaupt nicht. Sie lehnt alle drei ab und entscheidet sich für den schiffbrüchigen, folglich mittellosen Apollonius, der durch seine höfischen Vorzüge ihre Zuneigung gewonnen hat und dessen fürstlicher Rang evident ist. " Dieses Schema steht noch im Hintergrund der Karriere des Gregorius bis zur Entdeckung des Inzestes mit der Mutter (vgl. Schmitt, 2002b, S. Mjf·)· Gregorius ist eilende (HaG 1417-1419); er kalkuliert schematypisch das Risiko des in äventiure sich bewährenden Ritters, der nicht viel zu verlieren hat: man klaget mich niht ml/ ob ich von im tot gelige:/ ist aber da^ ich im angesige,/ so bin ich eren riebejiemer emcliche. (2058-2062). >6 WW 3786-3802; 4136-4152; 4158-4161; 4182-4191; 4701-4706; 7222-7227; 8008-8010; 8100-8123. r
" "
Vgl. Fuchs (1997), S. 1 3 7 - 1 3 9 (gegen Cormeau, 1977, S. 33). Das hängt mit dem Konzept des Helden zusammen, der für seine Aufgabe auserwählt ist (vgl. auch S. 140-147 u.ö.). Larie wird „völlig in die Funktion des — zusätzlichen — Handlungsanreizes und der — zusätzlichen — Belohnung für den Helden eingesetzt", freilich „ohne daß dadurch ihre Bedeutung als Objekt des Begehrens des Helden am mehreren Stellen der Handlung geschmälert würde" (S. 184). Vgl. A. Schulz (2000), S. 65-67. A. Schulz (2000), S. 47. Allerdings ist oft die Ausblendung der politischen Implikationen auffällig.
375
Dynastische
Allianz
und
minne
folgreichere. Damit wird das Allianzprinzip zwar geschwächt, nicht aber außer Kraft gesetzt. So erweist sich im höfischen Roman das System adeliger Eheschließung als zugleich relativ stabil und relativ flexibel, stabil nach unten hin, doch flexibel da, wo meritokratisches Selbstverständnis mit traditionalem Herkommen in Ubereinstimmung gebracht werden muß. Die glatte Bestätigung der Allianz und die nie gefährdete Ubereinstimmung aller ihrer imaginären Besetzungen ist narrativ uninteressant. In die Erzählmuster sind daher Widerstände eingebaut, die erst überwunden werden müssen. Dabei gibt es Kompromißstrukturen (was dynastisch gefordert ist, wird als personal verantwortet oder individuell gewünscht erwiesen), und es gibt Konfliktmuster (individuelle Antriebe scheitern an den dynastischen Allianzstrukturen). Der Ausnahmerang einer Befreiungstat kann gesellschaftlichen Makel vorübergehend kompensieren, 40 sehr selten aber auf Dauer ausgleichen, so daß sich in der Regel zuletzt der Makel als gegenstandslos erweisen muß. Der völlige Verzicht auf ständische Adäquatheit ist die Ausnahme. 41 Begrenzt ist das Spielfeld durch die soziale Norm der Angemessenheit, auch wenn diese sich manchmal erst ganz zuletzt herausstellt, nach einem langen Umweg. Im allgemeinen werden verschiedene Motive kombiniert und gesellschaftliche Legitimationen von minne sukzessive angelagert. In der ,Guten Frau' z.B. ist der Ehemann der Heldin dieser nicht ganz ebenbürtig, und die Asymmetrie wiederholt sich, wenn diese selbst später den Grafen von Bleis und sogar den König von Frankreich heiratet. In jedem dieser Fälle wird die Heirat nicht nur ständisch-sozial abgesichert, sondern durch die Qualität und die Verdienste der Partner imaginär überhöht. Ausgangspunkt der ersten Heirat sind zwei intakte Adelsfamilien: Vater, Mutter, Tochter bzw. Sohn. Die beiden Familien sind nahezu rang- und besitzgleich, und so steht der Verbindung der Kinder kaum etwas im Wege, obwohl der Vater des jungen Mannes Vasall des Vaters des Mädchens ist. Die Heirat gleicht die minimale Ungleichheit aus (Inklusion von Vasallität); die Sprößlinge lieben sich von Kind an (Inklusion von Geschlechterliebe bei Exklusion von Sexualität); sie sind gleich schön und tugendhaft (Inklusion christlicher Perfektion); der Vater des jungen Mannes vertritt Vaterstelle an dem verwaisten Mädchen (Inklusion spiritueller Verwandtschaft); der Sohn vollbringt Rittertaten im Dienst der Geliebten
Besonders weit geht der ,Wilhelm von Österreich': Wildhelm handelt nur noch für sich, und auch für Aglye sind die vorgeschlagenen politischen Allianzen unbeachtlich. Die Herrschaftskontinuität ist auf Wildhelms Sohn verschoben (Vollmann-Profe, 1991, S. 127; vgl. Ridder, 1996, S. 185). Damit lockert sich das oben beschriebene Motivationsgefüge; zur Spannung zwischen ,öffentlichem' und .privaten' Aspekt vgl. auch Dietrich Huschenbett: Ehe statt Minne? Zur Tradition des Minneromans in Mittelalter und Neuzeit, in: Spannungen (1996), S. 183-203. 40 A. Schulz (2000), S. 48: „Aktives Rittertum legitimiert sozialen Aufstieg" (S. 6j; vgl. S. 99). *' So ist z.B. im .Daniel' des Stricker eine Dame bereit, den Sieger in einem Kampf um sie zum Mann zu nehmen, swie swache er ware geborn (StD 1269). Doch tritt dergleichen gottlob kaum je ein.
376
Imaginäre Überhöhungen (Inklusion ritterlicher Bewährung). N a c h d e m der Geliebte sie dann auch noch v o r einem unliebsamen Bewerber rettet, sollte einer E h e nichts im Wege stehen. Trotzdem besteht die Frau auf den R e g e l n eines angemessenen K o n n u b i u m s und konsultiert ihre Vasallen: ich enwil noch enmac hinnen vür deheinen tac ΰΐζ iuiverm rate geieben, welt ir mir einen man geben, den kieset als es iuch ge^eme da% ich in durch iuwern willen neme (GF 1417-1422). Z w a r war der E i n d r u c k erweckt w o r d e n , sie sei auch ohne den Rat zur nicht-standesgemäßen Eheschließung entschlossen und wolle ihre Berater notfalls mit List dazu bringen, wie sie will, zu entscheiden (swie si den gelüge/und si mit listen betrüge, 1399f.), doch solch eine List wird gar nicht gebraucht. D i e legitimitätstiftende Instanz muß nicht umgangen werden, denn der R a t entscheidet ohne Umstände, was auch sie will. D i e Z u n e i g u n g wird auf sechsfache Weise legitimiert und dadurch v o n einer ungeordneten Leidenschaft abgesetzt. Diese Geschichte wiederholt sich, wenn die Frau aus bitterer A r m u t zuerst zur G r ä f i n v o n Bleis und dann zur K ö n i g i n v o n Frankreich aufsteigt. A u c h hier wekken zunächst ihre Vorzüge das Begehren des G r a f e n , dann des K ö n i g s . 4 ' Wenn der G r a f sie zuerst zu seiner K o n k u b i n e machen will, scheint sie nicht standesgemäß, wenn aber G o t t das verhindert hat und er sie zur E h e f r a u wünscht, braucht sie außerdem auch die Z u s t i m m u n g v o n des graven mäge unt man ( 2 1 3 5 ) , und wenn der G r a f stirbt, wird sie folgerichtig v o n diesen als E r b i n seiner Herrschaft bestätigt. A u c h die E h e der Witwe mit dem K ö n i g v o n Frankreich, der sie ihrer Tugenden wegen begehrt, kann nicht auf ständische Absicherung verzichten. D e r K ö n i g fragt die Vasallen, denn Eheschließung ist eine Sache der Herrschaftsstände, der G r a f schaft, des Königreichs. Sie stimmen zu. D i e G u t e Frau erfährt, daζ tu die vürsten rieten, und die herrn von iuiverm riche alle gemeinliche mit rate an iuch kamen, und si gern vrouwen ncemen. (2240-2244; vgl. 2209f.)
42
N o c h in der Entstellung durch A r m u t und K r a n k h e i t war sie ein süberlicheζ wip {ιη^ιί.). Als Dienerin in einem v o r n e h m e n Haus wird sie standesgemäß eingekleidet, erhält ihre frühere schöne Gestalt zurück (schoene, reht als e, 1969) - die Gestalt einer adligen D a m e - und schafft sich ein R e n o m m e e durch die kostbaren Handarbeiten, die sie anfertigt - eine B e s c h ä f t i g u n g für eine D a m e von Stand. S o verbreitet sich die allgemeine Ansicht, sie müsse eigentlich Herrscherin sein (^/r a·ατ ein riche wol bewant, 1978).
377
Dynastische Allianz und minne
Sie muß ihrerseits die Entscheidung ihren eigenen mannen und vriunden anheimstellen: redet sus wa^ ir wellet (2352; vgl. 2368f.). Da diese einverstanden, sind und die Großen von Frankreich den Entschluß noch einmal billigen, ist überdeutlich die Legitimität der ungleichen Verbindung erwiesen.45 So bleibt selbst die legendenhafte Geschichte vom Triumph der Güte an die Bedingungen politisch-sozialer Konvenienz und die politischen Institutionen geknüpft. Ständische Qualifikation ist als Grundlage eines Minneverhältnisses unabdingbar. Wenn Gawein im ,Prosa-Lancelot' einer Jungfrau seine minne anbietet, erhält er zur Antwort: nit spottent myn [...] Ich weiß wol das ir rych sint und hoch eyn herre das ir eyn also arme jungfrauw soltent lieb hann als ich bin (PrL III S. 416,12-14). Das Mädchen beruft sich auf die ständische Differenz; sie sei kein Objekt der minne eines so hohen Herrn. Dazu macht sie geltend, daß sie an einen unbekannten Ritter gebunden ist. Darin sieht Gawein seine Chance. E r denkt offensichtlich nicht an eine Verbindung unter Ranggleichen, und so bleibt er hartnäckig in seinem Werben. Sein Rang scheint ihm einen Anspruch auf die arme jungfrauw zu verschaffen, einen höheren jedenfalls als irgendeinem vielleicht ständisch konvenienteren, doch einfachen Ritter. Gawein will dessen geringeres Recht beweisen, indem er sein eigenes Wappen, Zeichen seines höheren Adels, ins Feld führt; daran werde sich zeigen, das er nit als gut ist als ich (III S. 417,14). Wenn der unbekannte Ritter sich dann aber als Lancelot, der beste ritter von der weit, entpuppt (III S. 419,4), dann muß Gawein sogleich mit seinen Ansprüchen hinter ihm zurückstehen. Doch jetzt fragt man sich, wie ein Lancelot nur solch eine bescheidene Jungfrau erwählen konnte (III S. 420,i2f.), wo man doch zu wissen glaubt, das er sin here£ kere an keyn jungfrauw, sie were dann viel höher geborn dann er (III S. 430, r 3£). Auch der Bruder des Mädchens rät: schwester, kerent uch anderßwo, wann da hant ir gefeiet, wann ir mögent nit darc^u komen in keyner wise in aller weit. Wann ich weiß wol das er sin here% als hoch hat gesackt das er sich wolt nit nyderen umb ein als arm jungfrawe als ir sint. Und werent ir noch die schönstjungfrauwe von aller der weit, so mußent ir uwer here£ nyderer sec^en dann ir hie hant gethan, wann von eynem also hohen bäum mögent ir die frucht nit gewinnen (III S. 439,1-6).
Und in der Tat, Lancelots angebliche minne zu dieser Jungfrau erweist sich als Irrtum. Das ändert aber nichts an der verqueren Begründung für minne-, minne und ständische Ordnung werden als homolog unterstellt.
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Auch nach dem baldigen Tod des Königs haben noch einmal die Großen das letzte Wort; sie wollen, daß sie sich wieder verheiratet (2184-2188).
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Scbeinkonjlikte Scheinkonflikte D a s Austarieren von rninne und Politik generiert verschlungene Erzählungen. In Heinrichs v o n Veldeke ,Eneit' scheint v o m D i a l o g Lavinias mit ihrer Mutter an die persönliche Dimension die Hauptsache, in Lavinias Liebeskrankheit, nachdem sie Eneas erblickt hat, in dessen eigenem Leiden, den beiderseitigen B e f ü r c h t u n g e n und Mißverständnissen. D i e psychologische Ausarbeitung gilt als beispielhaft für die höfische Variante der Erkenntnis Amor
est passio. D i e literaturgeschichtliche
Schlüsselstellung hat aber den Umstand in den Hintergrund treten lassen, daß die Liebesgeschichte zwischen Eneas und Lavinia erst einsetzt, nachdem auf der dynastischen E b e n e bereits alles klar ist, indem Lavinias Vater Latinus sich entschieden hat, seine Tochter dem Flüchtling aus Troja zu geben, und dieser Entschluß nur noch gegen einen früheren Bewerber um Lavinias Hand durchgesetzt werden muß. 44 D i e narrative Verkettung rückt die /w/»«i-Handlung mithin auch hier noch in eine Position der Nachträglichkeit, Nachträglichkeit gegenüber dem Prinzip dynastischer Opportunität, über die der Vater (d.h. weder das betroffene Mädchen noch ihre Mutter) entscheidet. Was nachträglich ist, ist deshalb nicht unbedingt nachrangig. Im Gegenteil, E n e a s wird als künftiger Herrscher durch die «räw/e-Handlung legitimiert, und die älteren dynastischen Ansprüche des Turnus, denen eine vergleichbare Legitimation fehlt, verlieren dadurch ihr Recht. D i e ,Eneit' steht somit an der Schnittstelle konkurrierender Motivationen. Latinus beruft sich, gleich wenn die Boten des Eneas k o m m e n , auf ein G e b o t und eine Prophezeiung der Götter, die Eneas zu seinem N a c h f o l g e r und E r b e n bestimmen ( H v V 3 9 5 9 ^ vgl. 43οηΐ.; 4 3 i 4 f . ) . Sein Entschluß lautet schon damals: min tohter tvii ich ime geben minnen und ivibe und nach minem libe min lant und min riche. (3954-3957) Natürlich stellt Latinus seine Entscheidung unter den Vorbehalt der göttlichen L e n k u n g (3961) und desgelucke (4015), aber er läßt keinen Z w e i f e l daran, daß damit ältere Z u s a g e n an den gleichfalls durchaus angemessenen Bewerber Turnus hinfällig sind. 4 ' D e r Verweis auf die G ö t t e r ist nur scheinbar ein heidnischer Atavismus, denn immer wieder wird daran erinnert, daß Eneas Verwandter (mäc) der G ö t t e r ist, die G ö t t e r also zu dem Verband gehören, auf den sich sein R a n g und sein Ansehen gründen: her is ein wol geboren man/von der gote gesiebte (847of.). 46 Latinus entscheidet auf der E b e n e dynastischer Konvenienz. V o m Vater, dem Bräutigam und dem 44
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Zum Hintergrund Friedrich (1999), S. 172-174. 3974-3976; 3981-3983; 3986-3989; 3992-4002. Vgl. z.B. 4049; 8035; 11699 u -ö·; ähnlich 4325. 379
Dynastische
Allianz
und minne
Verwandtschaftsverband, hängt eine Heirat ab. Und so betrifft die Kränkung auf der Gegenseite ebenfalls diesen Verband: Turnus und sfne[] frunde[] alle[] (3998). Anfänglich sind also auch die Ansprüche des Eneas genealogisch-politisch begründet. Zwar beruhen sie nicht wie die des Turnus auf hergebrachter Stellung47 und rechtlicher Vereinbarung.48 Doch ist Italien Eneas' rechte% erbe (11703) von seinem Ahnen Dardanus her (11680-11683), und er ist der überlegene Kämpfer. Die einzelnen Qualifikationen hängen eng zusammen. Latinus wolle ihm seine Tochter und sein riebe geben, richten die Boten aus, dai^ her sichs manlühe/'schiere underwunde (4i24f.).
Turnus dagegen bezweifelt Eneas' dynastische Eignung, 49 hält an den eidlich abgesicherten Abmachungen fest und verlangt von Latinus sein reht (5347): da% her mir sin riche/mit siner tohter wolde geben (5 3 5 8f.); notfalls will er es gewaltsam mit der fruntlichen Hilfe von mäge und man (5349) durchsetzen. Die Frau ist nicht mehr als ein bloßes Anhängsel der Herrschaft. 50 Es ist nur eine Umschreibung einer dynastischen Allianz, wenn die Mutter von Turnus sagt, daß er dinre minnen starke gert (9755). Sie mißt Lavinias Schönheit und Qualität (gut) an Turnus' Adel und stellt Konvenienz fest. Weil sie zu Turnus paßt, soll Lavinia ihn minnen (9788), Eneas aber ha^en (9777). Die von der Mutter gewünschte Allianz wird hier wie in der ,Kudrun' nur in eine andere Sprache, die der Emotionen, gekleidet. Erst nachdem die dynastische Situation geklärt ist, aber noch bevor die Entscheidung im Zweikampf der beiden Bewerber fällt, greift die minne zwischen Lavinia und Eneas ein. Sie supplementiert also das Allianzprinzip, und zwar einseitig zugunsten des Eneas. Lavinia hat von Eneas gehört, kennt also und bewundert seine Fama, dann sieht sie ihn von ferne und verliebt sich in ihn. Wenn sie ihm, nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern in einem Brief ihre minne mitteilt und Eneas den Brief mit einem Pfeil schickt, dann blickt er zurück und verliebt sich gleichfalls in sie.5'
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Die Königin wendet gegen Eneas ein: im nis von gebordefsoiieh ere niht geslaht (4184?.), stellt also Eneas genealogische Qualifikation in Frage. Turnus beschuldigt Eneas, hergebrachtes Recht anzutasten: da^ herm sin a>ib näme/und sine borge und sin lant,/ da hern geerbet ane vant (4382-4284). An der Absprache zwischen Latinus und Turnus war der ganze Herrschaftsverband beteiligt gewesen (4i99f.), d.h. der kunich unde sine man (4405). Es gibt Zeugen, die die Ubereinkunft gehört und gesehen haben (4418). Sie wurde vor den lüten offeniiehe geschlossen (5357)· So verläßt sich Turnus für ihre Einlösung auf seine frunde, auf manne unde mäge (4486f.). Vgl. 4447; sie wird auch von der Königin mit Hinweis auf seine Flucht aus Troja, bei der er sine[n] heren und sine[] knehte[] im Stich ließ (4215), bestritten: Eneas hat gegen die Verpflichtung zu wechselseitiger triuwe verstoßen (vgl. 4178; 4253). Etwa in Formulierungen wie da^ erbe/und die maget wolgetan (870οί.); lant unde wib (9602); ür tohter und ur riche (9612). Z u dieser Szene Henning Wuth: was, sträle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke, in: Gespräche (1997), S. 63-76, insbes. S. 73. 380
Scheinkonflikte Schon was die Mutter der Tochter als das Wesen der minne erklärt, muß grundsätzlich die Geltung der Prinzipien, nach denen Lavinia bisher verheiratet werden sollte, aufheben: Gegen die Macht der minne kann sich niemand wehren; sie schert sich nicht um Überlegungen ständisch-politischer Zweckmäßigkeit. E s ist deshalb unsinnig, dass ausgerechnet die Mutter Lavinia von der minne zu Eneas zugunsten der abgesprochenen und rechtlich gesicherten Heirat mit Turnus abzubringen sucht. Lavinia bestätigt doch nur, was die Mutter über die minne gesagt hat, und nicht das, was sie beabsichtigt. Für Turnus empfinde sie statt minne ha£ ( 1 0 3 3 8 - 1 0 3 4 7 ) und sein Adel bedeute ihr nichts ( i o j ö i f . ) . Trotzdem, indem Lavinia glaubt, allein ihrem Blick auf den minnesalegen Troiän (10023) u n d seine Schönheit zu folgen (10025; 10098-10105), gehorcht sie tatsächlich dem Prinzip der überlegenen Allianz. Sie revoltiert scheinbar gegen die dynastischen Entscheidungen anderer - und erfüllt sie eben damit. Ihre eigensinnige Wahl würde nur dann, wie die Mutter meint, ihr gesiebte (10637) entehren, wenn sie dadurch nicht in Wirklichkeit den Wunsch eben der Ratgeber erfüllte, die für die Wahl der rechten Eheverbindung maßgeblich sind, vor allem des Vaters. Der Rat der Mutter steht für die falsche Allianz, was sich auch an ihrem Versuch einer Instrumentalisierung der auf Sexualität reduzierten minne zeigt, durch die sie Lavinia für Turnus gewinnen möchte." Die politische Allianz, die der Vater anstrebt, wird zusätzlich gerechtfertigt, weil sie auch emotional gedeckt ist. Das gleiche gilt für Eneas, der sich in Lavinias Anblick verliebt (10978-10990; 1 1 1 9 5 - 1 1 1 9 9 ) und durch den Brief die Versicherung ihrer Liebe erhält, gleichzeitig aber - wie von A n f a n g an - die politische Heiratsallianz weiterverfolgt, die ihm tohter, erbe und riebe verschaffen soll ( 1 1 7 0 8 - 1 1 7 1 1 ) . A u f der Textoberfläche wird die gewaltsame Brautwerbung des Eneas durch höfischen Minnedienst überhöht; im Dienst seiner Dame fühlt er sich stärker denn je ( 1 1 3 3 4 - 1 1 3 3 8 ) . Doch wird das dynastische Ziel nicht durch die Emotion ersetzt. Daß Eneas' höfischer Minnedienst ein besonderer ist, reflektiert der Erzähler an einem ausführlich besprochenen ,Versäumnis': Eneas muß ohne ein kleinot seiner Dame den Entscheidungskampf kämpfen ( 1 2 2 1 6 - 1 2 2 2 2 ) , ohne ein Haarband, einen Ärmel, Ring oder Gürtel, der ihn als ,ihren' K ä m p f e r ausweisen und anspornen würde. Immerhin erinnert Lavinia sich daran, daß wenigstens ihr Brief an Eneas als solch ein Zeichen verstanden werden könnte. Indem übliche Requisiten des Minnedienstes fehlen, wird unterstrichen, daß der K a m p f im Minnedienst nicht aufgeht. Durch die minne wird zwar ein höheres Recht des Eneas suggeriert, für die Akteure aber geht es immer um die richtige Allianz."
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S c h n v d e r (2003a), S. 240; 247. F r i e d r i c h ( 1 9 9 9 ) , S. 1 7 1 — 1 7 5 zeigt, w i e in E n e a s und T u r n u s k o n k u r r i e r e n d e
„Rechtspositionen"
g e g e n e i n a n d e r g e f ü h r t w e r d e n , die beide die politische D i s k u s s i o n der zweiten H ä l f t e des 12. J a h r h u n d e r t s b e s t i m m e n . In E n e a s siegt der „ O r d n u n g s d i s k u r s " , d o c h w i r d die in T u r n u s repräsentierte
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Dynastische Allianz und minne
Wegen dieses politischen Hintergrunds weigern sich anfänglich einige Gefolgsleute, alles vom Ausgang eines Zweikampfes zwischen Eneas und Turnus abhängig zu machen. Sie vertreten gewissermaßen die ältere, im Brautwerbungsschema verschlüsselte Position, daß der Erfolg in der minne nie nur eine Sache des Herrschers ist und daß deshalb alle Vasallen ihn mit zu erkämpfen haben. Ein Anhänger des Eneas will sich nicht damit abfinden, daß nur sein Herr Ansprüche auf das Königreich erhebt. Deshalb fordert er, daß die Trojaner, auch wenn Eneas gegen Turnus scheitern sollte, in seine Rechte (wieder: auf Frau und Land) eintreten: dilant is unser erbe: war halt fineas begraben, dannoch so wold ich behaben mit den f runden minen die schonen Lavinen und da% kunichriche und wolde nameltche kunich hie beliben. (i 2000-12007)
Heinrich von Veldeke macht klar, daß das Prinzip, auf das dieser Mann sich beruft, ein veraltetes Denken spiegelt, indem er ihn aus der Geschichte eliminiert.54 Er fällt im Kampf, und zwar fällt er ausgerechnet gegen jenen Turnus, für den minne und Allianzprinzip identisch sind. Turnus versteht seinen Sieg folgerichtig als den Sieg dieses Prinzips: ich behalde min wib und min kunichriche
vor dir gewaldechltche
(12026-12028).
Später, als er sich besiegt fühlt, sagt er ebenso folgerichtig, um sein Leben zu retten: habet ü lant unde wib (12541). Den Sieg erringt letztlich Eneas, indem die minne ihn anspornt (des gewan der helt gut/grimmigen hohen müt, 12431 f.), im Kampf sein Letztes zu geben - für Frau und Land. In seinem Erfolg werden zuletzt minne und Allianz versöhnt. Von Lavinias minne oder auch nur Einverständnis ist bei diesen Zweikämpfen allerdings keine Rede. Eneas und Turnus kämpfen umbe£ kunichriche/und umb die ere und umbe% wib (i24o6f.), wobei die Reihenfolge bezeichnend ist. Auch für Eneas geht es um ein doppeltes Ziel. So läßt er sich denn auch Zeit, wenn er gewonnen hat, seinen Kampfpreis Lavinia, diu im lieb was so der Hb (12641), einzufordern. E r legt sich erst einmal schlafen, so daß Lavinia sich wieder einmal nicht geliebt glaubt. Dann begnügt er sich mit einer zeremoniellen Begegnung (i2786f.), die den höfischen Rahmen wahrt, mit der Erbin des Latinus (12875-12916; 12947-12965). Er wartet
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Gewalt keineswegs abgewertet, im Gegenteil gibt sie im entscheidenden Zweikampf zwischen Eneas und Turnus den Ausschlag. Umgekehrt auch ein Mann des Turnus ( 1 1 7 7 1 - 1 1 7 8 8 ) ; er wird gleichfalls liquidiert. 382
Scheinkonflikte
die offizielle Hochzeit, diu brütlouft (13101), ab, um erst dann feierlich bei einem Hoffest beides zu erhalten, die Erbin und die Option auf die Nachfolge des Königs. do wart der here Eneas kunige gekronet. do wart im wol gelonet aller siner arbeit mit schönem wibe und richeit.
( 1 3 1 2 0 - 1 3 124)
Bezeichnend ist die Reihenfolge. Ahnlich heißt es über Lavinia: do krönde man Lavinen feiner kuneginne. sie was do ir minne komen ζe gittern ende an alle missewende. ( 1 3 1 2 8 - 1 3 1 3 2 )
Zuletzt also mündet Eneas' und Lavinias Liebe dann doch dort, wohin Latinus von Anfang an zielte, in einer dynastischen Verbindung. Diese ist von Anfang bis Ende der Rahmen, in dem minne allererst diskutiert werden kann. Das dynastische Prinzip wird nicht durch minne abgelöst, sondern nur überformt; zuletzt aber fallen beide zusammen. Veldeke spielt mit den unterschiedlichen Motivationen. E r steht am Anfang der höfischen Epik. Insofern ist seine Gewichtung keineswegs typisch für diese insgesamt. Anderwärts können die sozialen Kriterien einer angemessenen Verbindung stärker durch minne in Frage gestellt werden. Doch wird die politisch begründete Heiratsallianz kaum je vollständig verabschiedet, sondern bleibt der Rahmen, in dem die Geschichte personaler minne sich abspielen kann und die antagonistischen Positionen narrativ miteinander versöhnt werden müssen. Noch in Iweins und Laudines minne (Hartmann von Aue, ,Iwein') überschneiden sich die Motive der Allianz, der ritterlichen Bewährung, der erotischen Anziehung. Iwein hat Laudine ,erstritten' oder sich mindestens als Sieger über Ascalon ihrer wert erwiesen. Aus dem gleichen Prinzip erklärt sich Lunetes Vorschlag, zum Schutz der Gewitterquelle solle ihre Herrin einen anderen Mann nehmen; der geeignetste dazu sei aber der, der den bisherigen Hüter der Quelle erschlagen habe, denn er sei tiurer. der in da jagete unde sluoc, der ist der tiurer gewesen: min herre ist tot und er genesen.
(Hai 1968-1970)"
Von minne keine Rede: Offenbar spricht nicht einmal manifester ha% auf den, der Laudines Mann getötet hat, gegen solch eine Verbindung. Wolfram von Eschen"
Vgl. 1 9 5 5 - 1 9 5 8 u. 2 0 3 3 - 2 0 3 7 . In 2058-2065 bedenkt sie ihre U n f ä h i g k e i t , den Brunnen zu verteidigen.
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Dynastische Allianz und minne
bach hat gegen diese Logik polemisiert und in Herzeloyde und Sigune Gegenfiguren geschaffen, die nicht den einen Mann umstandslos gegen den anderen austauschen. Aber weder nach dem Prinzip dynastischer Konvenienz ist Lunetes Argumentation abwegig noch nach dem Prinzip, daß eine Frau gewöhnlich der Preis für ritterliche Tat ist.56 Laudine läßt sich auf diesen Vorschlag ein (1823-1830; 1899-1906). 57 Da es um politische Zweckmäßigkeit geht, gelten die gewöhnlichen Regeln adäquater Heiratsbündnisse. Als Bedingung einer Heirat nennt sie: hat er die geburt und jugent und da %uo ander tugent, daζ er mir ^e herren s>imt und swenn e% diu werlt vernimt, da^ si mirs^ niht gewinn kan ob ich genomen habe den man der minen herren hat erslagen (Hai 2089-2095).
Lunete beruhigt sie: ir sit mit im geret (2104) und nennt Iwein. Der berühmte Name' 8 und seine königliche Herkunft ( 2 1 1 1 ) sprechen für ihn; ,niemand' in der höfischen Gesellschaft könne das tadeln. Natürlich müssen bei einem solchen Staatsakt die Vasallen zustimmen: Ir namet übele einen man, däne ware ir rät an. (215if.)
Auch Hartmann hat der Logik der Lunete später energisch widersprochen und den Automatismus durch den Gang der Handlung in Frage gestellt. Trotzdem, erst jetzt, nachdem die Weichen gestellt sind, kommt überhaupt minne ins Spiel, die das politische Kalkül in emotionalen Zwang verwandelt, zuerst auf Seiten Iweins, der seiner Liebe zu der Witwe wegen in ihrer gefährlichen Nähe bleibt59 und sich als Gefangener ohne Rücksicht auf ihre Todfeindschaft und die Gefahr für sein Leben in ihre Gewalt begibt (1419-1421). Das erste Gespräch der beiden ist deshalb an-
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Unklar ist insofern, wieso Simon (1990a), S. 49 behauptet, „schlechterdings dem Ethos der höfischen Welt widersprechend ist der Entschluß der Dame, den zu heiraten, der kurz zuvor ihren Ehemann erschlug". Das ist die Wertung Wolframs, die doch nur zeigt, daß das Schema hier problematische Konsequenzen hat. Es mag sein, daß Laudines Reaktion eher der einer Fee im Feenmärchen entspricht, doch plausibel ist sie nach der Regel ,ritterlicher Gewinn von Frau und Land' allemal. Mertens (1976) hat zurecht die Rolle Laudines als Landesherrin hervorgehoben. Die Diskussion seiner Thesen wurde geführt, als handele es sich um eine Alternative zur gewöhnlichen Deutung der Beziehung Iwein - Laudine. Dagegen macht Hartmanns Erzählung eindeutig klar, daß minne immer auch, und seitens Laudines besonders, in den Regelzusammenhang adäquater Heiratsallianzen eingebunden ist. Anders sind die vielen politischen Schritte, die ihrer Eheschließung mit Iwein vorausgehen, nicht zu verstehen. Vgl. S. .95. Auch bei ihm gab es anfangs einen anderen Grund dafür, daß er sich nicht heimlich aus Laudines Burg zu entfernen sucht, nämlich, wie schon beim Kampf mit Ascalon, der Wunsch, ein Zeugnis seines Sieges an den Artushof zu bringen und so seine ere zu steigern (1522-1529). 384
Scheinkonflikte fangs asymmetrisch, indem Laudine ihre politische Notlage erklärt, Iwein aber von seiner minne spricht. Dann aber verliebt sich auch Laudine in ihn. Jetzt furchtet sie, es könnten politische Notwendigkeiten ihrer minne zum Feind im Weg stehen. Wie üblich fürchtet die Frau, daß die Vasallen ihrem Wunsch widersprechen könnten (2i6of.), und wie üblich ist die Befürchtung gegenstandslos, sind individuelle und kollektive Wünsche vorab harmonisiert (2393f.), denn geburt, vrümekbeit, scboene, Gründe einer legitimen Allianz, sprechen für den neuen Landesherrn (2412f.). Wenn Artus kommt und Iwein ehrt, erfährt sie noch einmal, daß sie richtig gewählt hat (2675-2682). Ihre Spannung erhält die Episode vom Mechanismus des Prinzips ,die Schönste und Vornehmste dem Besten und Vornehmsten', das sie abweist - und im Ergebnis doch bestätigt. Die unterschiedlichen Motivationen für eine vorbildliche Heirat kommen erst allmählich zusammen. Das politische Kalkül steht am A n f a n g , und erst allmählich kehrt sich das Gewicht zugunsten der minne um. Diese minne steht dann im Mittelpunkt der Krise und von Iweins mühevollen Versuchen der Restitution. Die Versöhnung mit Laudine am Schluß verdankt sich einem Arrangement, durch das minne aus dem Kontext politischer Allianzen herausgelöst wird, die ihren Rahmen vorgegeben hatten. Narrativ wird die Begründung der Allianz - politisches Kalkül - ritterliche Bewährung - minne - Schritt für Schritt umgekehrt. Eine politisch-soziale Rahmung bestimmt die höfische minne selbst da, w o das feudale Allianzdispositiv - wie in Rudolfs von E m s ,Wilhelm von Orlens' - von A n f a n g an außer K r a f t gesetzt zu werden scheint. Allerdings zersetzt dort die Rückhaltlosigkeit der minne die ständische Rahmung. 6 0 Dynastische Verbindungen sind im .Wilhelm von Orlens' durchweg emotional aufgeladen. Das beginnt schon mit der Vorgeschichte der Eltern Wilhalms. Die fürstliche E h e ist eine Liebesgemeinschaft, in der die Frau dem Mann einen ehelichen Liebestod nachstirbt. Ihr Sohn erhält zuletzt die Tochter des K ö n i g s von England zur Frau, aber das ist nur letzte Konsequenz einer Kinderliebe, die sich gegen alle Widerstände durchsetzt. Trotzdem wird auch hier der dynastische Rahmen nicht gesprengt, sondern stabilisiert. Weil nämlich Wilhalms minne zunächst mit dynastischen Dispositionen des K ö nigs von England in K o n f l i k t gerät, muß sie bestraft werden. Ihnen gegenüber hat minne keinerlei Berechtigung. Auch die her^eliebe (8921; vgl. 8975 u.ö.), die Wilhalm und Amelve verbindet, und Amelyes Versprechen, sie werde ihn heiraten (8592-8598), zählen nicht. Dabei sprächen für diese Heirat die üblichen Argumente 60
Die Rückhaltlosigkeit dieser minne legte immer wieder den Vergleich mit der Tristansage nahe (Wachinger, 1975; Haug, 1975; Stevens, 1990, S. 68), und in der Tat scheinen für das Mittelalter die Unterschiede zwischen den idealen Liebespaaren Tristan/Isolde, Wilhalm/Amelve und Wildhelm/ Aglye ganz hinter den Gemeinsamkeiten zu verschwinden (A. Schulz, 2000, S. i2if.), doch hebt sich der ,Tristan' von den beiden anderen Texten durch seine grundsätzliche (und nicht nur zeitweilige) Unversöhnbarkeit mit den Regeln von Eheallianzen radikal ab.
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Dynastische Allianz und minne einer angenessenen Allianz: Schönheit, Gut -sein, tugent, Gebuft (8618—8634)· Auch wäre Wilhalm als Herzog von Brabant keine Mesalliance, und als Ritter Amelyes, der in ihrem Dienst auf Turnieren Staunenswertes vollbringt, scheint er auf Lohn rechnen zu können. All diese zusätzlichen Legitimationen von minne können aber zunächst nichts gegen die Regeln politischer Allianz ausrichten. Daher ist Wilhalms Versuch, seine her^eliebe gegen die Institutionen durchzusetzen, strafwürdig. In diesem Konflikt gibt es keine Seite, die auf Kosten der anderen recht behält. Das spiegelt sich in der gegenläufigen Handlung. Der Held muß für seinen Ubergriff zunächst bestraft werden - damit der Institution Genüge geschieht - und darf dann aber trotzdem sein Ziel erreichen - damit die her^eliebe zu ihrem Recht kommt. Der Preis dafür ist, daß diese zuletzt sich in den Rahmen einfügt, an dem sie sich zuerst gestoßen hatte. Außerdem tarieren die Ehen, die die Nebenfiguren eingehen, die Gewichte wieder in aus: Sie sind überwiegend politisch motiviert und bringen kollektive Norm und individuelles Begehren ins Gleichgewicht. 6 ' An der Erzählstruktur dieses Romans ist die allmähliche Verschiebung imaginärer Legitimationsmuster ablesbar. ,Eneit' und ,Wilhelm von Orlens' weisen eine gegensätzliche Struktur auf. Das eine Mal bildet die Geschichte einer dynastischen Allianz die Klammer für einen Minneroman und gelangt erst an ihr glückliches Ende, wenn sie durch minne gestützt wird. Das andere Mal ist der Minneroman die Klammer, die erst geschlossen werden kann, wenn auch die Voraussetzungen für eine dynastische Allianz gegeben sind. Dabei ist in der ,Eneit' die Nachträglichkeit der minne in syntagmatischer Hinsicht gekoppelt mit Höherwertigkeit in paradigmatischer; im ,Wilhelm von Orlens' stehen (syntagmatisch) ihre Vorgängigkeit und (paradigmatisch) ihr Vorrang von Anfang an fest, bedürfen aber in beiderlei Hinsicht der Bestätigung durch die Institution.
Dissoziation: minne vs. Kampfpreis Neben Erzählungen, die unterschiedliche Determinationen von minne untereinander harmonisieren, hintereinanderschalten oder übereinanderkopieren, gibt es andere, die sie gegeneinander in Anschlag bringen und eine Entscheidung unter ihnen herbeiführen. Auch dabei wird das Grundprinzip dynastischer Allianzen - die politische, soziale und ökonomische Angemessenheit, die der soziale Verband konstatiert - nie offen in Frage gestellt, wie dies in einem der gängigsten, häufig 61
Was A. Schulz (2000), S. 73 über den Helden feststellt, ,öffentliche' und .private' Identität des Helden würden „zur Deckung gebracht", gilt in vollem Sinne erst für die Personenkonstellation insgesamt. Der gesellschaftliche Vorbehalt gegenüber der minne kennzeichnet generell den höfischen Roman, das zeigt sich z.B. in der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen minne und Institution in Hartmanns ,Erec'. Die „klandestine", gesellschaftsferne, allein auf der Liebesgemeinschaft basierende Ehe des Mabonagrin ist tödliche Gefährdung (Schmid, 2000, S. i22f.; 125). 386
Dissociation: minne vs. Kampf preis trivialisierten Muster neuzeitlicher Erzählungen geschieht, in denen individuelles Begehren sich an gesellschaftlichen Notwendigkeiten wundstößt. Indem minne an Bewährung gebunden wird, wird sie sozial integriert, wenn auch anders als durch Herkommen. Verbindungen sind nicht primär durch Macht, Herrschaft, ständischen Rang, sondern durch das Bessersein der Ehepartner gerechtfertigt. Der Mechanismus, daß der Stärkste sich die Schönste verdient, ist eine imaginäre Überhöhung der auf Ranggleichheit basierenden Regeln des feudalen K o n nubiums. E s bleibt die Frage, ob individuelles Gutsein mehr als die N o r m ständischer Angemessenheit den individuellen Wünschen und Gefühlen der Akteure entspricht. J e weniger Einsatz (überragende Stärke) und Preis (unermeßliche Schönheit) bloß kollektive Werte repräsentieren und je mehr minne als individuelle Erfahrung ins Spiel kommt, desto fraglicher wird die Zustimmung der beteiligten Figuren zum Mechanismus ritterlicher Bewährung als Voraussetzung für erotische Verbindung. 62 Die männliche Verfügungsgewalt über Frauen hat sich bei den komplementären Legitimationen nur verschoben. Auch als Trophäe im K a m p f ist die Frau dem Willen der Männer unterworfen. 6 ' Der Spielraum für emotionale Bindung ist eng. Wenn es im ,Münchner Oswald' oder im Masre von der ,Rittertreue' 64 so aussieht, als müsse der Mann die eroberte Frau dem Bittsteller im Namen des Herrn oder dem Helfer im Turnier überlassen, bleibt der Wunsch der Frau außer Betracht. Grundsätzlich gilt: Der Ritter, der eine Frau gewonnen hat, kann über sie verfügen, auch wenn er sie gar nicht selbst besitzen will. Auch Gawein (,Diu Crone') erwirbt durch Lösung einer ritterlichen Aufgabe, die die Dame Sgoidamur ihm gestellt hat, das Recht auf ihre Hand; sie stimmt zu: vnd wöllent/Mich mynnen, das lob ich,/Des hin ich fro vnd hergib mich (HCr 13798-13800). Weil Gawein bereits gebunden ist und das Recht nicht selbst wahrnehmen kann, darf er Sgoidamurs Hand nach Gutdünken vergeben. Der einzige Vorbehalt: der Ausgewählte müsse ein geborner man sein und kein %age f ]: Er möge denn minen eren ge^emen (13804-13808). Der Gewinn einer Frau durch ritterliche Tat hat seine Grenze an den Regeln des Allianzdispositivs. Sgoidamur erhält einen kimigs genos% (13846), der sich als guter Ritter erwiesen hat. Sogleich stellt sich minne ein; Sgoi-
6z
Zur fragwürdigen Automatisierung auch Mentzel-Reuters (1989), S. 185; 194; 199^ ' Das kann auch schwankhaft durchgespielt werden wie im ,Moritz von Craün'. Wie selbstverständlich sich dort Rechte und Verpflichtungen aus dem Arrangement von Dienst und Lohnversprechen ergeben, hat Ricarda Bauschke (Sex und Gender als Normhorizonte im ,Moriz von Craün', in: Manlichiu wip, 1999, S. 305 -325; hier 318-322) gezeigt. (4 ' Im ,Münchner Oswald' fordert Christus selbst nur zum Schein solch ein Opfer, und in .Rittertreue' ist glücklicherweise der Gefährte ein dankbarer Toter, der nur die trimve seines Gefährten erproben wollte, so daß beide Male das Versprechen nicht eingelöst werden muß. Das Prinzip bleibt davon unberührt. 6
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Dynastische Allian^ und minne damur erklärt: Herre, sin mynne ich gern wil (13850). Die Hierarchie der Motive ist ständische Konvenienz, persönliches Verdienst und dann erst minne!''' J e mehr minne personal verantwortet ist, desto dringlicher wird die Frage, was geschieht, wenn Frau oder Mann sich solch glatter L ö s u n g verweigern. Im 2. Buch des ,Parzival' muß Gahmuret zur Eheschließung geradezu gezwungen werden, nachdem er Herzeloyde als Kampfpreis im Turnier gewonnen hat. Die Turnierregeln hat Herzeloyde festgelegt: st was ein maget, niht ein wip, und bot %wei lant unde ir Itp swer da denpris behalte. (WPa 60,15-17) A u f dem Turnier erreichen Gahmuret aber auch Boten der K ö n i g i n Ampflise, der er früher mit seiner minne gedient hat. Als Belohnung stellt auch sie ihm L o h n für seine minne (77,4) - mit Herrschaft als Z u g a b e - in Aussicht: Kum wider, und nim von miner hant kröne, ζepter unde ein lant. (77,1 f.) unde kan och minneclicher minne enphähn und minne gebn. (77,i4f.) Wenn Gahmuret sich als der Beste (78,23-25) erweist, bringt ihn das in ein Dilemma, denn er erfährt: fron Her^eloyden unde ir lant hat din Itp errungen. (8 5,14f.) Herzeloyde faßt das als Rechtsanspruch auf. Gahmuret hat den Kampfpreis zu nehmen: swa% mines rehtes an tu st, da suit ir mich lä^en bi (87,if.; vgl. 88,28-30). Was Gahmuret will oder fühlt, spielt keine Rolle. D e r höfische Frauendienst ist eine Umkehrung der tatsächlichen Rechtsverhältnisse zwischen den Geschlechtern, und die Verfügung der vrouwe über ihren Ritter ist eine Umkehrung patriarchaler Verfügungsgewalt. Diese imaginäre Umkehrung, die die tatsächlichen Abhängigkeiten spielerisch außer K r a f t setzt, erweist sich hier ihrerseits als Zwangsinstitut. Minne erscheint als Rechtsfolge aus einem Vertrag, der eben nur höfisch codiert ist: [...] minnet mich nach unser e: wan mirst nach iwerr minne we. 6
(94,1; f.)
' Den nachgeordneten Stellenwert solcher Kampfprämien bestätigt eine andere Episode: Da hat Gawein die Wahl zwischen einem Land plus Minne einer Frau und ewiger Jugend; er wählt letztere (17477-17491). Dies entspricht der Tendenz der ,Crone', dem Artusreich und seinen Repräsentanten ewige Dauer zu sichern (Meyer, 1994a, S. 140). 388
Dissociation: minne vs. Kampfpreis D a g e g e n kann G a h m u r e t sich nur mit konkurrierenden Rechtsansprüchen
zur
Wehr setzen: Seine Einrede ich hart ein wip - Belakane - (94,5; vgl. 9 0 , 1 7 - 9 1 , 1 0 ) wird mit der größeren Rechtskraft v o n B i n d u n g e n innerhalb des Christentums, sogar im Vergleich mit einer E h e nach heidnischem Recht, zurückgewiesen (94,13). 6 6 D a s gleiche geschieht mit den älteren Ansprüchen der vrouwe A m p f l i s e , der G a h m u r e t minne-Dienst
v o n Kindesbeinen an geleistet hat. Welchen der drei Frauen er künftig
gehört, hat man Dritten zu überlassen. D e r rihtare,
den beide Parteien anrufen,
urteilt: swelch ritter heim hie üf gebant, der her nach riterschaft ist komn, hat er den prts hie genomn, den sol diu kiineginne hän. (96,2-5) D e n Regeln des ritterlichen K a m p f s p i e l s muß sich G a h m u r e t f ü g e n (mich behabt hie riters urteil, 98,2). Seine art von den feien zwingt ihn zwar immer wieder, wie er sagt, zu minnen oder minne gern (96,2of.); aber diese anarchische minne wird durch die Spielregeln einer imaginären Ritterwelt nicht anders kanalisiert also durch die N o r men eines standesgemäßen K o n n u b i u m s . Wolfram führt v o r , wie die imaginäre Ersetzung dieser N o r m e n durch die F o r d e r u n g , daß der beste Ritter die schönste Frau erhält, minne keineswegs in personale Verantwortung überführt, sondern nur den einen Mechanismus durch einen anderen ersetzt. In der Spielwelt der ersten beiden Bücher des ,Parzival' scheinen, anders als in der Geschichte des Titelhelden, die verschiedenen Verpflichtungen - Pagendienst, minne der bedrängten Heidenkönigin, Turnierprämie - ohne größeres emotionales E n g a g e m e n t austauschbar, und so ist, nimmt man Gahmurets Reaktion auf den Richterspruch hinzu, Herzeloydes V e r f ü g e n über den Turniersieger nur die K e h r seite männlicher V e r f ü g u n g s g e w a l t über die Trophäe: G a h m u r e t fühlt sich unbehelligt v o n der Institution der E h e , in die Herzeloyde ihn zwingt. E r bedingt sich aus, ane huote (96,26) sein Ritterleben fortzusetzen: lät ir niht furnieren mich, so kan ich noch den alten slich, als do ich minem ivibe entran, die ich ouch mit riterschaft geivan.
(96,29-97,2)
Herzeloyde verpflichtet sich rechtsverbindlich dazu ( 9 7 , 1 1 ) , und so kann er die Früchte seines E r f o l g s genießen, ohne sein Ritterleben aufzugeben: er enphienc diu lant unt och die magt (97,12). D a s klingt wie eine Parodie der R a n g f o l g e , L a n d und Frau', die selbst Veldekes ,Eneit' noch prägte, und suggeriert eine problemlose
"
Bis in die Frühe Neuzeit gibt es keine die christliche und nichtchristliche Welt übergreifende Rechtsordnung. Sie entsteht erst mit der T h e o r i e des Natur- und des Völkerrechts. 389
Dynastische Allian% und minne
Geltung höfischer Spielregeln. Der Preis ist die Asymmetrie des emotionalen Engagements bei Mann und Frau, wie sie sich bei Gahmurets Tod zeigt.67 Wolfram hat mit dem seltsamen Rechtskasus auf ein Konfliktpotential angespielt, auf das der höfische Roman mit seiner imaginären Ersetzung herrschaftsständischer durch ritterlich-feudale Werte stößt. Schon Hartmanns ,Iwein' hatte eine andere, radikalere Lösung erprobt. Iweins letzte aventiure nämlich hebt den Automatismus auf, dem Gahmuret sich unterwerfen muß. Nachdem Iwein in die Falle des schlimmen Abenteuers' getappt ist, ist er verpflichtet gegen zwei Teufelsknechte zu kämpfen, mit der Aussicht, wenn er sie besiegt, die Tochter des Burgherrn samt ihrem Erbe zu bekommen. Das Mädchen kommt bei diesem Geschäft, wie üblich, nur am Rande vor. Der Vater lockt: nü ist iu libte guotes not: werdet riebe, od liget tot.
(6615 f.)
Iweins Weigerung, sich auf diese Alternative einzulassen, stützt sich nicht etwa darauf, daß seine minne Laudine gehört, sondern auf das Argument, daß er der angebotenen Frau an Rang und Besitz nicht ebenbürtig sei (ge^emen, min mä^e, vgl. 6622-6638). E r beruft sich also auf die üblicherweise geltende Regel, nach der dynastische Allianzen angemessen zu sein haben. Im Kontext des höfischen äventiure-Romans wird dieses Argument aber nicht akzeptiert. Im Gegenteil, es trägt Iwein seitens des Vaters den Vorwurf der Feigheit ein (6639-6646): E r wolle sein Leben nicht riskieren. Es hilft erneut der det er ein, recht kein
nichts, Iwein muß kämpfen. Nachdem er gewonnen hat, sieht er sich Forderung gegenüber, das gewonnene Mädchen zu nehmen. Jetzt wendurch eins andern wibes minne gebunden zu sein (6804). Das scheint erst Argument: ,ir miie^t si nemen', sprach ter wirt, ,ode ir sit gevangen' (68iz£)
Erst als Iwein vorbringt, daß er sich zu einem Kampf vor Artus verpflichtet habe, so daß, wenn er dabei zu Tode komme, das vom Vater als Kampfpreis ausgelobte Mädchen ihn gleich wieder verlieren würde (so ware si guneret, 6827), zieht der Vater unverzüglich, wenn auch empört, sein Angebot zurück. Den Kampfpreis in einem Spiel, dessen Regeln sich der Held unterworfen hat, kann er nur ausschlagen, indem er die Regeln eines anderen (Kampf-)Spiels dagegen aufbietet.68
67
"
Zur seltsamen Asymmetrie der emotionalen Beziehungen, die das pointiert Kasushafte hervorkehren, Elke Brüggen: Schattenfiguren. Beobachtungen zu Wolframs Erzählkunst, Wolfram-Studien 18 (2004), S. 175f.; zum Rechtsstreit ebd. S. 178-180. In einer parallelen Situation im ,Wilhelm von Osterreich' lehnt der Held ebenfalls ab, eine Königin als Kampfpreis zu Frau zu nehmen, hier jedoch, um der Geliebten Aglye die Treue zu halten. Wildhelms Liebe wird deutlicher gegen die üblichen Handlungsmuster profiliert (Schneider, 2004, 390
Dissociation: minne vs. Kampfpreis
Der Mechanismus ,die Schönste dem Besten' (statt ,dem Vornehmsten'), der starre ständische Konvenienz aufheben soll, wird seinerseits zur starren Konvention, die sich gegen das individuelle Gefühl wenden kann. Dieser Zwang ist nur dort weniger rigide, wo die höfische Wertordnung von der religiösen durchkreuzt wird: Im ,Prosa-Lancelot' will Artus Bohort und weitere zwölf Ritter für ihren Sieg in einem Turnier ehren, indem er ihnen freistellt: ir mogent under diesen jungffrauwen nemen die schonst, die uch dan aller best gefellet mit irer gec^irde und mit allem dem iren, ane widderredde yemants. Das hait uwer fromkeit erworben. Darc^u mogent ir den %cwo!ff rittern iglichem ein jungfrauwen geben wie und williche uch allerbest gefeilet. Des hant ir alles woil macht und mit uwergroßen manheit erworben (II S. 7},20-25). 69
Bohort, der spätere Gralsritter, will sich aber aus den höfischen Minnespielen heraushalten; er wendet deshalb ein: , Ob aber der ritter, den man gekoren hett, kein wip nehmen mocht, wie solt man es mit dem halten?' Der konig sprach: ,So ist er qwijt und ledig, aber er muß den andern ζcwolff rittern geben und darc^uo helffen noch dergewonheit (II S. 73,30-33,).
Bohort darf sich selbst also ausnehmen, muß aber in bezug auf die anderen das System bedienen. Auch das leuchtet ihm nicht ein: Zeichen dafür, daß die männliche Verfügungsgewalt über fremde Minnebindungen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. So fragt Bohort, was denn sei, wenn der Ritter die ihm zugewiesene Jungfrau (nicht etwa diese ihn!) nicht wolle; darauf lautet die Antwort des Königs, dann möge der, der sich weigert, mit den lantluten woil rats pflegen (II S. 74,3f.). Die Kurie der Gefolgsleute also, die auch für Eheallianzen zuständig ist, soll dann die Verteilung von Frauen überprüfen und korrigieren. Zu entscheiden ist nicht Sache des einzelnen Ritters, sondern Sache des Verbandes, dem er angehört. Einmal problematisiert, erweist sich das Muster ,Frau als Preis ritterlicher Anstrengung' als im Kern und Ergebnis identisch mit der Regulierung feudaler Allianz durch die Gesellschaft. Der Fortgang unterstreicht das noch deutlicher. Bohort überträgt nämlich sein Wahlrecht auf den König, der besser wisse, wer zu wem paßt (wan uch die jungfrauwen und ritter woil bekant sin und mir nit, II S. 74,2of.): Das ist, kaum verschleiert, das Patronatsprinzip feudaler Eheschließung. Erst nachträglich wird die Verbindung zum höfischen Bewährungsmuster hergestellt; die Ritter müssen ihren Damen besondere ritterliche Leistungen versprechen (II S. 75,4-76,23); diese Taten sollen nachträglich jene minne legitimieren, die der König unter seinen Leuten gestiftet hat.
65
S. 1 1 1 - 1 1 4 ) . Dies leitet sich aus der A f f i n i t ä t zu den Minnereden (Dietl, 1999) her, die die B i n d u n g an die eine Frau gegen alle anderen gesellschaftliche Determinationen setzen. Z u r prekären Stellung der E p i s o d e in den O r d n u n g e n des R o m a n s N i k o l a von Merveldt: Prahlen, Wetten und Versprechen. O r d n u n g und U n o r d n u n g in der .Voyage de Charlemagne' und im ,ProsaLancelot', in: O r d n u n g und U n o r d n u n g (2003), S. 9 - 2 5 ; hier S. 2of.
391
Dynastische Allianz und minne Bohort selbst verzichtet auf die ihm zustehende Frau. E r will eine größere Aufgabe, die Suche nach dem Gral, erfüllen. So weist er ihre minne zurück. Sie gibt sich damit nicht zufrieden und läßt - wie Herzeloyde - Bohort an die Bedingungen des Turniers erinnern, dem er ihre Hand verdankt. Wie schon im ,Parzival' und ,Iwein' gilt: Nicht nur er, sondern auch sie hat einen Anspruch erworben. Nach dem Prinzip ,dem Besten die Schönste' so wert ir schuldig sie nemen (II S. 78,24). Diesmal wird der Konflikt nicht als Streit konkurrierender Rechtsansprüche entschieden, sondern durch Betrug. Bohort bleibt bei seiner Entscheidung. Das Mädchen aber akzeptiert sie nicht und erreicht mittels eines Zauberrings, daß Bohort sich doch noch in sie verliebt und mit ihr schläft. Wieder erscheint minne - hier als erzwungene Sexualität - als nachträgliche Folge eines agonal erworbenen Rechts. Aus geistlicher Perspektive (nicht aber, weil die Selbstbestimmung der Frau darin keinen Platz findet) verfällt diese Zwangsläufigkeit der Kritik. Bohort fühlt sich betrogen und verläßt das Mädchen, sobald er den Betrug bemerkt. Das belegt die Regionale' Geltung des Prinzips, daß die Frau Prämie für ritterliche Tat ist (akzeptiert ist es nur innerhalb einer höfischen Laiengesellschaft), und der Verlauf der Episode legt seine verdeckten sozialen Voraussetzungen frei (es supplementiert die politischen Allianzen, die der König stiftet). Der Mechanismus, daß minne gesellschaftlichen Regeln zu folgen habe, wird nur selten parodiert. Der ,Daniel' des Stricker hat am deutlichsten die unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten des höfischen Romans auf den Prüfstand gestellt. Dort will der Held seine Gefolgsleute mit Frauen belohnen (so wie er selbst mit einer belohnt worden ist, StD 6220-6225), und er will die Frauen der getöteten Gegner mit Männern versorgen (6396-6413; 6693-6701; 6714-6726). Also läßt er beide Gruppen sich passende Partner ausuchen. (Wie die beiden Wahlverfahren ineinandergreifen - 6754-6766; 6777-6785 - , wird nicht recht klar). Bedenken einer angemessenen Trauerfrist werden weggewischt, und natürlich stellt sich nach getroffener Wahl automatisch minne ein: wä wart ie kein tac/also fröudenriche? (6786f.): Massenverteilung von Kampfprämien als Liebesgeschichte. Die zuletzt diskutierten Fälle heben nicht die Geltung ständisch-politischer Normen auf, denen Eheallianzen zu genügen haben. Sie zeigen aber, daß deren imaginäre Überhöhungen letztlich untereinander inkompatibel sind. Minne als Folge ritterlichen Verdienstes und minne als nicht weiter begründbare Zuneigung sind eben nicht deckungsgleich und können gegeneinander wirken. Wenn ihre Verknüpfung ein fundamentales Ideologem des höfischen Romans ist, dann zeigen sich an diesem Punkt Auflösungserscheinungen.
392
Pro^essierung
imaginärer
Legitimationen
Prozessierung imaginärer Legitimationen Die Bedingungen, unter denen minne mit der institutionellen Ordnung versöhnt wird, können sukzessive kumuliert werden. Dabei kann auch die sexuelle Komponente stärker einbezogen werden. In Ulrichs ,Lanzelet' sind Sexualität und Allianz hintereinander geschaltet. Lanzelet geht unterschiedliche Liebesverhältnisse ein, die allesamt, weil sie an seinen defizienten Status geknüpft sind, rasch aufgelöst werden. Erst als er im vollen Sinne zur Artusgesellschaft ,dazugehört', wenn er Namen und seine Herkunft erfahren hat, kann er sich dauerhaft an eine Frau binden. Sie ist Prämie sowohl für seine Rittertaten und wie auch für ihn von den Instanzen der Elterngeneration vorgesehen. 70 Die defizienten www-Verhältnisse waren sexuell bestimmt, am deutlichsten das erste Abenteuer. Als einer von drei Rittern kommt Lanzelet auf eine Burg, wo die Tochter des Burgherren nacheinander zu jedem der drei ins Bett steigen will, während der Burgherr jeden mit dem Tod bedroht, der sie entehrt. Lanzelets Gefährten weisen das Mädchen deshalb ab; er selbst kommt als letzter an die Reihe 7 ' und stimmt zu. Offensichtlich ist die sexuelle Prämie hier direkt an ritterliche Qualität geknüpft. Diese bestimmt die Reihenfolge, in der das Mädchen seine Liebhaber auswählt. Indem es aber verkennt, wer faktisch der beste Ritter von den dreien ist, hat es später das Nachsehen. Nach der Liebesnacht kann Lanzelet den erbosten Vater mühelos besiegen, gibt aber die Frau (und damit regelhaft verknüpft: das Land) umstandslos wieder auf. Das nächste Mal kommt er zwar weiter, doch auch dieses Liebesverhältnis ist, ohne Spuren zu hinterlassen, zuende, sobald Lanzelet die ritterlichen Qualitäten, denen er Land und Frau verdankt, eingebüßt hat. 72 Erst in der Verbindung mit Iblis triumphiert die höfische Variante des Allianzdispositivs, in der Geburt (Lanzelet erfährt seine königliche Herkunft), ritterliche Bewährung (er muß Iblis im Kampf gegen ihren Vater erringen) und wechselseitige Zuneigung (noch vor am Kampf verlieben sich beide ineinander) zusammenfallen. Indem hier aber im Gegensatz zur ,Eneit', aber auch zum ,Iwein', die erotische Attraktion der Erwägung politisch-dynastischer Konvenienz vorausgeht, wird der politisch-soziale Rahmen in die Position der Nachträglichkeit gerückt. Die minne entsteht, wenn Lanzelet und Iblis einander sehen, wirklich oder im Traum, nicht auf Grund ritterlicher Erfolge oder gar politischer Opportunität, aber sie entsteht genau dort, wohin politische Opportunität und ritterliche Erfolge weisen. Lanzelet unterwirft sich, wenn er Iblis erblickt, völlig der Gewalt der minne. Iblis erkennt im
™ Vgl. S. 1 8 7 - 1 9 1 . " Über diesen tort heißt es:
doch enmoht er vergeben nie,/ da^ sin
siu engalt es aber anderswä 11
jungest %uo im gie./da£ versweig er sie da,/
(ULa 1 1 0 9 - 1 1 1 2 ) . D e m entspricht die unhöfische K a m p f a r t , die es beendet (Nicola McLelland: Stil und D i a l o g . Stilistische Variation im ,Lanzelet', in: D i a l o g e , 2003, S. 4 1 - 5 9 ; hier S. 46f.).
393
Dynastische Allianz und minne wirklichen Lanzelet ihr Traumbild. Indem die minne das Primäre ist, entsteht scheinbar ein Konflikt des erotischen Begehrens mit der instituierten Ordnung, denn Lanzelet hat einen tödlichen Kampf mit dem Vater seiner Geliebten zu auszufechten. Aus Sorge um Lanzelets Leben will Iblis ihn daran hindern und sucht ihn sogar zu überreden, sie zu entführen, d.h. die Regeln der gesellschaftlichen Ordnung, die Heiratsallianzen legitimieren, beiseitezuschieben. Doch fällt der Konflikt letztlich aus, indem sich als dynastisch konvenient erweist, was emotional vorentschieden ist. Auf der Erzähloberfläche triumphiert die Liebe, und nur sie. Wie Iwein leitet Lanzelet aus seinem Sieg kein Recht auf Iblis ab, sondern liefert sich ihr ganz aus. Sie solle ihren ΐζοτη über den Tod des Vaters nur an ihm auslassen, denn er sei bereit, von ihr alles zu ertragen (vgl. 4580-4591). Iblis aber vergißt aus liebe, daß der Geliebte ihr den Vater erschlug; 7 ' sie will ihn vor dessen Leuten retten (4592; 4619). Scheinbar wirft die minne alle sozialen Ordnungen über den Haufen. Tatsächlich aber haben Lanzelet und Iblis den angemessenen Ehepartner gefunden. So verschwinden die ständischen Voraussetzungen nicht ganz: Iblis liebt den Repräsentanten ritterlicher Vorzüge: beidiu tugent und sinen lip,/ diu muo^ ich imer minnen (438of.), und für Lanzelet geht es auch um ere und guot, die der Kampf um Iblis verspricht (4288f.). Er kämpft um ein schane wip und iwer lant (4461). Wie der Allianzautomatismus im Hintergrund noch wirkt, zeigen Lanzelets Worte zu Iblis nach seinem Sieg: ich hän erworben iuch mit sige und wil iuch immer liep hän. ir suit triuwe an mir began: da·-ζ %imt ivol iwer gebiirte. ( 4 5 7 0 - 4 5 7 3 ) Doch ist die ideale minne-Einheit mit Iblis, die zugleich die erwünschte Allianz bekräftigt, nicht das Ziel des Romans, sondern steht in seiner Mitte. Aus ihr sind die vorher entfalteten Komponenten von minne ausgeschlossen, die zur Figur des wipsctligen Ritters gehören, dem die Frauen zufallen wie die Siege gegen seinesgleichen. Mindestens eine Episode nimmt sie jedoch noch einmal auf. Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem vor dem Artushof Iblis' unwandelbare Treue demonstriert wird, erfährt man von einem Liebesverhältnis Lanzelets mit einer anderen Frau. Es erscheint zwar als illegitimer Zwang, doch völlig unwillkommen ist es nicht, denn Lanzelet ist wtlent trüric, wüentfro und vertreibt sich froeliche die Zeit, wenn er sich auch nach seiner treuen Iblis sehnt (vgl. 5641-5650). Der Erzähler läßt offen, ob seinem Helden das briuten mit der anderen Frau (er wählt den unmißverständlich derben Ausdruck) allzusehr mißfällt: 75
Daß die minne durch die Konfrontation bedroht sein könnte - ein Problem, das Wolfram im .Parzival' reflektiert, wenn ein vielleicht tödlicher Zweikampf die minne zwischen Gramoflanz und Itonje gefährdet (Brüggen, 1996) - , taucht kaum am Horizont der Erzählwelt auf. Das ist ein Zeichen dafür, daß auch hier minne letztlich der Stiftung einer ,passenden' Eheverbindung nachgeordnet bleibt. 394
Pro^essierung imaginärer Legitimationen ich enivei§ ob er% ungerne tet, wan diu künegin was ein schoene maget.
(5 5 3of.)
Diese E p i s o d e ist kein R ü c k f a l l auf den Stand der ersten Abenteuer des Helden, zeigt aber, wie unterschiedliche K o m p o n e n t e n v o n minne nur narrativ-prozessierend integriert werden können. O f f e n b a r muß ein Defizit kompensiert werden, das weder das Prinzip ständischer K o n v e n i e n z noch die idealisierte minne ausfüllen. D i e E p i s o d e des freiwillig-unfreiwilligen Seitensprungs ergänzt Lanzelets Geschichte nach der sexuellen Seite, ohne die auf K o n v e n i e n z und affektiver Ubereinstimmung beruhende minne zu Iblis zu gefährden. E i n solches ,prozessierendes' Verfahren, das Erzählmuster nacheinander durchspielt, ist auch am ,Apollonius' des Heinrich v o n Neustadt zu beobachten, in den verschiedenen Verbindungen, die der Held eingeht." 4 Sie exerzieren ein T h e m a in mehreren Variationen durch. A n g e l e g t ist die Geschichte des Helden zunächst auf eine ,gefährliche Brautwerbung'. Diese Werbung ist allein Sache des Werbers; ihre politische Bedeutung - erkennbar an der M i t w i r k u n g des Herrschaftsverbandes fehlt. D a der Vater mit der Tochter im Inzest lebt, kann die Werbung keinen E r f o l g haben. Z w a r besteht A p o l l o n i u s die Probe, löst das aufgegebene Rätsel und durchschaut den Inzest. Damit aber erweist sich, daß die Frau nicht begehrenswert ist. Sie bleibt unerreichbar und wird irgendwann v o n Gottes Blitz getroffen. Das Brautwerbungsschema erlaubt dem Helden zwar, sich als der einzige und beste zu bewähren, doch unterminiert es eben dadurch die minne und erweist sich als ungeeignet, eine E h e zu stiften. A u f der Flucht v o r den Nachstellungen des blutschänderischen Vaters gelangt er an den H o f des Altistrates, w o er die E h e eingeht, die alle späteren Widernisse überdauert. Dabei tritt ständische K o n v e n i e n z (Apollonius ist im E x i l , hat alles verloren) hinter der Qualifikation als vorbildlicher höfischer Ritter zurück, der in höfischen K ü n s t e n brilliert und an dessen gepare man seinen Adel erkennen kann (1552): An alle rede s^aigt es sich Das er ist ain edell kintt (15; 3f.). D a m i t gewinnt er das her^e der Königstochter, die ihn unter mehreren K o n k u r r e n ten auswählt: eine E h e allein auf G r u n d v o n minne zu einem mittellosen, doch höfischen Fremden. Diese Wahl ist, zumal als Wahl der Frau, nicht unproblematisch. Lucina muß den V o r w u r f entkräften, sie habe, obwohl junckfrawe ihren Wunsch, Apollonius zum Mann zu nehmen, Ane
juchten reich,
schäm geäußert ( 2 0 8 7 ^ .
D a m i t die Geschlechterordnung nicht verletzt wird, spricht sie ihren Wunsch nicht aus, sondern schreibt den N a m e n des Erwählten nur auf. Danach gibt sie vor, der
,4
Z u diesen E h e n Wachinger ( 1 9 9 1 ) , S. 1 1 1 - 1 1 5 . A u ß e r den beiden ersten fehlen sie in der antiken Überlieferung.
395
Dynastische Allianz und minne Name, den sie aufschreibt, sei nicht ihr Werk, sondern das Werk des Wachses, in das sie schrieb: Eigene Wahl steht der Frau nicht zu. 7S Spielräume für minne eröffnen sich meist nur dem Mann. Die Wahl aus minne wird anonymisiert und damit möglicher Kritik entzogen. Die Ehe kombiniert Zuneigung, höfisches Benehmen und Liebenswürdigkeit, im Hintergrund das Wissen u m die königliche Herkunft und die verlorene Herrschaft, eine Kombination, in der verschiedene Motivationen übereinandergelegt sind. Sie fordert keine gesellschaftlichen Institutionen heraus. Die Wahl des Mädchens stimmt deshalb mit dem Wunsch des Vaters überein, der die Angemessenheit des Konnubiums ( m a s s i g ) betont: So/t ich dir gewunschet han Auß allen landen ainen man, 50 ist der furste reiche Dir massig sicherleich. (215 4-215 7) Dem Verlauf der Handlung nach aber gibt nicht Konvenienz den Ausschlag, sondern das her^e der Frau. Die nächste Ehe wird anders begründet. Da Apollonius bei der Geburt der Tochter auf See Lucina verliert und glauben muß, sie sei gestorben, 7 6 scheint er frei für eine weitere Verbindung. Die Heirat mit Cirilla .verdient' der durch die Lande ziehende Held, indem er für sie siegreich kämpft. Seine Tat erzeugt bei der Frau automatisch minne, auch wenn sie ihren Retter noch nie gesehen hat: 51 spracht ,des selben degen hant Hat mich verdienet und das lant. Will er es werben her mir, Zu im stet meins hert^en gir, Wie wol ich sein nicht hab gesehen. Ich hör im aller tugent jehen: Ein kunig von Tyrland Appolonius genant. (5591-5598) Die hert^en gir der Frau ist Resultat des Erfolgs als Ritter, der Fama ( t u g e n t ) und des königlichen Rangs, von dem sie weiß. Der begehrte M a n n ist die Summe ständischer Zuschreibungen; minne ist Folge, nicht Ursache der Wahl. A u c h diese Ehefrau verschwindet rasch, indem sie stirbt. Nun kann Apollonius Dyamena als Frau gewinnen. Sie verdient er durch seine ethische Makellosigkeit, die sich in Tugendproben zeigt, bei denen es weder auf höfische %uht noch auf heroische Taten, sondern auf den Nachweis des rechten Ethos ankommt. Apollo-
7>
16
Weitere Beispiele aus antiker und mittelalterlicher Literatur bei Rüdiger Schnell: Medialität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne, G R M 55 (200;), S. ιηηί. Ihr Sarg wird ausgesetzt, in Ephesus angeschwemmt; dort aber wird sie gerettet und lebt im Tempel, bis Apollonius sie wiederfindet. 396
Pro^essierung imaginärer hegitimationen
nius erweist dabei auch seine moralische Überlegenheit über die Gefährten, die folglich mit geringeren Frauen abgespeist werden. Der erfolgreich bestandenen Probe folgt wieder die minne auf den Fuß: Dyamena begrüßt Apollonius als ihren vil liebenfridel (13249). Natürlich ist mit der Frau eine weitere Prämie verbunden: Dit^ lant und dise reichait (13373). Auch hier fehlt minne nicht, doch ist sie wieder nicht Ursache besonderer Anstrengung, sondern bloße Folge. Die letzte Verbindung mit einer mörynne ist von Anfang an nicht als gewöhnliche Ehe geplant. Doch verbindet sie schon bekannte Kriterien für minne und kombiniert sie mit dem Versprechen sexueller Freizügigkeit. Apollonius erwirbt seinen Anspruch auf Palmine als Retter von Frau und Land. Nur will er diesmal, ähnlich wie Iwein, beides nicht haben. Doch hatte er sich, wie dies in den Sonderwelten höfischer minne vorkommt, Venus gegenüber verpflichtet, alles zu tun, worum ihn eine junckfrauwe bittet ( 1 4 1 0 3 - 1 4 1 1 4 ) . Die mörynne kann deshalb erwarten, daß er ihren Wunsch, sie zur Frau zu nehmen, erfüllt. Doch weder der Mechanismus ritterlicher Bewährung noch das Gelöbnis reichen für ein Ehebündnis aus. Die liebeshungrige mörynne ist attraktiv." Sie lockt mit sexuellen Reizen und Schätzen. Apollonius weigert sich jedoch und bietet ihr an, sich aus seiner Schar einen Mann auszusuchen, aber sie wählt nur ihn selber (14010-14020). Er hat sich also durch ein don contraignant ein weiteres Mal verpflichtet. Als sie nachts in sein Bett kommt, erliegt er ihrer Verführung. Si hieng an im als ain hart^ (14229), heißt es unzart, bis er schließlich nachgibt: Ze lest dem manne ernst ward:/ Di maget wart nicht mer gespart ( 1 4 2 3 7 ^ . Apollonius muß nehmen, was sich ihm aufdrängt, und zeugt gleich zwei Kinder. In dieser Episode kommt etwas hinzu, was bisher ausgespart war: Sexualität. Trotz der Kombination mit schon bekannten Legitimationsmustern für minne ist aus diesem Grund die Verbindung illegitim. Palmina und ihr Land erweisen sich als Phantasmen männlicher Libertinage, verschoben aufs Begehren der Frau. Das Liebesverhältnis verpflichtet Apollonius kaum. Dank einem angeblichen heidnischen Gesetz (der hayden ee oder orden, 14048; 14053) darf in Palminas Land jeder Mann zwölf Frauen und mehr haben; während der Schwangerschaft einer Frau ist ihm kein sexueller Kontakt mit ihr erlaubt, so daß er sich anderen zuwenden kann. Palmina hatte Apollonius sogar angeboten: Wird ich schwanger pey dir, Wiltu dann, herre, nicht pey mir Von deinen genaden lenger sein, Das stet an den genaden dein: So pe ley bet uns dein kint doch. (1415 3—14157)
"
Alfred Ebenbauer: Es gibt ein mörynne vil dick süss mjmie. Belakanes Landsleute in der deutschen Literatur des Mittelalters, Z f d A 1 1 3 (1984), S. 16-42. 397
Dynastische Allianz und minne Ein solches Angebot, warnen die Gefährten, darf Apollonius nicht auszuschlagen, wenn er nicht als %age - man muß wohl paraphrasieren: als kein richtiger Mann gelten wolle (14177). Dergleichen ist jedoch nur unter exotischen Bedingungen im Land einer Schwarzen zulässig und nur auf Zeit. So muß Apollonius' legitime Ehefrau Dyamena die Liaison durch ihren Zauberspiegel entdecken (So sich ich in dort ligen/ Ich wen pey einer schwarten %igen, 14311 f.) und sich von Apollonius lossagen. Es gelingt Apollonius zwar, Dyamena zu versöhnen, indem er auf das Gesetz verweist - die Schönste dem Stärksten - , indem er an die Taten, durch die er die Frau errang, erinnert er hat Palmina Mit rechtem streyt [...] pejaget (14465) - und indem er Schwangerschaft (14452-14467) und öffentliche Anerkennung der Verbindung erwähnt - daß er sie mit eren und mit rechter ee genommen habe (14460). Da alles jedoch außerhalb der christlichen Rechtsordnung geschah und nach einem heidnischen und deshalb nicht verbindlichen Gesetz,78 kann er die mörynne problemlos verlassen. Sie bleibt von den legitimen Verbindungen des Helden ausgeschlossen. Nur in der exotischen Randwelt wird die sexuelle Seite von minne ausgereizt, aber sie kann offenbar nicht ganz fehlen. So muß sie wenigstens als eine für die Biographie des Helden folgenlose Episode, im konkret geographischen Sinn als ein Seitensprung', aufgenommen werden. Danach kehrt Apollonius nicht zur letzten, mit ritterlichen Tugendproben erworbenen Ehefrau zurück, sondern - auf Umwegen - zur ersten, Lucina, deren her^e ihn gewählt hatte und zu der er als König ,paßte'. In der Serie von minne-Verbindungen, die der Held durchläuft, nehmen die erste und die letzte Sonderstellungen ein. Ohne daß in beiden Fällen die üblichen Motivationen - Herkunft, Rang, Taten, Ethos - fehlten, werden sie in Lucina zur emotionalen, in Palmina zur sexuellen Seite hin überschritten. In der Wiedervereinigung mit Lucina triumphiert die Integration von her^e und Konvenienz; vor ihrem Hintergrund erweisen sich die übrigen minne-Verhältnisse des Apollonius trotz ihrer Rechtfertigung mit seinen ritterlichen Vorzügen als unvollkommen, die Laufbahn des Helden als ein Umweg, der zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren muß. Die Prozessierung erlaubt es, auch den abgewiesenen Alternativen eine zeitlang Raum zu geben. Die sexuelle Komponente freilich bleibt ausgegrenzt, auf eine isolierte Episode verschoben, auf einen Seitentrieb, eine ,Hybride', die erzählt, was von jenem Ideal ausgeschlossen wird.
78
Unklar ist, ob Dyamena diese Gründe anerkennt oder nur ihren Jähzorn bedauert - Do ich in also ligen sach (14512) - und ihre Voreiligkeit bereut. 598
Hybridisierung Hybridisierung Die moderne Forschung ist geneigt, die emotionalen Bindungen in den Vordergrund zu stellen, die minne mit neuzeitlichen Konzepten von Liebe verknüpft. In der Tat scheinen sie zu den Entdeckungen der volkssprachigen Literatur um 1200 zu gehören. Doch zeigen die Versuchsanordnungen der höfischen Romane, wie die Imagination höfisch idealisierter minne immer mit dem sozial Notwendigen harmonisiert wird, so daß sie nicht nur nicht ordnungsstörend ist, sondern im Gegenteil Ordnung stabilisiert. Der höfische Roman eröffnet einen Spielraum, in dem die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Folgen von minne sukzessive erprobt werden können. In der narrativen Abfolge können die axiologischen Besetzungen der min«e-Handlung nicht nur harmonisiert und prozessiert, sondern auch alternativ durchgespielt oder hybride kombiniert werden. Dies geschieht insbesondere in den späthöfischen Epen. 79 Auch wo - wie z. B. in ,Mai und Beaflor'— der Akzent auf dem glücklichen Ausgang einer schein rein emotional begründeten, in exemplarischen Leid sich bewährenden Liebe liegt, ist dafür gesorgt, daß letztlich die Regeln einer adäquaten Allianz unverletzt bleiben. Die Zukunft des Paares liegt nicht im Glück zu zweit, sondern auf dem Kaiserthron. 80 Ahnlich hybrid ist die Liebesgeschichte von ,Flore und Blanscheflur' angelegt. 8 ' Sie erzählt eindrücklich von den Zugeständnissen, die eine scheinbar autonome minne und eine offenbar unentrinnbare Leidenschaft an die Instanzen sozialer Ordnung machen muß. Im Mittelpunkt steht eine Liebesbindung, die anfangs in einem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz zu politischen Heiratsallianzen zu stehen scheint. Doch trägt sie die Signatur des Schicksalhaften durch das gleiche Geburtsdatum der Liebenden, 82 den gleichen Geburtsort, das ähnliche Aussehen wie bei Geschwistern. Das alles zeigt, daß Flore und Blanscheflur ,füreinander bestimmt sind'. Da beide außerdem aus höchstem Geschlecht stammen, sollte einer Verbindung nichts im Wege stehen. Unüberbrückbar scheint der Gegensatz trotzdem, indem die ständische Gleichheit durch religiöse Ungleichheit überlagert wird: Blanscheflur ist Christin, d.h. rechtlose Gefangene am Hof von Flores Vater.
Hier müssen in anderer Beleuchtung noch einmal Ü b e r l e g u n g e n aus dem K o n t e x t von Virginität a u f g e n o m m e n werden. Kasten (1993b) hat die B e d e u t u n g des v o n der K i r c h e propagierten personal verantworteten E h e modells und die Kritik an R e g e l n feudaler Ehepraxis für diesen R o m a n herausgearbeitet. D o c h steht das immer v o r dem Hintergrund, daß letztlich diese R e g e l n doch erfüllt werden (vgl. S. 1 4 - 1 6 ) . \X'o die Allianz das letzte Wort hat, ist Beaflors Liebe letztlich entbehrlich (S. i7f.). "
Besonders Schmid hat an diesem Text die „Konvertibilität v o n unveräußerlichen und veräußerbaren Werten" herausgearbeitet (Elisabeth Schmid: Uber Liebe und G e l d . Z u den F l o r i s - R o m a n e n , in: D e r f r e m d g e w o r d e n e Text. Fs. Helmut Brackert, h g . v . Silvia Bovenschen u.a., Berlin/New Y o r k 1997, S. 4 2 - 5 7 ; hier S. 44; vgl. W a n d h o f f , 2003).
82
Im ähnlich angelegten .Wilhelm v o n Osterreich' werden stattdessen die Liebenden zum gleichen Z e i t p u n k t gezeugt (WvO 5 34f.).
399
Dynastische Allianz und minne
Mit dieser Ausgangskonstellation ist ein Rahmen geschaffen, in dem über antagonistische Prinzipien der Partnerwahl verhandelt werden kann, wobei sich herausstellt, daß das, was den sozialen Institutionen zu widersprechen scheint, immer schon mit ihnen versöhnt ist. Die minne ist auf der einen Seite in der Ordnung der Dinge angelegt und widerspricht ihr auf der anderen aufs schärfste. Die Lösung wird zuletzt die hergebrachte christliche Feudalordnung bestätigen, wenn das Mädchen wieder in seinen Stand eingesetzt und der heidnische Königssohn Christ wird. Der Konflikt besteht also von Anfang an nur zum Schein. Unter der Bedingung ihrer Scheinhaftigkeit können aber die Kräfte thematisiert werden, die die institutionelle Ordnung bedrohen. 8 ' So entsteht ein hybrides Bild von minne. Ausgangspunkt des verschlungenen Weges ist eine Kiridet-minne. Die Protagonisten lieben einander, e si wurden fünf jär alt (KFuB 126). Als Liebe in kindes wise (705) ist diese minne zwar unschuldig, doch unentrinnbar wie eine sexuelle Leidenschaft. Sexualität, die es für die Kinder nicht geben kann, steht als abgewiesene Alternative im Hintergrund. wan ir alter und ir jar wären deiner dan ir sinne, wider der nature minne unde wider dem rehte wolte er ir knebte und dienste niht entwesen.
(706-711)
Die Liebe der Kinder ist eine erotisch aufgeladene Asexualität. 84 Der Minnen art (744) äußert sich in harmlosen kindlichen Spielen und Zärtlichkeiten. Ihre Wurzel ist nature, doch nicht als individuelle Erfahrung, sondern als eine überindividuelle kosmische Kraft. 8 ' Da Flore und Blanscheflur zu jung sind, um die nature der minne körperhaft-sexuell zu erfahren, lernen sie sie lesend kennen, den Schmerz wie die Hochstimmung (712-742), e daes ware %-it (727).86 Sexualität ist damit eingespielt und abgewiesen zugleich.
84
8i
16
E g i d i ( 2 0 0 2 ) spricht wegen des Scheinkonfliktes von ,Sujetlosigkeit' des Romans. Das gilt freilich nicht von seiner Oberflächenstruktur. Im Gegenteil werden immer neue Grenzen gezogen, die die Protagonisten erfolgreich überwinden. Sujetlos könnte die Geschichte nur aus Perspektive der histoire scheinen. Das Thema ,,[r]ichtige und falsche Minne" (Peter Ganz: K o n r a d Fleck, V L 2, Berlin/New Y o r k ' 1 9 8 0 , Sp. 7 4 6 ) ist insofern geistlich perspektiviert. Nature meint mehr als körperliches Begehren, nämlich ein Gesetz, das antagonistische Antriebe, das, was sich auszuschließen scheint, zusammenzwingt. So kann ihr Wesen später allegorisch im Wunderpferd des Flore Gestalt annehmen. In dessen Farben, G a n g und Ausrüstung ist Gegensätzliches zusammengezwungen, und eben diese alles andere als ,natürliche* Wundererscheinung wird als nature bezeichnet ( 2 7 4 4 , 2 7 5 6 , 2 7 6 3 , 2 7 7 6 ) . Z u m Verhältnis von ,,literarische[r] und biographische[r] E r f a h r u n g " E g i d i ( 2 0 0 5 ) . Was die Kinder, literarisch belehrt, antizipieren, darf erst, wenn sie verheiratet sind, Wirklichkeit werden. Die Distanzierung von minne als körperliche Erfahrung ist auch das Ziel der Rahmenhandlung. Dort gibt es „ebenfalls fast keine oder eine nur schwache Trennung zwischen höfischer Liebe und höfischer R e d e " (ebd., S. I7 7 f.).
400
Hybridisierung A u f dieselbe paradoxe Wirkung ist auch der ,Wilhelm von Österreich' angelegt. Den beiden jugendlichen Helden ist die naturlich minne und ihr gevert (WvO 1682, 1650) unbekannt. Noch ihre Verabredung, ,miteinander zu schlafen' (1752^) ist ,unschuldig', ,naiv' am Vorbild der Eltern orientiert ( 1 7 2 6 - 1 7 3 7 ) . Wildhelm-Ryal schlägt A g l y e vor: wellen wir ein ander bie nackent hint naht ligen? (175 2f.). Das ist wohl weniger eine „sexuellef ] Initiative", der Aglye „ohne den geringsten Widerstand" nachgibt, 87 als ein Versuch, Sexualität ohne sexuellen Vollzug und folglich ohne den Z w a n g zu Sanktionen einzuspielen. Der Vorschlag beutet die sexuellen Erwartungen der Hörer aus, aber Kinderminne bleibt tumpheit ( 1 6 1 7 ) und eröffnet eben deshalb die Lizenz, Sexuelles zu besprechen, als etwas, das es noch nicht gibt, aber einmal geben könnte: auch was natürlich minne in vremde von ir kinthait, bi£ natur und minne gerait ir tage dar bi£ uf da% da£ naturlich minne spil in muglich was £e spilen. (1682-1687) Trotzdem ist auch die minne von Kindern in der Welt dynastischer Allianzen gefährlich, weil sie sich nicht um die sozialen Ordnungen kümmert, denen die minne der Erwachsenen sich zu unterwerfen hat, und weil sie damit deren Geltung aufs Spiel setzt. Deshalb muß sie beizeiten unterbunden werden. 88 Daher sehen die Eltern Aglyes die Kinderminne als zu unterbinden an, zumal sie nichts über die Herkunft des jungen Mannes wissen: so waistu niht von welher habe/istgeborn dirre knabe/oder wie e£ umme sin adel stat (1791—1793). Die Eltern Flores schreiben der Kinder-«?/»»« den Charakter einer unentrinnbaren Passion wie der Tristans und Isoldes zu. Sie irren, denn die minne bleibt bis zuletzt asexuell, aber die ausgegrenzte Sexualität bleibt bedrohlich. Wenn sie Blanscheflur, um sie von Flore zu entfernen, in die Sklaverei verkaufen, dann tauschen sie sie gegen einen kostbaren Pokal, auf dem die Liebe zwischen Paris und Helena samt ihrer Vorgeschichte, dem Parisurteil, und ihren Folgen, dem Untergang Trojas, dargestellt ist. Der Pokal zeigt, was Flores und Blanscheflurs Liebe nie sein darf, eine zerstörerische erotische Attraktion. Mit dem bekanntesten Sündenfall verhängnisvoller Sexualität kann im Medium des Bildes hereingeholt werden, was narrativ radikal ausgeschlossen wird: die gefährliche andere Seite der minne ^
811
''
A . Schulz (2000), S. 134. Z u r K i n d e r m i n n e dort Schneider (2004), S. 1 1 4 - 1 1 6 . Z u m Pokal Wandhoff ( 2003), S. 244-250, v o n dessen D e u t u n g die hier vorgetragene allerdings ab-
401
Dynastische Allian% und minne
Das wiederholt sich im Grabmonument, das Flores Eltern für die angeblich tote Blanscheflur errichten lassen. Dieses Monument ist Gegenstand einer langen Ekphrasis.90 Wieder wird - hier durch Wechsel der Erzählperspektive - das, was narrativ ausgegrenzt wird, als Bild in die Erzählwelt hineingeholt: die Sinnlichkeit der minne. Deren Inszenierung im Grabmal steht unter vierfachem Vorbehalt: Die Geliebte ist angeblich tot (tatsächlich ist der Anlaß für das Grabmal erlogen, seine Botschaft also falsch). Der erotische Dialog zwischen den im Monument dargestellten Liebenden verdankt sich höchster Kunstfertigkeit, %ouberlisten (KFuB 2025) und ^ouberworten (2020) (er ist nicht natüre, nicht sinnlich spontan, sondern mechanisch hergestellt). E r täuscht den Austausch von Gefühlen nur vor (er ist bloßes „Als 0b"). 91 Und er verbannt die minne in eine ferne Vergangenheit (es hat sie tatsächlich nie gegeben). 92 In dieser Weise eingeklammert, kann die sensuelle Seite von minne thematisiert werden, die die Eltern unbedingt unterbinden wollten: Floren bilde sprach alsus: , küsset mich, frouwe stiege [···]'
do sprach da^ ander golt, da% Blanscheflur was gelich,
[...]
wan ich iuch in minem sinne vor al der werlde minne.'
(2050-2040).
In der Grabschrift {hie lit ..., 2223) wird für beendet erklärt, was doch noch gar nicht angefangen hat. Es ist nicht Absicht der Eltern, „Blanscheflur durch ein künstlich animiertes, lebensecht wirkendes Abbild zu ersetzen", 9 ' sondern aus einer gefährlichen Zukunft eine schöne Vergangenheit zu machen.94
weicht. Wandhoff sieht die „Romanhandlung einerseits in der Geschichte vom trojanischen K r i e g " .fundiert', andererseits .kontrastiert' (S. 245). Das auf dem Pokal Abgebildete kann aber nicht typologisch verstanden werden. E s hat die Bedeutung einer abzuweisenden Alternative. Wegen der Asexualität der Liebe Flores und Blanscheflurs kann die Liebe zwischen Paris und Helena nie „unvollkommene! 1 Vorform", sondern nur negative Folie sein (S. 249). Sie hat in keiner Hinsicht „Leitbildfunktion" (Ingrid Kasten: Der Pokal in ,Flore und Blanscheflur', in: Erzählungen in Erzählungen, 1996, S. 189-198, hier S. 196). Auch Flores Entscheidung für minne und gegen wisheit ist mit dem Parisurteil unvergleichbar. Sie ist keine „Wertentscheidung", denn für Flore steht die minne von Anfang an außer Frage. E r entscheidet sich nur gegen vorsichtige Risikoscheu (anders ebd., S. 194). Wandhoff (2005), S. 301-509. »' Egidi (2005), S. 180. Egidi (200;), S. 182: „Hier wird die Liebe statisch, ,zur Ruhe gebettet', zum Stillstand gebracht, und zugleich in weite Ferne, in memoriale Distanz gerückt". Aber die Erinnerung, die es stiftet, ist so falsch wie das Grabmonument selbst. Zwar wird der Dialog in die Vergangenheit verlegt: wan er sach sie gebären/als er mit ir gewon was (22i6f.), aber Flore erinnert das, was auf jeden Fall unterbunden werden sollte. " Wandhoff, 2003, S. 30;. 94 Das Kunstwerk verdankt sich deshalb gerade nicht „idealisierende [r] Erinnerung" (Ridder, 1997, S. 72), die ja, wie Ridder selbst bemerkt, gar kein Subjekt hätte, denn weder Auftraggeber noch 402
Hybridisierung In der sentimentalen Perspektive der E r z ä h l u n g scheint die mirtne der Protagonisten zwar nicht normgefährdend, aber unter den herrschenden
Verhältnissen
trotzdem ,unmöglich'. D a m i t sie gelingen kann, müssen diese geändert werden. D a s gelingt mit Hilfe eben des Allianzprinzips, dem zuliebe Sexualität und E r o t i k exorziert wurden. D i e Eltern müssen nämlich erkennen, daß die E r b f o l g e gefährdet ist, weil der unglückliche Flore seinem L e b e n ein E n d e zu machen droht. D i e Mutter glaubt die G e f a h r (2450-2458) nur abwenden zu können, indem sie ihm die Wahrheit gesteht: Blanscheflur sei nur entfernt worden, damit sie seiner standesgemäßen Verheiratung nicht entgegenstehe (daß du 7ye friunde ein also guote,/ richer, schoener, ba^geborn,/
wibe batest erkorn, 2 5 3 2 - 2 5 3 4 ) . A n diesem Ziel glaubt auch
der Vater selbst dann noch festhalten zu können, wenn Flore sich auf die Suche nach seiner in die Ferne verkauften Geliebten macht (2625-2627). Flore verdient Blanscheflur nicht durch ritterliche Tat, sondern durch standhaftes Leiden. Sexualität ist weiterhin präsent, jedoch als beherrschte. In einer Serie verfänglicher Situationen bewährt sich ein christliches Virginitätsideal 9 ' v o r dem Hintergrund dessen, was man e i g e n t l i c h ' erwarten würde: Flore gelangt schließlich in Blanscheflurs Bett, doch keusch. Wenn zuletzt der Vereinigung nichts mehr im Weg zu stehen scheint, muß noch einmal die Macht des Allianzprinzips demonstriert werden, diesmal von Blanscheflur selbst vertreten, doch nur um widerlegt zu werden. Blanscheflur glaubt zu wissen: wir sin geborn ungeliche;/ wan er ist eines küneges kint,/ so enwei'.ζ ich wer min mäge sint ( 1 7 9 4 - 1 7 9 6 ) : wi^ent da^ ich sin amie doch niemer werden mehte von geburt noch von gesiebte: so rehte edel weiζ ich in. so enwei\ ich wer ich bin [...]
(712 2-7126)
D a s ist u m s o ungefährlicher, als der Hörer über ihre königliche A b k u n f t v o n A n f a n g an beruhigt worden ist. Trotzdem bedarf es für das glückliche E n d e der gesellschaftlichen Instanz - hier vertreten durch den heidnischen Amirai - , der die Liebenden gesellschaftskonform verheiratet ( 7 4 9 0 ^ , und schließlich gehört zum guten A u s g a n g , daß auch der Feudalverband Flore als seinen erbeherrefn]
zurück-
holt und die Verbindung billigt. Jetzt endlich ist die unablässig umkreiste Sexualität legitim. In den Geschichten v o n K i n d e r m i n n e sind die üblichen B e g r ü n d u n g e n v o n mimte (Schönheit, %uht, ethische Vollkommenheit, ritterliche B e w ä h r u n g usw.) vorüber-
K ü n s t l e r haben an der E r i n n e r u n g der L i e b e n d e n teil. F l o r e w i r d nur a u f etwas V e r g a n g e n e s z u r ü c k v e r w i e s e n , u m es als beendet zu e r k e n n e n (wan er such sigebären/als
er mit irgewon
was, F 1 B 2 2 i 6 f . ) . F ü r
ihn kann das G r a b m a l kein „ O r t erinnerter L i e b e , d e r V e r g e g e n w ä r t i g u n g realer P e r s o n e n " sein "
(S.73). Vgl. o b e n S. 13 i f .
403
Dynastische Allianz und minne gehend eingeklammert, ebenso wie die sonstigen Kriterien angemessener Heiratsallianzen (z.B. Herkunft, Reichtum, Friedenssicherung). Bei Kindern sind solche Vorzüge allenfalls als Versprechen für die Zukunft erkennbar; sie können daher nicht ausschlaggebend für die wechselseitige Zuneigung sein. Dafür muß es dann andere Gründe geben. Diese scheinen numinos (das gleiche Datum der Geburt, die gleiche äußere Gestalt, der Traum), oder werden als übermenschlich angesehen (der Verdacht der Magie). Die Kinderminne markiert den Ubergang zu jenen unentrinnbaren Liebespassionen, die auf eine Droge, auf Zauberei, auf dämonische Verführung zurückgeführt werden. So schließt sie, obwohl manifest ,unschuldig', die negativ konnotierten Seiten von minne ein. Z u m Ziel kann sie aber erst kommen, nachdem für diese der angemessene soziale Rahmen hergestellt wird. Bleiben die dunklen Seiten der Passion im ,Flore' am Horizont und werden sie bis zuletzt ausgeschlossen, so hat sich der ,Reinfried von Braunschweig' um ihre Integration bemüht, was zu einer noch deutlicheren Hybridisierung der Erzählmuster führt. Dieser recht zusammengeklitterte Roman kann sich nicht für ein bestimmtes Verlaufsmuster entscheiden und pfropft deshalb verschiedene aufeinander.' 6 Der Ausgangspunkt von Reinfrieds Interesse an Yrcane entspricht wieder dem Brautwerbungsschema. Liebe stellt sich auf Grund von Fama ein; sie ist an Werterkenntnis und Hörensagen gebunden. Reinfried erfährt von glaubwürdigen Zeugen, daß Yrcane alle höfischen Vorzüge in sich vereinigt. Ihnen gilt seine Fernliebe: rehtiu minne ( R v B 508) hat die Eigenschaft, daζ si niht wan des bestengert (511). Das Begehren ist durch ein kollektives Urteil vermittelt, hier die Worte eines Boten: sin her^e muose minnen die doch sin ouge nie gesach. ich wan selten ie beschach da% sich ein her% lä binden, e da£ da^ ouge vinden künne sin listic girde. sit nach des ougen wirde ein her^ üf minn sich rihtet, da^ ouge muo^ gephlihtet boten an da^ her^e sin. und swie si went, der ougen schin, da volget sin und her^e nach. (RvB 490-501) Freilich wertet der Erzähler das schon als ungewöhnlich. Die Fernliebe ist eine rein geistige minne, ohne die Beimischung sinnlicher Attraktion {listic girde). Sie ist unterschieden von körperlichem Begehren und setzt sich vom Sexualtrieb ab, der mit dem Freßtrieb parallelisiert wird: Auch ein edler Falke frißt nichts, das im misse^ame (522). Die äußeren Sinne sind ausgeschaltet: 96
Martin Baisch (durchgründen. Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im ,Reinfried von Braunschweig, in: Inszenierungen [200;], S. 1 9 1 - 1 9 3 ) versteht die einander ablösenden Angaben auf Handlungs- und Exkursebene als Hinweis auf einen Subjektivierungsprozeß.
404
Hybridisierung swenn im da^ her£ lät an gesigen, so ist ouge und ore tot. da%_ her^e alleine lidet not und kan ouch trost enphaben. (530-533)
Immerhin weiß der Erzähler, daß die minne auch Macht über das Auge hat (538-541; 545). Das ouge könne sich freilich vergäben und das Herz wider sinem willen zu unbesinter minne verleiten (534-537)· Reinfried dagegen erfährt die reinste minne, die ohne Vermittlung der Augen (ungesehen) je ein Herz (genauer: keins herben sinne) empfand (550-553)· Indem aber der Erzähler von den sinnen des Herzen spricht, gibt er zu erkennen, daß jenes bloße Hörensagen als Ursprung erotischen Begehrens unzulänglich ist und ein durch die sinne vermittelter Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozeß hinzukommen muß. Die für das Brautwerbungsmuster konstitutive Fernliebe ist insoweit nur ein erster Stimulus. Reinfried muß Yrcane sehen. Dabei muß er ihr noch einmal, diesmal durch die Augen, verfallen, die das nachvollziehen, was die sinne des Herzen schon erkannt haben: sin her% da£ hat gebildet si nach siner girde, und was ir hdhiu wirde alsus in sinem sinne, da% in betwang ir minne, e si sin ouge ie gesach. hie nach dö aber da% geschach da^ diu ougen sähen dar da da% her^e gäben hin künde mit dem sinne, dö kan diu süe^iu minne und strihte ouge und her^ inein, also da% under disen ^wein niht was wan ein einte lust. (115 6— 1169^
Schon die Werterkenntnis löste leidenschaftliches Begehren aus. Das Herz hat die Geliebte nach seinem Begehren {girde) entworfen; ihre hdhiu wirde affiziert seinen sin (hier: Erkenntnisvermögen). Beides erweckt die minne. Das ber^e drängt heftig (gaben) mit dem sinne zu ihr. Dann aber vollzieht das Sinnesorgan, das Auge, die Bewegung des Herzen nach, und diu süe^iu minne strickt ouge und herζ zusammen. Die Wahrnehmung durch die Augen fügt ein sinnliches Moment hinzu, das die bloße Werterkenntnis nicht enthielt. Auch Yrcane sagt, als sie Reinfried sieht: min sin hat sich vergäbt,/da% ich in ζoubers %ihe (i664f.): Es ist der sin, der sich verirrt, vom Begehren fortgerissen wird (vergäben), wie unter magischer Wirkung. Solch ein %ouber, der die Unerklärlichkeit der Liebespassion zu erklären hätte, hat allerdings in dieser Geschichte einer ordentlichen Eheschließung auf Dauer keinen Platz. Zunächst treten die zeremoniösen Formen höfischen Umgangs von Mann und 405
Dynastische Allianz und minne
Frau, und das bedeutet, eine lizensierte, alle einschließende minne, an seine Stelle. Diese wird allerdings erotisch überschrieben. Das gilt besonders für das Ritual des Küssens im Angesicht des ganzen Hofes: im Kuß, den Yrcane als Herrin des Hofes dem Turniersieger Reinfried zu geben hat und zu geben zu schüchtern ist; in der Belehrung des Vaters, wie sie richtig küssen muß (2318-2321); in der züchtigen (aber fehlinterpretierbaren) Weigerung des Siegers, den Kuß anzunehmen (2330-2333), 97 in der Schilderung des Kusses selbst, der zum Liebesakt mutiert (2349-2361; 2540-2543) und endlich im Perorieren des Erzählers über das Küssen im allgemeinen (2368-2471). Das Ritual tritt an die Stelle sinnlicher Faszination, die wiederum die rein imaginierte minne ersetzt hatte; es wird selbst sinnlich interpretiert. Unter dem Mantel der Konvention ist körperliche Nähe erlaubt. Dann ein weiterer Schritt. Es kommt es zum heimlichen Liebesgespräch zwischen Reinfried und Yrcane. Es findet abseits der höfischen Öffentlichkeit statt, doch ist es deren Kontrolle nicht vollständig entzogen und bleibt in den Grenzen des Schicklichen. Trotzdem verläßt die Frau das Stelldichein %erküsset und \ertriutet (3947). Es hat den Anschein, daß in diesem Nachzügler höfischer Epik die kompromißhafte Konfiguration der Fernliebe nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wird, jedoch die erotische Komponente nur indirekt angespielt werden darf. Der Erzähler hält an den Voraussetzungen von minne qua Werterkenntnis fest, ergänzt sie aber um die ausgesparte sinnliche Attraktion, integriert sie in höfische Konvention, eröffnet ihr aber auch einen Raum jenseits höfischer Öffentlichkeit. Das alles reicht immer noch nicht aus, um eine Heirat zwischen den Liebenden zu begründen. Reinfried verläßt den dänischen Hof unverrichteter Dinge. Das gibt dem Erzähler Gelegenheit, das minne-Verhältnis ein weiteres Mal mit einem konventionellen Legitimationsmuster zu überschreiben: Reinfried muß die Geliebte durch ritterliche Tat vor den falschen Ansprüchen eines Rivalen retten. Diese Nachträglichkeit ritterlicher Bewährung kehrt den üblichen Motivationszusammenhang um: die minne geht in diesem Fall der Tat voraus, aber auf die Tat zu verzichten, ist auch nicht möglich. So gibt es eine weitere narrative Schleife. Obwohl Reinfried und Yrcane sich schon nahegekommen sind, muß Reinfried in seine Heimat zurückkehren, dort hören, daß Yrcane von einem Rivalen bedrängt wird und sich erneut zu ihr auf den Weg machen, um sie zu befreien. Natürlich gelingt das. Nach seinem Sieg über den Usurpator sollte er eigentlich einen Anspruch auf ihre Hand erworben haben, und alle bestätigen ihm das auch: sit er si hette errungen mit kamph, so solt er si ouch han [...].
(97; of.,)
Jetzt könnte minne primär als Folge (sitV) von Bewährung erscheinen. Doch auch die zuvor längst getroffene emotionale Entscheidung wird noch einmal nachgeholt: 97
Yrcane vermutet, Reinfried weigere sich, sie zu küssen, weil er lieber eine andere Frau küssen würde.
406
Hybridisierung sit daζ der tugentricher man si also hette ervohten, und sit ouch si geflöhten hette her^e und sinne in sine stiege minne [...]. (9762-9767)
Das genügt aber immer noch nicht. Yrcanes Einverständnis mit der Ehe muß noch eingeholt werden (9762-9769), und die dynastische Eignung Reinfrieds ist festzustellen (9934-9939; 1 1 5 7 4 - 1 1 5 88), das also, was üblicherweise beim Abschluß einer Konvenienzehe zuerst geprüft würde. Auf Grund von Herrschaft und Besitz (bürge stet gelt witiu lant, 9935), Rang (min künne ist geforstet n>ol, 9938) und vornehmer Verwandtschaft {Up guot friunt und mäge, 9947; ioio8f.) erweist sich Reinfried auch als dynastisch angemessener Werber, und jetzt erst endlich erhält er Yrcane zur Frau. Die wortreiche Ausführlichkeit, mit der die Argumente für die Eheschließung immer wieder beraten und hin und her gewendet werden, zeigt, wie wenig der Erzähler noch der Evidenz der aufgerufenen Erzählschemata traut und wie stark er sich nach herrschender Praxis rechtlich und politisch abzusichern trachtet. Der von Fernliebe gesteuerte Handlungsnexus wird gleich mehrfach um weitere Gründe für eine dynastische Verbindung ergänzt. Doch auch diese sind, soweit sie im Bereich bloßer Affekte bleiben, nicht ausschlaggebend. Eine Bewährungstat und der Nachweis ständischer Adäquanz müssen hinzukommen. Die Konkurrenz der Legitimationsmuster wird durch einfache Addition gelöst. Erst dann kommt: noch etwas hinzu, das in den bisherigen Beispielen nur als abgespaltenes Moment zulässig war: die sexuelle Attraktion der Partner. Vorbereitet wird das zunächst wieder unter negativen Vorzeichen: Wenn Yrcane einen Rivalen Reinfrieds zurückweist, wird breit besprochen, was zwischen beiden sich alles nicht abspielen darf. Unter der Prämisse des Verbots wird das Sprechen über Sexualität und Erotik zu einem Hauptzweck des Erzählens, das zur institutionell (in der Ehe) und ständisch (im höfischen Minnekult) kanalisierten minne hinzukommen muß. Im Falle des Rivalen ist das negativ konnotiert. Doch wenn Reinfrieds minne erst einmal durch Eheschließung legitimiert ist, ergeht sich der Erzähler auch bei ihm in breiter Darstellung von Sexualität, zuerst anläßlich der Hochzeitsnacht ( 1 0 7 6 7 - 1 1 1 7 1 ) und später wieder bei der Zeugung des Sohnes (14834-14841). 98 So ist letztlich Reinfrieds minne alles zugleich: vorteilhafte Allianz, Stimulus zur gefährlichen Brautwerbung, höfisches Ritual, ritterlicher Kampfpreis, Fortpflanzungsgemeinschaft und last not least Ort legaler sexueller Phantasmen.
9
* Vgl. auch schon 1600-1609; 1656-1665; 3832-3861; 3889-3897; 3946-3953.
407
Dynastische Allianz und minne
Grenzfälle Selbst dort, wo die erotische Komponente dominiert und in erster Linie die höfische Liebe gefeiert wird, scheinen die Regeln des Allianzprinzips immer durch. Das läßt sich bei Gottfried von Straßburg an der Geschichte der Eltern Tristans, Riwalin und Blanscheflur, beobachten, die man als weniger radikale Variante des Paares Tristan und Isolde verstehen kann. Wie Tristan und Isolde verstoßen Riwalin und Blanscheflur gegen soziale Institutionen, doch geschieht das vorübergehend, und der Verstoß kann in leal amür (GTr 1360) aufgefangen werden. Anfangs droht ein Konflikt mit der höfischen Ordnung, durch die voreheliche sexuelle Vereinigung, bei der Tristan gezeugt wird, durch Riwalins Entfernung vom Hof und Blanscheflurs Schwangerschaft. Doch hat Gottfried diese abweichende Minnebeziehung von Anfang an die üblichen sozialen Normen zurückgebunden. Wenn Blanscheflur Riwalin zum ersten Mal bei einem höfischen Fest trifft, dann entsteht ihre minne aus dem, was alle sagen. Auf den jungeline, den vorbildlichen Ritter, richten sich die Blicke aller vrouwen, alle rühmen seine schöne Gestalt, die Art, wie er seine Waffen führt, seine Kleidung und seine höfischen Manieren (wie stiege ist aller sin gebär, 714; vgl. 702-715). Blanscheflurs Begehren ist kollektiv: jede Frau ist sale[c], derfröude an ime beliben sol (7i6f.). Sie verliebt sich in den, den alle anderen bewundern (nu marete ir aller meere wol, 718). Wenn sie sich fragt, mit welcher i^ouberlist Riwalin di^fremede wunder und die wunderliche nöt (1001-1003) ihr zugefügt habe, dann macht sie das Bild der anderen von ihm dafür verantwortlich: do ich so vil manec edele wip den sinen keiserlichen lip und sinen ritterlichen pris mit lobe gehörte in ballen wis alse umbetriben unde tragen und sines lobes so vil gesagen, und ich mit ougen selbe sach die fügende, der man von im jach, und alle\ in min her^e las, swa£ lobeliches an im was, da von ergouchete min sin: hie von geviel min her^e an in. Entriuwen, da^ erblante mich, da^ was da^ %ouber, da von ich min selber sus vergeben han. (1025-1039)
Noch die sinnliche Überwältigung durch die minne (Blendung, %ouber, Selbstverlust) wird auf die höfische Variante jener Fama zurückgeführt, die Brautwerbungshandlungen in Gang setzt. Blanscheflurs minne überschreitet diese Grenze, wenn sie sich auf dem Krankenlager dem scheinbar tödlich verwundeten Riwalin hingibt. Erzählt wird das als ein 408
Gren^fälle zwangsläufiger V o r g a n g [ir beider wille ergie, 1 3 2 1 ) , bei dem gesellschaftliche R ü c k sichten außer Betracht bleiben. U m s o überraschender schieben diese sich wieder in den Vordergrund, wenn Riwalin in sein L a n d zurückgerufen wird und Blanscheflur zurückzubleiben fürchtet. Ihren Schmerz begründet sie dann nämlich nicht mit der Trennung v o m Geliebten, sondern mit den gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Übertretung: mit ihrer Schwangerschaft, die sie nicht zu überleben fürchtet, und der Schande, die sie damit über ihren Bruder den K ö n i g bringt; 99 mit der Furcht, daß dieser die Schande an ihr rächen würde (der beißet mich verderben/und lesterliche ersterben, i 4 7 i f . ) . A m schlimmsten aber sei der Verlust an E h r e . Sie glaubt zu wissen, wenn der Bruder sie nicht tötete, das er mich aber enterbet und nimet mir guot und ere, so muo^ ich iemer mere unwert und swaches namen sin. dar %uo muo^ ich min kindelin, da% einen lebenden vater hat, ^iehen äne vater rat. (1478-1484) Nicht nur sie selbst und der Status des K i n d e s sind bedroht; das laster betrifft den K ö n i g , ihr vil hoch gesiebte, Cornwall und E n g l a n d insgesamt (i486f.). Wenn sie bedenke, da% %}vei lant von den schulden min genidert und geschwachet sin, so ware ich eine better tot. (1499-1501) D e r Geliebte Riwalin spielt in diesen K l a g e n keine Rolle. Blanscheflur geht es um ihren Platz in der Gesellschaft. Diese Perspektive teilt Riwalins G e f o l g s m a n n Rual, wenn dieser mit seiner G e liebten in sein L a n d kommt. F ü r Rual zählt nicht die verletzte E h r e des fremden H o f s , sondern der Z u w a c h s an Prestige, die Riwalins Trophäe seinem L a n d bringt, die vorteilhafte Allianz: ,ich sihe rvol, herre,' sprach er do, , iuwer ere wahset alle wis, iuwer werdekeit und iuwer pris, iuwer fröude und iuwer wunne, diu stiget als diu sunne. irne mähtet üf der erden
"
Walliczek/Schulz (2005), S. 38 bringen einen vergleichbaren Fall mit der mittelalterlichen „ S c h a m k u l t u r " in Beziehung: das Leitparadigma hinsichtlich dessen, was es zu vermeiden gilt, ist nicht ,Schuld', sondern .Schande'; vgl. D o n a l d Ward: H o n o r and Shame in the Middle Ages: A n open Letter to L u t z Röhrich, in Fs. L u t z R ö h r i c h , J a h r b u c h für Volksliedforschung 27 (1982/83), S. 1—16.
409
Dynastische Allianz und minne von wibe niemer werden so hohes namen als von ir.
(1610-1617)
D u r c h die f o l g e n d e n E r e i g n i s s e w e r d e n diese H o f f n u n g e n allerdings zerstört. D i e L e g a l i s i e r u n g mißlingt. R i w a l i n n i m m t B l a n s c h e f l u r
kirchen zur F r a u , da
fen unde leien sehen ( 1 6 2 9 ^ ) , d o c h der ö f f e n t l i c h e A k t , bei dem er sie mägen und vor manne
e (iGzGi.)
e^pfäf-
offenliche/vor
n i m m t , w i r d a u f g e s c h o b e n , bis der K r i e g mit
M o r g a n beendet wird. D a R i w a l i n fällt, findet er nie statt. Tristans G e b u r t zeichnet ihn keineswegs aus, sondern ist mit diesem M a k e l behaftet. D o c h auch auf der anderen Seite tritt, was m a n üblicherweise zu g e w ä r t i g e n hat, nicht ein. M a r k e bestätigt die B e f ü r c h t u n g e n seiner Schwester nicht und n i m m t den N e f f e n als seinen legitimen E r b e n an. S o hat G o t t f r i e d mit diesen nicht verwirklichten H a n d lungsalternativen den H i n t e r g r u n d skizziert, v o r dem die minne der E l t e r n Tristans w a h r g e n o m m e n w i r d und der erst bei der Trank-««'»»? Tristans und Isoldes verblaßt. H i e r stößt man auf eine S c h r a n k e h ö f i s c h e n E r z ä h l e n s , die bis hinein in den späten h ö f i s c h e n R o m a n allenfalls zeitweise überschritten werden kann. Ihr verdankt K o n r a d s v o n W ü r z b u r g ,Partonopier und M e l i u r ' seine h y b r i d e
Erzähl-
struktur, I C C die wieder unterschiedliche M o d e l l e kombiniert. 1 0 1 K o n r a d erzählt v o n einer leidenschaftlichen L i e b e , die als dämonische Verzauberung
zu
beginnen
scheint, sich dann aber als Variante einer dynastischen A l l i a n z entpuppt und nach einer S t ö r u n g zuletzt wieder in die üblichen B a h n e n einer solchen A l l i a n z gelenkt w i r d , die also, trotz ihres transgressiven Charakters, durch soziale K o n v e n t i o n e n g e r a h m t ist. D i e minne verändert also im L a u f e der E r z ä h l u n g ihren Charakter g r ü n d l i c h und lenkt zuletzt in die B a h n e n der K o n v e n t i o n . 1 0 2 M e l i u r ist nur a n f a n g s scheinbar eine F e e , ein zaubermächtiges Wesen, v o n einem Tabu u m g e b e n w i e der G o t t A m o r in , A m o r und P s y c h e ' , aber sie wandelt sich zu einer g e w ö h n l i c h e n , v o n der L i e b e ihres Ritters enttäuschten vrouive, zur Tochter eines K a i s e r s , die einen passenden M a n n sucht.
Die folgenden Überlegungen sind von der genauen Analyse bei A. Schulz (2000), insbesondere S. 1 1 0 - 1 1 7 angeregt; sie suchen nur an einigen Stellen etwas andere Akzente zu setzen; zum transgressiven Charakter vgl. A. Schulz (2004), S. 251 f. Um die Einbettung der Geschichte in zeitgenössische Heiratsmodelle bemüht sich dagegen M. Schulz (2005), S. 56-63, 68f., 86-91, 96-100. "" Man kann die unerwartete Wendung aus einer Uberlagerung zweier Erzählmuster erklären, aus der Ablösung des Schemas ,Mahrtenehe' durch das Schema ,ritterliche Werbung um eine (scheinbar unerreichbare) Dame'; zur wechselseitigen Uberlagerung und Störung unterschiedlicher Erzählschemata Simon (1990a), S. 128 (der auf Schemata der chansons de geste verweist); Eming (1994), S. 127; Meyer (1994b), S. 1 2 1 . " " Mir geht es im folgenden um die normalisierende Uberformung des Mahrteneheschemas, die es mit gültigen Kulturmustern kompatibel macht. Demgegenüber hat Wyss (1988/89) Tabu und Tabubruch als Stationen eines psychischen Prozesses interpretiert, der am Beispiel des jungen Partonopier die aporetische Struktur höfischer Sozialisation und die „Schwäche des höfischen Ideal-Ichs" (S. 367) konfiguriert. Die beiden Perspektiven schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander wechselseitig.
410
Grenrfälle Bis zur Liebesvereinigung ist alles rätselhaft. Der junge Partonopier wird aus seiner Heimat in ein menschenleeres Zauberschloß entführt. Wenn er schlafen geht, legt sich im Finstern eine Frau zu ihm ins Bett. E r schwankt zwischen Dämonenangst und erotischer Faszination, doch macht er schließlich, angeblich gegen ihren Willen, die Frau zu seiner Geliebten. 1 0 ' Ausschlaggebend ist die sinnliche Attraktion, aus der nur der höchste Sinn, der Gesichtssinn ausgeschlossen ist. Damit gründet seine minne auf Sexualität. 104 Die Hierarchie der Begründungen wird damit auf den K o p f gestellt:. Sexualität steht am Anfang. Die Erklärungen, die er von der Geliebten erhält, weisen allerdings gleich in eine ganz andere Richtung: Das leidenschaftliche Liebesverhältnis ist Ergebnis einer invertierten Brautwerbungsgeschichte, bei der herkömmlicherweise Fama und Wert eine herausragende Rolle spielen. Wo Partonopier sich von magischen Mächten gelenkt fühlt, handelt Meliur zielstrebig im Sinne dynastischer Allianzpolitik. Der Ausgangspunkt entspricht dem gewöhnlicher Brautwerbungsfabeln, nur mit dem Unterschied, daß eine Frau statt eines Mannes sich bemüht, den geeigneten Partner zu erobern. 1 0 ' Was (nur noch!) aus der Perspektive Partonopiers wie eine typische Mahrtengeschichte erscheint und zunächst auch so abläuft, 106 erweist sich als Geschichte einer dynastischen Allianz. Bei diesem Vorgang sind natürlich die Vasallen beratend beteiligt. Als Eignungskriterium werden überraschenderweise Rang, Macht und vor allem Besitz ausgeschlossen (durch guot, 1795). Meliur soll ihrem erotischen Begehren folgen (nach miner minne gir, 1790). IO " Der materielle Aspekt wird also ausdrücklich ausgeblendet zugunsten der individuellen Wahl, die sich aber der politischen Konvenienz zu fügen hat. Die Vasallen suchen für Meliur einen Partner, der mir herren töhte (1799), also jemanden, der die Rolle an ihrer Seite ausfüllen kann, ohne ihr ranggleich sein zu müssen. In diesem Fall sind die Vasallen nicht aktiv handelnd beteiligt, sondern nur dadurch, daß sie boten aussenden, um einen geeigneten Kandidaten zu finden. Nach langer Suche finden sie Partonopier, der das Kriterium rehte wirde ( 1 8 1 5 ) erfüllt. E r ist zwar kein K ö n i g , wohl aber ein Fürst. D a das Kriterium .gleiche Macht und gleicher Reichtum' ausscheidet, muß er Meliur auf andere Weise gefernen (1836). Die
loi
104
101
106
101
D i e gewaltsame R o l l e des Mannes beim Liebesakt ist gegenüber der französischen Fassung abgeschwächt (Kasten, 1995, S. 278). Kasten (1995), S. 279 vermutet: „ K o n r a d scheint an eine v o n nichts Ä u ß e r e m abhängige, aus dem herben k o m m e n d e Liebe zu denken, die ihren Gegenstand allein mit Worten, mit der Imagination, mit dem G e f ü h l und mit der K o m m u n i k a t i o n der K ö r p e r zu erfassen v e r m a g " . Ist es wirklich das her^e? Nicht eher eine primär sexuelle Attraktion? A . Schulz (2000), S. 98, der darauf hinweist, daß damit die „,privatistische' T e n d e n z " der Feenliebe politisch konterkariert werde. A . Schulz (2004), S. 238); vgl. Panzer zu T v p u s 1 des Schemas in: Füetrer, 1902, S. L X X I V LXXVIII. Hintergrund der Umbesetzung ist die veränderte soziale Rolle der Frau: wan ich gedähte, da% ein wip/ verkoufen niht so/t umbe guot/ir minne, friheit unde muot ( 1 8 1 2 - 1 8 1 4 ) .
411
Dynastische Allianz und minne
von den Boten festgestellte Konvenienz (Partonopier ist ein glänzender junger Ritter) erzeugt - wie die fernen Prinzessinen der Brautwerbungsfabel bei ihren männlichen Werbern - sogleich bei Meliur Liebe: hie von enbran mins herben gir (1840). Sie will sich gleichfalls überzeugen und verliebt sich nicht nur in seine Schönheit (ebenfalls ein ständisches Prädikat), sondern erkennt sein hohes gesellschaftliches Ansehen. Ständische und persönliche Vorzüge fallen also wieder zusammen.108 da von üf dich min wille reis und wart min her^e an dich gewant und min sin nach dir enbrant (1860-1862).
Meliur folgt damit nicht nur ihrem Begehren, sondern erfüllt auch den politischen Auftrag ihrer Vasallen: ja wolte ich gerne, junger helt, hän manne dich erwelt nach miner künege räte. (1879-1881)
Damit ist die heimliche Liebesaffäre von vorneherein politisch gerahmt. Allerdings läuft alles anders als gewöhnlich in Brautwerbungsfabeln: Die Werberrolle ist umbesetzt, die Fernliebe wird durch Augenschein überprüft, dieser verwandelt sie in passionierte Liebe, und Zauberei ermöglicht die vorzeitige Zusammenkunft der Liebenden. Die ursprüngliche Motivation wird damit hybridisiert. Die Handlung mündet, angeblich unvorhergesehen (vongeschiht, vgl. 1882-1885) i n e i n Liebesverhältnis, von dem Meliurs Hof nichts wissen darf. Die Verklammerung des politisch motivierten Allianzprinzips mit der Liebespassion erklärt die Bedingungen, die Meliur setzt: Vorerst muß die Liebe heimlich sein. Die Bekanntgabe der Verbindung ist erst zu einem späteren Zeitpunkt angemessen, wenn auch die ständischen und politischen Voraussetzungen erfüllt sind: ich hete mich des sus bedäht mit den landes herren mtn: ein tac sol hie hove sin über drittehalbe^jar, da sol ich kiesen offenbar einen man der mir behage. (1886-1891)
Vorher ist eine offizielle Verbindung mit so kindesche[m] knaben nicht möglich (1906). Es ist also von Anfang an ein Rahmen für eine legitime Allianz hergestellt. Ausgefüllt wird er aber vorerst durch ein illegitimes Liebesverhältnis, das es den Vertretern der gewöhnlichen Ordnung, Partonopiers Mutter und seinem königli-
108
Zur Verschränkung ,intimer' und .öffentlicher' Motive Kasten (199;), S. 277.
412
Gren^fälle chen Vetter - stn mac von sippeschefte (6847) - , leicht macht, einzugreifen und die Verbindung zu verhindern, deren normkonformen Rahmen sie verkennen. Beide versuchen zunächst, Meliur durch eine scheinbar .passendere' Frau zu ersetzen. Die Rivalin, die sie auswählen, erfüllt die Voraussetzungen, unter denen Eheverbindungen Zustandekommen sollten. Sie hat alle adligen Vorzüge (schane, adel, ^uht, 6894), ist eine Verwandte des Königs, 1 0 9 mit der auch Partonopier, jedoch nur weitläufig, verwandt ist (6864f.), so daß kein kanonisches Ehehindernis besteht:' 10 also eine vom Standpunkt ständischer Konvenienz ideale Ehefrau und als solche Meliur gleichwertig. Doch weil die Verbindung zwischen Partonopier und Meliur von A n f a n g an nicht ausschließlich politischen Regeln folgte und mime ihr Kern ist, ist das Kriterium einer idealen Allianz für Partonopier belanglos. Daher traut man ihr nicht zu, gegen die minne zu Meliur anzukommen, und so versucht man es auch hier mit Zauber. Damit wird wieder einmal auf die Defizienz einer gewöhnlichen Allianz verwiesen. Die Passion kann nur durch eine Passion bekämpft werden. Der Versuch schlägt fehl; Partonopier kehrt zu Meliur zurück, und alles scheint wie zuvor. Erfolgreicher ist der Versuch, die Liebe zu Meliur als Verhexung zu denunzieren, die Partonopier in Todsünde verstrickt. Dabei werden die Grenzen zwischen sexuellem Vergehen und dämonischer Verführung verwischt. Die Vertreter der familialen und der religiösen Ordnung, die Mutter und der Bischof, zielen vordergründig auf den Exorzismus eines D ä m o n s , 1 " doch dahinter steht die Befreiung von der Todsünde des heimlichen Liebesverhältnisses."' Der Bischof malt die 109
N o c h viel später, als Meliur schon mit Partonopier gebrochen hat, k o m m t die Mutter wieder auf diese vorteilhafte Partie zurück, die Partonopier gewaltic in Harlingen (9559) machen würde, ja ihn an Ansehen über den kiimc dinen mäc (9561) erhöhen könnte. Partonopier kann sich dank seiner Stellung jede Frau aussuchen: din höchgebiirte und riche^guot/und din vil minneclicher Up/diu füegent, da% kein tvip/mac ir minne dir versagen (9546-9549). A . Schulz (2000), S. 108: „eine an dynastischer Gleichwertigkeit orientierte E h e n o r m " . J u t t a E m i n g : Z u r Theorie des Inzests, in Genderdiskurse (2002), S. 43f. sieht in der Mutter die „Vertreterin einer endogamen Heiratspolitik", die eine „ F r a u aus ihrem Familienverband" bevorzugt. E s geht jedoch um den N o r m a l t y p u s dynastischer Verbindung, der das Inzesttabu nicht verletzt, doch das Postulat ständischer Adäquatheit durch die Wahl einer Person aus der eigenen G r u p p e erfüllt und deshalb auf der G r e n z e des eben noch Zulässigen angesiedelt ist (Schmid, 1986, S. 198f.; 245f.); vgl. auch E m i n g : Partonopiers Mutter, in: Schwierige Frauen - schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, h g . v . Alois M. Haas u. Ingrid Kasten, Bern u.a. 1999, S. 53-70. Deshalb impliziert der Plan der Mutter auch keinen Verstoß gegen die kanonische Ehelehre (so M. Schulz, 2005, S. io4f.).
" ' Z u dieser Szene A . Schulz (2004), S. 257. - Angesichts der Umstände ist sie im Sinne des mittelalterlichen D ä m o n e n g l a u b e n s plausibel. Deshalb folgt Partonopier dem Rat des B i s c h o f s , befürchtend, in seinem Bett einen scheußlichen D ä m o n zu entdecken, bis er stattdessen ein v o l l k o m m e n e s G e schöpf G o t t e s , ein engelin (7884), sieht, das jeden G e d a n k e n an einen D ä m o n sogleich erstickt und seine L i e b e sofort wiederbelebt. D a s ist zwar eine verständliche psychische R e a k t i o n , doch aus der Perspektive der D ä m o n e n f u r c h t wenig überzeugend, könnte doch gerade die Schönheit teuflisches Blendwerk sein. Bei K o n r a d aber schließt sie aus, daß Meliur ein D ä m o n ist. Schönheit ist hier nicht nach einer religiösen, sondern nach einer profanen höfischen Werthierarchie interpretiert. Ihr G l a n z blendet Partonopier; aber er verblendet ihn nicht, sondern zeigt ihm nur, was er verloren hat. " ' Wawer (2000), S. 88.
413
schoene%
Dynastische Allianz und minne
Flammen des Höllenfeuers, mit denen die erotische Leidenschaft, ob mit, ob ohne Dämon, bestraft werden wird (7581-7611). Die Dämonenfurcht ist insofern nur Zutat zu Partonopiers sündigem Konkubinat. Partonopier muß dem Bischof eine Todsünde ,beichten' (7663): dar umbe da% ich niht verhorn ir minne und al ir wünne hän. ich hän tode missetän wider got, daζ wei^ ich wol. (KPa 7704-7707)
Er wünscht sich, daß der valsche[n] minne brunst erlischt (7718). Weil die vorzeitige Liebe die christliche Sexualmoral herausfordert, muß sie für eine Zeit beendet werden (auch wenn dies aus der Perspektive des Protagonisten als heimtückische Intrige erscheint). Die Furcht, ein geist/ald ungehiure% eteswa% (7698^ habe ihn betrogen, verstärkt nur das Bewußtsein, in Sünde zu leben. Die Argumente - Dämonentrug oder allgemein die Todsünde der fornicatio - stützen sich zwar gegenseitig, sind aber nicht identisch. Das Liebesverhältnis, das christlicher Sexualethik widerspricht, wird durch das Mahrtenehenschema nachträglich dämonisiert. Deshalb legt Partonopier, aufgewühlt durch die Worte des Bischofs (dau1 im sin edel her^e wiel/dar inne als ein t(erlät(en bit\ 76 5 of.), ein umfassendes Bekenntnis seiner Sünden ab, deren graste seine Leidenschaft für eine Frau ist, die er noch nie zu Gesicht bekam. An dieser Stelle hat das Modell einer scheinbar idealen Liebe blinde Flecken. Wird die ,Sünde' dadurch aufgehoben, daß sich später die Dämonenfurcht als gegenstandslos erweist? Oder wird sie dadurch gerechtfertigt, daß Mutter und Bischof ihn und seine Geliebte aus eigensüchtigen Gründen auseinanderbringen wollen? Ist die Sorge der friunde um Partonopiers Dämonenverfallenheit, ja schon um eine Liebesbeziehung, die das Licht scheut, nicht berechtigt? Muß Partonopier nicht fürchten, sein religiöses Heil verspielt zu haben? Nährt nicht das Sehtabu zusätzlich den Verdacht der Illegitimität? Schließlich ist Partonopier um der Rettung der Seele willen bereit, Meliurs Verbot zu mißachten. Er blickt sie an und zerstört damit das Liebesverhältnis, das eigentlich eine normgerechte Allianz nur antizipieren sollte. Die illegitime Liebesbeziehung hat sich an die Stelle einer gesellschaftlich akzeptierten Verbindung gesetzt, und das konnte nur so lange gutgehen, als niemand etwas davon wußte. Aus magischem Fluch, den der Tabubruch nach sich ziehen müßte, wird folgerichtig eine soziale Sanktion, aus dämonischen Zauber eine nicht ungewöhnliche Liebesaffäre. Die Schwester hält Meliur vor, daß viele vornehme Frauen Liebhaber nehmen und daß, wenn es denn einmal geschehen ist, der Liebhaber besser als jeder andere auch als Ehemann in Frage kommt. Da Partonopier doch lange Zeit ihr trüt amis (8793) war, könne sie ihn, sagt die Schwester, nicht so einfach wegjagen (vgl. 8786-8816). Das sind Argumente einer Alltagsmoral, die die Feenliebe gewöhnlichen Maßstäben unterwerfen." 5 Das Verhältnis wird psychologisiert. Anfangs dominiert das Gefühl der Enttäuschung, die jede künf-
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Gren^fälle
I n d e m sie vorschnell zu einem Zauber Z u f l u c h t nahm, hat Meliur gegen ständische Konvenienz verstoßen. mas iu richer fürsten hoch und erwelter künege wert, da£ ir der habet niht begert und einen kneht friunde erkurnt, an dem ir also gar verlurnt er unde gan^e wirdekeit? (8444-8449)
Partonopiers Versuche, Meliurs G u n s t wiederzugewinnen, führen in eine Sackgasse, solange die sozialen Voraussetzungen für eine Eheschließung fehlen, und erzählt werden m u ß daher überwiegend, wie diese wiederhergestellt werden. Die Fortsetzung der Geschichte folgt den sozialen Regeln, nach denen Minne und E h e legitimiert werden. Für Meliur geht es nach dem Bruch mit Partonopier u m die Suche nach einem für sie und ihr Land passenden E h e h e r r n (115 54^·)· Weiterhin soll nicht richtuom dabei den Ausschlag geben, sondern ruom und wirde (11585—11587). Nachdem die heimliche Liebesbeziehung gescheitert ist, tritt also wieder ein höfisch gewendetes Allianzprinzip in sein Recht. Von dem erotischen Begehren, nach dem Meliur sich Partonopier ausgesucht hatte, ist dabei nicht mehr die Rede, denn es hatte sie zuletzt kompromittiert. Heirat setzt wieder Bestenauswahl voraus. D e r Beste soll bei einem Turnier ermittelt werden, und Meliur weiß, was die Folge ist: den muoζ ich nemen danne/und
mac sin über werden niht (1
i64of.).
N a c h der Vorgeschichte, in der die individuelle Wahl des Partners vorherrschte, erscheint diese Regel freilich als höchst fragwürdig. Meliur furchtet den A u t o m a tismus des Wettstreits, bei dem ihre Wünsche (wille, herben ger, 11682) keine Rolle spielen. Sie ist in Gefahr, ihre frie[] art in eigenschefte zu verwandeln ( n 6 8 6 f . ) . E s d r o h t also ein Konflikt zwischen den Prinzipien, die minne rechtfertigen, in den Worten der Schwester: man git dir einen man %er e, so disiu ritterschaft geschiht, der lihte dir gevellet niht und dinen fürsten wol behaget.
(11690-11693)
U n d noch drastischer, in Anspielung auf das Interesse der Vasallen: du minnest dinen liuten und niht dir selbe, mi^e
Krist.
{\\ηοζ{.)
tige A n n ä h e r u n g ausschließt (8974f.; 9090^ u.ö.). Meliurs Reaktionen zeigen aber auch, daß sie durch den langen vertrauten U m g a n g an ihm hängt. Sie kann, als sie von seinem angeblichen Schicksal hört, ihre Tränen kaum zurückhalten ( 1 1 3 7 2 - 1 1 5 7 5 ) , liebt ihn heimlich ( i i 4 i 8 f . ) , auch wenn sie anderes vortäuscht ( 1 1 5 2 4 - 1 1 5 3 0 ; 1 1 6 4 6 - 1 1 6 5 3 ; 1 2 0 2 4 - 1 2 0 3 9 ; 1 2 1 6 4 - 1 2 1 6 9 ) . S o löst die Trennung einen Erkenntnisprozeß aus. Partonopiers Vergehen wird v o n Meliur zuletzt als eine al^e kleine schulde ( 1 2 1 6 9 ) bezeichnet.
4M
Dynastische Allianz und minne
Damit sind die Regeln dynastischer Konvenienz ebenso wie der höfische Mechanismus ritterlicher Eroberung der Frau grundsätzlich in Frage gestellt." 4 Dennoch scheint es außerhalb der Denkmöglichkeit zu liegen, sie durch die wechselseitige Liebe der Partner zu ersetzen. Die politischen Interessen der Vasallen an einem starken Landesherrn, die des Hofes an einem vorbildlichen Ritter und die persönlichen Wünsche der Fürstin nach einem Mann, den sie lieben kann, werden in einem höfischen Turnier zur Deckung gebracht. Vorausgesetzt wird dabei erstens, daß die Qualifikation zum besten Landesherrn über die Qualifikation zum besten Ritter ermittelt werden kann. Diese Voraussetzung gilt weiterhin unbefragt. Im Verlauf des Turniers erweist sich außerdem, wie gewohnt, daß der beste Ritter mit dem erwünschten Liebhaber identisch ist. Liebhaber kann nämlich nur sein, wer den Ansprüchen und Regeln hervorragender Ritterschaft in außerordentlichem Maße genügt. Diese doppelte Verquickung stellt sicher, daß opportune Allianz und Liebesbegehren zusammenfallen. Konrads ,Partonopier' wandelt dieses Muster nur insofern ab, als die Qualifikation als bester Ritter nicht nachträglich in der Qualifikation als Liebhaber Anerkennung findet, sondern daß der inzwischen verstoßene Liebhaber sich nachträglich als bester Ritter erweisen muß. Durch diese Variante wird implizit die Hierarchie von Ritterschaft und minne umgekehrt. In diesem Tausch von Ursache und Folge liegt der Grund für die Komplizierung des Schemas. Es wird Partonopier schwer gemacht, am Turnier teilzunehmen; es werden Hindernisse eingebaut wie die Notwendigkeit einer vorausgehenden Ritterweihe; er wird entführt und muß incognito kämpfen, und so ist auch lange nicht klar, wer die Prämie erringt. Was Partonopier unverdient zugefallen war, muß in einem umwegigen Erzählprozeß nachgearbeitet werden'. Trotzdem ist die Rangfolge klar: In den Worten der Meliur werden die beiden Voraussetzungen, die ständische und die persönliche, zusammengeschlossen: er müe^e mich erstriten jrouwen und wibe. min her^e in mime libe muos^ iemer trüren unde klagen, sol iemen anders hie bejagen die mine werde minne. (15030-15035)
Der Sieger im Turnier ist durch die Person des Geliebten ersetzt."IS In der Verknüpfung von dynastischer Allianz und Liebe" 6 scheinen die anfanglichen Konstellationen - die Feenliebe, der Tabubruch und die Trennung - völlig 114
Dagegen gibt es keine Ehediskussion. Meliur hat nicht gegen eine ,,eheliche[] Treuerverpflichtung" (M. Schulz, 2005, S. 93) verstoßen. Meliurs Pflicht, eine dynastische Ehe einzugehen, wird vielleicht psychisch, nicht aber rechtlich durch ihr früheres Liebesverhältnis zu Partonopier behindert. " ' Vgl. 15624-15674.· ich han min her^e üf in gewent [...] mir ist nach dir töde we. " 6 Z u deren andersartiger Inszenierung im ,Partonopeu' Kasten (1995), S. 283f. 416
Gr entfalle vergessen zu sein. D i e Wiederherstellung dessen, was schon einmal war, hat einen komödienhaften Schluß zur Folge. Z w a r hatte Meliur zu erkennen gegeben, daß sie Partonopier und sonst keinen als E h e m a n n haben will; v o m Tabubruch ist nicht mehr die R e d e . " 7 Wenn alles schon klar zu sein scheint, affektiert Meliur plötzlich eine Vorliebe f ü r einen anderen, den Sultan, und beklagt sich, daß ihr eine echte Wahl durch die Entscheidung der Preisrichter für Partonopier unmöglich gemacht worden sei ( 1 6 3 4 0 - 1 6 3 4 5 ) . Sie tut nur noch so, als bestimme das Urteil der anderen darüber, wen sie zu lieben hat. Scheinbar widerwillig, in Wirklichkeit hochzufrieden, unterwirft sie sich dem, was alle über den künftigen Landesherrn entschieden haben. S o wird bis zuletzt die persönliche Wahl - und sei es zum Schein - der kollektiven Entscheidung untergeordnet. D i e minne, die Meliur anfangs zu einer geheimzuhaltenden Liaison veranlaßt hatte, f ü g t sich zuletzt jener ritterlichen Ordnung ein, die die Liaison als schände gebrandmarkt hatte. D a n k der windungsreichen Handlung hat das Allianzprinzip die heimliche Leidenschaft restlos absorbiert. Das Verhältnis v o n Vorgängigkeit und Nachträglichkeit aber hat sich umgekehrt.
11
E r s t wenn das Paar getraut ist und glücklich zusammenlebt, erinnert der Erzähler an Meliurs Z a u berkünste (die sie eingebüßt hat) und an das heimliche Liebesverhältnis ( 1 7 4 6 4 - 1 7 4 7 6 ) .
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APORIEN PASSIONIERTER LIEBE 1
Passion als magischer Zwang Minne ist, wie zu sehen war, in der höfischen Epik in komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden: politische (Herrschaft), dynastische (Allianz), ständische (Adel), agonale (Ritterehre), verhaltensteuernde (Hof), ethische (tugent), ästhetische (schoene). Diese werden untereinander gewichtet, wirken häufig zusammen und werden aufeinander abgestimmt. Zwar kommt es im Handlungsverlauf manchmal zum Konflikt zwischen verschiedenen Motivationen, doch erweist sich nachträglich dann doch, daß sie miteinander vereinbart werden können. Dies jedenfalls ist die höfische Variante, in der die politisch-sozialen Zwänge und Interessen, die die Ständegesellschaft steuernd, mit einer neuen Gefühlskultur versöhnt werden. Dabei beruht minne immer auf Werterkenntnis. Diese ,Perfektionsidee' wird als Stütze selbst noch der gesellschaftsfeindlichen Passion beansprucht. 2 Das unterscheidet etwa Gottfrieds ,Tristan' und den ,Prosa-Lancelot', die im übrigen doch gesellschaftliche Institutionen und Wertordnungen radikal herausfordern, von neuzeitlichen Darstellungen passionierter Liebe. Vorab muß feststehen, daß sich die Passion auf etwas Vollkommenes richtet, den ,besten Ritter der Welt', die .schönste und ranghöchste Frau', den ,vollkommensten Hofmann', den Ausbund aller weiblichen Vorzüge. Doch erzählt die höfische Epik auch von minne-Verhältnissen, die sich der sozialen Einbettung entziehen. Von ihnen soll unter dem Stichwort passionierte Liebe
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Der Terminus ist Luhmanns ,Liebe als Passion' (1982) entlehnt. Dem Mittelalter fehlt ein vergleichbarer Begriff, wenn auch die Kennzeichnung von Liebe als passio (vgl. Schnell, 1985) einige seiner wesentlichen Komponenten enthält. In ihr stehen freilich die pathologischen Züge im Vordergrund, und ihre Diskussion geht darum, wie sie ethisch und sozial integriert werden können. Dies geschieht z.B. in den ethischen und sozialen Modellen, die Minnesang oder höfischer Roman entwerfen; dabei bleibt allerdings ein nicht integrierbarer, eben pathologischer Rest. E r zeigt sich in den Minnesklaven und Minnenarren, aber auch in der problematischen Liebesleidenschaft eines Tristan, Lancelot oder einer Dido. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß in der höfischen Epik des 13. Jahrhunderts eine solche Leidenschaft immer nur als magisch oder dämonisch infiziert erzählt werden kann, während sie in Luhmanns Konzept und in der .romantischen' Liebe, das sie analysiert, zwar nicht vollständig, aber in der Tendenz positiviert wird .
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Zum Verhältnis von minne, Perfektionsidee und Passion Klinger (1999), S. i34f. Klinger schlägt vor, für ,Passion' den „ B e g r i f f , L i e b e ' " in Abgrenzung „zur höfischen minne" zu gebrauchen.
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Passion als magischer Zwang die Rede sein. D e r Versuch, Liebespassion mit Werterkenntnis zu versöhnen und unbedingte Liebe als Stimulus der Idealisierung darzustellen, stößt an Grenzen. E r mündet in Geschichten des Scheiterns.' In ihnen erscheint minne als passio im Wortsinn, 4 als Krankheit, die alle ethischen und gesellschaftlichen O r d n u n g e n gefährdet, unterminiert oder zerstört.' Sie fällt die Menschen v o n außen an, als etwas f r e m des', Z w a n g h a f t e s . Erzählt wird sie v o r allem v o n den männlichen Helden, doch gibt es Liebeskrankheit auch auf selten der Frau. 6 Sie kann lebensbedrohend sein, richtet sich rücksichtslos gegen kulturelle O r d n u n g e n , und ist v o n keinem Willen beherrschbar. Hier gibt es keine Versöhung mit der Institution, auch nicht nachträglich, und höfische Perfektion kann den destruktiven Charakter auf die D a u e r nicht aufheben. Damit entsteht eine P r o b l e m k o n f i g u r a t i o n , an der sich die höfische E p i k ebenso hartnäckig wie vergeblich abarbeitet, hartnäckig, weil sie sich mit einem rigoristisch geistlichen Verdikt nicht zufrieden gibt; vergeblich, weil ihr die Möglichkeit verbaut ist, dem individuellen Begehren die O r d n u n g des G a n z e n zu opfern. Mittel, den kontradiktorischen Ansprüchen G e n ü g e zu tun, ist die Ubersetzung v o n G e schichten passionierter L i e b e in Erzählungen, deren K e r n M a g i e ist.
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Dieser A s p e k t wird in J a e g e r s (1999) K o n z e p t der .ennobling love' unterschätzt. J a e g e r behandelt ihn S. 1 5 5 - 2 1 3 unter dem Titel „ U n s o l v a b l e problems - romantic solutions", hat also vornehmlich seine spriritualisierende Ü b e r h ö h u n g im Blick. Beispiele sind Abaelard, Christina v o n Markvate und höfische R o m a n e . Diese Beispiele sind sehr ungleichartig und der Terminus „ r o m a n t i c " irreführend. E i n e „incorporation o f the opus amoris into the idealism of l o v e " (S. i ; 8 ) gibt es allenfalls im E x tremfall der Briefe zwischen Abaelard und Heloise oder als Projektion radikaler F r ö m m i g k e i t . In der volkssprachigen E p i k aus dem U m k r e i s des Laienadels kann der Versuch nur als scheiternd durchgespielt werden, trotz gelegentlicher A n a l o g i e n etwa zu Abaelard und Heloise (S. 184; 1 9 1 - 1 9 7 ) ; vgl. auch K e c k (1998).
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Schnell (1985), passim; insbesondere auch S. 2 4 - 4 0 zu den „ D a r s t e l l u n g s t o p o i " der „ A m b i v a l e n z mittelalterlicher L i e b e s d i c h t u n g " ; S. 2Ö2f. zur . Z w a n g h a f t i g k e i t ' . Wenn Schnell (2004), S. 198f. betont, daß im mittelalterlichen D e n k e n und Sprechen über Liebe Verstand und Wollen dominieren, dann bestätigt dies ex negativo, daß die Passion etwas Irrationales und Zerstörerisches ist: sie paralysiert deren K r ä f t e .
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E s ist deshalb ein A n a c h r o n i s m u s , - wie S i m o n (1990a), S. 9 8 - 1 0 0 und (1990c), S. 557 anläßlich des .Tristan' - die Passion als .Naturrecht' zu rechtfertigen, das das positive Recht außer K r a f t setze. E i n e solche „ D i c h o t o m i e " ist dem mittelalterlichen A u t o r unvorstellbar. D a die sog. .romantische' Liebe implizit ein derartiges .Naturrecht' zur Voraussetzung hat, ist auch dieser Terminus der mittelalterlichen Literatur unangemessen (vgl. S. 144), wenn man darunter nicht nur umgangssprachlich eine Liebe versteht, die sich um soziale Grenzen nicht schert. Im Falle des .Tristan' ist die Rede davon d u r c h w e g v o n Wagner beeinflußt (vgl. Warning, 2003).
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S o begehrt M o r g a n e vergeblich Lancelots Liebe (II S. 267-270) und sucht ihn durch Z a u b e r an sich zu fesseln, und Lancelot schwankt lange, o b er ihrem Begehren e n t g e g e n k o m m e n soll, um sein eigenes Leben - und damit auch das G i n o v e r s - zu retten. Ahnlich der Minnewunsch einer anderen J u n g f r a u , dessen E r f ü l l u n g Lancelot in ein D i l e m m a stürzt: sie w ü r d e ihr L e b e n retten, wäre aber auch untrirn< gegen die K ö n i g i n (II S. 249-256). Die K ö n i g i n selbst befiehlt ihm den willen der J u n g f r a u zu tun, doch Lancelot weigert sich. Schließlich vereinbaren die beiden ein keusches Liebesverhältnis. E i n e andere J u n g f r a u stirbt an ihrer unerfüllten Liebe zu Lancelot (vgl. ihren A b schiedsbrief I I I S. 506,14-507,7).
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Aporien passionierter Liebe
Um sie nicht als bloße sündige Verfallenheit an die Sexualität erscheinen zu lassen, wird Passion durchweg als magischer Zwang erzählt. Wo im höfischen Roman von unentrinnbarer minne die Rede ist, ist Magie im Spiel, als Liebestrank, als Zauber, als Eingreifen übermenschlicher Mächte. Diese Magie sollte weder als bloße Metapher für grundsätzlich rein natürliche Vorgänge weginterpretiert werden, noch ist sie Zeugnis für den Aberglauben einer vormodernen Kultur. Sie ist im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit vielmehr ein Versuch, rational nicht Faßbares methodisch-konzeptionell zu bewältigen.7 Sie setzt damit an einem Punkt an, an dem die höfische Kultur einen blinden Fleck hat, an dem die ethischen und sozialen Ordnungen nicht mehr greifen. In ihnen kann die radikale Passion nicht positiv gedacht werden, doch verliert sie damit nicht ihren Anspruch auf Verwirklichung und kann nicht erfolgreich ausgegrenzt werden. Im magischen Zwang ist beides gesetzt: die Unversöhnbarkeit der Passion mit geltenden Normen und ihre Behauptung ihnen gegenüber. Der Zauber wird legitimer minne entgegengesetzt. Die negative Komponente der minne muß als %ouber exorziert werden. In ,Flore und Blanscheflur' kann leidenschaftliche Liebe von den Eltern nur als %ouberlist[] ( K F u B 1446) gedacht werden. Gawein wird in der ,Crone' durch einen Zaubertrank so seiner Bestimmung entfremdet. Der Zauber kann zugunsten rivalisierender Liebschaften eingesetzt werden und die Liebenden zeitweise auseinanderbringen. Partonopier soll mittels eines Zaubertranks von seiner Geliebten entfernt und seine minne auf eine standesgemäße Partnerin gelenkt werden. Lancelot wird durch einen Trank betäubt, so daß er eine andere Frau mit Ginover verwechselt und mit ihr einen Sohn zeugt.8 Liebeszauber bleibt grundsätzlich fragwürdig, und seine Wirkungen paralysieren in jedem Fall die Normen höfischer Ethik. Die negative Wertung überwiegt am deutlichsten im ,Partonopier'. Die Macht der leidenschaftlichen Bindung des Helden an Meliur ist nur durch eine ebenso leidenschaftliche Bindung zu brechen, und dafür braucht man wieder Zauber. So bauen die Intriganten, die wollen, daß Partonopier Meliur verläßt, nicht auf den
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Neuerdings hat Ernst (2006) die Wiederentdeckung der Magie im medizinischen Diskurs des 12. Jahrhunderts, ihren traditionsgeschichtlichen Zusammenhang und ihre Bedeutung für das höfische Erzählen am Beispiel der Blutstropfenszene des ,Parzival' herausgearbeitet. Die folgenden Überlegungen gehen in eine etwas andere Richtung, werden aber von Emsts Ergebnissen voll bestätigt. Die Magie und der von ihr verursachte amor bereos stellen begriffliche Instrumente bereit, ein diskursiv nicht zu bewältigendes (geschweige zu rechtfertigendes) Phänomen wie die passionierte Liebe mit im Sinne der Zeit — wissenschaftlichen Argumenten einzukreisen und seine latent zerstörerische gesellschaftliche Potenz damit zu neutralisieren. Dies geschieht keineswegs erst in der manifesten Magie der späten Minneromane (vgl. Ridder, 1996b, S. 1 7 ; ) , sondern seit den Anfängen des höfischen Romans. Selbst bei Gottfried kann man deshalb m. E. nicht von „Entmagisierung, Ethisierung und Verbegrifflichung" der Liebe sprechen (Keck, 1998, S. 38 mit Schindele; vgl. S. 40).
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Der Trank wirkt als sexuelles Aufputschmittel: Er dranck yn auch gar uß. Da was er baß bereit und mutwilliger dann vor. [...] Sit sah an im das er entferbet und hiesig was (II S. 295,12—14). 420
Passion als magischer Zwang strahlenden Anblick des Mädchens, mit dem sie ihn verheiraten wollen. D e r bietet Partonopier zwar, w o r a u f er bei Meliur verzichten muß, da er sie nicht ansehen darf: diu schein so luter, da^ ir leben/durliuhtic als ein engel was ( 6 9 3 2 ^ vgl. 6 9 3 4 - 6 9 5 1 ) , aber Meliurs erotische Faszination ist trotzdem stärker. Daher greifen seine Mutter und der K ö n i g zum Zaubertrank (ouch was dar under tougen/ der becher und der win bereit, 695 2f.), der Partonopiers Begehren auf die vorgesehene Braut umlenken soll: si trunken in in kurzer
stunt./ des wart ir zweier muot er^unt/von der minne viure
(6977-6979). D e r Trank verstärkt die W i r k u n g des Anblicks: man seit, da\ sin gesihte [!] flüge/dick
üf die keiserliche fruht
{ηοοιί.).
Partonopier verliert durch der wilden
minne tobesuht (6988) die Besinnung (wit^e, 6993) und E r i n n e r u n g {da% er
derfrouwen
sin vergaß, 7023) und will keine andere Frau mehr. Trotz Liebeszauber und Tabu geht es hier im K e r n um die K o n k u r r e n z zweier erotischer Verhältnisse, die die Mutter in ihrem Sinne zu entscheiden sucht. D a s scheint zunächst zu glücken. D a s Mädchen wehrt zwar Partonopiers ungestümes Liebesbegehren ab, stimmt aber einer ehelichen Verbindung zu: geruochte er si da nemen
si täte swes er gerte (7oo8f.). D e r Ehevertrag ist schon durch Handschlag
geschlossen (vertriuwet mit den henden gar, 7053), als die Braut ausplaudert, wie alles eingefädelt wurde. S o f o r t verliert der Trank seine Wirkung: Z a u b e r ist hier schon Metapher f ü r eine sprachlich nicht artikulierbare psychische Manipulation, die die opportune Allianz stützen soll; k o m m t er ans Licht, ist es um seine W i r k u n g geschehen: daΐζ tranc enmohte do niht me/gehüeten sines libes ( 7 0 9 2 ^ . D i e E r i n n e r u n g k o m m t wieder, und Partonopier kehrt zu Meliur zurück. D i e Liebe zu ihr bedarf zu ihrer Wiederherstellung keiner magischen Mittel. E b e n s o negativ gewertet ist der Liebeszauber, der B o h o r t an eine D a m e binden soll, die er durch einen Turniersieg errungen hat. E r wehrt sich vergeblich, weil er seine A u f g a b e als Gralsritter nicht gefährden will: ich enmag kein wijp genemen umb kein sach, darumb ich usß bingefarn, %u ende erst bracht habe ( P r L II 74,1 if.). M a g i e stört hier Bohorts Entschluß zu geistlicher Askese. E i n Z a u b e r r i n g verhext B o h o r t , das er alle sin sjnne davon verlorn hett (II 7 9 , 1 7 ^ . So erreicht das Mädchen sein Ziel. D a B o h o r t seine Unschuld verliert, bedeutet der Z a u b e r Verführung und Sündenfall. D i e radikale minne legt, auch w o sie positiv konnotiert ist, ihren ordnungsstörenden Charakter nie ganz ab. N u r gelegentlich wird sie mit weniger fragwürdigen überpersönlichen K r ä f t e n begründet, denen der Mensch willenlos ausgeliefert ist. S o entspringt im ,Wilhelm v o n Osterreich' die L i e b e zwischen Wildhelm (Ryal) und A g l y e einer kosmologischen Konstellation, in der sie gleichzeitig gezeugt werden. Wildhelm wird sich ihrer bewußt in einem Traum, in dem Venus ihm Aglyen
bilde
(WvO 677) v o r A u g e n stellt, während zur gleichen Zeit auch sie ihn im Traum erblickt. D a s bilde, das der Traum zeigt und das keine K u n s t eines Malers erreichen kann (734-746), veranlaßt Wildhelm, seine Heimat zu verlassen und die im Traum erblickte Frau zu suchen. D e r anplik (1380) bestätigt nur, was er für das Traumbild empfand. Indem minne als eine über das bilde vermittelte seelische Beziehung er421
Aporien passionierter Liebe scheint, wird sie, mindestens auf der Textoberfläche, von den fragwürdigen Folgen magischer Anziehung freigehalten. 9 Wildhelm kann schließlich Aglye in einer langen Anstrengung auf ritterliche Weise .verdienen'. Doch bleibt seine solche minne latent destruktiv. Ein Rest von Gesellschaftsfeindlichkeit könnte durch den Umstand angezeigt sein, daß Wildhelm verdeckt gegen seinen Rivalen Wildomer antritt 10 und mit einem Speer auf Leben und Tod kämpft, von dem es heißt, er sei geluppet (WvO 10218—10223; 10254—10263)," schließlich auch, daß er nach einer kurzen Phase des Glücks selbst hinterhältig mit einem gelupten sper (19021) ermordet (19009; 19020) wird und die trauernde Frau ihm den Liebestod nachstirbt (i9i66f.; 19191-19209): so als dürfe es das glückliche Ende eigentlich gar nicht geben und als müsse es, einmal erreicht, rasch widerrufen werden. 12 Dabei schließt die Unversöhnbarkeit mit sozialer Ordnung nicht aus, daß die Passion als Wert oder als Glück imaginiert wird. Allerdings geschieht das nie auf Dauer. Nie wird auch völlig die Zensur einer christlichen Sexualethik ausgeblendet, wenn sie auch meistens, anders als in der geistlichen Didaxe des 12. Jahrhunderts, höfisch abgemildert wird. Zwar tritt der religiöse Heilsaspekt in den Hintergrund, doch verschwindet er nie völlig, ob nun die Passion in physischer als Vorzeichen seelischer Vernichtung mündet (Dido), ob in der Metaphorik der Passion die Schilderung des Höllenfeuers fortwirkt (Trojanerkrieg), ob der leidenschaftlich und ohne gesellschaftliche Rücksichten Liebende vom Heil des Grals ausgeschlossen bleibt (Lancelot) oder ob die Liebe zu einer Frau mit der waren minne zu Gott konfrontiert wird (Tristan-Fortsetzungen). So sind auch in den Erzählungen von der Passion die Institutionen gegenwärtig, die minne steuern und begrenzen, sie sind nur anders konfiguriert.
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Daß auch dies magisch konnotiert sein kann, zeigen die Geschichten von Statuenliebe; ein junger Mann verliebt sich in ein bilde, dessen sinnliche Attraktion vom Teufel benutzt wird (etwa Astrolabius in der ,Kaiserchronik'). E r scheint am Turnier nicht teilzunehmen, hat sich in ein Gesträuch verstoln (io2i2f.) und kommt uζ dem hage so hainlich:/ hat ieman werdekeit benomen/im, da% will er anden (10243-1024;). Melchinor wirft ihm mort an seinem gesellen vor (10318; 10335). Dagegen verteidigt sich Wildhelm (10372; 10377): E r habe seiner Geliebten hainlich (10379) dienen müssen und daher hainlich (10383) die Tjost begonnen, noch jetzt bereit, den Tod für sie zu leiden: Zeichen für das Exzeptionelle, doch auch Normwidrige. Ridder (1996), S. 180; (1998), S. i n ; Schneider (2004), S. 1 5 3 - 1 7 1 ; 1 7 9 - 1 8 1 ; 190. Von einem vergifteten Speer erzählen die meisten Handschriften. Doch bleibt das Motiv erratisch, denn beim Tod des Gegners so wenig wie in den Kommentaren über diesen Tod ist von solch einem hinterhältigen Mittel die Rede. Sollte es sich um einen Überlieferungsfehler handeln? Das G i f t würde jedenfalls zu der Radikalität von minne passen, die diesen Roman mit den Tristan- und Lancelot-Romanen verbindet. Schneider (2004), S. 186-192 hat die vierfache Uberdetermination dieses Todes und die intertextuellen Verweise der Schlußepisode herausgearbeitet. 422
minne als Infektion: ,Eneit' minne als I n f e k t i o n : " ,Eneit' In Veldekes Eneit wird in der Geschichte von D i d o und Eneas eine ungewöhnliche Weise der Entstehung v o n Liebe erzählt.' 4 Schon bei der A n k u n f t der Trojaner in K a r t h a g o ist von engen Beziehungen die Rede, die D i d o Eneas vorschlägt, die aber zu unrecht als Vorbereitung zur späteren Passion gewertet werden: ich wil im bieten äne not/da% ich nie manne erbot/in der werlde noch nie ( H v V 5 39-541). Sie will mit Eneas lüte unde lant teilen (546), die Trojaner reich beschenken (562-565), Eneas in ihre persönliche U m g e b u n g holen (ich wil in wol behalden/in miner kemenäten, 566f.) und will ihn ausstatten, wie sie sich selbst ausstatten würde (ich wil in wol beraten/gelich min selber libe, 5 6 8f.), so daß sie sagen kann: nien wart von einem wibe/ba£ enphangen ein man
(57of.).,s
A b e r was bedeutet das? A u c h bei seinem Eintreffen in Italien erhält Eneas vom K ö n i g Latinus großzügige Angebote - darunter die Hand seiner Tochter
die
dem Geschehensverlauf weit vorauseilen und die späteren gewaltsamen Auseinandersetzungen überflüssig machen könnten. Solche Angebote geben nur begrenzt A u s k u n f t über die emotionalen Einstellungen der Akteure. Psychologische Uberlegungen, was D i d o oder Latinus zu ihrem Entgegenkommen wohl veranlaßt habe, sind untereinander unstimmig und haben meist keine Grundlage im Text.' 6 Beiden geht es um einen exzessiven Beweis von milte und Bündnisbereitschaft, der die Wertschätzung des vornehmen Ankömmlings durch ein Ubermaß an Gastfreundschaft ausdrückt und deutlich macht, daß die Protagonisten einander angemessen sind. Eine Heiratsallianz scheint möglich, lange bevor die Passion ihre unselige Macht entfaltet hat und lange bevor Eneas Lavinia erstreitet. Didos Ankündigung, Eneas in ihrer Kemenate zu beherbergen, zeigt metaphorisch das A n g e b o t persönlicher Nähe in einem politischen Sinne a n . " Genau so verstehen Eneas' Boten
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Die F o r m u l i e r u n g schon bei Hans F r o m m : D i e mittelalterlichen E n e a s r o m a n e und die Poetik des
ordo tiarrandi, in: Erzählungen in Erzählungen (1996), S. 31. '"' Z u s a m m e n f a s s e n d Schnell (1985), S. 2 1 2 - 2 1 8 . Schnell betont die .natürlichen' Ursachen für Liebe im G e g e n s a t z zur magischen ,Venusminne' und verweist auf Veldekes vorausdeutende M o t i v i e r u n g schon bei der A n k u n f t des Eneas in K a r t h a g o (vgl. auch Syndikus, 1992, S. 7 1 ) . U m s o erklärungsbedürftiger ist dann, w a r u m Veldeke diese minne zusätzlich als eine A r t ansteckende K r a n k h e i t erzählt. "
A u c h im , R o m a n d ' E n e a s ' begrüßt D i d o Eneas überschwenglich, wenn auch mit weniger konkreten A n g e b o t e n . D o c h betrachtet sie ihn als denjenigen, der ihr den verstorbenen G e m a h l ersetzen könnte ( R d E 6 ; ; f . ) und repräsentiert insofern den T y p u s der .schwachen Fürstin', die auf männliche Hilfe angewiesen ist; dieser A s p e k t fehlt bei Veldeke (vgl. Syndikus, 1992, S. 72f.).
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Schausten (1999), S. 148 hat demgegenüber auf die zentrale Herrschaftsthematik der E p i s o d e verwiesen. In ihrem K o n t e x t erscheint D i d o s E i n l a d u n g als A n g e b o t einer Allianz. Z u r B e d e u t u n g v o n kemenate vgl. Strohschneider (2000b), S. 3 0 - 3 2 ; der semantische K e r n scheint mit .herrschaftlicher Wohnraum, abgegrenzt v o n den A u ß e n r ä u m e n höfischer Repräsentation' umschrieben. D i d o bietet Eneas damit . N ä h e ' und .Vertrautheit' an, die über die gewöhnliche G a s t f r e u n d schaft und die üblichen öffentlichen Beziehungen zu einem fremden K ö n i g hinausgehen; das hat
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Aporien passionierter
Liebe
Didos Worte: als freundlichen Empfang (mit minnen, 621), als Angebot friedlicher Nähe (da% si üch vil gerne siht, 627), materieller Unterstützung ohne Gegenleistung (631-635 - äne koujX) und freundschaftlichen Umgangs (si wil üch wol bebalden/in ir selber palas, 638f.). Nur vom Ergebnis her deutet solche Zuwendung auf die künftige Liebesbeziehung voraus, denn in allen ihren Voraussetzungen ist sie von ihr unterschieden. Eben dies demonstriert der Aufwand, den Veldeke - hierin über den ,Roman d'Eneas' hinausgehend - betreibt, um aus dem großzügigen Angebot an den fremden Fürsten eine ebenso leidenschaftliche wie problematische Liebesbeziehung werden zu lassen. Die mythologische Begründung Vergils - Venus will ihrem Schützling die Gunst der Königin sichern und sorgt, indem sie Ascanius küßt, dafür, daß beide in Liebe entflammen - greift in den mittelalterlichen Versionen nicht.18 Hier ist Eneas schon vor dem Eingreifen der Göttin allen willkommen, durch seinen valor, seine Schönheit (695), seine minnechliche und herliche Erscheinung (697; 700), die ihn sogleich als Herrn erkennen lassen (725). Aber die Faszination dieser Vorzüge strahlt auf alle aus. Damit daraus eine blinde Passion wird, muß noch etwas hinzukommen: eben der Kuß des Ascanius.' 9 Wenn Veldeke schon beim zeremoniellen Begrüßungskuß Didos bemerkt, daß Venus und Cupido dafür sorgten, da^ in diu froum Diddjstarke minnen began,/ da% nie wib einen man/harder mohte geminnen (744-747), dann ist das vorerst nicht mehr als eine Vorausdeutung auf das, was noch kommen soll. Dabei ist dann Magie im Spiel.20 Der Auslöser der Passion ist - zwar in Ubereinstimmung mit Vergil, 21 doch abweichend von sonstigen Motivationen für minne nicht Eneas selbst, sondern sein Sohn Ascanius. Während Eneas Dido nämlich
noch nichts mit einem erotischen Angebot zu tun. Wie sehr eine derartige Gestik der Nähe in Spannung zur Handlungslogik treten kann, zeigt Eilharts ,Tristrant', in dem Marke, nachdem ein Zerwürfnis mit Tristrant beigelegt und Tristrant nicht mehr aus der Nähe des Königs verbannt ist, sein Bett ins königliche Schlafzimmer stellen läßt - schwerlich um ihn zum Ehebruch aufzufordern (ETr 5765-3767). '* Schnell (1985), S. 213 zum ,Roman d'Eneas'; ein Vergleich der Szenen auch bei Kellner (2004), S. 199—203. '' Insofern scheint mir keineswegs - im deutschen so wenig wie im französischen Eneas-Roman - den „mythologischen Handlungsteilen" „ihre Funktion genommen und eine lediglich rhetorisch-bildhafte Aufgabe übertragen" zu sein (Schnell, 1985, S. 213). Schnell (1985), S. 214 spielt die Magie des Vorgangs zugunsten gewöhnlicher psychologischer Erwägungen herunter, faßt sie als .bloße Metapher' auf. Der Verweis auf die spätere Episode, die Entstehung der Liebe zu Lavinia (S. 215-218), wo die ,Metapher' fehlt, stützt das aber nicht. Der Unterschied liegt woanders: Die Liebe zwischen Eneas und Lavinia ist von Anfang an dynastisch eingefädelt, und es ist eine Liebe auf Distanz, ohne körperliche Berührung. Bei Vergil ist es Cupido in der Gestalt des Ascanius; die Mitwirkung des Gottes ,erklärt' den Vorgang. Wenn dies für das Mittelalter undenkbar ist, so verliert der Vorgang durch die Verschiebung auf Ascanius selbst doch nichts von seiner Außergewöhnlichkeit. Veldeke wertet den magischen Vorgang nicht so wie der ,Roman d'Eneas' ab und beschuldigt Dido auch nicht, sondern spielt den Vorgang ins Politische (vgl. Syndikus, 1992, S. j6f., 80). 424
minne als Injektion: ,Eneit' noch Geschenke überreicht, die sie mit noch kostbareren beantwortet, wird Ascanius herbeigeholt: do rärditi jrouwe Venus" mit ir füre an sinen munt sä ?ζΰ der selber stunt e her hove rite unde gab im da mite solhe kraft von minnen da, sii'er so in kuste dar nä %ft dem ersten male, daζ der von minnen quäle verholne und offenbäre dä intjenget wäre mit der minnen füre. (808-819) Im ,Roman d'Eneas' küssen beide, D i d o und Eneas, immer wieder das Kind ( R d E 804-816); de l'un en l'altre bat l'amor (817), je öfter jeder das K i n d küsst, d.h. das K i n d ist Medium der aufkeimenden Liebe beider. S o werden beide durch den K u ß infiziert und sind schon in den Liebkosungen des Kindes vereint. Bei Veldeke ist es nur Dido, die küßt. Dadurch wird noch klarer, daß die Leidenschaft nicht wechselseitig ist und daß sie wie eine ansteckende Krankheit auf D i d o übertragen wird. 2 1 Die Übertragung erscheint als ein unpersönlicher Vorgang. 2 4 Der Zauber wirkt nämlich nicht zugunsten des jungelink, den Dido küßt und der lussam genannt wird (826), sondern zugunsten des Eneas, auf den als ersten ihr Blick fällt, nachdem sie Ascanius geküßt hat: her was ein vil schöne man unde minnechliche getan. done mohte si des niht engän, si enmüste in starke minnen. (842-845) Die Schönheit des Eneas hat jetzt für D i d o eine ganz neue Bedeutung, zeichnet nicht mehr den Herrn vor dem G e f o l g e aus, sondern den Mann, den sie sieht. Sein Anblick erklärt, warum sie zu brinnen beginnt (841). Natürlich sind Venus und Cupido für Veldeke keine ,Götter', doch handelnde Personen, und ihr Eingreifen (86of.; 864-866) sprengt die gewöhnliche Ordnung, ändert auf einen Schlag die
" Im ,Roman d'Eneas' furchtet Venus Feindschaft gegen ihren Sohn (767). '' Lechtermann (2005), S. 156f. stellt eine Verbindung zum „Berührungshandeln" im Heiligenkult her und spricht von einer „unheilbaren Minneinfektion", „denn sie küsst das minnen füre, das Frau Venus Eneas' Sohn auf die Lippen gezaubert hat, von seinem Mund ab und steckt sich, nicht nur im übertragenen Sinne, damit an". Henning Wuth (was, sträle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke, in: Gespräche, 1997, S. 72f.) spricht von einer „alchimistisch anmutenden Szene, die einer technisch herbeigeführten Vergiftung ähnelt". Eneas erscheine „eher als das zufällige Opfer ihrer [Didos] Minne". Dido erliegt „einer nahezu mechanisch herbeigeführten Minneverwundung".
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Aporien passionierter Liebe
Bedeutung des freundschaftlichen Empfangs und ambiguisiert die zeremoniellen Gesten; die minne wird mythisiert oder - im Sinne des Mittelalters - dämonisiert. 2 ' Warum dieser Umweg? Bei Vergil wie im ,Roman d'Eneas ist das Geschehen wohlbegründet: Das eine Mal küßt Cupido in der Gestalt des Ascanius Dido, um sie für Aeneas zu entzünden und so Gefahr durch ihr wildes Volk von ihm und seinen Trojanern abzuwenden (Aeneis I, 657-662). Auch das andere Mal ist es Venus' Furcht vor der salvage gent in Karthago, die den Zauber begründet, und die Anziehung ist wechselseitig, wenn auch bei Dido stärker ( R d E 766-768; 818-821). Veldeke schiebt diese Begründung beiseite und gibt stattdessen eine ,unwahrscheinliche' andere Begründung. Die Passion ist also weder aus einem dynastischen Allianzdispositiv (die Landesherrin braucht einen Landesherrn) 26 ableitbar - das immerhin im ,Roman d'Eneas' beim Erscheinen der Trojaner in Karthago angespielt wird 27 - noch aus der Faszination der schönsten durch den stärksten. Erst nachträglich, wenn also über die Passion längst entschieden ist, bringt Didos Schwester die üblichen Qualifikationen des Helden ins Spiel: Herkunft, rechtes Tun in Worten und Werken, Schönheit, angenehmen Umgang u.ä. (1540-15 5 2). Dido verweist ihr das: je mehr sie Eneas loben höre, umso mehr tobe[] ihr her^e nach ihm und smil^et enbinnen/nach den sinen minnen (1558-1562). Das kehrt die üblichen Begründungsverhältnisse um. Eneas Vorzüge entfachen nicht, sondern verstärken nur eine rasende minne. Doch wird diese minne auch nicht, wie man in einem neueren Roman erwarten würde, mit der Überwältigung durch die Person des anderen erklärt, sondern durch die Berührung eines Dritten. Sie erscheint als Folge einer magischen Handlung, die den Mann zum wehrlosen bloßen Objekt macht. Und Didos Leidenschaft erweist sich wie diejenige Tristans, Lancelots oder Paris' als desaströs. 28 Dies verbindet die Szene mit den Liebestränken, die gleichfalls passionierte Liebe zu motivieren haben. Genau dieses magische Element fehlt in Eneas' Liebe zu Lavinia, obwohl diese doch gleichfalls als unwiderstehliche Leidenschaft erzählt
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A u c h in der Szene, die dem L i e b e s v o l l z u g vorausgeht, erscheinen D i d o und E n e a s ,vergöttlicht' (oder dämonisiert), als Diana und Phebus ( 1 7 9 1 - 1 8 0 1 ) .
26
D i e s e Variante ist nicht nur durch D i d o s Stilisierung zur selbständig erfolgreichen Landesherrin ausgeschlossen (Syndikus, 1992), sondern - bei Veldeke in den Hintergrund gedrängt, doch nicht ganz a u f g e g e b e n - durch das Versprechen an ihren verstorbenen M a n n , sich nicht mehr zu verheiraten. D i e Wahl des Fremden ist schände, die D i d o daher durch öffentliche B e k a n n t g a b e zu beschottert versucht ( 1 9 1 1 3 - 1 9 1 4 ) . D i e Fürsten werfen ihr trotzdem E h r l o s i g k e i t und Verletzung ihrer Pflicht als Landesherrin v o r ( 1 9 1 9 - 1 9 4 7 ) . D u r c h E n e a s ' Flucht ist ihre Herrschaft bedroht ( 2 1 8 2 - 2 1 9 5 ) .
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D i e N o t w e n d i g k e i t für die Fürstin, einen Landesherrn zu wählen, scheint im , R o m a n d ' E n e a s ' der Hintergrund, w e n n D i d o den B o t e n der Trojaner ihre Hilfsbereitschaft signalisiert; sie lädt sie zum Bleiben ein, bietet ihnen L a n d und stellt, so E n e a s will, sogar eine Heirat in Aussicht: sie wolle dann den Tirieti, d.h. ihren verstorbenen M a n n , nicht mehr lieben (chier, 6 3 ; ) , denn sie habe dann ja den Trojaner. In einem solchen Vorschlag, der nur die ethnische H e r k u n f t des Landesherren austauscht und nicht einmal N a m e n nennt, kann ich kein erotisches A n g e b o t sehen; es handelt sich u m eine Paraphrase des Allianzdispositivs. Sie ist
unsin[], unrehtiu minne
(2429^; 2472); vgl. Stevens (1990), S. 78f.
426
Dämonische Faszination und Psychologie
wird. So wenig sich Eneas und Lavinia auch gegen die Macht der minne wehren können, diese minne entsteht nicht durch Berührung, sondern über den Blick und das (geschriebene) Wort/ 9 Geradezu überdeutlich ist hier Distanz Voraussetzung des minne-Leidens. Das Begehren richtet sich auf die Uberwindung dieser Distanz; es gründet sich auch auf die wechselseitige Erkenntnis der Vollkommenheit des (der) anderen; die Uberwindung der Distanz gelingt in der dynastischen Heirat. Die Passion kann nur auf den gewöhnlichen Wegen der Legalisierung von minne dynastische Allianz, ritterlicher Kampf - zum Ziel kommen; damit haftet ihr nichts Fragwürdiges mehr an.
Dämonische Faszination und Psychologie Das zweite Modell der Auseinandersetzung mit der Passion ist das Phantasma der sog. Mahrtenehe.' 0 Die Verbindung mit einer Fee (selten mit einem Mann aus der Geisterwelt) kann ebenfalls die Liebespassion von Schuld entlasten, ohne daß ihr ordnungsstörender Charakter in Frage gestellt würde.' 1 Von Interesse sind aber weniger Geschichten, die vor dämonischer Verführung warnen und von der Vertreibung des Dämons erzählen, als solche, die leidenschaftliche Liebe als Folge der Faszination durch ein übermenschliches Wesen erklären, in denen also die Verzauberung Chiffre eines psychischen Prozesses ist, der als Überwältigung durch eine übermenschliche Macht dargestellt wird.' 2 Die Passion erklärt sich aus dem Reiz des Liebesobjekts, das schrankenloses Glück verspricht. Insofern übt die Attraktion der Fee denselben Zwang aus wie die Liebestränke und Liebeszauber in Tri-
29
Vor allem steht sie natürlich nicht in Widerspruch zur ere, sondern hat dasselbe Ziel. D a g e g e n betrachtet Eneas seinen Aufenthalt in K a r t h a g o v o n A n f a n g an, noch bevor er D i d o s Geliebter wird, unter dem Vorbehalt der ere ( 1 5 2 2 - 1 5 2 7 ) .
30
Vgl. A . Schulz (2004). Die Mahrtenehe ist gegen die „Heiratszwänge der Feudalgesellschaft" gerichtet (S. 234). D i e Mahrtenehe scheint die mythische B e d i n g u n g , unter der passionierte Liebe in der höfischen K u l t u r des Mittelalters überhaupt erscheinen kann. D i e „ R e - m v t h i s i e r u n g " , die Schulz als .Rückseite' manifester „ E n t m y t h i s i e r u n g " beobachtet, gilt letztlich der Liebespassion, und zwar weniger als „ L e g i m a t i o n s i n s t a n z " (S. 2 5 1 ) denn als E r f a h r u n g s m u s t e r .
''
Z u m T y p u s Panzer (1902). D i e Artuswelt ist immer wieder von dämonischer G e w a l t bedroht. D a s zeigt sich gerade auch an nicht-realisierten Alternativen des Erzählens. In der ,Cröne' z . B . macht ein Rivale des A r t u s um die L i e b e der K ö n i g i n sein Recht auf G i n o v e r damit geltend, daß sie ihm seit ihrer G e b u r t von den nahtmeiden bestimmt war ( H C r 4840), hinter denen C u p i d o steht (484;). Mit den nahtaeiden sind wohl Feen gemeint. Gasozeins A n s p r u c h w ü r d e also dämonisch legitimiert. Wolfzettel (2002) hat zwei T y p e n herausgearbeitet, den ,gesellschaftsgefährdenden', „ausschließlich erotischen" und den „zugleich erotische[n] und mütterlich fruchtbare[n] K ö r p e r " (S. 5 54f.). Letzterer war G e g e n s t a n d der sozialgeschichtlichen A n a l y s e der Melusinen-Sage durch L e G o f f ( 1 9 7 1 / 1 9 8 4 ) , und ihr gilt auch primär Wolfzettels Interesse. Hier dagegen interessiert v o r allem der erste T v p u s , insbesondere in seinen K o m p r o m i s s e n mit der gegebenen gesellschaftlichen O r d n u n g ; zu der für mittelalterliche Literatur typischen .Spaltung' in positive und negative K o m p o n e n t e n A . Schulz (2004), passim.
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Aporien passionierter
Liebe
stan- und Artusromanen: M a n kann sich ihnen nicht entziehen und ist für ihre W i r k u n g nicht verantwortlich. Doch steht die Verbindung eines Menschen mit einem nicht-menschlichen Wesen mehr noch als Liebestrank und Liebeszauber unter dem Verdacht teuflischer Machination. Die wunderbare Schönheit der Fee ist Blendwerk und kann sich, in die Nähe heiliger Gegenstände gebracht, in scheußliche Häßlichkeit oder einen monströsen Körper wie den samstäglichen Schlangenleib Melusines verkehren. Deshalb enden viele Geschichten mit einem Exorzismus. Mit Hilfe des Altarssakraments oder anderer heiliger Handlungen eines Priesters gelingt es, die Verführerin als Dämon zu entlarven und zu vertreiben. In geistlicher Perspektive ist die Mahrte ein Werkzeug des Satans; der Mann, der sie liebt, begeht eine Todsünde. Andererseits ist die Feenliebe ein Alibi, Liebespassion unbekümmert u m soziale Ordnungen und moralische Normen auszuphantasieren, wenn sie auch jene Ordnungen und Normen bedroht." A n den wirklichen oder vermeintlichen Mahrtenehen ist eine andere Spielart höfischer Kompromißbildung zu beobachten. Beim Melusinen-Typus, der die erotische Faszination mit der Rolle der Landesmutter versöhnt, bleibt die Faszination durch die außergewöhnliche Frau, doch wird der verderbenbringende Charakter der Passion zurückgedrängt. In den (allerdings spätmittelalterlichen) Adaptationen der Melusinensage wird zwar der mythische Charakter gewahrt: der Fee selbst, ihrer Söhne, des Feenglücks, doch in diesem Rahmen von einer Liebespassion erzählt, die ihn letztlich aufhebt. Melusines magische Kräfte zeigen sich zunächst in R a y m u n d s Erfolg als Herrscher. Sie scheint weniger eine verführerische Fee als eine im Sinne des Allianzprinzips gute Partie. Doch wenn es darum geht, ihre ,unheimliche', durch ein Tabu geschützte Seite aufzuklären, kommt der unterschwellige Zusammenhang von dämonischer Infizierung und sexueller Passion ans Licht. Es gehört zum Erzählschema, daß der Held von einem wohlmeinenden Verwandten vor seiner gefährlichen Verstrickung gewarnt und zum Verstoß gegen das Tabu überredet wird. Der Verdacht, den R a y m u n d s Bruder äußert und dem Raymund nachgehen muß, verbindet wieder die eng zusammengehörenden Motive Zauberei und sexuelle Ausschweifung. Wenn R a y m u n d darauf gegen Melusines Verbot verstößt und das Tabu bricht, sieht er zwar den Verdacht auf Ehebruch nicht bestätigt, doch entdeckt er Melusines Mischgestalt. Ihr halb dämonisches Wesen erklärt nicht nur das Feenglück, sondern ist Chiffre erotischer Attraktivität. Und auf diese verschiebt sich die Handlung von da an. Der Tabubruch zieht nämlich überraschenderweise weder automatisch die Trennung von der Fee nach sich, noch beeinträchtigt er R a y m u n d s Liebe zu Melusine.
"
In der mhd. Literatur fehlt der ,Lanval'-Typus, der in einer ,,traumhafte[n] Feenwelt" die Defizite der wirklichen Welt erfüllt (Wolfzettel, 2002, S. 356; vgl. Ulrich Wyss: Was bedeuten Körperzeichen? Über Melusines Kinder, in: Körperdiskurse, 2002, S. 394). 428
Dämonische
Faszination
und
Psychologie
Raymund verfällt in tiefe Verzweiflung über den drohenden Verlust Melusines. Er verkriecht sich klagend ins Bett, wo Melusine ihn antrifft und zärtlich tröstet. Da Melusine so tut, als habe sie nichts bemerkt, kann die erotische Intimität noch einmal hergestellt werden.' 4 Raymund weiß jetzt über Melusine Bescheid, aber solange niemand anderer weiß, was er gesehen hat, ist seine leidenschaftliche Liebe ungefährdet. Es ist eine Liebe außerhalb der Gesellschaft, die nach deren Normen zu sofortiger Trennung führen müßte. Diese ist später, wenn R a y m u n d Melusine im äußersten Zorn vor dem Hof ihre Schlangengestalt vorwirft, unvermeidlich. Doch statt in Haß und Abscheu trennen sich Raymund und Melusine in langen Klagetiraden, die noch einmal die vergangene Liebesleidenschaft beschwören. Wenn Melusine sich dann schließlich doch entfernen muß, kann Raymund sich nie mehr von der Trennung erholen. Er stirbt, nachdem er Buße getan hat. So zeichnet sich hinter der Geschichte vom ebenso unheimlichen wie begehrenswerten Feenglück die Geschichte einer ebenso intensiven wie zuletzt unglücklichen Liebesbeziehung ab. Diese Verknüpfung ist für den genealogischen Roman dvsfunktional, weist aber auf die andere Seite der Faszination durch die Fee, diejenige, die nicht in der Mythisierung feudaler Ursprünge und feudalen Glücks aufgeht.' 1 Das ist eine spätmittelalterliche Variante, doch ist eine ähnliche Tendenz zur Psychologisierung und Entdämonisierung schon in höfischen Adaptationen des Mahrtenschemas zu beobachten. Der Feencharakter der Geliebten wird zweifelhaft, in Konrads ,Partonopier' bis zum manifesten Widerspruch: Meliur hat vom Vater zaubern gelernt, verliert aber nach dem Tabubruch ihre Fähigkeit.' 6 Das Mahrtenehenschema ist nur noch eine Wahnkonstruktion der Feinde des Helden. Tatsächlich entlarvt der Tabubruch kein teuflisches Blendwerk und keine Mahrte, sondern zerstört den gesellschaftsfernen Schutzraum einer leidenschaftlichen Liebe. Die Mahrtenehen ohne Mährten verbinden das Interesse an der Ausnahmepassion mit dem an akzeptablen minne-Beziehungen. Der Zauber, der weiter im Spiel bleibt, kontaminiert nicht mehr das Objekt der minne, sondern motiviert nur noch deren unerklärliche Intensität. Im ,Friedrich von Schwaben' ist die Geliebte nicht einmal Verführerin, sondern unschuldiges Opfer. Die Liebespassion mündet zuletzt in der Ehe, wird also ebenfalls mit den religiösen und gesellschaftlichen Instanzen versöhnt.' 7 Die Feenliebe wird hier noch stärker entdämonisiert' 8 und in eine psv-
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D a s findet seinen A u s d r u c k auch darin, daß R a v m u n d das G u c k l o c h , das er gebohrt hatte, um Melusine zu beobachten, wieder versiegelt: Oswald (2006), S. 174.
"
Wolfzettel (2002), S. 35; spricht v o n zwei „ p o l a r und dialektisch aufeinander bezogenen und sich z . T . sogar überlagernden Feenbildern". A . Schulz (2004) stellt eine „ S p a l t u n g " der Mahrte in bedrohliche und glücksspendende K o m p o n e n t e n fest. Sie kennzeichnet die im folgenden zu betrachtenden v e r wischten' Mahrtengeschichten; zu den genealogischen Implikationen vgl. oben S. 9 2 - 1 0 0 .
,6
Z u r Rationalisierung des M o t i v s Kasten ( 1 9 9 ; ) , S. 280. In der französischen Fassung ist Z a u b e r n explizit Lernresultat gelehrter Studien. Wie aber kann man Erlerntes so vollständig verlieren?
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„ D a s Wunderbare, das mit dem Strukturmodell von der gestörten Mahrtenehe gesetzt ist, wird damit 429
Aporien passionierter Liebe
chische Konstellation überführt, obwohl der Roman auf der Oberfläche die für Mahrtenehen typischen märchenhaften Elemente potenziert. Der Held folgt einer Hirschkuh und gelangt in ein scheinbar menschenleeres Schloß. Als sich ihm im Bett ein unbekanntes Wesen nähert, das er im Finstern nicht erkennen kann, fragt er: Bist du gehwr oder ungehwr (so FvS nach 3321) und erhält die befriedigende Antwort: Christin und aus guter Familie (Ich bin von cristenlichem stamm geboren. [ Mein vater ist ain küng usserkorn, 16 3 f.). Es ist die Hirschkuh, die nachts ihre ursprüngliche Gestalt als Frau erhält. Das außergesellschaftliche Liebesverhältnis setzt wieder Zauberei voraus. Freilich ist Angelburg keine Fee, sondern eine christlich getaufte Königstochter ( 1 6 3 ^ , die verzaubert wurde, weil sie das außereheliche Verhältnis ihrer Stiefmutter nicht dulden wollte. Die negativen dämonischen Kräfte, gefaßt als Sexualität, sind damit auf die böse Stiefmutter und deren Liebhaber übergegangen. 59 Angelburg ist statt verführerischer Dämon die Verteidigerin ehelicher Moral gegen sexuelle Libertinage. Sie ist nicht Täterin, sondern Opfer. Trotzdem verfällt ihr Friedrich wie einem Dämon (vgl. 1079-1134), so daß er das auferlegte Tabu nicht wahren kann. Wenn das Beilager keusch sein soll und der Ritter nichts sehen darf, dann ist wie die dämonische auch die sinnliche Komponente minimalisiert. Vom Schema her führt das zu Widersprüchen. Wie dieses Liebesverhältnis genau aussieht, wird wohl bewußt in der Schwebe gehalten. Darf Friedrich Angelburg „nicht sexuell besitzen"?40 Die unklaren Formulierungen unterstreichen die Schwierigkeit des Verfassers, das Schema zugleich zu erfüllen und zu verabschieden. Sie könnten als Teil jener Abwehrstrategie verstanden werden, die „das bedrohliche Potential der heimlichen, gesellschaftlich nicht akzeptierten Minne und letztlich der Sexualität überhaupt" zwar von Friedrich und Angelburg fernzuhalten sucht, 4 ' eben dieses Potential aber braucht, um Friedrichs lebenslange Fixierung auf Angelburg zu erklären. Das Ergebnis ist ein hybrider Kompromiß zwischen Passion und Askese. Die komplizierten Bedingungen, unter denen Angelburg vom Zauber erlöst werden kann, lauten: Ein Ritter soll sie der selben nacht beschlauffen/Unnd dir doch dein ere laussen in dynastische Normalität ü b e r f ü h r t " (Beate Kellner: Literarische Kontexte und pragmatische Bezugsfelder im spätmittelalterlichen R o m a n .Friedrich v o n Schwaben', in: Dialoge, 2003, S. 1 3 5 - 1 5 8 ; hier S. 154); zum Verhältnis zum Mahrtenschema auch Sappler (1991), S. i ^ i . ' 8 Dies entspricht der Tendenz zur „Depotenzierung des Mythischen" ohne „dessen vollständige Tilg u n g " , „das Faszinationspotential des Mythischen zu bewahren und zugleich jeden Dämonieverdacht v o n der Geliebten des Helden zu nehmen" (S. 244), die A . Schulz (2004) an Fuetrers ,Seifried v o n Ardemont', aber auch ,Poytislier' herausgearbeitet hat (S. 240-244 bzw. 244-250). Beim .Friedrich v o n Schwaben' spricht er geradezu v o n „einer Abweisung des Mythischen" (S. 256). " 40
41
A . Schulz (2004), S. 257. A . Schulz (2004), S. 257; „das Begehren ist männlicherseits vollständig v o m sexuellen auf ein kognitives Verlangen verschoben"; ähnlich Sappler ( 1 9 9 1 ) , S. 1 4 1 : „Beischlafverbot", das aber „erzähltechnisch kein richtiges T a b u " sei; Kellner spricht von einem „keuschefn] Beilager" (Kellner, 1997, S. 155). A . Schulz (2004), S. 257. 430
Dämonische Faszination und Psychologie (505f.; ähnlich 3373f.) und dann weitere 30, genau bezeichnete Nächte des folgenden Jahres bej dir ligen (509). Was soll hier eigentlich beschlauffen heißen - eine für ein keusches Beilager zumindest ungewöhnliche Bezeichnung - ? O d e r mißlingt hier einfach die Quadratur des Zirkels, ein sexuelles Verhältnis als Disziplinierung des K ö r p e r s zu erzählen? Beider paradoxe Einheit setzt sich fort: D i e dem Z w e c k der E r l ö s u n g dienenden Liebesnächte folgen einem äußerst detaillierten und strikt einzuhaltenden Zeitplan, wobei der Held ausgerechnet, wenn dieser fast erfüllt ist, v o m Begehren überwältigt wird, nicht sexuellem Begehren freilich, sondern der Begierde zu sehen (Sein girde was χΰ schäiven groß, 1243). S o betrachtet er die Geliebte ausführlich. N a c h d e m er das Tabu gebrochen hat, wirkt, anders als im ,Partonopier', der Z a u b e r sofort: Friedrich muß sich v o n A n g e l b u r g trennen. D i e Geliebte und ihre Gefährtinnen werden zu Tauben, die er jahrelang suchen muß. Immerhin erhält er eine detaillierte A n w e i s u n g zu ihrer E r l ö s u n g , die wieder auf angestrengte Weise sexuelle Passion mit gesellschaftlich geforderter Wohlanständigkeit kombiniert: D i e Tauben legen jeden Mittag, um zu baden, ihr G e w a n d ab und sind wieder J u n g f r a u e n . Hat Friedrich sie beim Baden g e f u n d e n , muß er ihnen ihre (Feder-?) K l e i d e r wegnehmen, doch nicht um sie zu besitzen, 42 sondern um ihnen das Versprechen abzuzwingen, daß eine v o n ihnen (also keineswegs unbedingt A n g e l b u r g , die er doch allein leidenschaftlich liebt) ihn heiratet. Bei der E r l ö s u n g geht es also nicht mehr um erotisches Begehren (das im Gegenteil unterdrückt werden soll), sondern um ein Eheversprechen, noch dazu ,für eine der drei'. A f f e k t e - etwa Mitleid mit ihrem Wehklagen - sind zu unterdrücken: So solt du dich daran nit keren (Laß dich die lieb nit betören!), Ε dir die ee versprochen werd
(4541-4343).
Was zu A n f a n g wie eine asoziale Passion aussehen konnte, endet in der Institution. 4 ' Weil die Mädchen nun einmal nicht nackt bleiben können, erhält Friedrich das Versprechen und kann die verlorene Geliebte wiedergewinnen. D a s ist eine stark untermotivierte und reichlich konstruierte Geschichte, in der das glückliche E n d e eigentlich nie in F r a g e steht und der Z a u b e r überwiegend der Steigerung der S p a n n u n g dient: wäre da nicht die erotische Faszination des Helden, die das Z e n t r u m feudaler E r k l ä r u n g v o n minne - strahlende Sichtbarkeit - ausspart. Diese Faszination ist auf undurchschaubare Weise hier allerdings mit Keuschheit
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D a s gehört eigentlich zum Phantasma sexueller G e w a l t , das mit der Faszination durch die Fee v e r k n ü p f t ist (Wolfzettel, 2002, S. 358). "" Z u r verqueren „ S e x u a l m o r a l " auch Sappler ( 1 9 9 1 ) , S. i42f. Unklar bleibt, worin Friedrichs G e w i s sensqualen bei der E r l ö s u n g bestehen (4443-4447). Allenfalls A n g e i b u r g s K l a g e n sind plausibel, denn ihr Eheversprechen gegenüber dem unbekannten Kleiderräuber könnte sie auf immer v o n Friedrich trennen.
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Aporien passionierter Liebe
gepaart u n d k o m m t n u r unter B e d i n g u n g ehelicher Institutionalisierung zum Ziel. Deutlicher n o c h als K o n r a d (und mit erheblich geringerem Geschick) versucht der a n o n y m e Verfasser die Liebespassion zuerst d u r c h Z a u b e r gewöhnlichen Maßstäben zu e n t r ü c k e n u n d sie in einem zweiten Schritt mit diesen gewöhnlichen M a ß stäben zu versöhnen. 4 4 D i e exzessive K l i t t e r u n g v o n Z a u b e r m o t i v e n folgt o f f e n b a r der L o g i k , daß bei einer leidenschaftlichen Liebe Magie im Spiel sein m u ß . Als (vermeintliche) Feenliebe erlegt sie Friedrich ein Sehtabu auf u n d zwingt ihn, sich gegen den Rest der Welt abzuschotten. Tatsächlich handelt es sich nicht u m die Liebe zu einem D ä m o n (oder sonst einem außermenschlichen Wesen wie der Zwergin), s o n d e r n u m ein heimliches Liebesverhältnis, das auf die P r o b e gestellt wird. E s wird k a u m verborgen, daß Magie u n d Wunder n u r n o c h äußerliche Mittel der S p a n n u n g s s t e i g e r u n g sind. 4 ' D i e vermeintliche M a h r t e n e h e ist eine Chiffre f ü r eine außerordentliche erotische Faszination, die zuletzt, wie es sich gehört, legalisiert wird.
Höfische minne u n d Magie der Trankliebe: ,Tristan' Die Tristanliebe 4 6 hebt sich aus der Gewöhnlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse heraus u n d verletzt d o c h deren elementare Regeln; sie setzt höchste höfische Ver44
Eine ähnliche Bewegung kennzeichnet auch die parallele Handlung um die Liebe zur Zwergenkönigin Jerome, die noch halsbrecherischer in Normalität überfuhrt wird. Die Zwergin begehrt Friedrich und hält ihn gegen seinen Willen gefangen. Sie ist zwar sichtbar, doch fehlt ihr als Zwergin gleichfalls die .Ansehnlichkeit', die exemplarische minne-Verhältnisse begründet. Friedrich sinnt vergebens auf Ausbruch, wird aber zunächst einmal fur längere Zeit ihr Liebhaber und zeugt mit ihr eine Tochter. Als sich die Möglichkeit zur Flucht eröffnet, verläßt er sie ohne Aufschub um der ersten Geliebten, Angeiburgs, willen. Dann aber, nach Angeiburgs Tod, legalisiert er auch dieses Verhältnis noch, wobei er mit der - inzwischen eigentlich hochbetagten - Zwergin ein weiteres Kind zeugt. Zuvor schon mußte der Makel der unehelichen Tochter Jeromes (7145-7148) getilgt werden. Die Kompromißlösung lautet, daß Angelburg diese Tochter an Kindes statt annahm, so wie dann später Jerome Angeiburgs Kind (6889-6907 bzw. 7644-7686). So wird erotische Rivalität zwischen Friedrichs Frauen in problemfreies Familienglück umgedeutet. Eine dritte mögliche Geliebte des Helden, die er sich durch Erlösung von Zauber verdient hat, kommt dank seiner Standhaftigkeit gar nicht erst zum Zuge. Die Hybridität dieser Figur spiegelt sich in Uberlieferungsvarianten, die diese Episode weglassen; vgl. Kellner (1997), S. 160. A. Schulz (2004), S. 2J7f. zeigt, wie auf sie bestimmte Merkmale der Feengeliebten übergehen.
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Der .Friedrich von Schwaben' montiert bekanntlich ganze Textteile aus älteren höfischen Epen zu einer neuen Geschichte zusammen und bedient sich auch reichlich aus dem Motivfundus höfischer Erzählungen. Die Häufung von Zaubermitteln und Verwandlungen - so gibt es etwa noch eine weitere in eine Hirschkuh verwandelte Jungfrau, die Friedrich erlöst (4270-4298) - entwertet jede(s) einzelne und erweist sich damit als bloßer Aufputz einer im Kern keineswegs dämonischen Liebesgeschichte. A. Schulz (2004), S. 257 spricht von der Tendenz zum bloß noch Märchenhaften. Die Deutungsalternativen bis zum Beginn der 1990er Jahre sind zusammengefaßt bei Schnell (1992), S. 4f. Schnell schlägt vor, die Frage nach „Moral, Recht, Gott und Wahrheit" in die „nach den Voraussetzungen und Bedingungen unseres Erkennens und Definierens von Moral, Recht, Gott und Wahrheit" umzumünzen (S. 7). Wenn er deren Problematisierung durch Gottfried aufdeckt, dann
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Höfische minne und Magie der Trankliebe: ,Tristari v o l l k o m m n u n g voraus und pervertiert höfische vuoge in betrügerischer Verstellung und Doppelzüngigkeit; sie reicht in die N ä h e mystischer E r f a h r u n g und ist „sexueller Sündenfall"; 4 7 sie wird in der Allegorie der Minnegrotte als rationales Tugendsystem entfaltet und ist auch gespenstig [iu]
minne ( G T r 1 1 7 9 7 ) ,
gespenstige[r]
gelange (17842). D e r B e f u n d deutet weniger auf „ A m b i v a l e n z " als auf den scheiternden Versuch des Zugleich. 4 8 D u r c h den Trank im ,Tristan' wird Liebe radikal individualisiert: D e r Trank wirkt nur bei den beiden, die ihn getrunken haben, und schließt alle anderen aus. Indem der Trank in falsche Hände gerät, tritt die Disparität v o n dynastischer A l lianz und L i e b e ans Licht, aber auch die Unversöhnbarkeit dieser Liebe mit gesellschaftlichen Institutionen. In der Tristansage wird beides aporetisch gegeneinander geführt, indem in den meisten Versionen an der Unausweichlichkeit der Liebespassion kein Z w e i f e l besteht, andererseits aber die moralische und politische Legitimität der Heiratsallianz nie in Frage gestellt wird: E h e b r u c h ist E h e b r u c h , so sehr man sich auch über die Finten freuen kann, mit deren Hilfe die Liebenden immer wieder entkommen. 4 9 Dabei sind gewöhnlich geltende Oppositionen aufgehoben. Tristan hat M a r k e eine Frau verschafft und wird ihre Liebhaber. D o c h ausgerechnet dem E h e m a n n ist eine Frau wie die andere (12670) - Messing wie G o l d (12607;
Ι2
^ 7 5 ) —, ausgerech-
net er ist dem Begehren nach Isolde hilflos verfallen {in gelangete und gelüste, 17595) und der gespenstekeit f ] der minne ausgeliefert (17558), und er fragt nicht nach dem
erledigt sich damit die Frage, was „ M o r a l , Recht, G o t t und Wahrheit" sein soll, allerdings noch nicht. E s bleibt bei der Nicht-integrierbarkeit der exklusiven Liebespassion (vgl. H a u g , 1986; 1990; Warning, 2003; J . - D . Müller, 2003b). Schnell scheint d e m g e g e n ü b e r vorauszusetzen, daß die O r d n u n g e n , in denen sie möglich wäre, nur verkannt werden. D a s aber läuft indirekt dann doch auf eine Harmonisierung von v o l l k o m m e n e r Liebe und Gesellschaft hinaus. Wo aber nähme diese Gestalt, und sei es nur theoretisch, an? K e c k (1998) hat zurecht der Ansicht widersprochen, die Tristanromane behaupteten ein „ R e c h t der L i e b e " gegen alle „Wertvorstellungen der G e s e l l s c h a f t " (so S. 1 1 u. passim). Sie hat daher den Terminus ,Tristanliebe' als besondere Weise v o n Liebe kritisiert (vgl. S. 28-32). G e g e n diesen B e g r i f f erhebt auch Tomas Tomasek ( Z u r Tristanliebe, P B B 128, 2006, S. 4 6 7 - 4 7 1 ) Einspruch: E i n solches gemeinsames K o n z e p t gebe es in den Tristan-Romanen nicht. Ich verwende den B e g r i f f deshalb nur als rasches Verständigungsmittel und bezogen auf G o t t f r i e d . D a s Zitat nach dem Untertitel v o n H a u g (1986); zur U b e r k r e u z u n g legitimer und illegitimer Beziehungen im Verhältnis Tristan/ Isolde/Marke in vier Grundkonstellationen S i m o n (1990c), S. 358-360. 4
'
K e c k (1998), S. 1 8 - 2 1 zu der in der jüngeren F o r s c h u n g dominierenden ,Ambivalenz'-These. , A m bivalenz' bedeutet freilich weder ,Widersprüchlichkeit', noch stempelt sie G o t t f r i e d zum .modernen' A u t o r . G e m e i n t ist ,Doppelwertigkeit'. E s soll gezeigt werden, daß die Geschichte Tristans und Isoldes sich an den Grenzen, innerhalb derer im Mittelalter von minne erzählt werden kann, stößt. E s sind dieselben Grenzen, die die Geschichten v o n passionierter L i e b e in die Bahnen von M a g i e und D ä m o n e n f u r c h t lenken.
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Z u r zeitgenössischen B e w e r t u n g des E h e b r u c h s Stevens (1990), S. 82. D a s stellt die Idealität der Liebe nicht in Frage: „ G o t t f r i e d is bv implication using one moral order to subvert the authority of another"; vgl. zuletzt die Z u s a m m e n s t e l l u n g v o n G o t t f r i e d - Z i t a t e n bei M a r i o n Oswald: Tabubrüche Choreographien ihrer Wahrnehmung zwischen ,Heimlichkeit' und .Öffentlichkeit', in: Visualisierungsstrategien (2006), S. 1 7 1 .
433
Aporien passionierter Liebe
Urteil derer, die für Intaktheit und Legitimität der Ehe des Königs Sorge tragen, sondern setzt Isolde rücksichtslos dem Gerede aus und nimmt sie, zurück, ganz gleich, was vorher war, weil er ihr verfallen ist. Der Liebhaber dagegen führt sich als Retter und Hüter der Ehe auf, wenn Marke Isolde an den Spielmann Gandin verloren hat. Auf diese Weise kollabieren kulturelle und ethische Oppositionen. 50 Die Magie supplementiert ein personales Prinzip. Daß Tristan sich der Wirkung der Passion nicht entziehen kann, bedeutet nicht, daß er den Trank als äußeren Zwang erfährt. Wenn der Trank die Willens- und Verstandeskräfte ausschaltet, dann hat Gottfried, wie man längst gesehen hat, die blinde Verfallenheit an eine Droge durch Tristans Bekenntnis zum Trank samt allen seinen Folgen in einen Akt bewußter Zustimmung verwandelt: „nu walte es got!" sprach Tristan, „e^ ware tot oder leben: hat mir sanfte vergeben, ine wei%; wie jener werden sol: dirre tot der tuot mir wol. solte diu wunnecliche }sot iemer alsus sin min tot, so wolte ich gerne werben umbe ein ewecliche^ sterben." (GTr 12498-12506)
Dennoch wird die Liebe dadurch nicht zu einer Sache von Innerlichkeit gemacht und hat sich nicht allein vor einer .Gesinnungsethik' zu verantworten. 51 Deshalb ist der Trank auch mehr als ein bloßes Symbol für „die ideale Liebe zwischen Tristan und Isolde" 52 oder gar ein bloßer „Strukturanzeiger", der „etwas, was vorher schon da war" anzeigt: „zwar auch nicht die Liebe, aber immerhin das Füreinanderbestimmtsein Tristans und Isoldes". 55
,0
Hierzu Warning (2003), S. 193-197. '' Vgl. zuerst Hans Fromm: Gottfried von Straßburg und Abaelard, in: Fs. Ingeborg Schröbler, hg.v. Dieter Schmidtke u. Helga Schüppert, Tübingen 1973, S. 196-216; fortgeführt und differenziert von Schnell (1992), S. 166-169, der aber auch zeigt, daß gesellschaftliche Normen verletzt werden. Das stellt aber in Frage, daß Gottfried vorwiegend aus der Perspektive einer „Innenmoral" argumentiere (S. 171), und stempelt die Harmonisierung von Innen- und Außennormen (etwa S. 1 7 7 - 1 8 5 ) zum bloßen Appell. '* Schnell (1985), S. 542: „Gottfrieds Liebeskonzeption konnte auf Erklärung und Entlastung der Liebeshandlung durch die magische Kraft des Minnetrankes verzichten" (S. 344): Warum tat er es dann nicht? „Der Trank übernahm wie der Venuspfeil bei Veldeke poetische und interpretative Funktionen" (ebd.): Dies - wie durchweg die Abwertung der poetischen Formung zur ,bloßen' Rhetorik läuft darauf hinaus, Dichtung als rhetorische Einkleidung alltäglicher Sachverhalte zu verstehen. Ahnlich, die ältere Forschung von Ranke, Schwietering u.a. aufgreifend, August Closs: The LovePotion as a Poetic Symbol in Gottfried's ,Tristan', in: Gottfried von Strassburg, 1990, S. 235-245. "
Simon (1990a), S. i n . Untersuchungen, die die Aporien des .Tristan' aus der Interferenz zweier Strukturmuster erklären (so zuletzt wieder Jens Pfeiffer: Satz und Gegensatz. Narrative Strategie und Leserirritation im Prolog des ,Tristan' Gottfrieds von Straßburg, Wolfram-Studien 18, 2004, S. M3f.) greifen zu kurz, indem sie eine Beschreibungskategorie mit einer Handlungsursache verwechseln. 434
Höfische minne und Magie der Trankliebe: ,Tristan'
Gottfried hat den Zustand vor dem Trank und danach sorgfältig getrennt. Damit ist eine Lieblingsfrage älterer Forschung - die nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Liebespassion - klar zu beantworten.' 4 Weil nach modernem Verständnis solch eine Liebe mehr sein muß, als der Effekt einer Droge, sammelte man Indizien dafür, daß schon vor Genuß des Tranks sich eine Liebesbeziehung andeutet. So habe der Trank nur an den Tag gebracht, was unbewußt längst der Fall war. Damit ist die Differenz des Tranks gegenüber allen anderen Bestimmungen zur minne verkannt. Trotzdem hat jenes Bemühen eine wichtige Einsicht befördert: Gottfried hat erzählt, daß Tristan und Isolde füreinander bestimmt' sind nach den Kriterien, die in der höfischen Welt gewöhnlich zu minne führen." Nur bewirkt der Trank bei ihnen etwas, das über solche gesellschaftlichen Determinationen hinausführt. Die Versuche, die minne Tristans und Isoldes ohne Trank zu begründen, haben ihre Berechtigung darin, daß Gottfried die Trankliebe vor den Hintergrund anderer möglicher Begründungen von minne stellt, die allgemein akzeptiert sind. Die Frage sollte daher nicht mehr psychologisch-biographisch verstanden werden, denn dann ist die Antwort klar, sondern paradigmatisch: Gottfried sucht der unerklärlichen Passion ein höfisches minne-Ideal zu implantieren. Personal verantwortete Liebe wird in der höfischen Literatur um 1200 immer wieder neu reflektiert, in der Regel allerdings in einer von der Tristangeschichte radikal abweichenden Form. Im Minnesang beansprucht das liebende Ich, mit der Rede über seine minne die Zustimmung aller zu finden; sie richtet sich zwar auf diese eine Frau, doch insofern sie allgemein anerkannte Werte in einem Höchstmaß verkörpert. Die Ich-Rede des hohen Minnesangs artikuliert nie nur Emotion, sondern ist das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses. 16 Tristan und die Tristanliebe werden deshalb als schlechte Alternative verstanden. Im Gegensatz zum Ich des höfischen Minnesangs habe Tristan äne sinen danc (Heinrich von Veldeke MFr 58,35) geliebt; höfische minne beruht auf bewußter Entscheidung für die schönste und beste. 14
Z u r Forschungsdiskussion und ihrer E n t s c h e i d u n g Schnell ( 1 9 8 ; ) , S. 3 3 2 - 5 5 9 . Zuletzt hat K r a ß (2006), S. 1 8 9 - 1 9 1 am .vestimentären C o d e ' die sukzessive A n n ä h e r u n g beschrieben: „ F o l g t man der L o g i k des Plots, so scheint es völlig unmöglich, daß Tristan und Isolde sich je verlieben; denn wie könnte Isolde den M ö r d e r ihres Onkels lieben und wie Tristan die künftige Gattin seines Onkels, als dessen Brautwerber er auftritt? D o c h weiß der Erzähler mehr als seine Protagonisten; mit verdeckten poetischen und ästhetischen Strategien macht er schon v o r der Minnetrankszene deutlich, daß Tristan und Isolde einander verfallen w e r d e n " (S. 1 9 1 ) .
"
S o auch A . Schulz (2005), S. 276; aber der Trank leistet mehr, als daß er diese „ E r k e n n t n i s allererst ermöglicht": E r initiiert eine unauflösliche B i n d u n g , die sich über alle Schranken hinwegsetzt, in die die wechselseitige Erkenntnis, einander wert zu sein, stets eingelassen ist. Schulz selbst betont: „ G e m ä ß der .objektiven' L o g i k höfischer Minne müßten die beiden nämlich schon längst ineinander verliebt sein, hätten sie einander zuvor nur in ganzer visueller Pracht gesehen" (S. 277) - aber das haben sie doch!
>6
Wie z . B . bei Friedrich v o n Hausen: Ich lobe got der siner güete ( M F r 50,19). A u c h im .Tristan' ist Liebe mit Erkenntnis v e r k n ü p f t (Schnell, 1992, S. 196-228), aber eben auch mit Verblendung (Adam: 1 8 1 6 6 - 1 8 1 6 8 ; vgl. 1 7 9 3 7 - 1 7 9 6 6 ) .
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Aporien passionierter Liebe Der Makel einer um allgemein verbindliche Werte unbekümmerten und überdies der freien Entscheidung entzogenen Passion muß von den Erzählern der Geschichte Tristans als Problem empfunden worden zu sein. In älteren Versionen des Stoffes wie bei den Fortsetzern Gottfrieds gilt, daß eine gegen gesellschaftliche Werte (z. B. ere), Leitbilder (z.B. Kriegsheld) oder Institutionen (Ehe, H o f ) gerichtete Passion, soll sie nicht einfach als abweichend oder sogar verbrecherisch erscheinen, einer Rechtfertigung oder mindestens Entschuldigung bedarf. So erzählt Eilhart, wie fromme Vorhaltungen gegen die Macht des Trankes nicht ankommen, aber sogleich bestimmend werden, wenn dessen zwanghafte Wirkung aufgehört hat. 57 Ulrich v o n Türheim kritisiert den unsalic tranc (UTr 3450), der dafür verantwortlich sei, daß Tristan von der glänzenden Bahn der ere abwich: heite in daζ tranc der minne niht braht üf unsinne (3581 f.). Gottfried von Straßburg dagegen nähert die Liebe Tristans und Isoldes akzeptierten Mustern v o n minne an. Tristans Bekenntnis zum Trank ist zwar nicht wie im Minnesang durch die Erkenntnis der Vollkommenheit Isoldes bedingt, aber sie stimmt faktisch damit überein. Beider Verhältnis ist zunächst eine enge Beziehung von Lehrer und Schülerin. Isolde wird zweitens zur höfischen vrouwe stilisiert, die alle Männer am H o f zu Develin ihrer Bewunderung unterwirft, so wie das der im Minnesang artikulierte höfische Frauendienst vorsieht. Durch den Sieg über den Drachen hat Tristan drittens nach den Regeln heroischer Erzählmuster einen Anspruch auf die Hand der Königstochter. D a er als Markes Werbungshelfer nach Irland gefahren ist, gibt er dieses Recht an den K ö n i g weiter. Damit lenkt die Handlung viertens in die gewöhnlichen Bahnen dynastischer Eheschließung ein. E s sind also mindestens vier bekannte Muster akzeptierter Geschlechterbeziehungen im Spiel, wenn auch alle heillos miteinander verknotet. A n diesem Punkt aber nimmt die Geschichte eine radikale Wendung, denn statt die eingeschlagene Bahn fortzusetzen, mündet sie im Ehebruch. Die Tristan-minne setzt sich grundsätzlich von allen zuvor explizierten gewöhnlichen Voraussetzungen ab; es muß noch etwas anderes hinzukommen. A u c h wenn dieses andere, der Trank, bei Gottfried wie bei seinen Vorgängern und Nachfolgern von außen hinzutritt, wird es offensichtlich gebraucht, um das, was die Tristan-minne auszeichnet, zu begründen.
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Von da an müssen Tristrants Rückkehrversuche anders, nämlich zusätzlich aus einem feudalen Ehrenkodex begründet werden (J.-D. Müller, 1989). Das ist erzählstrategisch zu verstehen und widerspricht keineswegs dem Umstand, daß die minne Tristrant immer wieder zu Isalde zurücktreibt. Die äußere Destruktion seiner Adelsqualitäten wird durch immer größere Nähe zu Isalde, durch eine minne, die keiner sekundären Begründungen mehr bedarf, konterkariert. Nur muß dies eben Tristrants Umgebung wie den Rezipienten mit Hilfe allgemein akzeptierter Normen plausibel gemacht werden; noch Ulrich von Türheim belegt, wie schwer das ist (zur Diskussion jetzt Kraß, 2006, S. 244-255). 436
Höfische minne und Magie der Trankliebe: ,Tristan'
Indem Isolde Tristans Schülerin wird, gleichen beide einander vollständig in Ethos und höfischen Tugenden an.'8 Beide verkörpern den Wertekanon der höfischen Gesellschaft (Musik, Dichtung, Sprachen, Hofkünste, %uht), und - oberstes Kriterium höfischer Ordnung (vuoge) - sie ,passen' damit zueinander: die Schönste und am vollkommensten höfisch Gebildete zum vollkommensten Hofmann. Aber bedeutet das minne? Von allem anderen abgesehen, kommt der Spielmann Tantris, den Tristan spielt, nie als Partner einer Königstochter in Betracht. Tantris-Tristan erzieht Isolde bis zu dem Punkt, an dem sie als höfische vrouwe, die alle Vorzüge in sich vereint, Objekt höfischer minne wird. Das geschieht im festlichen Auftritt vor dem Hof von Develin. Hier zieht Isolde die Blicke und Herzen aller auf sich. Die minne gilt der Vollkommenheit der vrouwe. Sie ist kollektiv. Die vrouwe löst ein diffuses Begehren aus, das auf Bewunderung beruht: Isolde zieht vil herben und gedanken in, / die doch vil sicher wänden sin/von senedem ungemache (8095-8097); es sind gedanken [...] ä^ maneges herben arken (8ii2f.); ihr Gesang dringt in maneges herben muot (8116), in vil manc edele her^e (8131). Isolde ist die neue Sonne (8284), nicht für den einen Tristan, sondern für alle: allegedanke und alle man/die kaphen niuwan irlant an (828if.).' 9 Es ist bezeichnend, daß an dieser Stelle der Name des Landes an die Stelle dessen der Frau tritt. Isolde repräsentiert ein Allgemeines in höchster Vollkommenheit. Auch diese Liebe ist Verführung: Isoldes Gesang gleicht dem der Sirenen, die Gottfried zufolge - mit dem Magnetstein die Schiffe aus ihrer Bahn ziehen: als %och Isot, so dunkel mich,/ vil herben und gedanken in (8094^. Sie ist %ouber [...]/ da£ die gedanke £ehant/vienc unde vähende bant (8132-8134). Trotzdem, das Begehren, das sie weckt, nennt Gottfried wisel6s[] (8106),60 d.h. nicht eindeutig fixiert, und er spricht von ungewissefm] minnen muot (8107). Das unterscheidet es radikal vom Begehren, das der Trank auslöst. Isolde ist die vollkommene vrouwe aller. Wenn Tristan Isolde an Markes Hof preist, beschwört er gleichfalls den kollektiven Blick auf ihre Schönheit. Die kollektive Verzückung wiederholt sich, wenn Markes Gefolgsleute Isolde sehen: sie ist über al die werlt ein wunder (12566) und git der werlde wunne/gelich 18
Hier gilt als Vorbild das Verhältnis von Abaelard und Heloise. J a e g e r (1999), S. 195f. spricht von zwei , S t r ö m u n g e n ' in G o t t f r i e d s Liebeskonzeption: einmal minne als gegründet auf und mündend in Tugend, einmal als irrationale und unkontrollierbare Passion; gewiß wird das erste durch das zweite K o n z e p t ,problematisiert' (S. 197); ich kann allerdings - trotz A n a l o g i e zu religiösem Martyrium oder dem Appell an die edelen herben - nicht sehen, daß beides miteinander versöhnt wird und dadurch „ e n n o b l i n g love completely revalued and r e d e f i n e d " (S. 196). D a s wäre ,romantische Liebe' im Sinne Wagners.
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Ahnlich der spätere Auftritt v o r dem H o f v o n Develin, der vil manegen man/sin selbes da beroubete ( 1 0 9 6 4 ^ ; auch da wird die G e w a l t des A n b l i c k s ihrer Schönheit mit räuberischen Blicken ( 1 0 9 6 1 - 1 0 9 6 5 ) , mit denen eines J a g d f a l k e n (1 iooof.) verglichen; diu wunne bernde sunne/si breite ir scbin über al,/ si erfröute liute unde sal ( 1 1 0 1 0 - 1 1 0 1 2 ) . N u r in diesem allgemeinen Sinn trifft zu: „ D e r Lichtschein, den Isolde im Saal verbreitet, trifft auf Tristan und entflammt ihn" ( K r a ß , 2006, S. 190).
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Hin wise/öseschiffelin ( 7 5 1 2 ) hatte Tristan nach Irland gebracht. D a s ist die L a g e bis zum G e n u ß des Tranks. D e r Trank schafft Eindeutigkeit.
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Aporien passionierter Liebe alsam diu sunne (i2569f.). 6 ' Tristans minne dagegen ist gerade nicht ,höfisch', d.h. visuell, vermittelt. Deshalb kann in der Trankliebe gesehen werden, was sich gewöhnlichen Blicken entzieht: daz ietweder dem andern was/durchlüter alse ein spiegelglas (ii729f.). Nachdem Tristan in Cornwall ihren Ruhm verbreitet hat, wird die schönste Frau das Ziel einer gefährlichen Brautwerbung durch den vornehmsten, den König. Tristan ist in dieser Konstellation nur Werbungshelfer, doch legitimiert er sich durch die heroische Tat, die eigentlich dem Werber zukommt: Schon als Bezwinger Morolts war er der Retter des Landes; indem er das tat, was weder Marke noch seine Gefolgsleute wagten, hat er die Rolle des Landesherrn erfüllt, der - mit dem Siegfried des .Nibelungenliedes' zu reden - dem Land den vride sichert. Als Drachentöter in Irland hat er die Bedingung erfüllt, die der künftige Mann Isoldes zu erfüllen hat. Der Nachweis vor König und versammeltem Hof, daß er den Drachen besiegt hat, sichert seinen Anspruch auf Isoldes Hand. Dieser Anspruch ist so wenig an personale Voraussetzungen gebunden (sogar der betrügerische Truchseß konnte ihn erheben), daß Tristan ihn an Marke weitergeben kann (wie der Artusritter seinen Kampfpreis). 62 Nach höfischen wie nach heroischen Kriterien sind Tristan und Isolde also .füreinander bestimmt'. 6 ' Trotzdem grenzt Gottfried noch unmittelbar vor dem K u r z schluß' des Tranks das Verhältnis zwischen Tristan und Isolde von einer Liebesbeziehung ab: Wenn Tristan die ihrer Heimat nachtrauernde Isolde tröstet und in die Arme nimmt, dann niuwan in der wise/als ein man sine frouwen sol (ι 1 5 6 4 ^ ; Tristan handelt als der Werber für Marke. Auch ist weiterhin von Isoldes ha% auf Tristan als den Mörder Morolds die Rede (vgl. 11579); dieser ha% ist, anders als bei Wagner, gerade nicht uneingestandene Liebe, sondern ein objektives, nämlich aus den rechtlich-sozialen Konstellationen resultierendes Hindernis: mit pärät und mit kündekeit (11588) habe Tristan sie ihren Verwandten betrügerisch abgewonnen; verkoufen nennt sie die Heiratsallianz, die den Konflikt zwischen Cornwall und Irland beenden soll (11584-11595). Der Trank setzt deshalb nicht nur nicht durch, was ohnehin paßt, sondern richtet sich gegen das, was bis dahin gültig ist, und entfremdet beide den Ordnungen, in denen sie sich als füreinander bestimmt' erwiesen hatten. Im Trank bricht eine Macht herein, die sich nicht mit den geltenden höfischen Werten in Ubereinstimmung bringen läßt.
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A. Schulz (2005), S. 277 macht darauf aufmerksam, daß bei der Ankunft Isoldes in Cornwall „Marke de[r] Blick auf Isolde" verweigert und „nur der öffentliche Blick auf die irische Prinzessin thematisiert" wird. Marke kann nur sehen, was alle sehen. Der gewöhnliche Legitimationsmechanismus wiederholt sich auch später noch, wenn Tristan es ist, der Isolde von Gandin zurückholt. Z u den daraus resultierenden Ansprüchen Oswald (2001), S. 138. Warning (2003). Α. Schulz (2005), S. 276. 438
Höfische
minne und Magie der Trankliebe:
,Tristan'
Er ist ruinös, für alle Mitspieler. Jetzt wird aus dem bisher vorbildlichen Marke ein von sexueller Begierde getriebener Mann, aus dem Virtuoso Tristan ein Betrüger und aus Isolde fast eine Mörderin. Die Vollkommenheit, die Tristans und Isoldes Liebe vor allen anderen auszeichnet, ist zugleich Ehebruch, der die Ordnung in Markes Reich fundamental bedroht (weshalb das ganze Land sich seiner annehmen muß). Die Idealität dieser minne hat im allegorischen Bau der Minnegrotte steinerne Gestalt angenommen. Jede von deren proprieties spiegelt einen Aspekt dieser Vollkommenheit. Der Magie des Tranks entsprechen dagegen die mythischen Züge der Grottenallegorie. Mythisch ist die Entstehung der Grotte durch Riesen, vor dem Anfang von Geschichte. Mythisch ist die Struktur der Zeit dort. Die Grotte ist zugleich vorzeitig und jederzeitig. Sie beherbergte die Riesen, aber auch der Erzähler kennt sie. Der Aufenthalt dort wird zeitlich nicht artikuliert, geht in immer neuer Wiederholung eines ,schönen Lebens' im immerwährenden Frühling auf. Mythisch ist die Grotte in ihrer dauernden Regenerationsfähigkeit, in der Ununterscheidbarkeit von Natur und Kultur, in der die Vögel der Hofstaat sind, ihr Singen gelehrte Musik. Mythisch ist die Macht, der der Bau gewidmet ist: die gotinne Minne (16727). 64 Die Zweideutigkeit der Passion erweist sich erst bei der Entdeckung der Grotte. Von außen und mit den Augen des uneingeweihten Jägers betrachtet, gerinnt das Lager, auf der Tristan und Isolde, getrennt durch ein Schwert ruhen, zur mythischen Szene: Zum Beilager eines Sterblichen und einer Göttin, zu einer jener verhängnisvollen Mahrtenlieben, die auf dämonischer Verführung beruhen. Marke durchstößt zwar den Schein des Numinosen und erkennt das Paar, aber er erliegt der Verführungskraft in anderer Hinsicht: den in betrügerischer Absicht arrangierten Zeichen. So interpretiert er, was er sieht, harmlos und fällt in die Spirale eifersüchtigen Verdachts und momentaner Beruhigung zurück, aus der kein Entkommen ist. Tristan und Isolde selbst wissen, daß sie, einmal entdeckt, das Grottenleben aufgeben und in die feindliche Umgebung der alles belauernden Hofgesellschaft zurückkehren müssen. Keine Spiritualisierungstendenz kann den sexuellen Sündenfall, der die Folge ist, tilgen. Gottfried schreibt die Tristan-minne zwar an eine gesellschaftlich akzeptierte Liebe heran. Ihr ordnungsgefährdender Charakter bleibt aber präsent, wird durch den Trank entschuldigt, aber nicht aufgehoben, zeitweise suspendiert, aber nicht be64
J . - D . Müller (2002; 2003b); zur mythischen U m g e b u n g Wisbev (1990), S. 274f.; doch ist im strengen Sinne keine christlich-typologische Beziehung zwischen der G r o t t e zur Z e i t der Riesen ( „ f r o m the pre-Christian era") und zur Zeit Tristans zu erkennen, denn nicht nur bei den Riesen, auch bei Tristan und Isolde schließt die G r o t t e bei aller Spiritualisierung „carnal l o v e " ein, und „the union between Tristan and Isot, in which the physical is uplifted into that spiritual concord associated with ,mundana musica' and the cosmic h a r m o n y " bleibt Transgression und muß deshalb immer Sanktionen fürchten.
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Aporien passionierter Liebe
wältigt. 6 ' Im huote-YLxkurs hat Gottfried die Annäherung der Tristan-minne an geltende Werte noch einmal gesteigert. Seine Polemik gegen die huote verteidigt Isolde und mißt sie an der vorbildlichen vrouwe des Minnesangs. Diese bedarf der huote nicht, weil sie sich freiwillig den Normen höfischer Kontrolle unterwirft. Doch wird sie überboten durch eine Frau, die, wenn sie liebt, ihre ,Natur' nicht unterdrückt. 66 Damit wird eine Stufenfolge idealer Liebeskonzepte entworfen. Doch die letzte Stufe wird nicht einmal von Isolde erreicht. Sie repräsentiert nicht das lebende paradis (18070), in dem ,Natur' und Gesellschaft versöhnt sind.67 Indem er sie an diesem Ideal mißt, beweist Gottfried die Nicht-Integrierbarkeit der Tristan-Passion.
Gescheiterte Transgression: Gottfried und seine Fortsetzer Der Trank, der Tristan und Isolde bedingungslos aneinander fesselt, wäre nur im Rahmen der politischen Allianz legitim gewesen, für die er bestimmt war. Anspielungen des Prologs auf die Eucharistie, das körperlicher Notdurft enthobene Leben in der Minnegrotte, deren allegorisch-bedeutsame Gestalt einer steingewordenen Minneethik sind in Analogie zu sakralen Mustern entworfen. Seit Friedrich Rankes Untersuchung zur Allegorie der Minnegrotte (1925) ist immer wieder der Einfluß theologischer und insbesondere mystischer Muster auf Gottfrieds ,Tristan' herausgearbeitet worden. Doch unübersehbar ist die Differenz, die durch deren Ubertragung auf Geschlechterliebe entsteht.68 Vor allem liegt der Perspektivpunkt der
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Hier scheint mir ein Teil der Tristan-Forschung die zahlreichen Bedenklichkeiten des Romans auszublenden (vgl. etwa Schnell, 1985, S. 124: „die unbedingte, in ihrer Idealität fast transzendente Liebe"; Schnell, 1992, S. 41: die Uberwindung von ,Außen'- durch ,Innennormen'; dagegen Müller, 2003b, S. 2}8). Zum i»!7^-Exkurs Tomasek (198;), S. 1 9 9 - 2 1 1 ; J.-D. Müller (2003b), S. 237-239. Der Entwurf ist gewiß an geistlichen Mustern orientiert (vgl. Friedrich Wodtke: Die Allegorie des ,Inneren Paradieses' bei Bernhard von Clairvaux, Honorius Augustodunensis, Gottfried von Straßburg und in der deutschen Mystik, in: Fs. Josef Quint, hg.v. Hugo Moser u.a., Bonn 1964, S. 277-290). Die Tradition des „inneren Paradieses" der spekulativen oder mystischen Theologie, die Wodtke nachzeichnet, kann aber gerade nicht auf die höfische Epik übertragen werden. Ähnlichkeiten bleiben metaphorisch, oder aber sie wären blasphemisch. Letzteres liegt nahe, wenn Wodtke im .Tristan' ein inneres Paradies zu erkennen glaubt, „mit dem Gottfried für jeden Menschen hier und jetzt die Möglichkeit eröffnet, das Paradies als ein gegenwärtiges auf Erden zu besitzen" (S. 284). Wodtke suggeriert, trotz einzelner vorsichtiger Einschränkungen, substantielle Identität wo allenfalls ,konnotative Ausbeutung' (Warning) vorliegt. Die deutlichen sensualistischen und sexuellen Implikationen von minne, die durch die höfische Tugend der mä%e gezähmt, aber nicht aufgehoben werden (Wharton, 1990, S. i47f.), schließen stricto sensu eine religiöse Interpretation aus. Das Paradies, das Gottfried beschwört, würde eine Welt vor dem Sündenfall voraussetzen, dem sogar die Liebe von Tristan und Isolde zuletzt erliegt (S. i48f.). Was der huote-Exkurs dagegen entwirft, ist von keinem Sündenfall bedroht (18068-18072). Wie sollte das in einer christlichen Welt möglich sein? Vgl. Kellner (1999b), S. 488-499; allgemein Wachinger (2003); J.-D. Müller (2003b), S. 214, 233.
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Gescheiterte Transgression: Gottfried und seine Fortset^er
Geschichte, nach all den Analogisierungen mit Formen religiöser Erfahrung, eben nicht in der Spiritualität der Minnegrotte, sondern in der Wiederholung des Sündenfalls 69 und in der Trennung als deren Folge. 70 Die Episode um Isolde Weißhand hat die Differenz der Trank-minne zu dem, was eigentlich gilt, noch einmal scharf herausgearbeitet. Ich komme noch einmal auf sie zurück. Sie stimmt scheinbar mit allem überein, was sonst minne legitimieren kann, und trotzdem ist alles falsch. Die Liebespartner ,passen' ebenso gut zueinander, da „beide Frauen von gleicher idealer - also gerade nicht: individualisierter Schönheit" - sind (anders als bei Eilhart, wo die blonde die Weißhand bei weitem überstrahlt!). 7 ' Tristan hat durch seine Hilfe für ihre Verwandten und ihr Land ein Anrecht auf Isolde Weißhand erworben. Sie vereinigt alle Vorzüge einer höfischen vrouwe, ist schön, stol^ unde wise und wird als bluome von den landen allenthalben
gerühmt (i896of.). Auch ihr Umgang mit Tristan, im Kontext höfischer kur^ewile ist vorbildlich, so sehr das Einvernehmen auf Täuschung beruht. So scheint alles eine Verbindung zu rechtfertigen. Doch alle diese Gründe sind nicht ausschlaggebend. 72 Für Tristan ist Isolde Weißhand nur Substitut: si mante in ie genöte/'der anderen Isöte (i8973f.). Daß nur die blonde Isolde die ,richtige' ist, kann im üblichen Rahmen der Legitimation von minne nicht mehr begründet werden. Es zeigt sich, daß all jene positiven Qualitäten gegenüber der Trankliebe nichts ausrichten. Wie sperrig Gottfrieds Konzept ist, bezeugen seine Fortsetzer, die über diesen Punkt hinauskommen müssen. 7 ' Bei ihnen muß (wie schon bei Eilhart) die blonde
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Die Anspielung der Entdeckung auf den Sündenfall ist mehr als ein „literarische[s] Modell", „entkleidet [...] seiner metaphysischen Schwere" (Henrike Lähnemann: Tristan und der Sündenfall. Hin Theologumenon auf höfischen Abwegen, in: Der .Tristan' Gottfrieds von Straßburg (2002), S. 220-242, hier S. 24of.). Das bedeutet nicht, den Roman im Sinne eines protestantischen Rigorismus als Negativdidaxe zu lesen, sondern nur, daß seine Aporien nicht vorschnell zu harmonisieren sind. Gottfried erzählt die Geschichte einer zugleich vollkommenen und skandalösen Liebe, deren Widersprüche unaufhebbar bleiben, die aber gerade deshalb für ein höfisches (kein geistliches) Publikum attraktiv ist. Das ist mehr als ein unverbindliches Spiel, wie Lähnemann es beschreibt: „Das höfische Publikum erhält das Recht, sich eigene Kombinationen von Sündenfall und Minnebeziehung zurechtzulegen, mit dem Wiedererkennungseffekt zu spielen und einzelne Handlungsmomente auf biblische Grundstrukturen hin durchsichtig zu machen" (S. 240).
70
Wenn die „wechselseitige Durchdringung und Akzeptanz von Gesellschaftsnorm und Minnenorm als letztes (utopisches) Ziel" (Schnell, 1992, S. 1 1 ) des Romans gelten soll, dann ist den Protagonisten nur Versagen zu bescheinigen. Welchen Anspruch auf Exemplarität hätte ihre Geschichte dann noch? A. Schulz (2005), S. 293^ Um die Deutung der Episode „als Schilderung eines Treubruchs" zu widerlegen, argumentiert Konetzke individualpsychologisch auf einer Ebene, die Gottfried auf beiden Seiten ausspart: minne ist einmal durch kollektive Werte, das andere Mal magisch begründet (Claudia Konetzke: triuwe und melancholia. Ein neuer Annäherungsversuch an die Isolde-Weißhand-Episode des .Tristan' Gottfrieds von Straßburg, in: Körperinszenierungen (2002), S. 1 1 7 - 1 5 8 , hier S. 129). Die folgenden Überlegungen sind vorbereitet und teils näher ausgeführt in J.-D. Müller (2002) und (2003b). Wenn Ulrich und Heinrich sich enger an geltenden Normen orientieren, so ist es doch unmöglich, ihre Deutungen - als die mittelalterlichem Denken .näheren' - auch für Gottfrieds Text zu unterstellen.
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Aporien passionierter
Liebe
Isolde ihre Rivalin unendlich überstrahlen.74 Trotzdem wird auch bei Ulrich von Türheim für Isolde Weißhand aufgeboten, was sonst die Allianz stützt: Schönheit, Ansehen, gesellschaftlicher Rang, liebevolle Behandlung, werdes ritters ere (583), die sonnengleiche, salde verheißende Erscheinung (1201-1207; 1 2 1 1 - 1 2 1 5 ) . Deshalb ruft sich der Held zur Ordnung: Tristan, hoere, e^ ist genuoc! Tristan, lä den unvuoc, des diu werlt niht ruochet und doch der sele vluochet. (UTr 45-48)
Die Leidenschaft zur blonden Isolde kann weder von der höfischen Gesellschaft (vuogeX) akzeptiert werden, noch ist sie dem Seelenheil förderlich. Für den höfischen Erzähler tut sich eine Motivationslücke auf, die er nur vermutungsweise füllen kann: ich wane, si sante boten an in da!ζ wunderliche minnentranc. (zz8{.)
Nur eine Macht, die sich gewöhnlichen Erklärungen entzieht (wunderlich), kann das unverständliche Geschehen motivieren. Die Bezeichnungen wunder/wunderlich sind Ausdruck einer Verlegenheit. 7 ' Tristan fragt sich: wa£ Wunders was, da% mir gebot, da% mich des Wunders ie ge^am, da% ich ein ander Ysot genam? (254-256)
Im Verhältnis zu Isolde Weißhand herrscht in ungeschminkter Nüchternheit das übliche Verhältnis zwischen Mann und Frau, 76 wenn auch überhöht von minne (72-74) und zusätzlich legitimiert durch verdiene[n] (75). Im Vordergrund steht das dynastische Interesse, in Tristan einen starken Verbündeten am Hof zu halten. Es ist angedeutet in Tristans Werbung gegenüber Kaedin (77; 78) und seinem Versprechen gegenüber den Eltern der Braut; es wird von ihnen ausdrücklich gewürdigt77 und ins Eheversprechen aufgenommen; 78 Tristans Weigerung, die Ehe zu vollziehen, wird als Versuch, sich diesen Verpflichtungen zu entziehen, vermutet, 79 74 11
76
77
78 79
A. Schulz (2005), S. 31 if. Ähnlich HTr 22if. - Der Begriff wunder wird bei Ulrich von Türheim allerdings manchmal auch trivialisiert: die Schminke, die die äußere Erscheinung verwandelt (2233; vgl. 2324). So rühmt der höfsche Kurvenäl an Tristans Verhältnis zu Isolde Weißhand: weder mit stauen noch mit siegen/vertöser nie ir hulde ( 7 ι ο ί ; vgl. 702). er giht, er welle iemer me/gerne hie bi uns bestän (i20f.); bestät er in dem lande,/ wir sin iemer me genesen (l 4 2f.). ir müe\et aber beliben hie bi uns/iemer bi% an iuwern tot (i88f.). Tristan dar umbs tuot:/ er wil dir entrinnen/unde Ysöten minnen,/ die blunden von Yrlant (456-459). Kaedin sieht in der Weigerung, die Ehe zu vollziehen, ein todeswürdiges Verbrechen von allgemeinem Interesse (454; 483; vgl. 72 4 f.), von dem neben der Herrscherfamilie auch der Herrschaftsverband betroffen ist: da soitu^ dinen vriunden klagen,/ mannen unde tnägen (464^; vgl. 473).
442
Gescheiterte Transgression: Gottfried und seine Fortset^er v o m Vater sogar als Tatsache unterstellt. 80 Tristans Unfähigkeit, sich aus der alten B i n d u n g zu befreien, kränkt deshalb nicht nur die E h r e der Herrscherfamilie (699-701; 7 2 6 - 7 2 9 ) , sondern gefährdet die Institution insgesamt. Tristan kann sich nach Regeln, die auch für das Allianzprinzip gelten, entlasten, indem er einen Schönheitsvergleich anbietet. K a e d i n , der Vertreter der fremden Dynastie, soll sehen, warum er die blonde Isolde mehr liebt. Alles ist schon verabredet, da f ü g t Ulrich eine weitere B e g r ü n d u n g hinzu. 81 E s erscheint nämlich als Bote ein elsternfarbenes R e h , das aus seinem O h r einen Brief Isoldes schüttelt, der Tristan herbeiruft. Z u dem Brief hat sie die Minne selbst im Schlaf inspiriert: was da^ niht ein wunder grö^j! (565). D i e Elsternfarbe zeigt seit Wolframs P r o l o g zum ,Parzival' Ambivalenz an: E i n e klare Entscheidung zwischen positiv und negativ, gut und böse, ist bei ihr nicht zu treffen, und genau dies ist es, was die M a g i e der Passion charakterisiert. Sie fällt so sehr aus dem Rahmen, daß der Erzähler ein nicht eben alltäglich gefärbtes, höfliches R e h als Überbringer eines Briefes braucht, der wiederum als P r o d u k t eines Traumes, als Diktat der Minne selbst und als auf wunderbare Weise überbrachtes Requisit gleich mehrfach aus der gewöhnlichen Welt herausfällt. D i e Motivation der R ü c k k e h r in ein normwidriges Liebesverhältnis ist überdeterminiert. Dessen f r a g w ü r d i g e n Aspekte werden auf K a e d i n verschoben und dann eindeutig negativ konnotiert. D a n k dieser Spaltung darf noch ein weiteres Mal Tristans Liebe zur blonden Isolde schattenlos gefeiert werden. Im folgenden aber gerät sie so sehr an den R a n d , daß es, wenn das Abenteuer vorbei ist, kein Problem mehr ist, daß Tristan irgendwann - und zwar ohne jedes Z e r w ü r f n i s mit der blonden Isolde die E h e mit Isolde Weißhand vollzieht: u>a% si in dem herben baten, wer solte da nach vrägen? vil suo^e si samt lägen bi% an Tristandes tot, nie man wibe ba% erbot. (3098—3102J S o siegt zuletzt doch die gesellschaftskonforme Allianz. D i e Kehrseite ist die v o n höfischer minne abgespaltene Sexualität Kaedins: E i n M a n n , der nicht jede Gelegenheit nutzt, mit einer Frau zu schlafen, ist ein %age, ein Feigling. 8 2 D e r D r a u f g ä n g e r K a e d i n ist da anders, wenn er einer Dienerin der blonden Isolde umstandslos vorschlägt: du solt/mich lä^en hinaht bi dir l.igen ( 1 6 1 2 f . ) . D a s ist zwar als Parodie höfischen Minnewerbens erzählt, 8 ' wird deshalb v o n der 80
" ,z
Tristan, ich erkenne wol dinen muot: / du wilt uns entrinnen Zur Überdeterminierung dieser Szene J.-D. Müller (1992a), S. 5 }6£ Dieselbe Identifizierung der Qualitäten von Liebhaber und Ritter inszeniert Ulrich in der Episode des springenden Wassers', das küener sei als der küene Tristan (4o8f.), weil es dahin vordringt, wohin dieser ,sich nicht traut'. Parodie umso mehr, als das höfische Vokabular (kumber, [Zeit] klagen, her^e, state, wiplicher muot usw.) 443
Aporien passionierter Liebe
Frau empört zurückgewiesen und durch ein Zauberkissen, das den Galan einschläfert - dem Gegenstück zum Minnetrank - vereitelt, doch fühlt sich Kaedin deshalb als Mann gedemütigt. Er kann sich gar nicht genug darüber beklagen, das Mädchen gar nicht genug darüber spotten, daß er, ohne die Frau zu berühren, eingeschlafen ist und sich damit als %age erwiesen hat.84 Auch aus der Perspektive des Abenteuers, das Tristan das Leben kosten wird, rückt die Tristan-minne in die Nähe chevaleresker Libertinage. Tristan stirbt nicht an seiner eigenen Liebespassion, sondern wenn er Kaedin bei einer erotischen Eskapade mit einer verheirateten Frau hilft. Zwar werden Kinderminne und Adel zur Rechtfertigung des außerehelichen Liebesverhältnisses aufgeboten, doch hauptsächlich geht es dabei um Sexualität (3148-3161): da^ stiege wip, der werde man täten jene?i (wisset ir was?).
(3i62f.)
Der Ehemann rächt sich an beiden, tötet Kaedin und trifft Tristan tödlich. Auf Kaedin verschoben, werden die zweideutigen Aspekte der magischen Passion exemplarisch exorziert. Auf der Gegenseite dominieren bis zuletzt die Interessen der Institution. So rät man Marke, Isoldes Ehebruch aus politischen Gründen nicht zu bestrafen: da£ er den %orn lie^e sin gein YsSte der künegtn: der krone e^ niht ge^eme
ob er den lip ir neme. (2825-2828) Noch im Tod werden die Liebenden, wie es sich gehört, getrennt: si lägen niht in eime grabe (3515), denn die Grabstätte ist Ort der offiziellen memoria. Daß sich Weinstock und Rosenstock, die aus den Gräbern hervorwachsen, umschlingen, ist A n o r d nung'; viele halten es für unvuoge (3616), denn unvuoge ist es, ob sieb toten minnent unde iemer an einander gesinnent
(3 617 f.)
Der Minnetrank ist, gemessen an diesem Maßstab, unsalic (3450), und die heimliche minne bleibt negativ besetzt: si kiinnen niht wan minne stein und da% basliche heln. (268 5f.)
84
aufgerufen wird (vgl. 1599; 1 6 0 5 - 1 6 1 2 ; 1633-1639). Bei Eilhart wird der Bruch eines höfischen Codes explizit gemacht.
1697: vertaget·, 1753: so ist werderpris an mir vertagt·, 1761: ich sihe wol, ich bin vertaget-, 1766—1769: Verlust von salde und gelücke\ 1772: Schande vor der merit·, 1779-1784; 1795—1800: Kameles Spott. Noch im Rückblick beklagt Kaedin schände und laster (1933)· E r versteigt sich zum Eingeständnis: gehörnt ist min vürstenname (1930; vgl. 1926-1932): diese Art von minne als Attribut des Herrn!
444
Gescheiterte
Transgression: Gottfried
und seine
Fortset^er
G o t t m u ß u m V e r g e b u n g für die Liebenden angerufen werden. D i e Passion war ein Unfall, auch für den Weltmann Tristan. Bei Ulrich wird die Geschichte Tristans und Isoldes in die g e w ö h n l i c h e n Bahnen zurückgelenkt, aus denen die Passion ausgebrochen war. Sie hat eine zeitlang ihr Recht, weil sie dieselben N o r m e n wie eine Minne-Allianz erfüllt. D o c h irgendwann m u ß sie dieser zuliebe a u f g e g e b e n werden. Was o r d n u n g s w i d r i g an ihr war, verfällt, auf den Libertin K a e d i n verschoben, der Kritik. E r ist daran schuld, daß die Sache schlecht ausgeht. Heinrich v o n Freiberg hat die Passion besser verstanden, d o c h gelingt es ihm ebenfalls nur u n v o l l k o m m e n , sie v o n einer idealisierten höfischen minne abzugrenzen. So spricht auch er v o n krankem sinne (HTr 205), v o n E h e b r u c h (ιογί.), sünden (209) und tiuvel (210), v o n siinde, unrecht, der eren ungewin (273-275). D e r Unterschied zu höfischer minne besteht im M a n g e l an Legitimität, nicht in der Intensität des G e f ü h l s , denn auch die minne zu Isolde Weißhand wird rehte[]
her^eliebe (314)
genannt; 8 ' sin her^e und al sins herben gir,/ sin wille, sin und al sin muot/was im gein der megde guot (744-746). D i e L i e b e zur blonden Isolde ist unentrinnbarer Z w a n g (2717-2720). Im Trank wirken naturkundliche (medizinische, astrologische und mineralogische) Kräfte. E r ist ein P h a r m a k o n , dessen art (217) Tristan auf G r u n d v o n A n a l o g i e b e z i e h u n g e n zwischen M a k r o - und M i k r o k o s m o s bestimmt (256-263). Seine kraft erhält er v o n einem Stern, der Tristan und Isolde gemeinsam ist und nach dem er genatüret ist (256f.). D e r Z w a n g kann allenfalls v o r ü b e r g e h e n d durch eine eclypsi[s] (238) unterbrochen werden, die die E i n w i r k u n g des Sterns unterbricht. 8 6 Rechtzeitig vor der Hochzeitsnacht ist das vorbei. Isoldes R i n g , den Tristan am Finger trägt, bündelt die kosmischen Kräfte. E r zieht magisch Isoldes Bild herbei, senkt es in da% her^e sin (788) und lähmt Tristan, so daß er die E h e nicht vollziehen kann.^ sin lip erbibet und erschrac, sin her^ ersiuf^et und er gelac. gelac er? fä. wer? her Tristan gelac recht als ein töter man.
(771-774)
Heinrich kumuliert die E r k l ä r u n g e n für Tristans Verhalten, u m das Exzeptionelle g l a u b w ü r d i g zu machen und unterstreicht dadurch, daß keine ganz angemessen ist. Unterliegt er kosmischen K r ä f t e n , wird seine Manneskraft verhext, oder wird er v o n einer religiösen Erscheinung überwältigt? D i e A n k u n f t Isoldes ist in mariani-
"
Tristans Werbung erfolgt aus inneclichem herben (537); er mhmete unde meinete/von herben die vil schiene maget (3 i6f.), w e n n dies auch mit vremde, die her^enliep trennt, und state, die sie v e r b i n d e t , erklärt wird (319-322).
"
D e s h a l b k ö n n t e g l e i c h z e i t i g mit Tristan auch bei Isolde der stern [...]
der minne erloschen sein, der
Trank wie bei ihm sin art v e r k e h r t haben (294-298). 8-1
D e r R i n g wird später als Wahrzeichen eingesetzt, mit d e m Tristan Isolde sein K o m m e n
ankündigt
( 4 1 2 6 - 4 1 3 3 ; 4 1 7 4 - 4 1 7 9 ) . D a n n ist v o n ihm keine R e d e mehr. T r ä g t Tristan ihn nicht mehr?
445
Aporien passionierter Liebe
scher Metaphorik ausgelegt, als ein morgenröt (786), als ein brehender sunnenschin (787) durchdringt sie - wie der verklärte Leib Christi - die Mauern und kommt wie ein Pfingstwunder über Tristan, sturmrüschende,/ mit ir vlammen löschende/und mit ir herben viure (791-793)· Der epiphanische Einbruch von Transzendenz in Gestalt der sonnengleichen Isolde von Irland paßt zu Tristans Behauptung, er habe gelobt, daß er, wenn er eine Frau zur Ehe genommen habe, sie maget wolde län/und kiusch ein umbe gende\ jär (io78f.). Damit maskiert er die Passion, die ihn von seiner legitimen Ehefrau ablenkt, religiös, als Keuschheitsgelübde, das er in Todesnot der Hl. Jungfrau gegeben habe. In dieses fromme Tableau wird nachträglich dann auch die Geliebte einbezogen: Gleich, nachdem er das gelobt habe, sei ein schcene vrouwe wunnesam (1081) - die andere Isolde - erschienen, eine Gestalt wie vom Himmel (1089). Geliebte und Gottesmutter verschmelzen. Die Überdetermination entzieht auch hier Tristans Abweisung der Isolde Weißhand psychologischen Erklärungen und delegiert den Zwang wie zuvor der Minnetrank an überpersönliche Mächte. Durch das angebliche Gelübde verschafft sich Tristan zeitlichen Spielraum für eine Rückkehr zur blonden Isolde. Dafür wird aber wieder noch ein weiterer Grund angeführt; die Passion allein reicht offenbar nicht aus. Es erscheint nämlich ein Bote von König Artus und lädt Tristan zur Gründung der Tafelrunde ein. Die Rückkehr zu Isolde wird auf dem Umweg über ritterschaft angebahnt, als Dienst der vrouwe. Beides, sin manheit und ir minne, der stiegen küniginne, der blunden Isöte, die reiften ie genote den helt üf niuwe ritterschaft
(1421-1425).
Der Entschluß, zu Artus zu ziehen, überzeugt Isolde Weißhand und ihre Verwandten (die erstere denkt daran, so den Rest des Karenzjahres schneller herumzubringen), denn sie bindet die Passion an allgemein akzeptierte Wertmuster. Weil Tristan sich am Hof des Artus hervortut, verschafft der ganze Hof ihm Gelegenheit, Isolde wiederzusehen, indem er zu Marke zieht. Die Artusritter erreichen auch, daß Marke seinen Verdacht gegen Tristan fallen läßt und ihn in seinen Hof wiederaufnimmt. Jetzt nimmt alles wieder seinen verhängnisvollen Verlauf, gesteuert vom Minnetrank: Owe, owe! der minnetranc [...] der twanc ir beider her^e (3005-3010), klagt der Erzähler und berichtet, wie die Liebenden ein zweites Mal in flagranti ertappt werden, wie sie hingerichtet werden sollen (wie bei Märtyrern heißt es: geben/ir leben umb die minne, 3154f.) und wie Tristan zuerst sich, dann Isolde im letzten Augenblick rettet - der übliche, auch von Eilhart erzählte Verlauf. Sie müssen vom Hof in den Wald fliehen. Das Waldleben bedeutet bei Heinrich aber weder, wie bei Eilhart, drückende Not außerhalb menschlicher Zivilisation, noch, wie bei Gottfried, ein ideales Leben an einem mythisch-allegorischen Lustort. Bei446
Gescheiterte Transgression: Gottfried und seine Fortset^er des war Ausdruck des Ausnahmecharakters der Passion. Hier finden die Liebenden 2war die Minnegrotte vom letzten Mal nicht wieder, dafür eine alltagsferne Auszeit im Wald. Wie in späterer pastoraler Dichtung bauen Tristan und Isolde sich eine Hütte aus Rinde und Laub, ernähren sich von dem Wild, das Curvenal schießt und gut zubereitet, trinken klares Quellwasser und werden von zwei Dienern umsorgt: eine bukolische Idylle ante datum, wie sie die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Adelskulturen imaginieren, als Alternative zum höfischen Alltag. Im Waldidyll hat die Passion Raum, kann aber rasch aufgegeben werden, wenn Marke Isolde entdeckt (passenderweise beim Blumenpflücken um das Heim für Tristan zu schmükken, der gerade zu seinem Vergnügen jagt!) und, von ihren Worten getäuscht, wieder aufnimmt. Solch ein schönes Leben kann eben nun einmal nicht dauern; Isoldes Rückkehr zu Marke ist ohne Komplikationen möglich. So protestiert auch Tristan nicht gegen die neuerliche Trennung, sondern freut sich, daß zwischen Isolde und Marke alles wieder im L o t ist (3650). Mit dieser Verharmlosung stößt Heinrich freilich an Grenzen. Die Tristan-Sage kennt weitere Rückkehrabenteuer, die er auch noch recht und schlecht zu motivieren hat. Nach der Rückkehr aus der Idylle meidet Tristan nämlich weiterhin Isolde Weißhand, was deren Bruder in der bekannten Episode vom ,springenden Wasser' erfährt. Wieder muß Tristan sich rechtfertigen, und wieder baut er seine Entschuldigung in den Ablauf einer vorbildlichen Ritterkarriere ein. E r erfindet eine neue Geschichte: mit ritterlicher tat ( 3 9 1 1 ) habe er eine Frau, schöner als ein Engel, gewonnen und habe - nach viel kur^ewile (3938) mit ihr - versprechen müssen, seine künftige Ehefrau nicht zu berühren, bis er vor der Geliebten Rechenschaft über seine Heirat abgelegt hat. Tristan erklärt Kaedin seine Bindung an die blonde Isolde damit als höfischen Frauendienst (3939-3957), bei dem die vrouwe auch die richtige Eheschließung kontrolliert. Das versteht Kaedin, bricht mit Tristan auf, um sich durch Augenschein ein Bild von dieser vrouwe zu machen. Sogar die Eltern der Weißhand stimmen zu, weil dieser Plan wieder mit allgemein akzeptierten Verhaltensmustern übereinstimmt: Die beiden jungen Ritter sagen ihnen, sie wollten urberen unsern lip/durch die minnecltchen wip,/ [...] varn in vremde lant, suochen äventiure (4027-4031). Das ist ein überzeugendes Motiv. So kann Tristan weitere Liebesnächte mit Isolde genießen, zuletzt, nach einer Krankheit, zum Narren Peilnetdsi-Isotenliep entstellt. Dann aber ist auch diese Zeit vorbei, ohne daß Marke sichere Kenntnis über den Ehebruch erlangt, Tristan also offen die instituierte Ordnung außer K r a f t gesetzt hat. Jetzt ist es Zeit für N o r malisierung. Zuerst kehrt Isolde zu Marke, ir eliche[m] man, zurück (3626). Marke lebte mit der künigin/gar lieplich un-χ an iren tot (57i6f.). Erstaunlich Tristans Reaktion: des wart her Tristan an der stunt/von herben inneclichen vro (365of.). Auch er macht seinen Frieden mit der Institution:
447
Aporien passionierter Liebe Tristan mit Isoten sider lebte schone und also wol, sam ein man gerechte sol leben mit liebem mibe (5962-596;).
Die Minnepassion, vor der Weißhand religiös gerechtfertigt und so entskandalisiert, hatte Tristan vorübergehend von der gewöhnlichen Ordnung befreit, die nun wieder in ihr Recht tritt. Jetzt könnte Normalität einkehren, wäre nicht wieder schon das traurige Ende angebahnt worden. Auf dem Rückweg zu seiner Frau hatte Tristan - diesmal für seinen Freund - ein anderes Liebesabenteuer vorbereitet. Diese flüchtige Liebesaffäre ist eine entproblematisierte Variante der Tristan-minne, doch eindeutig als ehebrecherisch markiert. Die blonde Isolde kommt nur insofern ins Spiel, als Tristan, nachdem der Ehebruch entdeckt ist, ,in ihrem Namen' beschworen wird, dem erbosten Ehemann standzuhalten, statt seine Flucht rechtzeitig fortzusetzen. So empfängt er die vergiftete Wunde, an der er sterben wird. Indem er aus Rache für den Ehebruch eines anderen getötet wird, bleiben die Institutionen letztlich doch intakt, ohne daß der Held direkt bestraft wird. So hat auch Heinrich letztlich Gottfrieds Liebeskonzeption entschärft, ohne sich groß um die Stimmigkeit seiner Interpretationen zu kümmern. E r hat die Passion zum naturkundlichen Zwang erklärt, sie religiös überhöht, sie in eine höfische Sonderwelt verpflanzt und sie zuletzt mit der instituierten Ordnung zu versöhnen versucht. Auch er verfügt über kein Mittel, ihren Ursprung im Subjekt zu erzählen. Er schließt mit einer allgemeinen, keineswegs allein auf die Geschichte der Liebe Tristans und Isoldes gemünzten Weltklage (6620-6650), dann Markes Überlegung, wie eine Panne dieser Art vermeidbar gewesen wäre: Es mangelte an rechtzeitiger Information. Hätte Marke gleich vom Trank erfahren, dann hätte er vor der Heirat Isolde Tristan einem mbe gegeben (6738) und keine Institution wäre verletzt worden: so were ich überic gewesen der sünde und weret ir genesen.
(6741 f.)
Bis über den Tod hinaus sind gültige Ordnung und Störung ineinander verschränkt: Marke stiftet ein Kloster, in dem er die Liebenden - natürlich in getrennten Särgen - begraben läßt und in das er selbst eintritt. Rose und Weinstock aber, die er auf den Gräbern pflanzen läßt und die in ihren Herzen wurzeln, verflechten ihre Zweige miteinander und beweisen den kosmischen Zwang noch einmal an der außermenschlichen Natur: wie derglüende minnetranc/in den toten herben ranc/und sin art er^eigete (6833-6835). Der Trank lenkt den rechten Gang der Dinge ab. Deshalb wurde der, Der aller manheit was ein man (6414) und staunenswerte Rittertaten der blonden Isolde wegen vollbrachte (6414-6480), zuletzt zum häßlichen Narren, dem alles fehlt, was einen vorbildlichen Ritter ausmacht ( 5 1 0 0 - 5 1 1 1 ) . Das letzte Wort 448
Moralische Abwertung: Herbort aber hat eine radikale K r i t i k an werltliche[r]
minne (6851). D a g e g e n allegorisiert der
E p i l o g Tristans und Isoldes Liebe zur Liebe der Seele zu Christus. E s ist zweifelhaft, daß die allegorische D e u t u n g gegenüber der windungsreichen Handlung durchzuhalten ist. Unübersehbar der Versuch, die Passion als Z w a n g zu entschuldigen, mit höfischen und religiösen Werten zu versöhnen, jedoch zuletzt aus religiöser Sicht zu verwerfen. In den vollständigen Kompilationen werden die Ambivalenzen im Sinne einer christlich tingierten ritterlichen Durchschnittsmoral, zu bewältigen versucht. D i e Passion bleibt außerhalb des Horizontes der gewöhnlichen Welt. A u c h G o t t f r i e d hat deren Grenzen, die Grenzen der historischen K u l tur, auf D a u e r nicht überschreiten können, sie aber in der unabgestimmten G e g e n läufigkeit seiner E r z ä h l u n g aufgezeigt.
Moralische A b w e r t u n g : Herbort Wo die mittelalterliche E p i k auf magische oder dämonische B e g r ü n d u n g e n für die Liebespassion verzichtet, hängt deren Legitimität oder Illegitimität davon ab, inwieweit sie mit den aufgerufenen O r d n u n g e n harmonisiert werden kann. Bruchlos gelingt das nie, und unumschränkt behält sie niemals Recht. Im Untergang Trojas werden ihre verheerenden F o l g e n erzählt, nicht nur in klerikaler Perspektive, in der Helena und Paris meist N e g a t i v - E x e m p e l für die Macht der L i e b e sind, sondern auch in den höfischen Adaptationen. D a ß Liebe eine K r a n k h e i t ist, die nicht nur f ü r die v o n ihr Befallenen tödlich sein kann, läßt sich kaum irgendwo so drastisch demonstrieren wie am blutigen U n t e r g a n g der einst mächtigsten Stadt. A n Paris und Helena läßt sich die dämonisch-amoralische Natur der Liebe vorführen. Wenn dabei die verhängnisvolle Leidenschaft nicht direkt durch einen Liebeszauber verursacht wird, steht sie doch in konnotativer Beziehung zu Z a u b e r und Dämonie. Bei Herbort v o n Fritzlar erscheint die Liebespassion in ähnlicher Perspektive wie in der geistlichen Literatur des 12. Jahrhunderts, etwa bei Heinrich von Melk, 8 8 als teuflische Machination. In ihr brennt das Höllenfeuer. Herbort erzählt eine G e schichte aus heidnischen Zeiten, in der nicht Götter, sondern Teufel handeln ( H b T r 3498-3509). E r erzählt knapp und zielstrebig, mit seltenen K o m m e n t a r e n , doch k o m m t bei jeder Gelegenheit die Dämonenverfallenheit der Protagonisten zum A u s d r u c k , die ihren Leidenschaften ausgeliefert sind. Schon in der Vorgeschichte, die üblicherweise dem K a m p f um Troja vorausgeht, ist Medea weniger Liebende als durch ihre Zauberkünste und ihren U m g a n g mit vbeln geiste[n]
charakterisiert
( 5 5 1 - 5 6 1 ) . Z u ihren dämonischen Fähigkeiten gehören Heilkunde, Astrologie und Teufelsbeschwörung (824-849). S o sind ihr prächtiger A u f p u t z , ihre blendende
"
H. Wenzel (1974), S. 1 1 5 f .
449
Aporien passionierter Liebe
Erscheinung und erotische Attraktivität ( E r mvste sie wol lip han/So wol was ir gewant getan, 66if.) von Anfang an ,gerahmt'. Sie sind die (ver)blendende Erscheinungsform ihrer teuflischen Verführungskraft. Wenn Jason .entflammt' wird, dann entwickelt sich daraus eine veritable Feuersbrunst; Zv dem ersten cleine bran/Sint bran sere (648f.), ein verheerender Brand: kole,fuer, svdet, brinnet, warm vnde hei%, swei^, hit^e. Jason glaubt sich von dämonischen Wesen {elber) verführt und erfährt die minne als ein hitziges Fieber mit Schweißausbrüchen (762-772). Liebe äußert sich drastisch in Handgreiflichkeiten {Er greif ir an ir gewant/Den stoup er ir abe las, 7o6f.; Da% er griffe furba^JEr greif ir under da^ kleit, 7i2f.). Medea verbietet Jason seine Zudringlichkeiten zwar, aber eigentlich will sie dasselbe wie er. Jason glaubt sich verhext (756; 758) und Medea ebenso, obwohl sie doch selbst eine Zauberin war und sogar den Teufel beschwören konnte (837-849). ,Zauber' ist keine bloße Metapher, eher eine dämonische Besessenheit, an der magische Künste zuschanden werden (854). Die minne wiederholt den Sündenfall (883-887). Zwar verlangt Medea Jason ein Eheversprechen ab, bevor sie sich ihm hingibt. Doch bleibt das nebensächlich. 8 'Jason gewinnt das Vließ mit Hilfe von sexueller Verführung, von Zauberei und durch einen Rechtsbruch, indem er Medea entführt. Von Helena erfährt man zuerst anläßlich eines anderen Falles sexueller Gewalt, wenn nämlich die Trojaner auf Rache für die ,Verkebsung' der Schwester des Priamus durch die Griechen sinnen. Paris bietet an, den Griechen seinerseits schaden zuzufügen (2220), indem er sich eine ihrer Frauen, in diesem Fall die ihm von Venus versprochene Trophäe Helena, aneignet. Gewiß, wenn Paris und Helena sich sehen, verlieben sie sich ineinander, doch Paris betreibt die Entführung zunächst einmal als Rache, bei der gleich auch noch der Tempel geplündert wird. Ausdrücklich muß er Helena versprechen, sie nicht als kebse zu behandeln, was vom Vorsatz der Rache her naheläge. Natürlich bleibt es nicht bei der bloßen Entführung. Helena wehrt sich zwar gegen Paris' wenig zurückhaltende Annäherungsversuche, doch ihr Protest verstummt rasch, und mit der Zeit findet sie sich mit dem neuen Liebhaber ab. Der Kommentar des Erzählers ist zynisch: An dem andern tage Was geminret ir klage Rechte dar nach in siben tagen Horte sie nieman niht klagen Bi eime halben iare Minnete sie in vffenbare Do da\ iar vmbe quam Do was sie menelao gram. (2719-2726).
89
Anders als Konrad weiß Herbort auch nichts von einer förmlichen Eheschließung mit dem Segen des Vaters.
450
Moralische Abwertung: Herbort Z u - oder A b n e i g u n g ist eine F r a g e der G e w ö h n u n g an Sexualität, der zehnjährige K r i e g um eine Helena folglich unnützer A u f w a n d ( ι 1 5 0 8 - 1 1 5 2 5 ) . Wenn später in Troja alles nach einer Niederlage aussieht, ist es eine Ü b e r l e g u n g wert, die E n t f ü h rung rückgängig zu machen, Da% wir wider geben Helenam/Die
vns ^ν vnselden in di%
lant quam ( 1 5 ο 3 1 f.; vgl. 1 5 3 9 8 - 1 5 4 0 3 ) . Allerdings ist die Passion nicht immer unentrinnbar, wie sich paradoxerweise gerade dort zeigt, w o auch Herbort mit Verzauberung rechnet. K i r k e nämlich verfuhrt Ulysses mittels eines Tranks (Circe kvnde trenke gegeben/Svlicb
%ouber sulche
spise [ . . . ] , 1763 i f . ; vgl. 1 7 6 5 2 - 1 7 6 6 6 ) . D o c h Ulysses gelingt es trotzdem zuletzt, sich v o n ihr zu lösen. Des wei^ ich wol da^ %ober!ist Gein marines herben ein wint ist
(i7Ö74f.)
Ulysses erweist sich damit als Der selgeste der ie gewart (17628), „als männlichsten, weil die Unabhängigkeit des Mannes und seinen Willen bewahrenden Mann". 9 0 E s gibt moralische G e g e n k r ä f t e gegen die Verhexung, nur werden sie selten mobilisiert. D i e meisten Helden v o r Troja versagen v o r diesem Maßstab. Achill z . B . verliert Da^ beste da% er hete/Sterke
vnd stete ( 1 1 i 6 i f . ) :
Im was gar entrunnen Der fugende der er ie gwan I d a r was er gewesen ein man Do ginc im der manheit Er bleip in einer cranheit Durch polixenen minne (11168—11173) D i e L i e b e zu Polixena macht ihn zum Minnesklaven wie A b s a l o m , Salomon und Samson. A u c h v o n seinem Herzen heißt es, daß es brit unde sot ( 1 1 4 6 8 ) . In der Hitze des K a m p f e s kann er die minne noch einmal bezwingen (Wen daζ er des genas/Da^
im
sin her^e starc was, 1 2 0 8 7 ^ , doch zuletzt geht er unter. E r wird in eine Falle {yerretennisse, 13442) gelockt und v o n einer Ubermacht hingemetzelt. A u f seinem G r a b stein steht: Von wibe verraten ( 1 3 7 7 5 ) . S o reduziert Herbort die Liebespassion seiner Helden auf heillose Verfallenheit an die Sexualität, der nur wenige entkommen. 9 ' In dieser moralischen Perspektive gibt es keinen R a u m f ü r eine positivere Einschätzung der Liebespassion. Sie wird durch nichts entschuldigt und ist kaum je beherrschbar.
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Michael Mecklenburg: So höret wie vlixes sprach. Die Erzählung des Ulysses in Herborts von Fritzlar ,Liet von Trove', in: Erzählungen in Erzählungen (1996), hier S. 53; vgl. S. 52-54· Tatsächlich propagiert der Text durchweg den „Primat der ritterlich-kämpferischen Tugenden" (Mecklenburg in: Erzählungen in Erzählungen, 1996, S. 55), doch scheitern diese gleichfalls in den meisten Fällen. So scheint mir die Kritik an der säkularen Höchstwerten Krieg und minne ganz grundsätzlich.
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Aporien passionierter
Liebe
Dekonstruktion höfischer minne\ Konrads von Würzburg .Trojanerkrieg' Eine solch rigoristische Kritik teilt der Entwurf Konrads von Würzburg im ,Trojanerkrieg' nicht, obwohl die Folgen dieselben sind. 92 Konrad erzählt nämlich von der Faszination der mit allen Vorzügen ausgestatteten, alle Werte einer Gesellschaft vereinenden höfischen minne. Er hat die Liebespassion aus dem Kontext einer religiös motivierten Negativdidaxe gelöst, um sie desto konsequenter in die Katastrophe zu treiben. Die beiden konträren Positionen - radikale geistliche Kritik und höfische Feier der minne — kontaminieren sich wechselseitig, so daß, was der Kritik verfällt, von vollendeter Schönheit ist und vollendete Schönheit sich letztlich als desaströs erweist. Damit dekonstruiert Konrad das höfische Minneideal. 9 ' Er hat die Geschichte von Paris und Helena um weitere Liebesgeschichten ergänzt, die ebenso höfisch idealisiert sind und ebenso schrecklich enden: Jason Medea, Achill - Deidamie, Hercules - Dianira. In diesen Geschichten scheint im landläufigen Sinn alles zu ,stimmen': passende Herkunft, herausragende Eigenschaften, das Urteil der anderen, die Legitimation durch den rettenden Einsatz für eine Frau. Aber minne wird nicht durch allgemein anerkannte Werte begründet, auch nicht durch Drogenwirkung eines Liebestranks entschuldigt, sondern entsteht durch sinnliche Überwältigung. Und obwohl sie ideal scheint, verletzt sie durchweg mehr oder minder drastisch und nachhaltig die gesellschaftlichen Ordnungen und endet schlecht. Die Passion kümmert sich von Anfang an nicht um Hindernisse; sie ist transgressiv, und die Grenzüberschreitung erweist sich als verhängnisvoll. Anders als Gottfried im .Tristan' muß Konrad nicht versuchen, das Norm- und Ordnungswidrige an die geltenden gesellschaftlichen Normen und Ordnungen heranzuschreiben, denn was er erzählt, scheint auf der Oberfläche häufig gar nicht normund ordnungswidrig. Doch weder die Erkenntnis, daß in der Geliebten alle Vollkommenheiten zusammenkommen, noch die Stilisierung zur höfischen vrouwe, deren Anblick alle Männer zu Höchstleistungen anspornt, noch eine nachträgliche Legalisierung der Passion in der Ehe können verhindern, daß minne ihre zerstörerische Potenz entfaltet. Entstehung wie Verlauf sind immer anders, doch stimmen sie in ihrer letztlich negativen Tendenz überein. Das gilt schon für die erste Skizze einer Liebesbeziehung, die minne des Paris zur Nymphe Oenone. Sie ist außergesellschaftlich, im hoffernen Raum einer Hirtenwelt, in die Paris verschlagen wurde. Sie ist eine Va91
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Dabei hat Worstbrock (1996), S. ιηίί. und 28}f. gezeigt, daß die Destruktion durch Liebespassion und durch Krieg entkoppelt sind, Vernichtung also nicht mehr .moralisch' als Strafe für ein Liebesvergehen verstanden werden kann. Minne und Ritterschaft sind dissoziiert. Diese Perspektive öffnet sich schon in Konrads .Engelhard': den Helden bringt seine Liebe an den Rand des Todes (2182—2187); s ' e gleicht der tödlichen Verführung durch die Sirene (2216-2221; vgl. zum Sirenengleichnis im .Tristan' G T r 8091). Im .Engelhard' gelingt es nur, die Katastrophe zu vermeiden.
452
Dekonstruktion höfischer minne: Konrads von Wür^burg ,Trojanerkrieg' riante höfischer minne, jedoch ebenso problemlos wie flüchtig und vergessen, sobald Paris die Hirtenwelt verläßt. Sie erweist die höfische Sublimierung des Minneethos als reine Rhetorik. Ihre Außergesellschaftlichkeit antizipiert die Gesellschaftsfeindlichkeit späterer Minneverhältnisse. Danach spielt Konrad eine Anzahl von Mustern durch, die sonst minne legitimieren. A n Jason und Medea zitiert er das Muster idealisierender Fernliebe. Beide hören zunächst vom lop des anderen und verlieben sich in die Fama: ist noch war und ungelogen,/da^pris die liute machet wert./durch lop vil manges wirtgegert (7642—7644). Dieses lop ist jedoch nur Vorstufe eines blinden sexuellen Begehrens. Vor dem Hintergrund des Musters kann die sinnliche Faszination sich umso schärfer abheben. Wenn sie sich sehen, verfallen sie einer verzehrenden Passion (7657-7665), die das Urteil der anderen rücksichtslos beiseiteschiebt. 94 Besonders an der Liebe von Paris und Helena zeigt sich, wie Konrad durch Uberdetermination scheinbar gültige Legitimationsmuster von innen aushöhlt und zersetzt. Helena ist Paris von Venus versprochen. Als Frau des Menelas ist sie ein Objekt möglicher Rache der Trojaner für frühere Verbrechen der Griechen. Paris' Leidenschaft wird durch die Fama ihrer Schönheit und ihrer Vollkommenheit, stimuliert: ich hin geleit in minen muot ir schane, ir adel und ir tugent und hare sagen von ir jugent so richer Salden wunder, da£ ich durch st besunder wil miden alle vrouwen. mich hat ir pris verhouwen/ und ir name reine (4416-4423). Ihre überwältigende Schönheit überbietet alles, was er von ihr gehört hat: der liumet und da% mare, da^ mir wart von iu geseit, hat mich in dise nSt geleit, da£ min gemiiete brennet, iuch hat min her^e erkennet, e da^ min ouge ersähe da% wilde wunder wahe, daζ iu von klärheit wart gegeben. (21072-21079)"
94
"
Hasebrink (2002), S. 219 schließt aus dem Zitat der Fernliebe, daß „Liebe nicht auf Personalität gegründet" ist, sondern auf lop und ere und ihre Verdichtung im Namen, der im physischen Sinne Medea „in den Ohren klingt und über das Herz das Sehen vermittelt". Aber das ist nur der erste Schritt. Daß ihre Präsenz ihre Fama überbietet (21092-21095; 21080-21085), gehört noch zum Schema. 453
Aporien
passionierter
Liebe
Doch was scheinbar wie eine gewöhnliche Brautwerbung aussieht, ist von Anfang an mehrfach delegitimiert. Die Brautwerbung ist ein Racheakt. Die Fernliebe auf Grund allgemein gepriesener Tugenden spornt nicht zu einer exorbitanten Rittertat an, sondern zu einem Verbrechen. Helena ist verheiratet; die ,Brautwerbung' begründet nicht eine dynastische Ehe, sondern bedeutet Ehebruch. In ihr triumphiert nicht die Bewährung von Fürst und Land, sondern sie ist Vorstufe zu einer rasenden Leidenschaft. Indem Helena Paris als Lohn von Venus zugesagt ist, riskiert er nicht einmal etwas. Konrad ruft alle sekundären Motivationen für Liebe (Stand, Ruhm, Ehre, Vollkommenheit der Gestalt) auf, drängt sie aber letztlich zugunsten der sinnlichen Faszination zurück. Die Grenzen legitimer und illegitimer minne lösen sich auf. Zwar spricht auch Konrad von her^eliebe, doch her^e liebe bedeutet letztlich sexuelle Vereinigung, zielt darauf, ,den willen zu volendeti (7873f.)' 6 oder die Gelegenheit dazu zu schaffen, wo sie fehlt (7871). Das Vokabular höfischer Liebespsychologie wird auf seinen krud sexuellen Kern reduziert. Zweideutig ist auch die Rolle der Fräu als Ansporn zu Ritterschaft. 97 Zwar fehlt die Verknüpfung von minne und ritterlicher Tat nicht völlig. Helenas Anblick reizt die Krieger zu unglaublichen Taten, doch so töbeliche, als in der sin war der mä^e wüetic. si wurden übermüetic, da^ schuof Helenen bilde, da^ vor in da^ gevilde mit sime glance erl&hte (345 5 2 - 3 4 ; 57).
Der Kampfgeist, den Helena inspiriert, führt ins Verderben. Ihr Glanz lenkt die Männer ab, so daß sie sich verkapfe[n] und ungewarnet erschlagen werden (3924239275). Ihr glen^en unde brinnen (39244) verblendet; es läßt die Kämpfer in ihr Verderben rennen: si beide täten schaden gnuoc des males mit ir bilde, ir schoene üf da% gevilde vilgar durliuhteclichen schein
(39274-39277).
Auch die Uberführung der Liebesbeziehung in die Ehe (Jason, Achill, Paris) verhindert nie den unglücklichen Ausgang, hindert Jason nicht, sein Wort zu brechen mit niuwer liebe minne (11203), Achill nicht, Deidamie vor Troja zu vergessen, die Griechen nicht, Paris als Entführer und Ehebrecher zu verfolgen. Bei Herkules ist die Ehe mit Dianira unmittelbar Ursache seines Untergangs. 96 97
Ähnlich 5 847^; oder - in bezug auf Achill - 15456. Zu diesem Motiv Meyer (1994a), S. 159; Lienert (2000), S. 1 3 2 - 1 3 7 . Es setzt im höfischen Roman nicht notwendig eine engere Liebesbeziehung voraus: Wigalois wird z.B. durch den Anblick der Geliebten des Gegners zu höchster Tapferkeit angespornt (WW 7559-7570) 454
Dekonstruktion höfischer minne: Konrads von Wür^burg ,Trojanerkrieg'
Stets dominiert der Eindruck des Verbotenen, selbst wenn die Liebe zuletzt durch die Institution der Ehe abgesichert wird. 9 ' Jason schleicht heimlich ins Schlafgemach der Medea; diese schwankt zwischen minn unde schäm (8718), fürchtet, den Vater zu erzürnen (8633), seine ere zu krenken (8854), wirft sich vor, mäc unde vriunt um eines Fremden willen aufzugeben (8674), mines vater lant um vremdiu riebe (873of.) triuwe und ere zu brechen (8788). Daß sie der Liebe schließlich nachgibt, bedeutet, daß sie von liebe ertaret und ertumbet ist als ein kint (8869^. Ihre Vernunft reicht gerade noch, sich schlafend zu stellen, damit Jason nicht glaubt, sie finde vor inneclicher liebe gir keine Ruhe (8996^). Nachdem er dank Medeas Hilfe das Goldene Vließ gewonnen hat, wird Jason zwar vom König hoch geehrt und erhält nach vierzehn heimlichen Nächten mit Medea sie ganz legal von ihrem Vater zur Ehe (10189-10200). Trotzdem bleibt für Medea ihre Liebe zu Jason ein Treubruch gegen dem Vater und ihrem sippebluot (10431): ich bän verworht er unde leben an minem vater leider (ic>422f.). e£ ist vil sere missetän, da£ ich in eren hän verhert (ic>4z6f.).
Die Passion wird nicht in moralischer Perspektive abgewertet, sondern im Gegenteil in ihrer unentrinnbaren Faszination gefeiert, freilich vor dem Hintergrund der Instanzen, gegen die sie sich richtet. Schon bei Jasons Rückkehr aus Kolchis ist rückblickend und gegen das Erzählte - mit ir [d.h. Medeas] vater ^orne (21461) zu rechnen. An der mangelnden Stimmigkeit der Handlungsfolge 99 ist ablesbar, daß der Widerspruch zwischen Passion und Institution unaufhebbar bleibt. Konrad schildert nicht nur die üblichen Symptome der Liebespassion,' 00 sondern steigert sie zum verzehrenden Feuer: da£ von im ir her%e enbran und ir gemiiete wart en^unt {ηβηβΐ.) ein Runder nie so balde enbrant wart von fiure, noch von ein strö, so balde ir beider herben dS von dem ersten blicke enbran. (7702-7705)
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"
100
8 3 1 5 - 8 3 1 7 ; 832of. 8336f.; 8376-8379; 8434-8439; 8448-8453; 8744-8746; 8 7 5 4 - 8 7 5 7 ; 9076-9080; 9 1 0 8 — 9 1 1 1 ; 9120—9122. A u f den Widerspruch verweisen auch Lienert (1996), S. 63 und Hasebrink (2002), S. 222, der - neben der möglichen genetischen Motivation dieser Inkonsequenz - hier eine „normative[ ] Bruchstelle" vermutet. D i e S y m p t o m e - V e r w u n d u n g durch die minne und ihre Waffen {verseret, verhouwen, versneit usw.), die U m k e h r u n g der Antriebe ( Z ä h m e n der Wildheit, Vergessen des vrien willen, untätiges trüren), die Gefangenschaft garn, striche), die körperlichen Reaktionen (unstete Blicke, erbleichen und erröten, kalt und heiß im dauernden Wechsel) u.ä. (vgl. Schnell, 1985) dienen sonst meist dazu, die ,Verhöflichung' (Elias) des K r i e g e r s zu zeigen.
45 5
Aporien passionierter Liebe ouch bran ir alle^ unde wiel sin lop in ir gemiiete (7734f.). [...] versigelt in ir muote, der in der minne gluote
als in dem fiure ein (sen. (77 5 3—77 55) vor der vil heilen minne brunst, da mite ir her^e enpflammet was
(775 8£).
Die Hitze wird zur Raserei. Achills muot ist tobeliche enbrant,/ da\ er der sinne wart verhert (i4702f.). Die Flammen der Leidenschaft schlagen in wirkliche Flammen um, wenn Medea, rasend vor Eifersucht, der neuen Geliebten Jasons ein Gewand schenkt, das sich entzündet {tobeliche enbrant, 11324), so daß alles von wildem Feuer erfaßt wird und der Geliebte und die andere Frau ^e pulver (11332) verbrennen. Oder wenn die eifersüchtige Dianira dem untreuen Hercules das Hemd des Nessus schickt, in dem der Held verbrutzelt: diu leide gift wiel unde sot/an dem erweiten manne/ und sunkelt als ein pfanne,/ do man spec inne smel^et (38432-38435). Uber die Isotopie des Strahlens 101 und Brennens ist eine aufs höchste gesteigerte höfische Vollkommenheit mit grausigster Vernichtung verbunden. Achill ist üf strit erbrennet als ein gluot (28570); seine Augen werden röt/vor i^orne sam ein wilde^fiur (28 578£); die Damen meinen, er sei unsinnic geworden (28607). Umgekehrt, wenn Paris Helenas Schönheit verfällt, gleichen die körperlichen Symptome der Minnekrankheit denen rasender Kampfeswut: ü^ im begunde brechen/hit^ unde schemelicher swei% [...] (20986f.). Die Intensität des Glanzes kippt auf ihrer höchsten Stufe ins Barbarische und in Destruktion. Die Flamme kann läutern (16036-16041), aber auch töten. Die strahlende Schönheit bricht gewaltsam ins Herz. Io; Paris scheint ein Gott (19613), Helena eine götinne wilde, die Anbetung verlangt (21476-21480). Das Strahlen ist luziferisch. Insoweit ist die Zauberin Medea nicht von den anderen Frauen unterschieden. Minne ist dämonische Verführung und verwandelt die Lie-
101
Konrads Vokabular in der Schilderung des Scheinens ist nahezu unerschöpflich und keineswegs nur an Liebespassion gebunden; vgl. J.-D. Müller (2006): Der Glanz verführt gedungene Mörder, den todgeweihten Säugling Paris zu schonen, verführt die Festgesellschaft bei der Hochzeit der Thetis, dem schönen Hirten Paris die Entscheidung im Streit der Göttinnen anzuvertrauen, verführt Priamus zur leichtsinnigen Mißachtung der Prophezeiung des Untergangs Trojas. Dem strahlenden Anblick, der ougenweide (5704) des jungen Paris, kann niemand sich entziehen. Vom Verderber Trojas heißt es: Paris, der als ein enget schein/lieht unde wunmclich gevar (J7z8f.); er heißt ein glan\er engel (2928); goldglänzend scheint sein Kleid zu brennen (2938^); eine strahlende Fischhaut schmückt das Kleid (2983-2987) - und so geht es weiter mit Strahlen und Glänzen. Medea leuchtet; ihr Haar schein unde bran/in liehter varwe state (7498f.), als ob Golddrähte glänzten üf ir glänzen forme schin (7501—7503); ihr schapel strahlt glan^ von margariten (7513f.); Konrad rühmt ihr lüter angesiht (7525), ihre vrische[] varwe (7533); mit antlit£ und mit cleide/vil glan^er ougenweide (7 541 f.); ihr bilde lüter undeguot (7543); ihre clärheit (7547). Hasebrink (2002), S. 216 weist auf „mariologische[] Referenzen", die die Perversion umso sinnfälliger machen. Ähnliches wird von Deidamia (14684-14695) oder Helena (19676—19680; 19706; 19719; 19908-19989) gesagt. "" des wart er als ein regenboge/'geverwet von der minne/der glänzen küneginne,/ der schiene durch sin her^e brach. (19790-19793); sin glast durchliuhtic unde hei^JAchille dur sin her^e bran (i4694f.).
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Dekonstruktion höfischer minne: Konrads von Wiir^burg ,Trojanerkrieg' benden in dämonische Wesen. D i e buchstäbliche M a g i e der Passion in den G e schichten v o m Liebeszauber ist durch die Mythisierung ihrer psychischen D i m e n sion ersetzt. D i e rückhaltlose Passion ist nur ein A s p e k t des rücksichtslosen E g o i s m u s der höfischen Gesellschaft insgesamt. 1 0 ' S o bleibt o f f e n , was hier w o f ü r instrumentalisiert wird, die A r g o n a u t e n f a h r t für ein Liebesabenteuer oder die Liebesvereinigung für das G e l i n g e n des Abenteuers. J a s o n bringt zwei Trophäen aus K o l c h i s mit, den schaper ütι erkorn/und eine frouwen hochgeborn (\οζ^ηί.).
D a s klingt konventionell nach
G e w i n n v o n Frau und L a n d , so als seien einmal mehr die beiden großen Ziele des höfischen R o m a n s - von minnen und von strife sagen ( 1 3 0 9 1 ) - harmonisiert. D o c h K o n r a d erzählt nicht v o m G e l i n g e n der Synthese, sondern v o n ihrem Scheitern. Wenn das Ziel erreicht ist, gibt J a s o n Medea auf. Beide Ziele sind kontaminiert, das eine als heimlicher Beischlaf, das andere als Raub. Liebe wie K r i e g lösen soziale B i n d u n g e n auf. Einmal v o r Troja, reizen hit^e und gluot, die ihn zuvor für Deidamie entzündeten, Achills K a m p f e s l u s t {%prn), und der G l a n z der Waffen ersetzt den Glanz der Geliebten (28362-28373). Paris' L i e b e zu Helena steht v o n A n f a n g an in einem Z u s a m m e n h a n g Rechtsbrüchen, f ü r die immer wieder buo^ unde be^erunge
von
( 1 8 1 0 5 ) verweigert wer-
den. Ihren A u s g a n g nimmt die K e t t e der G e w a l t v o n einer scheinbar harmlosen Verweigerung des Gastrechts durch den Trojanerkönig Laomedon. 1 0 4 Paris nimmt Helena nicht nur ihrem M a n n , sondern ihrem L a n d w e g (swenn ich berouben wil diζ lant/der glänzen küneginne, 2o626f.). Wenn ihn später Menelaus als diep beschuldigt, rechtfertigt er sich nicht mit seiner Liebe zu Helena, sondern mit dem Wunsch nach Rache: dur vientliche räche fuor ich in iuiver hüs benamen und wil mich nierner des geschamen, ich iu last er drinne tete. (3 4414-3 4417) min base mmneclichgevar wart uns in roubes wis genomen: den schaden hän wir iiberkomen mit einer semelichen tat (34436-34439) lo
' Neben der minm verfolgen die Protagonisten andere Interessen ebenso skrupellos weiter. Jason verliert trotz seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Medea niemals sein eigentliches Ziel, das Goldene Vließ zu stehlen, aus dem Augen, denn das würde seine Ehre berühren und kommt keinesfalls in Frage. Indem er Medea ewige Liebe verspricht, sichert er sich ihre Hilfe und seinen Erfolg. Auf diese Ambivalenz (und ihre Konsequenz für die Einschätzung des Höfischen) hat vor allem Hasebrink (2002), S. 221 hingewiesen. Eine ähnlich zeugmatische Verbindung unterschiedlicher Ziele findet sich bei Paris. 104 Ahnlich wie bei Herbort: Die Griechen rächen sich mit einer ersten Zerstörung Trojas mit Massenvergewaltigungen und der ,Verkebsung' der Schwester des Königs. Paris will das durch die Eroberung Helenas rächen (20590-20595). Bei dieser Gelegenheit reflektiert Konrad über die Geringfügigkeit der Ursachen katastrophaler Geschehnisse (13022-13067).
457
Aporien passionierter Liebe U n d wenn Helena über die G e w a l t klagt, dann gilt die K l a g e nicht Menelas, sondern dem lant, der gülte, der mrdikeit, und friunden
dem pris, dem lop, dem Verlust v o n lantspräche
(vgl. 22595-23623). D a s ist dann rasch vergessen: wan si da volle fröude vant. man unde kint, Hut unde lant lie si da feiner hende gän und wolte lüt^el ahte hän ir eren unde ir guotes (22961-22965).
M a n kann nicht entscheiden, ob Leidenschaft ein Machtspiel maskiert oder umgekehrt hinter dem Machtspiel rücksichtslose Verwirklichung sexuellen Begehrens steckt, denn beide Seiten ritterlichen Handelns denunzieren sich trotz ihres Glanzes gegenseitig. Minne ist gewaltsam. Deshalb kann auch die N o t z ü c h t i g u n g der Frauen bei der ersten E r o b e r u n g Trojas ( i 2 9 5 2 f . ) minne genannt werden (12974), ein
jamerlicher
minne spil freilich (12957). Achill verhält sich zur Geliebten wie der Wolf zum L a m m (i4882f.). Wenn er handgreiflich wird, w i r f t Deidamie ihm v o r , er verhalte sich reht als ein man und als ein kneht./ wiplich nature und mplich reht/verbieten sus getanen spot (16749-16751),
woraus
zu schließen
ist, daß
sein
ringen zwar unfröuwelich
ist
(V. 16760), aber doch bei einem Mann nicht unerwartet. Achill ist bereit, sein L e b e n zu riskieren - das klingt nach ritterlichem E t h o s , meint aber nur, daß er mit liebe sinen muotgelusfa)
zu erfüllen trachtet (16959), da% er die maget wunnevar/besliefe und ir
gelage bi {i67o8f.).
D i e schäme hat nichts mehr zu sagen; min wille muo^ an dir geschehen
(16835). D i e Szene oszilliert zwischen erotischer Faszination und Sündenfall: st was ein wol gewahsen maget und schein der süe^en minne fruht an ir so %itic mit genuht, da£ si daζ niht ungerne sach, daζ er da^ edel obe^ brach, da% in ir wunnegarten stuont. (16970-16975) L i e b e s k a m p f und Vergewaltigung sind nicht zu unterscheiden. Deidamies weibliche schäme reduziert sich darauf, den Schein zu wahren, indem sie so tut, als werde sie vergewaltigt: si dühte unschemelicher da er läge ir mit gewalte bt (i6984f.).
IO
' Als sinnliches Begehren auch 20952. - Dasselbe Wort (dur muotgelust) wählt Konrad, um den Bau der unmäßig hohen Mauern des neuen Troja zu motivieren (17355); der prächtigepalas entsteht dur vrien übermuot (17557): Es besteht ein untergründiger Zusammenhang zwischen der Rücksichtslosigkeit der Liebespassion und der unbekümmerten Demonstration von Macht. In der Geschichte des Paris ist beides kausal verknüpft. 458
Dekonstruktion höfischer minne: Konrads von Wür^burg ,Trojanerkrieg' Ihr nachträgliches G e b a r e n alsam ein schemic wip (17060) ist pure Heuchelei.' 0 6 A u c h Helena zieht den Anschein der G e w a l t vor, wenn sie sich Paris hingibt.' 0 7 Paris bemerkt, daß sie was enbrennet als ein hol (22889): diu schane diu bran unde wiel von minnen gar gründe, so vaste si begunde erhitzen unde erwarmen, da£ under sinen armen diu guote nider sleif £ehant. (22916-22921) E r begreift, si wolte, swes er bate,/ da^ er si des betwünge noch (224i4f.), so daß die E n t f ü h r u n g in roubes wise ( 2 1 4 2 1 ; 22473)
-
da diese Helenas L e u m u n d nicht mindert
- letztlich einvernehmlich stattfindet. D i e Liebe Achills und Deidamies wird mit der Tristans und Isoldes verglichen. D e r Vergleich ist zweideutig: A u f der Oberfläche wird ihr von der huote ungetrübtes Liebesglück über die v o n ha% und Zuträgerei bedrohte Liebe der Helden Gottfrieds gestellt, doch setzt das implizit voraus, daß beide im K e r n vergleichbar sind. Sie sind es in ihrer Asozialität. Diese Asozialität schließt vorübergehende gesellschaftsk o n f o r m e L ö s u n g e n nicht aus, doch reichen sie nicht weit: Achill wird Deidamie mit dem Segen des Vaters heiraten, das K i n d , das sie empfangen hat und das zuerst erfolgreich v o r den anderen v e r b o r g e n worden war, wird nachträglich legitimiert, aber er wird nie mehr zu ihr zurückkehren." 5 8 K o n r a d greift auf das ganze Arsenal höfischer E r o t i k zurück, um die Vollkommenheit wechselseitiger Liebe zu beschreiben, doch macht er immer auch die K o sten geltend: Paris vergißt die prophezeite Z e r s t ö r u n g Trojas, gibt lant und mäge preis; er lie^ üf einer wäge/Troi unde sine friunde sin (22974-22977). D i e Trojaner freuen sich über den roup, den er heimbringt, und feiern mit allem höfischen P o m p die neue E h e , ein Brauch, den K o n r a d sich nur mit der heidenschefte der damaligen Zeiten ( 2 3 2 1 1 ) erklären kann. Grundiert wird die Festesfreude durch die Unglücksprophetien der Kassandra, die weiß: da^ er diζ wip ge^ücket hat (23326), wird hie manigem manne/lip unde leben %ücke[n] (233 54^.). Kassandra wird weggeschlossen. D a s Unglücksszenario wird hinter die höfische Fassade gedrängt.
,0
2 9 l f · , 3 3 3 5-555, 574f·,
Loher
Fortunatus 273 Frau Ava 69^, 112, 17if. Friedrich von Hausen 43;
395-598
507
Register Gottes Zukunft 274 Heinrich von dem Türlin, Diu Cröne 45, 171» i75> 2I3> 23°> 2 3 6 f ·, 2 45~ 2 5 2> 2 68, 271, 296, jojf., 325f-, 3 2 8-333, 337, 3^7^, 420, 427
Heinrich von Veldeke, Eneit 49-51, 150, 349f-> 3 5 5f·, 379-383, 386, 389, 393, 418, 422-427 M F r 58,35
435
Herbort von Fritzlar, Trojanerkrieg 150, 449-451, 457 Historia de preliis 8of., 85 Hieronymus 68, 108 Hrabanus Maurus 68
49,
Das Mädchen ohne Hände 76 Magnificat 66 Mai und Beaflor 39, 76, 129-131, 399 Marie de France, Lanval 92, 428 Melusinensage 42, 96f., 427f. Minnesang, -allegorie 285, 305^ 327, 339341, 363, 418, 435, 440, 443
Münchner Oswald 123, 125-129, 387 Robert Musil 259 Nibelungenklage 46, 143, 461 Nibelungenlied 31, 73-76, i42f., 160, 178, 232f., 273, 275-280, 285, 293, 343, 347, 351, 36;, 368, 371, 438, 461
Nibelungensage 48 Jansen Enikel 37 Jehan d'Arras 96-98 Johann von Würzburg, Wilhelm von Osterreich 48f., 5 zf., 73, i 7 i £ , 215-217, 32;, 375f-> 38;, 39°, 399, 401, 421 f. Justinus 82 Kaiserchronik
Orendel 12;, 129 Orosius 82 Ortnit 128 Oswald —> Münchner Oswald, Wiener Oswald Otfried von Weißenburg 317 Otte, Heraclius 73, 118-120, 141
83, 117, 133, 158, 222, 335f.,
422
Königstochter von Frankreich 76 Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur 47, ij2f., 297f., 399-404, 420 Konrad von Fußesbrunnen, Kindheit Jesu 71, iiof., 113f., 116 Konrad von Würzburg, 59 Alexius 73, 120-123, 2 74 Engelhard 62-65, 222-224, 3°°f·, 3°3,
Partonopeu de Blois 28;, 416 Petrus Lombardus 322 Philippe de Beaumanoir i29f. Pleier, Garel 48, 175f., 230, 480 Meieranz 48, 182-184, 2 3 ° Tandareis 48, 273 Priester-Johannes-Brief 319-323 Prosa-Lancelot 44, 50, 80, 100-103,
Partonopier 2
33, 47, 52, 63, 96, 238, 283-
3 5 5 , 363, 378, 39 l f ·, 4 M - 4 2 2 , 4 2 6, 460478 Protevangelium des Jacobus 68f., 112 Pseudo-Kallisthenes 8of. Pseudo-Matthäus 68f.
9°> 375, 410-417, 42of., 429, 431
Der Schwanritter 93-96, 99, 105 Silvester-Legende ii7f., 141, 273 Das Turnier von Nantes 230 Trojanerkrieg 1, 49^, 56-58, 60-62, 238, 311f., 315£, 350, 422, 426, 452-460, 480
Kudrun
7;, 272, 344, 364-375, 380
Lamprecht, Alexanderlied Laurin 160 Liber de infantia 69 Thomas Lirer 37 Lohengrin 94, 145 Martin Luther 108
IC>6,
142-144, 158, i7if., 175, i86f., 205-216, 230, 262-271, 273, 324f., 337f-, 346, 3 5 1 -
3 1 3 - 3 1 5 , 356, 375, 452
Quilichinus von Spoleto
73, 81-85
81
Reinbot von Durne, St. Georg 150-154 Reinfried von Braunschweig 73, 131^404407
Rittertreue 387 Roman d'Eneas 350, 423-426 (Großer, Wormser) Rosengarten 165 508
159-161,
Register (König) Rother 47, i28f., 265, 365, 369 Rudolf von E m s , Alexander 73, 84-89, 91, 2 74 Wilhelm von Orlens 146-149, 186, 280283, 285, 287, 298, 346f., 3 7 ; , 385f. Ruodlieb 317 Salman und Morolf 233 Statius, Achilleis 61 Stricker, Daniel von dem blühenden Tal 1 7 6 - 1 7 8 , 324f., 376, 392 Hofhund und Jagdhunde ;8f. Thüring von Ringoltingen, Melusine 100, 428f. Tristan als Mönch 252
96-
Ulrich von Etzenbach, Alexander 37, 39, 73, 88-91 Wilhelm von Wenden 54-56, 135f., 1 4 1 , 158, 292, 3 57f. Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst 209, 306 Ulrich von Türheim, Rennewart 66f., 136, 139, 1 6 3 - 1 6 9 , 172, 343!., 461, 476f. Tristan 230, 2 3 4 ^ 257, 262, 422, 436, 4 4 1 445. 461, 476 Ulrich von dem Türlin, Willehalm (Arabel) 66f., χ 3 6 - 1 3 9 , 461 Ulrich von Zatzikoven, Lanzelet 59, 143, 172, 186-192, i94f., 2C5f., 210, 214, 296, 326-329, 3 3 1 , 333, 360, 393-395 Valerius Maximus 8of. Vergil 245, 424, 426 Vincenz von Beauvais 92f. Vita beate Marie rhythmica 6 9 - 7 1 , 1 1 1 , 1 1 3 115
509
Richard Wagner 233, 303, 419, 437f. Waltharius 317, 340 Walther von Chätillion 8i Walther Map 92 Walther von Rheinau, Marienleben 69^ 111-115 Walther von der Vogelweide 306, 480 Peter Weiss 4 Priester Wernher, Marienleben 69-72, 1 1 1 114, 116 Schweizer Wernher, Marienleben 70-72, 1 1 0 - 1 1 6 , 172 Wernher der Gartenasre, Meier Helmbrecht 2
53 Wiener Oswald 123, 125f. Wigamur 59, 187, 1 9 2 - 1 9 5 , 2 °6> 2 I o , 214 Wilhelms-Prosa i68f., 343f. Wirnt von Gravenberg, Wigalois 51 f., 54, 144-146, 17 I f., 188, 237-240, 242f., 245f., 248, 252, 256, 261, 264, 268, 271, 325, 375 Wolfdietrich A 73-80, 142, 344f. Wolfdietrich D 78-80, 142, 1 6 1 - 1 6 3 , i 6 5 . 2 3°, 344f· Wolfram von Eschenbach, 39, 47, 59, 126, 184, 340 Parzival 32, 48, ;2f., 59, 130, 142, i44f., 150, 175, 184-186, 192, 199-204, 2 1 3 , 22of., 226, 2 3 1 , 240, 249f., 255, 264, 296, 312, 318, 323f., 356, 384, 388-390, 394, 4 2 ° , 443. 479f· Willehalm 4 1 , 50, 53, 136, 1 jof., 163, 166, 2 I 3 f - , 323> 343. 345f·» 359. 4»o Titurel 103