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German Pages [544] Year 2004
Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben
Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 153
Vandenhoeck & Ruprecht
Anja Bettenworth
Gastmahlszenen in der antiken Epik von Homer bis Claudian Diachrone Untersuchungen zur Szenentypik
Vandenhoeck & Ruprecht
Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-25252-8 Hypomnemata ISSN 0085-1671 © 2004, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhaltsverzeichnis 1. Theoretische Grundlagen 1.1 Einleitung: Methodische Vorbemerkungen....................................... 1.2 Der Begriff »Gastmahl«.................................................................... 1.3 Der Begriff »Szene«.......................................................................... 1.4 Der Begriff »Strukturelement«.......................................................... 1.5 Forschungsstand................................................................................
9 13 16 22 25
2. Die Typik der Gastmahlszene 2.1 Das typische Schema einer Gastmahlszene....................................... 35 2.2 Die Strukturelemente des typischen Schemas.................................... 46 3. Die Norm: Der wohlhabende Gastgeber 3.1 Vorbemerkung: Die homerischen Gastmahlszenen.......................... 3.2 Interpretationen ................................................................................ 3.2.1 Das Gastmahl bei Dido (Verg. Aen. 1,695-3,718)......................... 3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra (Lucan. 10,107-333).........................
111 143 143 178
4. Abweichungen von der Norm: Ungewöhnliche Gastgeber 4.1 Vorbemerkung................................................................................... 4.2 Interpretationen ................................................................................ 4.2.1 Bescheidene Umstände: Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14).... 4.2.2 Der hilflose Wirt: Die Argonauten bei Phineus (A.R. 2,176-536). 4.2.3 Bewirtung ohne Wirt: Hannibal in Capua (Sil. Ital. 11,259-368)..
215 215 215 277 338
5. Exkurs: Antigastmähler 5.1 Vorbemerkung................................................................................. 5.1.1 Die Kyklopenszene der Odyssee.................................................. 5.1.2 Die übrigen Antigastmähler: Die Bewirtung................................ 5.1.3 Die übrigen Antigastmähler: Der Kampf..................................... 5.1.4 Die Antigastmähler und die Besonderheit der Freiermordszene.
395 396 430 446 470
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Inhalt
6. Ergebnisse..........................................................................................
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Literaturverzeichnis................................................................................ Index nominum et rerum........................................................................ Index locorum......................................................................................... Appendix: Übersicht über die berücksichtigten Gastmahlszenen..........
491 509 511 524
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die für den Druck überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2002 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster angenommen wurde. Nach Ende 2002 erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Die Anregung zu dieser Studie stammt von meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Adolf Köhnken, der die Arbeit zu jeder Zeit und auf jede erdenkliche Weise gefördert hat. Einen besseren Doktorvater hätte ich mir nicht wünschen können. Ich bin ihm sehr dankbar. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Matthias Baltes †, der sich trotz schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung zur Übernahme des Korreferates bereiterklärte. Die Publikation der Arbeit hat er nicht mehr erlebt. Die Abfassung der Dissertation wurde durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes ermöglicht, die auch das Studium gefördert und einen Forschungsaufenthalt in der Fondation Hardt unterstützt hat. Ihr sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Beim Lesen der Korrekturen halfen Martin Busse, Claudia Glanemann, Guido Gunderloch, Marcus Heckenkamp, Christian Horstmann, Carolin Jakobs, Markus Mülke, Dr. Claudia Schindler, Elisabeth Serafim und Roswitha Wethkamp. Sie haben, ebenso wie Maria Vrysa, auch durch Gespräche zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der Hypomnemata, besonders Herrn Professor Dr. Siegmar Döpp, für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe, Frau Dr. Blech und Herrn Markus Eidt vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die freundliche und kompetente Betreuung bei der Drucklegung sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung für ihren großzügigen Druckkostenzuschuß. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern und meiner Schwester in Liebe und Dankbarkeit. Münster, im Oktober 2003
Anja Bettenworth
1. Theoretische Grundlagen 1.1 Einleitung: Methodische Vorbemerkungen Mahlbeschreibungen gehören zum Kernbestand der antiken epischen Dichtung. Vielfach bilden sie Glanzpunkte der Darstellung und nicht selten läßt der epische Erzähler zentrale Ereignisse hier ihren Anfang nehmen, wenn zum Beispiel Odysseus während des Mahls die tatkräftige Hilfe der Phäaken erwirkt, die ihn schließlich nach zehnjähriger Irrfahrt in die Heimat zurückbringen (Hom. Od. 7,191-193), oder wenn Dido beim gemeinsamen Schmaus ihre lange Liebe zu Aeneas »trinkt« (Verg. Aen. 1,749). Die besonderen gestalterischen Möglichkeiten, die gerade eine Bankettschilderung dem epischen Dichter bietet, erwachsen aus ihren inhaltlichen Vorgaben. Da das gesellige Zusammentreffen mehrerer Figuren im Wesen des Gastmahls angelegt ist,1 lassen sich hier individuelle Charakterdarstellungen organisch in die Erzählung integrieren.2 Der Festsaal selbst bietet Anknüpfungspunkte für eine Ekphrasis, mit der der Dichter nicht nur seine poetischen Fähigkeiten unter Beweis stellen, sondern auch inhaltliche Aussagen treffen kann.3 Nicht zuletzt ergibt sich die Möglichkeit, Exkurse in Form von Vorträgen zwanglos in die fortlaufende Handlung einzufügen und so das Epos kunstvoll zu strukturieren (man denke an die Erzählungen des Odysseus und des Aeneas über ihre Erlebnisse oder an den gelehrten Vortrag des ägyptischen Priesters über die Nilquellen [Lucan. 10,194-331]). Angesichts der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten wäre zu erwarten, daß die einzelnen Gastmahlschilderungen deutlich voneinander abweichen, vor allem in der für das Lesen bestimmten hellenistischen und römischen Epik.4 Statt dessen zeigen sich jedoch auffällige strukturelle Übereinstim1 Die Verbindung von Umtrunk und Konversation ist in der griechischen und römischen Literatur auch außerhalb des Epos selbstverständlich, vgl. z.B. Call. fr. 178 Pf. 15f.: ... MjL POW TÎD mLHYW Ô T OÆ MÎNON ÉDATOW AÁSAN mLL TI KA¹ LSXHWOÁNOWXEINYLEI 2 Vgl. die Tatkraft des Eumaios im vierzehnten Buch der Odyssee und das laszive Gebaren der Kleopatra in der Pharsalia (Lucan. 10,141-143). 3 Vgl. zur homerischen Ekphrasis z.B. BECKER (1995), bes. 42-44 und SIMON (1995) 123-141. Zur antiken Ekphrasistheorie s. z.B. GRAF (1995) 143-155. 4 Tatsächlich vertritt HUNTER (1989) 39 die Auffassung, daß Apollonios innerhalb seines Werkes jeweils nur ein Beispiel für eine typische Szene verwende: »A. does not repeat scene-types, such as feasting or arming: one example of each suffices. Where such
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mungen, die bis in Details reichen, vgl. die Rolle der Sänger beim Mahl (Hom. Od. 8,72-82; 8,266-366; 8,499-520; A.R. 1,496-511; Verg. Aen. 1,740-747; Sil. 11,288-297), die Beschreibung der mit kostbaren Polstern geschmückten Sitze und Liegen (Od. 7,95-97; Verg. Aen. 1,697-700; Lucan. 10,123-126; Sil. 11,272-274) und die Parallelen in der Hervorhebung von Zahl und Tätigkeiten der Mägde und Diener.5 Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Entwicklung der epischen Gastmahlszene und ihrer Bestandteile zu geben, welcher die Unterscheidung zwischen den individuellen Eigenheiten eines Dichters und epochen- bzw. gattungstypischen Konventionen ermöglicht. Vor allem soll die Frage geklärt werden, ob sich für die Gastmahlszenen aller Epochen ein diachron ausgerichtetes Referenzmodell entwerfen läßt, das die gleichbleibenden Elemente vereinigt und als Interpretationshilfe eingesetzt werden kann. Ein solches Schema, verbunden mit dem notwendigen Kommentar, kann helfen, die Darstellungen der einzelnen Autoren, ihre Arbeitsweise und ihr Verhältnis zu den Vorgängern besser zu beurteilen und ihre eigene schöpferische Leistung zu würdigen. Der Nutzen eines schematischen Überblicks auf synchroner Ebene ist unumstritten, s. z.B. SAÏD (1979) 13 zum Begriff ›scène typique‹ bei Homer: »Elle [sc. la scène typique] [...] constitue [...] une ›norme poétique‹ et un schéma idéal qui permet de mettre en relation toute une série de développements, de les lire les uns par rapport aux autres et de mesurer d’éventuels écarts. Quand il s’agit de banquet [...] les écarts sont même plus intéressants que le type qui permet de les apprécier.« Auch für das diachrone Schema gilt, daß gerade die Abweichungen von der Norm oft interessante Beobachtungen ermöglichen. Neben inhaltlichen Aspekten (z.B. der Darstellung der Dienerschaft und der Wiedergabe von Gesprächen und Liedern) sollen bei der Interpretation vor allem Fragen der Erzähltechnik berücksichtigt werden, z.B. der Erzählstandpunkt, die Auswahl der dargestellten Elemente und die Anspielungen auf Vorgänger. Dieser diachrone scenes do occur, the Homeric pattern is usually either abbreviated or broken up.« Ähnlich schon AREND (1933) 127f. Gegen diesen allgemeinen ›Konsens‹ wendet sich CAIRNS (1998), der bei Apollonios ein wiederholtes Schema für »Ankunft« und »Abreise« nachweist. 5 Zahlenangaben z.B. Hom. Od. 7,103 (Odysseus bei den Phäaken); Verg. Aen. 1,703 (Aeneas bei Dido); Angaben über die Tätigkeit z.B. Hom. Od. 4,52-58 (Telemach bei Menelaos); A.R. 3,271-273 (Jason bei Aietes); Verg. Aen. 1,701-706 (Aeneas bei Dido); Sil. 11,274-277 (Hannibal in Capua); Claud. rapt. Pros. 2,317-321 (Hochzeitsmahl von Pluto und Proserpina).
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Ansatz ist in der Forschung bislang nur in Bezug auf einzelne Autoren und Epochen (Bezüge zwischen Apollonios und Homer, Vergil und Homer, der flavischen Epik und Homer, sowie zwischen Vergil und Apollonios) verfolgt, aber nie konsequent auf lange Zeiträume und eine größere Gruppe von Autoren angewandt worden (s. dazu unten den Forschungsüberblick). Die Untersuchung erstreckt sich auf griechische und lateinische Epen mit fortlaufender Handlung von Homer6 bis Claudian, da bei den Dichtern dieses Zeitraums die Kenntnis ihrer jeweiligen Vorgänger vorausgesetzt werden kann. Nicht berücksichtigt werden fragmentarisch erhaltene Dichtungen wie die »Hekale« des Kallimachos, die frührömischen Epen des Livius Andronicus, Naevius und Ennius7 sowie spätere griechische Epiker wie Quintus Smyrnaeus oder der unbekannte Verfasser der Orphischen Argonautika, die in größerer zeitlicher Distanz wirkten, und bei denen nicht geklärt ist, ob und wie weit sie die lateinische Literatur rezipierten.8 Auch die Werke christlicher Dichter gehören nicht zum Untersuchungsgegenstand, da ihre Gastmahlschilderungen vor allem von den biblischen Schriften, besonders den Abendmahlsdarstellungen und der Beschreibung der Hochzeit von Kanaa, beeinflußt sind, die anderen Maßstäben gehorchen als die nichtchristliche Epik. Diese Zusammenhänge näher zu beleuchten, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Nur bedingt herangezogen werden außerdem thematisch ausgerichtete Gedichte wie die »Theogonie« und die »Werke und Tage« Hesiods sowie die Metamorphosen Ovids, bei denen die Szenen nicht nach dem Prinzip einer fortlaufenden Handlung, sondern nach stofflichen Gesichtspunkten angeordnet sind. Szenen aus den Metamorphosen werden aber im Rahmen eines Exkurses zu den blutig endenden Mahlbeschreibungen berücksichtigt,
6 Der Begriff »Homer« wird im folgenden aus praktischen Gründen für den oder die unbekannten Verfasser von Ilias und Odyssee verwendet. Dabei gehen wir von der Annahme aus, daß die schriftliche Fassung der Ilias früher als die der Odyssee entstand. 7 Es steht fest, daß die Epen des Naevius und die Annalen des Ennius Bankettschilderungen enthielten. Das längste, sicher zu einer Gastmahlszene gehörige Fragment findet sich im siebten Buch der Annalen (fr. 234ff. V. = 268ff. SKUTSCH). Zu den »Anspielungen auf symposiastische Situationen« in der frührömischen Epik, die von den antiken Philologen als passender Rahmen für ein Selbstportrait des Dichters (Sängers) aufgefaßt wurden, s. RÜPKE (2001) 50f. 8 Die Vergilrezeption des Quintus Smyrnaeus behandelt GÄRTNER in ihrer für die Reihe »Zetemata« angekündigten Arbeit »Die Griechen und Vergil. Beiträge zu Quintus Smyrnaeus.« Zur Rezeption lateinischer Dichter in den orphischen Argonautika s. z.B. die Ausgabe von VIAN (1987) 22-28.
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da sie die ausführlichsten erhaltenen Belege für diese Sonderform darstellen. In den zehn Epen, die den Auswahlkriterien entsprechen (es handelt sich neben Ilias und Odyssee um die Argonautika des Apollonios Rhodios, Vergils Aeneis, die Pharsalia Lukans, die Punica des Silius Italicus, die Thebais und die Achilleis des Statius, die Argonautica des Valerius Flaccus und Claudians mythologisches Epos »De raptu Proserpinae«) finden sich insgesamt 40 Gastmahlszenen, die im Hinblick auf einen gemeinsamen Grundbestand von Elementen und erzähltechnischen Eigenheiten ausgewertet werden. Soweit die Auswahl der Szenen vom Textkorpus früherer Untersuchungen abweicht (dies gilt in erster Linie für die Auswahl der homerischen Szenen im Vergleich zu REECE [1993]), werden die Entscheidungen unten begründet. Die zahlreichen anderen, teils recht kurzen Erwähnungen von Mahlzeiten und Bewirtungen dienen als Kontrollgröße, die die Ergebnisse ergänzen oder modifizieren. Das auf dieser Grundlage gewonnene Referenzmodell einer epischen Gastmahlszene wird nach einer theoretischen Einführung, die eine Definition der zentralen Begriffe »Szene«, »Gastmahl« und »Strukturelement« sowie einen Überblick über die bisherige Forschung umfaßt, näher vorgestellt und kommentiert. Die Erläuterungen geben jeweils einen Überblick über Häufigkeit, Funktion und diachrone Entwicklung der einzelnen Elemente der Szene und sind als Hilfe bei der Textanalyse zu verstehen. Wie das »typische Schema« eines epischen Gastmahls bei der Interpretation eingesetzt werden kann, wird anschließend an fünf Beispielen aus verschiedenen Epochen gezeigt, die in unterschiedlicher Weise auf den Grundtyp Bezug nehmen. Ihnen ist ein summarischer Überblick über die Typik der homerischen Gastmähler vorangestellt, die die frühsten für uns faßbaren Beispiele dieser Szenen darstellen. Die Untersuchung schließt mit einem Exkurs über blutig endende Gastmähler (im folgenden als »Antigastmähler« bezeichnet), die in der Kyklopenszene und im Freiermord der Odyssee vorgebildet sind, sich aber erst in der kaiserzeitlichen römischen Epik zu einem eigenen Traditionsstrang entwickeln, der mit Hilfe des typischen Schemas nur bedingt erfaßt werden kann.9 9 Als Gegenbegriff zur Gruppe der »Antigastmähler«, auf deren Kampfphase das typische Schema nicht anwendbar ist, wird in dieser Arbeit die Bezeichnung »reguläre Gastmahlszenen« verwendet. Als »regulär« gilt eine Szene, die sich mit den Regeln des typischen Schemas erfassen läßt.
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1.2 Der Begriff »Gastmahl« Das gemeinsame Speisen mehrerer Personen, wie wir es in antiken (bildlichen und literarischen) Darstellungen fassen können, wird in der Forschung unterschiedlich bezeichnet. Dabei spielen sowohl der kulturelle Hintergrund, als auch Zweck und spezielle Ausprägung des Mahles eine Rolle. Zur Bezeichnung eines im griechischen Kulturkreis verbreiteten Typus des geselligen Mahles, das in ein von Gespräch, Unterhaltung und einem besonderen Komment geprägtes Trinkgelage mündete, verwenden Historiker heute in der Regel die Bezeichnung »Symposion« (abgeleitet von SUMP¸NV, eig. »Zusammentrinken«); doch wird dieser Begriff in der antiken Literatur nicht als Terminus technicus gebraucht.10 Zwar ist SUMPÎSI ON als Titel des berühmten platonischen Dialogs spätestens seit der Kaiserzeit geläufig,11 doch Platon selbst bezeichnet, so MARTIN (1931) 149f., das Treffen bei Agathon, vor dessen Hintergrund das Werk spielt, »schlechthin als SUNOUS¸A,12 bald wieder als SÃNDEIPNON13 oder DEºPNON14 niemals aber als Symposion. Xenophon gebraucht weder die eine noch die andere dieser Bezeichnungen, spricht aber doch deutlich von einem Mahle bei Kallias15; Plutarch sagt SUMPÎSION16sowohl als DEºPNON17; Athenaios, der
10 S. dazu die Darstellung von SCHMITT-PANTEL, DNP 4 (1998) s.v. Gastmahl II. Griechenland 801, wo die Symposia als eigene Untergruppe mit festem Komment eingeführt werden: »Diese Mahlzeiten [sc. die Symposia] folgen strengen Regeln.« Für den angelsächsischen Sprachraum s. den Titel des von MURRAY (1990) herausgegebenen Sammelbandes »Sympotica. A Symposium on the ›Symposium‹«. 11 S. dazu die Ausgabe von JAHN (1875) 1-4 mit Belegen aus Gellius, Diogenes Laertius, Proklos, Plutarch und Philo. 12 Platon, symp. 172 B:PRÎTERONDMOID ÔWE»PSÄAÆTÏWPAREGNOUT SUNOUS¸ TAÃT×OÈ 13 Platon, symp. 172 B: NAGXOW SE ZTOUN BOULÎMENOW DIAPUYSYAI TN b"GjYVNOWSUNOUS¸ANKA¹T¤NoLLVNT¤NTÎTENT¯SUNDE¸PN¡ PARAGE NOMNVN; 176 E: SUGXVREºN PjNTAW M DIk MYHW POISASYAI TN N T¯ PARÎNTISUNOUS¸AN 14 Platon, symp. 174 A: KA¹TÏNE»PEºNÔTIP¹DEºPNONE»Wb"GjYVNOW 15 Xenoph. symp. 1,4: STIlNGkRMLLV"ÆTÎLUKONKA¹TÏNPATRAAÈTOU; 1,7O¼OÌNmMF¹TÏN4VKRjTHNOÆXÇPISXNOÅNTOSUNDEIPNSEIN 16 Plut. symp. 146 C: T¤NPTkGGONETÏSUMPÎSION 17 Plut. symp. 150 B: D &ÈMHTIW KjYISE PARk TÏ DEºPNEºN; 150 C: TOIAÅTA MN KEºNOI PRÏW mLLLOUW pMA DEIPNOÅNTEW PAIZON MO¹ D TÏ DEºPNON EÆTELSTERÎNTITOÅSUNYOUWÒR¤NTINNOEºNPEI[...]
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seinerseits von Platons SUSS¸TION18spricht, [...] weiß immer nur von einer SUNOUS¸A oder einem DEºPNON19, obwohl er offensichtlich mit Platon in Konkurrenz treten will.« Nur im literaturgeschichtlichen Sinn bezeichnet der Begriff Symposion technisch eine »literarische Form in Dialogen zur Erörterung eines Themas.«20 Diese Konnotation verbietet seine Anwendung auf die besonderen Bedingungen der antiken Epik, bei der das Mahl nicht selbständig, sondern zusammen mit anderen Szenen als Teil eines größeren Ganzen erscheint. Im Mittelpunkt steht hier nicht die philosophische Unterweisung oder die unterhaltsame Präsentation unterschiedlicher Wissensgebiete in lockerer Folge, sondern der Fortgang der epischen Erzählung. Aus demselben Grund scheiden auch die manchmal für eine eigenständige, dem Symposion recht ähnliche Literaturgattung verwendeten Begriffe DEºPNONund convivium als Bezeichnung für das epische Gastmahl aus.21 In den Arbeiten, die sich mit Banketten in der antiken Epik befassen, hat es sich daher eingebürgert, zur Bezeichnung des Mahls keine griechischen oder lateinischen Ausdrücke, sondern Wörter aus den modernen Sprachen zu wählen, wobei jedoch oft keine genaue begriffliche Differenzierung vorgenommen wird. Am gebräuchlichsten ist im deutschen Sprachraum der allgemeine Terminus »Mahl«, der ungefähr dem englischen »feast« entspräche. Während »Mahl« jedoch bei AREND das gesamte Zusammensein bezeichnet, dessen Kern das gemeinsame Essen bildet, wird »feast« in der angelsächsischen Literatur außer für eine Bewirtung insgesamt auch nur im engeren Sinn für den Verzehr der Speisen verwendet, welcher seinerseits 18 Athen. I 4 E mGNOEºD ÔTIO¼NT¯1LjTVNOWSUSSIT¸¡ÑKT£KA¹E½KOSI SAN 19 Athen. I 1 A -ARNSIOW[...]TOÄWKATkPlSANPAIDE¸ANMPEIROTjTOUWN [TOºW] AÇTOÅ DAITUMÎNAW POIOÃMENOW I 1 C O¼ D N T¯ DE¸PN¡ DYEN PIDHMSANTEW DEIPNOSOFISTA¸ I 2 A AÆTÎW METEILHF£W TW KALW KE¸NHW SUNOUS¸AWPAR oLLOUMAY£NTOºWTA¸ROIWDIEJEIW 20 WILPERT (1964) 694. 21 Eine Diskussion dieser Literaturgattung findet sich bei MARTIN (1931) 156-166. In den homerischen Epen bezeichnet DEºPNON gewöhnlich eine »Mahlzeit am Tage«, LFE 2 (1991) 239 s.v. DEºPNON. Dagegen bedeutet oRISTON ein »Frühstück, eigentlich das Essen in der Frühe, die erste der drei Mahlzeiten, welche früh am Morgen [...] eingenommen wurde. In besonderen Fällen konnte die erste Mahlzeit jedoch auch in einem (gehaltvollen?) DEºPNON bestehen.« LFE 1 (1979) 1287 s.v. oRISTON. %ÎRPON steht gewöhnlich für eine »Abendmahlzeit (nach der Tagesarbeit und vor dem Schlafengehen)« LFE 2 (1991) 335 s.v. DÎRPON. Zu den bei Homer seltener erwähnten Begriffen E»LAP¸NH (Festschmaus) und RANOW (ein schlichteres Mahl, zu dem jeder Teilnehmer selbst einen Anteil beisteuerte) s. RUNDIN (1996) 185f.
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einen Bestandteil einer komplexen Szene, zum Beispiel eines Opfers oder der Bewirtung eines Gastes, darstellt.22 Solche Bewirtungsszenen im weiteren Sinne, die im Englischen in der Regel nicht als »feasts«, sondern als »hospitality-scenes« bezeichnet werden, umfassen in einigen Arbeiten nicht nur die eigentliche Aufnahme, sondern alle Ereignisse von der Ankunft des Gastes bis zu seiner Abreise.23 In der deutschen Forschungsliteratur trägt ein Festessen, das unter Beteiligung von Fremden stattfindet, in der Regel die Bezeichnung »Gastmahl«, wobei sich der Begriff, anders als das englische »hospitality-scene«, nicht nur auf einen wirklichen Fremden bezieht, der auf einer Reise bei einem örtlichen Gastgeber einkehrt, sondern ebenso auf die Bewirtung von Freunden, die der Gastgeber eigens zum Mahl eingeladen hat.24 Da das Wort »Gastmahl« überdies als gängige Übersetzung von »Symposion« gebraucht und in diesem Sinn z.B. als Titel philosophischer Dialoge benutzt wird,25 kann es nicht ohne genauere Definition für die Beschreibung epischer Konventionen verwendet werden. Im folgenden wird »Mahl« als allgemeine Bezeichnung für ein gemeinsames Essen gebraucht, und zwar ohne Rücksicht auf Zahl und Art der Teilnehmer, den betriebenen Aufwand oder den Anlaß des Beisammenseins. Von einem »Gastmahl« im eigentlichen Sinn sprechen wir nur, wenn es sich tatsächlich um ein Mahl zum Empfang eines Gastes handelt, nicht aber, wenn die Teilnehmer ungebeten zusammenkommen oder schon länger gemeinsam leben, wie Odysseus und Kalypso (s. Hom. Od. 1,13-15 und 5,13-15). Als »Gastmahl« ist daher die Aufnahme von Athene/Mentes durch Telemach zu bewerten (Hom. Od. 1,102-323), nicht aber das gleich22 RUNDIN (1996) 186 gibt mit dem Wort »feast« das griechische DA¸Wwieder. REECE (1993) 7 bezeichnet mit »feast« den aus »Preparation«, »Consumption« und »Conclusion« bestehenden Kern einer Bewirtung. 23 REECE (1993) 5: »In the hospitality scene, I include everything that occurs from the moment a visitor approaches someone’s house until the moment he departs.« PLANTINGA (1996) 5 schließt sich dieser Definition an. 24 S. z.B. BINDER, DNP IV (1998) s.v. Gastmahl III. Rom: »Zum Gastmahl wurde zeitig eingeladen.« 25 S. für die Neuzeit z.B. HÜBSCHER (1987) und die online-Ausgabe des Gnomon, die als Alternative zum Suchbegriff »Gastmahl« das Schlagwort »Symposium Platonis« anbietet. WILAMOWITZ (1919) 354 wehrte sich heftig, wenn auch vergeblich, gegen die Übersetzung des Titels SUMPÎSION durch »Gastmahl«: »Die moderne Unsitte des Diners läßt ganz abgesehen von der Zahl schon durch die Fresserei mit ihrem monotonen Luxus nicht nur ein wirkliches Gespräch, sondern auch die Stimmung dazu kaum aufkommen. So ist es denn auch eine Absurdität, den Titel Symposion mit Gastmahl zu übersetzen.«
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zeitig stattfindende Gelage der Freier, bei dem die jungen Adligen der Insel eigenmächtig das Haus des Odysseus besetzen. Ferner gilt zwar das Abschiedsfest der Argonauten am Strand von Iolkos als Gastmahl (A.R. 1,450518), da Jason hier als Einladender in Erscheinung tritt,26 nicht aber ihr Schmaus in Mysien, wo sich die nunmehr zu einer Mannschaft zusammengewachsenen Helden mit dem von den Einheimischen zur Verfügung gestellten Proviant eine Ruhepause gönnen (A.R. 1,1182-1186). Die Gastmahlszene umfaßt nicht nur die reine Nahrungsaufnahme, sondern auch die unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Handlungen, die zur Bewirtung des Besuchers dienen. Oft malen die Epiker gerade die Rahmenhandlung farbig aus, während die Speisen und ihr Verzehr knapp geschildert werden. Man vergleiche z.B. das Gastmahl bei Kleopatra (Lucan. 10,107-333), wo der Festsaal, Kleopatras Kleidung, die geschäftigen Diener und das Gespräch mit dem Priester 219 Verse einnehmen, während der Tafelluxus in gerade neun Hexametern, der Genuß der Speisen überhaupt nicht erwähnt wird. Eine Analyse der Darstellungstechnik kann daher die rahmenden Partien nicht übergehen.
1.3 Der Begriff »Szene« Eine nähere Bestimmung des Begriffs »Szene«, wie er im folgenden verstanden wird, ist vor allem deshalb erforderlich, weil der Terminus in der Forschung sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. AREND (1933), der auf eine genauere Bestimmung verzichtet, versteht unter »Szene« offenbar einen einfachen Vorgang – zum Beispiel »Bad«, »Mahl« oder »Schlaf« – unabhängig davon, ob dieser in einen größeren Handlungszusammenhang eingebettet ist (z.B. in die Bewirtung eines Gastes). Ihm folgen u. a. NAGLER (1974), EDWARDS (1975) und SAÏD (1979), die in demselben Sinne von »type-scenes« bzw. »scène typique« sprechen. GUNN (1971) dagegen wählt unter Berufung auf LORD (1951 und 1960) für denselben Gegenstand die Bezeichnung »theme«, verzichtet aber ausdrücklich darauf, LORDS allgemein gehaltene Definition näher zu spezifizieren. Dieser hatte den Begriff »theme« bestimmt als 26 S. zuvor die führende Rolle Jasons bei dem Opfer, das dem Mahl vorausgeht, A.R. 1,406f.: mGLHYENPIPROHKANoGONTEWBOUKÎLOI"»SON¸DAODÃVBÎE. und Val. Flac. 1,250-310, s. bes. 1,248-251: ›ite, viri, mecum dubiisque evincite rebus / quae meminisse iuvet nostrisque nepotibus instent. / Hanc vero, socii, venientem litore laeti / dulcibus adloquiis ludoque educite noctem!‹.
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»a recurrent element of narration or description in traditional oral poetry. It is not restricted, as is the formular, by metrical consideration; hence, it should not be limited to exact word-for-word repetition. It is approximately what Arend has called ›die typischen Scenen‹ in his work on Homer [...]. Regular use, or repetition, is as much a part of the definition of the theme as it is of the definition of the formular, but the repetition need not be exact. Strictly speaking, we cannot call an action or situation or description in the poetry a theme unless we can find it at least twice.«27
Im Gegensatz dazu bezeichnen FENIK (1968), REECE (1993), PLANTINGA (1996) und HELLMANN (2000) mit dem Begriff »Szene« einen komplexen, zielgerichteten Vorgang, der mehrere Handlungsschritte (bei der Bewirtung eines Gastes z.B. »Mahl«, »Bad« und »Schlaf«) umfassen kann.28 Diese komplexe Struktur belegt andererseits DIMOCK (1963) 50 mit dem Terminus »stock motif« (im Unterschied zur einfachen »type-scene« im ARENDSCHEN Sinn), während EDWARDS (1975) 53 für denselben Sachverhalt den Ausdruck »narrative pattern« bevorzugt. In seiner Untersuchung gebraucht er jedoch synonym dazu den Begriff »episode« (vgl. S. 54: »The episode contains elements of the following type-scenes...«). Dieselbe begriffliche Unklarheit findet sich auch in Arbeiten zur lateinischen Epik. JUHNKE (1972) VIII verzeichnet unter der Überschrift »Szenenanalysen zu Statius’ Thebais und Achilleis« ein Kapitel »Das Gastmahl«, bezeichnet den Vorgang innerhalb des Kapitels jedoch als »Szenenfolge.«29 In der modernen Theorie des Theaters bildet die »Szene« das primäre Bauelement eines Stücks, das durch die Einheit von Ort, Zeit und Figuren konstituiert wird.30 Die Figuren führen bestimmte Handlungen aus, welche 27 LORD (1951) 73. S. dazu GUNN (1971) 1 Anm. 1: »This general definition will suffice to get our inquiry under way and no attempt will be made here to extend, modify, or clarify it.« 28 PLANTINGA (1996) 3 unterscheidet allerdings im Anschluß an KNIGHT (1995) 23 bei der Definition des Begriffs »type-scene« nicht deutlich zwischen einfachen und komplexen Handlungen: »The term typical scene (or type-scene) is used to describe an action or set of actions which is repeated several times within an epic.« Synonym dazu erscheint in den Kapitelüberschriften der Begriff »episode«, vgl. z.B. S. 120 »Phineus Episode (2.176-536)«. Wiederkehrende Elemente innerhalb einer »type-scene« bezeichnet sie als »motifs.« 29 JUHNKE (1972) 63: »Hauptteil dieser ganzen Szenenfolge, der auch das Erscheinen der Töchter Adrasts (1,533-539a) in den Hintergrund treten läßt, ist die große aitiologische Erzählung des alten Königs (1,557-672).« 30 LÄMMERT (1993) 92f.
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am Ende der Szene zu einem mindestens vorläufigen Abschluß gelangt sind. Die inhaltliche Einheit bildet damit eines ihrer wesentlichen Kennzeichen.31 Fortschritte oder Rückschritte der Fabel spielen sich innerhalb einzelner Szenen ab, welche dann zusammengefaßt den dramatischen Akt mit seinen spezifischen Aufgaben innerhalb des Stückes ergeben. Anfang und Ende der Szene kann der Dramatiker jeweils durch das Auf- bzw. Abtreten der Hauptpersonen oder durch den Wechsel der Kulisse markieren. In der antiken Dramentheorie dagegen sind die Einheiten ›Akt‹ und ›Szene‹ noch nicht deutlich voneinander getrennt. Aristoteles verwendet in seiner Poetik den Begriff PEISÎDION (eigentlich: Das »Auftreten«) einerseitsfür den gesamten Abschnitt zwischen zwei Chorliedern, der durch das Erscheinen der Personen geprägt ist und am ehesten dem modernen Begriff »Akt« entspricht,32 daneben aber nach AICHELEs Ansicht auch »zur Bezeichnung der kleineren szenischen Einheit ›Auftritt‹«.33 In übertragenem Sinne bedeutet das Wort bei Aristoteles »die einzelnen Vorfälle im Geschehensablauf eines Mythos oder einer Dichtung, deren Details, ekphrastische Einschübe usw.«34 Aufgrund der umstrittenen Bedeutung der Termini ver31 Die Einheit der epischen Handlung insgesamt fordert schon Aristoteles, der darauf hinweist, daß eine Einheit von Protagonist, Zeit und Ort allein nicht ausreiche, Ar. Poet. 1451a 16-32: .ÅYOWD ST¹NEÂWOÆX¨SPERTINWO½ONTAIkNPER¹
NAPOLLk GkR KA¹ oPEIRA T¯ N¹ SUMBA¸NEI J ¬N N¸VN OÆDN STIN
N 0ÉTVW D KA¹ PRjJEIWNÏWPOLLA¸E»SINJ¬N M¸A OÆDEM¸A G¸NETAI PRlJIW 9R OÌN TÏNMÅYONPE¹PRjJEVWM¸MES¸WSTIMIlWTEEÁNAIKA¹TAÃTHWÔLHW 32 Ar. Poet. 1452b 20f.: PEISÎDIONDMROWÔLONTRAG¡D¸AWTÏMETAJÄÔLVN XORIK¤N MEL¤N. Dazu KÖHNKEN (1990) 136-149 mit einer Diskussion früherer Forschungsansätze. 33 Ar. Poet. 1449a 28 (im Rahmen einer Aufzählung der Veränderungen, die die Tragödie seit Aischylos durchgemacht hat): TI D PEISOD¸VN PLYH. S. dazu AICHELE (1971) 49 Anm. 9: »Mit PLYH muß die Anzahl der Auftritte gemeint sein, die von fünf in den Persern bis auf siebzehn in den Phoinissen steigt [...]. Die Zahl der Epeisodien dagegen vermehrt sich von Aischylos zu Euripides praktisch nur um eins.« S. dazu Ar. Poet. 1451b 34f.; 1455b 13.16; 1459a 35; 1459b 30. 34 AICHELE (1971) 48f. Zu ähnlichen Ergebnissen war schon NICKAU (1966) gekommen, der für die aristotelischen Begriffe PEISÎDION / PEISODIOÅN eine enge Bedeutung (PEISÎDION = »Akt«, S. 160) und eine weitere Bedeutung (PEISODIOÅN = »Auftritte schaffen« S. 170 Anm. 38) annimmt. Für »die Stellen, an denen man PEISÎDION mit ›Akt‹ übersetzen mag«, (S. 160) führt er Ar. Poet. 1452b 16 und 20; 1456a 31 sowie mit Vorbehalt den oben (Anm. 33) zitierten und von AICHELE im Sinne von »Mengen der Auftritte« gedeuteten Halbsatz TI D PEISOD¸VN PLYH an. Die Untersuchung geht von dem Lob Homers in 1459a 35 aus (N MROW mPOLAB£N PEISOD¸OIW KXRHTAI AÆT¤N POLLOºW OÂON NE¤N KATALÎG¡ KA¹ oLLOIW PISOD¸OIWDIALAMBjNEITNPO¸HSIN). Dieses war als Indiz gewertet worden, daß Aristoteles die ›Epeisodia‹ als ›Nebenhandlungen‹ betrachte, durch die die Erzählung
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zichten wir im folgenden darauf, antike Begriffe zur Abgrenzung der behandelten Textabschnitte zu verwenden.35 Aristotelisch ist dagegen die Einsicht, daß ein Epiker seine Erzählung mit ähnlichen Mitteln gliedert wie ein Tragödiendichter, so daß die Einteilungskriterien des Dramas bis zu einem gewissen Grad auf das Epos übertragen werden können.36 Indem der epische Dichter seine Aufmerksamkeit von bestimmten Figuren ab- und anderen zuwendet, erzielt er einen Effekt, der dem physischen Auftreten oder Verschwinden auf der Theaterbühne gleicht. Ähnliches gilt für die Veränderung des Schauplatzes bzw. der Kulisse. 37 Zusätzlich kann der Dichter den Szenenwechsel durch auktoriale Äußerungen ankündigen und so deren Wirkung erhöhen.38 Unter »Szene« soll daher mit NICOLAI (1973) eine »Konstellationseinheit« verstanden werden, die die Erzählung gliedert und durch die Einheit von Ort, Zeit, Handlung und Handlungsträgern als geschlossenes Bauelement kenntlich gemacht ist. Daraus folgt, daß Exkurse, die gerade in den Gastmahlschilderungen häufig vorkommen, zwar auf ihre Funktion und ihren Bezug zu der Szene befragt werden müssen, daß aber ihr Inhalt als solcher nicht zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand gehört, da er sich nach Ort, Zeit, Handlung und oft auch Handlungsträgern von der Mahlszene, welche den Hintergrund bildet, unterscheidet. Man denke an die Erzählungen des Odysseus am Hof der Phäaken, die an mehreunterbrochen und ›aufgelockert‹ werde. Demgegenüber versteht NICKAU den aristotelischen Begriff PEISÎDION als szenische Ausarbeitungen der Strukturformel, die dem Epos bzw. dem Drama zugrundeliegt. 35 Die Unzulänglichkeit des aristotelischen PEISÎDION-Begriffs für eine moderne Strukturanalyse vertritt MATTHIESSEN (1964) 16: »Wenn man [...] Wert darauf legt, tiefere Einsichten in den Bau einer Tragödie zu gewinnen, sollte man sich nicht mit einer Gliederung nach MRH zufriedengeben. Denn mit Hilfe der aristotelischen Begriffe läßt sich nur eine sehr schematische Einteilung vornehmen, oft sogar nicht einmal das.« 36 Ar. Poet. 1459b 7-12: TI D Tk E½DH TAÆTk DEº XEIN TN POPOI¸AN T TRAG¡D¸ GkR nPLN PEPLEGMNHN YIKN PAYHTIKN ,A¹ Tk MRH JVMELOPOI¸AWKA¹ÓCEVWTAÆTjKA¹GkRPERIPETEI¤NDEºKA¹mNAGNVR¸SEVN KA¹PAYHMjTVNTITkWDIANO¸AWKA¹TNLJINXEINKAL¤W. S. dazu SCHWINGE (1990) 1-20. 37 S. dazu PATZER (1996) 98: »Die deutlichste Markierung der Szenengrenzen ist das durch Detailgenauigkeit vergegenwärtigte Auf- und Abtreten von Personen, mit dem der Wechsel von Konstellationseinheiten sichtbar wird,« und ebd. 99: »Ein weiterer optisch besonders eindringlicher Indikator ist der Schauplatzwechsel. Er ist nicht völlig verbindlich [...], aber wo der Ort des Geschehens wechselt, setzt immer auch eine neue Szene ein.« 38 Vgl. Verg. Aen. 3,718: conticuit tandem factoque hic fine quievit.
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ren weit entfernten Schauplätzen spielen, oder an die Irrfahrten des Aeneas, die dieser während des Mahls bei Dido in einer zusammenhängenden Schilderung rekapituliert (Aeneis Bücher 2 und 3). Über den Erinnerungen des Gastes tritt das Bankett einschließlich der Zuhörerschaft zeitweilig zurück. Diese relative Eigenständigkeit gehört nach antiker Theorie zum Wesen der Exkurse.39 Eine Besonderheit bilden Szenen, in denen der Dichter außer dem Mahl auch die Erlebnisse von Teilnehmern wiedergibt, die das Beisammensein für kurze Zeit verlassen. Ob in diesen, den Exkursen nahestehenden Fällen auch die Zeit nach ihrer Rückkehr als Teil der Gastmahlszene zu werten ist, wird danach beurteilt, ob sich die Mehrheit oder nur wenige der Anwesenden entfernen (›Einheit der Handlungsträger‹ beim Mahl), ob die Bewirtung während ihrer Abwesenheit am selben Ort andauert (›Einheit von Zeit und Raum‹) und ob die Entfernung einzelner Charaktere vom Dichter als ein mit dem Mahl verbundenes, vorübergehendes Geschehen gekennzeichnet wird (›Einheit der Handlung‹).40 Die Ereignisse außerhalb des Schauplatzes werden analog den für Exkurse entwickelten Kriterien behandelt. 39 Man vergleiche z.B. die Warnungen Theons vor überlangen Exkursen (PAREKBjSEIW), die vom eigentlichen Gedankengang ablenken könnten. (Theon. Prog. 80,30, p. 41 Patillon: PARAITHTON D KA¹ TÏ PAREKBjSEIW MBjLLESYAI METAJÄ DIHGSEVWMAKRjW.). Zur Diskussion bei Platon und Aristoteles vgl. ERLER (1994) 318330. 40 Diese Kriterien treffen auf vier Szenen zu: Beim Mahl der griechischen Heerführer im neunten Buch der Ilias, während dessen die Presbeia zu Achill beschlossen wird, bleiben die Teilnehmer so lange versammelt, bis die Boten – deren Verhandlungen mit Achill in einer eigenen Gastmahlszene dargestellt werden – mit einer negativen Antwort zurückkehren (s. die Mahnung des Aias Hom. Il. 9,626-628: mPAGGEºLAIDTjXISTAXR MÅYON%ANAOºSIO¾POUNÅN
ATAIPOTIDGMENOI; Rückkehr der Boten Hom. Il. 9,669-713). Ebenso erwarten die Argonauten in den Phineusszenen des Apollonios Rhodios und des Valerius Flaccus beim Schmaus das Erscheinen der Boreaden, die sich an die (vom Dichter geschilderte) Verfolgung der Harpyien gemacht haben, um Phineus von den Ungeheuern zu befreien und ein sicheres Gastmahl zu gewährleisten (s. A.R. 2,308: PANNÃXIOI#ORVMNONU¼AWGRSSONTEW und Val. Flac. 4,528-530, wo die Tätigkeit der übrigen erst nach der Rückkehr der Boreaden wiedergegeben wird: mox abit [sc. uterque filius Aquilonis] et sociae victor petit agmina puppis. / Interea Minyae pulsa lue prima Tonanti / sacra novant). Zur Version des Apollonios s.u. S. 303f. Beim Besuch des Hannibal in Capua verläuft das Gelage ungestört, während Pacuvius etwas entfernt seinen Sohn von einem Attentat auf den speisenden Hannibal abzubringen versucht. Die (in Ausschnitten) wörtlich zitierte Unterredung bleibt von den übrigen unbemerkt, so daß die Ereignisse nach ihrer Rückkehr als Abschluß einer fortlaufenden Gastmahlszene erscheinen, Sil. 11,366f.: tum reddere sese / festinant epulis et tristia fronte serenant, s. dazu unten S. 390-392.
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Eine Sonderrolle spielen auch die Ekphraseis von Gebäuden oder ihren Bestandteilen, die sich unter Umständen mit den Exkursen berühren können. Kennzeichnend ist für sie die Anschaulichkeit, die schon die antike Kunsttheorie zum Stilprinzip erhob: KFRAS¸W STI LÎGOW PERIHGHMATI KÏW NARG¤W ÆP ÓCIN oGVN TÏ DHLOÃMENON.41 Vor allem, wenn Kunstwerke mit bildlichen Darstellungen beschrieben werden, kann sich eine Nähe zu Exkursen ergeben. Ob eine Ekphrasis erzähltechnisch als digressio einzustufen ist, muß danach beurteilt werden, wie stark die Bindung an die Hintergrundszene ausfällt. So wird bei einigen Beschreibungen durch Angabe der verarbeiteten Materialien, durch wiederholte Bezüge auf den Betrachter oder Verweise auf die räumliche Anordnung der Bildmotive der Eindruck eines zur Kulisse gehörenden Kunstwerks gewahrt, obwohl die dargebotenen Informationen nicht für eine exakte Rekonstruktion des Gegenstandes ausreichen.42 Andere Ekphraseis stehen dagegen den eigentlichen Exkursen näher und stellen kaum Verbindungen zwischen dem beschriebenen Objekt und seiner Umgebung her.43 Aus der Definition der »Szene« ergibt sich, daß nur solche Ekphraseis voll in die Analyse einbezogen werden, bei denen die Einheit mit der umrahmenden Szene nach Ort, Zeit, Raum und Handlungsträgern während der Schilderung deutlich gewahrt bleibt. Bildet ein Kunstwerk dagegen den Ausgangspunkt für eine Beschreibung, während der die zugrundeliegende Szene – ähnlich wie bei den eingeschalteten Erzählungen der Figuren – zurücktritt, so wird die Ekphrasis wie ein solcher erzählerischer Exkurs behandelt und nur soweit in die Analyse einbezogen, daß ihre Funktion für die rahmende Szene deutlich wird. Während beim epischen Gastmahl der Beginn der Szene sinnvoll mit der Ankunft des Gastes, oder, wenn diese nicht beschrieben wird, mit dem 41 Theon Prog. 118,7f. (p. 66 PATILLON). 42 S. die Beschreibung der ziselierten Opferschale des Adrast (Stat. Theb. 1,544-551), auf welcher Perseus und Ganymed abgebildet sind, wobei der Dichter auch während der Ekphrasis darauf hinweist, daß es sich um ein Kunstwerk handelt (V. 1,545f.: iam iamque in vagas – ita visus – in auras / exilit; V. 1,546f. über das Gorgonenhaupt: languentiaque ora / paene movet vivoque etiam pallescit in auro; V. 1,548: hinc. Ein bekanntes Beispiel außerhalb von Gastmahlszenen ist die Darstellung der Gemälde im Tempel von Karthago, wo mehrfach räumliche Angaben gemacht werden (V. 1,467f. hac - hac; V. 1,469: nec procul hinc; V. 1,474: parte alia) und die Perspektive des Aeneas konsequent durchgehalten ist (V. 1,456 videt, V. 1,461 en Priamus, V. 1,464 animum pictura pascit, V. 1,466 videbat, V. 1,470 agnoscit). 43 Dazu zählen außerhalb der Gastmahlszenen die Bilder auf der kostbaren Decke, Catull carm. 64,52-115.
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Schauplatzwechsel »in den Festsaal« gleichgesetzt werden kann, gestaltet sich die Festsetzung ihres Endes nicht immer einfach. Am übersichtlichsten sind die Verhältnisse in Szenen, in denen unmittelbar nach der Bewirtung (mit oder ohne Nachtruhe) ein Schauplatzwechsel folgt. Zuweilen verbringt ein Besucher jedoch nach dem Gastmahl noch einige Zeit im Haus seines Wirtes, bevor er sich zur Abreise entschließt. Solche Aufenthalte können unabhängig von der Länge der erzählten Zeit summarisch zusammengefaßt werden, d.h. die Mahlszene geht in ein »gleichförmig fortschreitendes« (ZIELINSKI) Geschehen über – ein nach PATZER (1996) 99 »sehr eindrucksvoller und oft gebrauchter Indikator der Szenengrenze« – sie können aber auch zu detaillierten Schilderungen unterschiedlicher Aktivitäten einschließlich weiterer Mahlbeschreibungen ausgestaltet sein. In diesen Fällen betrachten wir, um eine Vergleichbarkeit der Szenen zu gewährleisten, für die Etablierung des typischen Schemas nur die Bewirtung, die mit dem Empfang des Fremden verbunden und daher im oben definierten Sinn als »Gastmahl« zu verstehen ist. Die während eines längeren Aufenthalts folgenden Mahlzeiten, die nicht mehr der Aufnahme eines Ankömmlings dienen, orientieren sich ebenfalls am typischen Schema, doch heben vor allem die nachhomerischen Dichter hier oft nur einzelne Details hervor. Solche Mähler werden daher nur als Ergänzung herangezogen.
1.4 Der Begriff »Strukturelement« Ähnliche Schwierigkeiten wie beim Begriff »Szene« ergeben sich bei der Definition ihrer regelmäßig wiederkehrenden Bestandteile. Am ehesten fallen solche Details in den homerischen Epen ins Auge, wo dieselben Vorgänge oft mit Formelversen ausgedrückt werden. MILMAN PARRY erwähnt sie beiläufig in seiner Definition einer »typical scene«: »There are certain actions which tend to recur in the Iliad and Odyssey, and which, each time they do recur, are told again with many of the same details and many of the same words. Arend calls such passages ›typical scenes‹«.44 MINCHIN (2001) 32 schließt sich PARRYS Definition einer typischen Szene an und bezeichnet deren kleinere Bestandteile als »recurrent ideas or events, some or all of which are expressed each time Homer refers to that scene.« MINCHINS Auffassung von der Funktion der typischen Szenen und ihrer Elemente unter44 PARRY (1971) 404 (Es handelt sich um eine aus dem Jahr 1936 stammende Rezension zu AREND [1933]).
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scheidet sich jedoch von der PARRYS und LORDS. Diese hatten angenommen, daß typische Szenen oder »themes« als Blöcke vom Sänger gelernt worden seien und dazu dienten, das Gedächtnis des mündlich improvisierenden Künstlers zu entlasten.45 Diese Theorie weist MINCHIN mit dem Argument zurück, daß den typischen Szenen Erfahrungen aus der realen Lebenswelt des Sängers (sogenannte »scripts«) zugrundelägen, so daß sein Gedächtnis durch die Darstellung dieser selbstverständlichen Vorgänge nicht belastet werde.46 Allerdings müsse der Sänger sich technische Fertigkeiten, wie die Formelsprache des Epos und die Gesetze des Metrums, aneignen, bevor er seine »natürlichen« Kenntnisse in eine epische Schilderung umsetzen könne. Die Betonung der ›realen Lebenswelt‹ des Sängers – ein Begriff, der zahlreiche Unbekannte enthält – führt dazu, daß die erzähltechnischen Konventionen, die die Szenen und ihre Bestandteile ebenfalls prägen, zu wenig berücksichtigt werden. Diese lassen sich jedoch in den nachhomerischen, besonders den römischen Epen sicher nachweisen, bei denen wir über die zu ihrer Entstehungszeit üblichen Bräuche aus anderen Quellen recht gut informiert sind. Die wiederkehrenden Elemente, die wir in lateinischen Gastmahlszenen antreffen, stellen kein getreues Abbild römischer Gepflogenheiten dar, sondern beruhen größtenteils auf epischen, d.h. literarischen Konventionen. Dies zeigt sich u.a. in der reduzierten Zahl und Art der Speisen beim Mahl, dem weitgehenden Fehlen historisch gut bezeugter Bräuche wie dem Salben und Bekränzen des Haares und der nach Art und Zahl beschränkten Vergnügungen nach dem Mahl. Bei der Frage, wie der Begriff »Strukturelement« einer typischen Szene gefaßt werden soll, können die Überlegungen J.-P. MARTINS gute Dienste leisten, die auf der Analyse typischer Szenen in den altfranzösischen chansons de geste beruhen. MARTIN (1987) 316 unterscheidet in Anlehnung an 45 S. z.B. LORD (1960) 92: »The singer always has the end of the theme in his mind. He knows where he is going. As in the adding of one line to another, so in the adding of one element in a theme to another, the singer can stop and fondly dwell upon any single item without losing a sense of the whole. The style allows comfortably for digression or for enrichment. Once embarked upon a theme, the singer can follow his own pace.« 46 MINCHIN (2001) 39: »Homer, along with other singers and all the members of their audiences, would have acquired them [sc. the scripts] in the normal course of living either through his experience of life in the real world, or through listening to the stories of others. [...] Thus, both poet and audience hold in memory scripts for setting out on a journey, preparing a meal, dressing, preparing a bed and so on; these are routines which they have often witnessed and performed.«
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die sprachwissenschaftliche Trennung von langue und parole zwischen der Inhaltsebene (diégèse) und der Ausdrucksebene (expression), die bei der Konstituierung jeder Äußerung zusammenwirken. Die Strukturelemente gehören zur Inhaltsebene und formen zusammen die typische Szene als »une série ordonée et autonome d’action.« (ebd. S. 320). Dabei werden die einzelnen Elemente unter denselben erzähltechnischen Bedingungen (z.B. »Gastmahlszene«, »Kampfszene«) regelmäßig eingesetzt, um einen essentiellen Gedanken (z.B. »Vorbereitung des Mahls«, »Nachtlager«) auszudrükken. Auf der Ausdrucksebene können die Strukturelemente unterschiedlich realisiert werden. MARTIN trennt zwischen dem cliché rhétorique, das gleichsam die ›Substanz‹ eines Ausdrucks (»substance de l’expression«) bildet (für das Strukturelement »Nahrungsaufnahme« zum Beispiel ein Subjekt, das den Speisenden angibt, und ein finites Verb, das den Verzehr bezeichnet), und der formule, mit der diese Vorgaben in konkrete Sprache umgesetzt werden (ebd. S. 323). Formules für den Speisevorgang, die sich auf dasselbe cliché rhétorique zurückführen lassen, sind bei Homer z.B. AÆTkR Ö PºNE KA¹ SYE DIjKTOROW b"RGEIOFÎNTHW (Hom. Od. 5,94) und AÆTkR Ö PºNE KA¹ SYE POLÃTLAW DºOW b0DUSSEÃW (Hom. Od. 7,177). Diese Bestimmung berührt sich in einigen Punkten mit der Definition, die PARRY für den homerischen Formelvers entwickelt hat, doch legt PARRY den Nachdruck auf eine Übereinstimmung im Wortlaut und eine identische Stellung der Formel im Hexameter. Ein homerischer Formelvers ist danach »a group of words which is regularly employed, under the same metrical conditions, to express a given essential idea.«47 Für eine diachrone Untersuchung, welche neben Ilias und Odyssee, die zahlreiche feststehende Wendungen enthalten, auch Epen umfaßt, bei denen dies in geringerem Maße der Fall ist, eignet sich PARRYS Formelbegriff daher weniger als der MARTINS. Obwohl nämlich die »metrical condition«, unter der die einzelnen Strukturelemente auf der Ausdrucksseite realisiert werden, von Epos zu Epos stark schwanken kann, so lassen sich die Elemente doch zumindest in einigen Fällen auf ein gemeinsames cliché rhétorique zurückführen (das der Wendung PºNE KA¹ SYE DIjKTOROW b"R GEIOFONTEWzugrundeliegende cliché »Subjekt plus Verb« findet sich in der nachhomerischen Dichtung auch A.R. 2,305: DA¸NUTO 'INEÄW und Sil. 11,283: vescitur ipse). Wo sich aus diachroner Perspektive auf der Aus47 PARRY (1939) 80.
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drucksseite keine sicheren Gemeinsamkeiten nachweisen lassen, dienen die in den untersuchten Szenen regelmäßig wiederkehrenden inhaltlichen Übereinstimmungen als Kriterium für die Bestimmung der Strukturelemente. Im folgenden nehmen wir solche Strukturelemente in das typische Schema einer Gastmahlszene auf, die in der Mehrzahl der berücksichtigten griechischen und lateinischen Szenen auftreten (zum Schema s. S. 45). Ausnahmen von dieser Regel bilden das »Warten auf der Türschwelle« (16 Belege), die supplicatio (Hikesie) und der Gesangsvortrag. Die supplicatio erscheint zwar nur in gut einem Sechstel der untersuchten Szenen, dient dort aber als Ersatz für ein »Warten auf der Türschwelle«, bzw. für die »Begrüßung«, so daß sie zusammen mit dem Warten auf der Schwelle als Variante in das Schema aufgenommen wird. Der Auftritt eines Sängers wird im Zusammenhang mit einer Gastmahlszene zehnmal ausführlich wiedergegeben, doch ist der Einfluß der Lieder auf die weitere Handlung und das Verständnis der Epen so groß, daß wir den Gesang trotzdem als Element des Schemas werten.48 Drei Elemente (III: »Beschreibung«, V: »Begrüßung«, VII: »Das eigentliche Mahl«) werden in Unterpunkte gegliedert, um einen besseren Überblick zu ermöglichen. Als Unterpunkte werden Bestandteile gewertet, die in der Mehrzahl der Belege für das jeweilige Element erscheinen. Eine Ausnahme bildet der Unterpunkt VIIb: »Genuß von Speisen und Getränken«, der nur in 15 von 40 Szenen erscheint. Da er aber den Kern eines Mahles bildet, wird er trotzdem in das typische Schema aufgenommen.
1.5 Forschungsstand In der umfangreichen Forschungsliteratur, die in den letzten achtzig Jahren zum Thema »Szenentypik« erschienen ist, lassen sich grob zwei Ansätze unterscheiden: 1) Untersuchung werkimmanenter Wiederholungen (hauptsächlich auf die Epen Homers angewandt) 2) Untersuchung intertextueller Referenzen zwischen verschiedenen Epen mit Hilfe der Szenentypik. 48 Die Entscheidung wird dadurch gestützt, daß Musik in der Odyssee als natürlicher Bestandteil eines Mahls gilt, auch wenn ein Sänger nur in ausgewählten Szenen dargestellt wird, s. Hom. Od. 17,270f.: FÎRMIGJ PÃEI N oRA DAIT¹ YEO¹ PO¸HSAN TA¸RHN.
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Der Anstoß zu den werkimmanenten Untersuchungen ging ursprünglich von der homerischen Frage aus, besonders von der Diskussion über die erzähltechnische Funktion der Wiederholungen, das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die kompositorische Einheit der homerischen Epen und die Identität ihrer Verfasser. Dies gilt für die wegweisende Arbeit W. ARENDs, die auch einen Ausblick auf Apollonios und Vergil bietet49 ebenso wie für die Forschungen MILMAN PARRYs, ohne die die späteren Untersuchungen nicht denkbar sind. ARENDs erklärtes Ziel ist es, zu einem besseren Verständnis der schon von antiken Homerkritikern und später u.a. von BETHE und WILAMOWITZ inkriminierten Wiederholungstechnik Homers zu gelangen.50 Dazu teilt er die wiederkehrenden Handlungen in den homerischen Epen in neun Hauptgruppen ein (»Ankunft«, »Opfer und Mahl«, »Schiff- und Wagenfahrt«, »Rüstung und Ankleiden«, »Schlaf«, ».ERMER¸ZEIN«, »Versammlung«, »Schwur«, »Bad«) und untersucht jeweils den Grad und die Funktion der Wiederholungen. ARENDs kleinteiliger Szenenbegriff ermöglicht ihm eine detaillierte Beschreibung der wiederkehrenden Elemente, führt aber zu einer disparaten Darstellung der einzelnen Vorgänge, die dann wieder zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden müssen. Das Verdienst der Arbeit besteht neben der Ordnung und Analyse des Materials in einer differenzierten Bewertung der Wiederholungstechnik. Der Grundgedanke sei, »daß etwas, was gleich ist, auch mit denselben Worten ausgedrückt werden muß.« Allerdings ist der Grad der Wiederholung verschieden: »meistens [...] findet sich ein starkes Streben nach Variation« (S. 8), die dadurch erreicht wird, daß zuweilen nur die wichtigen Worte wiederholt, zuweilen unterbrochene Handlungsfäden wieder aufgegriffen oder Formelverse grammatisch angepaßt werden. Ent49 AREND (1933) 127-151. 50 S. zu den antiken Kritikern SITTL (1882) 1f.: »Schon der erste namhafte Homeriker Zenodot ging nicht gleichgiltig an wiederholten Versen vorüber, fand jedoch keine andere Lösung dieses Problems, als nach seinem Brauche den Obelos in ausgedehntem Masse anzuwenden.« BETHE (1914) 339 nennt als Eigenheiten des von ihm postulierten älteren Menisgedichts »die knappe, kurze, leidenschaftlich vorwärtsdringende Erzählung« im Gegensatz zu der uns vorliegenden, von Wiederholungen geprägten Fassung der homerischen Gedichte. Ähnliche Charakteristika wie BETHE schreibt WILAMOWITZ (1916) 126 der von ihm angenommenen ursprünglichen Fassung der Patroklie zu: Die Schlachtbeschreibung »war in knappen, geraden Linien gezeichnet, aber selbst in ihrem ersten Theile ist sie von Dubletten und Zusätzen so stark überwuchert, daß es nicht anders möglich ist, das Ergebnis der Analyse dem Leser klar zu machen, als durch einen Abdruck der echten Teile.«
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scheidend ist dabei, »daß alle Einzelfälle nur als Abweichungen oder Ausschmückungen des einen Typus auftreten. Alle Variation, so stark sie auch besonders in der Odyssee wird, hat die feste Form nicht aufgelöst« (S. 27). Aufbauend auf diesen Ergebnissen folgte eine Vielzahl von Spezialuntersuchungen zu einzelnen Szenentypen in Ilias und Odyssee, unter denen besonders B. FENIKs Arbeiten stark rezipiert wurden,51 sowie zu den erzähltechnischen Konventionen, die der homerischen Epik zugrundeliegen.52 Dabei wurde auch die Frage der Bewirtungsszenen immer wieder berührt.53 Die neuste, ausschließlich den homerischen »hospitality-scenes« gewidmete Monographie hat S. REECE im Jahre 1993 vorgelegt, der in Übereinstimmung mit AREND die verschiedenen Ausprägungen der Bewirtung bei Homer als Varianten einer zugrundeliegenden Form betrachtet. Er bietet zunächst ein zwanzigteiliges Schema einer typischen homerischen »hospitality-scene« und analysiert anschließend die längeren Bewirtungen (Athene in Ithaka, Telemach in Pylos, Telemach in Sparta, Odysseus bei den Phäaken, Odysseus bei Polyphem, Odysseus und Telemach bei Eumaios, Heimkehr des Odysseus). Das Schema weist, vor allem in der zweiten Hälfte, einige Unklarheiten auf, die bei der Darstellung der homerischen Gastmahlszenen näher besprochen werden (s. u. S. 134-137). Fortschritte erzielt REECE dagegen bei der Analyse der Fernbeziehungen zwischen den ersten vier Gastmahlszenen der Odyssee (Athene bei Telemach, Telemach bei Nestor, Telemach bei Menelaos, Odysseus bei den Phäaken), für die er 51 FENIK, B.: Typical Battle Scenes in the Iliad. Wiesbaden 1968 (Hermes EZ 21), und ders.: Studies in the Odyssey. Wiesbaden 1974 (= Hermes EZ 1974). 52 Wegen der Vielzahl der Untersuchungen ist es nicht möglich, an dieser Stelle einen auch nur annähernd befriedigenden Überblick zu geben. Für die Zeit bis 1983 liegen mittlerweile Forschungsberichte vor, die eine Orientierung erlauben, s. z.B. HEUBECK (1974); HOLOKA (1973) und (1979); METTE (1976). S. an Einzeluntersuchungen z.B. KRISCHER (1971) und BANNERT (1988). 53 S. z.B. BELMONT, D.: Early Greek Guest-Friendship and Its Role in the Odyssey. Diss. Princeton 1962; KAKRIDIS, H.: La notion de l’amitié et de l’hospitalité chez Homère. Thessaloniki 1963; LEVY, H.: The Odyssean Suitors and the Host-Guest Relationship. TAPA 94 (1963) 145-153; SHELMERDINE, C.: The Pattern of Guest-Welcome in the Odyssey. CJ 65 (1969) 124; EDWARDS, W.: Type-Scenes and Homeric Hospitality, TAPA 105 (1975); KAKRIDIS, J.T.: Griechische Mahl- und Gastlichkeitsbräuche. In: J. COBET, R. LEIMBACH, A.B. NESCHKE-HENTSCHKE (Hrsgg.): Dialogus. Für Harald Patzer zu seinem 75. Geburtstag von seinen Freunden und Schülern. Wiesbaden 1975; STEWART, D.: The Disguised Guest. Lewisburg 1976; PEDRICK, V.: The Hospitality of Noble Women in the Odyssey, Helios 15 (1988), 85-101; SAÏD, S.: Les crimes des prétendants, la maison d’Ulysse et les festins de l’Odyssée. In: Études de Littérature Ancienne. Paris 1979. 9-49.
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ein »crescendo« nachweist: »First, in each succeeding scene, the guest arrives progressively later during the activities of a feast. [...] Second, each succeding scene extends the description of the ritual of hospitality closer to its proper conclusion [...] Third, the hospitality scene, in Scheria, the last of the four, is in many ways a conflation and elaboration of the two preceding scenes in Pylos and Sparta« (S. 193f.). REECES Arbeit regte u.a. PLANTINGA (1996) zu einer entsprechenden Untersuchung der ersten zwei Bücher der Argonautika des Apollonios Rhodios an. Neben der synchronen, auf Homer konzentrierten Forschung zur Szenentypik wurde der zweite Ansatz, der Rückgriffe eines epischen Dichters auf ein bestimmtes Vorbild betrachtet, vorangetrieben, besonders im angelsächsischen Raum.54 Das größte Interesse erregte die imitatio Homeri hellenistischer und römischer Dichter,55 daneben wurde aber auch das Verhältnis Vergils zu Apollonios sowie der flavischen Epiker zu Vergil untersucht.56 Den meisten dieser Arbeiten ist gemeinsam, daß sie sich nicht auf einen Szenentyp beschränken, sondern zwei oder mehrere Epen als Ganzes miteinander vergleichen. Auf diese Weise kann die Imitationskunst eines Dichters in Bezug auf ein Vorbild gut herausgearbeitet werden, doch läßt sich die diachrone Entwicklung einzelner Szenentypen nur bedingt verfolgen, da wegen des breiten Untersuchungsgebietes nicht alle Zwischenstufen 54 Thesen zur Intertextualität sind Legion, s. z.B. BÉCARES (2000); EDMUNDS (2001); FOWLER/HINDS (1997); HINDS (1998); SHARROCK/MORALES (2000); THOMAS (1999). 55 Vgl. aus der Fülle der Arbeiten z.B. BARCHIESI, A.: La traccia del modello. Effetti omerici nella narrazione virgiliana. Pisa 1984. GARBARINO, G.: Omero nel libro I dell’Eneide. In: Cultura e lingue Classiche 3. 30. Convegno di aggiornamento e di didattica. Palermo 29 ottobre - 1 nov. 1988. Ed. Biagio Amati. Roma 1993. 309-322; JUHNKE, H.: Homerisches in römischer Epik flavischer Zeit. Untersuchungen zu Szenennachbildungen und Strukturentsprechungen in Statius’ Thebais und Achilleis und in Silius’ Punica. München 1972 (= Zetemata 53). KNAUER, N.: Die Aeneis und Homer. Göttingen 1964 (= Hypomnemata 7); KNIGHT, V.H.: The Renewal of Epic: Responses to Homer in the Argonautica of Apollonius. Leiden 1995 (= Mnemosyne Suppl. 152); RIPOLL, F.: Le monde homérique dans les Punica de Silius Italicus. Latomus 60 (2001) 87-107. 56 S. z.B. HÜGI, M.: Vergils Aeneis und die hellenistische Dichtung. Bern 1952 (Noctes Romanae 4); DUCKWORTH, G.E.: Foreshadowing and Suspense in the Epics of Homer, Apollonius, and Vergil. New York 1966; NELIS, D.P.: Apollonius and Virgil. In: Th. Papanghelis; A. Rengakos (Hrsgg.): A Companion to Apollonius Rhodius. Leiden u.a. 2001 (= Mnemosyne Suppl. 217); Ders.: Vergil’s Aeneid and the Argonautica of Apollonius Rhodius. Leeds 2001 (= ARCA 39); SCHIMANN, F.: Valerius Flaccus und Vergil - interpretatio Virgiliana. In: U. Eigler, E. Lefèvre (Hrsgg.) in Zusammenarb. m. G. Manuwald: Ratis omnia vincit. Neue Untersuchungen zu den Argonautica des Valerius Flaccus. München 1998 (= Zetemata 98) 123-139.
1. Theoretische Grundlagen
29
gleichmäßig berücksichtigt werden können.57 Dies ist erst möglich, wenn die beiden Forschungsansätze zur Szenentypik miteinander verknüpft werden: Die Verbindung einer thematischen Analyse, wie sie REECE vorlegt, mit dem auf die Imitationstechnik ausgerichteten diachronen Vergleich zwischen möglichst vielen Dichtern könnte zu einem besseren Verständnis der antiken Anspielungstechnik führen. Die vorliegende Arbeit soll diese Verknüpfung am Beispiel der epischen Gastmahlszene herstellen, die in den meisten diachron angelegten Arbeiten nur am Rande berücksichtigt wird.58 Die Voraussetzungen dafür sind günstig, da die Untersuchungen zu Homer wie auch die intertextuell orientierten Arbeiten bereits Ergebnisse geliefert haben, ohne die die typischen Szenen nicht sinnvoll interpretiert werden können. Einen wichtigen Hinweis liefert schon die Auswahl der Untersuchungsgegenstände, die meist um Homer, Apollonios und Vergil kreisen. Wenn NELIS (2000) 85 in einem Sammelband zu Apollonios Rhodios bemerkt: »There exist studies of Vergil and Apollonios, and of Valerius Flaccus and Apollonios, but, understandably, no systematic treatment of the whole topic seems to have been attempted. ›Silius Italicus and Apollonios Rhodios‹ is, admittedly, not a title to set hearts racing«, so spricht er damit eine nicht nur modebedingte, sondern auch sachlich begründete Forschungslücke an: Von den uns erhaltenen Epen mit fortlaufender Handlung in der Zeit zwischen Homer und Claudian haben Homer, Apollonios und Vergil bei weitem den spürbarsten Einfluß ausgeübt. Dies bedeutet nicht, daß andere Dichter keinen Widerhall bei ihren Nachfolgern gefunden hätten, doch ist dieser meist geringer und wird erst bei genauerem Hinsehen offenbar. Besonders gut lassen sich die Verhältnisse mit den von SMOLENAARS in seinem Kommentar zum siebten Buch der Thebais verwendeten Begriffen primary source und secondary source (Primär- und Sekundärquelle) erfassen:
57 Beispielsweise haben Analysen der Argonautika zu der Auffassung geführt, daß Apollonios keine wiederholten Szenentypen verwende – eine Ansicht, die erst in den letzten Jahren durch Einzeluntersuchungen teilweise modifiziert wurde, s. o. Anm. 4. 58 Zu den wenigen speziellen Arbeiten in diesem Bereich gehören ZWIERLEIN, O.: Cäsar und Kleopatra bei Lucan und in späterer Dichtung. A&A 20 (1974) 54-73. TUCKER, R.A.: The Banquets of Dido and Cleopatra. CB 52 (1975) 17-20. Nützliche Hinweise auch in Einzelkommentaren, z.B. zu Lukan: SCHMIDT, M.G.: Caesar und Cleopatra. Philologischer und historischer Kommentar zu Lucan 10,1-71. Frankfurt a.M., Bern, New York 1986.
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1. Theoretische Grundlagen
»Each episode, section and many scenes in Statius have a) a primary source, which provides (part of) its content and narrative structure and is often signalled by a Leitzitat, and b) one or more secondary sources which supply specific conceptual and stylistic elements adding to, or replacing, those of its primary source. In many cases the content and structure of episodes, etc., can easily be identified with a ›typical scene‹ in Homer and/or Vergil [...], but it is sometimes difficult to recognize and distinguish passages as such.«59
Eine ganz ähnliche Anspielungstechnik hatte KNAUER (1964) bereits für Vergil festgestellt, der seine Erzählung so anlegt, daß in der Aeneis »eine prägnante Formulierung als ›Leitzitat‹ sofort an das ›Original‹ denken läßt. Näheres Zusehen enthüllt oft genug, daß die vor wie nach einem solchen Zitat liegenden Partien dem Aufbau der homerischen Szene entsprechen, aus der es stammt.«60 Der rote Faden, den das Vorbild aus Ilias und Odyssee liefert, kann dann »zusammengezwirnt werden mit anderen Zusammenhängen,« die nicht selten aus den Argonautika des Apollonios entlehnt sind.61 Diese allgemeinen Ergebnisse können mit Gewinn auf den speziellen Fall der Gastmahlszenen angewandt werden. Auch an diesem Einzelproblem läßt sich nachweisen, daß das homerische Vorbild bis in die flavische Zeit und bis zu Claudian präsent bleibt. Allerdings wird es dort meist in vergilischer Brechung wahrgenommen, d.h. die Autoren rezipieren Ilias und Odyssee meist ›durch die Aeneis hindurch‹. Direkt aus Homer übernommene Elemente lassen sich dagegen in der nachvergilianischen römischen Epik sehr viel seltener nachweisen (Beispiele s. u. S. 74). Wir haben also eine zweigeteilte Rezeptionsgeschichte vor uns, in der Ilias und Odyssee für Apollonios und Vergil ein unmittelbares Vorbild darstellen, während später die Aeneis als das römische Nationalepos den Platz des vielbewunderten Modells einnimmt und als primary source dient. Nur für die Argonautica des Valerius Flaccus bilden – neben dem stets spürbaren Einfluß
59 SMOLENAARS (1994) XXVIII. 60 KNAUER (1964) 335. 61 KNAUER (1964) 333. HINDS (1998) 101-104 betont zu Recht, daß intertextuelle Beziehungen stets in zwei Richtungen wirksam sind. Da in der vorliegenden Arbeit die zeitliche Entwicklung eines Szenentyps untersucht wird, steht hier, pace HINDS, die Wirkung eines Epikers auf seine Nachfolger im Vordergrund.
1. Theoretische Grundlagen
31
Vergils62 – die Argonautika des Apollonios Rhodios die erste und natürlichste Quelle. Der mit Vergil verbundene Neuansatz in der Gattungsgeschichte war schon den gebildeten Kreisen der Spätantike bewußt, wie eine Bemerkung des Hieronymus in seinem Kommentar zum Buch Micha belegt. Vergil, heißt es dort, sei nicht wie Ennius ›ein zweiter Homer‹ (s. Hor. ep. 2,1,50), sondern ›der erste Homer‹ für die lateinischen Schriftsteller gewesen: poeta sublimis non »Homerus alter«, ut Lucilius de Ennio suspicatur, sed primus Homerus apud Latinos.63 Neue Impulse gegenüber Ilias und Odyssee ergeben sich in der Aeneis unter anderem aus der Rezeption der hellenistischen Dichtung, besonders der Argonautika des Apollonios, deren Einfluß vor allem beim Gastmahl von Dido und Aeneas in Karthago sichtbar ist: Das Auftreten Amors und die von ihm entzündete unstillbare Liebe der Königin verweisen auf die Ankunft Jasons in Kolchis, wo Medea, vom Pfeil des Eros getroffen, dem Ankömmling verfällt.64 Ebenso entsprechen sich der Gesang des Orpheus und des Iopas sowie das Auftreten des Idas und des Bitias.65 Diese ›hellenistischen‹ Züge sind verknüpft mit Anspielungen auf die Phäakenszene der Odyssee, in der viele Einzelheiten, wie z.B. die zahlreichen Diener (hundert: Verg. Aen. 1,705 bzw. fünfzig, Hom. Od. 7,103, Verg. Aen. 1,703), die langen, mehrere Bücher umfassenden Apologoi (Hom. Od. 9,1-12,453, Verg. Aen. 2,3-3,718), sowie die der Szene unmittelbar vorausgehenden Ereignisse (Schiffbruch, Hom. Od. 5,291-440, Verg. Aen. 1,102-158; Begegnung mit einer als Mensch erscheinenden Schutzgöttin, Hom. Od. 7,19-77, Verg. Aen. 1,314-405; unsichtbar machender Nebel, Hom. Od. 7,14-17, 39-42 u. 139-143, Verg. Aen. 1,411-414, vgl. A.R. 3,210-214) vorgebildet sind.
62 S. bes. die Bewirtung Jasons auf Lemnos (Val. Flac. 2,332-356), die dem Gastmahl der Dido im ersten Buch der Aeneis (Verg. Aen. 1,695-3,718) nachgebildet ist. 63 Hieron. in Mich. 2,7 (= CChL LVII p. 511). Diese Beurteilung gilt für Vergil allerdings nur mit der Einschränkung, daß wir die Epen seiner Vorgänger, besonders des Ennius, nur in Fragmenten besitzen, so daß mögliche Zwischenstufen für uns schwer faßbar sind. Mit dem Einfluß des Ennius auf Vergil beschäftigt sich in neuerer Zeit PRINZEN (1998) bes. 207-244. 64 A.R. 3,275-298 und Verg. Aen. 1,695f. und 712-722. 65 A.R. 1,494-511 (Gesang des Orpheus) und Verg. Aen. 1,740-746 (Gesang des Iopas); A.R. 1,472-474 (hastiges Trinken des Idas); Verg. Aen. 1,738f. (hastiges Trinken des Bitias). S. dazu ausführlich NELIS (2001)a 96-112.
32
1. Theoretische Grundlagen
Phäaken- und Didoszene wurden schon von den antiken Dichtern in einem Atemzug genannt: Statius zitiert sie als herausragende Beispiele eines königlichen Gastmahls (silv. 4,2,1-7): Regia Sidoniae convivia laudat Elissae, qui magnum Aenean Laurentibus intulit arvis; Alcinoique dapes mansuro carmine monstrat aequore qui multo reducem consumpsit Ulixem: 5 ast ego cui sacrae Caesar nova gaudia cenae nunc primum dominaque dedit consurgere mensa, qua celebrem mea vota lyra ... ?
Die hier ausgedrückte und für die ganze Antike gültige Wertschätzung gerade dieser beiden Gastmahlszenen läßt sich auch an der Vielzahl der Nachahmungen ablesen, die sie gefunden haben. Das Gastmahl der Dido und die darin verarbeiteten homerischen Elemente wirken nicht nur als primäre Quelle auf das Mahl der Kleopatra bei Lukan (Lucan. 10,107-333) und die Bewirtungen bei Adrast (Stat. Theb. 1,386-720) und Lycomedes (Stat. Ach. 1,726-818), sondern sind als ›sekundäre Quelle‹ auch in Szenen präsent, deren Hauptvorbild aus einem anderen Werk stammt, wie bei dem Festschmaus des Hannibal in Capua (Sil. 11,259-368; Primärquelle: Bericht des Livius, Liv. 23,7,1-23,10,13), dem Gastmahl der Argonauten auf Lemnos, Val. Flac. 2,332-356 (Primärquelle: Apollonios Rhodios, A.R. 1,607-913) und dem Gastmahl der Argonauten bei Aietes, Val. Flac. 5,558-617 (Primärquelle: Apollonios Rhodios, 3,213-442).66 So entsteht eine Gruppe eng zusammengehöriger »Königsmähler«, die wechselseitig aufeinander wirken und die landläufige Vorstellung eines »epischen Gastmahls« prägen. Andere Szenen werden seltener oder in weniger auffälliger Form rezipiert. Deutlich aufeinander bezogen sind die Mähler des Nestor und des Euander (Hom. Od. 3,31-403 und Verg. Aen. 8,97-369), sowie das Kirkeabenteuer der Odyssee und die Phineusszene bei Apollonios Rhodios, die ihrerseits von Valerius Flaccus aufgegriffen wird (Hom. Od. 10,210-243 und 10,308-405, A.R. 2,178-536, Val. Flac. 4,423-636). In allen Szenen kommen weitere Vorbilder hinzu, die entweder in Form von wörtlichen Zitaten 66 Vgl. auch die Bewirtung der Anna durch Aeneas, Sil. 8,69-166, die inhaltlich direkt an das Gastmahl in Karthago und die in der Aeneis beschriebenen Ereignisse anknüpft. Die Primärquelle des Silius für die Sage der von den Römern an den Iden des März verehrten Anna Perenna stellt jedoch Ovids Schilderung fast. 3,523-696 dar.
1. Theoretische Grundlagen
33
oder strukturellen bzw. inhaltlichen Entsprechungen präsent sind, so daß sich ein Geflecht von Anspielungen ergibt, welches wir aufgrund der besseren Überlieferungslage vor allem in der flavischen Zeit gut fassen können. Diese Bezugnahme auf mehrere Vorbilder, die gelegentlich als contaminatio bezeichnet wird (s. dazu den Index bei WEST/WOODMAN [1979]), schließt auch die Möglichkeit ein, daß die Einteilung nach primary source und secondary source innerhalb einer Szene changiert. Die Anspielungen enthalten also einen potentiell dynamischen Aspekt, den besonders HINDS (1998) 142 herausgearbeitet hat. Daß die von allen untersuchten Autoren praktizierte Verschmelzung unterschiedlicher, auch in der Verarbeitung (HINDS spricht von appropriation) noch erkennbarer Modelle zu einer neuen epischen Szene dennoch gelingt, wird dadurch erleichtert, daß sich im Laufe der Zeit eine traditionelle, d.h. von verschiedenen Epikern akzeptierte wiederholt verwendete Struktur des Gastmahls herausgebildet hat. Diese kann der Leser auch dann als »typisch episch« identifizieren, wenn sich die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Epen im einzelnen komplex und unübersichtlich darstellen. Ihre Bestandteile sowie die von den Dichtern verwendeten Anspielungstechniken sollen im folgenden kurz vorgestellt werden.
2. Die Typik der Gastmahlszene 2.1 Das typische Schema einer Gastmahlszene Das folgende Schema einer »typischen« Gastmahlszene stellt eine Abstraktion dar, die aus dem Vergleich von 40 Szenen aus den Epen Homers, den Argonautika des Apollonios Rhodios und des Valerius Flaccus, der vergilischen Aeneis, der Pharsalia Lucans, den Punica des Silius Italicus, der Thebais und der Achilleis des Statius sowie dem Epos »De raptu Proserpinae« des Claudian gewonnen wurde. Es ist lediglich als Interpretationshilfe für den modernen Leser zu verstehen und bildet nicht etwa die Vorgehensweise eines antiken Epikers ab. Vielmehr muß stets berücksichtigt werden, was EDMUNDS (2001) 149 allgemein im Hinblick auf die Intertextualität antiker Dichtung formuliert: „The tradition [...] appears in each poem not as such (it does not exist as such) but as the figure of the tradition. So one can speak of a troping of the tradition.“ Als geschlossene Gastmahlszenen, die der Analyse zugrundeliegen, werden nur solche Szenen betrachtet, in denen das Mahl und das damit zusammenhängende Beisammensein der Figuren vergegenwärtigt und nicht nur summarisch als ein Bestandteil eines längeren Aufenthalts erwähnt wird.67 Eingeschlossen sind neben Bewirtungen, die nur unter Menschen stattfinden, und die die größte Gruppe darstellen, auch Gastmähler unter Göttern (2 Belege, Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,55-148; Pluto und Proserpina, Claud. rapt. Pros. 2,306-372) sowie Gastmähler, die sich zwischen einem Menschen und einem als Mensch verkleideten Gott abspielen.68 Da der Gott 67 Der Unterschied zwischen beiden Darstellungsweisen zeigt sich besonders im Vergleich der beiden Argonautenepen des Apollonios Rhodios und des Valerius Flaccus. Nur das Abschiedsmahl (A.R. 1,450-518 und Val. Flac. 1,240-302) sowie die Aufenthalte bei Phineus (A.R. 2,178-536 und Val. Flac. 4,423-636) und Aietes (A.R. 3,210-442 und Val. Flac. 5,558-617) sind in beiden Versionen als Gastmahlszene im oben definierten Sinn gestaltet. Das Lykosabenteuer (A.R. 2,752-811 und Val. Flac. 4,733-762) und der Aufenthalt auf der Aresinsel (A.R. 2,1118-1227) dagegen erscheinen nur bei Apollonios als Gastmahlszene, der Empfang auf Lemnos (A.R. 1,849-860 und Val. Flac. 2,332-356) und bei Kyzikos (A.R. 1,947-984 und Val. Flac. 2,634-664) nur in der Fassung des Valerius Flaccus. Das Zusammentreffen mit dem aggressiven Amykos ist in keinem der beiden Epen als Gastmahlszene gestaltet. Eine Analyse dieses Abenteuers bietet PLANTINGA (1996) 107-119, die nicht die Gastmähler, sondern allgemein die Aufnahme eines Fremden (»hospitality«) bei Apollonios behandelt. 68 Athene wird in Menschengestalt von Telemach bewirtet (Hom. Od. 1,102-323), Bacchus läßt sich unerkannt von Falernus bewirten (Sil. 7,171-205). Beim Besuch der
36
2. Die Typik der Gastmahlszene
bestrebt ist, sich in allem an irdische Gepflogenheiten anzupassen, unterscheidet sich diese Form der Bewirtung von den unter Menschen spielenden Szenen oft nur durch ihren unvermittelten Abbruch, der sich aus der Epiphanie bzw. dem plötzlichen Verschwinden des Gottes ergibt. Die hier gewählte Abgrenzung der Szenen führt im Vergleich zu der Gliederung ARENDs zu einer größeren Geschlossenheit. Da AREND die einzelnen Vorgänge innerhalb einer Bewirtung getrennt aufschlüsselt, erscheint dieselbe Zusammenkunft zuweilen unter verschiedenen Oberbegriffen.69 REECE dagegen legt seiner Arbeit ein nicht näher begründetes Textkorpus aus achtzehn »hospitality-scenes« zugrunde, von denen vier aus der Ilias, zwölf aus der Odyssee und zwei aus den homerischen Hymnen stammen,70 wobei er mehrere Szenen, die Kennzeichen einer »hospitalityscene« aufweisen, unberücksichtigt läßt.71 Andererseits nimmt er Handlungsteile ohne szenische Geschlossenheit und ohne Mahl in seine Untersuchung auf, die nach den oben skizzierten Kriterien in der vorliegenden Arbeit nicht zur Etablierung des typischen Schemas herangezogen werden.72 Thetis in Chirons Höhle sind außer der Göttin und dem Kentauren auch Achill (Sohn einer Göttin und eines Menschen) und ein Mensch (Patroklos) beteiligt. Auch hier ist es, um ein gemeinsames Speisen zu ermöglichen, notwendig, daß sich die göttlichen und halbgöttlichen Teilnehmer auf die menschliche Ebene begeben. 69 Vgl. die Zusammenkunft der Heerführer bei Agamemnon, Hom. Il. 2,402-411 und das Siegesmahl für Aias, Hom. Il. 7,311-344, die teils unter der Rubrik »Speiseopfer« und teils unter »Mahl« erscheinen. 70 Bei den von REECE berücksichtigten Szenen handelt es sich um »Athene-Mentes in Ithaca (Od. 1.103-324)«; »Telemachus in Pylos (Od. 3.4-485; 15.193-214)«; »Telemachus in Sparta (Od. 4.1-624; 15.1-184)«; »Hermes and Calypso (Od. 5.55-148)«; »Odysseus and the Phaeacians (Od. 5.388-13.187)«; »Odysseus and Polyphemus (Od. 9.105-564)«; »Odysseus and Aeolus (Od. 10.1-76)«; »Odysseus and the Laestrygonians (Od. 10.80-132)«; »Odysseus and Circe (Od. 10.133-11.12; 12.1-152)«; »Odysseus and Eumaios (Od. 13.221-14.533; 15.301-494; 16.452-17.25; 17.182-203)«; »Telemachus and Eumaios (Od. 15.555-16.155)«; »Odysseus’ Homecoming (Od. 17.204-23.348)«; »The Embassy to Achilles (Il. 9,185-668)«; »Nestor and Odysseus in Phthia (Il. 11.769782)«; »Thetis and Hephaestus (Il. 18.369-19.3)«; »Priam and Achilles (Il.24.334-694)«; »Demeter in the Home of Celeos (H. Dem. 98-230)«; »Aphrodite and Anchises (H. Aphr. 68-291).« (In dieser Reihenfolge zitiert in REECES Appendix, S. 207-231). 71 Es handelt sich um die Bewirtung der griechischen Heerführer durch Agamemnon, Hom. Il. 2,402-441; das Siegesmahl für Aias, Hom. Il. 7,311-344; die Beratung der Heerführer vor und nach der Presbeia, Hom Il. 9,89-181und 669-713 und die Bewirtung des Theoklymenos durch Telemach, Hom. Od. 17,84-166. 72 Dies gilt für den Aufenthalt bei Aiolos und die Heimkehr des Odysseus in der von REECE (1993) 215 und 222 angesetzten Form (Hom Od. 10,1-76 und Hom. Od. 17,20423,348). Schon der Bericht des Odysseus über seine erste Landung beim Gott der Winde bezieht sich nicht auf ein einziges Gastmahl, sondern faßt die Ereignisse eines ganzen
2. Die Typik der Gastmahlszene
37
Auch die Kyklopenszene, die REECE ebenso wie den Aufenthalt bei den Lästrygonen ohne Differenzierung als »hospitality scenes« einstuft, wird im folgenden nur im Rahmen eines Exkurses berücksichtigt, da es sich hier um eine Sonderform handelt, bei der die Besucher nicht bewirtet, sondern getötet und verschlungen werden. Die folgende Tabelle bietet einen schematischen Überblick über die für die Etablierung des typischen Schemas berücksichtigten Szenen:
Nr. Stelle/Bezeichnung 1 2 3
poet. Vorbilder/Bezüge
Besonderheiten73
Hom. Il. 2,402-441: Agamem-
Opfermahl u. stärkendes Mahl
non bewirtet die Heerführer
verbunden
Hom. Il. 7,311-344: Festmahl f.
Am Ende Wechsel z. Parallel-
Aias
handlung (Troja)
Hom. Il. 9,89-181 und 669-713:
Szene erst nach Presbeia zu
Mahl und Beratung vor und
Ende geführt
nach Presbeia 4
Hom. Il. 9,185-668: Presbeia
Szene
in
Beratung
schoben
Monats summarisch zusammen (s. Hom. Od. 10,14: MNADPjNTAF¸LEIME). Die folgenden, von REECE unter dieses Abenteuer gerechneten Elemente umfassen nicht nur den Aufenthalt im Palast, sondern den von den Gefährten ausgelösten Seesturm, die Rückkehr des von den Winden verschlagenen Odysseus und die abweisende Reaktion des Aiolus. Ohne Mahl verläuft der Besuch der Thetis bei Hephaist (Hom. Il. 18,369-19,3), der daher nicht als Gastmahlszene gewertet wird. Allerdings läßt der Beginn des Besuchs zunächst eine Gastmahlszene erwarten, vgl. die Beschreibung von Thetis’ Ankunft und die Darstellung der Tätigkeit des Hephaist aus Sicht der Besucherin (Hom. Il. 18,369-381), das Geleit, das Charis ihr gewährt und die Darstellung des Sitzplatzes (Hom. Il. 18,388-390). Die Aufforderungen der Charis (Hom. Il. 18,387 an Thetis: mLL
PEO PROTRV ¾NA TOIPkRJE¸NIAYE¸V) und des Hephaist (Hom. Il. 18,408 an Charis: mLLkSÄMNNÅN O¼PARjYEWJEINIAKALj) zeigen, daß sie tatsächlich die Absicht haben, ein Gastmahl auszurichten. Dies wird nur durch das dringende Anliegen der Thetis verhindert, die Hephaist unter Tränen um eine Rüstung für Achill bittet und, nachdem sie diese erhalten hat, sofort ins griechische Feldlager zurückkehrt. S. dazu TSAGARAKIS (1982) 53: »Charis treats Thetis as a visitor, but it is not a visit the poet started to compose. It is the circumstances that give the arrival this turning.« Die Verwendung eines auch in Gastmahlszenen gebräuchlichen Beginns zeigt hier die Absicht der Gastgeber und hebt das ungewöhnliche Betragen der Thetis hervor. 73 In der Spalte »Besonderheiten« werden Punkte aufgeführt, die die Erzähltechnik betreffen. Sie sollen eine grobe Orientierung ermöglichen und müssen durch den Kommentar zu den einzelnen Elementen bzw. durch die Einzelinterpretationen ergänzt werden.
einge-
2. Die Typik der Gastmahlszene
38 5 6 7 8 9
Hom. Il. 11,618-803: Machaon
Gastmahl und Botengang ver-
bei Nestor
bunden
Hom. Il. 11,769-790: Nestor u.
Nestor erzählt. Abbruch d.
Odysseus in Phthia
Szene nach Tischgespräch
Hom.Il. 24,469-676: Priamos
Bittgang und Gastmahlszene
bei Achill
verbunden
Hom. Od. 1,102-323: Athene
Zwei Mähler parallel im
bei Telemach
selben Raum
Hom. Od. 3,31-403: Telemach
Mehrfaches Mahl, Ende des
bei Nestor
Aufenthalts Hom. Od. 3,493
10
Hom. Od. 4,1-305: Telemach Bezug zum Gastmahl bei den Mehrfaches Mahl, Ende des
11
Hom. Od. 5,55-148: Hermes
Gastmahlszene und Botengang
bei Kalypso
verbunden
12
Hom. Od. 7,81-347: Odysseus Bezug zum Gastmahl bei Me- Mehrfaches Mahl, Ende d.
bei Menelaos
Phäaken, Hom. Od. 7,81-347
bei den Phäaken
nelaos, Hom.Od. 4,1-305
Aufenthalts Od. 15,191.
Aufenthalts Od. 13,77
13
Hom. Od. 10,210-243: Ge-
Odysseus erzählt. Abbruch d.
fährten des Odysseus bei Kirke
Bewirtung wg. Verzauberung
14
Hom. Od. 10,308-405: Odys-
Odysseus erzählt. Ein erstes
seus bei Kirke
abgebrochenes Mahl geht in eine formvollendete Bewirtung über. Ende des Aufenthalts Hom. Od. 10,574
15
Hom. Od. 14 (ganz): Odysseus
Mehrfaches Mahl, Ende des
bei Eumaios
Aufenthalts Hom. Od. 17,201.
16
Hom. Od. 16,4-153: Telemach
Gastmahlszene in Aufenthalt
bei Eumaios
des Odysseus eingeschoben
Hom. Od. 17,84-166: Theo-
Penelope
klymenos bei Telemach
aber Gesprächspartnerin
Hom. Od. 19,413-427: Odys-
Teil des Narbenexkurses wäh-
seus bei Autolykos
rend der Fußwaschung
17 18 19
A.R.
1,450-518:
Abschieds-
20
A.R. 2,178-536: Argonauten Kirke-Abenteuer,
Gastgeberin,
Opfermahl u. Stärkungsmahl
mahl der Argonauten bei Phineus
nicht
verbunden Hom.
10,210-243 und 10,308-405
Od. Gäste übernehmen Rolle des Gastgebers
2. Die Typik der Gastmahlszene
21 22 23
39
A.R. 2,752-811: Argonauten
Gastgeber hat schon vorher von
bei Lykos
Ankunft der Fremden erfahren
A.R. 2,1118-1227: Argonauten
Beide Teilnehmer in fremdem
und Phrixossöhne
Land
A.R. 3,210-442: Argonauten in Gastmahl bei den Phäaken, Gastmahl und Botengang verKolchis
Hom. Od. 7,81-347
bunden
evtl. Gastmahl bei Menelaos, Hom. Od. 4,1-305 24
Verg. Aen. 1,695-3,718: Dido Gastmahl bei den Phäaken, Ankunftsmotiv verdoppelt und Aeneas
Hom.
Od.
7,81-347;
Ab-
schieds-mahl d. Argonauten in Kolchis,
A.R.
1,450-518;
Gastmahl in Kolchis, A.R. 310442 25
Verg. Aen. 3,300-355: Aeneas Telemach bei Nestor, Hom. Od. Aufenthalt fortgeführt bis Verg. bei Helenus
3,31-403
Aen. 3,505
Gastmahl bei den Phäaken, Hom. Od. 7,81-347 26
Verg. Aen. 8,97-369: Aeneas Telemach bei Nestor, Hom. Od. Gastmahl und Botengang verbei Euander
3,31-403; Gastmahl bei den bunden. Aufenthalt fortgeführt Phäaken, Hom. Od. 7,81-347
27
Kleopatra 28
1,695-3,718.
3,31-403 (Caesar bei Amyclas, lager Lucan. 5,504-559)
negativ
nicht
Zäsur,
sondern
Heilmittel
Sil. 7,171-205: Bacchus bei Philemon und Baucis, Ov. met. Aitiologische Erzählung Falernus
30
Protagonisten
gewertet
Sil. 6,62-551: Serranus bei Ma- Telemach bei Nestor, Hom. Od. Pflege e. Verwundeten: Nachtrus
29
bis Verg. Aen. 8,584
Lucan. 10,107-333: Caesar und Gastmahl bei Dido, Verg. Aen. Beide
8,626-724
Sil. 8,69-166: Anna bei Aeneas Ovid, fast. 3,523-696
Aitiologische Erzählung
Dido und Aeneas, Verg. Aen. 1,695-3,718. 31
Sil. 11,259-368: Hannibal in Dido und Aeneas, Verg. Aen. kein einzelner Gastgeber Capua
1,695-3,718. (Gastmahl bei den Phäaken, Hom. Od. 7,81-347?) Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,97-369.
2. Die Typik der Gastmahlszene
40 32
Stat. Theb. 1,386b-720: Mahl Aeneas bei Euander, Verg. Zwei verfeindete Gäste bei Adrast
33
Aen. 8,97-369.
Stat. Ach. 1,104-197: Thetis bei Thetis bei Hephaist, Hom. Il. Ankunft d. Achill während des Chiron
13,369-19,4; d.
(Abschiedsmahl Mahls
Argonauten,
Val.
Flac.
1,240-302?) 34
Stat. Ach. 1,726-818: Diome- Presbeia, Hom. Il. 9,185-668;
Gäste
zugleich
Boten
und
des und Odysseus bei Lycome- Dido und Aeneas, Verg. Aen. Kundschafter des
1,695-3,718; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,97-369 Mahl bei Adrast, Stat, Theb. 1,386-720.
35
Val.
Flac.
1,240-302:
Ab- Abschiedsmahl der Argonau- Gastmahl und Abschiedsmahl
schiedsmahl der Argonauten
ten, A.R. 1,450-518
verbunden
36
Val. Flac. 2,332-356: Argo- Argonauten auf Lemnos, A.R. Gastmahl soll zu Hochzeits-
37
Val. Flac. 2,634-664: Argo- Argonauten bei Kyzikos, A.R. Gastgeber distanziert sich von
38
Val. Flac. 4,423-636: Argo- Argonauten bei Phineus, A.R. Rollentausch v. Gast u. Gastge-
39
Val. Flac. 5,558-617: Argo- Argonauten in Kolchis A.R. Abbruch nach Verhandlungen
nauten auf Lemnos nauten bei Cyzicus nauten bei Phineus nauten in Kolchis
1,601-914 1,961-984 2,178-536
mahl werden Völkern seiner Region ber
3,210-442. Aeneas im Tempel von Karthago, Verg. Aen. 1,441-630.
40
Claud. rapt. Pros. 2,306-372:
Gastmahl zugl. Hochzeitsmahl
Pluto und Proserpina
Die Gastmahlszenen können entweder vom auktorialen Erzähler selbst oder von einer der Figuren geschildert werden, wobei verschiedene Zwischenformen möglich sind. DE JONG (1989) 37, die die Erzählerstandpunkte der Ilias behandelt, unterscheidet fünf Erzählsituationen, deren Berücksichtigung (trotz der komplizierten Terminologie) bei der Analyse der Gastmahlszenen von Nutzen sein kann. 1) »simple narrator-text: An external narrator focalizer presents the
events/persons. Recipient is an external primary narratee-focalizee.«
2. Die Typik der Gastmahlszene
41
Diese Variante entspricht der auktorialen Erzählperspektive und wird in den Gastmahlszenen am häufigsten verwendet. 2) »complex narrator-text (embedded focalization): The external narratorfocalizer embeds in his narrator-text the focalization of one of the characters, who, thus, functions as an internal secondary focalizer. Recipients are a secondary focalizee, who is internal or external, and, ultimately, the external primary narratee-focalizee.« Der auktoriale Erzähler übernimmt in dieser Variante die eingeschränkte Figurenperspektive. Diese Erzählweise ist v.a. typisch für die Ekphraseis innerhalb von Gastmahlszenen, vgl. z.B. die Beschreibung des phäakischen oder des Königspalastes. 3) »character-text (speeches): The external primary narrator-focalizer embeds in his narrator-text a character-text, presented by a character, who, thus, functions as an internal secondary narrator-focalizer. Recipients are an internal secondary narratee-focalizee and, ultimately, the external primary narratee-focalizee.« Diese Erzählperspektive ist typisch für die Begrüßungsphase in Gastmahlszenen sowie für die Unterredung zwischen Gastgeber und Gast, bei der die Figuren von sich selbst und ihren Erlebnissen berichten. Nur in vier der vierzig berücksichtigten Szenen ist das gesamte Gastmahl als »character-text« gestaltet, d.h. eine Figur berichtet einer anderen von einem Gastmahl.74 4) »tertiary focalization: The internal secondary narrator-focalizer embeds in his character-text the focalization of another character, who, thus, functions as a tertiary focalizer. Recipients are a tertiary focalizee, the internal secondary narratee-focalizee and, ultimatively, the external primary narratee-focalizee.« Diese Erzählperspektive ist in den berücksichtigten Szenen am deutlichsten bei der Bewirtung der Gefährten des Odysseus durch Kirke ausgeprägt: Die Figur Odysseus (»internal secondary narrator-focalizer«) berichtet den Phäaken (»internal secondary narratee-focalizee«) vom Zusammentreffen seiner Gefährten mit Kirke, wo74 Diese Fälle finden sich nur bei Homer und Vergil, davon einmal in der Ilias (Nestor in Phthia, Hom. Il. 11,769-790), zweimal in der Odyssee (Gefährten des Odysseus bei Kirke und Odysseus bei Kirke, Od. 10,210-243 und Hom. 10,308-405), sowie einmal in der Aeneis (Aeneas bei Helenus, Verg. Aen. 3,300-355). Ovid verwendet in den hier nicht berücksichtigten Metamorphosen eine kunstvolle Steigerung dieser Erzählperspektive, s. den verschachtelten Aufbau der Sagen in der zweiten Hälfte des fünften Buches, wo die Musen der Pallas von ihrem Sangeswettstreit mit den Pieriden berichten, bei dem die Calliope in einem wörtlich zitierten Lied den Empfang der Ceres bei einer alten Frau besungen hatte (Ov. met. 5,446-461).
42
2. Die Typik der Gastmahlszene
bei er zeitweilig deren Perspektive einnimmt (»tertiary focalizer«). In den anderen drei Szenen, in denen eine Figur ein Gastmahl schildert, ist diese komplexe Struktur nur angedeutet: Nestor übernimmt in seiner Erzählung kurz die Perspektive des Achill (Hom. Il. 11,777), ebenso wie Aeneas zeitweilig Empfindungen aus der Perspektive der Andromache einfließen läßt (Verg. Aen. 3,306-308). 5) »embedded speech: The internal secondary narrator-focalizer embeds in his character-text the speech of another character, who, thus, functions as a tertiary narrator-focalizer. Recipients are an internal tertiary narrateefocalizee, the internal secondary narratee-focalizee and, ultimately, the external primary narratee-focalizee.« Diese Struktur findet sich in allen vier Gastmahlzenen, die von einer Figur dargestellt werden.75 Eine leicht abgewandelte Form bildet darüber hinaus den Rahmen des KirkeAbenteuers der Gefährten: Tatsächlich kann Odysseus (»internal secondary narrator-focalizer«), der am Schiff zurückgeblieben war, nur deshalb die Erlebnisse seiner Gefährten bei Kirke wiedergeben, weil Eurylochos ihm davon berichtet. Eurylochos wird also als »tertiary narratorfocalizer« eingeführt, doch zitiert Odysseus dessen Rede nicht wörtlich, wie es DE JONGS Definition voraussetzt. Die Analyse der Erzählperspektive in typischen Szenen kann Hinweise darauf geben, warum einzelne Strukturelemente auf eine bestimmte Weise gestaltet werden. Sie allein reicht freilich für das Verständnis der Szenentypik nicht aus. Ebenso bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen Gastmahlszenen, die um ihrer selbst willen erzählt werden (sei es, daß sie, wie in den Apologoi des Odysseus oder des Aeneas, aus der Figurenperspektive ein Stück der Haupthandlung nachtragen, oder daß sie primär aus der auktorialen Perspektive geschildert werden), und solchen, die der Erzähler als Exkurs bzw. zu einem bestimmten Beweiszweck einführt. Die zweite Gruppe, zu der vier der vierzig berücksichtigten Szenen gehören, ist im Text durch einleitende Bemerkungen gekennzeichnet: Nestor erinnert Patroklos zunächst allgemein an die Ermahnungen, die sein Vater ihm mitgegeben habe, bevor er das Gastmahl in Phthia, bei dem diese geäußert wurden, und den Inhalt der Mahnung – Patroklos möge Achill ein guter Ratgeber sein – nä75 Vgl. auch das Kyklopenabenteuer im neunten Buch der Odyssee, wo dem Erzählstandpunkt eine wichtige Funktion zukommt; dazu unten die Interpretation der Szene, S. 396ff.
2. Die Typik der Gastmahlszene
43
her schildert.76 Der Narbenexkurs im neunzehnten Buch der Odyssee, der auch den Besuch bei Autolykos umfaßt, dient dazu, die aufsehenerregenden Hintergründe der Verwundung des Odysseus zu verdeutlichen und so zu erklären, warum Eurykleia die Narbe auch nach Jahren sofort identifizieren kann.77 Die beiden aitiologischen Erzählungen in den Punica zur Entstehung des Weinbaus in Falernum und zur Verehrung der Anna Perenna in Latium führt der Dichter selbst als Exkurse ein, die der Verherrlichung des Bacchus und der Wassernymphe Anna Perenna dienen.78 Der Fokus liegt in allen Fällen nicht auf der Bewirtung selbst, sondern auf einem unmittelbar damit zusammenhängenden Ereignis, das der Erzähler als eigentliches Thema hervorhebt. Dieser Umstand übt auch Einfluß auf die Darstellung der Bewirtung aus: Der Bericht vom Aufenthalt in Phthia, den Nestor aus der Rückschau liefert, endet nicht mit dem Nachtlager, wie eine vollständige Gastmahlszene, sondern bricht ab, sobald der Erzähler die angekündigten Mahnungen des Menoitios rekapituliert hat. Im Narbenexkurs findet keine Unterhaltung nach dem Mahl statt, da der Bericht auf die Jagd und die Verwundung des Odysseus als Höhepunkt zuläuft, und in den beiden von Silius dargestellten Aitia des Weinbaus und der Verehrung der 76 Hom. Il. 11,765-768: « PPON MN SO¸ GE .ENO¸TIOW ¬D PTELLEN MATIT¯ÔTES K'Y¸HWb"GAMMNONIPMPENN¤ÐDNDONÎNTEWG£KA¹ DºOW b0DUSSEÃW PjNTA MjL N MEGjROIW KOÃOMEN ¦W PTELLEN. S. zur Zweckgebundenheit dieser Gastmahlszene AUSTIN (1966) 305: »The story of the recruiting mission at Phthia [...] recalls incidents from Achilleus’ past to serve as a paradigmatic argument.« Vgl. PEDRICK (1983) 55-68. 77 Zur besonderen Erzählsituation des Narbenexkurses s. KÖHNKEN (1976) 112f.: »Die ›berichtende Erzählung‹ des Exkurses bildet [...] immer nur den vertiefenden und verdeutlichenden Hintergrund zur ›szenischen Darstellung‹ der Haupterzählung [...]. Der Exkurs ist [...] aus der Perspektive des ›allwissenden‹ Erzählers als Information des Hörers konzpiert. Er ist in Anlage und Personal überhaupt nur von der Haupterzählung her verständlich.« 78 Der Einleitungssatz der wahrscheinlich von Silius erfundenen Falernusszene (s. NICOL [1936] 11f.) hebt die beschaulich gehaltene Erzählung von den »großen Vorhaben« (sc. den von Hannibal in Falernum ausgelösten Kämpfen) ab, Sil. 7,162f.: Haud fas, Bacche, tuos tacitum tramittere honores / quamquam magna incepta vocent. S. dazu VESSEY (1973) 241: »The appearance of the word magna signalizes the fact that the poet is turning aside for a time from the ›grand‹ themes of epic to material more suited to a ›smaller‹, Callimachean genre.« Der Beginn des Exkurses über Anna Perenna betont den weit vor der Gegenwart (des Dichters und seines eigentlichen Gegenstandes) liegenden Ursprung ihrer Verehrung, Sil. 8,44-49: multa retro rerum iacet atque ambagibus aevi / obtegitur densa caligine mersa vetustas, / cur [...] regnis [...] Aeneadum germana colatur Elissae. / Sed pressis stringam revocatam ab origine famam / narrandi metis breviterque antiqua revolvam.
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2. Die Typik der Gastmahlszene
Anna Perenna wird u.a. das »Nachtlager« so abgewandelt, daß es die von Bacchus verliehene Trunkenheit des Falernus und die göttliche Führung der künftigen Wassernymphe Anna hervortreten läßt. Trotz dieser Abwandlungen werden die Szenen jedoch als epische Gastmähler gestaltet, so daß auch diese Gruppe zur Etablierung des Verlaufsschemas herangezogen werden kann. Bei einer Analyse der von einer Figur dargestellten Bewirtungen muß jedoch darauf geachtet werden, ob und wie weit die Erzählperspektive die Ausgestaltung einzelner Elemente beeinflußt. Diesem Zweck dient der unten folgende Kommentar zu den einzelnen Elementen. Aus der diachronen Perspektive der Arbeit ergeben sich einige Besonderheiten, die berücksichtigt werden müssen, wenn das typische Schema als Analysehilfe dienen soll. Angestrebt wird nicht eine bis ins Detail reichende Darstellung der literarischen Gepflogenheiten einer Epoche, sondern die Beschreibung der über die Zeiten hinweg konstant bleibenden Elemente. Wer sich vorrangig mit Homer beschäftigt, wird also einige Elemente vermissen, die in Ilias und Odyssee wiederholt auftreten und bei synchroner Betrachtungsweise berücksichtigt werden müßten; wer die flavische Epik untersucht, wird einige Details, die im Schema als »typisch« angegeben werden, in den Texten dieser Epoche nur selten entdecken. Trotz dieser notwendigen Beschränkungen bietet ein diachrones Schema Vorteile für die Interpretation. An ihm läßt sich leicht ablesen, daß einige Elemente, die bei synchroner Betrachtung als selbstverständlicher Bestandteil epischer Konvention gelten, in Wirklichkeit epochenspezifische Darstellungsformen sind (z.B. das bei Homer in einem Formelvers beschriebene »Ausstrecken der Hände«), während sich andere durch die Zeiten hin behaupten (z.B. das bei Homer ebenfalls in einem Formelvers beschriebene Ende der Nahrungsaufnahme). Mißt man also ein konkretes episches Gastmahl an dem diachronen Schema, so liefert die Auflistung zwar Hinweise auf Besonderheiten der jeweiligen Szene, bietet aber noch keine Erklärung für die auffälligen Phänomene, die jeweils aus dem Kontext heraus gedeutet werden müssen. Um die Interpretation des jeweiligen Befundes zu erleichtern, habe ich im folgenden eine kurze Beschreibung eines jeden Elements angefügt und diese durch eine kurze Erläuterung zu einzelnen Details ergänzt, die zwar nicht zum typischen Schema gehören, aber oft im Umfeld eines Gastmahles erscheinen und daher von Interesse sein können.
2. Die Typik der Gastmahlszene
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Das Schema einer epischen Gastmahlszene aus diachroner Perspektive Ankunft des Gastes [II Warten auf der Türschwelle] III) Beschreibung: a) des Schauplatzes b) der anwesenden Personen [IV) supplicatio (Hikesie) als Ersatz für Elemente II oder V] V) Begrüßung a) durch Gesten b) durch Reden VI) Platz bei Tisch VII) Das eigentliche Mahl a) Die Vorbereitung des eigentlichen Mahles: Dienerschaft b) Der Genuß von Speisen und Getränken c) Das Ende des eigentlichen Mahles VIII) religiöse Handlungen (Libation, Opfer, Gebet) IX) Gespräch zwischen Gastgeber und Gast [X) Vortrag des Sängers] XI) Nachtlager I)
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2. Die Typik der Gastmahlszene
2.2 Die Strukturelemente des typischen Schemas I) Ankunft des Gastes Die meisten Fremden haben, wenn sie auf ihren Wirt treffen, eine Seereise hinter sich gebracht (19 von 40 Szenen).79 In zehn Fällen erreichen sie ihr Ziel zu Fuß,80 viermal benutzt der Gast ein Pferdegespann,81 und dreimal nähern sich Götter im Flug bzw. schwimmend dem Bestimmungsort.82 Ohne nähere Angaben über die Art der Reise bleiben der Besuch des Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,769-790), des Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,413-427), des Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,107-333) und des Hannibal in Capua (Sil. 11,259-368). Die große Zahl der Schiffsreisen ist durch den Stoff der zehn berücksichtigten Epen bedingt, von denen allein vier (die Odyssee, die Argonautika des Apollonios und des Valerius Flaccus sowie die Aeneis) eine längere Seefahrt zum Thema haben, die die Helden in fremde Länder und damit 79 Telemach bei Nestor (Hom. Od. 2,416-434); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 5,270-453); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,133-141); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,133-141); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 13,75-121); Telemach bei Eumaios (Hom.Od. 15,284-300 und 495-499); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,164177); Argonauten bei Lykos (A.R. 2,720-751); Argonauten auf der Aresinsel (A.R. 2,960-1089); Jason bei Aietes (A.R. 2,1229-1285); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,34173); Trojaner bei Helenus (Verg. Aen. 3,268-277); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,90-101); Anna bei Aeneas (Sil. 8,65-70); Diomedes und Odysseus bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,675-700); Argonauten auf Lemnos (Val. Flac. 2,311-327); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,579-635); Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,422); Argonauten bei Aietes (Val. Flac. 5,276f.). 80 Agamemnon bewirtet die Heerführer (Hom. Il. 2,408); Siegesmahl für Aias (Hom. Il. 7,310); Beratung vor der Presbeia (Hom. Il. 9,89f.); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,182); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,84); Abschiedsmahl der Argonauten (in den ersten Büchern der Argonautenepen des Apollonios Rhodios und des Valerius Flaccus: hier sind die Helden schon länger versammelt, um die Abfahrt vorzubereiten, hinzu kommt die verspätete Ankunft des Chiron, Val. Flac. 1,255); Serranus bei Marus (Sil. 6,69-71); Bacchus bei Falernus, Sil. 7,171f.); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,376f. und 406). 81 Dieses Fortbewegungsmittel ist im Wesentlichen auf Homer beschränkt und kommt in den späteren Szenen nur noch einmal bei Claudian vor, wo Pluto seine Braut Proserpina auf einem Wagen entführt (Claud. rapt. Pros. 2,307). Das Pferdegespann gilt als typisches Gefährt des Unterweltsgottes, s. WÜST RE XXI,1 (1951) 998 s.v. Pluton. Die homerischen Belege sind Machaon und Nestor (Hom. Il. 11,620); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,322-327); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4, 20). 82 Athene (Hom. Od. 1,96-102) und Hermes (Od. 5,44-54) nähern sich fliegend, die Meergöttin Thetis (Stat. Ach. 1,98-100) gelangt schwimmend nach Thessalien. Zu dieser Deutung der Verse tristis ad Haemonias detorquet bracchia terras. / ter conata manu, liquidum ter gressibus aequor / reppulit vgl. DILKE (1952) ad loc.
2. Die Typik der Gastmahlszene
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auch zu potentiellen Gastgebern führt. Die Art des Fortbewegungsmittels hat jedoch keinen maßgeblichen Einfluß auf den Ablauf einer Bewirtung.83 In fast der Hälfte der homerischen Gastmahlszenen (sieben von achtzehn) erscheint der Besucher, während die Vorbereitung zu einem Mahl oder das Mahl selbst bereits im Gang ist, in das er sogleich integriert wird.84 Diese Konstellation nimmt bei den späteren Epikern an Häufigkeit ab, während die Zahl der eigens für die Gäste veranstalteten Festessen steigt. Bei Apollonios erscheint kein Gast während eines Mahls, und in den lateinischen Szenen trifft nur Aeneas den Euander bei einem Opferschmaus an.85 Dennoch greifen alle nachhomerischen Autoren mit Ausnahme Claudians die Ankunft während eines Schmauses in abgewandelter Form auf. Dies kann dadurch geschehen, daß nach dem Eintreffen der Gäste und dem Beginn des Mahls eine zweite Ankunft eingeschoben wird (3 Belege, Rückkehr der siegreichen Boreassöhne während des stärkenden Mahls für Phineus, [2. Ankunft während der Mahlszene] A.R. 2,426-428; Ankunft Cupidos während des Banketts für Aeneas, Verg. Aen. 1,697f.; Ankunft des Chiron beim Abschiedsmahl der Argonauten, [2. Ankunft während der Mahlszene] Val. Flac. 1,255f.), daß die Gäste früh bemerkt werden, den Festplatz aber erst erreichen, wenn der Gastgeber bereits mit den Vorbereitungen begonnen hat (1 Beleg: Jason auf Lemnos, Val. Flac. 2,311-342), 83 Bei einer Reise mit dem Pferdegespann werden die Tiere von den Dienern des Gastgebers versorgt: Hom. Il. 11,620f. und Hom. Il. 24,576 (das Ausschirren der Pferde und Esel erfolgt hier erst, als Achill und Priamos sich über die Lösung Hektors einig geworden sind); Hom. Od. 4,39-42; Claud. 2,318f. Eine Fahrt zu Schiff übt dann einen direkten Einfluß auf die Bewirtung aus, wenn der Gast durch Stürme Schaden genommen hat und deshalb auf Unterstützung angewiesen ist. Ein Seesturm kommt jedoch nur in drei Fällen im Zusammenhang mit einer Gastmahlszene vor (Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 5,291-454; Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,81-158 und die Phrixossöhne auf der Aresinsel, A.R. 2,1102-1120). 84 Diese Beobachtung schon bei SAÏD (1979) 28: »Dans l’Odyssée, le festin constitue en effet le cadre normal de l’hospitalité et l’occasion privilégiée de la mettre à l’épreuve. Aussi l’hôte arrive-t-il le plus souvent au milieu d’un festin.« Es handelt sich um folgende Szenen: Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,776f.); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,475-477); Athene/Mentes bei Telemach (Hom. Od. 1,103-112: hier wird der Gast nicht in das Mahl der Freier integriert, mit dessen Vorbereitungen die Diener eben beschäftigt sind, sondern speist abseits mit dem Gastgeber Telemach); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,31-33); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,1-16); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,136-138); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,11-14). 85 Verg. Aen. 8,102-104: Forte die sollemnem illo rex Arcas honorem / Amphitryoniadae magno divisque ferebat / ante urbem in luco). Schon die Tatsache, daß der Gast während eines Mahls eintrifft, läßt an eine Homerreminiszenz denken. Primäres Vorbild ist die Bewirtung des Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,31-403).
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2. Die Typik der Gastmahlszene
oder daß sie den Wirt kurz vor Beginn (1 Beleg: Chiron bereitet ein Mahl für Achill und Patroklos vor, als Thetis erscheint, Stat. Ach. 1,120f.) oder kurz nach dem Ende eines Mahls antreffen (1 Beleg, Tydeus und Polyneikes erreichen Adrast, als die Altäre noch Spuren des eben dargebrachten Opfers bewahren und die Speisen noch frisch sind86). Bei zwei Gelegenheiten beginnt das Mahl zugleich mit der Versammlung der Festgesellschaft, die schon vorher zum Schmaus eingeladen wurde (Abschiedsmahl der Argonauten bei Apollonios, 1,450-455 und Valerius Flaccus, 1,250252). 87 In anderen Fällen sind die Gäste zwar schon früher anwesend, doch setzt die Darstellung des Mahls erst ein, als das Fest bereits im Gang ist (2 Belege: Caesar bei Kleopatra, Lucan. 10,107-110, Hannibal in Capua, 11,272274, dazu unten S. 178f. und S. 350f.), oder die Art der Darstellung erweckt beim Hörer den Eindruck, als hätten die Vorbereitungen schon begonnnen (1 Beleg: Cyzicus befiehlt, den Palast zu öffnen, in dem die Diener das Mahl vorbereiten, Val. Flac. 2,649-654). Mit unterschiedlichen erzähltechnischen Mitteln bewahren die späteren Dichter so in elf von einundzwanzig Szenen eine Nähe zum homerischen Szenenbeginn während eines Mahles. [II) Warten auf der Türschwelle] In dreißig der vierzig berücksichtigten Szenen hält sich der Wirt in geschlossenen Räumlichkeiten auf, als der Gast eintrifft.88 In diesem Fall bittet der Fremde oft um Aufnahme, indem er am Eingang verharrt, bis er bemerkt wird (11 Nachweise89). 86 Stat. Theb. 1,512-515: canis etiamnum altaribus ignes / sopitum cinerem et tepidi libamina sacri / servabant; adolere focos epulasque recentes / instaurare iubet. Vgl. dazu die Ankunft des Odysseus bei den Phäaken, die eben die abschließende Trankspende ausgießen wollen, Hom. Od. 7,136-138. 87 Vgl. dazu auch die Ankunft des Diomedes und Odysseus bei Lycomedes, wo der unverzügliche Beginn der Vorbereitungen hervorgehoben wird: (Lycomedes) simul intra limine ducit. / nec mora, iam mensas famularis turba torosque / instruit (Stat. Ach. 1,740742). 88 Es handelt sich dabei in der Ilias meist um ein Zelt (einzige Ausnahme: die Erzählung Nestors über den Besuch in Phthia, s. Hom. Il. 11,769), in den übrigen Epen um ein festes Haus, wobei in fünf Szenen eine ungewöhnliche Pracht und Schönheit hervorgehoben werden: Palast des Menelaos (Hom. Od. 4,43-46 und 71-75); Grotte der Kalypso (Hom. Od. 5,59-74); Palast des Alkinoos (Hom. Od. 7,84-133), des Aietes (A.R. 3,215248) und der Kleopatra (Lucan. 10,111-126). 89 Nestor in Phthia (Hom. Il. 11,777); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,103-105); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,20-22); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,220 hier ein kurz angedeuteter Ruf); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,310f.: hier
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Das Warten auf der Türschwelle erscheint daneben in zwei Fällen (Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,75-77; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,133-135)90, in denen offenbar nicht die Regeln des Gastrechts, sondern die staunenswerte Pracht der Behausung den Ankömmling zu einem Halt veranlassen: Hermes wartet nicht, bis Kalypso ihn hereinbittet, sondern betritt die Grotte nach kurzem Innehalten auf der Schwelle unaufgefordert, und Odysseus ist bei seiner Ankunft am Palast des Alkinoos unsichtbar, so daß eine stumme Bitte um Aufnahme ausgeschlossen ist. 91 Hinzu kommt eine Sonderform, bei der nicht der Gast, sondern der Gastgeber oder eine bereits früher eingetroffene Person auf der Türschwelle ausharrt (3 Belege: Der geschwächte Phineus bricht auf der Türschwelle zusammen, A.R. 2,202f., s. dazu unten S. 284; Chiron erblickt Thetis von der Schwelle aus, Stat. Ach. 1,119f. [vgl. in derselben Szene die Begegnung der Thetis und des heimkehrenden Achill »auf der Schwelle« V. 171f.], Lycomedes steht auf der Schwelle, als Odysseus und Diomedes eintreffen, Stat. Ach. 1,726f.), so daß wir in den berücksichtigten Szenen insgesamt sechzehn Nachweise für das »Warten auf der Türschwelle« besitzen. Nur ein kurz angedeuteter Ruf); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,30-32); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,12); Jason bei Aietes (A.R. 3,215); Pflege des Serranus (Sil. 6,72f.); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,173f.: Halt nur angedeutet); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,386-389). 90 Die Ankunft des Odysseus bei den Phäaken wird von Apollonios durch die auffällige Kombination eines inhaltlichen Details (schützender Nebel, dessen genaue Form bei Apollonios in der Forschung umstritten ist) mit einer erzähltechnischen Eigenheit (Ekphrasis eines Palastes aus der Perspektive eines Unsichtbaren oder eben noch Unsichtbaren) in der Kolchisszene rezipiert (A.R. 3,210-248). Vgl. die Ankunft des Aeneas bei Dido, wo die Helden auf ihrem Weg in eine Wolke gehüllt sind, aus der sie vor der Ekphrasis des Palastes wieder heraustreten (Verg. Aen. 1,411-593) und den von Valerius Flaccus beschriebenen Besuch Jasons in Kolchis (Val. Flac. 5,399-401). Die Verbindungen zwischen der Ankunft des Aeneas in Karthago und des Jason in Kolchis wird durch die vom Gastmahl getrennte Bildbeschreibung verstärkt: Aeneas im Tempel von Karthago und Jason am Tempel des Sonnengottes betrachten Darstellungen von Szenen ihres eigenen (vergangenen oder zukünftigen) Lebens, Verg. Aen. 1,453-493 und Val. Flac. 5,407-454. Nicht das typische Schema eines Gastmahls, sondern Anspielungen auf bestimmte Vorbilder sind hier für die konkrete Gestaltung der Szenen ausschlaggebend. 91 Auch bei den Ankömmlingen, die durch das Warten auf der Schwelle regulär um Einlaß bitten, kann der Aufenthalt an der Tür mit einer Beschreibung der Räumlichkeiten aus der Figurenperspektive verbunden sein. Dies trifft auf sechs Szenen zu: Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,43-46: Genaue Beschreibung nach dem Hineinführen der Gäste); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,210-220); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,5-22); Jason bei Aietes (A.R. 3,215-248); Serranus bei Marus (Sil. 6,72f.: Das Äußere des Hauses wird hier nur sehr knapp angedeutet); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,173-176: kurze Andeutung).
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Besucher, die zugleich eine Botschaft ausrichten, oder die mit göttlicher Hilfe unsichtbar sind, betreten das Haus ihres Gastgebers ohne Aufforderung (4 Belege, nur bei Homer).92 Die Häufigkeit des Strukturelements nimmt in den lateinischen Gastmahlszenen gegenüber den griechischen auffällig ab. Warten bei Homer neun von achtzehn und bei Apollonios zwei von fünf Personen auf der Schwelle,93 so sind es in allen lateinischen Epen zusammen nur fünf von siebzehn.94 Vergil, Lukan und Claudian verwenden das Detail überhaupt nicht. Dies ist vor allem durch die veränderte Szenerie zu Beginn der Bewirtung bedingt. Bei Homer begegnen nur sechs von achtzehn Gästen ihrem Wirt im Freien bzw. außerhalb des Festsaals, so daß das Warten auf der Türschwelle, welches in erster Linie der Bitte um Aufnahme dient, dort entfällt. In den lateinischen Szenen sind es dagegen dreizehn von siebzehn.95 92 Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,192f.; Priamos bei Achill, Hom. Il. 24,477; Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,76f.; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,134f. 93 Belege bei Homer: Nestor in Phthia (Hom. Il. 11,777); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,103f.); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,20-22); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,75); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,82f.); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,220); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,310); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,30-32); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,12). Belege bei Apollonios: Phineus bei der Ankunft der Argonauten (A.R. 2,202f.: Umkehrung); Jason bei Aietes (A.R. 3,215). 94 Serranus bei Marus, Sil. 6,72f.; Bacchus bei Falernus, Sil. 7,173f. (kurze Andeutung); Tydeus und Polyneikes auf der Schwelle des Adrast, Stat. Theb. 1,386-389 und 401-407; Chiron wartet an der Schwelle auf Achill, als Thetis erscheint, Stat. Ach. 1,119f. Lycomedes wartet auf der Schwelle auf Odysseus und Diomedes, Stat. Ach. 1,726f. 95 Belege bei Homer: Agamemnon lädt die übrigen Heerführer zum Mahl ein (Hom. Il. 2,381-385); Gastmahl des Agamemnon für den siegreichen Aias (Hom. Il. 7,311f.: hier geleiten die Gefährten Aias zu Agamemnon); Nestor fordert Agamemnon auf, ein Mahl auszurichten, bei welchem die Presbeia zu Achill beschlossen wird (Hom. Il. 9,65-72, Agamemnon folgt der Anregung und führt die Heerführer in sein Zelt: Hom. Il. 89f.); Nestor bringt den verwundeten Machaon in sein Zelt (Hom. Il. 11,597f.); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,36-38); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,61-73). Lateinische Belege: Aeneas begegnet Dido im Tempel (Verg. Aen. 1,595-630); Aeneas begegnet Helenus im Freien (Verg. Aen. 3,345-347); Aeneas begegnet Pallas und Euander im Hain (Verg. Aen. 8,102-120); Caesar trifft Kleopatra vor dem Fest und führt Verhandlungen mit ihrem Bruder (z.B. Lucan. 10,104-107); Anna begegnet Aeneas am Strand (Sil. 8,6572); Hannibal zieht vor dem Fest in Capua ein (Sil. 11,222-224); Chiron läuft Thetis entgegen (Stat. Ach. 1,121-123); Abschiedsmahl der Argonauten am Strand (Val. Flac. 1,250f.); Die Argonauten begegnen der lemnischen Botin Iphinoe am Strand (Val. Flac. 2,326f.); Cyzicus geht den Argonauten entgegen, (Val. Flac. 2,637); Phineus geht den Argonauten entgegen (Val. Flac. 4,433-435); Aietes fordert Jason während der Audienz im Tempel des Sol auf, gegen seinen Bruder ins Feld zu ziehen, und akzeptiert ihn dabei
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Bis auf zwei Ausnahmen, in denen das Mahl im Freien stattfindet (Mahl des Euander, Verg. Aen. 8,102-104 und Abschiedsmahl der Argonauten, Val. Flac. 1,250f.), wird der Gast dabei vom Wirt selbst ins Haus gebeten, so daß er sich insgesamt in den lateinischen Szenen viel seltener als in den griechischen in der Position eines Bittenden befindet, der an die Tür eines potentiellen Wirtes klopfen muß. Die tendenziell stärkere Stellung des Fremden in der lateinischen Epik zeigt sich auch in anderen Details, wie den Gastgeschenken (s.u. S. 108). Auffällig ist die Beobachtung, daß die lateinischen Dichter in einigen Fällen den Beginn des Gastmahls so schildern, daß der Eindruck einer Ruhepause vor der Bewirtung gewahrt bleibt, obwohl das Warten auf der Türschwelle selbst entfällt. Vergil beschreibt die Festgesellschaft in Karthago aus der Perspektive des eben eintreffenden Cupido, so daß es scheint, als beobachte er diese von einem festen Standpunkt aus (Verg. Aen. 1,697700), und auch Hannibal absolviert seine Stadtbesichtigung in Capua offenbar von einem festen Standort aus (Sil. 11,259-266 dazu unten S. 342), ganz ähnlich wie sonst die Gäste ihre Umgebung von der Schwelle aus betrachten. In der ersten Gastmahlszene der Achilleis, wo Thetis voller Unruhe die Höhle des Chiron mustert, um Spuren ihres Sohnes Achill zu entdekken, wird zuerst die Ekphrasis geliefert (Stat. Ach. 1,106-118), und erst danach durch die angstvolle Frage der Besucherin die Figurenperspektive hervorgehoben, Stat. Ach. 1,126f.: Iamdudum tacito lustrat Thetis omnia visu / nec perpessa moras: ›Ubinam mea pignora, Chiron...?‹). III) Beschreibung a) des Schauplatzes Eine Beschreibung der Räumlichkeiten, die aus der Perspektive des Gastes geliefert wird und durch auktoriale Bemerkungen ergänzt werden kann, erscheint in 16 von vierzig Szenen.96 Wenn der Besucher unbemerkt auf der (scheinbar) als Gast (Val. Flac. 5,534-541); Pluto raubt Proserpina beim Blumenpflücken (Claud. rapt. Pros. 2,204f.). 96 Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,448-456); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,43-46 und 71-75, hier erscheint die Personenbeschreibung ausnamhmsweise vor der Ekphrasis der Räumlichkeiten); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,63-74); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,84-132); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,210219); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,5-22); Jason bei Aietes (A.R. 3,215-248); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,697-700: hier ist die Beschreibung der Einrichtungsgegenstände mit der Darstellung der Aktivitäten der Gäste verbunden. Eine selbständige, offenbar aus der Perspektive des Aeneas gelieferte Ekphrasis der Räumlichkeiten erscheint vor
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Türschwelle haltmacht, schließt sich die Beschreibung direkt an, andernfalls wird sie möglichst nah an den Beginn der Szene gerückt. Mit Ausnahme der Darstellung des spartanischen Königspalastes ist sie abgeschlossen, bevor die bedienenden Knechte und Mägde beschrieben werden.97 Die Ekphrasis schreitet vom Größeren zum Kleineren und von außen nach innen voran. Sie umfaßt zunächst die großen Bauteile, wie Wände, Decken und Böden, sodann die Einrichtungsgegenstände und deren dem Beginn der eigentlichen Szene, Verg. Aen. 1,637-642); Aeneas bei Helenus (Verg. Aen. 3,349-353: hier ist die Beschreibung der Stadt in die Gastmahlszene integriert und tritt an die Stelle der Ekphrasis der Räumlichkeiten); Aeneas bei Euander (hier wird die Raumbeschreibung zunächst ausgelassen, da das Mahl im Freien stattfindet. Erst als sich die Gesellschaft in den Palast begibt, folgt eine Beschreibung der Stadt, die an die Stelle einer ausführlichen Raumbeschreibung tritt, Verg. Aen. 8,337-365. Die Darstellung des eigentlichen Hauses fällt sehr knapp aus, Verg. Aen. 8,366); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,111-126); Serranus bei Marus (Sil. 6,72f.: Beschreibung sehr knapp angedeutet); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,173-176: Beschreibung sehr knapp); Hannibal in Capua (Sil. 11,259-266: hier fallen Stadt- und Raumbeschreibung zusammen, da das gesamte Gebiet von Capua in das Festmahl einbezogen ist); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,651f.); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,106-115). Während des Besuchs bei Lycomedes mustert Odysseus das Haus des Gastgebers zwar genau (Stat. Ach. 1,742-749), doch gibt der Dichter seine Beobachtungen nicht wieder. 97 In der Bewirtung des Telemach durch Menelaos ist die Raumbeschreibung ausnahmsweise zweigeteilt. Die Besucher erblicken, dem typischen Schema entsprechend, den Palast zunächst beim Eintreten, d.h. von außen nach innen voranschreitend (Hom. Od. 4,43-46). Erst nachdem der König sie bewirtet hat, wendet sich Telemach an seinen Begleiter und beschreibt in wörtlicher Rede die ihn umgebende Pracht des Saales, den er mit der Wohnung der olympischen Götter vergleicht (Hom. Od. 4,71-75). Diese Äußerung bildet eine Überleitung zur Rede des Menelaos (die eine Abweichung vom Schema darstellt, da sonst die Erlebnisse des Gastes im Mittelpunkt stehen): Zwar dürfe er sich nicht mit den Göttern messen, unter den Menschen aber stehe er niemandem an Reichtum nach. Diesen habe er trotz vieler Irrfahrten, von denen er daraufhin berichtet, nach Hause gerettet (Hom. Od. 4,78-112). Durch die Stellung der Rede wird eine Parallele zwischen der Bewirtung des Telemach bei Menelaos und dem zweiten Tag der Bewirtung des Odysseus auf Scheria erreicht: Vater wie Sohn reagieren mit Tränen auf die Erwähnung des Odysseus (in Lied- oder Erzählform), die sich unmittelbar an die Bewirtung anschließt. Ihre Rührung (Hom. Od. 4,113-116 und Hom. Od. 8,83-86, 521-534) trägt in beiden Fällen zu ihrer Identifikation bei. Beim Besuch im Haus des Lycomedes, der keine eigene Ekphrasis enthält, durchwandert Odysseus, scheinbar die (nicht näher beschriebene) Pracht des Palastes bewundernd, die Räume, um nach Spuren des vermißten Achill zu suchen. Unterdessen sind die Diener mit den Mahlvorbereitungen beschäftigt, so daß hier die Herrichtung des Banketts und die Betrachtung der Räumlichkeiten ausnahmsweise gleichzeitig stattfinden. Das vorgetäuschte Staunen des Odysseus entspricht der gewöhnlichen Reaktion eines Ankömmlings, so daß der Anschluß an die üblichen Beschreibungen des Schauplatzes formal gewahrt bleibt.
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Schmuck. Die Ausführlichkeit der Darstellung kann dabei stark schwanken, je nachdem, welche Schwerpunkte der Dichter setzen will. Die Ortsbeschreibung ermöglicht es dem Dichter, seine Figuren, in erster Linie den Hausherrn, indirekt zu charakterisieren. Die nur im Gastmahl der Kleopatra vorkommenden negativen Implikationen einer Ekphrasis98 werden von den Anwesenden nicht als solche wahrgenommen, sondern die Reaktion des Gastes besteht – unabhängig von den Konnotationen – in Staunen, Freude oder Bewunderung.99 So gelingt es dem Epiker, auch die Figur des Betrachters selbst in die Wertung einzubeziehen. Indem er dem bewunderten Gegenstand eine für den Leser negative Assoziation zuschreibt, kennzeichnet er den Besucher als zweifelhafte Gestalt. Die Ekphrasis des Ortes fehlt regelmäßig bei Mählern, die im Freien stattfinden.100 Sie kann aber auch ausgelassen werden, wenn die Betrachter den Schauplatz bereits gut kennen (dies gilt für den Wirt selbst, wenn in der Anfangsphase des Gastmahls dessen Perspektive vorherrscht),101 wenn die 98 Lucan. 10,111-126 (von übermäßigem Luxus geprägter Palast der ägyptischen Königin). 99 Alle fünf ausführlichen Darstellungen eines Königspalastes bzw. einer Stadt enthalten einen Hinweis auf Staunen und Freude der Besucher: Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,44); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,133); Jason bei Aietes (A.R. 3,215); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,169-171); Hannibal in Capua (Sil. 11,259-261). Beim Besuch des Aeneas in Karthago wird das Staunen der Besucher nur beim Anblick der Gemälde im Tempel vor Beginn der eigentlichen Gastmahlszene wiedergegeben, Verg. Aen. 1,494f.: Haec dum Dardanio Aeneae miranda videntur, / dum stupet obtutuque haeret defixus in uno... Bei der Beschreibung des Palastes deuten nur die Adjektive superbus, Verg. Aen. 1,639; ingens, Verg. Aen. 1,640 und (series) longissima, Verg. Aen. 1,641 die Wirkung auf den Betrachter an. Daß die Beschreibung aus der Figurenperspektive geliefert wird, läßt sich nur indirekt folgern, s. dazu S. 147f. Vgl. als Kontrast die Abneigung der Argonauten beim Besuch des Soltempels in Kolchis vor Beginn der Gastmahlszene (Val. Flac. 5,407-456). Allerdings löst hier nicht das Gebäude selbst diese Regungen aus, sondern der bildliche Schmuck auf dem Fries und dem Portal, der das künftige unglückliche Schicksal Jasons und Medeas zeigt. Die Ursache ihres instinktiven Widerwillens ist den Betrachtern unbekannt (Val. Flac. 5,451-454). Die Szene ist der Besichtigung des Iunotempels in Karthago (Verg. Aen. 1,441-497) nachgebildet. 100 5 Belege: Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,31-403); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R.1,450-518 und Val. Flac. 1,250-310); Argonauten und die Phrixossöhne auf der Aresinsel (A.R. 2,1118-1227); Aeneas bei Euander, (Verg. Aen. 8,97-369: Eine Beschreibung der weiteren Umgebung erfolgt hier bei der Rückkehr vom heiligen Hain, wo die Bewirtung stattgefunden hat, zum Königssitz). 101 9 Belege: Drei Mähler im Zelt des Agamemnon (Hom. Il. 2,402-441; 7,311-344 und 9,89-181, fortgeführt 669-713); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,193-195); Nestor und Machaon in Nestors Zelt (Hom. Il. 11,618-623); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,410: hier ist außerdem eine detaillierte Beschreibung des Anwesens aus der Perspektive
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Darstellung der Räumlichkeiten an anderer Stelle erfolgt,102 wenn der Dichter Nachdruck auf die Handlungen der Figuren legt,103 oder wenn die Anfangsphase der Bewirtung insgesamt nur knapp dargestellt wird.104 Es können auch mehrere Gründe gleichzeitig vorliegen. Da sich keine allgemeingültige Regel angeben läßt, muß die Erzählabsicht jeweils aus dem Kontext erschlossen werden. b) Beschreibung von Personen Im Vergleich zu den Räumlichkeiten kommen die Personen, die der Besucher antrifft, zwar öfter vor (in 21 von 40 Szenen finden sich zu Beginn Bemerkungen über die Anwesenden), werden aber meist recht kurz behandelt.105 Der Dichter erwähnt sie gewöhnlich nach der Beschreibung des Gedes Odysseus vorausgegangen); Besuch der Argonauten bei Phineus (A.R. 2,194-201: hier herrscht die Perspektive des blinden Wirtes vor); Polyneikes und Tydeus bei Adrast (Stat. Theb. 1,435-438 und 1,482-490: hier herrscht die Perspektive des Wirtes vor, der seinen Blick auf die vom Kampf gezeichneten Gesichter und die prodigiöse Kleidung der Gäste richtet); Val. Flac. 5,567-569 (Aietes betrachtet argwöhnisch die eintreffenen Argonauten). 102 Die Behausung der Kirke wird nur beim Besuch der Gefährten des Odysseus geschildert, nicht aber bei der unmittelbar folgenden Ankunft des Odysseus (Hom. Od. 10,310f.). Dasselbe gilt für die Ankunft von Athene/Mentes (Hom. Od. 1,103-105) und von Theoklymenos im Haus des Odysseus (Hom. Od. 17,84-87). Dieses wird erst bei der Heimkehr des verkleideten Odysseus aus dessen Perspektive beschrieben (Hom. Od. 17,264-268). S. ebenso die Ankunft des Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,4-12), wo die Beschreibung der Hütte fehlt, weil zuvor eine Darstellung aus der Perspektive des Odysseus gegeben wurde (Hom. Od. 14,5-22). 103 1 Beleg: Bei der Hochzeit von Pluto und Proserpina steht nicht das äußere Erscheinungsbild des Hades im Vordergrund, sondern das ungewöhnliche Betragen seiner Bewohner, die über der Hochzeitsfreude die Qualen der Unterwelt vergessen: Sisyphos läßt seinen Stein ruhen, der Adler frißt nicht länger von der Leber des Prometheus, und Charon rudert, festlich bekränzt, seinen Nachen ohne Passagiere über den Acheron (Claud. rapt. Pros. 2,332-360). 104 5 Belege: Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,771-777); Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,413-417); Argonauten bei Lykos (A.R. 2,759-761); Anna bei Aeneas (Sil. 8,76f.); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,340-349). 105 Die größten Unterschiede weist die Phäakenszene auf, in der die Darstellung des Palastes 49, die der anwesenden Personen 6 Verse umfaßt (Hom. Od. 7,84-132 und 7,136-141). Die kürzeste Bemerkung besteht aus gerade vier Worten (Val. Flac. 2,635f.: rex divitis agri / Cyzicus), die längste einer einzigen Figur gewidmete Beschreibung umfaßt sieben Verse (Darstellung der Kleopatra, Lucan. 10,137-143). Im einzelnen handelt es sich um folgende Szenen: Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,186-191; Nestor und Odysseus in Phthia, Hom. Il. 11,771-776; Priamos bei Achill, Hom. Il. 24,472-476; Athene/Mentes bei Telemach, Hom. Od. 1,106-117; Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,32f.; Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,26f. (Rede des Eteoneus über die Gäste, dazu vor
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bäudes,106 wobei in adligen Häusern nur der Herrscher oder das Herrscherpaar besonders hervortritt. Die übrigen Teilnehmer werden entweder über ihre soziale Schicht (z.B. GTORADMDONTAHom. Od. 7,136senatus, Verg. Aen. 8,105; reges, Lucan. 10,136), über ihre Herkunft (z.B. 'AIKVN, Hom. Od. 7,136; Troiana iuventus, Verg. Aen. 1,699; Tyrii, Verg. Aen. 1,707) oder über ihre Beziehung zum Hausherrn (z.B. U¼jSIN Hom. Od. 3,32; GE¸TONEWDTAIHom. Od. 4,16) bestimmt. Ihre Eigennamen kommen in der Ilias häufiger, in anderen Epen dagegen selten vor, Beginn der eigentlichen Szene eine zusammenfassende Darstellung der Anwesenden aus auktorialer Perspektive, Hom. Od. 4,3-19); Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,58 und 61f. sowie 81-84 (Ausnahmsweise Darstellung eines Abwesenden aus aukorialer Perspektive); Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,136-141; Gefährten des Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,221-228; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,23-28 (hier aus auktorialer Perspektive auch Angaben über Abwesende); Telemach bei Eumaios, Hom. Od. 16,4-10 (Beschreibung des eben eintreffenden Telemach); Argonauten bei Phineus, A.R. 2,194201 (›Beschreibung‹ der ankommenden Argonauten aus der Sicht des blinden Phineus und Angaben über Phineus selbst); Jason bei Aietes, A.R. 3,248-252; Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,697-700 und 707f.; Caesar bei Kleopatra, Lucan. 10,109f. und 136-143; Serranus bei Marus, Sil. 6,73-80; Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,437f. (Beschreibung der Ankömmlinge Tydeus und Polyneikes. Ausführlichere Beschreibung ihrer Kleidung später Stat. Theb. 1,482-492 und kurz darauf Darstellung der Töchter des Adrast, 1,533-539); Thetis bei Chiron, Stat. Ach. 1,120f. (später Beschreibung des eintreffenden Achill, 1,159-170); Argonauten bei Cyzicus, Val. Flac. 2,635f.; Jason bei Aietes, Val. Flac. 5,558-566 (Beschreibung der eintreffenden Argonauten); Hochzeitsmahl von Pluto und Proserpina, Claud. rapt. Pros. 2,308-316. 106 Ausnahmen bilden die Ankunft des Telemach bei Menelaos und des Hermes bei Kalypso. Bei Menelaos wird zunächst die Hochzeitsgesellschaft aus der (durch auktoriale Bemerkungen ergänzten) Perspektive der Ankömmlinge beschrieben (Hom. Od. 4,3-22), ehe der Erzählstandpunkt zu Menelaos und seinem Herold wechselt, die über die Aufnahme der Fremden beraten (Hom. Od. 4,22-36). Erst nachdem die Erzählperpektive erneut auf Telemach übergegangen ist, folgt die Beschreibung des Palastes (Hom. Od. 4,4346). Die ungewöhnliche Reihenfolge der Informationen ist hier durch den Wechsel des Erzählstandpunktes bedingt: Wenn der Dichter eine Diskussion zwischen Herold und Hausherrn schildern will, welche die Gastfreundschaft des Menelaos illustriert, muß er die anwesenden Personen zuvor wenigstens kurz erwähnen. Auch bei der Ankunft des Hermes, wo zuerst kurz die Anwesenheit der Kalypso festgestellt und dann das Innere der Grotte, die Tätigkeit der Kalypso und anschließend die Umgebung der Behausung geschildert wird (Hom. Od. 5,58-74), wechselt die Perspektive beim Betreten der Grotte von dem betrachtenden Götterboten zu seiner Gastgeberin, die ihn sogleich erkennt (Hom. Od. 5,77f.). Die rasche Identifikation wird durch die direkte Gegenüberstellung der ausführlichen Ortsbeschreibung mit der knapp geschilderten Wiedererkennung hervorgehoben. Vergleichbar ist die Phineusszene bei Apollonios Rhodios, dazu unten S. 280ff. Bei der Ankunft des Odysseus im Palast der Phäaken ist die von außen nach innen voranschreitende Darstellungstechnik der Raumbeschreibung auch auf die Figuren ausgedehnt, so daß Alkinoos und Arete, die im Innersten des Hauses sitzen, am Schluß der Darstellung erscheinen (Hom. Od. 7,136-141).
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obwohl im Verlauf von Gastmählern aller Epochen durchaus einzelne Individuen namentlich in Erscheinung treten können.107 Die Darstellung enthält in 19 von 21 Personenbeschreibungen Hinweise auf die Aktivitäten der Anwesenden,108 während ihr Äußeres, einschließlich der Kleidung, nur in fünf Szenen vorkommt, in denen die beschriebenen Personen äußere Merkmale aufweisen, die für die Bewirtungsszene von Bedeutung sind: Der ausgemergelte Phineus (A.R. 2,200f.) bedarf ebenso wie der verwundete Serranus (Sil. 6,62-71 und 77-79) einer intensiven, über ein gemeinsames Mahl hinausgehenden Pflege.109 Auch die Beschreibung Kleopatras bei Lukan, deren aufwendige Kleidung über mehrere Verse geschildert wird (Lucan. 10,137-143), steht in unmittelbarem Zusammenhang 107 In den iliadischen Personenbeschreibungen nennt der Erzähler nur Namen, die der Leser einordnen kann, wie Patroklos (Hom. Il. 9,190); Menoitios, Achill, Peleus, (Hom. Il. 11,771f.); Alkimos und Automedon (Hom. Il. 24,474). In den späteren Gastmählern werden Namen von Nebenfiguren bei der Darstellung der Familie des Aietes erwähnt, wo Verwandtschaftsbeziehungen und Eigennamen gekoppelt sind (s. z.B. A.R. 3,241: d"CURTOWPjIW"»TAO), bei der Vorstellung des Pallas (Verg. Aen. 8,104: Pallas huic filius una), der als Gesprächspartner des Aeneas auftritt und daher namentlich eingeführt wird. 108 Achill spielt die Phorminx (Hom. Il. 9,186-189); Angehörige und Freunde des Patroklos bereiten ein Opfer vor (Hom. Il. 11,772-776); Achill hat eben gespeist (Hom. Il. 24,475f.); die Freier spielen im Haus des Odysseus (Hom. Od. 1,106-108); Nestor bringt ein Opfer dar (Hom. Od. 3,5-9); Menelaos feiert die Hochzeit seines Sohnes (Hom. Od. 4,3-19); Kalypso arbeitet am Webstuhl (Hom. Od. 5,61f.); die Phäaken gießen eine Trankspende für Hermes aus (Hom. Od. 7,136f.); Kirke webt ein Gewand (Hom. Od. 10,221-223); Eumaios schneidet Leder für Sandalen (Hom. Od. 14,23f.); Telemach kommt heran (Hom. Od. 16,4f.); Phineus erhebt sich von seinem Lager (A.R. 2,197); Aietes tritt aus dem Palast (A.R. 3,268); Dido hat sich auf ihre Speiseliege gebettet (Verg. Aen. 1,697f.); Kleopatra entfaltet ihren Luxus (Lucan. 10,109f.); Marus erhebt sich von seinem Lager (Sil. 6,73-77); Chiron bereitet ein Mahl vor, zu dem er Achill erwartet (Stat. Ach. 1,119-121); die Argonauten begeben sich eilig zum Palast des Aietes (Val. Flac. 5,558-566); die Seelen der Toten strömen zusammen und der Phlegethon erhebt sich vor dem eintretenden Pluto (Claud. rapt. Pros. 2,308-316. Die Metapher von Blättern, Wolken und Wellen für die Zahl der Toten ist nach den Vorbildern Verg. Georg. 4,471480 und Verg. Aen. 6,309-312 gestaltet, dazu GRUZELIER [1993] ad loc.). In der besonders kurzen Personenbeschreibung des Cyzicus (Val. Flac. 2,635f., s. o. Anm. 105) wird weder seine Tätigkeit, noch sein äußeres Erscheinungsbild, sondern nur sein Reichtum erwähnt. 109 Valerius Flaccus bietet keine Ekphrasis der Anwesenden, sondern informiert den Leser mit einem auktorialen Erzählerkommentar über Phineus’ Strafe (Val. Flac. 4,424432), um dann gleich zur Begrüßung der Argonauten durch den Seher überzugehen (Val. Flac. 4,433-4357: ergo ubi iam Minyas certamque accedere Phineus / sentit opem, primas baculo defertur ad undas / vestigatque ratem atque oculos attollit inanes. / Tunc tenuem spirans animam »salve, o mihi longum / exspectata manus nostrisque« ait »agnita votis!...«.
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mit dem Festmahl: Das Gewand wie auch die Ausstattung des Raums sind von äußerlichem Glanz und übermäßigem Luxus geprägt, mit dem die Königin Caesar zu beeindrucken trachtet. In der vierten Szene handelt es sich nicht um die Darstellung der bereits Anwesenden, sondern um eine Beschreibung der Gäste Tydeus und Polyneikes aus der Perspektive des Wirtes Adrast, der sie an ihrer Kleidung als die ihm verheißenen Schwiegersöhne erkennt (Stat. Theb. 1,482-492). Die Ekphrasis ist hier zweigeteilt: Zunächst erblickt Adrast bei der nächtlichen Begegnung nur zwei vom Kampf gezeichnete Gestalten (Stat. Theb. 1,435-438). Erst als er sie in den Palast geführt hat und sie ruhig betrachtet, erkennt er die prodigiöse Kleidung der beiden.110 Beim Aufbruch zum kolchischen Königspalast wiederum zeigen sich die Argonauten in der von Valerius Flaccus beschriebenen Version in voller Rüstung (Val. Flac. 5,558-569, bes. 5,563f.: incita cristas / aura quatit, variis floret via discolor armis) und versetzen Aietes durch ihre stattliche Erscheinung in Trauer und Zorn (Val. Flac. 5,567-569), so daß das Mahl unter ungünstigen Voraussetzungen beginnt. Die (durch auktoriale Einschübe ergänzte) Perspektive des Wirts herrscht in zwei homerischen und sechs nachhomerischen Personendarstellungen vor.111 Diese dient in fünf der sechs nachhomerischen Szenen dazu, die Kenntnisse des Gastgebers und die sofortige Identifizierung eines Besuchers hervorzuheben. Dies ist sowohl bei Phineus und Adrast der Fall, die durch göttliche Weissagungen von der Ankunft der Gäste wissen, als auch bei Marus, Chiron und Cyzicus, die ihre Kenntnisse auf natürlichem Wege erlangt haben.112 Auf die homerische Epik läßt sich diese Regel jedoch 110 Dasselbe Prinzip gilt für eine ungewöhnliche Personendarstellung beim Besuch des Odysseus und Diomedes bei Lycomedes. Dieser läßt während des Mahles seine Töchter eintreten, unter denen sich auch der verkleidete Achill befindet (Stat. Ach. 1,757771). Die Beschreibung hebt sein undamenhaften Verhalten hervor, durch das er sich schließlich bei dem ebenfalls ausführlich beschriebenen Tanz verrät. 111 Eteoneus erblickt Telemach und Peisistratos (Hom. Od. 4,22); Eumaios und Odysseus bemerken Telemach (Hom. Od. 16,8-16); Phineus erkennt die Argonauten (A.R. 2,194-196. In der Phineusszene des Valerius Flaccus wird dagegen keine Personenbeschreibung der Argonauten gegeben, s. Val. Flac. 4,433-435); Marus erkennt Serranus (Sil. 6,77-89, bes. 81f.: »Quod scelus, o nimius vitae nimiumque ferendis / adversis genitus, cerno?«); Adrast erkennt Tydeus und Polyneikes als die verheißenen Schwiegersöhne (Stat. Theb. 1,435-438 und 482-492); Chiron beobachtet von fern, wie sich Thetis vom Strand her nähert (Stat. Ach. 1,121f.); Cyzikus bemerkt die Argonauten (Val. Flac. 2,636-639); Aietes betrachtet die eintreffenden Argonauten (Val. Flac. 5,558-569). 112 In der von Valerius Flaccus beschriebenen Kolchisszene hingegen illustriert die Perspektive des Wirtes den heimlichen Unwillen des Aietes, den dieser vor seinen Gästen
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nicht übertragen. Obwohl der Dichter bei der Begegnung zwischen Hermes und Kalypso betont, daß die Nymphe ihren Besucher sofort erkennt (Hom. Od. 5,67f.), wird keine Personenekphrasis aus der Perspektive der Wirtin, sondern eine Beschreibung der Räumlichkeiten vom Standpunkt des Besuchers aus geliefert (Hom. Od. 5,63-75). Umgekehrt herrscht beim Besuch des Telemach in Sparta zumindest vorübergehend die Perspektive des Menelaos und Eteoneus vor (Hom. Od. 4,22-36), obwohl diese nicht wissen, um wen es sich bei den Besuchern handelt. Die Darstellung von Personen zu Beginn einer Gastmahlszene ist also in der Regel auf Informationen beschränkt, die der Leser unbedingt benötigt, um sich ein Bild von der augenblicklichen Situation zu machen. Dagegen fehlt meist eine mit anschaulichen Details ausgestattete Beschreibung der Kleidung, der sonstigen äußeren Erscheinung und vor allem des Charakters der Beteiligten. Auf diese Weise lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit von Leser oder Hörer auf den folgenden direkten Kontakt zwischen Gastgeber und Gast, bei dem sich das Wesen der Figuren zeigt und der über Erfolg oder Mißerfolg der Bewirtung entscheidet. IV) supplicatio (Hikesie) Eine vollständige Hikesie (supplicatio),113 bei der sich der Bittende zu Boden wirft, die Knie des Angeflehten umschlingt und so seine Bitte vorträgt, erscheint nur in drei homerischen Gastmahlszenen (bei der Lösung Hektors, Hom. Il. 24,477-506, beim Phäakenabenteuer, Hom. Od. 7,142-154 und beim Zusammentreffen zwischen Odysseus und Kirke, Hom. Od. 10,323347).114 Die demütige Geste dient in den beiden ersten Fällen, in denen der Besucher von einem Helfer (Hermes bzw. Nausikaa) zur supplicatio aufgefordert wird (Hom. Il. 24,465-467 und Hom. Od. 6,310-312), dazu, das Wohlwollen eines Wirtes zu gewinnen, dessen Behausung der Ankömmling zu verbergen sucht, um sie als Verbündete im Krieg gegen seinen Bruder zu bewegen, s. Val. Flac. 5,532-541 und 5,567-573. 113 Der lateinische Terminus supplicatio wird in dieser Arbeit synonym mit dem griechischen Begriff ¼KES¸A verwendet, da die historisch bezeugten Unterschiede zwischen griechischem und römischem Bittritual, die FREYBURGER (1988) herausarbeitet, in den Mahlszenen nicht hervortreten. Eine Trennung ist daher in unserem Zusammenhang wenig sinnvoll. Zu den Unterschieden s.u. Anm. 120. 114 Nicht dargestellt wird in epischen Gastmahlszenen das im griechischen Kulturkreis gut bezeugte Berühren des Kinns des Angeflehten. S. zu den Belegen GOULD (1973). Bildliche Darstellungen dieser Geste in der griechischen Kunst sind zusammengestellt bei NEUMANN (1965) 67-72.
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heimlich betritt, weil er Feindseligkeit befürchten muß oder weil er wegen seiner von den Göttern verliehenen Unsichtbarkeit nicht auf der Türschwelle warten kann, bis man ihn bemerkt.115 In der Kirkeszene dagegen ist es die Gastgeberin, die die Knie des Odysseus umfaßt, nachdem dieser sie auf Anraten des Hermes mit dem Schwert bedroht hat. Der Angeflehte signalisiert schließlich in allen Szenen sein Wohlwollen: Die Wirte Achill und Alkinoos nehmen den Besucher bei der Hand, richten ihn auf und führen ihn zu einem Stuhl, wodurch er zum Tischgenossen wird,116 während Odysseus, der als Gast zu Kirke gekommen war, das Angebot der Göttin annimmt und mit ihr das Lager teilt (Hom. Od. 10,346f). Hier, wo die zauberkundige Kirke trotz ihrer demütigen Haltung eine potentielle Gefahr für Odysseus darstellt, verlangt der Angeflehte der Bittstellerin zuvor den Eid ab, daß ihm von ihrer Seite kein Schaden drohe (eine ähnliche Situation findet sich später in den Argonautika bei der Bitte des Phineus an die Boreaden, A.R. 2,251-253, dazu unten S. 296). Eine Variante der Hikesie erscheint bei der Begegnung von Telemach und Nestor. Hier beginnt der junge Mann seine Frage nach dem Verbleib des Odysseus mit den eindringlichen Worten TOÈNEKA NÅN Tk Sk GOÃNAY ¼KjNOMAI A½ K
YL×SYA KE¸NOU LUGRÏN ÓLEYRON NISPEºN (Hom. Od. 3,92f., vgl. kurz darauf Hom. Od. 3,98:L¸SSOMAI..). Allerdings dient diese auf die typische Bittgeste anspielende Anrede offenbar nicht wie die oben besprochenen vollständigen Hikesien dazu, einen friedlichen Kontakt zwischen Gast und Gastgeber zu etablieren, da Nestor und Telemach eben zusammen gespeist haben, so daß bereits eine freundliche Beziehung zwischen ihnen besteht. Daß es sich hier nicht um einen Ersatz für eine vollständigen Hikesie handelt, legt auch der Vergleich mit zwei Stellen nahe, in denen Odysseus – außerhalb einer Gastmahlszene – ähnliche Formulierungen verwendet. Als er nackt an den Strand von Scheria gespült wird 115 Aufschlußreich ist die Begegnung des Odysseus mit dem Kyklopen im neunten Buch der Odyssee, die sonst für die Beschreibung des typischen Schemas nicht durchgehend herangezogen werden kann, weil es sich um eine Antigastmahlszene handelt. Auch hier betritt Odysseus ›unaufgefordert‹ die Behausung des Wirtes, welche bei seiner Ankunft leersteht. Sobald er jedoch auf den Hausherrn trifft, beeilt er sich, ganz wie beim Phäakenabenteuer und wie Priamos bei Achill, zumindest eine verbale Hikesie vorzubringen, um das Wohlwollen Polyphems zu erlangen (Hom. Od. 9,266-271). Da die supplicatio also bei Homer eine Alternative zu dem Element »Warten auf der Türschwelle« bzw. »Begrüßung« darstellt, wird sie trotz ihrer Seltenheit in das typische Schema aufgenommen. 116 Hom. Il. 24,515f.; Hom. Od. 7,167-169.
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und dort auf Nausikaa trifft, entscheidet er sich nach eingehender Überlegung dafür, das Mädchen nur mit Worten anzuflehen, da die Berührung der Knie unter diesen Umständen als unsittlich interpretiert werden könnte (Hom. Od. 6,141147). Ebenso verzichtet er in der Kyklopenhöhle, nachdem er sich von seinem Schreck über das Ungeheuer erholt hat, auf jeden Versuch, die Knie des Riesen zu umfassen, und greift, wie schon bei Nausikaa, zu einer Wendung, die auf die Bittgeste anspielt (Hom. Od. 6,149: GOUNOÅMA¸SEund Hom. Od. 9,266f.: MEºWD
AÌTEKIXANÎMENOITkSkGOÅNA¼KÎMEY ). In beiden Fälllen dient die Anrede dazu, eine vollständige Hikesie beim ersten Zusammentreffen mit einer fremden Person zu ersetzen, der der Flehende aus triftigem Grund nicht die Knie umfassen kann. Ähnliche Hindernisse bestehen bei der Begegnung von Nestor und Telemach aber nicht, so daß der junge Mann bei seiner Ankunft einen Fußfall vollziehen könnte, falls er diesen für notwendig erachtete. Die Tatsache, daß er darauf verzichtet, spricht daher zusammen mit dem ungewöhnlichen Zeitpunkt der Anrede nach dem Mahl dafür, daß sie nicht wie bei Odysseus und Nausikaa und der Begegnung mit dem Kyklopen das Fehlen einer vollständige Hikesie ausgleichen, sondern lediglich die Bitte um Auskunft verstärken soll.117
In den hellenistischen und römischen Banketten findet sich dagegen auch dann keine vollständige Hikesie (supplicatio), wenn das homerische Modell der Szene eine solche nahelegt, wie bei dem an der Phaiakis orientierten Besuch des Jason in Kolchis (A.R. 3,210-442; Val. Flac. 5,558-617) und des Aeneas in Karthago (Verg. Aen. 1,695-3,718). Beide sind zwar wie Odysseus auf dem Weg zu ihrem Wirt in eine schützende Wolke gehüllt, doch betreten sie, anders als Odysseus, den Festsaal nicht ohne Zustimmung des Hausherrn, da sich der Nebel auflöst, bevor sie die Schwelle überschreiten (A.R. 3,213f.; Verg. Aen. 1,586f.; Val. Flac. 5,465f.). Dieses Verfahren, bei dem die Hikesie (supplicatio) geschickt umgangen wird, entspricht einer seit Vergil gattungstypischen Erhabenheit des epischen Protagonisten.118 117 Man beachte, daß Telemach dieselbe Wendung noch einmal gegenüber Menelaos gebraucht, als er um Nachrichten von Odysseus bittet – diesmal sogar erst am zweiten Tag seines Aufenthalts, d.h. außerhalb der eigentlichen Gastmahlszene (Hom. Od. 4,322f.). 118 S. zum »Erhabenen« bei Vergil HEINZE (1957) 481-493, bes. 486-490. Augenfällig ist diese Verschiebung bei dem nach der Phaiakis gestalteten Aufenthalt der Trojaner in Karthago. Bei der Begegnung am Tempel, die Parallelen zum Zusammentreffen von Odysseus und Nausikaa am Strand von Scheria aufweist, wendet sich nicht Aeneas mit einer (verbalen) Hikesie an Dido, sondern ›nur‹ seine Gefährten (Verg. Aen. 1,518-560).
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Damit stimmt überein, daß bei Homer eine Hauptfigur (Odysseus) und eine bedeutende Gestalt (Priamos) die Bittgeste vollziehen, während in den vier nachhomerischen Mahlszenen, in denen eine Hikesie (supplicatio) wenigstens in abgewandelter Form erscheint, nur Nebenfiguren auf diese Weise flehen. Ihre Bitten richten sie jeweils an die Protagonisten (die Argonauten) oder an die Hauptfigur eines früheren Epos (Aeneas).119 Die Modifikationen der supplicatio in diesen Szenen folgen keinem einheitlichen Prinzip. In der Phineusszene des Apollonios handelt es sich um einen Rollentausch, da nicht der Gast, sondern der Gastgeber kniefällig um Hilfe bittet, wobei die demütige Haltung durch die körperliche Schwäche des Greises bedingt ist. Die gestrandeten Phrixossöhne bei Apollonios und Phineus bei Valerius Flaccus deuten nur verbal eine Hikesie an, ohne dabei die typische Körperhaltung einzunehmen, Anna tut dasselbe nur durch den Fußfall, ohne eine Bitte auszusprechen (Sil. 8,73-75).120 Allen diesen Szenen ist gemeinsam, daß die Frage des unbefugten Eindringens in fremden Wohnraum, die bei Homer mit einer vollständigen supplicatio des Gastes verbunden ist, hier keine Rolle spielt, da sich die Beteiligten entweder im Freien begegnen oder der Hausherr selbst als Bittsteller auftritt. Alle Szenen stimmen außerdem untereinander und mit Homer darin überein, daß der Angeflehte grundsätzlich positiv reagiert, indem er den Flehenden, wenn dieser sich zu Boden geworfen hat, eigenhändig aufrichtet und ihn schließVgl. auch den relativ glimpflichen Verlauf des Seesturms, der Aeneas nur wenige Schiffe raubt, während Odysseus einsam, nackt und mittellos an den Strand von Scheria gespült wird. 119 A.R. 2,207-239 (Phineus fleht die Argonauten an); A.R. 2,1122-1133 (die Phrixossöhne flehen die Argonauten an); Sil. 8,73-75 (Anna fleht Aeneas und Iulus an); Val. Flac. 4,446 und 460f. (Phineus fleht die Argonauten an). Das Bestreben, die Rolle der Protagonisten zu stärken, zeigt sich bei der Begegnung zwischen Anna und Aeneas in den Punica auch darin, daß hier nur Iulus beim Anblick Annas weint (Sil. 8,74), während in der Vorlage der Szene, den Fasti Ovids, Aeneas selbst in Tränen ausgebrochen war (Ov. fast. 3,612). Anders als Ovid greift Silius anschließend ausdrücklich auf die ersten vier Bücher der Aeneis zurück und vervollständigt die darin enthaltenen Informationen über das Schicksal der Dido aus der Sicht ihrer Schwester. 120 In Ovids Version der Annasage fehlt die supplicatio ganz, s. fast. 3,603-624. Die von FREYBURGER (1988) 517-519 identifizierten, hauptsächlich von römischen Historikern bezeugten Unterschiede zwischen griechischem und römischem Bittritual wirken sich dagegen, wie oben erwähnt, nicht erkennbar auf dessen Darstellung in epischen Gastmahlszenen aus. Die beiden wichtigsten Eigenheiten der römischen supplicatio sind danach: 1) statt die Knie zu umfassen, können die Hände auch nur in Richtung der Knie ausgestreckt werden; 2) der Bittende versucht, die rechte Hand des Angeflehten zu berühren.
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lich bewirtet.121 Bei der Lösung Hektors, der Begegnung der Argonauten mit Phineus und ihrem Zusammentreffen mit den Phrixossöhnen schildert der Dichter darüber hinaus einen längeren Wortwechsel zwischen den Parteien, wobei der Überlegene sich tröstend an den Hiketes wendet (Hom. Il. 24,477-570; A.R. 2,209-261, bes. 244: h"DE¸L ; A.R. 2,1123-1167, bes. 1161: L¸SSESY EÆMENONTAWPARKSSAIKAKÎTHTA. V) Begrüßung a) Begrüßung durch Gesten In Szenen ohne supplicatio des Gastes schließt sich unmittelbar an die Ankunft bzw. an das Warten auf der Türschwelle eine weniger ritualisierte Kontaktaufnahme zwischen Wirt und Bewirtetem an, welche entweder nur verbal (2 Belege122), nur durch Gesten (7 Belege123) oder, in der Mehrzahl der Szenen, durch eine Kombination aus beidem erfolgt (13 Belege124). Zweimal deutet der Dichter die Kontaktaufnahme so knapp an, daß sich der 121 Bei der supplicatio des Priamos schiebt der erregte Achill den Greis zunächst fort (Hom. Il. 24,508), allerdings ohne den Körperkontakt abzubrechen, der für den Erfolg einer supplicatio gegenüber Feinden unentbehrlich ist (s. GOULD [1973]). Erst als er sich wieder gefaßt hat, richtet er Priamos auf, gibt ihm Hektor frei und setzt ihm ein Mahl vor (Hom. Il. 24,513-627). Auch in der Phäakenszene reagiert der Gastgeber nicht sofort auf die Bitten, sondern muß erst von einem Anwesenden dazu aufgefordert werden (Hom. Od. 7,159-166). Dann aber folgt die Reaktion dem bekannten Muster: Der Hausherr richtet den Kauernden auf und führt ihn zur Bewirtung (Hom. Od. 7,167-171). 122 Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,87-91; Serranus bei Marus, Sil. 6,81-89. 123 Nestor in Phthia, Hom. Il. 11,777f.; Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,34-37; Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,43; Odysseus bei Autolykos, Hom. Od. 19,414-417; Argonauten bei Phineus, A.R. 2,197-205 (bei der Rede des aus der Ohnmacht erwachenden Phineus handelt es sich weniger um eine Begrüßung als um eine supplicatio), vgl. außerdem V. 2,428f. (die übrigen Argonauten erheben sich zur Begrüßung der Boreaden, die von der Jagd auf die Harpyien heimkehren. Thetis bei Chiron, Stat. Ach. 1,122-125. Vgl. dazu auch V. 1,172f. (Begrüßung von Achill und Thetis); Pluto und Proserpina, Claud. rapt. Pros. 2,308 und 314f. (hier begrüßen die Bewohner der Unterwelt das einziehende Brautpaar). 124 Kombination: Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,193-199; Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,119-125; Gefährten des Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,230f.; Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,312f.; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,37-49; Telemach bei Eumaios, Hom. Od. 16,12-29; Jason bei Aietes, A.R. 3,253-268 (die erste Kontaktaufnahme findet hier zwischen Chalkiope und ihren Söhnen statt); Aeneas bei Helenus, Verg. Aen. 3,347f.; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,107-174; Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,438-473 und 510-512; Odysseus und Diomedes bei Lycomedes, Stat. Ach. 1,728-740, Argonauten bei Cyzicus, Val. Flac. 2,636-649, Argonauten bei Phineus, Val. Flac. 4,433-464. Ab V. 4,460 geht die Begrüßungsrede des Phineus in eine an die Gäste gerichtete supplicatio über.
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genaue Hergang nicht bestimmen läßt.125 Die Begrüßung fehlt in Szenen, in denen der Gast unmittelbar zuvor eine Einladung erhalten hat (4 Belege)126 oder wenn die Erzählung erst während des Mahls einsetzt (3 Belege127). Die Gesten, mit denen sich Gast und Gastgeber begrüßen, bestehen in den meisten Fällen aus einem Geleit zum Festplatz bzw. in das Innere der Behausung. Dieses erscheint in Ilias und Odyssee nur wenig häufiger als in der späteren Epik (in 7 von 10 homerischen sowie in 6 von 10 nachhomerischen Szenen mit Begrüßungsgesten)128 und wird in einigen Fällen mit einem Handschlag kombiniert.129 125 Argonauten bei Lykos, A.R. 2,755-758; Bewirtung des Bacchus durch Falernus, Sil. 7,174-177: cepere volentem / fumosi postes et ritu pauperis aevi / ante focos mensae; laetus nec senserat hospes / advenisse deum. 126 1. Machaon bei Nestor (Nestor hat Machaon zuvor auf seinem Wagen vom Schlachtfeld gerettet, Hom. Il. 11,597f., so daß eine Begrüßung bei der Ankunft nicht erforderlich ist); 2. Die Argonauten beim Abschiedsmahl (zuvor gemeinsame Vorbereitungen für die Abfahrt mit Opfer und Weissagung des Idmon, A.R. 1,317-449. Eine Begrüßung ist daher zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich); 3. Argonauten auf Lemnos (zuvor Einladung durch die Botin Iphinoe, Val. Flac. 2,326f.); 4. In Kolchis haben die Gesandten der Argonauten schon im Soltempel mit Aietes verhandelt, Val. Flac. 5,534-541, so daß der König die Helden bei ihrer Ankunft im Palast nicht mehr eigens begrüßt. In fünf Szenen gehen Einladung und Begrüßung des Gastes ineinander über: 1. Agamemnon und die griechischen Heerführer (zuvor während der Heeresversammlung allgemeine Aufforderung zum Mahl, Hom. Il. 2,381-385, anschließend eine verbale Einladung an einzelne Gäste, Hom. Il. 2,404-407). Vgl. in dieser Szene auch das in der Antike berühmte eigenmächtige Erscheinen des Menelaos (Hom. Il. 2,408f.), auf das Sokrates in Platons Symposion anspielt (Plat. symp. 174b-c, bes. 174c1-3: YUS¸ANPOIOUMNOUKA¹ STI¤NTOWTOÅb"GAMMNONOWoKLHTONPO¸HSENLYÎNTATÏN.ENLEVNP¹TN YO¸HN), zum Zusammenhang s. ROWE [1998] 131; 2. Die Achäer führen Aias nach seinem Sieg im Zweikampf zum Zelt des Agamemnon, Hom. Il. 7,311f.: Das Geleit bedeutet hier Einladung und (nonverbale) Begrüßung in einem; 3. Agamemnon führt die griechischen Heerführer in sein Zelt, um mit ihnen über das Verhalten gegenüber Achill zu beraten, Hom. Il. 9,89f., auch hier bildet das Geleit zugleich Einladung und Begrüßung; 4. Telemach führt Theoklymenos, den er zuvor getroffen hat, in sein Haus, so daß Einladung und (nonverbale) Begrüßung ineinander übergehen, Hom. Od. 17,84; 5. Jason fordert die Argonauten, die mit ihm am Strand versammelt sind, zum Mahl auf, Val. Flac. 1,250f. 127 Dido und Aeneas (zuvor Einladung, Verg. Aen. 1,627, die Szene selbst beginnt während des Mahles); Kleopatra und Caesar (zuvor Bündnis zwischen beiden, Lucan. 10,104-106, die Szene setzt ein, als das Mahl schon begonnen hat); Hannibal und die Capuaner (zuvor Einzug in Capua und Maßnahmen gegen die romfreundliche Partei, Sil. 11,222-258). 128 Hom. Il. 9,199 (Presbeia); Hom. Il. 11,777f. (Nestor und Odysseus in Phthia); Hom. Od. 1,125 (Athene/Mentes bei Telemach); Hom. Od. 4,43 (Telemach bei Menelaos); Hom. Od. 10,231 (Kirke ruft die Gefährten des Odysseus ins Haus, worauf diese ihr
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Obwohl Parallelen zum erfolgreichen Abschluß einer formellen supplicatio bestehen, bei der der Überlegene ebenfalls die Hand des Gegenübers ergreift und ihn ggf. zu seinem Platz führt, sollten beide Vorgänge unterschieden werden. Der wohlwollende Händedruck, mit dem der am Boden Liegende aufgerichtet wird, dient bei der supplicatio nicht nur als Willkommensgruß, sondern vor allem als symbolische Zustimmung zu der vorgetragenen Bitte.130 Das Geleit für den Gast fehlt bei vier Gelegenheiten, bei denen ein geliebter Besucher stattdessen mit besonderer Herzlichkeit begrüßt wird (Eumaios küßt den heimkehrenden Telemach, Hom. Od. 16,190; Amphithea küßt ihren Enkel Odysseus, Hom. Od. 19,416f.; Chalkiope hebt freudig die Hände und wird von ihren Söhnen umarmt, A.R. 3,256-259, Achill umarmt Thetis, Stat. Ach. 1,171-173: Hier handelt es sich um die zweite Ankunft innerhalb einer Gastmahlszene), sowie in zwei weiteren Gastmählern, bei denen der Gast nicht an der Tür gewartet hat, und wo daher jeweils nur das Niedersetzen in Verbindung mit einem Handschlag und einem Willkommensgruß (Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,34f.) oder nur mit einer Begrüßungsrede beschrieben wird (Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,91).131 folgen. Eine körperliche Berührung scheint damit nicht verbunden zu sein); Hom. Od. 10,313 (Kirke ruft Odysseus ins Haus, welcher der Einladung folgt); Hom. Od. 14,48f. Hinzu kommen Hom. Il. 7,311f.; Hom. Il. 9,89f.; Hom. Od. 17,84 (Einladung und Begrüßung gehen ineinander über). Nachhomerische Belege: Verg. Aen. 3,347; Verg. Aen. 8,122-125; Stat. Theb. 1,510-512; Stat. Ach. 1,125; Stat. Ach. 1,740; Argonauten bei Cyzicus, Val. Flac. 2,649. Hinzu kommt eine Szene, in der nicht der Gast, sondern eine Nebenfigur ins Haus geleitet wird: Hom. Il. 24,577 (der Herold des Priamos wird in das Zelt des Achill geführt) sowie eine Szene, in der das Geleit des Gastes im Anschluß an eine supplicatio erfolgt: Sil. 8,75 (Anna fleht Aeneas und Iulus an). 129 Nestor in Phthia, Hom. Il. 11,778; Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,121; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,124. Der Händedruck findet sich ohne Geleit außerdem bei der Ankunft des Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,35-37) und bei der Begrüßung des Odysseus durch Autolykos und seine Söhne, Hom. Od. 19,415. Vgl. außerdem die Ankunft des Patroklos bei Nestor (Hom. Il. 11,646: es handelt sich hier nicht um die Begrüßung von Gast und Gastgeber, sondern um die zweite Ankunft innerhalb der Bewirtung des Machaon). 130 S. die Hikesie des Priamos, bei der Achill den Greis schließlich aufrichtet. Damit wird dieser nicht nur als Gast akzeptiert, wie er offenbar selbst annimmt, da er weiter auf die Freigabe Hektors insistiert (Hom. Il. 24,553-557), sondern Achill deutet mit der Geste zugleich seine Bereitschaft an, auf den Wunsch des Priamos einzugehen, so daß er weitere Bitten gereizt ablehnt (Hom. Il. 24,559-561). 131 Eine feste Regel läßt sich aus diesen Fällen nicht ableiten, vgl. die Presbeia zu Achill, bei der die Gesandten das Zelt ebenfalls unaufgefordert betreten, dann aber von Achill ausdrücklich weiter ins Innere geführt werden, Hom. Il. 9,199.
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Bei zwei Gelegenheiten bekundet der Gast seine friedfertige Absicht, indem er einen Ölzweig in der Hand trägt, s. Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,115f.) und Odysseus bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,727). b) Begrüßung durch Reden In 12 von 15 Szenen, die eine verbale Begrüßung enthalten, spricht zuerst der Wirt den Besucher an.132 Bei Homer heißt er ihn freundlich willkommen und zeigt in drei von fünf Szenen auch unmittelbares Interesse an der Herkunft und dem Anliegen des Gastes.133 Die Beantwortung dieser Fragen wird jedoch immer auf die Zeit nach dem Mahl verschoben, so daß fremde Besucher – die bei Homer nur in der Odyssee erscheinen – ihr Inkognito zunächst wahren können. In der nachhomerischen Epik dagegen bleibt die Identität eines Besuchers nur in einem einzigen Fall (bei der Bewirtung des Bacchus im siebten Buch der Punica) bis zum Ende der Nahrungsaufnahme geheim, um danach in einer Epiphanie umso eindrucksvoller enthüllt zu werden (Sil. 7,194198).134 In allen anderen Fällen handelt es sich entweder um bekannte Gäste (7 Belege),135 oder der Wirt erfährt den Namen oder wenigstens die Her132 Ausnahmen bilden die Besuche der Gefährten des Odysseus (Hom. Od. 10,229) und des Odysseus selbst bei Kirke (Hom. Od. 10,311), bei der die Besucher durch Rufen auf sich aufmerksam machen, ohne jedoch eine längere Rede zu halten. Mit einer spontanen Ansprache leitet nur Odysseus den Kontakt zu seinem Wirt Lycomedes ein, Stat. Ach. 1,728-737. Diese ist unter anderem der Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,185-668) nachgebildet, in der Odysseus bei der Unterhaltung nach dem Mahl ebenfalls als erster das Wort ergreift (Hom. Il. 9,222-225: AÆTkRPE¹PÎSIOWKA¹DHTÃOWJRON
NTO NEÅS "½AW 'O¸NIKI NÎHSE D DºOW b0DUSSEÃW PLHSjMENOW D O½NOIO DPAW DE¸DEKT b"XILA»XAºR b"XILEÅ«). Ein weiteres Vorbild der Szene bildet der Besuch des Aeneas bei Euander, der, ähnlich wie Diomedes und Odysseus in der Achilleis, auf der Suche nach Verbündeten für einen Feldzug ist. Vgl. v.a. Verg. Aen. 8,115f. (Reaktion des Aeneas auf die Frage des Pallas): tum pater Aeneas puppi sic fatus ab alta / paciferaeque manu ramum praetendit olivae... und Stat. Ach. 1,726f.: ipso portarum in limine regem / cernit et ostensa pacem praefatus oliva.... Der Ölzweig als Friedenssymbol findet sich nur in diesen beiden Gastmahlszenen. 133 Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,123f.; Hermes bei Kalypso, Hom. Od. 5,87-90; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,45-47. 134 In der Bewirtung des Tydeus und Polyneikes, die insgesamt stark an homerische Bräuche angelehnt ist, erfolgt vor dem Mahl nur eine grobe Identifikation des Tydeus (Stat. Theb. 1,452-465), während genauere Angaben erst im Anschluß an die Beköstigung gegeben werden (Stat. Theb. 1,676-681). 135 Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,336: F¸LOI und Val. Flac. 1,242: socii), Die Argonauten erscheinen in Begleitung der Phrixossöhne im kolchischen Königspalast, wo diese sogleich von Medea und Chalkiope erkannt werden (A.R. 3,253-267). Die Vorstellung der Argonauten erfolgt erst nach dem Mahl, wird aber nicht wie bei Homer als
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2. Die Typik der Gastmahlszene
kunft des Fremden schon vor dem Mahl (14 Szenen).136 Auch der Charakter der Begrüßungsreden des Wirtes, für die wir 7 nachhomerische Belege besitzen, ändert sich: Während sie bei Homer immer von Gastfreundschaft geprägt sind, tragen in der nachhomerischen Epik nur die Anreden einen durchgehend freundlichen Charakter, die an einen bereits identifizierten Gast gerichtet sind.137 In den beiden anderen Szenen überwiegen anfangs Mißtrauen oder Unwillen, die sich erst dann legen, wenn der Wirt nähere Informationen über den Besucher erhalten hat.138
Gespräch zwischen dem Fremden und dem Wirt gestaltet, sondern in den Erlebnisbericht der Phrixossöhne integriert, A.R. 3,320-366); Aeneas bei Helenus (Verg. Aen. 3,306-312: Andromache erkennt Aeneas); Serranus bei Marus (Sil. 6,77); Anna bei Aeneas (Sil. 8,71f.); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,121-123). 136 Argonauten bei Phineus (A.R. 2,194-196: Phineus identifiziert die Argonauten aufgrund seiner Seherkraft und A.R. 2,215-239: Phineus stellt sich selbst den Argonauten vor, die ihn daraufhin von den Harpyien befreien und ihn bewirten sowie Val. Flac. 4,433f.: Phineus erkennt die Argonauten aufgrund seiner Sehrkraft; Val. Flac. 4,436-464: Phineus stellt sich selbst vor); Argonauten bei Lykos (A.R. 2,752-754: Als die Argonauten eintreffen, hat Lykos bereits erfahren, daß sie den Bebrykerkönig Amykos getötet haben); Argonauten und Phrixossöhne (A.R. 2,1141-1156: Auf Jasons Frage stellt Argos sich und seine Brüder vor und nennt auch ihre Namen); Jason bei Aietes, (Val. Flac. 5,471-518: Jason stellt die Argonauten vor); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,522-558: Ilioneus stellt Dido die Trojaner beim Gespräch am Tempel vor und erwähnt auch Aeneas, Verg. Aen. 1,595-610: Aeneas tritt aus der Wolke und stellt sich selbst vor); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,117-120: Aeneas stellt sich Pallas vor); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,107: Vor der Mahlszene kurz erwähnte Verhandlungen mit dem Bruder der Kleopatra); Hannibal in Capua (Sil. 11,222-258: Einzug in Capua und Auseinandersetzung mit der romfreundlichen Partei vor der Mahlszene); Tydeus und Polyneikes bei Adrast, (Stat. Theb. 1,452-467: Vorstellung des Tydeus. Die Vorstellung des Polyneikes wird von Adrast zunächst unterbrochen und nach dem Mahl nachgeholt, Stat. Theb. 1,676-681); Odysseus und Diomedes bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,730-733); Argonauten auf Lemnos (Val. Flac. 2,322-325: Lemnierinnen erkennen die Argonauten aufgrund der Weissagung der Polyxo); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,636-648: Cyzicus erkennt die Argonauten als Griechen); Hochzeit von Pluto und Proserpina (Claud. rapt. Pros. 2,204 Pluto raubt Proserpina beim Blumenpflücken). 137 Chalkiope bei der Ankunft der Argonauten in Kolchis, A.R. 3,260-267 (Der Hauptgastgeber Aietes dagegen greift nicht aktiv in die Begrüßung ein); Begrüßung durch Helenus, Verg. Aen. 3,347f.; Begrüßung des Serranus durch Marus, Sil. 6,77-89; Odysseus und Diomedes bei Lycomedes, Stat. Ach. 1,738-740; Argonauten bei Cyzicus, Val. Flac. 2,639-648. 138 Ankunft bei Euander, Verg. Aen. 8,110-114; Ankunft bei Adrast, Stat. Theb. 1,438-473.
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VI) Der Platz bei Tisch Der Platz bei Tisch wird in 29 von 40 Szenen erwähnt und bildet damit eines der am häufigsten beschriebenen Details in epischen Gastmahlszenen.139 Bei Homer wird, sofern der Dichter nähere Angaben macht, stets sitzend gespeist, wobei die Helden der Ilias auf einem KLISMÎWoder einem DIFRÎW Platz nehmen, während die Gäste in der Odyssee in der Mehrzahl der Fälle (6 von 10 odysseischen Szenen, in denen der Platz bei Tisch erwähnt wird) einen YRÎNOW erhalten. Kirke stellt für die Gefährten des Odysseus außer den YRÎNOI auch KLISMO¸ bereit; in der Theoklymenosszene erscheint nur ein KLISMÎW, Hom. Od. 17,90. Nur wenn das Mahl im Freien (1 Beleg: Nestor, Hom. Od. 3,37f.) oder unter betont ärmlichen Bedingungen stattfindet (2 Belege: Eumaios, Hom. Od. 14,49-51 und 16,46-48), erhalten die Besucher statt eines Stuhles oder Sessels ein auf den Boden oder auf Reisig gebreitetes Fell, wobei aber auch hier offenbar die aufrechte Haltung der Speisenden vorausgesetzt wird (s. Hom. Od. 3,37: ¾DRUSEN Hom Od. 14,79 (über Eumaios): mNT¸ONÂZEN; Hom. Od. 16,48: KAYZET ). In nachhomerischer Zeit scheint sich eine liegende Position beim Mahl durchzusetzen, wobei viele Szenen allerdings keinen Aufschluß über die genaue Körperhaltung geben. Mit Sicherheit liegend speisen die Gäste in 11
139 Es handelt sich um folgende Szenen: Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,200); Machaon bei Nestor (Hom. Il. 11,623); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,778); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,553, in der Rede des Priamos; V. 24,578 bezieht sich offenbar auf den Sitzplatz des Herolds); Athene/Mentes bei Telemach (Hom. Od. 1,130135); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,35-39); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,51); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,85f.); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,167-171); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,233); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,314f.); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,49-51); Telemach bei Eumaios (Hom. Od.16,46-48); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,90); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,453-455); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,305 und 309f.); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,697-700); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,176-178); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,122-126: Ausstattung der Liegen und 136f. Platz der Mahlteilnehmer); Serranus bei Marus (Sil. 6,89f.); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,176); Hannibal in Capua (Sil. 11,272-274); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,525-528); Odysseus und Diomedes bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,756 und 760); Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,252f.); Argonauten auf Lemnos (Val. Flac. 2,342-347); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,651: die Darstellung des Sitzplatzes fällt hier mit der sehr knapp gehaltenen Raumbeschreibung zusammen); Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,531f. und 535); Jason bei Aietes (Val. Flac. 5,571: Jason speist offenbar neben Aietes. Der Text ist allerdings umstritten, vgl. dazu unten Anm. 148).
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2. Die Typik der Gastmahlszene
der 22 nachhomerischen Szenen,140 mit Sicherheit sitzend speisen nur die Argonauten bei Phineus (A.R. 2,305) und die Trojaner bei ihrem Besuch bei Euander (Verg. Aen. 8,175-178). Da Euander in dieser Szene als Repräsentant eines archaisch-ehrwürdigen Lebensstils erscheint, fügt sich die auffällige Anlehnung an homerische Tischsitten hier gut in den Zusammenhang ein. Daß es sich um eine bewußte Anspielung handelt, kann der Leser aus weiteren Parallelen schließen, die den Aufenthalt des Telemach bei Nestor als primäres Vorbild ausweisen, s. z. B. die aktive Rolle der Söhne zu Beginn (Hom. Od. 3,36-42; Verg. Aen. 8,110-125), den Gang vom Opferplatz zum Haus (Hom. Od. 3,386f.; Verg. Aen. 8,306f.) und die Tatsache, daß sowohl Peisistratos als auch Pallas den Gast bei der Weiterreise begleiten (Hom. Od. 3,481-483; Verg. Aen. 8,587f.). Die sorgfältige Ausstattung des Sitzplatzes bzw. der Tischliegen, die in 21 der 29 Erwähnungen näher präzisiert wird, kennzeichnet in homerischen wie nachhomerischen Szenen die Lebensverhältnisse des Wirtes und die Aufmerksamkeit, die dem Gast zuteil wird. Bei Homer erhält er einen »schimmernden« oder »kunstvollen« Stuhl, der in zwei Fällen (bei den Phäaken, Hom. Od. 7,162f. und bei Kirke, Hom. Od. 10,366f.) ausdrücklich aus Silber besteht oder, unter besonderen Bedingungen, ein »dichtes« bzw. »weiches« Fell als Unterlage (Hom. Od. 3,37f.; Hom. Od. 14,49-51; Hom. Od. 16,46f.). In der lateinischen Epik dagegen verlagert sich das Interesse der Dichter stärker auf die Decken und Kissen, mit denen die Tischliegen bedeckt sind, wobei besonders Purpurstoffe hervorgehoben werden (5 der 13 lateinischen Szenen, in denen der Platz bei Tisch erwähnt wird). Der Purpur gilt im römischen Kulturkreis als Statussymbol, in der Kaiserzeit besonders für den princeps141 und kommt daher nur bei königlichen sowie dem ausdrücklich als »königsgleich« (Sil. 11,271) bezeichneten Mahl in 140 Es handelt sich um die Argonauten beim Abschiedsmahl in Iolkos (A.R. 1,453455 und Val. Flac. 1,252f.) sowie in der lateinischen Epik um die Trojaner bei Dido (Verg. Aen. 1,697-700, wobei sich Dido offenbar gelegentlich aufrichtet, s.u. S. 158f.); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,136f.); Serranus bei Marus (der allerdings schon aufgrund seiner Verwundung zum Liegen gezwungen ist, Sil. 6,89f.); Hannibal in Capua (Sil. 11,272-274); Polydeukes und Tydeus bei Adrast (hier liegen mit Sicherheit nur die Gäste, während Adrast selbst offenbar sitzend speist, Stat. Theb. 1,525-527); Odysseus und Diomedes bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,756, vgl. 1,763); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,342 und 346f.); die Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,651); die Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,530 und 535). 141 Diese Tendenz läßt sich historisch schon bei hellenistischen Herrschern nachweisen, kommt allerdings in den Gastmahlszenen der hellenistischen Argonautika nicht zum Ausdruck. S. REINHOLD (1970) 48-51.
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Capua vor.142 Dieselbe Wertschätzung zeigt sich schon in den homerischen Epen, wo der kostbare Stoff ebenfalls den höheren Kreisen vorbehalten ist, doch erscheinen hier purpurfarbene Kissen nur zweimal als Sitzgelegenheit (bei Achill, Hom. Il. 9,200 und Kirke, Hom. Od. 10,352f.).143 Bei Apollonios werden sie gar nicht erwähnt.144 Obwohl die lateinischen Dichter also im Vergleich zu Homer deutlich mehr Wert auf den Purpurstoff als Schmuck des Festsaals legen, knüpfen sie an Ilias und Odyssee an, indem sie besonders den schimmernden Glanz hervorheben, der auch bei den homerischen Stühlen und Sesseln betont wird. Das Material, aus dem die Sitze bestehen, beschreiben die Epiker aller Epochen regelmäßig, wenn es sich um eine schlichte Einrichtung handelt, wie bei dem Opfer des Nestor am Strand und dem Herculesfest des Euander sowie den Bewirtungen bei dem bescheiden lebenden Eumaios – die Gäste ruhen in diesen Szenen auf Fellen, auf Grasbänken und einem Ahornthron – oder beim Abschiedsmahl der Argonauten.145 Edle Materialien werden dagegen nicht immer spezifiziert, selbst wenn die sonstige Ausstattung des Raumes auf ein prächtiges Mobiliar schließen läßt. Homer spricht nur in zwei von vierzehn Szenen, in denen er den Platz bei Tisch darstellt (Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,162f. und Odysseus bei Kirke, 142 Verg. Aen. 1,700 (Aeneas bei Dido); Lucan. 10,123-126 (Caesar bei Kleopatra); Sil. 11, 273 (Hannibal in Capua); Stat. Theb. 1,517 (Tydeus und Polyneikes bei Adrast), Val. Flac. 2,342 (Argonauten auf Lemnos). 143 Außerhalb einer Gastmahlszene befiehlt einmal Eurykleia den Mägden, purpurne Stoffe auf die Stühle zu legen, bezeichnet dies jedoch ausdrücklich als Maßnahmen für ein Fest (Hom. Od. 20,150-156: N TE YRÎNOIS EÆPOITOISI TjPHTAW BjLLETE PORFUROUW [...] PE¹KA¹PlSINORT). Telemach dagegen hatte Athene/Mentes bei der Bewirtung offenbar keine Purpurstoffe angeboten, s. Hom. Od. 1,130f. STULZ (1990) 115 deutet die Anordnung der Eurykleia daher als Ausdruck ihrer Freude über die Heimkehr des (zu diesem Zeitpunkt allerdings noch verkleideten) Odysseus. Mehrfach erscheinen Purpurstoffe dagegen als Ausstattung des für den Gast bereitgestellten Bettes, vgl. das Nachtlager für Phoinix bei Achill, Hom. Il. 24,644f., für Telemach am spartanischen Königshof, Hom. Od. 4,298 und für Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,337. Zu Purpurgewändern bei Homer s. BLUM (1998) 68-75 und STULZ (1990) 98-114. 144 Purpurstoff erscheint in den Argonautika des Apollonios jedoch als Material für kostbare Gewänder, s. den Mantel Jasons (A.R. 1,721-767), den purpurfarbenen Peplos, den er von Hypsipyle erhalten hat (A.R. 4,423-434) sowie das Purpurgewand der Medea (A.R. 4,1661-1663). 145 Hom. Od. 3,38 (weiche Felle); Hom. Od. 14,49f. (Laub mit einem darübergebreiteten Ziegenfell); Hom. Od. 16,47 (Laub mit darübergebreitetem Fell); Verg. Aen. 8,176178 (Bänke aus Gras, ein mit einem Löwenfell bedeckter Thron aus Ahornholz). In den betont einfachen Gastmahlszenen fehlt eine Beschreibung des Sitzplatzes nur bei der Bewirtung des Bacchus durch Falernus, Sil. 7,171-205.
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Hom. Od. 10,366f.), ausdrücklich von silbernen Stühlen, Apollonios verzichtet ganz darauf. In der lateinischen Epik bestehen die kostbaren Tischliegen, wenn sie näher beschrieben werden, nicht aus Silber, sondern aus Gold (2 Belege: Didos und Cyzicus’ Mobiliar, Verg. Aen. 1,697f. und Val. Flac. 2,651) und können mit Edelsteinen besetzt sein (2 Belege: Palast der Kleopatra, Lucan. 10,122, und des Cyzicus, Val. Flac. 2,651). Die Darstellung geht jedoch nicht ins Detail, sondern dient dazu, zusammen mit der Ekphrasis der Räumlichkeiten in impressionistischer Weise die beim Mahl vorherrschende Atmosphäre zu kennzeichnen. Die punktuelle Erzähltechnik zeigt sich auch darin, daß sich in keinem Fall die genaue Sitzordnung aller Personen rekonstruieren läßt. Von den 40 untersuchten Szenen finden sich nur in 16 nähere Angaben zur räumlichen Verteilung der Figuren, die sich alle auf wenige Protagonisten, nicht aber auf ebenfalls anwesende Nebenfiguren beziehen. In der Ilias sitzen Gast und Gastgeber, wenn sich die Anordnung näher bestimmen läßt, einander gegenüber (2 von 7 iliadischen Szenen: Achill und Odysseus, Hom. Il. 9,218f.; Achill und Priamos, Hom. Il. 24,597f.), während der Besucher in der Odyssee entweder neben dem Hauptgastgeber (3 Belege: Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,132-135; Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,36-39; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,167-171) oder ihm gegenüber Platz nimmt (2 Belege: Eumaios und Odysseus, Hom. Od. 14,79; Eumaios und Telemach, Hom. Od. 16,53: hier setzt sich Eumaios dem Odysseus gegenüber). Bei der Bewirtung des Theoklymenos durch Telemach wird nur der Sitzplatz der Penelope angegeben, die sich mit ihrer Spinnarbeit den Männern gegenübersetzt (Hom. Od. 17,96f.), ohne am Schmaus teilzunehmen.146 Beide Varianten der Sitzordnung kommen unabhängig von der beim Mahl herrschenden Stimmung vor, so daß sich daraus keine Rückschlüsse auf das Verhältnis der Figuren zueinander ziehen lassen. In den hellenistischen und lateinischen Szenen befinden sich Gastgeber und Gast nur beim Mahl des Adrast in homerischer Weise einander gegenüber (Stat. Theb. 1,527f. parte alia). Dieses Bankett weist auch andere Parallelen zu homerischen Gastmählern auf, welche offenbar direkt aus der Odyssee ohne Vermittlung durch Vergil oder andere Vorgänger übernommen sind.147 Es dürfte sich daher um eine bewußte Anspielung handeln, die 146 Dennoch verfolgt sie das Geschehen und eröffnet die Unterhaltung nach dem Mahl, Hom. Od. 17,100-106. 147 Vgl. v.a. das in der lateinischen Epik nur von Statius geschilderte Aufstellen der Tische im Festsaal (Stat. Theb. 1,519: [sc. ministrorum] pars teretis levare manu ac dis-
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allerdings dadurch abgeschwächt wird, daß die Gäste nach römischer Sitte liegend speisen. Die Anordnung der Gäste nebeneinander und neben dem Gastgeber wird in nachhomerischer Zeit nur bei zwei Gelegenheiten, dem Abschiedsmahl der Argonauten bei Apollonios (A.R. 1,455: KKLINY JE¸HW) sowie – in einer kurzen Andeutung – beim Gastmahl des Aietes in Kolchis erwähnt (Val. Flac. 5,571 iuxta).148 In zwei weiteren Fällen, beim Gastmahl der Dido und dem ausdrücklich darauf anspielenden Bankett auf Lemnos speist jeweils ein Protagonist (Dido als Gastgeberin bzw. Jason als Gast) »in der Mitte« (Verg. Aen. 1,697f. und Val. Flac. 2,346f.), wobei offenbar an ein Triklinium gedacht ist, bei dem sich der Ehrenplatz auf der mittleren Liege befindet.149 Wirklich »in der Mitte« seiner Beschützer sitzt der von den Harpyien erlöste Phineus bei Valerius Flaccus – eine Besonderheit, die wohl durch eine entsprechende Formulierung bei Apollonios angeregt ist (Val. Flac. 4,531f., vgl. A.R. 2,309). Ohne räumliche Angabe hebt Valerius Flaccus ferner den Ehrenplatz des Herakles beim Abschiedsmahl in Iolkos hervor, wo der Held als einziger nicht im Gras, sondern auf einem Kissen speist.150 ponere mensas, s. auch Stat. Ach. 1,741f.), das dem in der Odyssee verwendeten Formelvers PARk D JESTN TjNUSSE TRjPEZAN entspricht (Hom. Od. 1,138; Hom Od. 4,54, vgl. Hom. Od. 10,354f. über die Dienerinnen der Kirke: D TRHPROPjROIYE YRÎNVNT¸TAINETRAPZAWmRGURAW). 148 (über Aietes): Interea laeto patitur convivia vultu [cultu in der Ausgabe von EHLERS] / et iuxta Aesoniden magno cratere lacessit (Val. Flac. 5,570f.). Der einheitlich überlieferte Ausdruck iuxta, den EHLERS (1980) in Übereinstimmung mit LANGEN (1896) und MOZLEY (1958) in den Text nimmt, und der auf eine Sitzordnung »nebeneinander« hindeutet, wird neuerdings von WIJSMAN (1996) ad loc. und CAVIGLIA (1999) 526, angezweifelt. Diese stoßen sich an der Wiederholung der Präposition in V. 5,572 und konjizieren daher iustum bzw. frusta. S. aber zu der Wendung iuxta Aesoniden LANGEN (1896) zu Val. Flac. 5,571: »Non eleganter iuxta particula repetitur versu proximo, sed similia saepius apud Valerium reperiuntur, velut repetitur natus (natos) I,149 seq.; confinia II, 632 et 634; pectus III, 134 seq.; terga 254 seq.; pater IV, 516 seq.« 149 MARQUARDT (1886) I 304: »Der für die Hauptpersonen der Gesellschaft bestimmte Platz aber, der sogenannte locus consularis, befand sich auf dem medius lectus.« 150 Val. Flac. 1,252f.: molli iuvenes funduntur in alga / conspicuusque toris Tirynthius. Die ausdrückliche Erwähnung des Platzes, die auf eine entsprechende Bemerkung während der Wahl des Anführers bei Apollonios zurückgehen dürfte (vgl. A.R. 1,341f.: 1jPTHNANDNOIYRASÄNc)RAKLAMENONNMSSOISI), ist auffällig. Während die Argonauten bei Apollonios anfangs dem Herakles die Leitung der Expedition übertragen wollen – eine Ehrenstellung, die durch die genaue Lokalisierung des Sitzplatzes unterstrichen wird – ist bei Valerius Flaccus die Führungsrolle Jasons unumstritten. Es wäre also zu erwarten, daß hier Jason den Ehrenplatz beim Mahl einnähme. S. zum Verhältnis von Jason und Herakles RIPOLL (1998) 90: »Le parti suivi par Valérius consiste à
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Die größere Vielfalt bei der Sitzordnung in den lateinischen Szenen ergibt sich also hauptsächlich aus der Auseinandersetzung der Dichter mit ihren griechischen Vorgängern, die sie entweder nachahmen oder von denen sie bewußt abweichen, indem sie z.B. auf die römischen Triklinia anspielen. Trotz unterschiedlicher Ausgestaltung gehört das Element VI »Platz bei Tisch« in der lateinischen Epik genauso zu den regelmäßig wiederkehrenden Elementen wie bei Homer und Apollonios. VII) Das eigentliche Mahl a) Die Vorbereitung des eigentlichen Mahles: Dienerschaft Die Tätigkeit der Dienerschaft, die in insgesamt 33 von 40 Szenen erscheint, umfaßt bei Homer gewöhnlich die Vorbereitung des Mahls, die Bedienung der Gäste und in zwei Fällen (Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,232 und Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,454f.) auch das Abräumen des Geschirrs. Wenn es sich um eine persönliche Atmosphäre handelt, oder wenn der Gastgeber nicht über eigene Diener verfügt, können diese Tätigkeiten in allen berücksichtigten Epochen auch vom Hausherrn selbst, seinen Angehörigen oder Freunden übernommen werden.151 amplifier parallèlement la suprématie d’Hercule en tant que héros et la prééminence de Jason en tant que chef, sans que l’une des deux amoindrisse [...] la seconde.« Die Bevorzugung des Herakles oder gar seine Wahl zum Anführer, von der beim Abschiedsmahl trotz seines Ehrenplatzes keine Rede ist, erscheint jedoch später in der erzürnten Rede des Telamon wie eine Tatsache, s. Val. Flac. 3,699-702. Solche, gelegentlich zu Ungereimtheiten führende Anspielungen auf konkurrierende Sagenversionen, die Valerius in seiner eigenen Erzählung nicht realisiert, gehören zur Erzähltechnik dieses Dichters, vgl. die wechselnde Beurteilung des Pelias (Val. Flac. 1,22f. und 1,71-73), die unterschiedlichen Aussagen über die Umstände von Hylas’ Verschwinden (Val. Flac. 1,218-220 und 3,545551) sowie über die Todesumstände des Phrixos (Val. Flac. 1,43-50 und 5,224f.). Augenfällig ist dieses Verfahren in der Rede der Medea an den (wie bei Apollonios) eingeschläferten Drachen, die eine Anspielung auf die euripideische Version enthält, nach der der Drache getötet wurde, Val. Flac. 8,98f.: »quam gravida nunc mole iaces, quam segnis inertem / flatus habet! Nec te saltem, miserande, peremi.« Zu dieser Erzähltechnik s. ZISSOS (1999) 289-301, der sich für die Anspielungen auf die verschiedenen Varianten der Hylassage auf die Ergebnisse von MALAMUD/MCGUIRE (1993) 196-207 stützt. Der auffällige Platz des Herakles beim Abschiedsmahl, der in Gegensatz zu seiner Jason untergeordneten Rolle in den römischen Argonautica steht, dürfte daher als Reminiszenz an Apollonios zu verstehen sein. 151 In 18 Szenen handelt es sich um wirkliche Diener: Beratung vor der Presbeia (Hom. Il. 9,174-176); Nestor und Odysseus in Pylos (Hom. Il. 11,624-641: ARENDS Bemerkung, erst in der Odyssee würden die Tische von den Bediensteten aufgestellt sowie Waschwasser und »die Speisen von Dienern aufgetragen [...]; die Helden vor Troja taten das selbst« [S. 70] ist nicht zutreffend); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,109-112 und 136-143 und 146-148); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,52-58); Odysseus bei den
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Am einheitlichsten stellen sich die Vorgänge in fünf vornehmen Gastmählern der Odyssee dar, wo der Dichter jeweils dieselben Formelverse verwendet: Zunächst bringt eine Dienerin (mMF¸POLOW) Wasser zum Reinigen der Hände152 und stellt einen Tisch auf, sodann erscheint eine Wirtschafterin (TAM¸H), die den Gästen Brot und andere, nicht näher bezeichnete Speisen vorsetzt.153 Beim Empfang von Athene/Mentes durch Telemach und von Telemach durch Menelaos bringt sodann ein weiterer Diener (DAITRÎW) Platten mit Fleisch und goldene Trinkbecher (Hom. Od. 1,141f. und Hom. Od. 4,57f.), die auf Ithaka vom »Herold« (KRUJ) gefüllt werden (Hom. Od. 1,143). Zu den Formelversen s. u. S. 129f.
Phäaken (Od. 7,172-176 und 7,232); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,348-372: Die Dienerinnen bereiten Stühle und Tische vor, ehe eine von ihnen Odysseus ins Bad führt, worauf mehrere Mägde die Bedienung bei Tisch übernehmen. Unmittelbar nach der Ankunft des Odysseus hatte Kirke selbst einen Zaubertrank bereitet, den sie ihm vorsetzte, ohne jedoch die gewünschte Wirkung zu erzielen, Hom. Od. 10,316f.); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,88f. und 91-95: Bad und Bedienung am Tisch); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,456f.); Argonauten bei Aietes (A.R. 3,271-274); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,701-706); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,127-135); Hannibal in Capua (Sil. 11,274-277); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,515-524); Diomedes und Odysseus bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,741f.); Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,253f.); Argonauten auf Lemnos (Val. Flac. 2,341f.); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,652f.); Hochzeitsmahl von Pluto und Proserpina (Claud. rapt. 2,317-321). In 14 Szenen übernehmen der Hausherr, seine Angehörigen oder Freunde die entsprechenden Tätigkeiten: Agamemnon bewirtet die Heerführer (Hom. Il. 2,421-429); Festmahl für Aias (Hom. Il. 7,314-318); Presbeia (Hom. Il. 9,202-217); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,776); Primaos bei Achill (Hom. Il. 24,621-626); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,32f. und 3,40f.); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,92f.); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,234-236); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,49-52); Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,418-423); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,263, vgl. 2,301-303: Bad und Mahlvorbereitung, und 2,495); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,179-181: hier sind nicht näher bezeichnete lecti iuvenes und ein Herculespriester beteiligt); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,179-184); Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,487 und 4,529f.). In einer Szene (Besuch des Odysseus bei Eumaios) bewirten sowohl der Hausherr als auch sein Sklave den Fremden, s. Hom. Od. 14,76-78 und 14,449-451. 152 Das Übergießen des Wassers wird beim Abschlußtrunk im Zelt des Agamemnon nach der Presbeia (Hom. Il. 9,174-175) und beim Besuch der Athene in Ithaka (Hom. Od. 1,146) von KRUKEW übernommen, ebenso am zweiten Tag des Gastmahls bei Nestor (Hom. Od. 3,338), den wir nicht mehr zur Gastmahlszene im eingangs definierten Sinn rechnen. 153 Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,136-140; Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,52-56; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,172-176; Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,368-372; Theoklymenos bei Telemach, Hom. Od. 17,91-95.
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Die Verwendung von Waschwasser findet sich mit einer Ausnahme (der Beratung der Heerführer bei Agamemnon, wo sich die Teilnehmer vor einer Trankspende die Hände reinigen, Hom. Il. 9,174-178)154 nur bei besonders gut ausgestatteten Gastmählern der Odyssee. In den Bewirtungen bei Nestor, der sich gerade am Strand aufhält (Hom. Od. 3,31-403), in der Hütte des Eumaios (Hom. Od. 14 und 16,4-153) und bei Autolykos (Hom. Od. 19,413-427) wird dieser Brauch dagegen nicht beschrieben. In der nachhomerischen Epik wird das Darreichen von Waschwasser noch seltener erwähnt: Es erscheint nur in dem an der Phäakenszene orientierten Gastmahl der Dido (Verg. Aen. 1,701) sowie bei der Bewirtung Caesars durch Kleopatra (Lucan 10,159f.), wo das seltene Detail offensichtlich als Anspielung auf das Gastmahl in Karthago eingesetzt wird. Das bei Homer beschriebene Aufstellen von Tischen übernimmt nur Statius in der Adrast- und der Lycomedesszene (Stat. Theb. 1,519; Stat. Ach. 1,741f.), die mehrere Anspielungen auf homerische Gepflogenheiten aufweisen, so daß es sich auch hier um eine bewußt eingesetzte Parallele handeln dürfte.155 Während also die meisten nachhomerischen Epiker – mit Ausnahme Vergils in der Didoszene, Lukans in der Kleopatraszene und des Statius in der Bewirtung bei Adrast und Lycomedes – die Handreichungen der Diener bei Tisch auf das Servieren von Wein und Speisen reduzieren, und selbst diese nur in 6 Szenen erwähnen,156 betonen sie andererseits die Vorberei154 Der Brauch, sich vor dem Trankopfer die Hände zu reinigen, ist auch außerhalb eines Gastmahls belegt, vgl. Hom. Il. 24,302-314 (Priamos betet vor seiner Fahrt ins griechische Lager zu Zeus). Zu den archäologischen Zeugnissen für diesen Brauch s. SIMON (1998) 129-132. 155 Stat. Theb. 1,519: pars teretis levare manu ac disponere mensas, und Stat. Ach. 1,741f.: nec mora, iam mensas famularis turba torosque / instruit (vgl. Hom. Od. 4,54 und Hom. Od. 10,354f.) sowie die detailliert beschriebene Herrichtung der Polster (Stat. Theb. 1,517f., vgl. Hom. Od. 1,130-132). Vgl. auch die Anordnung der Mahlteilnehmer nebeneinander, Stat. Theb. 1,527f. mit Hom. Od. 1,132-135; Hom. Od. 3,36-39; Hom. Od. 7,167-171. Einige der homerisch erscheinenden Züge in der Adrastszene sind offensichtlich über die Euanderszene der Aeneis vermittelt (Verg. Aen. 8,97-369), die ihrerseits auf den Empfang bei Nestor (Od. 3,31-403) zurückgeht. 156 Einschenken von Wein bzw. Herbeibringen von Bechern: Abschiedsmahl der Argonauten, A.R. 1,456f.; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,181; Caesar bei Kleopatra, 10,159-163 (hier werden unpersönliche Formulierungen verwendet, so daß aus dem Text nicht erkennbar ist, wer die Handreichungen vornimmt); Hannibal in Capua, Sil. 11,276, vgl. 285; Mahl bei Cyzicus, Val. Flac. 2,653f.; Darreichen von Brot: Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,181f.; Abschiedsmahl der Argonauten, Val. Flac. 1,254; Darreichen von Fleisch: Verg. Aen. 8,180f.; Abschiedsmahl der Argonauten, Val. Flac. 1,253f.; Darrei-
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tung des Mahles. Dies geschieht einerseits durch die Darstellung von Details, wie das Anfachen des Herdes (2 Belege157), das Zerkleinern von Brennholz (1 Beleg158) und das Entzünden von Lampen (1 Beleg159) sowie beim Gastmahl des Adrast dadurch, daß nicht das Auftragen der Speisen selbst, sondern nur die Vorbereitungen dazu beschrieben werden. Die Darstellung der Dienerschaft ist teilweise von homerischen Vorbildern beeinflußt,160 doch schildert Statius nicht wie Homer das Auftragen von Fleisch und Brot, sondern nur die Phase, in der die Sklaven die Eingeweide der Opfertiere rösten und die Brotkörbe für das Bankett füllen.161 Während die Diener bei Homer also stets in direktem Kontakt zu den Gästen stehen, die sie bedienen – indem sie ihnen zum Beispiel Wasser über die Hände gießen – verlagert sich der Akzent in der nachhomerischen Dichtung stärker auf die Vorbereitung des Mahls und damit auf die Beziehung zwischen Diener und Hausherrn, auf dessen Anweisung hin sie tätig werden. In allen Szenen erfüllen die Sklaven ihre Aufgabe bei Tisch schweigend und ohne den geringsten Anstoß. Fehlverhalten der Dienerschaft, Widerspruch oder sonstige Wortäußerungen, wie sie in anderen Gattungen vorkommen, finden sich in den epischen Gastmahlszenen nicht. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle verzichtet der Erzähler sogar darauf, einen ausdrücklichen Befehl des Hausherrn an die bei Tisch aufwartenden Sklaven wiederzugeben, so daß deren Tätigkeit als zwangloser, selbstverständchen von nicht genau bestimmten Speisen: Caesar bei Kleopatra, 10,155-159; Hannibal in Capua, Sil. 11,275; Mahl bei Cyzicus, Val. Flac. 2,653. 157 Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,704; Hannibal in Capua, Sil. 11,276. Beide Szenen sind auch sonst aufeinander bezogen, so daß es sich um eine Anspielung handeln dürfte. Bei Homer wird das Entzünden des Feuers nur in der Presbeia erwähnt, wo Patroklos diese Aufgabe übernimmt (Hom. Il. 9,211). 158 Jason bei Aietes, A.R. 3,272f. Das Zerkleinern von Brennholz kommt bei Homer nur in der Bewirtung des Odysseus durch Eumaios vor, wo nicht die Diener, sondern der Gastgeber diese Aufgabe übernimmt (Hom. Od. 14,418). 159 Stat. Theb. 1,520. Das Detail verweist auf das Gastmahl der Dido – der einzigen anderen Stelle, an der ausdrücklich lychni erwähnt werden – ohne jedoch das Vorbild wörtlich zu zitieren: Vgl. Verg. Aen. 1,726f.: dependent lychni laquearibus aureis / incensi et noctem flammis funalia vincunt und Stat. Theb. 1,520f.: ast alii tenebras et opacam vincere noctem / adgressi tendunt auratis vincula lychnis. Bei Vergil gehört das Entzünden der Lampe jedoch nicht zur Vorbereitung des Mahls, da man in Karthago, anders als in Argos, offenbar vor Einbruch der Dunkelheit zu speisen beginnt. Erst während der Aktivitäten nach dem Mahl, die sich bis in die Nacht hinziehen, muß der Palast künstlich erleuchtet werden. 160 S. o. Anm. 155. 161 Stat. Theb. 1,522-524: his labor inserto torrere exsanguia ferro / viscera caesarum pecudum, his cumulare canistris / perdomitam saxo Cererem.
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lich geleisteter Dienst erscheint. Nur in der Phaiakis, dem Mahl bei Euander sowie beim Empfang von Tydeus und Polyneikes in Argos – den einzigen Szenen, in denen bei der Ankunft des Gastes eben ein Mahl zu Ende geht oder schon beendet ist – gibt der Hausherr den direkten Befehl, für Speis und Trank zu sorgen.162 Es handelt sich jeweils um eine außergewöhnliche Situation (der Gast wird nur zögernd aufgenommen, bzw. die Gäste erscheinen, als der Wirt schon schläft), so daß in dem Befehl des Hausherrn kein Tadel mitschwingt. Beim Besuch der Argonauten bei Cyzicus gibt der Wirt nur den allgemeinen Befehl, den Palast zu öffnen, in welchem die Diener tätig sind, so daß die Situation der gewöhnlichen Konstellation ohne direkte Anweisung nahekommt.163 In drei homerischen Mahlszenen fordert ein Hausherr keine Diener, sondern andere, ihm nahestehende Personen auf, die Fremden zu bewirten: Achill läßt Patroklos Wein nachmischen (Hom. Il. 9,202-204), Eumaios befiehlt den übrigen Hirten, das beste Schwein zu holen (Hom. Od. 14,414417), und Autolykos fordert seine Söhne auf, ein Mahl herzurichten (Hom. Od. 19,418f.). Diese Abwandlung, bei der der Gastgeber die notwendigen Handreichungen an enge Vertraute delegiert, hat jedoch nicht traditionsbildend gewirkt. Eine wohl von der Eumaiosszene inspirierte Parallele erscheint in der nachhomerischen Epik nur während des Aufenthalts der Argonauten bei Phineus (A. R. 2,463-466), wo der greise Seher den ihn unterstützenden Hirten Paraibios auffordert, das beste Schaf der Herde zum Mahl herbeizubringen. In der lateinischen Epik hingegen erteilen die Gastgeber ihren Angehörigen niemals direkte Weisungen.164 162 Hom. Od. 7,179-181: 1ONTÎNOE KRHTRA KERASSjMENOW MYU NEºMON / PlSIN mNk MGARON ¾NA KA¹ %I¹ TERPIKERAÃN¡ / SPE¸SOMEN; Verg. Aen. 8,175f.: dapes iubet et sublata reponi / pocula; Stat. Theb. 1,512-516: canis etiamnum altaribus ignes / sopitum cinerem et tepidi libamina sacri / servabant; adolere focos epulasque recentes / instaurare iubet. Dictis parere ministri / certatim adcelerant. 163 Val. Flac. 2,649-654: sic memorat laetosque rapit, simul hospita pandi / tecta iubet templisque sacros largitur honores. / Stant gemmis auroque tori mensaeque paratu / regifico centumque pares primaeva ministri / corpora, pars epulas manibus, pars aurea gestant / pocula. 164 Eine Zurechtweisung erfährt in den Gastmahlszenen nur der spartanische Herold Eteoneus, der jedoch nicht zu den am Tisch aufwartenden Dienern, sondern zu den Vertrauten des Menelaos gehört. Dieser zögert anfangs, die am Tor wartenden Fremden aufzunehmen und muß erst vom Herrscher an die zahlreichen Gelegenheiten erinnert werden, bei denen er selbst Gastfreundschaft genossen habe (Hom. Od. 4,26-36). In der Phineusszene des Valerius Flaccus (Val. Flac. 4,423-636), wo nach dem Vorbild des Apollonios eine Aufforderung an Paraibios zu erwarten wäre, fehlt der Helfer des Phineus ganz.
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Das prompte und pflichtbewußte Handeln der bei Tisch aufwartenden Sklaven ist in allen Epen Kennzeichen ihrer Ergebenheit und zugleich für die Gastfreundschaft, die der Wirt dem Besucher entgegenbringt. Diese kann jedoch in Einzelfällen durch die Art, wie die Dienerschaft dargestellt wird, einen negativen Zug erhalten. In der Kolchisszene des Apollonios Rhodios erscheint der Hofstaat des Aietes als dienstbeflissen, weil »es keinen gab, der bei der Bedienung des Königs von der Mühe abließ« (A.R. 3,273f.). Dieser Einschub, der das Augenmerk des Lesers gerade zu dem Zeitpunkt auf den Wirt lenkt, zu dem sonst das Wohlergehen des Gastes im Vordergrund steht, ist in den epischen Gastmahlszenen ohne Parallele und verstärkt den bedenklichen Eindruck, den der Leser zuvor von Aietes gewonnen hat. Lukan wiederum schildert die Sklaven der Kleopatra gleichsam als Teil der luxuriösen, negativ gewerteten Raumausstattung, während er für die eigentliche Bedienung bei Tisch nur unpersönliche oder neutrale Subjekte wählt (Lucan. 10,127-135 und 155-163, s.u. S. 187f. und 193f.). Die an der Mahlvorbereitung und dem Tischdienst beteiligten Personen sind in siebzehn Szenen in Gruppen organisiert, die sich die verschiedenen Aufgaben teilen. In Ilias und Odyssee, wo diese Differenzierung zehnmal vorkommt, variiert die Art der Darstellung stark: Die beteiligten Personen können wenigstens teilweise mit Namen erscheinen (4 Belege165), sie können in Haushalten, die über zahlreiche Sklaven verfügen, durch Gruppenbezeichnungen gekennzeichnet werden (5 Belege166) oder durch distributive Ausdrücke voneinander abgesetzt sein (1 Beleg: Dienerinnen der Kirke bei der Bewirtung, nachdem Kirke Odysseus erkannt hat, Hom. Od. 10,352359).167 In nachhomerischer Zeit setzt sich die Abgrenzung mit Hilfe distributiver Ausdrücke durch: In 6 von 7 nachhomerischen Szenen, in denen bei der Mahlvorbereitung verschiedene Gruppen von Personen mit unterschiedlichen Aufgaben erkennbar sind, werden diese nur durch korrelative Begriffe 165 Bewirtung im Zelt des Nestor (Hom. Il. 11,624-627); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,202-211); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,621-626); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,449). 166 Beratung der griechischen Heerführer, Hom. Il. 9,174-176; Athene in Ithaka, Hom. Od. 1,136-143; Odysseus bei Menelaos, Hom. Od. 4,52-58; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,172-176; Theoklymenos bei Telemach, Hom. Od. 17,91-95. 167 Dasselbe Darstellungsprinzip gilt für die Diener im Haus des Odysseus, Hom. Od. 1,110-112, die allerdings nicht den Gast (Athene/Mentes) bewirten, sondern von diesem bei ihren Bemühungen um die spielenden Freier beobachtet werden, während er an der Schwelle wartet.
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wie O¼ MN- O¼D, TO¹MNTO¹Dalii - alii oder pars - pars voneinander abgesetzt,168 während in der einzigen Ausnahme, der Didoszene der Aeneis, die Gliederung durch einen distributiven Ausdruck (V. 1,705: aliae) mit Gruppenbezeichnungen, wie wir sie ähnlich aus der Odyssee kennen, kombiniert ist (V. 1,701: famuli, V. 1,703: famulae, V. 1,705: ministri). Die hellenistischen und römischen Dichter legen in diesen Szenen Wert darauf, den Eindruck eines geschlossenen, in sich strukturierten Hofstaates zu erwecken, der sich um den Gast müht. Dafür spricht auch, daß die Einteilung in mehrere Gruppen in nachhomerischer Zeit nur an Königshöfen sowie bei der Hochzeit des ›Unterweltkönigs‹ Pluto und dem ausdrücklich als »königsgleich« (Sil. 11,271) bezeichneten Gastmahl in Capua vorkommt (Sil. 11,274-277). In den durch korrelative Ausdrücke gegliederten Dienerdarstellungen wie auch in den fünf hellenistischen und römischen Gastmahlszenen, in denen nur eine Gruppe von Dienern erwähnt wird,169 fehlen Hinweise auf bestimmte Klassen, wie sie die Begriffe KRUJDAITRÎWoder mMF¸POLOW in der Odyssee implizieren. Die Erzähler sprechen stattdessen allgemein von lecti iuvenes (Verg. Aen. 8,179), famularis turba (Stat. Ach. 1,741), ministri (Val. Flac. 1,253) und famulae (Val. Flac. 2,341). Nur beim Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,457) läßt die Bezeichnung O»NOXÎOI an eigens abgestellte Mundschenke denken. Die Vorbereitungen fehlen nur dann, wenn der Erzähler das eigentliche Mahl knapp abhandelt (7 Belege, alle nachhomerisch).170 b) Der Genuß von Speisen und Getränken In den epischen Gastmahlszenen werden, anders als im Roman oder der Komödie, nur wenige Speisen ausdrücklich erwähnt.171 Dabei handelt es 168 Jason bei Aietes (A.R. 3,271-274); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,128-135); Hannibal in Capua (Sil. 11,274-277); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,515-525); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,652f.); Hochzeit von Pluto und Proserpina (Claud. 2,317-321). 169 Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,457); Mahl bei Euander (Verg. Aen. 8,179-181: hier ist nicht sicher, welchen sozialen Rang die Jünglinge innehaben); Odysseus und Diomedes bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,741f.); Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,253f.); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,341f.). 170 Argonauten bei Lykos (A.R. 2,759-761); Argonauten auf der Aresinsel (A.R. 2,1177); Aeneas bei Helenus (Verg. Aen. 3,355); Serranus bei Marus (Sil. 6,94f.); Anna bei Aeneas (Sil. 8,76f.); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,119-121: hier sind Personenbeschreibung und Mahlvorbereitung verknüpft); Jason bei Aietes (Val. Flac. 5,570f.).
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sich gewöhnlich um Fleisch, Brot und Wein, während alle übrigen Gerichte nur mit einem summarischen Ausdruck zusammengefaßt werden.172 Von dieser Regel weicht Homer nur in vier, seine Nachfolger nur in zwei Szenen ab: Nestor und Machaon erfrischen sich nach dem Kampf mit einem durch Zwiebeln und Honig ergänzten Trank aus Wein, Ziegenkäse und Mehl (KUKE¢N), welchen der Greis aus einem übermenschlich schweren Becher genießt (Hom. Il. 11,624-641). Kirke bereitet zweimal ein ähnliches Gericht, in das sie Zaubermittel mengt, um Odysseus und seine Gefährten in Schweine zu verwandeln (Hom. Od. 10,234-236 und 10,316f.), und Hermes erhält von Kalypso Nektar und Ambrosia, die übliche Nahrung der Götter (Hom. Od. 5,92f.). Es handelt sich in diesen Szenen jeweils um außergewöhnliche Tischgenossen, die entweder, wie Hermes, zur göttlichen Sphäre gehören oder altehrwürdige, in der Gegenwart des Epos nicht mehr übliche Sitten verkörpern.173 Dasselbe gilt für die Falernusszene in den Punica, in der der Wirt, ähnlich wie Nestor, als Vertreter einer früheren Epoche erscheint.174 Er bewirtet den Gott Bacchus, welcher unerkannt bei ihm einkehrt, ausschließlich mit Obst, Gemüse, Milch, Honig und Brot175 und erhält zum Dank den später nach ihm benannten Wein. 171 S. zum Vergleich z.B. Ar. Ra. 506 (Bohnenbrei); Ar. Ra. 507 (Kuchen); Ar. Ra. 509f. (Geflügel); Ar. Ra. 510 (TRAGMATA, d.h. ›Nachtisch‹); Ar. Ra. 517 (Fischscheiben); Petron. 36,2f. (Geflügel, Saueuter, Hase, mit Pfeffer gewürztes garum); Petron. 40,3-6 (mit Drosseln gefüllter Eber, zwei verschiedene Dattelsorten, aus Kuchenteig geformte Ferkel); Petron. 49,9f. (mit verschiedenen Würsten gefülltes Schwein). 172 Ganz ohne Angaben zu Speisen oder Getränken bleiben nur 3 Szenen: Serranus bei Marus (Sil. 6,72-551), Anna bei Aeneas (Sil. 8,69-166), Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,629-664). 173 Nestor ist zwei Generationen älter als die übrigen Helden, stammt also aus der gleichen Generation wie Kirke, die bei Homer ausdrücklich als Schwester des Aietes bezeichnet wird, s. Hom. Od. 10,136f.: ,¸RKH AÆTOKASIGNTH ÑLOÎFRONOW "»TAO 174 Falernus lebt im sagenumwobenen Goldenen Zeitalter, Sil. 7,166f.: Massica sulcabat meliore Falernus in aevo, / ensibus ignotis, senior iuga. S. dazu VESSEY (1973) 241f. 175 Sil. 7,179-184: opes festas puris nunc poma canistris / composuit, nunc irriguis citus extulit hortis / rorantes umore dapes. Tum lacte favisque / distinxit dulces epulas nulloque cruore / polluta castus mensa Cerealia dona / attulit. Die Szene ist nach dem Vorbild der Geschichte von Philemon und Baucis in den Metamorphosen gestaltet, in der die Götter ebenfalls bei einfachen Gastgebern einkehren und unter anderem Feldfrüchte und Honig als Speise erhalten (Ov. met. 8,664-667 und 674-677). Die in epischen Gastmahlszenen ungewöhnliche Erwähnung des Honigs dürfte durch dieses Vorbild angeregt sein. Ovidreminiszenzen sind bei Silius auch sonst nachzuweisen, besonders in der Darstellung des Drachenkampfs (Ov. met. 7,672ff. und Sil. 6,137-139) dazu FRÖHLICH (2000) 403f. sowie zu einer weiteren (möglichen) Parallele STEINIGER (1999) 422f.
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Die Erwähnung ungewöhnlicher Speisen in der Kleopatraszene der Pharsalia, wo neben dem üblichen Fleisch von Landtieren auch Fische und Vögel aufgetragen werden (Lucan. 10,155-159), läßt sich hingegen nicht auf diese Weise erklären: Weder repräsentiert die Gastgeberin eine vergangene Epoche wie Nestor, Kirke und Falernus, noch gehört sie zur übernatürlichen Sphäre wie der Götterbote Hermes. Statt dessen handelt es sich um einen dekadenten, jedes Tabu mißachtenden Charakter, den der Erzähler in mehreren auktorialen Kommentaren kritisiert. Die ungewöhnliche Speisenfolge, die der Leser leicht als Bruch der epischen Konvention erkennen kann, verweist hier auf das allgemein negative Bild der Kleopatra.176 Ähnliches gilt für das von Valerius Flaccus beschriebene Gastmahl in Kolchis, bei dem einer der Einheimischen, auf den Aietes Jason aufmerksam macht, das Blut seines Pferdes trinkt (Val. Flac. 5,585). Die Vermischung von »Blut« und »Getränken«, die sich hier zeigt, ist typisch für die Antigastmähler (s. dazu unten S. 452f. und 462f.), zu denen die Kolchisszene des Valerius auch sonst Parallelen aufweist.177 Über die genaue Speisenfolge beim epischen Gastmahl lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen treffen. Bei Homer werden Speisen und Getränke gewöhnlich gleichzeitig genossen, worauf sich in zwei Szenen (Gesandtschaft zu Achill, Hom. Il. 9,223-231; Bewirtung des Odysseus durch Eumaios, Hom. Od. 14,111-113) ein gesonderter Umtrunk anschließt, der von Gast oder Gastgeber angeregt wird und zu den Gesprächen nach dem Mahl überleitet. In 16 von 22 nachhomerischen Szenen werden die VESSEY (1973) 244 wertet die Erwähnung von Honig als Anspielung auf die von Ovid beschriebenen honiggetränkten Opferkuchen, die dem Bacchus (den Ovid in einer nur hier bezeugten Sagenversion als ›Erfinder‹ des Honigs bezeichnet) in römischer Zeit dargebracht wurden, s. Ov. fast. 3,735f.: liba deo fiunt, sucis quia dulcibus idem / gaudet, et a Baccho mella reperta ferunt, und Ov. fast. 3,761f.: melle pater fruitur, liboque infusa calenti / iure repertori splendida mella damus. In jedem Fall erscheint Falernus als Vertreter der für die goldene Zeit typischen »reinen« Haltung und Lebensweise, die den Menschen dieser Epoche den direkten Umgang mit den Göttern erlaubt. Vgl. pura [...] lympha, Sil. 7,170; puris [...] canistris, Sil. 7,179; nulloque cruore / polluta [...] mensa, Sil. 7,182f.; castus (sc. Falernus), Sil. 7,183. 176 Es handelt sich hier um den einzigen Beleg für ein Fischgericht in einer epischen Gastmahlszene. Auffällig ist der Verzicht auf Meerestiere vor allem bei Homer, der in Gleichnisform (s. Hom. Od. 22,383-389) durchaus vom Fischfang spricht, ohne jedoch den Verzehr der Tiere jemals zu schildern. 177 Vgl. die Bemerkung Jasons, einer der Gefolgsleute des Aietes erwecke den Eindruck ceu pugnam paret et positas confundere mensas, Val. Flac. 5,580. Das Umstürzen der Tische gehört in den Antigastmählern zu den regelmäßig wiederkehrenden Details. Dazu unten S. 450f.
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Speisen vor dem Wein erwähnt,178 doch sind die Bemerkungen meist so kurz und die Abstände zwischen den Nennungen so gering, daß daraus zwar eine erzähltechnische Konvention, aber keine Trennung von Mahl und Trinkgelage abgeleitet werden kann, wie sie historisch für die römische cena bezeugt ist.179 Zwei verschiedene Phasen lassen sich sicher nur beim Gastmahl der Dido (Verg. Aen. 1,723f.), beim Festschmaus des Lycomedes (Stat. Ach. 1,773f.) sowie beim Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,253f., 1,260 und 1,294, Trennung allerdings nur angedeutet) unterscheiden, wo die Teilnehmer zunächst speisen und sich anschließend beim Wein den Vergnügungen nach dem Mahl hingeben. Der eigentliche Vorgang der Nahrungsaufnahme, der in der Wirklichkeit das Kernstück eines Gastmahls bildet, wird nur in 15 von 40 Szenen ausdrücklich erwähnt. Die Dichter beschränken sich dabei auf eine kurze Be-
178 Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,455f. und Val. Flac 1,253f. und 260, vgl. 294: Wein und Vergnügen nach dem Mahl werden gemeinsam erwähnt); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,307); Jason bei Aietes (A.R. 3,301); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,723f.); Aeneas bei Helenus (Verg. Aen. 3,354f.: die Formulierung aulai medio libabant pocula Bacchi / impositis auro dapibus, paterasque tenebant deutet an, daß zuerst die Speisen aufgetragen wurden); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,175f.); Caesar bei Kleopatra (Lucan. 10,155-163); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,179-184: hier werden die Speisen zusammen mit Milch genossen, während die Übergabe des bisher unbekannten Weins erst nach der Vorbereitung der ländlichen Mahlzeit erfolgt, Sil. 7,187-191); Hannibal in Capua (Sil. 11,283-286); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,522-524 und 539541: beim Abschluß des eigentlichen Mahles werden nur feste Speisen genannt); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,184f.); Diomedes und Odysseus bei Lycomedes (Speisen und Wein werden offenbar zusammen genossen, auch wenn zuerst das Speisen genannt wird, vgl. Stat. Ach. 1,760: epulantur in dem auf die Frauen des Hauses bezogenen Amazonengleichnis, Stat. Ach. 1,770: Achill kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, Wein zu verlangen; und Stat. Ach. 1.773f.; Jason auf Lemnos, Val. Flac. 2,347f.: hier werden die Speisen zwar vor dem Wein erwähnt, beide werden aber gleichzeitig genossen); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,653f.); Hochzeit von Pluto und Proserpina (Claud. rapt. Pros. 2,327: epulis; 2,344: cratera parant et vina [...] bibunt, 2,346: extendunt socios ad pocula plena cerastas). Die umgekehrte Reihenfolge wählt nur Silius Italicus bei der Pflege des verwundeten Serranus, der unter starkem Durst leidet (Sil. 6,94f.: Exin cura seni tristem depellere fesso / ore sitim et parca vires accersere mensa), wo die Umkehrung der üblichen Reihenfolge den Bedürfnissen des Kranken Rechnung trägt. In der Phineusszene des Valerius Flaccus kommen dagegen ohne äußeren Grund beide Varianten nebeneinander vor, s. Val. Flac. 4,530: vina toris epulasque reponunt und Val. Flac. 4, 532f.: laetus ad oblitae Cereris suspirat honores; / agnoscit Bacchi latices, agnoscit et undam. 179 MARQUARDT (1886) I 331: »Bei dem Essen nämlich wurde allerdings von Anfang an Wein gereicht, aber nach Belieben und im Ganzen mässig getrunken [...]. Das eigentliche Trinken begann erst nach der Cena.«
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merkung wie DA¸NUNTO180oder auf eine Umschreibung, welche die Verben für Essen und Trinken ausspart.181 Diese erscheinen nur dann in näher bestimmter Form, wenn die Umstände der Nahrungsaufnahme oder das Speisen selbst besonders hervorgehoben werden sollen. Dies ist der Fall, wenn der Gast nach längerer Notlage erstmals wieder bei Tisch sitzt,182 wenn er eine besondere Speise erhält,183 oder wenn sich sein (Eß-)Verhalten von dem der anderen Teilnehmer unterscheidet.184 Die Darstellung der Nahrungsaufnahme ist aber auch unter solchen Umständen nicht zwingend: Während Apollonios das gierige Schmausen des von den Harpyien befreiten Phineus ausdrücklich schildert, beschreibt Valerius Flaccus in derselben Situation nur die Erleichterung des Sehers über das lang entbehrte Mahl.185 Ähnliches gilt für die Bewirtung des Telemach durch Menelaos und des Aeneas durch Euander. Zwar erhalten beide beim Mahl ein Ehrenstück, doch erwähnt nur Vergil auch dessen Verzehr.186 180 4 Belege: Bewirtung der griechischen Heerführer durch Agamemnon (Hom. Il. 2,431); Siegesmahl für Aias (Hom. Il. 7,320); Bewirtung Telemachs bei Nestor (Hom. Od. 3,66); Gastmahl bei Autolykos (Hom. Od. 19,425). 181 3 Belege: Argonauten bei Lycos (A.R. 2,761: DA¸THN mMF¸EPON TRPONTO); Jason bei Aietes (A.R. 3,301: mSPAS¸VW DÎRP¡ TE POTT¸ TE YUMÏN oRESSAN); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,347f.: sacris dum vincitur extis / prima fames). 182 2 Belege: Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,177); Phineus beim Besuch der Argonauten (A.R. 2,305f.). 183 3 Belege: Hermes bei Kalypso (Od. 5,95); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,182f.); Eumeniden auf der Hochzeit des Pluto (Claud. rapt. Pros. 2,344f.: die Eumeniden trinken ausnahmsweise Wein). S. dazu auch Val. Flac. 5,584-586: Hier wird nicht das Speisen von Gast und Gastgeber beschrieben, sondern Jason beobachtet während der Konversation mit Aietes einen Gefolgsmann des Kolcherkönigs, der sich am Blut seines Rennpferdes labt. 184 3 Belege: Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,109f.: Odysseus ißt schweigend, während Eumaios ihm unaufhörlich von seinem Kummer berichtet); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,472-474: Idas trinkt als einziger Argonaut so ungestüm, daß er sich den Bart mit Wein besudelt. Das Detail wird von Vergil nachgeahmt, vgl. das Verhalten des Bitias am karthagischen Königshof, das sich von den zurückhaltenden Trinksitten der Dido und anderer Teilnehmer abhebt. Allerdings gehört der Weingenuß hier nicht zum gewöhnlichen Verzehr, sondern bildet einen Teil der Trankspende, Verg. Aen. 1,736740); Hannibal in Capua (Sil. 11,283f.: Hannibal speist schweigend, während das Haus vom Lärm der Herumgehenden erfüllt ist, s. V. 11,279f.). 185 Val. Flac. 4,532-534: laetus ad oblitae Cereris suspirat honores; / agnoscit Bacchi latices, agnoscit et undam, / et nova non pavidae miratur gaudia mensae. 186 Hom. Od. 4,65f. und Verg. Aen. 8,182f. Die Übergabe eines solchen GRAW, das aus dem besonders nahrhaften Rückenstück des geschlachteten Tieres besteht, erscheint in den untersuchten Szenen sonst nur bei der Bewirtung des Odysseus durch Eumaios. Eine Variante findet sich außerdem während seines mehrtägigen Aufenthalts bei den Phä-
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Die Darstellung der Nahrungsaufnahme umgeht der homerische Dichter in 11 von 18 Szenen dadurch, daß er nur die Vorbereitung des Mahls oder allenfalls das Ausstrecken der Hände schildert, worauf er unmittelbar zum Ende des Schmauses übergeht.187 In nachhomerischer Zeit nimmt dieses Verfahren an Häufigkeit ab: Nur Apollonios wechselt in zwei Szenen von der Vorbereitung unmittelbar zum Ende des eigentlichen Mahls (A.R. 1,455-459: Abschiedsmahl der Argonauten; A.R. 2,495f.: Mahl bei Phineus). In allen anderen Szenen, in denen der Erzähler die Nahrungsaufnahme übergeht, treten entweder andere Ereignisse zwischen die Vorbereitung und das Ende des eigentlichen Mahls, oder es fehlen alle auf den Verzehr folgende Aktivitäten. Ebenso wie den Genuß von Speisen und Getränken umgehen die Dichter gewöhnlich auch deren Wirkung. Die Belastung des Magens durch opulente Gerichte wird in den untersuchten Szenen nur einmal, die berauschende Qualität des Weines nur zweimal direkt beschrieben. Bei den betroffenen Figuren, dem streitsüchtigen Idas (A.R. 1,472-474, vgl. die erzürnte Frage des Idmon, A.R. 1,477f. ... TOI E»W oTHN ZVRÏN MYU YAR SALON KR / O»DjNEI N STYESSI),188 den Festgästen in Capua (Sil. 11,302) und dem verräterischen Pacuvius (Sil. 11,312f.), handelt es sich jeweils um negative Persönlichkeiten, deren Verhalten der auktoriale Erzähler auch sonst mißbilligt.189 Einen Sonderfall bildet Falernus, der zum aken, wo allerdings nicht der Gastgeber das Fleisch überreicht, sondern der Gast Odysseus auf diese Weise den Sänger Demodokos ehrt (Hom. Od. 8,474-478). 187 Das Ausstrecken der Hände, das stets durch den Formelvers OÀ D P ÑNE¸AY
TOºMAPROKE¸MENAXEºRAW½ALLON ausgedrückt wird, kommt in den untersuchten homerischen Szenen insgesamt siebenmal vor und ist immer mit einem Formelvers zum Abschluß der Nahrungsaufnahme kombiniert: Beratung der Heerführer (Hom. Il. 9,91); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,221); Priamos bei Hektor (Hom. Il. 24,627); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,149); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,67); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,54); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,98). Viermal wird im Anschluß an die Mahlvorbereitungen nur der Abschluß des Speisevorgangs in einem Formelvers genannt: Pflege des Machaon in Nestors Zelt (Hom. Il. 11,642); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,780); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,237); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,318). Zur Gestalt des Abschlußverses s. unten S. 84. 188 Der nach dem Vorbild des Idas gestaltete Bitias (Verg. Aen. 1,738f.) betrinkt sich dagegen nicht, sondern fällt durch sein grobschlächtiges Betragen auf. 189 Eine Anspielung auf die sorgenlösende Wirkung des Weins findet sich beim Gastmahl der Dido, wo die Königin außer zu Iuppiter und Iuno auch zum Weingott als dator laetitiae betet (Verg. Aen. 1,731-735). Die berauschende Wirkung des Getränks wird jedoch nicht dargestellt. Nur angedeutet wird die Trunkenheit auch bei der Bewirtung des Jason in Kolchis, Val. Flac. 5,593-598. In den regulären homerischen Gast-
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Dank für seine Gastfreundschaft von Bacchus selbst den bisher noch unbekannten Wein erhält und dessen Rausch daher keine negativen Konnotationen trägt (Sil. 7,199-205). Das dionysische Ambiente hat Silius durch Attribute wie Weinranken und den Thyrsosstab kenntlich gemacht, die die Epiphanie des Gottes begleiten (Sil. 7,194-198), so daß der Leser die ungewöhnlich ausführliche Darstellung der Trunkenheit nicht mißverstehen kann.190 c) das Ende des eigentlichen Mahles Das Ende der Beköstigung wird in allen homerischen Gastmahlszenen – mit Ausnahme des kurz geschilderten Empfangs bei Autolykos (Hom. Od. 19,425f.) – durch einen Formelvers nach dem Muster AÆTkRPE¹PÎSIOW KA¹ DHTÃOW J RON
NTO markiert, der zu den Aktivitäten nach dem Mahl überleitet. Ein solcher Neuansatz findet sich auch in den meisten nachhomerischen Szenen. Trotz zahlreicher Varianten im Detail behalten die Dichter dabei in sieben Fällen die homerische Konstruktion eines mit PE¹(bzw. postquam) eingeleiteten Temporalsatzes bei, so daß der Fokus auf den im Hauptsatz beschriebenen Aktivitäten nach dem Mahl liegt, während die Bewirtung selbst nur im Rückblick erscheint.191 Dieselbe Wirkung erzielen ebenfalls mahlszenen vermeidet der Dichter selbst diese Anspielungen: Am Hof des Menelaos sorgt nicht der Wein, sondern das Zaubermittel der Helena für eine entspannte Stimmung (Hom. Od. 4,219-226). Eine Rolle spielen die Folgen des Weingenusses dagegen in den Antigastmählern, die ihre Vorläufer in der Kyklopenszene und im Gelage der Freier haben. Diese können wegen ihrer besonderen Voraussetzungen nicht mit denselben Maßstäben gemessen werden wie reguläre Gastmahlszenen. 190 Die realistische Darstellung des trunkenen Falernus ist, wie auch die gesamte Anlage der Szene als aitiologischer Exkurs innerhalb des Epos, deutlich von hellenistischen Vorbildern beeinflußt, s. dazu VESSEY (1973) 240-242. 191 Argonauten bei Phineus, A.R. 2,307f.: d&NYAD PE¹DÎRPOIOKORSSANT D POTTOWPANNÃXIOI#ORVMNONU¼AWGRSSONTEW; Argonauten und Phrixossöhne, A.R. 2,1177f.: "ÆTkR PE¹ JANTEW PARTA DAºTA PjSANTO D TÎT
oR "»SON¸DHW METEF¢NEEN RX TE MÃYVN; Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,723f.: Postquam prima quies epulis mensaeque remotae, / crateras magnos statuunt et vina coronant; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,184f.: Postquam exempta fames et amor compressus edendi, / rex Euandrus ait....; Caesar bei Kleopatra, Lucan. 10,172-174: Postquam epulis Bacchoque modum lassata voluptas / imposuit, longis Caesar producere noctem / inchoat alloquiis; Serranus bei Marus, Sil. 6,94-97: exin cura seni tristem depellere fesso / ore sitim et parca vires accersere mensa. / Quae postquam properata, sopor sua munera tandem / applicat et mitem fundit per membra quietem; Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,539-541: Postquam ordine mensae / victa fames, signis perfectam auroque nitentem / Iasides pateram famulos ex more poposcit.
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siebenmal vorkommende freie Formulierungen, die mit METPEITA K D TOÅubi, ut, iamque oder einer Partizipialkonstruktion beginnen, ohne sich inhaltlich immer eng an den homerischen Formelvers anzuschließen.192 Von dieser Konvention weicht Silius Italicus bei der Bewirtung des Bacchus durch Falernus und beim Empfang des Hannibal in Capua ab, indem er nicht die Aktivitäten nach dem Mahl, sondern das Mahl selbst bzw. die Trunkenheit der Teilnehmer im Hauptsatz darstellt, s. Sil. 7,202-204: tempora quassatus grates et praemia digna / vix intellectis conaris reddere verbis / donec composuit luctantia lumina Somnus; Sil. 11,283-286: vescitur ipse silens [...] donec pulsa fames et Bacchi munera duram / laxarunt mentem. Dadurch rückt in beiden Fällen der Weingenuß in den Vordergrund, dem die Protagonisten so lange frönen, bis eine erheiternde Wirkung einsetzt bzw. bis sie in Schlaf verfallen. Die Variation des üblichen, mit postquam beginnenden Verses hat der Dichter in der Hannibalszene durch wörtliche Anspielungen auf die Vorgänger hervorgehoben,193 während er bei der Bewirtung des Bacchus zwei mit postquam und dum eingeleitete Temporalsätze so kombiniert, daß der Kontrast zwischen den Varianten ersichtlich ist.194 192 7 Belege: Abschiedsmahl der Argonauten, A.R. 1,457-459: .ETPEITA D
mMOIBAD¹W mLLLOISI MUYEÅNY OÂj TE POLLk NOI PARk DAIT¹ KA¹ O½N¡ TERPN¤W CIÎVNTAI; Jason bei Aietes, A.R. 3,302f.: b&K D TOÅ "»THW SFETRHW REINE YUGATRÏW U¼AW TO¸OISI PARHGORVN PESSI; Anna bei Aeneas, Sil. 8,76-78: atque ubi iam casus adversorumque pavorem / hospitii lenivit honos, tum discere maesta / exposcit cura letum infelicis Elissae; Odysseus und Diomedes bei Lycomedes, Stat. Ach. 1,99f.: Ut placata fames epulis bis terque repostis, / rex prior adloquitur paterisque hortatur Archivos, Abschiedsmahl der Argonauten, Val. Flac. 1,294-296: Iamque mero ludoque modus positique quietis / conticuere toris, solus quibus ordine fusis / impatiens somni ductor manet (es folgt eine Unterredung zwischen Jason, Aeson und Alcimedes); Argonauten auf Lemnos, Val. Flac. 2,349f.: Dapibus coeptis mox tempora fallunt / noctis et in seras durant semonibus umbras (unmittelbar zuvor setzt Valerius Flaccus eine wohl über Vergil Aen. 8,182-185 vermittelte Imitation des homerischen Formelverses zur Beschreibung der Nahrungsaufnahme ein, Val. Flac. 2,347f.: Sacris dum vincitur extis / prima fames circum pateris it Bacchus); Argonauten bei Phineus, Val. Flac. 4,535537 (Jason betrachtet den beim Mahl sitzenden Phineus): Hunc ubi reclinem stratis et pace fruentem / aspicit [...] talibus appellat supplexque ita fatur Iason... 193 Vgl. Sil. 11,285f.: donec pulsa fames et Bacchi munera duram / laxarunt mentem mit Verg. Aen. 8,184: Postquam exempta fames et amor compressus edendi; Lucan. 10,172f.: Postquam epulis Bacchoque modum lassata voluptas / imposuit. 194 Sil. 7,200-204: postquam iterata tibi sunt pocula, iam pede risum, / iam lingua titubante moves, patrique Lyaeo / tempora quassatus grates et praemia digna / vix intellectis conaris reddere verbis, / donec composuit luctantia lumina Somnus. Ein Sonderfall bei Apollonios Rhodios dient dazu, die für Phineus wichtige Zubereitung der ersten ungestörten Mahlzeit zu betonen, s. A.R. 2,304-308: "ÆTkR PE¹ MGA DÎRPON N¹
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Ein Neuansatz entfällt in den untersuchten Gastmahlszenen nur in Fällen, in denen ausnahmsweise keine weiteren Zerstreuungen geschildert werden195 oder wenn das Mahl nur sehr knapp als Hintergrund für eine Unterhaltung erscheint.196 VIII) Religiöse Handlungen (Libation, Opfer, Gebet) Religiöse Handlungen in Form von Gebeten, Segenswünschen, Trankspenden und Opfern erscheinen in 24 von 40 Gastmahlszenen.197 Eine KombiMEGjROISIN YENTO DA¸NUNY ZÎMENOI SÄN D SFISI DA¸NUTO 'INEÄW nRPALVW OÂÎN T N ÑNE¸RASI YUMÏN »A¸NVN d&NYA D PE¹ DÎRPOIO KORSSSANT D POTTOW PANNÃXIOI #ORV MNON U¼AW GRSSONTEW Der mit "ÆTkRPE¹beginnende Vers ist einer homerischen Formel nachgebildet, die in der Ilias dreimal als Abschluß einer ausführlich geschilderten Mahlvorbereitung erscheint, davon einmal in einer reinen Opferszene, zweimal in einer mit einem Opfer verbundenen Gastmahlszene, S. Hom. Il. 1,467 = Hom. Il. 2,430 = Hom. Il. 7,319: AÆTkRPE¹PAÃSANTO PÎNOUTETÃKONTÎTEDAºTAEine weitere auffällige Formulierung bei Valerius Flaccus stellt einen intertextuellen Bezug zwischen dem Lemnosabenteuer und seinen stilistischen Vorbildern, der Dido- und der Euanderszene, her, auf die Valerius mehrfach rekurriert, s. Val. Flac. 2,347-349: sacris dum vincitur extis / prima fames circum pateris it Bacchus et omnis / aula silet und Verg. Aen. 1,723: Postquam prima quies epulis und Verg. Aen. 8,182f.: vescitur Aeneas [...] lustralibus extis. 195 4 Belege: Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,424-427); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,653-664: Das Herbeibringen des Tischgeschirrs geht unmittelbar in die Libation über, deren Segenssprüche an die Stelle einer Unterhaltung nach dem Mahl treten); Hochzeit des Pluto und der Proserpina (Claud. 2,361f.: Statt eines Gesprächs [Element IX] oder eines Sängervortrags [Element X] folgt die Hochzeitsnacht). Hierher gehört auch der Besuch des Aeneas bei Helenus, wo eine Unterhaltung zwischen Gastgeber und Gast erst nach mehreren Tagen der Bewirtung geschildert wird (Verg. Aen. 3,356-462). 196 3 Belege: Argonauten bei Lykos, A.R. 2,759-761; Thetis bei Chiron, Stat. Ach. 1,184-188; Jason bei Aietes, Val. Flac. 5,570-573. 197 Die religiösen Handlungen verteilen sich folgendermaßen: 15 Szenen enthalten eine Libation, 13 Szenen enthalten ein Speiseopfer, 9 Szenen enthalten Gebete, Gelübde und Segenswünsche. Im einzelnen handelt es sich um folgende Szenen (wenn religiöse Riten im Zusammenhang mit einem Bankett erscheinen, ohne zur eigentlichen Gastmahlszene zu gehören, werden diese der Übersicht halber mit einer entsprechenden Bemerkung aufgeführt, sind aber in die Zahlenangaben nicht eingerechnet): Agamemnon bewirtet die Heerführer (Gebet, Hom. Il. 2,412-418 und Speiseopfer, Hom. Il. 2,421427); Mahl für Aias (Speiseopfer an Zeus, Hom. Il. 7,314f.); Beratung der Heerführer vor der Presbeia (Trankspende erst nach der Presbeia, unmittelbar vor dem Nachtlager, Hom. Il. 9,712); Presbeia zu Achill (Speiseopfer, Hom. Il. 9,220, Trankspende vor der Trennung, Hom. Il. 9,656f.), Nestor und Odysseus in Phthia (Opfer an Zeus, verbunden mit einer Trankspende, Hom. Il. 11,772-775); Telemach bei Nestor (Opfer an Poseidon ist bereits im Gange, als die Szene einsetzt, Hom. Od. 3,5-9, Trankspende und Gebete an Poseidon, Hom. Od. 3,43-64, Verbrennen der Rinderzungen und Trankspende vor dem Nachtlager, Hom. Od. 3,341, Gelübde, Trankspende und Gebete zu Athene, Hom. Od.
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nation solcher Handlungen ist bei Homer etwas häufiger anzutreffen als in der späteren Epik: Von 18 Mahlszenen in Ilias und Odyssee enthalten 6 mehrere religiöse Handlungen, bei Apollonios ist es eine von fünf und in der lateinischen Epik sind es 4 von 17 Szenen.198 Die Kombination mehre3,380-385 und 393f. Die Schlachtung des gelobten Rindes wird am zweiten Tag in einer Opferszene beschrieben, Hom. Od. 3,430-463); Odysseus bei den Phäaken (Trankspende an Hermes vor dem Nachtlager, Hom. Od. 7,136-138, Trankspende an Zeus Hikesios, Hom. Od. 7,179-183, weitere Trankspende, Hom. Od. 7,228, Bittgebet des Odysseus an Zeus, Hom. Od. 7,331-333. Nicht während des Gastmahls, sondern beim Abschiedsschmaus erfolgt außerdem ein Opfer der Phäaken an Zeus, Hom. Od. 13,24-27, ein Segenswunsch des Odysseus, Hom. Od. 13,44-46, sowie eine Trankspende mit Gebet und Segenswunsch des Odysseus, Hom. Od. 13,53-62); Odysseus bei Eumaios (2 Segenswünsche des Odysseus an Eumaios, Hom. Od. 14,53f., 440f., vgl. außerhalb der Gastmahlszene Hom. Od. 15,341f.; Haaropfer vom geschlachteten Schwein mit Gebet des Eumaios, Hom. Od. 14,420-424, Speiseopfer, Hom. Od. 14,427-429, Opfer aus gebratenem Fleisch, Hom. Od. 14,434-436, Opfer der oRGMATA mit Trankspende, Hom. Od. 14,446-448); Abschiedsmahl der Argonauten (Opfer an Apollo mit Gebet und Libation vor der Gastmahlszene, A.R. 1,406-438, Verbrennen der Rinderzungen mit Trankspende, A.R. 1,516518); Argonauten bei Phineus (Opfer an Apoll, A.R. 2,490-494); Argonauten bei Lykos (Gelübde, einen Tempel zu bauen, A.R. 2,806-810); Argonauten und Phrixossöhne auf der Aresinsel (Schafopfer an Ares, 2,1169-1176); Aeneas bei Dido (Trankspende und Gebet für Gäste, Verg. Aen. 1,728-740); Aeneas bei Helenus (Libation, Verg. Aen. 3,354); Aeneas bei Euander (Opfer an Herakles im Gang, Verg. Aen. 8,102-106, Libation an Herakles, Verg. Aen. 8,273-279, Gesang der Salier, Verg. Aen. 8,285-305); Serranus bei Marus (Libation für die wundersame Lanze, Sil. 6,137-139); Bacchus bei Falernus (Speiseopfer an Vesta verbrannt, Sil. 7,184f.); Hannibal in Capua (Libation an Capys, Sil. 11,299-302); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Gebet, Stat. Theb. 1,498-510, Libation besonders an Apollo, Stat. Theb. 1,540-556, neuerliche Trankspende, die ins Feuer gegossen wird, und Gebet an Apoll, Stat. Theb. 1,694-720); Abschiedsmahl der Argonauten (Opfer, Gebet und Libation an Poseidon, Zephyrus, Glaucus und Thetis vor dem eigentlichen Mahl, Val. Flac. 1,188-204, Gebet des Peleus, Val. Flac. 1,265-267); Jason auf Lemnos (Opfer an Venus unmittelbar vor Mahl, Val. Flac. 2,329-331, Aufforderung zu Libation und Gebet, Val Flac. 2,336); Argonauten bei Cyzicus, (Opfer in Tempeln, Val. Flac. 2,650); Argonauten bei Phineus (Opfer an Zeus, Val. Flac. 4,529f.); Argonauten bei Aietes (getrennte Libationen von Kolchern und Argonauten an ihre jeweiligen Götter am Schluß der Gastmahlszene, Val. Flac. 5,615-617). Eine Mittelstellung nimmt der am zweiten Tag stattfindende Tanz der Mädchen am Hof des Lycomedes ein. Zwar handelt es sich um eine an religiösen Bräuchen orientierte Darbietung, doch wird sie offenbar zu Ehren der Gäste aufgeführt, die sich anschließend mit Geschenken für die Gunst bedanken, s. Stat. Ach. 1,821-823: egressae thalamo Scyreides ibant / ostentare choros promissaque sacra verendis / hospitibus und die Heimkehr der Tänzerinnen 1,842-844.: in mediae iamdudum sedibus aulae / munera virgineos visus tractura locarat / Tydides, signum hospitii pretiumque laboris. 198 Belege bei Homer: Agamemnon bewirtet die griechischen Heerführer, Hom. Il. 2,402-441; Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,185-668; Nestor und Odysseus in Phthia, Hom. Il. 11,769-790; Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,31-403; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,81-347; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. Buch 14; Beleg bei Apollonios:
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rer Riten, meist von Schlachtung, Trankspende und Gebet, ergibt sich bei Gastmählern, die im Zusammenhang mit einem Opfer stehen, aus dem sakralen Charakter des Banketts, s. Hom. Il. 2,410-427 (Agamemnon bringt vor dem Angriff einen Stier dar, dessen Fleisch dann zur Stärkung der Krieger dient); Hom. Il. 11,772-775 (Peleus opfert Zeus); Hom. Od. 3,5-9, 40-64, 338-342 (Nestor feiert ein Fest zu Ehren Poseidons); A.R. 1,406-438 u. 516-518 (die Argonauten bitten Apoll mit einem Opfer vor der eigentlichen Gastmahlszene um glückliche Fahrt und feiern anschließend mit dem Fleisch ein Abschiedsmahl); Verg. Aen. 8,102-106, 273-279, 281-305 (Euander begeht ein Fest zu Ehren des Herakles); Val. Flac. 1,188-204 (die Argonauten opfern beim Abschied – vor der eigentlichen Mahlszene – dem Poseidon, dem Glaucus, Thetis und den Zephyrn und bringen eine Libation dar; Peleus betet während des Mahls zu den Göttern, Val. Flac. 1,265-267). Wenn kein religiöser Anlaß vorliegt, zeigt die mehrfache Erwähnung von Riten die besonders fromme Gesinnung des Gastgebers, s. Hom. Il. 9,219f., 656f. (Achill beweist trotz seines Zornes Respekt vor den Göttern); Hom. Od. 7,136-138 7,179-184, 228, 330-333: (die Phäaken, die sich selbst als ‘götternahes’ Volk bezeichnen [Od. 7,201-206], bringen zahlreiche Trankspenden aus), und das vierzehnte Buch der Odyssee (Eumaios, der von allen Gastgebern die meisten Opfergaben darbringt, verurteilt die Hybris der Freier, unter denen er zu leiden hat, Od. 14,81-95). Für religiöse Handlungen läßt sich kein fester Platz innerhalb der typischen Gastmahlszene angeben. Eine Libation wird meist am Schluß des Beisammenseins, unmittelbar vor dem Nachtlager oder der Trennung der Tischgesellschaft, ausgebracht und dient dann als Zeichen, die Tafel aufzuheben.199 Sie kann, besonders in der griechischen Epik, jedoch auch wähAbschiedsmahl der Argonauten, A.R. 1,450-518; Belege in der lateinischen Epik: Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,695-3,718; Aeneas bei Euander, Verg. Aen. 8,97-369; Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,386-720; Abschiedsmahl der Argonauten, Val. Flac. 1,250-310; für die genauen Stellenangaben s. o. Anm. 197. 199 Insgesamt 7 Belege für Spenden im Anschluß an die Aktivitäten nach dem Mahl: Beratung der griechischen Heerführer vor und nach der Presbeia (Hom. Il. 9,177 und 9,712); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,657); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,393-395, eine weitere Spende erfolgt hier zu Beginn des Mahls, während der Verkostung der SPLjGXNAS. u. Anm. 200); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,228: Die Spende schließt hier nach dem üblichen Brauch das offzielle Festmahl der Phäaken ab. Da Arete, Alkinoos und Odysseus jedoch im Raum zurückbleiben, um ein privates Gespräch zu führen, findet die Libation zugleich auch vor dem hier ungewöhnlich gestalteten »Gespräch nach dem Mahl« statt); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,516-518, eine weitere Spende findet hier während des vor der Gastmahlszene dargebrachten Opfers statt, A.R.
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rend eines der Beköstigung vorausgehenden Opfers oder während der Beköstigung selbst,200 sowie in lateinischer Zeit zwischen dem eigentlichen Mahl (Element VII) und den Gesprächen von Gastgeber und Gast bzw. dem Sängervortrag (Elemente IX und X) oder als Reaktion auf eine mythologische Erzählung erfolgen.201 Die Trankspende wird, wenn der Epiker nähere Angaben macht, aus einem kostbaren oder altehrwürdigen Gefäß dargebracht (5 Belege202) und ist gelegentlich mit einem Gebet verbunden, in dem der Gastgeber oder der Gast um das Wohlergehen des Tischgenossen bitten.203 In einem Fall, in 1,435f.); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,694-720); Jason bei Aietes (Val. Flac. 5,615-617). 200 Insgesamt 3 Belege für Trankspende während der dem Mahl vorausgehenden Opferhandlung in der griechischen Epik: Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,774f.); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,40-64); Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,435f., eine weitere Trankspende erfolgt nach dem Sängervortrag, A.R. 1,516-518). S. in der lateinischen Epik das Opfer vor dem Abschiedsmahl der Argonauten Val. Flac. 1,204. Nur 1 Beleg für eine Trankspende während des Mahls, nach der Verteilung des Ehrenstücks: Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,447). 201 Insgesamt 2 Belege für die Trankspende zwischen eigentlichem Mahl und den Gesprächen von Gastgeber und Gast bzw. dem Gesangsvortrag: Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,728-736; Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,540-556. Im Anschluß an eine mythologische Erzählung spenden die Teilnehmer beim Mahl des Euander (Verg. Aen. 8,273-279: Libation zu Ehren des Hercules nach dem Bericht des Euander über Hercules und Cacus) und in Capua (Sil. 11,299-302: Libation zu Ehren des Capys nach dem Lied des Teuthras über die Abstammung des Stadtgründers). In 2 Szenen (Aeneas bei Helenus, Verg. Aen. 3,354; Serranus bei Marus, Sil. 6,137-139) läßt sich der Zeitpunkt der Libation nicht genau bestimmen. 202 Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,774: goldene Becher); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,41: goldener Becher); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,728-730: vom Ahnherrn ererbter Becher); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,541-551: Becher mit bildlichem Schmuck); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,653-658: Becher mit bildlichem Schmuck). Vgl. außerhalb einer Gastmahlszene z.B. den kostbaren Becher, aus dem Achill eine Trankspende ausbringt, als Patroklos in den Kampf zieht (Hom. Il. 16,220-248). Nestor dagegen benutzt seinen prächtig verzierten Becher offenbar nicht für eine Trankspende (Hom. Il. 11,632-637). 203 4 Belege: Telemach und Mentor bitten um Segen für Nestor (Hom. Od. 3,55-61); Phäaken bitten für Odysseus (Hom. Od. 7,179-181: kurze Andeutung); Dido bittet um Segen für die Festgesellschaft (Verg. Aen 1,731-735); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,694-720: Adrast bittet Apoll um Beistand für die Festgesellschaft). Vgl. auch außerhalb der eigentlichen Bewirtungsszene die Libation und das Segensgebet des Odysseus für die Phäaken (Hom. Od. 13,56-62). Bei dem von Valerius Flaccus beschriebenen Gastmahl in Kolchis bitten die Teilnehmer dagegen in getrennten Libationen ihre je eigenen Schutzgötter um Wohlergehen und einen glücklichen Ausgang des bevorstehenden Krieges (Val. Flac. 5,615-617). Die ungewöhnliche Form der Trankspende illustriert dabei die latenten Spannungen zwischen Argonauten und Kolchern.
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dem ein Gast- und ein Opfermahl ineinander übergehen, ist ein solches Gebet – den Konventionen des Opfermahls entsprechend – mit der Schlachtung des Tieres und dem Verkosten der Eingeweise verknüpft (Agamemnon bewirtet die griechischen Heerführer, Il. 2,410-427). Der von SAÏD (1979) 33f. unternommene Versuch, bei der homerischen Trankspende fünf verschiedene typische Phasen zu unterscheiden, ist aus diachroner Sicht wenig sinnvoll.204 Schon bei Homer erscheinen die von SAÏD angesetzten Teilelemente der Libation nur in einer geringen Zahl von Gastmahlszenen.205 In der nachhomerischen Epik werden ebenfalls nur selten einzelne Phasen unterschieden,206 so daß diese nicht als typisch eingestuft werden können. Auffällig ist die unterschiedliche Verteilung von Speiseopfern in den einzelnen Epochen. Der homerische Dichter erwähnt sie in einem Drittel der berücksichtigten Szenen (6 von 18 homerischen Gastmahlszenen), Apollonios dagegen in mehr als der Hälfte (3 von 5). In der lateinischen Epik sinkt die Häufigkeit wieder auf ca. ein Viertel der Szenen (4 von 17). Allerdings kommen sie hier, abgesehen von der Euander-Szene in der Aeneis (Verg. Aen. 8,97-369), die stark vom Besuch Telemachs bei Nestor in der Odyssee geprägt ist, und der in mythischer Frühzeit spielenden Be-
204 Es handelt sich nach SAÏD (1979) um folgende Handlungen: 1. Aufforderung zur Trankspende, 2. Zustimmung der Anwesenden, 3. Reinigung der Hände, 4. Spenden des Weins, 5. Abschluß der Spende. Diese Einteilung bietet die Schwierigkeit, daß das Teilelement 3 seinerseits verschiedene Handlungen umfaßt, Saïd (1979) 34: »3. Puis ›sans tarder les hérauts versent de l’eau sur les mains‹, ›les jeunes gens remplissent jusqu’au bord les cratères‹ (ce détail peut être remplacé dans la description par une allusion au vin que l’on mélange ou que l’on puise). ›Ils distribuent le vin en versant les premières gouttes dans les coupes.‹« Streng genommen besteht die Libation also nicht aus fünf, sondern aus acht verschiedenen Elementen. 205 Die Belege stammen aus der Versammlung der griechischen Heerführer, Hom. Il. 9,89-181 und 669-713; dem Besuch Telemachs bei Nestor, Hom. Od. 3,31-403 und dem Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken Od. 7,81-347. Ein weiterer von SAÏD berücksichtigter Beleg stammt nicht aus einer Gastmahlszene, sondern aus der Abschiedszeremonie auf Scheria (Hom. Od. 13,50-62). 206 4 Belege: Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,728-740: Dido fordert die Opferschale, betet, spendet den Wein und reicht die Schale, nachdem sie davon gekostet hat, an die übrigen Teilnehmer weiter); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,273-279: Euander fordert zu Trankspende und Gebet auf und füllt die Opferschale mit Wein, worauf alle spenden und die Götter anrufen); Hannibal in Capua (Sil. 11,299-302: erst spendet Hannibal, dann die übrige Festgesellschaft); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,540-556: Adrast fordert die Opferschale, spendet Wein und betet dabei zu den Göttern, besonders zu Apoll, Stat. Theb. 1,694-720: Adrast fordert zur Libation auf und spricht ein Gebet).
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wirtung des Bacchus (Sil. 7,171-205) nur in den Argonautika des Valerius Flaccus vor, dessen Hauptvorbild das Epos des Apollonios darstellt. In Ilias und Odyssee besteht der gewöhnliche Ritus bei der Schlachtung eines Rindes, Schafes oder Schweins in einem Brandopfer aus noch rohem Fleisch und Fett, dessen Herrichtung bei Homer (und Apollonios) dem auch aus reinen Opferszenen bekannten Ritus entspricht: Die Teilnehmer schlachten und häuten das Tier, umwickeln die Lendenstücke mit Fetthaut, legen Teile der Glieder darauf und verbrennen alles im Feuer. In 5 Szenen wird dieser Vorgang nur durch einzelne Elemente des Rituals angedeutet.207 Andere Formen von Speiseopfern werden in griechischen Gastmahlszenen seltener beschrieben: Die Argonauten verbrennen bei Apollonios einmal die Zungen der geschlachteten Tiere im Feuer und gießen eine Trankspende darüber (A.R. 1,516-518); ein Brauch, der bei Homer nur einmal vorkommt (Hom. Od. 3,332-341, es handelt sich um eine Zeremonie zu Ehren Poseidons). Aus den Gebräuchen beim Opfer stammt auch das Verkosten der Eingeweide, das Homer und seine Nachfolger in einigen Gastmahlszenen erwähnen (2 homerische Belege, 4 lateinische208). Während in Ilias und Odyssee die religiöse Konnotation gewahrt bleibt (beide Belege stehen im Zusam-
207 2 Belege für ein ausführlich beschriebenes Opfer (mit detailliertem Schlachtvorgang, Verbrennen von Fleisch und Fett sowie dem Gebrauch von Gerste) während der Szene: Agamemnon bewirtet die Heerführer (Hom. Il. 2,410-427); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,422-429). 1 Beleg für ein unmittelbar vorhergehendes Opfer: Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,432-435). 5 Belege für ein kurz erwähntes Opfer: Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,220); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,772-775); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,5-9: Opfer ist bereits im Gang, als die Gastmahlszene einsetzt); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,493f.); Argonauten und Phrixossöhne auf der Aresinsel (A.R. 2,1169-1176). 208 Belege bei Homer: Agamemnon bewirtet die griechischen Heerführer (Hom. Il 2,427); Nestor opfert Poseidon (Hom. Od. 3,40). Lateinische Belege: Euander bewirtet Aeneas (Verg. Aen. 8,180); Adrast bewirtet Tydeus und Polyneikes (Stat. Theb. 1,522f.); Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,253f.); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,347350: sacris dum vincitur extis / prima fames circum pateris it Bacchus et omnis / aula silet. Dapibus coeptis mox tempora fallunt / noctis [...] sermonibus). In der Wendung sacris extis klingt der religiöse Bezug noch an. Der Verzehr scheint wie bei Homer der Hauptmahlzeit vorauszugehen (s. Val. Flac. 2,348: prima fames) und mit einem (möglicherweise religiös gefärbten) Umtrunk verbunden zu sein, doch ist die Formulierung so knapp gehalten, daß der Leser die homerischen Gepflogenheiten kennen muß, um die Situation mit einer religiösen Zeremonie in Verbindung zu bringen.
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menhang mit einem Opfer an Zeus bzw. Poseidon209), ist der Genuß der exta oder viscera in der lateinischen Epik vom Opferritus weitgehend gelöst. Er dient hier vor allem als Homerreminiszenz, die nur in Kombination mit anderen Anspielungen auftritt. Wenn religiöse Riten in wechselseitigem Einvernehmen und in korrekter Weise durchgeführt werden, weisen sie die betreffende Person als positiven Charakter aus, von dem die Tischgenossen nichts zu befürchten haben. Das auffälligste Beispiel bietet der Sauhirte Eumaios, dessen pietätvolle Gesinnung sich in einer sonst nirgends anzutreffenden Vielzahl von Opfern äußert. Umgekehrt läßt jedoch das Fehlen von Opfern und Gebeten allein nicht auf eine kritische Bewertung der jeweiligen Figur schließen. In der Bewirtung des Telemach durch Eumaios fehlt z.B. jede religiöse Handlung, da die fromme Gesinnung des Sauhirten aus der unmittelbar vorausgehenden Bewirtung des Odysseus bekannt ist. Auch Menelaos vollzieht keinerlei religiöse Riten, zeigt aber seinen Respekt vor den Göttern dadurch, daß er den Vergleich seines Hauses mit einem Götterpalast ablehnt (Hom. Od. 4,78f.). Eine negative Wertung der Figuren ist mit Sicherheit nur dann gegeben, wenn die Person die Götter oder göttliches Recht offen mißachtet oder wenn der Erzähler den von ihr durchgeführten Ritus mit negativen Konnotationen versieht.210 IX) Gespräch zwischen Gastgeber und Gast Eine angeregte Konversation bildet (neben dem Sängervortrag) den Höhepunkt eines Gastmahls und kommt mit fünf Ausnahmen211 in allen berück209 Die einzigen Personen, die in Ilias und Odyssee die SPLjGXNA ohne Opfer wie ein gewöhnliches Nahrungsmittel verzehren, sind die gottlosen Freier, s. Hom. Od. 20,252, dazu AREND (1933) 67f. mit Anm. 1. 210 3 Belege: Kleopatra setzt ihrem Gast die ›Götter Ägyptens‹ (gemeint sind heilige Tiere) als Speise vor, Lucan. 10,158f.; bei der Trankspende an Capys, die Hannibal ausbringt, berauschen sich die Anwesenden mit Wein, Sil. 11,299-302; Aietes und die Argonauten opfern nicht wie üblich gemeinsam, sondern wenden sich jeweils an ihre persönlichen Schutzgottheiten, Val. Flac. 5,615-617. Kurz zuvor hatte der auktoriale Erzähler dem kolchischen Gefolgsmann Iaxartes mangelnde Ehrfurcht vor den Göttern vorgeworfen, Val. Flac. 5,596-598. 211 Es handelt sich jeweils um begründete Sonderfälle. Hom Od. 10,237-240: Die Gefährten des Odysseus werden nach dem Genuß des Zaubertranks von Kirke in Schweine verwandelt, so daß eine ›Konversation‹ aus sachlichen Gründen entfällt; Hom. Od. 19,426-451: Bei dem im Narbenexkurs geschilderten Gastmahl bei Autolykos bildet ausnahmsweise nicht die Unterhaltung nach dem Mahl, sondern die gemeinsame Jagd den
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sichtigten Szenen vor. In der Ilias steht offenbar dem ältesten Teilnehmer – in vier von sieben iliadischen Gastmahlszenen handelt es sich um Nestor – das Recht zu, ein Gespräch nach dem Mahl zu eröffnen.212 Auch bei der Lösung Hektors ergreift der betagte Priamos unmittelbar nach dem Mahl als erster das Wort und bittet um ein Bett (Hom. Il. 24,635-642). Bei der Bewirtung des Machaon durch Nestor läßt sich dagegen wegen der summarischen Darstellung der Gespräche keine Aussage über deren Ablauf treffen (Hom. Il. 11,643). Einen Sonderfall stellt die Presbeia zu Achill dar, wo Aias nach dem Mahl zwar zunächst dem greisen Phoinix einen Wink gibt, dann aber Odysseus auf eigene Faust das Wort ergreift (Hom. Il. 9,222-306). Tatsächlich hatte Nestor bei der Auswahl der Unterhändler den Phoinix als erstes Mitglied der Gesandtschaft genannt (Hom. Il. 9,168).213 Ausschlaggebend ist dafür aber nicht sein Alter, das erst später, in der Einleitung seiner Rede, hervorgehoben wird (Hom. Il. 9,432), sondern die enge Beziehung, die Phoinix mit seinem ehemaligen Zögling Achill verbindet und die ihn besonders geeignet erscheinen läßt, den Zorn des Peliden zu besänftigen.214 Seinem Rang nach scheint Phoinix dagegen den beiden anderen Gesandten unterlegen zu sein, so daß sich Odysseus, als der freundliche Empfang des Höhepunkt, auf der sich Odysseus die für die Handlung bedeutsame Narbe zuzieht. Die Bewirtung kommt daher nur kurz ohne Aktivitäten nach dem Mahl zur Sprache. Aeneas gibt, als er von seinem Besuch bei Helenus berichtet, während des sehr kurz geschilderten Mahls (Verg. Aen. 3,354f.) keine Tischgespräche wieder. Erst im weiteren Verlauf des Aufenthalts, dessen Anfang das Mahl bildet, kommt es zu Wechselreden (Verg. Aen. 3,358-462). Beim Besuch der Thetis in Chirons Höhle haben die Wechselreden bereits vor dem Mahl stattgefunden, da die beunruhigte Thetis keinen Aufschub erträgt, s. Stat. Ach. 1,127. Weitere Vergnügungen (oblectamina) nach dem Mahl, die einem Gesang des Achill vorausgehen, beschreibt Statius nur so knapp, daß der Leser nicht erkennen kann, ob auch längere Gespräche einbegriffen sind (Stat. Ach. 1,185). Claud. rapt. Pros. 2,361f.: Nach dem Hochzeitsmahl wird Proserpina sogleich ins Brautgemach geführt, so daß hier die (nicht mehr geschilderte) Hochzeitsnacht an die Stelle eines Gesprächs zwischen Gastgeber und Gast tritt. 212 Nestor eröffnet in folgenden Szenen die Gespräche: Bewirtung der griechischen Heerführer durch Agamemnon (Hom. Il. 2,433); Mahl für Aias (Hom. Il. 7,324f.); Beratung der Heerführer vor der Presbeia (Hom. Il. 9,93f.); Nestor in Phthia (Hom. Il.11,781). Die Reden Nestors in der Ilias untersucht PRIMAVESI (2000) 45-64. 213 Dazu KÖHNKEN (1978) 11f. 214 Die enge Beziehung zwischen Achill und Phoinix geht aus der Selbstvorstellung des alten Mannes zu Beginn seiner Rede hervor, Hom Il. 9,434-495, besonders 492-495: POLL MÎGHSATkFRONVNÔMOIOÈTIYEO¹GÎNONJETLEIONJMmLLk S PAºDA YEOºW PIE¸KEL b"XILLEÅ POIEÎMHN) dazu KÖHNKEN (1975) 27 und THORNTON (1978) 2f.
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Achill eine besänftigende Intervention des Greises überflüssig macht, offenbar berechtigt fühlt, entgegen dem ursprünglichen Plan die Verhandlungen einzuleiten.215 Wegen dieser komplizierten und in der Forschung teilweise umstrittenen Rahmenbedingungen kann die Szene für die Frage der Gesprächsinitiative beim Gastmahl nur mit Vorbehalten herangezogen werden. Außerhalb der Ilias geht die Initiative zum Gespräch gewöhnlich vom Wirt aus, der seinen Gast nach dessen Erlebnissen befragt (insgesamt 11 von 28 odysseischen und nachhomerischen Szenen mit Konversation,216 dazu kommt die Rede des Lycomedes, Stat. Ach. 1,775-783, der zwar keine Fragen an die Gäste richtet, aber doch die Unterhaltung nach dem Mahl anregt). In der Odyssee, wo ein Fremder sein Inkognito stets bis zum Ende der Beköstigung wahren kann, ist mit dieser Erkundigung zugleich die Frage nach Namen und Herkunft verbunden, die der Gast bereitwillig mit einer Erzählung beantwortet, welche je nach den Umständen seine wirkliche Geschichte preisgibt oder eine mit Elementen der Wahrheit vermischte Scheinidentität aufbaut.217 In den hellenistischen und lateinischen Gastmahlszenen dagegen, wo sich die Beteiligten entweder schon länger kennen oder der Besucher schon vor dem Mahl sein Inkognito gelüftet hat, richtet sich das Interesse des Wirtes auf Einzelheiten seiner Abenteuer.218 215 KÖHNKEN (1975) 31f.: »Die Ausführung der Mission [...] verschiebt sich gegenüber ihrer Ankündigung und dem Plan Nestors dadurch, daß Odysseus auf Grund des freundlichen Empfangs der Gesandten durch Achill als erster das Wort ergreift. [...] Aias will [...] dem Vorschlag Nestors gemäß handeln und Phoinix zur Eröffnung der Verhandlung veranlassen [...], doch Odysseus kommt dem Phoinix mit seiner Initiative zuvor (V. 223 b ff.; hier ist im übrigen, ebenso wie später Vers 427 ff., bemerkenswert für die untergeordnete Stellung des Phoinix, daß er erst das Wort nehmen kann, nachdem er von den ranghöheren Helden, Aias bzw. Achill, V. 427-429, dazu ermuntert worden ist.« 216 Athene/Mentes bei Telemach (Hom. Od. 1,156-177); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,68-74); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,87-91: Kalypso stellt vor dem Mahl eine Frage, die Hermes beantwortet, sobald er gespeist hat); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,233-239); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,325); Jason bei Aietes (A.R. 3,302316); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 1,749-756); Anna bei Aeneas (Sil. 8,76-78); Tydeus und Polyneikes bei Adrast (Stat. Theb. 1,557-672); Jason auf Lemnos (Val. Flac. 2,351353); Jason bei Aietes (Val. Flac. 5,571-575: Aietes ergreift durch Zutrinken die Initiative und erfährt von Jason die Identität einzelner Argonauten und die Umstände, die zum Verlust des Herakles geführt haben). 217 S. zu den Trugreden in der Odyssee GROSSARDT (1998) 66-116. 218 Eine Ausnahme bilden die Fragen des Adrast an Tydeus und Polyneikes, die sich vor dem Mahl nur unzureichend vorgestellt hatten und nach dem Mahl weitere Details zu ihrer Person preisgeben (Stat. Theb. 1,668-672, vgl. Stat. Theb. 1,451-467).
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Wenn der Gastgeber sich nach dem Schicksal seines Besuchers erkundigt – sei es zu Beginn des Gesprächs oder in dessen Verlauf – verbindet er oft mehrere Fragen,219 welche jedoch in der Antwort, die sich nicht an den Vorkenntnissen der Figuren, sondern an denen des Lesers orientiert, nicht alle aufgegriffen werden müssen. Es handelt sich hier – auch bei wörtlichen Reden – um eine punktuelle Erzählweise, bei der der Dichter nur die wichtigsten Details der Konversation wiedergibt. Eine punktuelle Erzähltechnik erscheint auch in Szenen, in denen ausnahmsweise der Gast durch Fragen und Aufforderungen das Gespräch nach dem Mahl anregt,220 oder in denen ein Teilnehmer ohne Aufforderung zu erzählen beginnt.221 Diese Initiativen tragen der jeweiligen Situation Rech219 8 Belege für mehrere Fragen des Wirtes in der Konversation nach dem Mahl: Telemach an Athene (Hom. Od. 1,170-177); Nestor an Telemach (Hom. Od. 3,71-74); Arete an Odysseus (Hom. Od. 7,238f.); Kirke an Odysseus (Hom. Od. 10,325); Eumaios an Odysseus (Hom. Od. 14,187-190); Aietes an die Phrixossöhne (A.R. 3,304-316); Dido an Aeneas (Verg. Aen. 1,750-752); Hypsipyle an Jason (Val. Flac. 2,351-353). Dazu kommen 5 Belege, in denen mehrere Fragen ausnahmsweise vor dem Mahl, vom Gast oder nicht direkt an den Besucher gestellt werden: Telemach befragt Eumaios über den »Bettler« Odysseus (Hom. Od. 16,57-59); Pallas befragt Aeneas gleich bei seiner Ankunft (Verg. Aen. 8,112-114); Caesar befragt den ägyptischen Priester über die Nilquellen (Lucan. 10,176-192); Adrast befragt Tydeus und Polyneikes (Stat. Theb. 1,438-446 und 1,668-672, vgl. die indirekten Fragen in der Antwort des Polyneikes, Stat. Theb. 1,677f.); Thetis erkundigt sich bei Chiron nach Achill (Stat. Ach. 1,127-130). Eine singuläre Situation weist die Theoklymenosszene auf, in der Penelope, welche zwar nicht als Gastgeberin des Theoklymenos auftritt, aber, ähnlich wie Arete, als Hausherrin das Gespräch nach dem Mahl eröffnet, sich auf die Frage nach Odysseus konzentriert. Diese richtet sie nicht an den Gast, von dem sie die gewünschten Informationen nicht erwarten kann, sondern an Telemach, der eben von seiner Erkundungsfahrt heimgekehrt ist (Hom. Od. 17,101-106). 220 Odysseus befragt Eumaios (Hom. Od. 14,115-120); Telemach befragt Eumaios (Hom. Od. 16,57-59); Caesar befragt den ägyptischen Priester über die Nilquellen (Lucan. 10,176-192); Der Vater des jungen Pacuvius richtet eine Reihe von (rhetorischen) Fragen an seinen Sohn (Sil. 11,337-350: Hier spielt sich die Unterhaltung ausnahmsweise zwischen zwei Nebenfiguren ab); Jason befragt Phineus (Val. Flac. 4,538-546). 221 Menelaos erzählt ohne Aufforderung von seinen Abenteuern (Hom. Od. 4,78112); der Seher Theoklymenos prophezeit unaufgefordert Odysseus’ Heimkehr (Hom. Od. 17,151-161); beim Abschiedsmahl der Argonauten beginnt Idas statt einer gewöhnlichen Unterhaltung, den niedergeschlagenen Jason zu schmähen (A.R. 1,463-471); der Seher Phineus sagt den Argonauten unaufgefordert ihren weiteren Weg nach Kolchis voraus (A.R. 2,311-407); Jason berichtet Lykos über die Abenteuer der Argonauten (ob Lykos ihn dazu aufgefordert hat, geht aus dem Text nicht hervor: A.R. 2,762-771); Jason bittet die Phrixossöhne um Hilfe bei der Gewinnung des Goldenen Vlieses (A.R. 2,11921195); Euander erzählt unaufgefordert die Legende von Hercules und Cacus (Verg. Aen. 8,185-275); Serranus klagt über seine Lage (Sil. 6,102-116); Bacchus übergibt dem Fa-
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nung und sind daher nicht nur unterschiedlich begründet, sondern auch unterschiedlich gefärbt: Indem der verkleidete Gast Odysseus dem Eumaios Fragen stellt, übernimmt er, ebenso wie Telemach, gegenüber dem Sauhirten für einen Augenblick die ihm rechtmäßig zustehende Rolle des Hausherrn, während sich der Gast Caesar durch seine übermäßige Aktivität als rücksichtsloser Charakter entlarvt, der die Hausherrin Kleopatra in den Hintergrund drängt. In der Menelaosszene stellt die spontane Erzählung des Wirtes, die Telemach zu Tränen rührt und so dazu beiträgt, ihn zu identifizieren, eine strukturelle Parallele zur Phäakenhandlung her, bei der Odysseus sich ebenfalls durch seine Tränen verrät. Der landflüchtige Seher Theoklymenos und der von den Harpyien erlöste Seher Phineus statten mit spontanen Prophezeiungen ihren Helfern Dank ab. Die Varianten sind daher immer im Kontext der Szene, des Epos und ggf. der epischen Tradition zu betrachten, bevor sie angemessen beurteilt werden können. Die Gespräche greifen unabhängig von ihrem genauen Verlauf die zwischen den Tischgenossen herrschende Stimmung auf und festigen oder verstärken sie: Der gastfreundliche Eumaios faßt während der Erzählung des vermeintlichen »Bettlers« Odysseus Zuneigung zu ihm, so daß er ihm schließlich sogar den besten Eber schlachtet (Hom. Od. 14,414f.), die in unruhiger Erwartung lebende Penelope ist von Telemachs Fahrtbericht aufgewühlt (Hom. Od. 17,150), und Dido, die von Anfang an Sympathie für Aeneas hegt, verliebt sich durch Cupidos Wirken in ihn, während er von seinen Abenteuern berichtet (Verg. Aen. 1,748f.). Der grausame und unberechenbare Aietes dagegen läßt sich während der Gespräche nach dem Mahl zu einem Zornesausbruch verleiten (A.R. 3,367-382),222 während Aeneas, der die schiffbrüchige Anna mitleidig aufgenommen hat, von ihrem Bericht über Didos Tod bewegt ist (Sil. 8,160f). Die Gespräche zwischen Gastgeber und Gast enden bei Homer immer mit einer kurzen abschließenden Bemerkung. Bis auf drei Ausnahmen hanlernus den Wein mit freundlichen Worten, auf die dieser wegen seiner Trunkenheit nur lallend antworten kann (Sil. 7,192-203); Adrast erzählt unaufgefordert von der lokalen Apolloverehrung (Stat. Theb. 1,557-668); beim Abschiedsmahl der Argonauten in der Version des Valerius Flaccus spielt sich – offenbar noch während des Mahls – eine nur knapp wiedergegebene ›Unterhaltung‹ zwischen Peleus und Chiron ab (Val. Flac. 1,255270); Cyzicus berichtet ohne Aufforderung von der Kriegsgefahr in seinem Reich (Val. Flac. 2,656-658). 222 Vgl. dagegen dieselbe Szene bei Valerius Flaccus, wo Aietes seinen Zorn unterdrückt und die Gespräche statt dessen die Fremdheit von Wirt und Bewirtetem widerspiegeln (Val. Flac. 5,578-614).
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delt es sich jedoch um knappe Aussagen nach dem Muster ªWFjTOªW FAT ªWoRAFONSAWA etc., die sich nur auf die letzte Wortäußerung beziehen und auch außerhalb von Gastmahlszenen häufig verwendet werden, um das Ende einer wörtlichen Rede anzuzeigen.223 Nur beim Gespräch zwischen Odysseus und dem phäakischen Königspaar, zwischen Odysseus und Eumaios sowie zwischen Penelope, Telemach und Theoklymenos verwendet der Dichter einen vollständigen Formelvers, der sich ausdrücklich auf die gesamte Unterhaltung bezieht und deren Darstellung als eine ungefähre Wiedergabe des Geschehens kennzeichnet: Hom. Od. 7,334 = 14,409 = 17,166: ªWO¼MNTOIAÅTAPRÏWmLLLOUWmGÎREUON. Bei Apollonios finden wir ein ähnliches Bild: In drei von fünf Szenen bezieht sich die abschließende kurze Bemerkung nur auf die letzte Rede des Tischgesprächs;224 in zwei Fällen handelt es sich um eine Bemerkung, die auf das gesamte Mahl ausgerichtet ist, zu welchem auch die Unterhaltung gehört (A.R. 2,811: g7WTÎTEMNDAºT mMF¹PANMEROICIÎVNTO)bzw. um einen an Homer orientierten Vers, der die Wechselreden betont: A.R. 2,1226: g7WO¾G mLLLOISINmMOIBADÏNGORÎVNTO). In der lateinischen Epik nimmt die Häufigkeit der Schlußbemerkungen ab. Von siebzehn Szenen enthalten nur sechs eine Abschlußformulierung, von denen sich wiederum vier nur auf die letzte Wortäußerung beziehen: Verg. Aen. 3,718: Erzählungen des Aeneas: conticuit tandem factoque hic fine quievit; Sil. 6,551: Rede des Marus: haec Marus (sc. dixit); Val. Flac. 4,624f.: Rede des Phineus: atque ita facto / fine dedit tacitis iterum responsa tenebris und Val. Flac. 5,615: Rede des Aietes: fatur. Nur in der Kleopatraszene der Pharsalia und während des Aufenthalts der Argonauten bei Cyzicus bei Valerius Flaccus verweist der Dichter auf den Verlauf des gesamten Tischgesprächs: Lucan. 10,332f.: sic velut in tuta securi pace trahebant / noctis iter mediae; Val. Flac. 2,663f.: hasque inter variis nox plurima dictis / rapta vices nec non simili lux postera tractu.
223 Es handelt sich um folgende Szenen: Agamemnon bewirtet die Heerführer (Hom. Il. 2,441); Siegesmahl für Aias (Hom. Il. 7,344); Presbeia (Hom. Il. 9,620); Beratung der Heerführer vor und nach der Presbeia (Hom. Il. 9,710); Nestor und Odysseus in Pylos (Hom. Il. 11,790); Machaon bei Nestor (Hom. Il. 11,804); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,643); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,329); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,296); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,388). 224 Ende der Rede des Idas (A.R. 1,492); Ende der Rede des Phineus (A.R. 2,426); Ende der Rede des Aietes (A.R. 3,439).
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[X) Vortrag des Sängers] Sänger werden in epischen Gastmählern mehrfach erwähnt. Dem Odysseus gilt die Lyra, deren Klang das Lied der Barden begleitet, gar als gottgegebene Begleiterin eines Banketts (Hom. Od. 17,270f.). Eine ganz ähnliche Aussage trifft der auktoriale Erzähler im ersten Buch, wo Musik und Tanz als mNAYMATADAITÎW(Hom. Od. 1,152) bezeichnet werden. Trotz dieser hervorgehobenen Stellung ist die Zahl der ausführlich beschriebenen Darbietungen insgesamt nicht hoch (10 Lieder, die von fünf Sängern und einem Chor vorgetragen werden225). Sie finden in 2 Fällen zwischen dem eigentli225 Demodokos am Hof der Phäaken (Inhaltsangabe bzw. wörtliche Wiedergabe dreier Lieder am zweiten und dritten Tag von Odysseus’ Aufenthalt, Hom. Od. 8,72-82; 8,266-366; 8,499-520); Abschiedsmahl der Argonauten in Iolkos (A.R. 1,494-511 und Val. Flac. 1,277-293, jeweils Lied des Orpheus mit ausführlicher Inhaltsangabe nach dem »Gespräch zwischen Gastgeber und Gast«); Aeneas bei Dido, Verg. Aen. 1,740-746 (Gesang des Iopas mit ausführlicher Inhaltsangabe zwischen dem eigentlichen Mahl, auf das die Libation folgt, und dem Gespräch zwischen Gastgeberin und Gast); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,285-305: Abwandlung: Statt eines Sängers Chor der Priester mit ausführlicher Inhaltsangabe nach einer ersten Erzählung des Gastgebers); Hannibal in Capua (zwei Lieder des Teuthras nach dem eigentlichen Mahl, Sil. 11,288-297, bzw. während des weiteren Aufenthalts, Sil. 11,440-482 mit ausführlicher Inhaltsangabe); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,188-194, Lied des Achill mit Inhaltsangabe zwischen anderen, nicht näher beschriebenen Aktivitäten nach dem Mahl und dem Nachtlager. Der adlige Hintergrund ist in diesem Fall durch das Ideal des kriegerisch und musisch gebildeten Heroen gewahrt). Hinzu kommen zwei kurze Erwähnungen des Phemios, Hom. Od. 1,153-155 (hier wird der Inhalt seines Liedes nach Abschluß der Gastmahlszene nachgereicht, Hom. Od. 1,325-327) und eines nicht namentlich genannten Sängers, der bei der Hochzeit im Palast des Menelaos auftritt, als Telemach und Peisistratos das Haus betreten, Hom Od. 4,17f. sowie einige kurze Erwähnungen von nicht näher beschriebenen Gesängen bei der Vermählung von Pluto und Proserpina in der Unterwelt, Claud. rapt. Pros. 2,329, 2,345, 2,360. Ob es sich bei dem Gruß an das Hochzeitspaar, dessen Beginn Claudian in wörtlicher Rede wiedergibt (Claud. rapt. Pros. 2,365-372), um einen reinen Gesang handelt, geht aus dem von allen Editoren gebotenen Text nicht hervor, s. Vers 2,365f.: exultant cum voce pii Ditisque sub aula / talia pervigili sumunt exordia plausu. Dazu HALL (1969) ad loc.: »Exultant cum voce may mean ›express their joy in song‹ (for cum voce = an instrumental abl., cf. Quadrig. Ap. Gell. 9.13.10 cum voce maxima conclamant) or, alternatively, ›dance and sing.‹« Allerdings bietet die aus dem zwölften Jahrhundert stammende und nicht zu den Hauptzeugen der Textüberlieferung zählende Handschrift B statt der Junktur pervigili [...] plausu die Lesart pervigili [....] cantu. Diese wurde offenbar von den Herausgebern als lectio facilior ausgeschieden. Legt man diese Textversion zugrunde, so handelt es sich eindeutig um den Beginn (V. 2,366: exordia) eines hochzeitlichen Liedes (hymenaeus), dessen genauer Inhalt im Dunkeln bleibt. Der wörtlich zitierte Anfangsteil enthält nicht wie gewöhnliche musikalische Darbietungen nach dem Mahl eine Erzählung, sondern Aufforderungen an das Hochzeitspaar. Sie lassen sich daher nicht in die im folgenden entwickelten Kategorien einordnen, s. dazu unten Anm. 227.
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chen Mahl (Element VII) und den Gesprächen zwischen Gastgeber und Gast statt (Element IX), doch können sie auch nach der Unterredung (4 Belege) oder, wenn der Besuch mehrere Mähler umfaßt, erst im weiteren Verlauf des Aufenthalts eines Gastes, d.h. außerhalb der eigentlichen »Szene«, vorkommen (4 Belege, s. Anm. 225). Angesichts ihrer inhaltlichen Bedeutung werden alle diese Gesänge ausgewertet, auch wenn sie sich nicht innerhalb der Szenengrenze befinden. Gegenstand der Lieder sind entweder kosmologische Zusammenhänge und die Taten der Götter (zweites Lied des Demodokos, Hom. Od. 8,266366; Lied des Orpheus bei Apollonios Rhodios, A.R. 1,496-511; Lied des Iopas, Verg. Aen. 1,740-746; Lied der Salier, Verg. Aen. 8,285-305; zwei Lieder des Teuthras, Sil. 11,288-297 und 11,440-482 während des weiteren Aufenthalts des Hannibal; Lied des Orpheus über Phrixos und Helle, Val. Flac. 1,277-293) oder aber Begebenheiten aus der Lebenswelt der Figuren. In diesem Fall werden stets Ereignisse vorgetragen, die mindestens einen der Anwesenden unmittelbar betreffen (erstes und drittes Lied des Demodokos über den Trojanischen Krieg, Hom. Od. 8,72-82 und 8,499-520; Lied des Achill über die Heldentaten des Herakles, des Pollux, des Theseus und über das (Ehe-)Lager der Thetis, Stat. Ach. 1,188-194). Dies gilt selbst dann, wenn der Sänger, wie im Fall des Demodokos, diesen Zusammenhang zunächst nicht ahnt. Solche Erzählungen treiben die Handlung des Epos voran, da sie für die Figuren Aktualität besitzen und sie zum Handeln provozieren. Dasselbe trifft auf einen gleichnishaften Gesang zu, der allerdings einen Sonderfall darstellt und nur bei Apollonios einmal vorkommt (friedensstiftender Gesang des Orpheus beim Abschiedsmahl der Argonauten, A.R. 1,494-511).226 Kosmologische oder auf die Götterwelt bezogene Lieder hingegen, deren tieferer Sinn sich gewöhnlich nur dem Leser erschließt, erfüllen oft eine kommentierende Funktion und fördern so die Orientierung des Rezipienten. Dabei können sowohl gegenwärtige Ereignisse erläutert als auch künftige 226 Zur Diskussion um die Bedeutung des Orpheusgesangs s. PIETSCH (1999), bes. 522-524. Er betrachtet den Gesang als Versuch, die Menschenwelt in einen größeren Rahmen einzuordnen, s. S. 538: »Der kosmologisch-theogonische Gesang erfüllt also durchaus die Funktion einer mentalen Beruhigung, einer durch die Einsicht in die den Menschen umfassende göttliche Ordnung bewirkten Festigung der Persönlichkeit, einer Klärung des menschlichen Denkens und Wollens.« Allerdings wird die friedliche Gesinnung, die sich nach dem Gesang bei den Argonauten einstellt, im Text nicht ausdrücklich mit dem Inhalt, sondern vor allem mit der Melodie des Liedes in Verbindung gebracht.
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angedeutet und so bestimmte Erwartungshaltungen beim Leser aufgebaut werden. 227 Da Gesangsvorträge beträchtlichen Einfluß auf Fortgang und Verständnis der Handlung besitzen, verdienen sie bei der Analyse epischer Gastmähler besondere Beachtung. Ihre geringe Zahl verbietet es jedoch, sie als reguläres Element in ein typisches Schema aufzunehmen. Sie werden daher nur in eckigen Klammern beim Verlaufsschema berücksichtigt. Gesangsvorträge bilden das beste Beispiel dafür, daß die Häufigkeit eines Elements nicht unbedingt seine Bedeutung für das jeweilige Epos widerspiegelt. Auch zeigt sich daran, daß eine epische Mahlszene nicht als getreues Abbild wirklicher Tischsitten mißverstanden werden darf. Musik gehört zwar – zumindest für den homerischen Dichter – zu den selbstverständlichen Vergnügungen beim Festschmaus (s. Hom. Od. 17,270f.), doch ein Gesangsvortrag bildet deshalb noch keinen selbstverständlichen Bestandteil einer Gastmahlszene. Es handelt sich hier um eine literarische Gestaltung, die nicht kulturgeschichtliche Informationen liefern, sondern eine Geschichte auf möglichst wirkungsvolle Weise erzählen soll.
227 Einen auch für die Figuren zweifelsfrei erkennbaren Bezug zur gegenwärtigen Situation weist der mythologische Gesang des Orpheus beim Abschiedsmahl der Argonauten in der Version des Valerius Flaccus auf (Val. Flac. 1,277-293). Dieser stellt die Abenteuer von Phrixus und Helle und damit die den Teilnehmern bekannte Vorgeschichte der Argonautenexpedition dar. Er entfaltet jedoch keine handlungsfördernde Wirkung (die Argonauten sind schon vor dem Gesang zur Fahrt entschlossen), sondern dient dazu, die Hintergründe der Expedition für den Leser zu rekapitulieren. Wie die meisten mythologischen Gesänge richtet er sich also primär an den Rezipienten des Epos. Eine Ausnahme bildet die Ansprache an Pluto und Proserpina (Claud. rapt. Pros. 2,365-372), falls man diese mit der Handschrift B als Gesang auffassen will (s. zum Problem oben Anm. 225). Sie enthält, anders als die Lieder in anderen Gastmahlszenen, keine Erzählung, sondern eine Aufforderung an das Brautpaar, so daß die Kategorie »Ereignisse aus der Lebenswelt der Figuren« bzw. »kosmologische Zusammenhänge« nicht greift. Auch wirkt der Inhalt weder kommentierend noch handlungsfördernd im eigentlichen Sinn, sondern bringt die guten Wünsche der Festgesellschaft und ihre Hoffnungen für die Zukunft zum Ausdruck. Die Sonderstellung ergibt sich aus der spezifischen Situation: Während der Gesang in anderen Gastmahlszenen sehr verschieden ausgestaltet sein kann, bildet der Gruß an die Brautleute einen festen Bestandteil der Hochzeitsfeierlichkeiten. Als eine Form des Segenswunsches gehört er eher zu den religiösen Handlungen als zu den Gesangsvorträgen.
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XI) Nachtlager Ein Nachtlager bildet in 20 der 40 untersuchten Szenen den Abschluß eines Gastmahls.228 In den homerischen Epen, wo 9 von 18 Szenen mit diesem Element enden, befiehlt ein vornehmer Gastgeber seinen Dienern oder Gefährten, ein Lager für den Fremden herzurichten, wobei die entsprechenden Handlungen mit Formelversen ausgedrückt werden.229 Anschließend begibt dieser sich im Vorraum des Hauses zur Ruhe. Der Gastgeber selbst schläft dagegen an der Seite seiner Frau im Innersten des Hauses (5 von 9 homerischen Szenen mit Nachtlager230). Bei der Bewirtung des Odysseus durch den in einfachen Verhältnissen lebenden Eumaios ist zwar die übliche Trennung von Hauptgastgeber und Gast während der Nacht beibehalten, doch schläft hier nicht der Wirt, sondern der Besucher Odysseus im Gebäude, während der wachsame Hirt die Nacht im Freien verbringt (Hom. Od. 14,518-533). Abweichend gestaltet sind bei Homer sonst nur der Besuch 228 9 Belege bei Homer: Beratung der Heerführer vor und nach der Presbeia (Hom. Il. 9,713); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,658-668); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,673676); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,396-403); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,296-305); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,335-347); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,347: hier steht der Beischlaf von Gast und Gastgeberin als Ersatzmotiv für ein wirkliches ›Nachtlager‹ zwischen zwei Bewirtungen); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,518-533); Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,427). Nachhomerische Belege: Abschiedsmahl der Argonauten (A.R. 1,518); Argonauten bei Phineus (A.R. 2,496f.); Argonauten auf der Aresinsel (A.R. 2,1227); Aeneas bei Dido (Verg. Aen. 3,718); Aeneas bei Euander (Verg. Aen. 8,367-369); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,204f.); Anna bei Aeneas (Sil. 8,164-166); Hannibal in Capua (Sil. 11,368); Abschiedsmahl der Argonauten (Val. Flac. 1,295f. und 300); Thetis bei Chiron (Stat. Ach. 1,195-197); Diomedes und Odysseus bei Lycomedes (Stat. Ach. 1,816-818). Hinzu kommt der ›Heilschlaf‹ des Serranus (Sil. 6,96f.), der eine Abwandlung des Elements ›Nachtlager‹ darstellt, ohne die Szene zu beenden. 229 [b"XILEÄWD TjROISIN»DDM¡SIKLEUSEN]DMNI ÇP A»YOÃSS×YMENAI KA¹ GEA KALj PORFÃRE MBALEIN STORSAI T FÃPERYE TjPHTAW XLA¸NAWT NYMENAIOÈLAWKAYÃPERYEN
SASYAI(Hom.Il. 24,644-646 = Hom. Od. 4,297-299 = 7,336-338). Eine andere Formulierung findet sich bei wohlhabenden homerischen Gastgebern nur in Hom. Il. 9,658-661, wo Patroklos den Gefährten und Dienerinnen knapp befiehlt, ein Bett für Phoinix bereitzustellen. Die nachhomerischen Epiker ahmen die entsprechenden Formeln nicht nach. 230 Phoinix bei Achill (Hom. Il. 9,658-668); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,673676); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,397-403); Telemach bei Menelaos (Hom Od. 4,296-305); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,344-347). Der von Homer regelmäßig verwendete und in der späteren Epik nicht nachgeahmte Ausdruck ist EÍDE MUX¯ KLIS¸HWUPKTOUbzw. [KAYEÅDE]MUX¯DÎMOUÇCHLOºOEine entsprechende Raumaufteilung fehlt in der Ilias bei der Beratung der Heerführer vor der Presbeia, wo sich die Teilnehmer nach dem Mahl in ihre eigenen Zelte begeben.
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des Odysseus bei Kirke, wo der Beischlaf von Gast und Gastgeberin das übliche Lager ersetzt (Hom. Od. 10,347) sowie der in einem Exkurs kurz geschilderte Aufenthalt des Odysseus bei Autolykos, wo die Nachtruhe nur kurz erwähnt wird (Hom. Od. 19,426f.). Die nachhomerischen Epiker erwähnen das Nachtlager meist nur summarisch und verzichten durchgehend darauf, die Schlafplätze von Gast und Gastgeber zu trennen. Auch in der Bewirtung des Aeneas durch Euander, der einzigen Szene, in der die Bereitung des Nachtlagers (in Anlehnung an die Nestorszene der Odyssee) ausführlich beschrieben wird, findet keine Einteilung nach Wirt und Bewirtetem statt (Verg. Aen. 8,366-368). Infolgedessen steht in der nachhomerischen Epik weniger die Fürsorge des Wirtes für seinen Gast im Vordergrund, die in Ilias und Odyssee eine wichtige Rolle spielt, als die erzähltechnische Funktion des Elements »Nachtlager«, das eine natürliche Handlungszäsur bildet. Diese Funktion läßt sich ex negativo an den Fällen ablesen, in denen der nächtliche Schlaf fehlt. Abgesehen von den Szenen, in denen das Nachtlager auf »natürliche« Weise ausfällt, weil das Mahl nicht bis in die Nacht hinein fortgeführt wird (9 Belege, fast nur bei Homer vorkommend231), oder weil die Teilnehmer die Nacht durchwachen (1 Beleg, nur bei Apollonios vorkommend232), han-
231 Agamemnon bewirtet die Heerführer (Hom. Il. 2,442-449); Nestor beherbergt Machaon (Hom. Il. 11,804f.: die Erzählung folgt dem als Boten zu Nestor geschickten Patroklos auf seinem Rückweg zu Achill); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,319-323: Tageszeit nicht sicher bestimmbar); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,148-150); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,241-245); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,154-159); Bewirtung des Theoklymenos durch Telemach. (Hom. Od. 17,166-169: Diese beginnt offenbar während des Tages, doch dürfte ein weiterer Grund für das fehlende Nachtlager in dem Wechsel zu der gleichzeitig Kontrasthandlung der schmausenden Freier liegen: ªW O¼ MN TOIAÅTA PRÏW mLLLOUW mGÎREUON MNHSTREW D PjROIYENb0DUSSOWMEGjROIOD¸SKOISINTRPONTOKA¹A»GAN×SIN¼NTEWN TUKT¯DAPD¡ÔYIPERPjROWÉBRINXONTEW)Argonauten bei Aietes (A.R. 3439442);Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,629-638). Bei der die Presbeia rahmenden Beratung der Heerführer folgt die Erzählung zunächst den Boten auf ihrem Weg von Agamemnons Zelt zu Achill (Hom. Il. 9,182-185). Die Nachtruhe erfolgt am Ende des neunten Buches nach einer neuerlichen kurzen Mahlzeit und einer Trankspende (Hom. Il. 9,712f.). 232 Argonauten bei Lykos (A.R. 2,811f.). Die einzige durchwachte Nacht in den homerischen Bewirtungen (Odysseus bei Kirke, Od. 10,541) beendet nicht eine geschlossene Gastmahlszene, sondern einen einjährigen Aufenthalt der Gefährten (s. Hom. Od. 10,467-471). Vgl. auch die erste Nacht der Argonauten bei Phineus, A.R. 2,449f., dazu unten S. 326f. In sechs Szenen, Nestor in Phthia (Hom. Il. 11,769-790); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,103-323); Jason bei Aietes (A.R. 3,210-442); Aeneas bei Helenus
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delt es sich dabei stets um Situationen, in denen das Gastmahl exemplarisch für einen längeren, aber nur summarisch erwähnten Aufenthalt steht,233 oder bei denen sich der Erzähler in der folgenden Szene einer gleichzeitig stattfindenden Parallelhandlung zuwendet.234 In beiden Fällen hebt der Verzicht auf das Nachtlager eine räumliche und/oder zeitliche Kontinuität der Ereignisse hervor. In sechs der lateinischen Szenen wird der enge Zusammenhang mit dem Folgenden dadurch hergestellt, daß das Nachtlager zwar erwähnt, aber nicht in gewöhnlicher Weise zu Ende gebracht wird. Vergil deutet am Ende des Gastmahls in Karthago zwar eine Ruhephase an, fährt aber sogleich mit der Schilderung der schlaflosen, von Liebe gequälten Dido fort, deren Erregung durch den Kontrast mit dem ruhenden Aeneas besonderes Gewicht erhält. In gleicher Weise wird die um ihren Sohn besorgte Thetis von Schlaflosigkeit gequält, während Achill und Chiron friedlich schlummern, und ebenso empfindet Odysseus die Nacht unter dem schlafenden Gefolge des Ly(Verg. Aen. 3,300-355); Bacchus bei Falernus (Sil. 7,171-205); Argonauten bei Phineus (Val. Flac. 4,423-636), läßt sich die Tageszeit nicht genau bestimmen. 233 3 Belege: Aeneas bei Helenus (Verg. Aen. 3,356: iamque dies alterque dies processit); Argonauten auf Lemnos (Val. Flac. 2,356-373, bes. 370ff.: urbe sedent laeti Minyae viduisque vacantes / indulgent thalamis nimbosque educere luxu / nec iam velle vias Zephyrosque audire vocantes / dissimulant); Argonauten bei Cyzicus (Val. Flac. 2,663f.: hasque inter variis nox plurima dictis / rapta vices nec non simili lux postera tractu). 234 8 Belege: Siegesmahl für Aias, Il. 7,344f. (Schauplatz wechselt vom Zelt des Agamemnon zur Versammlung der Troer); Nestor in Phthia, Il. 11,788-791 (hier beendet Nestor seinen Bericht an Patroklos mit dem »Gespräch nach dem Mahl«, worauf die Erzählung zur Haupthandlung zurückkehrt); Theoklymenos bei Telemach, Hom. Od. 17,166-169 (Wechsel vom Inneren des Hauses in den Hof, wo die Freier sich vergnügen. Hier wird das Mahl außerdem nicht bis zum Abend fortgeführt); Caesar bei Kleopatra, Lucan. 10,332f. (Wechsel vom Festsaal zu den Machenschaften des Pothinus); Serranus bei Marus, Sil. 6,551-554 (am Ende des Aufenthalts Wechsel von der Hütte des Marus zu dem von Gerüchten beunruhigten Rom); Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,720-2,2 (Wechsel vom Hof des Adrast auf die Götterebene); Jason bei Aietes, Val. Flac. 5,617-622 (Wechsel vom Hof des Aietes auf die Götterebene); Hochzeit von Pluto und Proserpina, Claud. rapt. Pros. 2,371-3,2 (Wechsel vom Hades zum Olymp). Vgl. dazu auch den Aufenthalt des Telemach bei Menelaos, bei dem zwar die beiden ersten, ausführlich beschriebenen Tage durch ein Nachtlager voneinander abgesetzt werden (Hom. Od. 4,302-305), der zweite Tag aber mitten in der Mahlvorbereitung, d.h. ohne Nachtlager, abbricht, worauf sich der Erzähler der Parallelhandlung in Ithaka zuwendet. Der Zusammenhang zwischen beiden Szenen wird hier durch ein fortlaufendes, mit MN - D verbundenes Satzgefüge gekennzeichnet (Hom. Od. 4,624f.). Nach Abschluß der Parallelhandlung im 15. Buch kehrt der Erzähler sodann mit der Darstellung eines Nachtlagers zu den Ereignissen in Sparta zurück (Od. 15,4-8).
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comedes als lang und drückend.235 Einen engen Zusammenhang mit dem Folgenden erzielen Silius Italicus in der Annaszene und Valerius Flaccus beim Abschiedsmahl der Argonauten dadurch, daß Anna bzw. Jason zwar schlafen, im Traum jedoch göttliche Aufträge empfangen, die sie nach dem Erwachen ausführen, so daß es auch hier nicht zu einer wirklichen Zäsur in der Handlung kommt (Sil. 8,164-191; Val. Flac. 1,300-311). In der Serranusszene der Punica, bei der die Nachtruhe des verwundeten Legionärs zugleich einen Heilschlaf darstellt, setzt der Gastgeber Marus seine Bemühungen um den Kranken schon vor Tagesanbruch mit ungebrochenem Eifer fort, so daß das Nachtlager hier ausnahmsweise nicht als Schluß der Szene, sondern nur als Anzeichen der Gesundung eingesetzt wird (Sil. 6,96-99: Quae postquam properata [sc. die Reinigung der Wunden und die erste Stärkung des geschwächten Serranus] sopor sua munera tandem / applicat et mitem fundit per membra quietem. / Necdum exorta dies, Marus instat vulneris aestus / expertis medicare modis). Die Szene endet erst, als sich der Dichter abrupt dem Parallelschauplatz Rom zuwendet und dabei nach dem oben beschriebenen Muster auf die Darstellung eines erneuten Nachtlagers verzichtet (Sil. 6,551f.: Die Gleichzeitigkeit wird durch interea markiert). Kunstgriffe dieser Art sind zwar auch dem homerischen Dichter bekannt (man vergleiche die Erscheinung des Hermes vor Priamos, Hom. Il. 24,677688, und außerhalb der Gastmahlszene die der Athene vor dem schlaflosen Telemach, Od. 15,7-42 oder vor Odysseus Od. 20,28-53), doch werden sie erst in der lateinischen Epik häufiger am Ende von Gastmahlszenen eingesetzt. Dadurch erhöhen die Dichter im Vergleich zu Homer das Erzähltempo, verzichten aber zugleich auf eine Möglichkeit, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Gastgeber und Gast am Schluß der Szene noch einmal durch die ausführliche Darstellung des Nachtlagers zu veranschaulichen.
235 Verg. Aen. 3,716-4,2: Sic pater Aeneas intentis omnibus unus / fata renarrabat divum cursusque docebat. / conticuit tandem factoque hic fine quievit. / At regina gravi iamdudum saucia cura / vulnus alit venis et caeco carpitur igni; Stat. Ach. 1,195-200: Nox trahit in somnos; saxo conlabitur ingens / Centaurus blandusque umeris se innectit Achilles, / quamquam ibi fida parens, adsuetaque pectora mavult. / At Thetis undisonis per noctem in rupibus astans, / quae nato secreta velit [...] huc illuc divisa mente volutat; Stat. Ach. 1,816-818: cetera depositis Lycomedis regia curis / tranquilla sub pace silet, sed longa sagaci / nox Ithaco, lucemque cupit somnumque gravatur.
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Weitere Einzelheiten aus dem Bereich des epischen Gastmahls Außer den eben beschriebenen erscheinen noch weitere Einzelheiten mehrfach im Umfeld eines epischen Gastmahls, ohne jedoch in allen Epochen einen festen Bestandteil der Szene zu bilden. Dies gilt für die ›Begegnung auf dem Weg‹, die ›Gastgeschenke‹ und das ›Bad‹, die deshalb kurz vorgestellt werden sollen, obwohl sie keinen Platz im typischen Schema erhalten. Begegnung auf dem Weg Auf seinem Weg zum Gastgeber trifft der Fremde bei Homer gelegentlich auf einen jungen Mann oder eine junge Frau, hinter denen sich Götter verbergen, die ihm Rat und Hilfe für seinen bevorstehenden Aufenthalt geben (4 Belege236). Diese Begegnung liegt zwar vor dem Beginn der eigentlichen Gastmahlszene, übt aber dennoch Einfluß auf sie aus, da der Gast hier wichtige Verhaltensmaßregeln und in einem Fall sogar eine neue Gestalt erhält, die es ihm ermöglicht, unerkannt bei seinen Gastgebern einzukehren (Hom. Od. 13,429-438: Athene verwandelt Odysseus in einen Greis). In den nachhomerischen Szenen erscheint eine solche Begegnung viermal, wobei es sich meist um menschliche Helfer handelt: Die Argonauten treffen auf der Aresinsel mit den schiffbrüchigen Phrixossöhnen zusammen, die ihnen Auskünfte über Aietes geben und mit ihnen nach Kolchis fahren (A.R. 2,1118-1227: hier ist das Zusammentreffen stark erweitert und zu ei236 Priamos begegnet Hermes in Gestalt eines jungen Mannes; dieser geleitet ihn ungesehen durch das feindliche Lager (Hom. Il. 24,334-467); Odysseus begegnet Athene in Gestalt einer jungen Frau; diese fordert ihn auf, sich mit seiner Bitte an Arete zu wenden und hüllt Odysseus sodann in eine schützende Wolke (Hom. Od. 7,18-81: vgl. im Vorfeld auch die Begegnung mit Nausikaa am Strand, die Berührungspunkte mit einer ›Begegnung auf dem Weg‹ aufweist, Hom. Od. 6,110-322); Odysseus begegnet Hermes in Gestalt eines jungen Mannes; dieser verrät ihm, wie er die Zauberkraft der Kirke überwinden kann (Hom. Od. 10,274-306); Odysseus begegnet Athene in Gestalt eines jungen Hirten (der sich dann in eine Frau verwandelt, Hom. Od. 13,288f.); diese hilft ihm, sein weiteres Vorgehen zu planen und verleiht ihm die Gestalt eines Greises (Hom. Od. 13,221-440). Ähnliche Begebenheiten kommen in der Odyssee auch im Zusammenhang mit Bewirtungen vor, die keine geschlossene Gastmahlszene bilden und daher in dieser Arbeit nur am Rande berücksichtigt werden. Es handelt sich um den Aufenthalt bei den Lästrygonen, wo die Gefährten des Odysseus auf die Königstochter treffen, die vor der Stadt Wasser schöpft (Hom. Od. 10,105-111) sowie um die Heimkehr des Odysseus, der auf dem Weg in die Stadt dem Hirten Melanthios in einem Pappelhain begegnet (Hom. Od. 17,212-253). Dieser leistet jedoch keine Hilfe, sondern schmäht und mißhandelt den vermeintlichen Bettler. Vgl. außerdem in der Kindheitsgeschichte des Eumaios die Begegnung der Seeräuber mit einer am Strand waschenden Dienerin, die ihnen hilft, Eumaios zu entführen (Hom. Od. 15,417-453).
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ner eigenen Gastmahlszene ausgebaut); Aeneas begegnet nach der Landung in Libyen seiner Mutter Venus in Gestalt einer Jägerin, die ihn beim Abschied in eine schützende Wolke hüllt (Verg. Aen. 1,314-414), die Trojaner begegnen auf ihrem Weg zu Helenus der trauernden Andromache, die Wasser schöpft (Verg. Aen. 3,300-345), Jason trifft auf Medea, als er sich zum Tempel des Sol begibt, worauf ihm diese offenbar eine ortskundige Dienerin zur Verfügung stellt (Val. Flac. 5,399-401). Während der Reisende also bei Homer durch die Begegnung auf dem Weg stets Hilfen erhält, ohne die der Besuch nicht erfolgversprechend abgeschlossen werden könnte, ist dies bei den späteren Belegen nicht in gleichem Maße der Fall. Den homerischen Vorbildern am nächsten steht die Begegnung von Aeneas und Venus in Libyen, wo ebenfalls eine Gottheit beratend in die Ereignisse eingreift. Auch das Zusammentreffen der Argonauten mit den Phrixossöhnen vermittelt den Reisenden zwar anfangs eine freundliche Aufnahme, doch gelangt der Aufenthalt in Kolchis trotz dieser Hilfestellung nicht zu einem harmonischen Abschluß.237 Von den übrigen ›Begegnungen vor dem Mahl‹ unterscheidet sich die Darstellung auch durch die Beteiligung der Phrixossöhne am eigentlichen Gastmahl. In allen anderen Fällen greifen die Helfer nur während der Reise ein und verabschieden sich, ehe der Besucher das Haus seines Wirtes betritt. In der Helenusszene der Aeneis geht von der Begegnung auf dem Weg kein praktischer Nutzen für das Zusammentreffen mit dem Gastgeber aus. Das Gespräch des Aeneas mit der trauernden Andromache dient vielmehr dazu, das Pathos der Szene zu erhöhen und eine direkte Verbindung zu den Ereignissen des trojanischen Krieges zu schaffen. Gastgeschenke Die Übergabe von Geschenken bildet bei Homer eine auch außerhalb von Gastmahlszenen erwähnte Möglichkeit, einer anderen Person seine freundliche Gesinnung zu bekunden. Wenn er dazu imstande ist, antwortet der Beschenkte mit einer Gegengabe, die ein Band wechselseitiger Freundschaft knüpft (s. Hom. Il. 6,232-236: Glaukos und Diomedes tauschen ihre Rüstungen). Geschenke im Zusammenhang mit einer Gastmahlszene werden dagegen nur in der Odyssee beschrieben, wo der Wirt den Fremden bei der Abreise je nach seinen Möglichkeiten mit kostbaren Gegenständen, 237 Ähnliches gilt für die Begegnung von Jason und Medea auf dem Weg zum Tempel des Sol (Val. Flac. 5,373-398: hier handelt es sich um eine rein praktische Hilfe).
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Kleidung, Proviant und manchmal sogar einem Gefährt und Begleitern ausstattet (5 Belege238). Wenn Frauen als Schenkende auftreten, überreichen sie ihren Gästen kostbare Gewänder als Gabe.239 Diese Geste gilt als Teil der Gastfreundschaft, so daß der Wirt, sollte er dem Fremden einst einen Gegenbesuch abstatten, seinerseits auf entsprechende Leistungen hoffen kann.240 In den iliadischen Gastmahlszenen hingegen, in denen alle Teilnehmer bereits durch Freundschaft oder kriegerische Allianz miteinander verbunden sind, unterbleiben solche Beweise dauerhaften Wohlwollens, obwohl der Brauch selbst in der Glaukos-Diomedes-Szene ausdrücklich erwähnt wird (Hom. Il. 6,218-221: Erinnerung an die Gastfreundschaft der Väter). Die Lösung Hektors, die einzige Szene, in der die Beteiligten erst während des Mahles miteinander vertraut werden und daher eine Übergabe von Gastgeschenken zu erwarten wäre, endet mit der Flucht des Priamos, so daß Achill keine Gelegenheit hat, ihn mit Gaben auszustatten, die der Fremde gewöhnlich beim feierlichen Abschied erhält.241 238 Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,310-318: die Göttin lehnt das Geschenk vorerst ab); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,478-485: Nestor stellt Telemach ein Gespann zur Verfügung und gibt ihm seinen Sohn Peisistratos als Begleiter mit); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 15,101-130); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 13,10-14 und 66-69); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,515f.: das aus Kleidungsstücken bestehende Gastgeschenk soll später von Telemach übergeben werden). Vgl. zum Wegbegleiter in der nachhomerischen Epik A.R. 2,814 (Lykos gibt den Argonauten seinen Sohn als Begleiter mit) und Verg. Aen. 3,470 (Helenus stellt dem Aeneas Führer); Verg. Aen. 8,587f. (Euander gibt dem Aeneas seinen Sohn Pallas als Kampfgefährten mit). 239 Helena übergibt Telemach das schönste ihrer selbstgewebten Gewänder (Hom. Od. 15,104-108); Arete schickt drei Mägde zum Schiff, die Kleidung für Odysseus bringen (Hom. Od. 13,66-68). S. dazu PEDRICK (1983). Dasselbe gilt für die nachhomerische Epik: Andromache bringt Kleider für Aeneas und Ascanius (Verg. Aen. 3,482-491); die Frau des Cyzicus bringt Kleider (Val. Flac. 3,8-10: der Text ist allerdings umstritten, dazu LIBERMAN [1997] 216). Vgl. außerhalb einer Gastmahlszene die Kleidung, die Penelope Odysseus bei seiner Ausfahrt nach Troja mitgab, Hom. Od. 19,225-258. Umgekehrt erhalten Frauen vom Gastfreund unter anderem Gewänder und Schmuck: Aeneas läßt für Dido außer einem kostbaren Königsszepter auch ein besticktes Gewand und Schmuck holen, das er seinerseits als Geschenk von Helena erhalten hat, Verg. Aen. 1,647-655; Odysseus und Diomedes überreichen den skyrischen Mädchen Schmuck, Kleider, Thyrsosstäbe und Musikinstrumente, Stat. Ach. 1,714-716 und 849f. 240 Vgl. die Zusage von Athene/Mentes, die Telemachs Gastgeschenk für den Augenblick höflich ablehnt, Hom. Od. 1,316-318: D¤RON D ÔTTI K MOI DOÅNAI F¸LON TORmN¢GEIAÌTIWmNERXOMN¡DÎMENAIOÁKÎNDEFRESYAIKA¹MjLAKALÏN L¢NSO¹D oJIONSTAImMOIBW. 241 Bei den Gaben, die Priamos dem Achill anbietet, handelt es sich nicht um Gastgeschenke, sondern um das Lösegeld für Hektors Leichnam (Hom. Il. 24,229-237 und Hom. Il. 24,458).
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Die späte Übergabe der Geschenke, die unter Umständen erst nach einem langen, von anderen Ereignissen unterbrochenen Aufenthalt stattfindet, führt dazu, daß die Geste bei Homer nicht mehr in die eigentliche Gastmahlszene fällt und daher auch nicht in das typische Schema eingeordnet werden kann. Ähnliches gilt für die Argonautika des Apollonios, wo einmal (beim Aufenthalt bei Lykos, A.R. 2,813f.) ein Abschiedsgeschenk des Wirtes vorkommt sowie für das an Apollonios orientierte Argonautenepos des Valerius Flaccus (ein Beleg: Argonauten bei Cyzicus, Val. Flac. 3,8-13, der Text ist allerdings umstritten). In der Aeneis hingegen tritt erstmals neben dem üblichen Abschiedsgeschenk des Wirtes, wie es Helenus und Andromache, die im Exil ein kleines Troja errichtet haben, dem Aeneas nach homerischer Tradition überreichen (Verg. Aen. 3,463-471), auch der Besucher innerhalb einer Gastmahlszene als Spender auf: Dido erhält von Aeneas kostbare Gegenstände, die Cupido in Gestalt des Ascanius herbeibringt (Verg. Aen. 1,647-655; 1,709-714). Diese dienen, anders als bei Homer, nicht als Beweis fortdauernder Freundschaft gegenüber dem scheidenden Gast, sondern unterstreichen Wohlwollen und Rang des Besuchers, der auf diese Weise eine stärkere Position erhält als in der Odyssee.242 Diese Variante des »Gastgeschenks« wird jedoch nur noch einmal (in einer abgewandelten Form) von Silius Italicus aufgegriffen, der den unerkannt bei Falernus einkehrenden Bacchus zum Dank für die Gastfreundschaft die Gabe des Weins stiften läßt (Sil. 7,171-205). Eine Besonderheit stellen auch die Geschenke dar, die Diomedes und Odysseus der Familie des Lycomedes am zweiten Tag des Aufenthalts überreichen (Stat. Ach. 1,841-874). Diese dienen zwar vorgeblich als Zeichen des Danks für die Bewirtung und als Anerkennung für den Tanz der Mädchen, sollen aber in Wirklichkeit den als Frau verkleideteten Achill in eine Falle locken (Stat. Ach. 1,719-725). Tatsächlich wählt der Held nicht wie seine Gefährtinnen Schmuck und Musikinstrumente, sondern ergreift die bereitliegende Rüstung, wodurch er sich verrät. Maßgeblich für den Zeitpunkt der Übergabe sind hier nicht die traditionellen Gepflogenheiten der Bewirtung, sondern die günstige, von Odysseus herbeigeführte Gelegenheit, Achill zu enttarnen. Nur im Anschluß an den Reigen können die 242 Vgl. auch außerhalb einer Gastmahlszene den Besuch des Aeneas bei Latinus (Verg. Aen. 7,155 und 243-248: Aeneas läßt als Geschenke die goldene Opferschale des Priamus, sein Szepter, seine tiara und troische Gewänder herbeibringen. Zur Bedeutung des ebenfalls als Geschenk genannten, unbestimmten gestamen an dieser Stelle s. FORDYCE [1977] ad loc.).
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Gäste, ohne Argwohn zu erregen, die Frauen des Hauses beschenken und ihre Reaktionen beobachten. Bad Ein Bad für einen Mahlteilnehmer wird im Zusammenhang mit 11 von 40 untersuchten Szenen erwähnt. Die meisten Belege (insgesamt 6) stammen aus der Odyssee,243 während es sich in der Ilias gar nicht findet (hier stellen sich Nestor und Machaon an den Meeresstrand, um den Schweiß im Wind trocknen zu lassen, Hom. Il. 11,621f.). Außer der Reinigung mit Wasser umfaßt das Bad eine Salbung mit Öl und schließlich das Anlegen frischer Kleider. Die einzelnen Vorgänge werden mit Formelversen beschrieben (s. dazu unten S. 117f.), die in nachhomerischer Zeit nicht mehr erscheinen, wie überhaupt die Häufigkeit der Badbeschreibungen abnimmt. Bei Apollonios erscheint die Reinigung mit Wasser in zwei von fünf Szenen, doch handelt es sich in einem Fall um eine knappe Andeutung (Jason bei Aietes, A.R. 3,300) und im zweiten um eine ebenfalls kurz gehaltene Umkehrung der Rollen, bei der nicht der Wirt dem Gast ein Bad bereitet, sondern die Gäste ihren hilflosen Wirt Phineus von Schmutz und Unrat reinigen (A.R. 2,301f.). Valerius Flaccus, der sich sonst auch in Einzelheiten an Apollonios orientiert, verzichtet dagegen auf das reinigende Bad des von den Harpyien geplagten Greises. Der Gedanke der Reinigung erscheint in den lateinischen Gastmahlszenen sonst nur in der Achilleis des Statius, wo sich der von der Jagd heimgekehrte Achill Haar und Gesicht im Fluß wäscht (Stat. Ach. 1,178-183) sowie in zwei kurzen Abwandlungen, bei denen Marus und Adrast dafür sorgen, daß die Wunden ihrer Gäste gewaschen und verbunden werden (Sil. 6,91 und Stat. Theb. 1,527f.). Es handelt sich also im Wesentlichen um eine Eigenart der Odyssee, wobei in einem Fall (Telemach bei Nestor) der Gast nicht nur erfrischt, sondern auch mit göttlicher Hilfe verschönt aus dem Bad hervorgeht.244 Diese Wirkung findet sich außerhalb von Gastmahlszenen noch mehrfach, vgl. die 243 Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,309-315: Telemach bietet ein Bad an, das die Göttin höflich ablehnt); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,464-468: Bad am 2. Tag des Aufenthalts); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,48-51); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 8,433-437: Bad nach den Wettspielen); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,360-367: Bad, nachdem Kirke Odysseus erkannt hat, sowie Hom. Od. 10,449-451: Bad für die Gefährten nach der Gastmahlszene, im weiteren Verlauf des Aufenthalts); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,85-90: Gastgeber und Gast baden gemeinsam). 244 S. Hom. Od. 3,468: K mSAM¸NYOUBDMAWmYANjTOISIÒMOºOW.
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improvisierte Waschung des Odysseus am Strand von Scheria (Hom. Od. 6,229-245) und sein Bad zwischen dem Freiermord und der Wiedererkennung durch Penelope (Hom. Od. 23,154-163). Ein ›übernatürlicher‹ Effekt läßt sich bei keiner nachhomerischen Badbeschreibung feststellen, wo die Protagonisten allenfalls eine vom Bad unabhängige Anziehungskraft besitzen (vgl. Jason, A.R. 1,307-311 und 3,443f. sowie Aeneas, Verg. Aen. 1,588-593). In allen Gastmahlszenen wird, wenn es sich nicht ausdrücklich um die Reinigung einer Wunde handelt, der ganze Körper gebadet. Die spezielle Fußwaschung, wie sie Eurykleia (außerhalb einer Gastmahlszene) an Odysseus vollzieht, stellt dagegen eine besondere Geste der Aufmerksamkeit dar, die nur hier beschrieben wird. Schon in der Odyssee ist das ›Bad‹ nur locker mit der Gastmahlszene verbunden. Nur dreimal findet die Erfrischung während der eigentlichen Gastmahlszene statt (Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,48-51; Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,360-367; Theoklymenos bei Telemach, Hom. Od. 17,85-90), während sie dreimal erst im Verlauf eines längeren Aufenthalts erfolgt (Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,464-468; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 8,433-437 und 449-457; Bad für die Gefährten des Odysseus im Haus der Kirke, Hom. Od. 10,449-451). In einer Szene bleibt es bei einem Angebot, das die als Mentes getarnte Athene höflich ablehnt (Hom. Od. 1,309-315). Aus diachroner Sicht kann das Bad daher nicht als regelmäßiges Element einer Gastmahlszene gelten.
3. Die Norm. Der wohlhabende Gastgeber 3.1 Vorbemerkung: Die homerischen Gastmahlszenen Die meisten der berücksichtigten Gastmähler (32 von 40) werden von einem Gastgeber ausgerichtet, der, auch wenn die Vermögensverhältnisse im einzelnen differieren, leicht in der Lage ist, einen Besucher aufzunehmen. Diese Konstellation ist schon in den homerischen Epen so verbreitet, daß sie, als scheinbare Selbstverständlichkeit, in der Forschung nur dann thematisiert wird, wenn eine Mahlszene von dieser Vorgabe abweicht oder wenn der Reichtum eines Königs wie Alkinoos ans Märchenhafte grenzt. In der Ilias gehören alle Gastgeber zu den wohlhabenden Kreisen, und auch in der Odyssee verfügen alle Wirte mit Ausnahme des Eumaios über ausreichenden Besitz.1 Ähnliches gilt für die übrigen Epen. Die Bewirtung durch einen wohlhabenden Gastgeber kann daher als Norm für epische Mahlszenen gelten. Das folgende Kapitel soll einen Überblick über den Aufbau des »normalen« homerischen Gastmahls vermitteln, welches die Grundlage für die Entwicklung des Szenentyps in der griechischen und römischen Literatur bildet. Dabei sollen vor allem die Details hervorgehoben werden, in denen sich der Ablauf einer homerischen Gastmahlszene von dem oben vorgestellten diachronen Schema unterscheidet. Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit dem von REECE vorgelegten Plan einer homerischen »hospitality-scene« sinnvoll.2 Aus der Diskussion soll deutlich werden, warum dieser Ansatz in der vorliegenden Arbeit – anders als in PLANTINGAS Untersuchungen zur »hospitality scene« bei Apollonios – nicht übernommen wird.
1 Auch die Nymphe Kalypso und die Göttin Kirke verfügen über alle Mittel zur Bewirtung eines Gastes: Kalypso, die in einer wundervollen Grotte lebt, welche sogar Götter in Erstaunen versetzt (s. Hom. Od. 5,73-76), rückt Hermes einen »glänzenden, schimmernden Lehnstuhl« hin (Hom. Od. 5,86), wie es auch andere Gastgeber tun (s. oben S. 67). Kirke verfügt, wie die adligen Gastgeber der Odyssee, über mehrere Dienerinnen (es handelt sich dabei, dem göttlichen Ambiente entsprechend, um Nymphen), die den Gast baden, die Mahlvorbereitung übernehmen und Tischdienste leisten (Hom. Od. 10,348372). 2 Die von REECE ausgewerteten Mähler sind oben S. 36 aufgeführt.
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
Die äußerlich auffälligste Besonderheit der homerischen Epen besteht in der Verwendung von Formelversen,3 die auch die Gastmahlszenen prägen. Spätere Epiker imitieren nur wenige dieser Verse und verzichten darauf, einen eigenen Bestand feststehender Formulierungen zu entwickeln. Das Korpus der homerischen Gastmahlszenen erweckt so im Vergleich zu nachhomerischen Beispielen schon sprachlich den Eindruck größerer Geschlossenheit. Um welche Verse es sich jeweils handelt, wird unten bei der Besprechung der verschiedenen Bestandteile angegeben. Für die Identifizierung typischer Strukturelemente in homerischen Gastmahlszenen sind die im dritten und vierten Buch der Odyssee beschriebenen Bewirtungen des Telemach bei Nestor und Menelaos besonders geeignet, da sie unter gleichen Voraussetzungen stattfinden. In beiden Fällen wird dieselbe Person (Telemach) bewirtet, die sich mit demselben Anliegen – Informationen über das Schicksal des Odysseus zu erlangen – an dessen ehemalige Kampfgefährten wendet. Beide Gastgeber reagieren wohlwollend und beide verfügen, der Norm entsprechend, über die materiellen Möglichkeiten für eine großzügige Bewirtung. Zudem folgen die beiden Gastmähler so dicht aufeinander, daß der Hörer zum Vergleich aufgefordert wird. Ähnlich günstige Voraussetzungen sind bei keiner anderen homerischen Bewirtung gegeben. Die beiden Szenen stimmen in folgenden Details überein: 1) Ankunft des Gastes während eines Mahls 2) Beschreibung der Anwesenden und ihrer Tätigkeiten 3) Anwesende erblicken die Gäste 4) Begrüßung durch Gesten 5) Sitzplatz neben dem Hauptgastgeber 6) eigentliches Mahl – Vorbereitung des Mahls (als Speisen werden Fleisch und Wein genannt) – Endes des Mahls (Formel: AÆTkR PE¹ PÎSIOW KA¹ DHTÃOW J RON
NTO) 7) Gespräch zwischen Gastgeber und Gast – Erzählungen des Gastgebers 3 Nach der Definition PARRYS (1939) 80 ist ein homerischer Formelvers »a group of words which is regularly employed, under the same metrical conditions, to express a given essential idea.«
3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
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– Frage nach der Identität des Gastes – Identifizierung des Gastes 8) Nachtlager – Gast bittet um Nachtruhe – Schlafplatz des Gastes – Schlafplatz des Gastgebers u. seiner Frau (Formel: KAYEÅDE MUX¯ DÎMOUÇCHLOºO) Hinzu kommen vier übereinstimmende Details, die im weiteren Verlauf des Aufenthalts, d.h. außerhalb der oben definierten Szenengrenze, beschrieben werden: 9) Anbruch des folgenden Tages (Formel: MOW D RIGNEIA FjNH ODODjKTULOWb)¢W) 10) Abschiedsmahl 11) Der Wirt überreicht dem Gast Geschenke 12) Abreise auf einem Pferdegespann sowie jeweils ein von Dienerinnen bereitgestelltes Bad und eine feierliche Trankspende, die jedoch wegen des unterschiedlichen Kontextes der Bewirtungen (Opfer für Poseidon am Strand bzw. Hochzeitsfeier im Palast des Menelaos) zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden.4 Zieht man auf dieser Grundlage die übrigen Gastmähler in Ilias und Odyssee zum Vergleich heran, so zeigt sich, daß einerseits nur wenige der ermittelten Gemeinsamkeiten in allen homerischen Gastmählern erscheinen (z.B. Vorbereitung des Mahls und Sitzplatz), und daß andererseits die übrigen Szenen wiederholte Elemente aufweisen, die in den Bewirtungen bei Nestor und Menelaos nicht zu finden sind (z.B. die Begegnung des Gastes mit einem Haushund und das Abnehmen des Speeres bei der Begrüßung). 4 Bei Nestor, der eben am Strand ein Opfer für Poseidon darbringt, erfolgt die Trankspende (als Teil der religiösen Zeremonie, s. Hom. Od. 3,43f.) unmittelbar vor dem ersten Mahl (Hom. Od. 3,40-64), während Menelaos keine Spende darbringt. Die Verse Hom. Od. 15,147-150, die REECE als Abschiedslibation zählt, beschreiben keine Trankspende, sondern eine freundliche Geste des Menelaos, der seinen scheidenden Gästen zutrinkt. Umgekehrt kann Nestor, anders als Menelaos (Hom. Od. 4,48-50), den Besuchern nicht gleich bei der Ankunft ein warmes Bad bereitstellen, da sich die Festgesellschaft gerade am Strand aufhält. Erst am zweiten Tag, als alle in den Palast zurückgekehrt sind, wird Telemach daher von einer Dienerin gebadet (Hom. Od. 3,464-468).
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
Es muß daher geklärt werden, ob und unter welchen Bedingungen ein Element, das nicht in allen homerischen Gastmahlszenen erscheint, als typisch betrachtet und in ein Schema aufgenommen werden kann.5 Hier liegt der Haupteinwand gegen den Ansatz von REECE, der auf eine Präzisierung seiner Beurteilungskriterien verzichtet. Die Aussage, sein Schema umfasse Elemente »that occur repeatedly in the eighteen hospitality scenes under consideration« (S. 6), bleibt angesichts der stark schwankenden Häufigkeit der Elemente unbefriedigend. Vor allem bei Details, die nur zweimal oder dreimal auftreten, wie das Abnehmen des Speeres bei der Begrüßung (Hom. Od. 1,127-129 und Hom. Od. 16,40) und die Begegnung mit einem Haushund (Hom. Od. 14,29f. und Hom. Od. 16,4-6, vgl. die von REECE als Gastmahlszene gewertete Heimkehr des Odysseus, Hom. Od. 17,291-327 und die Wölfe und Löwen bei Kirke, Hom. Od. 10,212-219) muß geklärt werden, ob diese wirklich als typisch für homerische Gastmahlszenen betrachtet werden können, oder ob sie – als seltene und damit auffällige Details – dazu dienen, einzelne Szenen miteinander zu verknüpfen. Falls dies der Fall ist, sollten sie nicht in ein typisches Schema aufgenommen werden. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus dem von REECE zugrundegelegten Textkorpus, das Szenen aus unterschiedlichen Gattungen umfaßt (neben Belegen aus Ilias und Odyssee auch zwei Beispiele aus den homerischen Hymnen), ohne daß deren Vergleichbarkeit geprüft würde.6 Überdies 5 Vgl. die oben für das diachrone Schema festgelegten Kriterien, nach denen solche Elemente als typisch gelten sollen, die a) in der Mehrzahl der Szenen auftreten oder b) als Ersatz für ein Element der Gruppe a verwendet werden (dies trifft v.a. auf die Hikesie des Gastes zu, die in zwei regulären homerischen Szenen (und einem Antigastmahl) als Ersatz für das »Warten auf der Türschwelle« bzw. die damit zusammenhängende »Begrüßung« erscheint oder c) zwar nur in einer Minderheit von Szenen erscheinen, aber großen Einfluß auf den Fortgang der epischen Handlung und die Bewertung des Gastmahls insgesamt ausüben (dies trifft auf den Sängervortrag zu, der überdies in den homerischen Epen mehrfach aus auktorialer und personaler Erzählperspektive als typischer Bestandteil eines Mahles bezeichnet wird). 6 Bei den von REECE berücksichtigten Szenen handelt es sich um »Athena-Mentes in Ithaca (Od. 1.103-324)«; »Telemachus in Pylos (Od. 3.4-485; 15.193-214)«; »Telemachus in Sparta (Od. 4.1-624; 15.1-184)«; »Hermes and Calypso (Od. 5.55-148)«; Odysseus and the Phaeacians (Od. 5.388-13.187)«; »Odysseus and Polyphemus (Od. 9.105-564)«; »Odysseus and Aeolus (Od. 10.1-76)«; »Odysseus and the Laestrygonians (Od. 10.80-132)«, Odysseus and Circe (Od. 10.133-11.12; 12.1-152)«; »Odysseus and Eumaeus (Od. 13.221-14.533; 15.301-494; 16.452-17.25; 17.182-203)«; »Telemachus and Eumaeus (Od. 15.555-16.155)«; »Odysseus’ Homecoming (Od. 17.204-23.348)«, »The Embassy to Achilles (Il. 9,185-668)«; »Nestor and Odysseus in Phthia (Il. 11.76982)«; »Thetis and Hephaestus (Il. 18.369-19.3)«; »Priam and Achilles (Il. 24.334-694)«; »Demeter in the Home of Celeos (H. Dem. 98-230)«, »Aphrodite and Anchises (H. Aphr.
3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
115
führt REECES pragmatischer Szenenbegriff (S. 5: »In the hospitality scene, I include everything that occurs from the moment a visitor approaches someone’s house until the moment he departs«) dazu, daß bei der Heimkehr des Odysseus in den Büchern 17-23 auch lange Abschnitte ohne erzähltechnische Geschlossenheit als ein einziges Gastmahl betrachtet und ausgewertet werden. Ohne erkennbaren Grund fehlen andererseits Szenen, die Kennzeichen eines Gastmahls aufweisen (vgl. die Bewirtung der griechischen Heerführer bzw. des Aias durch Agamemnon, Hom. Il. 2,402-441 und Hom. Il. 7,311-344 sowie den Empfang des Theoklymenos durch Telemach, Hom. Od. 17,84-166). Trotz dieser Schwächen und Ungenauigkeiten können REECES Ergebnisse, gerade weil sie auch seltene Bestandteile eines homerischen Mahls aufführen, bei kritischer Betrachtung als Ausgangspunkt für eine Vorstellung der »normalen« homerischen Gastmahlszene dienen. Das von REECE (1993) 6f. aufgestellte und von PLANTINGA akzeptierte Schema lautet: I. II. III.
IV. V. VI. VII.
Maiden at the well/Youth on the road Arrival at the destination Description of the surroundings a. Of the residence b. Of (the activities of) the person sought c. Of (the activities of) the others Dog at the door Waiting at the threshold Supplication Reception a. Host catches sight of the visitor b. Host hesitates to offer hospitality c. Host rises from his seat d. Host approaches the visitor e. Host attends to the visitor’s horses f. Host takes the visitor by the hand g. Host bids the visitor welcome h. Host takes the visitor’s spear i. Host leads the visitor in
68-291).« Angeführt in dieser Reihenfolge im Anhang zu REECES Monographie, S. 207231.
116 VIII. IX.
X. XI.
XII. XIII. XIV. XV. XVI. XVII. XVIII. XIX. XX. XXI. XXII. XXIII. XXIV. XXV.
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Seat Feast a. Preparation b. Consumption c. Conclusion After-dinner drink Identification a. Host questions the visitor b. Visitor reveals his identity Exchange of information Entertainment Visitor pronounces a blessing on the host Visitors shares in a libation or sacrifice Visitor asks to be allowed to sleep Bed Bath Host detains the visitor Guest-gifts Departure meal Departure libation Farewell blessing Departure omen and interpretation Escort to visitor’s next destination.
Das erste Element in REECES Schema (»Maiden at the well«) erscheint im Zusammenhang mit vier der achtzehn von uns ausgewerteten homerischen Gastmähler7 bzw. in Verbindung mit sieben der achtzehn von REECE be7 Vgl. dazu oben die Vorstellung des Details »Begegnung auf dem Weg«, S. 105f. Im einzelnen handelt es sich um folgende Gastmähler: Priamos begegnet Hermes in Gestalt eines jungen Mannes; dieser geleitet ihn ungesehen durch das feindliche Lager (Hom. Il. 24,334-467); Odysseus begegnet Nausikaa sowie Athene in Gestalt einer jungen Frau; diese fordern ihn auf, sich mit seiner Bitte an Arete zu wenden. Athene hüllt Odysseus sodann in eine schützende Wolke (Hom. Od. 6,110-322 und 7,18-81); Odysseus begegnet Hermes in Gestalt eines jungen Mannes; dieser verrät ihm, wie er die Zauberkraft der Kirke überwinden kann (Hom. Od. 10,274-306); Odysseus begegnet Athene in Gestalt eines jungen Hirten; diese hilft ihm, sein weiteres Vorgehen zu planen und verleiht ihm die Gestalt eines Greises (Hom. Od. 13,221-440). Das Detail kommt in der Odyssee auch im Zusammenhang mit Bewirtungen vor, die nicht szenisch gestaltet sind und daher in dieser Arbeit nur am Rande berücksichtigt werden. Vgl. außer den von REECE angeführten Stellen (s. Anm. 8) auch die Kindheitsgeschichte des Eumaios, in der die Seeräuber
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rücksichtigten Szenen.8 Der Gast begegnet auf seinem Weg zum Wirt – stets in räumlicher und zeitlicher Entfernung – einem Fremden, hinter dem sich ein Gott verbirgt, der ihn mit Rat und Hilfe unterstützt, ohne die die Bewirtung nicht erfolgversprechend verlaufen könnte. Nach den eingangs definierten Szenengrenzen (s.o. S. 22) und nach REECES eigenen Kriterien (›alle Ereignisse zwischen Ankunft und Abreise des Gastes‹) liegt dieses Element jedoch außerhalb der Gastmahlszene, da der Besucher zu diesem Zeitpunkt das Haus des Wirtes noch nicht erreicht hat. Sie sollten daher nicht in das Schema einer Gastmahlszene aufgenommen, sondern als ein vorbereitendes Ereignis eingestuft werden. Auch die letzten Elemente des von REECE aufgestellten Schemas, die ebenfalls nur in einer Minderheit von Fällen erscheinen, fallen nach unserer Definition mehrheitlich nicht in den Bereich der eigentlichen Szene. Ein Bad (Element XVIII REECE) im Haus des Gastgebers findet sich bei Homer im Zusammenhang mit sechs von achtzehn Szenen,9 wobei der Zeitpunkt je nach der spezifischen Situation variiert. S. dazu oben S. 109f. Das Bad wird meist von Dienerinnen bereitet und umfaßt die Reinigung mit Wasser, das Salben mit Öl und das Anlegen neuer Kleider, ein Vorgang, der mit Formelversen nach dem Muster TOÄW D PE¹ OÌN DM¡A¹ LOÅSAN KA¹
am Strand einer Dienerin begegnen, die ihnen hilft, Eumaios zu entführen (Hom. Od. 15,417-453). 8 Zusätzlich zu den vier in Anm. 7 genannten Belegen zählt REECE auch die Begegnung zwischen den Gefährten des Odysseus und der lästrygonischen Königstochter (Hom. Od. 10,105-111), die Begegnung zwischen dem ›Bettler‹ Odysseus und Melanthios (Hom. Od. 17,212-253) sowie die Begegnung zwischen Demeter und den Töchtern des Keleos (H. Dem. 98-183) hinzu, die in der vorliegenden Arbeit nur am Rande berücksichtigt werden, weil es sich nicht um ›Szenen‹ im oben definierten Sinn bzw. nicht um epische Gastmahlszenen handelt. 9 Ein Bad erscheint nur in der Odyssee: Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,309f.: Telemach bietet ein Bad an, das die Göttin höflich ablehnt); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,464-468: Bad am 2. Tag des Aufenthalts, außerhalb der eigentlichen Gastmahlszene); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,48-50: Bad vor dem ersten Mahl, d.h. innerhalb der Mahlszene); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 8,433-437 und 449-455: Bad nach den Wettspielen, d.h. außerhalb der Gastmahlszene); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,358365: Bad, nachdem Kirke Odysseus erkannt hat, d.h. innerhalb der Gastmahlszene und beim selben Aufenthalt Hom. Od. 10,449-451); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,85-90: Gastgeber und Gast baden gemeinsam; Bad innerhalb der Gastmahlszene). REECE zählt außerdem auch die Bäder des Odysseus während seiner Heimkehr hinzu (Hom. Od. 19,317, 320, 343-360, 386-388, 503-507; 23,153-63), die jedoch nicht im Zusammenhang mit einem regulären Gastmahl stehen.
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XRºSANLA¸¡10 mMF¹D oRAXLA¸NAWOÈLAWBjLONDXIT¤NAW 11 beschrieben wird. Diese detaillierte Schilderung stellt eine homerische Eigenart dar. Wegen seiner Seltenheit und seiner oft nur lockeren Verbindung zur eigentlichen Szene sollte es aber nicht in ein typisches Schema aufgenommen werden. Ein separates Abschiedsmahl mit Libation (Elemente XXI und XXII REECE),12 ein Reisesegen (Element XXIII REECE),13 ein Omen mit Interpretation (XXIV REECE)14 und eine Eskorte zum nächsten Ziel (XXV REECE) erscheinen ebenfalls so unregelmäßig, daß sie nicht als fester Bestandteil einer homerischen Mahlbeschreibung aufgefaßt werden können. Das Abschiedsmahl, das nur bei der Bewirtung des Telemach durch Menelaos und des Odysseus durch die Phäaken erwähnt wird, ist sogar offenkundig als Parallele konzipiert, die die beiden auch sonst aufeinander bezogenen Szenen noch enger verknüpft.15 10 Hom. Od. 4,49 = Hom. Od. 17,88; Varianten sind AÆTkR PE¹ LOÅSN TE KA¹ XRISENL¸P LA¸¡ (Hom. Od. 3,466 = 10,364) und TÏND PE¹OÌNDM¡A¹LOÅSAN KA¹XRºSANLA¸¡ (Hom. Od. 8,454) sowie [TOÄWoLLOUWTjROUW,¸RKH] NDUKVW LOÅSNTEKA¹XRISENL¸P LA¸¡(Hom. Od. 10,450). 11 Hom. Od. 4,50 = 17,89, Varianten sind mMF¹D oRAXLA¸NAWOÈLAWBjLEND XIT¤NAW(Hom. Od. 10,451); mMF¹DMINXLAºNANKALNBjLONDXIT¤NA(Hom. Od. 8,455), mMF¹ D MIN FlROW KALÏN BjLEN D XIT¤NA (Hom. Od. 3,467) sowie mMF¹DMEXLAºNANKALNBjLENDXIT¤NA(Hom. Od. 10,365). Das zugrundeliegende cliché rhétorique läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen: mMF¹ D + 1. Kleidungsstück mit Adjektiv + Form von BjLLV + DXIT¤NA(W). 12 2 Belege für ein Abschiedsmahl: Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 15,76-79; 9298; 133-143); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 13,23-27), jeweils mit Abschiedslibation (Hom. Od. 15,147-150 und 13,50-56). Als eine solche rechnet REECE auch die Libation am Ende der Presbeia (Hom. Il. 9,656f.) und den Wunsch Polyphems, er möge seinen Peiniger finden, dann dürfte das Hirn des zu Boden Geschmetterten hierhin und dorthin durch die Höhle spritzen (Hom. Od. 9,458-460: es handelt sich hier jedoch nicht um einen Ersatz für die Libation, s. dazu unten S. 407f.). 13 2 Belege: Telemach bei Menelaos, Odysseus bei den Phäaken. REECE (1993) 38 rechnet (als Sonderform) auch den Fluch mit, den der geblendete Polyphem gegen Odysseus ausstößt. Dieser gehört jedoch zu einer Antigastmahlszene. 14 1 Beleg: Telemach bei Menelaos. REECE (1993) 39 rechnet auch das vermeintlich von Zeus verschmähte Widderopfer mit, das Odysseus nach seiner Flucht vor Polyphem darbringt, s. Hom. Od. 9,550-555. Ein Omen wird dort jedoch nicht beschrieben. Die (aus der rückblickenden Figurenperspektive wiedergegebene) Annahme des Odysseus, daß Zeus sein Opfer verschmäht habe, scheint sich vielmehr auf seine späteren Erlebnisse – den Untergang der Schiffe und den Verlust der restlichen Gefährten – zu stützen. S. zu dieser Frage unten S. 426ff. 15 Die auffälligste Parallele zwischen beiden Szenen besteht in den Tränen, die Telemach und Odysseus bei der Unterhaltung nach dem Mahl bzw. dem Gesangsvortrag vergießen. Beide verhüllen dabei ihr Gesicht mit dem Mantel, um ihre Emotionen zu verber-
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Was den Kernbestand der Szene von der Ankunft am Bestimmungsort (Element II bei REECE) bis zum Nachtlager (Element XVII bei REECE) betrifft, so stimmen die späteren Gastmahlszenen in groben Zügen mit den homerischen Vorbildern überein. Bei Homer wie auch bei seinen Nachfolgern folgt auf die Ankunft des Besuchers meist eine Beschreibung der Räumlichkeiten und der anwesenden Personen (Element III).16 Sie wird gewöhnlich aus der Perspektive des Besuchers geliefert und schreitet von den größeren zu den kleineren Bauteilen und von außen nach innen voran. In fünf von elf Bewirtungsszenen der Odyssee ist sie mit dem »Warten auf der Türschwelle« (Element II nach unserem Schema) gekoppelt: Während er am Eingang des Festsaals verharrt, betrachtet der Gast seine Umgebung.17 Bei den Bewirtungen in einem Königspalast gilt seine Aufmerksamkeit der prächtigen Ausstattung des Hauses, die Macht und Einfluß des Gastgebers verdeutlicht. Erst nach der Beschreibung der Räumlichkeiten wendet sich der Betrachter den anwesenden Personen und ihren Beschäftigungen zu, die an Königshöfen immer, in den übrigen Gastmählern meist beim Mahl versammelt sind. Dabei gibt der homerische Erzähler in allen Fällen die Aktivitäten der gesuchten Person wieder sowie in der Mehrheit der von REECE berücksichtigten Szenen (in zehn von achtzehn) auch die der übrigen Anwesenden, wobei die Reihenfolge nach den Erfordernissen der Situation gewählt wird. So schildert der Erzähler z.B. beim Besuch von Athene/Mentes in Ithaka zunächst ausführlich das Treiben der Freier (Hom. Od. 1,106-112) und erst anschließend die Situation Telemachs (Hom. Od. 1,113-117), so daß dessen untergeordnete Rolle im eigenen Hause hervortritt. Der Zeitpunkt der Ankunft stimmt in den einzelnen Szenen nicht exakt überein. REECE weist darauf hin, daß sich in den ersten vier größeren Bewirtungsszenen der Odyssee, die sich alle bei wohlhabenden Wirten abspielen (Athene/Mentes bei Telemach, Telemach in Pylos, Telemach in Sparta und Odysseus bei den Phäaken) die Ankunft des Gastes immer weigen – eine Geste, die ebenfalls nur in diesen beiden Szenen erscheint (Telemach: Hom. Od. 4,113-116 und Hom. Od. 4,185: hier ohne Verhüllen des Gesichts, da auch Helena und Menelaos weinen; Odysseus: Hom. Od. 8,83-86; 8,92-95 und 8,521-534: hier ohne das Verhüllen des Gesichts). 16 Stellenangaben s. o. S. 51f. und 54f. 17 Das Verharren auf der Türschwelle wird nicht in einem feststehenden Vers, sondern mit wechselnden Formulierungen ausgedrückt, die nur darin übereinstimmen, daß sie eine Form von ¾STAMAI und eine Ortsangabe (PRÎYURON bzw. OÆDÎW etc) enthalten.
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ter nach hinten verschiebt: »When Athena-Mentes arrives in Ithaca, preliminary preparations are under way for a feast [...] (1.109-12). When Telemachus arrives in Pylos, men are roasting and skewering meat in preparation for an imminent feast (3.32-33). When Telemachus arrives in Sparta, a feast is already under way (4.15-19). And when Odysseus arrives in Scheria, a feast has just ended.«18 In drei von elf odysseischen Gastmahlszenen (Gefährten des Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,212-219; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,2936; Telemach bei Eumaios, Hom. Od. 16,4f.) trifft der Gast, als er das Haus erreicht, auf einen Hund oder ein anderes Tier, welches die Schwelle bewacht. (Nach REECE, der die Heimkehr des Odysseus als eigene Gastmahlszene rechnet und daher die Begegnung von Odysseus und seinem Hund Argos mitzählt, handelt es sich um vier von zwölf odysseischen Szenen). Hinzu kommt eine Abwandlung des Details in der Phäakenszene, wo statt wirklicher Tiere goldene und silberne Hundefiguren beschrieben werden, die den Festsaal des Alkinoos schmücken (Hom. Od. 7,91-94). Das Detail ist auf die Odyssee (und eine Erwähnung im homerischen AphroditeHymnus, V. 68-74) beschränkt und wird von späteren Epikern nicht aufgegriffen.19 Seine Ausgestaltung ermöglicht Rückschlüsse auf den Halter der Tiere und dient daher auch zu dessen indirekter Charakterisierung: Die zauberkräftige Kirke hält auf ihrer Insel etliche in Wölfe und Löwen verwandelte Menschen, und der tatkräftige Eumaios hat seine vier stattlichen Hunde selbst aufgezogen (Hom. Od. 14,21f.). Alkinoos dagegen besitzt wundersame Skulpturen, die Hephaist selbst geschmiedet hat und die dem märchenhaften Reichtum der Phäakenherrscher und ihrer Götternähe entsprechen (Hom. Od. 7,91-94). Der Gast begegnet den Tieren, während er sich der Behausung seines Wirtes nähert oder direkt am Eingang verharrt. Dieses »Warten auf der Türschwelle«, das in neun der achtzehn von uns berücksichtigten homerischen 18 REECE (1993) 193f. 19 Das Fehlen der Hunde in der Ilias fällt besonders in der Presbeia auf, wo keine Tiere erwähnt werden, obwohl Achill »neun Tischhunde hatte« (Hom. Il. 23,173: NNAT¯ GE oNAKTI TRAPEZEW KÃNEW SAN Offenbar werden diese Tiere, wie schon die Bezeichnung TRAPEZEWKÃNEWnahelegt, nicht zur Bewachung des Zeltes eingesetzt. Einen Überblick über die Darstellung von Hunden in der griechischen Dichtung bietet LILJA (1976), allerdings ohne die erzähltechnische Funktion der in der Odyssee wiederholt erwähnten Tiere am Hauseingang näher zu untersuchen. S. bes. 26-29. Vgl. auch SCOTT (1948), der aus den Erwähnungen von Hunden in Ilias und Odyssee Argumente für die Identität von Ilias- und Odysseedichter gewinnen will.
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Szenen erscheint (11 Szenen bei REECE, davon neunmal in der Odyssee, zweimal in der Ilias)20 gehört bei Homer zu den häufigsten Elementen. »Typically the visitor remains at the doorway for some time, waiting for the master to notice him and [...] offer hosptitality.«21 Ob der Gast stehend oder sitzend auf Einlaß wartet, hängt nach REECES Auffassung von seinem sozialen Status ab: »If the visitor is a social equal [...] he stands at the doorway [...]. If the visitor is a social inferior [...] he sits at the doorway in a posture that symbolizes submission and helplessness.«22 Ein direkter Zusammenhang zwischen sozialem Status und der Körperhaltung des Gastes läßt sich jedoch aus den drei Odysseestellen, an denen ein Ankömmling auf der Schwelle sitzt, nicht ablesen.23 Als sich Odysseus in Gestalt des alten Mannes am Eingang zu Eumaios’ Gehöft niedersetzt und seinen Stab fallenläßt, handelt es sich um eine unmittelbare Reaktion auf die Attacke der Hofhunde, die weniger seinen sozialen Status als vielmehr seine Hilflosigkeit gegenüber den wütenden Tieren unterstreicht und Eumaios zu einer Hilfeleistung bewegt (s. dazu unten S. 219f.). Auch beim zweiten Besuch im Haus des Aiolos dient die sitzende Position nicht dazu, soziale Rangunterschiede, sondern die augenblickliche Hilflosigkeit des von den Winden verschlagenen Odysseus zu verdeutlichen (Hom. Od. 10,62f.). Ein sozialer Rangunterschied zwischen Gast und Gastgeber kommt in dieser Szene schon deswegen nicht in Betracht, weil Aiolos und seine Familie Odysseus kurz zuvor bewirtet und ihn dabei nicht wie eine rangniedere Person, sondern wie einen Freund behandelt hatten (s. Hom. Od. 10,14: MNA D PjNTA F¸LEI ME). Auch die von den Göttern begünstigte Stellung des Aiolos rechtfertigt 20 Die Belege sind oben S. 48ff. aufgeführt. REECE rechnet auch die Presbeia hinzu, wo die Gesandten aber nicht an der Türschwelle, sondern direkt vor dem in seinem Zelt sitzenden Achill stehenbleiben (Hom. Il. 9,192f.) sowie den nicht szenisch dargestellten Besuch des Odysseus bei Aiolos (Hom. Od. 10,62f.) und die (von ihm als einzige große Szene betrachtete) Heimkehr des Odysseus (Hom. Od. 17,261 und 339-341). Andererseits trennt er nicht zwischen der Bewirtung der Gefährten des Odysseus bei Kirke und dem Gastmahl für Odysseus selbst. In den Hymnen zählt REECE zwei Belege (Demeter bei Keleos, hy. Dem. 188f. und Aphrodite bei Anchises, hy. Aphr. 81). 21 REECE (1993) 15. 22 REECE (1993) 15f. 23 Es handelt sich um den zweiten Besuch des Odysseus bei Aiolos, der nach unserer Definition nicht zu den Gastmahlszenen zählt (Hom. Od. 10,62f.: LYÎNTEWD WD¤MA PARk STAYMOºSIN P OÆDOÅ ZÎMEY , seine Bewirtung durch Eumaios (Hom. Od. 14,30f.: AÆTkRb0DUSSEÄW
ZETOKERDOSÃN×) und seine Heimkehr, die ebenfalls keine geschlossene Szene bildet (Hom. Od. 17,339f.: ÂZE D P¹ MEL¸NOU OÆDOÅ NTOSYE YURjVNKLINjMENOWSTAYM¯KUPARISS¸N¡).
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nicht die Annahme, daß Odysseus die Stelle eines »social inferior« einnehme, wie der kurz darauf folgende Besuch bei Kirke zeigt: Dort bittet Odysseus aufrecht stehend am Tor um Einlaß,24 obwohl es sich bei Kirke um eine furchtbare Göttin handelt (Hom. 10,136: ,¸RKH [...] DEIN YEÏW OÆDESSA). Odysseus’ stehende Haltung veranschaulicht hier sein Selbstbewußtsein, in dem ihn Hermes kurz zuvor bestärkt hatte.25 Entscheidend für die Wahl der Körperhaltung ist also nicht die soziale Stellung des Gastes, sondern der Eindruck, den er bei seinem Wirt erwecken will. Die einzige Gelegenheit, bei der das Hocken auf der Schwelle eine soziale Unterordnung andeutet, ist die nicht als geschlossene Szene gestaltete Heimkehr des Odysseus, als sich dieser in Gestalt des Bettlers auf der Schwelle zum Festsaal niederläßt (Hom. Od. 17,339f.). Kurz zuvor hatte der gehässige Hirt Melanthios bei seiner Begegnung mit Eumaios und dem verkleideten Odysseus das Hocken auf der Schwelle und das Anlehnen an den Türpfosten als typische Bettlerhaltung bezeichnet: P D TÎNDE MOLOBRÏN oGEIW [...] / PTVXÏN mNIHRÎN [...] / ÖW POLLW FLISI PARASTkW FL¸CETAI §MOUW (Hom. Od. 17,219-221). Doch handelt es sich bei dem folgenden Aufenthalt des Odysseus am Eingang des von den Freiern belagerten Festsaales nicht um das gewöhnliche Strukturelement »Warten auf der Türschwelle«, sondern um eine Vermischung und Abwandlung der Elemente II »Warten auf der Türschwelle« und V »Platz bei Tisch«: Der Bettler hält sich nicht nur so lange an der Tür auf, bis er von den Anwesenden bemerkt wird, wie es sonst ein Gast tut, sondern läßt sich für die gesamte Dauer des Mahles dort nieder und speist sogar auf der steinernen Schwelle.26 Diese andersartige Situation, bei der Odysseus nicht in die Tischgemeinschaft aufgenommen wird, kann daher nicht als Beleg 24 Hom. Od. 10,310f.: STHN D E»N¹ YÃR×SI YElW KALLIPLOKjMOIO / NYA STkW BÎHSAYEkDMOIKLUENAÆDW 25 Vgl. die Übergabe des wundersamen Krautes Moly, das Odysseus gegen die Zauberkräfte der Göttin schützen soll und die Anweisung des Hermes, Kirke mit dem Schwert anzugreifen, sobald sie ihn mit ihrem Stab berühre (Hom. Od. 10,287-295). 26 Hom. Od. 17,356-358 (Der auf der Schwelle sitzende Odysseus hat von Telemach Fleisch erhalten): A KA¹ mMFOTR×SIN DJATO KA¹ KATYHKEN AÌYI POD¤N PROPjROIYENmEIKEL¸HWP¹PRHWSYIED EÂOWmOIDÏWN¹MEGjROISINoEIDEN; Hom. Od. 17,466f.: qCD ÔG P OÆDÏN»£NKAT oR
ZETOKkD D oRAPRHN YKEN UPLE¸HN Die Hartnäckigkeit, die er damit unter Beweis stellt, zeigt dem Leser zugleich seine Entschlossenheit, den Saal trotz des ablehnenden Verhaltens der Freier nicht so bald zu verlassen.
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dafür herangezogen werden, daß ein auf Einlaß wartender Gast seine Körperhaltung seinem sozialen Rang anpaßt. Statt durch das Warten an der Türschwelle um Aufnahme zu bitten, kann sich der Besucher auch zu einer Hikesie (supplicatio),27 d.h. einer ritualisierten Bittgeste entschließen, die auch außerhalb von Bewirtungen, besonders bei Kriegshandlungen, erwähnt wird.28 In den regulären homerischen Gastmahlszenen erscheint sie nur bei der Unterredung zwischen Priamos und Achill (Hom. Il. 24,478) und bei Odysseus’ Bittrede an Arete (Hom. Od. 7,142). Dabei wirft sich der Flehende zu Boden, umschlingt die Knie des Angeflehten und trägt seine Bitte vor.29 Die Entscheidung des Gastes für eine Hikesie führt REECE (1993) 16 auf die besondere Notlage zurück, in der er sich gerade befinde: »In three hospitality scenes [...] the visitor is in such dire straits that he initially approaches his host not as a guest but as a suppliant.« Dazu kommt jedoch ein weiterer Aspekt: Eine Hikesie des Gastes tritt bei Homer nur in Situationen auf, in denen ein Warten auf der Türschwelle aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll erscheint. Priamos betritt bei der Lösung Hektors das Zelt seines Gastgebers Achill, ohne an der Türschwelle auf Erlaubnis zu warten (Hom. Il. 24,477), veranlaßt durch die in feindlicher Umgebung gebotene Vorsicht.30 Sodann wendet er sich mit einem formvollendeten Bittritual an den Gastgeber. In der Phäakenszene ist Odysseus unsichtbar, so daß er nicht wie ein gewöhnlicher Gast auf der Schwelle verharren kann, bis der Wirt ihn bemerkt. Zwar hält er bei seiner Ankunft einen Augenblick inne, um die Umgebung zu betrachten, aber da die Anwesenden ihn nicht sehen können, hat dieses Verhalten keinen Einfluß auf den Kontakt zum Gastgeber. Odysseus wird erst wieder sichtbar, als er 27 Zum Gebrauch der Termini »Hikesie« und supplicatio s. o. S. 58. 28 Dazu GOULD (1973). 29 Wenn ein wirkliches Umfassen der Knie nicht opportun erscheint, wie beim Zusammentreffen von Odysseus und Nausikaa, kann es durch eine entsprechende Äußerung des Flehenden, d.h. einen performativen Sprechakt, ersetzt werden, vgl. Hom. Od. 6,149 (Odysseus zu Nausikaa): GOUNOÅMAISEoNASSA; Hom. Od. 9,266f. (Odysseus zu Polyphem): TkSkGOÅNA¼KÎMEY . Das sonst gut bezeugte Berühren des Kinns wird in den homerischen Gastmahlszenen nicht erwähnt. 30 Die mögliche Gefahr, die Priamos bei einer Entdeckung droht, deutet Achill selbst an, als er seinem Gast ein Nachtlager anbietet (Hom. Il. 24,650-655). Auch die Traumerscheinung des Hermes warnt den schlafenden Priamos vor Agamemnon und den anderen Griechen (Hom. Il. 24,683-688), während von Achill, wie der Greis schon vor seinem Aufbruch ins feindliche Lager von Iris erfahren hat, nichts zu befürchten ist (Hom. Il. 24,184-187).
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Arete und Alkinoos erreicht hat und ihnen zu Füßen fällt (Hom. Od. 7,142f.). In der Polyphemszene wiederum ist beim Eintreffen des Odysseus kein Gastgeber anwesend, auf dessen Einladung er an der Türschwelle warten könnte. Die Griechen betreten die Höhle daher, ohne am Eingang Halt zu machen und richten statt dessen eine (verbale) Hikesie an den heimgekehrten Kyklopen, sobald dieser die Gäste bemerkt und Odysseus sich von seinem Schreck erholt hat.31 Die Hikesie, die den Wirt von den friedlichen Absichten seines unerwarteten Gastes überzeugen soll, bildet also bei Homer einen Ersatz für das Warten an der Türschwelle bzw. für eine gewöhnliche Begrüßung. Nachdem der Fremde entweder durch das Warten auf der Türschwelle oder durch eine Hikesie (supplicatio) um Aufnahme gebeten hat, erhebt ihn der Wirt in den Rang eines Gastfreundes.32 Diesen Vorgang (Element VII »Reception«) schlüsselt REECE in neun einzelne Handlungen auf: Der Wirt erblickt den Fremden (VIIa), zögert zunächst, ihn aufzunehmen (VIIb), erhebt sich von seinem Sitz (VIIc), nähert sich dem Fremden (VIId), gibt Befehl, die Pferde des Gastes zu versorgen (VIIe), ergreift den Gast bei der Hand (VIIf), heißt ihn willkommen (VIIg), nimmt ihm den Speer ab (VIIh) und führt ihn ins Haus (VIIi). Dabei differenziert REECE in seinem Schema nicht zwischen Elementen, die häufig beschrieben werden und solchen, die nur selten oder nur ein einziges Mal erscheinen. Setzt man voraus, daß ein bestimmtes Element, um als typischer Bestandteil einer homerischen Gastmahlszene gelten zu können, in mindestens der Hälfte der ausgewerteten Szenen in Ilias und Odyssee auftreten muß, so bleiben von den neun Elementen nur zwei: Der Wirt erblickt den Besucher (11 Erwähnungen nach REECE, 9 nach unserer Zählung, davon vier Sonderfälle)33 und führt ihn ins 31 Hom. Od. 9,259-271. Die ungewöhnliche Zurückhaltung der Gäste, die ihre Bittrede erst vortragen, nachdem sie vom Wirt angesprochen wurden, wird vom Dichter durch den Schrecken motiviert, den Odysseus und seine Gefährten beim Anblick des Ungeheuers empfinden. 32 Eine Ausnahme bildet Polyphem, der Odysseus und seine Gefährten nicht nur grob anfährt, sondern schließlich sogar mehrere der Griechen verschlingt. Diese Szene wird daher in der vorliegenden Arbeit als Antigastmahl eingestuft. 33 Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,195, Sonderfall: Nicht der Gastgeber Achill, sondern Patroklos erblickt die Boten); Machaon in Nestors Zelt (Hom. Il. 11,645, Sonderfall: Nestor erblickt Patroklos; es handelt sich um die zweite Ankunft innerhalb der Gastmahlszene); Priamos bei Achill (Hom. Il. 24,480-484); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,118); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,34); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,22, Sonderfall: Nicht der Gastgeber Menelaos, sondern sein Herold erblickt die Gäste); Her-
3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
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Haus (9 Erwähnungen nach beiden Zählungen, davon drei Sonderfälle).34 Berücksichtigt man angesichts der wichtigen Rolle der Odyssee auch solche Details, die in mindestens der Hälfte der odysseischen Bewirtungen erscheinen (wir zählen elf odysseische Szenen, REECE verzeichnet zwölf), so erweitert sich die Gruppe der typischen Elemente nur um eins (VIId »Host approaches the visitor«), das nach beiden Zählungen sechsmal in der Odyssee und keinmal in der Ilias erscheint.35 Von den übrigen Bestandteilen kommt nach REECES Zählung allenfalls das Element VIIf »Wirt ergreift die Hand des Gastes« in Betracht, das zwar nur in knapp einem Viertel der odysseischen Szenen erwähnt wird (drei odysseische Szenen nach unserer mes bei Kalypso (Hom. Od. 5,77f.); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,144f.); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,29, Sonderfall: Die Hunde erblicken den »Bettler« Odysseus). REECE rechnet auch den Besuch von Nestor und Odysseus in Phthia und von Telemach bei Eumaios ein, wo aber nicht das eigentliche Erblicken der Gäste, sondern nur das staunende Aufstehen des Wirts beschrieben wird, Hom. Il. 11,777; Hom. Od. 16,12). Ebenso zählt er den (ohne Mahl verlaufenden) Besuch von Thetis bei Hephaist hinzu (Hom. Il. 18,382f.), während er den Aufenthalt des Machaon bei Nestor nicht berücksichtigt. Das Erblicken des Fremden wird mit unterschiedlichen Formulierungen wiedergegeben, die nur darin übereinstimmen, daß sie eine Form von ÒRjVenthalten. 34 Festmahl für Aias (Hom. Il. 7,311f., Sonderfall: die Griechen führen Aias zum Zelt des Achill); Beratung der Heerführer vor der Presbeia (Hom. Il. 9,89f.); Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,199); Machaon bei Nestor (Hom. Il. 11,646, Sonderfall: Nestor führt den nachträglich eintreffenden Boten Patroklos ins Zelt); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom. Il. 11,778); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,125); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,43, Sonderfall: die Diener des Menelaos führen die Gäste ins Haus); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,49); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,84). REECE rechnet den Besuch von Thetis bei Hephaist (Hom. Il. 18,387f.) und, mit Einschränkungen, den des Hermes bei Kalypso hinzu (Hom. Od. 5,91: hier führt Kalypso den Hermes aber nicht in die Höhle, sondern fordert ihn auf, näherzutreten) ebenso den Besuch des Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,25f. und 41). Andererseits läßt er das Mahl für Aias, die Beratung der Heerführer vor der Presbeia und den Besuch des Theoklymenos bei Telemach aus. Das Hineinführen des Gastes erscheint nur in der Bewirtung des Machaon durch Nestor, wo Patroklos nachträglich als Bote eintrifft, und in der Erzählung von Nestors Besuch in Phthia in einer übereinstimmenden Formulierung, S. Hom. Il. 11,646WD oGEXEIRÏWL¤N = 11,778. An den übrigen Stellen werden Formen von oGV bzw.E»SjGV in unterschiedlichen Satzkonstruktionen verwendet. 35 Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,120); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,36); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,230); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,312); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,33f: Eumaios kommt dem von den Hunden angegriffenen Odysseus zu Hilfe); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,14). REECE, der nicht zwischen den Bewirtungen der Gefährten und der Bewirtung des Odysseus selbst bei Kirke trennt, zählt auch den Besuch des Telemach bei Menelaos mit, wo sich aber nicht der Wirt den Besuchern nähert, sondern der Herold andere Diener zusammenruft (Hom. Od. 4,37f.).
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
Zählung, vier bei REECE), in der Ilias jedoch nach unserer Zählung in fast der Hälfte (zwei von fünf) der Szenen erscheint.36 Der Kernbestand eines homerischen Empfangs (Element VII bei REECE) lautet also: a) Der Wirt erblickt den Gast (VIIa bei REECE) b) Der Wirt nähert sich dem Gast (VIId bei REECE; nur in der Odyssee
vorkommend) c) Der Wirt führt den Gast ins Haus (VIIi bei REECE) Die übrigen von REECE angegebenen Elemente »Zögern des Wirtes« (Nach unserer Zählung 1 x Ilias, 2 x Odyssee,37 REECE rechnet das Zögern des Achill beim Empfang des Priamos nicht mit), »Aufstehen des Wirtes« (3 x Ilias, 1 x Odyssee nach beiden Zählungen),38 »Versorgung der Pferde« (nach unserer Zählung 2 x Ilias, 1 x Odyssee,39 REECE rechnet das Ausschirren der Pferde bei der Bewirtung des Machaon und des Priamos nicht 36 Machaon bei Nestor (Hom. Il. 11,646, Sonderfall: Nestor führt Patroklos ins Zelt, es handelt sich um die zweite Ankunft während einer Szene); Nestor und Odysseus in Phthia (Hom Il. 11,778); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,121); Telemach bei Nestor (Hom. Od. 3,35); Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,415). Nach REECES Zählung 3 Erwähnungen in der Ilias, 4 in der Odyssee. In der Ilias rechnet er den nicht als Mahl dargestellten Besuch von Thetis bei Hephaist ein (Hom. Il. 18,384 und 423), ebenso wie die Begegnung von Priamos und Achill (Hom. Il. 24,515). Hier gehört der Handschlag jedoch, genauso wie bei dem von REECE ebenfalls mitgezählten Zusammentreffen des Odysseus mit den Phäaken, nicht zum Begrüßungsritual, sondern bildet den Abschluß der Hikesie (supplicatio), wie er auch bei Bittritualen in anderen Szenen belegt ist. Das Ergreifen der Hand darf hier also ebensowenig als selbständiges Element gezählt werden wie der Fußfall oder das Umfassen der Knie. Außerdem rechnet REECE den Besuch des Telemach bei Eumaios ein, wo der Sauhirt die Hand des Gastes aber nicht ergreift, sondern sie küßt (Hom. Od. 16,15f.). Dafür läßt er den Besuch des Machaon bei Nestor und des Odysseus bei Autolykos unberücksichtigt. 37 Achill zögert anfangs, Priamos’ Hikesie anzunehmen (Hom. Il. 24,507f.); der Herold des Menelaos zögert, Telemach aufzunehmen (Hom. Od. 4,26-29); die Phäaken zögern, Odysseus aufzunehmen (Hom. Od. 7,153-166). 38 Für das Aufstehen des Wirtes verwenden die Dichter in drei Fällen Formelverse nach dem Muster TAF£ND mNÎROUSEplus Subjekt (Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,193; Nestor und Odysseus in Phthia, Hom. Il. 11,777 und Telemach bei Eumaios, Hom. Od. 16,12). Abweichend gestaltet ist nur der Besuch des Patroklos im Zelt des Nestor. Hier handelt es sich um die zweite Ankunft während einer Gastmahlszene, s. Hom. Il. 11,645: TÏND»D£NÒGERAIÏWmPÏYRÎNOU«RTOFAEINOÅ. 39 Versorgung der Pferde des Nestor bei der Rückkehr zum Zelt (Hom. Il. 11,620f.); Versorgung der Pferde und Esel des Priamos am Zelt des Achill (Hom. Il. 24,576); Versorgung der Pferde des Telemach in Sparta (Hom. Od. 4,39-42).
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mit), »Willkommensgruß« (Nach unserer Zählung 6 x Odyssee, 1 x Ilias.40 REECE zählt die beiden einladenden Rufe der Kirke nicht mit) und »Abnehmen des Speeres« (Nach beiden Zählungen 0 x Ilias, 2 x Odyssee41) gehören dagegen nicht zu den Kernelementen. Nur in drei Fällen, bei der Lösung Hektors, beim Besuch Telemachs bei Menelaos und bei der Ankunft des Odysseus auf Scheria, zögern die Anwesenden, den Fremden aufzunehmen. Achills Zaudern ist vor dem Hintergrund anderer Hikesien zwischen Kriegsgegnern, bei denen der Angeflehte die Bitte des Gegners akzeptieren, oder, häufiger, sie ablehnen kann, zu betrachten. Daß es sich bei den beiden anderen Fällen um ein unübliches Verhalten handelt, ergibt sich aus den Worten des phäakischen Greises (Hom. Od. 7,159f.) und dem Dialog des Menelaos mit Eteoneus, der zunächst überlegt, Telemach und Peisistratos fortzuschicken. Für dieses Ansinnen tadelt Menelaos den Herold, der selbst oftmals die Gastfreundschaft fremder Menschen genossen habe, und fordert ihn auf, die Besucher hereinzuführen (Hom. Od. 4,30-36). Die freundliche Gesinnung des Menelaos zeigt sich auch an der ausführlich dargestellten Pflege der Pferde, die er anordnet. Die Diener spannen die Tiere ab, binden sie an den Krippen an und werfen ihnen mit Gerste vermischten Hafer vor. Sodann lehnen sie den Wagen an die Wand (Hom. Od. 4,39-42). Gewöhnlich reisen die Fremden in den homerischen Epen auf dem Wasserweg oder zu Fuß, so daß eine Versorgung von Reittieren selten erforderlich ist. Bei den beiden anderen Gelegenheiten, in denen Zug- und Lasttiere erwähnt werden, dem Besuch des Machaon bei Nestor und des Priamos bei Achill, beschreibt der Dichter nur das Ausschirren des Gespanns (Hom. Il. 11,620f. und Hom. Il. 24,576). Die ungewöhnlich ausgiebige Versorgung der Pferde am Hof des Menelaos unterstreicht so dessen Gastfreundschaft und hebt sie von dem unwirschen Verhalten des Herolds ab. Das selten dargestellte Abnehmen des Speeres gehört zu den Details der Begrüßungsphase, die in den späteren Epen nicht mehr aufgegriffen werden. Bei Homer erfolgt diese Höflichkeitsgeste, während der Gast zum
40 Presbeia zu Achill (Hom. Il. 9,197f.); Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,123f.); Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,87-91); Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,231); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,313); Odysseus bei Eumaios (Hom. Od. 14,37-47); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,23-29). 41 Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,121); Telemach bei Eumaios (Hom. Od. 16,40).
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
Festsaal geleitet wird (2 Belege: Hom. Od. 1,121: DJATO XjLKEON GKOW= Hom. Od. 16,40). Nachdem der Fremde das Haus betreten hat, bietet ihm der Wirt einen Sitzplatz an, der seinen persönlichen Möglichkeiten entspricht (Element VIII »Seat« bei REECE). Telemach läßt Athene/Mentes auf einem YRÎNOW mit Fußschemel Platz nehmen, über den er ein Tuch breitet (Hom. Od. 1,130f.); der in märchenhaftem Reichtum residierende Alkinoos führt Odysseus zu einem glänzenden, offenbar mit Silber beschlagenenen Sessel (Hom. Od. 7,169, vgl. 7,162), und der Schweinehirt Eumaios häuft für den als Bettler getarnten Odysseus Reisig auf, das er mit einem Ziegenfell bedeckt (Hom. Od. 14,49-51). Das Element erscheint insgesamt in vier von sieben iliadischen sowie in zehn von elf odysseischen Gastmählern (Stellenangaben s.o. S. 67) und gehört damit zu den häufigsten Bestandteilen der homerischen Mahlszenen. Ausgelassen wird es nur bei den knapper dargestellten Mählern im Zelt des Agamemnon (es handelt sich um die Beratung der Heerführer, Hom. Il. 2,402-441, das Siegesmahl für Aias, Hom. Il. 7,311-344 und die Beratung vor und nach der Presbeia, Hom. Il. 9,89181 und 669-713) und bei Autolykos (Hom. Od. 19,413-427). Das eigentliche Mahl (Element VII in unserem Schema, Element IX »Feast« bei REECE), das den Kern einer Bewirtungsszene darstellt, unterteilt REECE in die drei Abschnitte »Preparation (IXa)«, »Consumption (IXb)« und »Conclusion (IXc)«, von denen das Element IXa nach unserer Zählung in allen Szenen erscheint (nach REECE sind es elf Nennungen in der Odyssee, vier in der Ilias). In der Ilias übernehmen mit zwei Ausnahmen (die Herolde beim Umtrunk in Agamemnons Zelt, Hom. Il. 9,174f., und die Magd des Nestor beim Besuch Machaons, Hom. Il. 11,624-641) nahe Angehörige und Freunde des Gastgebers, zuweilen unterstützt vom Hausherrn selbst, die Vorbereitung. In den fünf vornehmen Haushalten der Odyssee werden die Vorbereitungen dagegen meist von dem in mehrere Gruppen organisierten Gesinde übernommen, dessen Tätigkeit der Dichter mit fünf bis acht Formelversen beschreibt. Zunächst reicht eine Dienerin den Gästen Wasser zur Reinigung der Hände42 und stellt einen Tisch be-
42 Das Übergießen des Wassers wird beim Umtrunk nach dem Mahl im Zelt des Agamemnon (Hom. Il. 9,174f.) und beim Besuch der Athene in Ithaka (Hom. Od. 1,146) auch von KRUKEW übernommen, vgl. auch den zweiten Tag des Gastmahls bei Nestor (Hom. Od. 3,338).
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reit, anschließend trägt die Wirtschafterin Brot und andere Speisen auf.43 In zwei Szenen (Athene in Ithaka, Hom Od. 1,141f. und Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,57f.) bringt sodann ein Zerleger Platten mit Fleisch und goldene Trinkbecher, woraufhin auf Ithaka ein Herold den Wein einschenkt.44 Die entsprechenden Verse lauten: XRNIBAD mMF¸POLOWPROXΡPXEUEFROUSA KALXRUSE¸×ÇPRmRGUROIOLBHTOW N¸CASYAIPARkDJESTNTjNUSSETRjPEZAN SºTOND A»DO¸HTAM¸HPARYHKEFROUSA E½DATAPÎLL PIYEºSAXARIZOMNHPAREÎNTVN DAITRÏWDKREI¤NP¸NAKAWPARYHKENmE¸RAW PANTO¸VNPARkDSFIT¸YEIXRÃSEIAKÃPELLA KRUJD AÆTOºSINYjM PXETOO»NOXOEÃVN
Die Organisation der homerischen Dienerschaft in einzelne Gruppen, die von REECE nicht hervorgehoben wird, hat auf die Gastmahlszenen der späteren Epik großen Einfluß ausgeübt und gehört aus diachroner Perspektive zu den am häufigsten wiederkehrenden Elementen. Während der homerische Dichter die einzelnen Klassen oft durch unterschiedliche Bezeichnungen voneinander abgrenzt (s.o. S. 77f.), erzielen seine Nachfolger denselben Effekt durch gliedernde Partikeln (O¼ -O¼O¼ MN -O¼Dalii - alii; hi - hi; pars - pars etc.), die die straffe Organisation noch stärker betonen. Bei Homer erscheint diese Art der Einteilung nur bei den vier Mägden im Palast 43 Athene bei Telemach (Hom. Od. 1,136-140); Telemach bei Menelaos (Hom. Od. 4,52-56); Odysseus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,172-176); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,368-372); Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,91-95). 44 Andere Nahrungsmittel als Fleisch, Brot und Wein werden nur beim Besuch des Patroklos im Zelt des Nestor und beim Aufenthalt der Gefährten des Odysseus bei Kirke geschildert (Hom. Il. 11,638-641 und Hom. Od. 10,234-236). In beiden Fällen wird geriebener Käse mit pramnischen Wein vermengt; im Fall des Nestor gehören auch Honig, Zwiebeln und Gerstenmehl zu den bereitgestellten Speisen (Hom. Il. 11,630f., bei der zweiten Zubereitung durch Kirke wird nur der Name des Tranks, nicht aber seine Zusammensetzung genannt, Hom. Od. 10,316). In beiden Szenen handelt es sich um Sonderfälle. Bei Nestor werden die Speisen nicht für den in Eile befindlichen Patroklos bereitgestellt, der sogar einen Sitzplatz ablehnt und gleich wieder aufbrechen will, nachdem er den Gast des Nestor, über dessen Identität er Achill Auskunft geben soll, als Machaon erkannt hat (Hom. Il. 11,648-654), sondern für den erschöpft heimkehrenden Hausherrn Nestor. Kirke bereitet den Ankömmlingen einen Zaubertrank, der sie zusammen mit dem Rutenschlag in Schweine verwandelt (Hom. Od. 10,234-243), so daß die »Bewirtung« auch hier nicht in üblicher Weise zu Ende gebracht wird.
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der Kirke, deren Gleichartigkeit (bei allen handelt es sich um Nymphen) durch die Beiordnung unterstrichen wird (Hom. Od. 10,352-359) sowie bei den die Freier bewirtenden Dienern, die Athene/Mentes beobachtet, während sie auf Einlaß wartet.45 Die in den Formelversen beschriebenen, nur mit ihrer Gruppenbezeichnung genannten Diener verrichten ihre Tätigkeit stets ohne Fehl und Tadel und ohne vom Hausherrn dazu aufgefordert oder überhaupt angesprochen zu werden. Durch eine direkte Anrede wird bei Homer während der Mahlvorbereitung nur der phäakische Herold Pontonoos hervorgehoben, der nach der ersten Beköstigung des Odysseus auf Anweisung des Alkinoos Wein für eine Trankspende mischt.46 Dabei handelt es sich ausdrücklich um eine auf die Ankunft des Odysseus abgestimmte, dem Zeus Hikesios gewidmete Libation, deren außergewöhnlicher Charakter durch die sonst unübliche Anrede an den Herold unterstrichen wird. Auf den Genuß von Speisen und Getränken (Element VIIb in unserem Schema, »Consumption«, Element IXb REECE) geht der Dichter in den homerischen Gastmahlszenen nur dreimal näher ein (beim Besuch des Hermes bei Kalypso sowie bei den Aufenthalten des Odysseus bei den Phäaken und bei Eumaios).47 Der Götterbote verzehrt Nektar und Ambrosia, die typische Speise der Himmlischen (Hom. Od. 5,92-94), Odysseus bittet die Phäaken, ihn erst zu befragen, nachdem er gespeist habe (Hom. Od. 7,215-221), und der »Bettler« Odysseus verzehrt in der Hütte des Eumaios schweigend das gebratene Ferkel, das ihm der Sauhirt vorsetzt, wobei er den lebhaften Klagen lauscht, die der treue Diener über das Verschwinden seines Herrn äußert (Hom. Od. 14,109f.).48 In allen Fällen illustriert die ausdrückliche Dar-
45 Hier sind gliedernde Ausdrücke und Gruppenbezeichnungen miteinander verbunden, s. Hom. Od. 1,109-112: KRUKEW D AÆTOºSI KA¹ ÑTRHRO¹ YERjPONTEW O¼ MN oR OÁNONMISGONN¹KRHTRSIKA¹ÉDVRO¼D AÌTESPÎGGOISIPOLUTRTOISI TRAPZAWN¸ZONKA¹PRÎTIYENTO¹DKRAPOLLkDATEÅNTO 46 Hom. Od. 7,179-183: »1ONTÎNOE KRHTRA KERASSjMENOW MYU NEºMON PlSIN mNk MGARON ¾NA KA¹ %I¹ TERPIKERAÃN¡ SPE¸SOMEN ÔW Y ¼KT×SIN pM
A»DO¸OISIN ÑPHDEº« ªW FjTO 1ONTÎNOOW D MEL¸FRONA OÁNON K¸RNA N¢MHSEND oRAPlSINPARJjMENOWDEPjESSIN. Dazu oben S. 76. 47 Hom. Od. 5,94; Hom. Od. 7,177; Hom. Od. 14,109f. Vgl. aber auch das Antigastmahl beim Kyklopen, Hom. Od. 9,292f. und das nicht als geschlossene Gastmahlszene dargestellte Gelage der Freier, bei dem die Männer schließlich blutiges Fleich verzehren, Hom. Od. 20,348. 48 Als er kurze Zeit später in seinem eigenen Haus auf die tafelnden Freier trifft, muß er seinen Anteil an den Speisen auf der Türschwelle einnehmen, während die Festgesell-
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stellung der Nahrungsaufnahme eine Besonderheit, die in einer auf den Gast abgestimmten Nahrung oder einem ungewöhnlichen Verhalten besteht. Sonst wird der Speisevorgang meist nur in einer kurzen Bemerkung, zuweilen auch nur aus dem Rückblick wiedergegeben; gelegentlich fällt er auch ganz aus.49 An die Stelle des Genusses von Speisen und Getränken tritt in sieben Fällen (3 x Ilias, 4 x Odyssee) der Formelvers O¼ D P
ÑNE¸AY TOºMAPROKE¸MENAXEºRAW½ALLONder nur das Ausstrecken der Hände, nicht aber das Speisen selbst darstellt.50 Die knappe Behandlung oder gar Auslassung dieses Vorgangs, der sich aus dem Zusammenhang leicht ergänzen läßt, zeigt das Streben des Dichters nach Raffung, indem er die Vorgänge nicht in allen Einzelheiten, sondern nur anhand ausgewählter Punkte darstellt. Das Ausstrecken der Hände ist in der späteren Epik nicht rezipiert worden, ganz im Gegensatz zu dem unmittelbar folgenden, mit PE¸ eingeleiteten Formelvers, der den Übergang zu den Aktivitäten nach dem Mahl bildet. Er erscheint in allen von uns berücksichtigten homerischen Gastmahlszenen (mit Ausnahme des Besuchs bei Autolykos, wo auch keine Aktivitäten nach dem Mahl erscheinen) und besitzt meist die Form AÆTkRPE¹PÎSIOWKA¹DHTÃOWJRON
NTO, wobei unter besonderen Umständen (z.B. wenn die Teilnehmer nur Getränke zu sich nehmen) Abwandlungen möglich sind.51 schaft ihr Mahl bereits beendet und sich den Darbietungen des Sängers zugewandt hat (Hom. Od. 17,339-341 und 356-358). 49 Die von REECE (1993) 24 angeführten Odysseestellen 9,162 (Rast des Odysseus und seiner Gefährten auf der Ziegeninsel) 9,557 (Rast nach der Flucht aus Polyphems Höhle); 10,184 (Rast des Odysseus und seiner Gefährten in der Bucht der Kirkeinsel); 12,30 (Rast des Odysseus und seiner Gefährten auf Aiaia nach der Rückkehr aus der Unterwelt) sind für die vorliegende Untersuchung nicht aussagekräftig, da es sich nicht um Gastmahlszenen handelt. 50 Beratung der Heerführer, Hom. Il. 9,91; Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,221; Priamos bei Hektor, Hom. Il. 24,627; Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,149; Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,67; Telemach bei Eumaios, Hom. Od. 16,54; Theoklymenos bei Telemach, Hom. Od. 17,98. 51 Hom. Il. 2,432 (Agamemnon bewirtet die Heerführer); Hom. Il. 7,323 (Siegesmahl für Aias); Hom. Il. 9,92 (Beratung der Heerführer); Hom. Il. 9,222 (Gesandtschaft zu Achill); Hom. Il. 11,642 (Nestor bei Machaon: Abwandlung des Formelverses: T£ D PE¹OÌNP¸NONT mFTHNPOLUKAGKAD¸CAN); Hom. Il. 11,780 (Nestor und Odysseus in Phthia: Abwandlung des Formelverses: AÆTkR PE¹ TjRPHMEN DHTÃOW D POTTOW); Hom. Il. 24,628 (Priamos bei Achill); Hom. Od. 1,150 (Athene bei Telemach); Hom. Od. 3,67 (und 3,473) (Telemach bei Nestor); Hom. Od. 4,68 (und 15,143) (Telemach in Sparta); Hom. Od. 5,95 (Hermes bei Kalypso: Abwandlung: AÆTkR PE¹ DE¸PNHSE KA¹ RARE YUMÏN DVD); Hom. Od. 10,237 (Odysseus’ Gefährten bei Kalypso: Abwandlung: AÆTkR PE¹ D¤KN TE KA¹ KPION); Hom. Od. 10,318 (Odysseus
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Die auf diese Weise eingeführten Aktivitäten nach dem Mahl bestehen in allen Fällen aus einer Unterhaltung zwischen Gastgeber und Gast, die in adligen Häusern durch die Darbietung eines Sängers ergänzt werden kann. Ein zusätzlicher Umtrunk nach der Mahlzeit (Element X »After dinner drink« bei REECE) kommt dagegen nur in einer iliadischen Gastmahlszene (Hom. Il. 9,224: Gesandtschaft zu Achill) und in zwei Szenen der Odyssee vor (Odysseus beim Kyklopen, Hom. Od. 9,345-361; Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,112f.). In der Kyklopenszene, in der Odysseus dem menschenfressenden Unhold Wein anbietet, der ihn betäuben und wehrlos machen soll, handelt es sich jedoch um ein Antigastmahl, so daß als Belege in gewöhnlichen Bewirtungen nur zwei Stellen übrigbleiben. Der Umtrunk bildet demnach keinen typischen Bestandteil des Mahls, sondern drückt Wohlwollen gegenüber dem Tischgenossen aus. Odysseus trinkt Achill freundlich zu, bevor die Gesandtschaft ihre heikle Botschaft ausrichtet, und Eumaios reicht dem »Bettler« Odysseus einen Becher, aus dem er selbst getrunken hat. Ein ganz ähnliches Verhalten kommt in der Odyssee auch einmal außerhalb einer Gastmahlszene vor, als der Freier Amphinomos dem »Bettler« Odysseus nach seinem Sieg über Iros zutrinkt (Hom. Od. 18,119123)52 und sich so von den übrigen Usurpatoren absetzt. Musik und Gesang gelten in den homerischen Epen als so selbstverständlicher Bestandteil eines Festschmauses, daß der als Bettler heimkehrende Odysseus die Phorminx als »von den Göttern gegebene Begleiterin der Speise« bezeichnen kann.53 Trotz der damit implizierten weiten Verbreitung musikalischer Unterhaltung erscheinen in der Ilias und Odyssee bei Kalypso: Abwandlung: AÆTkR PE¹ D¤KN TE KA¹ KPION); Hom. Od. 14,111 (Odysseus bei Eumaios: Abwandlung: AÆTkRPE¹DE¸PNHSEKA¹RAREYUMÏNDVD vgl. in der Fortführung des Aufenthalts auch 14,454 und 15,303, wo der Vers in seiner häufigsten Form erscheint); Hom. Od. 16,55 und 480 (Telemach und Eumaios), Hom. Od. 17,99 (Theoklymenos bei Telemach). Vgl. auch Hom. Od. 8,72 und 485 (weiterer Verlauf des Aufenthalts bei den Phäaken) sowie im Rahmen eines Antigastmahls Hom. Od. 9,296f. (Fraß des Kyklopen: Abwandlung des Formelverses: AÆTkRPE¹,ÃKLVC MEGjLHN MPLSATO NHDÄN mNDRÎMEA KR DVN KA¹ P oKRHTON GjLA P¸NVN). 52 Die von REECE (1993) 25 ebenfalls aufgeführte Stelle Hom. Od. 20,260-262 (Heimkehr des Odysseus) kann nicht als »After dinner drink« gewertet werden, da der Umtrunk zwischen dem Verzehr der SPLjGXNA (Hom. Od. 20,260) und dem Verzehr des Fleisches (Hom. Od. 20,279-284), also während des Mahls, stattfindet. 53 Hom Od. 17,270f.: N D FÎRMIGJ PÃEI N oRA DAIT¹ YEO¹ PO¸HSAN TA¸RHN. Vgl. auch die Äußerung des Alkinoos, Hom. Od. 8,98f.: DHMNDAITÏWKE KORMEYAYUMÏNÚSHWFÎRMIGGÎWY DAIT¹SUNORÎWSTIYALE¸×.
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nur Phemios und Demodokos als berufsmäßige Sänger, deren Vorträge wörtlich (Hom. Od. 8,266-366) oder in groben Zügen referiert werden (Hom. Od. 1,325-327 [vgl. die Ankündigung des Gesangs Hom. Od. 1,153155]; Hom. Od. 8,72-82 und 8,499-520). In den meisten Fällen verzichtet der Dichter dagegen auf eine ausführliche Darstellung musikalischer Vorträge nach dem Mahl.54 REECE setzt den Sänger deshalb nicht als eigenes Element an, sondern ordnet ihn einer allgemeineren Kategorie ›Unterhaltung‹ (Element XIII »Entertainment«) zu, die außer Musik und Gesang auch tänzerische und sportliche Darbietungen sowie das Erzählen von Geschichten umfassen kann.55 Für eine Tanzvorführung direkt nach dem eigentlichen Mahl gibt es jedoch nur einen sicheren homerischen Beleg (Hom. Od. 1,152f.: Die Freier verlangen nach Tanz und Gesang),56 obwohl der Tanz – wie der Gesang – in allgemeinen Äußerungen aus der Figuren- und der auktorialen Erzählperspektive als »Schmuck« und übliche Begleitung von Gastmählern gewertet wird (s. Hom. Od. 1,152: MOLPT
ÑRXHSTÃW TE Tk GjR T mNAYMATA DAITÎW und die Anordnung des Odysseus, den Ithakesiern durch Musik und Tanz ein Hochzeitsfest vorzutäuschen, Hom. Od. 23,133-136). Angesichts der wenigen ausführlichen Beschreibungen kann man die Tanzdarbietungen aber kaum als typisches Strukturelement einer homerischen Gastmahlszene betrachten. Die unterschiedliche Bedeutung, die der Dichter (trotz der scheinbaren Gleichordnung von Gesang und Tanz in Hom. Od. 1,152) beiden Unterhaltungsformen beimißt, ergibt sich aus ihrer Funktion für den Verlauf des Epos. Zwar bilden Gesang und Tanz gleichermaßen den »Schmuck« eines Festmahls, doch nur der Gesang wird eingesetzt, um dem Leser wichtige 54 Beim Besuch des Telemach in Sparta wird zwar ein berufsmäßiger Sänger erwähnt (METkDSFINMLPETOYEºOWmOIDÏWFORM¸ZVNHom. Od. 4,17f.), der jedoch nicht nach der Bewirtung der Gäste auftritt, sondern die schon im Gang befindlichen Hochzeitsfeierlichkeiten verschönt. Der mOIDÎW gewinnt hier kein Eigengewicht, sondern dient dazu, die festliche Stimmung am Hof des Menelaos zu verdeutlichen. 55 REECE (1993) 28f.: »The after-dinner entertainment takes many forms. Song and dance are common accoutrements of the feast [...] but in the grandest palaces, the entertainment may also include exhibitions of athletic contests [...] or a special type of dancing [...]. But by far the most prevalent form of entertainment after the feast is the telling of stories, sometimes by a professional bard to the accompaniment of a lyre [...], sometimes by the host [...], and sometimes by the guest.« 56 Vgl. dazu auch Hom. Od. 4,18f. den vor der Bewirtung erwähnten Auftritt der Gaukler beim Hochzeitsfest im Palast des Menelaos sowie Hom. Od. 8,262-265 und 8,370-380 den im weiteren Verlauf von Odysseus’ Aufenthalt stattfindenden Tanz der phäakischen Jünglinge. Dieser soll die Geschicklichkeit der Knaben unter Beweis stellen.
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
Hintergrundinformationen zu liefern oder gar die Handlung des Epos voranzutreiben. Am Hof der Phäaken, wo sowohl Tanz als auch Gesang ausführlich geschildert werden, ist es nicht die tänzerische Leistung der Jünglinge, sondern der Gesang des Demodokos, der schließlich zur Identifikation des Odysseus und damit zu seiner Heimkehr führt. Ähnliches gilt für die Situation in dem von den Freiern besetzten Festsaal. Zwar wird auch hier der Tanz als Unterhaltungsform gewählt, doch nur der Gesang des Phemios über die NÎSTOI der Trojakämpfer erlangt eine konkrete, über die gegenwärtige Situation hinausweisende Bedeutung. Indem er einen Bezug zum Schicksal des Odysseus herstellt, regt er Penelope zu ihrer bekümmerten Äußerung und Telemach zu seinem ersten selbstbewußten Auftreten an (Hom. Od. 1,337-359) und verweist den Leser damit auf die parallel laufende Heimkehrhandlung. Die Darbietung des Sängers ist in den homerischen Epen eng mit den Geschichten verwandt, die Gastgeber oder Gast einander vortragen. Besonders die Erzählkunst des Odysseus wird rühmend mit dem Vortrag eines mOIDÎW verglichen, der seine Hörer verzaubert (S. den Bericht, den Eumaios der Penelope von seinem Gespräch mit Odysseus gibt, Hom. Od. 17,514-521). Wie der Gesang, so können auch die Geschichten dazu dienen, die Handlung des Epos voranzutreiben; vgl. die Erzählung der Athene, die sich in der Gestalt des Mentes von Telemach bewirten läßt und ihn dabei zur selbständigen Suche nach seinem Vater ermuntert (Hom. Od. 1,253305) oder die Äußerungen des Eumaios (s. bes. 14,144), die die Ankündigung der Athene bestätigen, daß der Sauhirt Odysseus freundlich gesinnt sei (Hom. Od. 13,404-411), wodurch er als potentieller Verbündeter in Frage kommt. REECE (1993) 28f. trennt in seiner Analyse zwischen «telling of stories«, das er als eine Spielart des Elements XIII (»After-dinner Entertainment«) auffaßt, und einem davon unabhängigen »Informationsaustausch«, der ein eigenes Element bilde (Element XII: »Exchange of information«). Als »storytelling« klassifiziert er außer den Liedern der Sänger die Erzählungen des Nestor über seine Heimkehr (Hom. Od. 3,102-198) und über den Tod des Agamemnon (Hom. Od. 3,247-312), den Bericht des Menelaos über seine Rückkehr (Hom. Od. 4,76-112) und seine Begegnung mit Proteus (Hom. Od. 4,347-586), die Kindheitsgeschichte des Eumaios, die dieser dem Bettler vorträgt (Hom. Od. 15,383-494) sowie die Verse Hom. Od. 4,212-289, die jedoch nicht nur die Erzählung der Helena über Odysseus’
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Spähgang nach Troja, sondern auch ein kurz erwähntes Mahl, einen Umtrunk der Festgesellschaft und ein Gespräch zwischen Helena und Menelaos enthalten. Ferner gehören nach REECE die Apologoi des Odysseus (Hom. Od. 9,1-12,453) und innerhalb dieser der nur beiläufig erwähnte Tatenbericht vor Aiolos (Hom. Od. 10,14-16) sowie Odysseus’ Lügengeschichten vor Eumaios (Hom. Od. 14,191-359 und 462-506) und die Verse Hom. Od. 18,428-430 (sic, es handelt sich offenbar um ein Versehen) in den Bereich des »Geschichtenerzählens.« Während die Kretergeschichte, die Odysseus dem Eumaios vorträgt, also als »Entertainment« (Element XIII) verstanden wird, stuft REECE (1993) 28 die ebenso erfundene Kretergeschichte vor Penelope (Hom. Od. 19,172248) als »exchange of information« ein (Element XII).57 Dieses Beispiel verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich aus einer Unterscheidung zwischen »storytelling« und »exchange of information« ergeben: Sowohl Eumaios als auch Penelope fassen die Lügengeschichten, die Odysseus bei seiner Heimkehr vorträgt, als ernsthaften, wenn auch unterhaltsam gestalteten Informationsaustausch auf, ebenso wie andere »Geschichten«, die ein Gast oder Gastgeber nach dem Mahl erzählen, stets auch der Selbstvorstellung und damit der Information dienen. Eine zusätzliche Schwierigkeit entsteht in REECES Schema dadurch, daß er die Identifizierung des Gastes, die sich im Laufe des Gesprächs ergibt und dem Wirt wichtige Informationen liefert, nicht unter das Element XII »Exchange of Information« eingliedert, sondern sie als separaten Bestandteil auffaßt (Element XI: »Identification«). Dieser gliedert sich nach REECE in die Befragung des Gastes durch den Wirt (XI a »Host questions the visitor«) und die Selbstvorstellung des Gastes (XI b »Visitor reveals his identity«). Diese Vorgänge unterscheiden sich jedoch weder aus erzähltechnischer noch aus inhaltlicher Sicht vom Rest des Wechselgesprächs, von dem sie daher nicht getrennt werden sollten. Überdies nimmt die Identifizierung des Gastes im Gespräch nur in der Odyssee eine zentrale und für den Fort57 Als weitere Beispiele für »Exchange of information« nennt REECE (1993) 28 die Verse Hom. Od. 14,115-147 (Eumaios erzählt dem vermeintlichen Bettler von seinem verschollenen Herrn Odysseus) und die Vermutungen über sein Schicksal (Hom. Od. 14,42-44 und 133-136), die Prophezeiungen des »Bettlers« über die Heimkehr des Odysseus vor Eumaios (Hom. Od. 14,149-164 und 321-333) und vor Penelope (Hom. Od. 19,269-307, 555-558, 583-587), die sehnsüchtigen Äußerungen Penelopes über Odysseus (Hom. Od. 19,124-161) und die Lügengeschichte des Odysseus vor Laertes (Hom. Od. 24,266-314).
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gang der Handlung entscheidende Stellung ein,58 während sie in der Ilias gar nicht vorkommt. Bei der Wechselrede von Thetis und Hephaist, die REECE (1993) 227 als Beleg für das Element »Identification« betrachtet (Hom. Il. 18,385f., 424-427 und 428-461), geht es nicht um die Identität der »Besucherin« Thetis, die der Gott sogleich erkennt und mit Namen anspricht, sondern um den Grund ihres Erscheinens (Hom. Il. 18,385 = 424: T¸PTE :TI TANÃPEPLE ¼KjNEIW MTERON D¤). Das Gespräch sollte daher nach REECES eigenen Kriterien als Bestandteil des Elements XII »Exchange of information« gewertet werden. Während ein – wie auch immer gearteter – Austausch von Erlebnissen und Meinungen in den meisten längeren Gastmahlszenen vorkommt, erscheint eine »Identifizierung« des Besuchers nur dann, wenn es sich tatsächlich um einen Fremden handelt. Daraus erklärt sich die Häufigkeit des Elements in der Odyssee, deren Thema die Heimkehr und schrittweise Wiedereinsetzung des zunächst unerkannten Odysseus in seinen alten Besitz bildet. In der Ilias hingegen, in der die Hauptpersonen einander vertraut sind und ohne Tarnung miteinander verkehren, ist keine Vorstellung der eigenen Person erforderlich. Da sich außerhalb der Odyssee kein besonderes Eigengewicht der Identifizierung eines Gastes nachweisen läßt, ist es nicht sinnvoll, diesen Vorgang als selbständiges Element zu werten. Statt dessen sollte er als ein möglicher Bestandteil der »Unterhaltung nach dem Mahl« aufgefaßt werden. Ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Einteilung der Gespräche zwischen Gastgeber und Gast ergeben sich bei den von REECE angesetzten Elementen »Visitor pronounces a blessing on the host« (Element XIV) und »Visitor shares in a libation or sacrifice« (Element XV). Beide erscheinen in den homerischen Epen nur selten59 und lassen sich nicht deutlich vonein58 Sie erscheint nach unserer Zählung in allen odysseischen Szenen außer den Besuchen des Hermes bei Kalypso (Hom. Od. 5,55-148: Gastgeberin und Besucher kennen sich gut); der Gefährten des Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,210-243: hier kommt es nicht zu Gesprächen, weil die Besucher in Schweine verwandelt werden); des Theoklymenos bei Telemach (Hom. Od. 17,84-166: hier haben sich Gast und Gastgeber schon früher kennengelernt) und des Odysseus bei Autolykos (Hom. Od. 19,413-427: Autolykos hat seinen Enkel Odysseus selbst eingeladen). 59 Ein Segen des Gastes wird nur in der Odyssee und auch hier nach REECES Zählung nur in drei Gastmahlszenen beschrieben (Hom. Od. 3,55-59: Telemach bei Nestor; Hom. Od. 7,148-150: Odysseus bei den Phäaken; Hom. Od. 14,51-54; 14,439-441; 15,340-342: Odysseus bei Eumaios). Eine Libation oder ein Opfer erscheint in der Odyssee ebenfalls dreimal und in der Ilias einmal im Rahmen einer Gastmahlszene. Stellenangaben oben S. 86f.).
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ander und von anderen Elementen trennen. Der Segen, den Athene/Mentor für Nestor spricht, gehört z.B. unmittelbar zu einer Libation, die Gast und Gastgeber gemeinsam darbringen. In der Phäakenszene wiederum bildet der Segenswunsch des Odysseus den Abschluß seiner Hikesie, mit der er die Phäaken um Hilfe bei der Heimkehr ersucht. Solche Anrufungen der Götter gehören zum Bestand des Bittrituals, von dem der Segen des Odysseus daher nicht gelöst werden sollte (s.u. S. 287f.). Unabhängig von einer Libation oder Hikesie erscheinen nur die beiden Segenswünsche, die der als Bettler getarnte Odysseus für Eumaios spricht, während dieser ihm einen Sitzplatz bereitet bzw. ihn am zweiten Tag seines Besuchs zu einem längeren Aufenthalt einlädt. Die guten Wünsche des Gastes sind also nicht an einen festen Platz im typischen Ablauf einer Bewirtungsszene gebunden, sondern können bei ganz verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen werden. Dasselbe gilt für Libationen und Opfer, die teils beim Eintreffen des Gastes schon im Gang sind, teils zur Mahlvorbereitung gehören und teils den Speisevorgang oder die Unterhaltung nach dem Mahl abschließen. Wenn letzteres der Fall ist, verwendet der homerische Erzähler einen mit PE¸eingeleiteten Formelvers, wie er ähnlich auch beim Abschluß der Nahrungsaufnahme vorkommt.60 Wegen der gelegentlich anzutreffenden Verbindung von Segenswunsch und Trankopfer, die beide den Respekt des Betenden bzw. Opfernden vor den Göttern ausdrücken, ist es für die Analyse sinnvoller, sie unter dem gemeinsamen Oberbegriff »religiöse Handlungen« zusammenzufassen, ohne sie an einer festen Stelle im Gastmahl einzuordnen. Den Abschluß des Mahls bildet in der Hälfte der homerischen Gastmahlszenen die Bereitung eines Nachtlagers und eine darauf folgende Phase der Ruhe und des Schlafes (nach unserer Zählung 3 Belege in der Ilias, 6 in der Odyssee; nach REECE 2 in der Ilias, 7 in der Odyssee).61 Ausgelassen 60 "ÆTkRPE¹SPEºSjNTEP¸ONY ÔSONYELEYUMÎW Hom. Od. 3,342 = Hom. Od. 7,184. 61 Beratung der Heerführer vor und nach der Presbeia, Hom. Il 9,713; Presbeia zu Achill, Hom. Il. 9,620-622 und 658-668; Priamos bei Achill, Hom. Il. 24,643-648 und 24,673-676; Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,396-403; Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 4,296-305; Odysseus bei den Phäaken, Hom. Od. 7,335-347; Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,347 (hier erscheint der Beischlaf von Gast und Gastgeberin als Ersatz für ein wirkliches ›Nachtlager‹); Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,518-533; Odysseus bei Autolykos, Hom. Od. 19,426f. REECE zählt in der Ilias die die Presbeia rahmende Beratung der Heerführer nicht mit, und rechnet in der Odyssee das Polyphemabenteuer hinzu (Hom. Od. 9,306 und 436: hier ist allerdings nicht von einem Nachtlager, sondern vom kummervollen Warten auf die Morgenröte die Rede), außerdem die Erwähnungen eines
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wird sie bei Homer, wenn die Teilnehmer noch vor Einbruch der Nacht auseinandergehen, wie z.B. Athene/Mentes, die wie ein Vogel entschwindet (Hom. Od. 1,319f.), wenn der Erzähler zu einer Parallelhandlung überwechselt (s. z.B. Hom. Il. 7,344f.: Siegesmahl für Aias und Versammlung der Trojaner) oder wenn es sich um eine knappe, auf wenige Punkte beschränkte Mahldarstellung handelt (s. Hom. Il. 11,769-790: rückschauender Bericht des Nestor über seinen Besuch in Phthia).62 Die Bereitung eines Bettes für die Nacht demonstriert bei Homer die Fürsorge des Wirtes für seinen Gast und markiert zugleich, wie auch in der nachhomerischen Epik, einen Ruhepunkt in der Handlung. In seltenen Fällen (zweimal in der Odyssee, einmal in der Ilias) geht der Herrichtung des Lagers eine ausdrückliche Bitte des Gastes voraus, die REECE als eigenes Element wertet (Element XVI: »Visitor asks to be allowed to sleep«). Es handelt sich um die Bitte des Priamos an Achill (Hom. Il. 24,635-642), um die Aufforderung von Athene/Mentor an Nestor, den Göttern zu opfern und sich zur Ruhe zu begeben (Hom. Od. 3,331-336) sowie um die Bitten Telemachs gegenüber Menelaos (Hom. Od. 4,294f.).63 Entsprechende Bitten erscheinen in der nachhomerischen Epik nicht, so daß sie aus diachroner Perspektive kein eigenständiges Element, sondern einen Übergang zwischen »Gesprächen nach dem Mahl« und dem »Nachtlager« darstellen. Zu den bisher genannten Elementen kommt die Übergabe von Geschenken, die in der Odyssee fünfmal, in der Ilias keinmal im Zusammenhang mit Gastmählern erwähnt wird64 (REECE zählt einen Beleg in der Ilias und Bettes bei der Heimkehr des Odysseus in den Büchern 18-23. Die Bewirtung bei Autolykos läßt er aus. 62 Nähere Angaben s. o. S. 102f. 63 REECE rechnet auch die Bitte des noch unerkannten Odysseus an Penelope ein, die aber nicht während einer Gastmahlszene, sondern während des Gesprächs stattfindet, das zur Wiedervereinigung des Paares führt (Hom. Od. 23,254-262). Nicht mitzuzählen ist auch der von REECE (1993) 213 und 220 aufgeführte Wortwechsel von Odysseus und Alkinoos und sowie die Äußerung des Eumaios gegenüber den anderen Hirten (Hom. Od. 11,373-384 und Hom. Od. 15,392-402). Zum einen handelt es sich dabei nicht um eine Ermunterung zum Schlaf, sondern im Gegenteil zur Fortsetzung des Gesprächs, zum anderen spricht nicht der Gast, sondern der Gastgeber diese Aufforderung aus. Richtig dagegen REECES (1993) 213 Hinweis auf Hom. Od. 11,330-332, wo Odysseus seinen (außerhalb der von uns definierten Gastmahlszene stattfindenden) Bericht über die Nekyia unterbricht und darauf hinweist, daß die Stunde des Schlafs gekommen sei. 64 Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,309-318 (die Göttin lehnt das Geschenk vorläufig ab); Telemach bei Nestor, Hom. Od. 3,475-485 (das Geschenk besteht hier aus ›königlichem‹ Proviant. Außerdem stellt Nestor seinem Gast ein Pferdegespann zur Verfügung und gibt ihm seinen Sohn Peisistratos als Begleiter mit); Odysseus bei den Phäa-
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sieben Belege in der Odyssee). Es handelt sich dabei um Abschiedsgaben in Form von kostbaren Gefäßen, Kleidung und Proviant, die stets die Gastgeber (niemals der Bewirtete) kurz vor der Weiterreise des Fremden überreichen.65 Sie sind Kennzeichen für den Wohlstand eines Wirtes und werden daher mit besonderer Sorgfalt ausgesucht.66 Wegen seiner räumlichen und zeitlichen Distanz zum Bankett fällt dieser Vorgang jedoch nicht mehr in den Bereich der eigentlichen Gastmahlszene. Auch die von REECE angesetzten, seltenen Elemente XVIII (»Bath«), XXI (»Departure meal«), XXII (»Departure libation«), XXIII (»Farewellblessing«), XXIV (»Departure omen and interpretation«) und XXV (»Escort to visitor’s next destination«) spielen sich, wie oben gezeigt, oft ken, Hom. Od. 13,10-22 (Geschenke des Alkinoos und der vornehmen Phäaken: Kleider, Gold, Dreifüße, ein LBHW und andere, nicht näher bestimmte Gaben) sowie 13,66-72 (Geschenke der Arete: Kleider und Proviant); Odysseus bei Eumaios, Hom. Od. 14,515f. (Telemach soll dem vermeintlichen Bettler später Kleidungsstücke schenken); Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 15,101-129 (Geschenke des Menelaos: ein kostbares Trinkgefäß und ein silberner Krater; Geschenk der Helena: ein kostbares, selbstgewebtes Gewand). REECE, der die Gaben des Nestor nicht mit einrechnet, zählt die von Hephaist geschmiedeten Waffen als Gastgeschenk an Thetis, obwohl diese, anders als sonstige Gaben, für eine dritte Person (Achill) bestimmt sind (Hom. Il. 18,468-19,3); daneben führt er die Gastgeschenke des Aiolos (das Mahl wird nach unseren Kriterien nicht szenisch dargestellt) und Erwähnungen von Gastgeschenken im Kyklopenabenteuer (nach unseren Kriterien ein Antigastmahl) auf und wertet die Geschenke, die Telemach im Gespräch mit Eumaios für den Bettler in Aussicht stellt (Hom. Od. 16,79-80, 83f.) als Gaben. Den Wurf des Freiers Ktesippos mit dem Kuhfuß (Hom. Od. 20,296-302), den Mantel, den Penelope zusammen mit Waffen und Schuhen als Preis für den Bettler aussetzt, falls er Odysseus’ Bogen zu spannen vermag (Hom. Od. 21,339-341) und den Lanzenwurf des Philoitios auf Ktesippos (Hom. Od. 22,290f.) zählt er als ›Gastgeschenke‹ während der (als eine einzige Szene verstandenen) Heimkehr des Odysseus. 65 Der Gedanke eines Austauschs von Geschenken wird in der Ilias beim Gespräch von Glaukos und Diomedes – außerhalb einer Gastmahlszene – vorausgesetzt, s. Hom. Il. 6,218-220. Dieser Vorgang erscheint in den Gastmahlszenen selbst jedoch nicht. Zu den Geschenken der Frauen in der Odyssee s. PEDRICK (1988) 90f. Ihre weitergehenden Folgerungen (S. 91: »The head of an oikos maintains control over his wife’s hospitable gestures [...] he can appropriate his wife’s farewell gesture of clothing the guest by subsuming her gift into his«) sind jedoch kaum haltbar. Obwohl Alkinoos vorschlägt, Odysseus zum Abschied Kleider zu schenken, handelt es sich doch um Aretes eigene Gaben, ähnlich wie die Aufnahme des in der Asche sitzenden Odysseus an den Tisch als freundliche Geste des Alkinoos gewertet werden muß – und nicht etwa als die des ihn ermahnenden phäakischen Greises. 66 S. die Schätze, die die Phäaken dem Odysseus mitgeben (Hom. Od. 13,10-15) und besonders die Gaben, die Menelaos und Helena für Telemach aus ihrer Schatzkammer holen, wobei Helena das schönste, zuunterst liegende Gewand aussucht (Hom. Od. 15,99108). S. dagegen den in bescheidenen Verhältnissen lebenden Eumaios, der seinen Gast auf die Ankunft des Telemach vertrösten muß, dazu Anm. 64.
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erst nach der in unserer Arbeit zugrundegelegten Szenengrenze ab. Dasselbe gilt durchgehend für das etwas häufigere Element »Host detains the visitor« (Element XIX bei REECE), das meist erst kurz vor der (geplanten) Abreise eines Gastes eingeführt wird. (7 Belege).67 Zusammenfassung Die Gruppe der homerischen Gastmahlszenen weist eine größere Geschlossenheit auf als die späteren Bewirtungen. Dies gilt sowohl für die sprachliche Gestalt, die von Formelversen geprägt ist, als auch für den Inhalt, der in mehr Einzelheiten übereinstimmt als die späteren Szenen. Die beiden wichtigsten Unterschiede zwischen den Gastmählern der Ilias und der Odyssee lassen sich so zusammenfassen: 1) in der Ilias treffen nur einander bekannte Personen zusammen, während in der Odyssee oft ein Fremder bewirtet wird, dessen Identifizierung eine wichtige Rolle spielt. 2) Dienstpersonal erscheint in der Ilias nur in zwei Szenen (Beratung der Heerführer vor und nach der Presbeia, Hom. Il. 9,174f: bei der Reinigung der Hände vor der Trankspende; Machaon bei Nestor, Hom. Il. 11,624-641: bei der Vorbereitung des Mahles) und wird nicht in Gruppen aufgeschlüs-
67 Achill fordert Phoinix auf, über Nacht bei ihm zu bleiben (Hom. Il. 9,617f.); Telemach bittet Athene, länger zu bleiben (Hom. Od. 1,309); Menelaos veranlaßt Telemach zum Bleiben (Hom. Od. 4,587-489); Alkinoos wünscht, Odysseus würde sich als sein Schwiegersohn auf Scheria niederlassen (Hom. Od. 7,311-316: diese Aussage findet sich ausnahmsweise zu Beginn des Gastmahls); Kirke verspricht, Odysseus nicht länger zurückzuhalten (Hom. Od. 10,488f.); Eumaios versichert dem ›Bettler‹ Odysseus, er könne weiterhin bei ihm bleiben (Hom. Od. 15,335f.); Telemach schlägt vor, den ›Bettler‹ Odysseus, falls er bleiben wolle, weiterhin in der Hütte des Eumaios zu bewirten, damit er nicht unter den Freiern zu leiden habe (Hom. Od. 16,82-89). REECE zählt außerdem die Traumrede des Hermes an den im Vorraum von Achills Zelt schlafenden Priamos mit (Hom. Il. 24,682-688), an der der Gastgeber jedoch nicht beteiligt ist und die auch nicht dazu dient, Priamos aufzuhalten, sondern ihn im Gegenteil zur Eile anzutreiben. Daneben nennt er das Gespräch zwischen Nestor und Telemach, das sich aber nicht um die Abreise, sondern um das Nachtlager dreht (Hom. Od. 3,343-355), sowie die Auseinandersetzung mit Polyphem, die während eines Antigastmahls stattfindet (REECE zählt alle Stellen auf, an denen der Kyklop den Stein vor den Eingang wälzt, sodann das Betasten der Schafe und einen Vers (Hom. Od. 9,517) aus seiner Rede an den auf dem Schiff fliehenden Odysseus) sowie den Aufenthalt bei Aiolos, Hom. Od. 10,14-18, wo allerdings von einem »Zurückhalten« des Gastes keine Rede ist: MNA D PjNTA F¸LEI ME KA¹ JEREINEN
KASTA d*LION b"RGE¸VN TE NAW KA¹ NÎSTON b"XAI¤N KA¹ MN G£T¯PjNTAKATkMOºRANKATLEJAmLL ÔTEDKA¹G£NÒDÏNTEOND
KLEUONPEMPMENOÆDTIKEºNOWmNNATOTEÅXEDPOMPN.
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selt. In den adligen Häusern der Odyssee dagegen bemüht sich ein wohlgeordneter Hofstaat um die Gäste. Stellt man auf der Grundlage von Häufigkeit und Bedeutung der einzelnen Elemente und unter Berücksichtigung des oben definierten Szenenbegriffs ein typisches Schema für die homerischen Gastmahlszenen auf, so ergibt sich folgendes Bild: diachrones Schema insgesamt
homerische Szenen68
I) Ankunft des Gastes II) Warten auf der Schwelle III) Beschreibung: a) des Schauplatzes b) d. Anwesenden IV) supplicatio/Hikesie (statt II u. V) V) Begrüßung a) durch Reden b) durch Gesten
I) II) III)
Ankunft des Gastes Warten auf der Schwelle Beschreibung: a) des Schauplatzes b) d. Anwesenden IV) Hikesie (statt II u. V) V) Begrüßung a) Wirt erblickt d. Gast b) Wirt nähert sich d. Gast c) Wirt führt Gast ins Haus VI) Platz bei Tisch VI) Sitzplatz VII) Das eigentliche Mahl VII) Das eigentliche Mahl a) Vorbereitung: Diener a)Vorbereitung:Diener/F. b) Genuß d. Speisen u. Getränke b)Ausstrecken d. Hände/F. c) Ende d. eig. Mahles c) Ende d. eig. Mahles/F. VIII) religiöse Handlungen VIII) religiöse Handlungen IX) Gespräch Gastgeb. / Gast IX) Gespräch Gastgeb. / Gast X) Vortrag des Sängers X) Vortrag des Sängers XI) Nachtlager XI) Nachtlager a) Gast erbittet Nachtlager b) Bereitung des Lagers/F. c)Schlafplatz d. Gastes /F. Es zeigt sich, daß bei den meisten Elementen eine Übereinstimmung zwischen homerischen und nachhomerischen Szenen gegeben ist. Homerische Besonderheiten, die trotz ihres häufigen Auftretens in Ilias und Odys68 Der Zusatz »F.« (für »Formel«) besagt, daß dieselben Verse in mehreren Gastmahlszenen zur Beschreibung eines Elements eingesetzt werden.
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3.1 Vorbemerkung – Die homerischen Gastmahlszenen
see in späterer Zeit nicht rezipiert werden, bilden das »Ausstrecken der Hände zum Mahl«, die Bitte des Gastes um ein Nachtlager und die Trennung der Schlafplätze von Gast und Gastgeber. Nicht rezipiert wird auch die zuweilen geschilderte »Begegnung mit dem Haushund« und das »Abnehmen des Speeres«, die aber schon bei Homer nur in der Odyssee und auch hier so selten erscheinen, daß sie nicht zu den Kernelementen einer homerischen Szene gezählt werden können. Andere Einzelheiten fallen in der späteren Epik zwar nicht weg, unterliegen aber einem Wandel. Die wichtigsten Veränderungen lassen sich knapp so zusammenfassen: 1) Bei Homer werden zahlreiche Elemente unter Beteiligung von Formelversen beschrieben. Von diesen Versen werden nur zwei (das Ende des eigentlichen Mahls und das Ende der Gespräche von Gastgeber und Gast) in nachhomerischer Zeit häufiger rezipiert. 2) Das Begrüßungsritual umfaßt bei Homer mehr und einheitlichere Details als in späterer Zeit. 3) Die Mahlteilnehmer speisen bei Homer in sitzender, nicht in liegender Haltung. 4) Die Diener werden bei Homer meist mit ihren Gruppenbezeichnungen, nicht durch distributive Ausdrücke voneinander abgesetzt. 5) Die Handlungen der Diener werden bei Homer nicht als gleichzeitig, sondern als aufeinander folgend dargestellt. 6) Während des eigentlichen Mahles (Element VII) erscheinen bei Homer oft zwei Formelverse, von denen einer das Ausstrecken der Hände, der andere das Ende der Mahlzeit bezeichnet, während der Genuß von Speisen und Getränken selbst ausgelassen wird. 7) Musikalische Darbietungen werden bei Homer öfter als in späteren Gastmählern beiläufig erwähnt, ohne daß ihr Inhalt wiedergegeben wird. 8) Die Gäste bitten bei Homer zuweilen selbst um ein Nachtlager. 9) Die Bereitung des Nachtlagers wird bei Homer detaillierter geschildert als in den meisten späteren Szenen. 10) Der Dichter trennt zwischen den Schlafplätzen des Gastgebers und des Gastes.
Zu den Elementen, die einem Wandel unterliegen, gehört auch die Übergabe von Gastgeschenken, die bei Homer häufig vorkommt, aber nicht zur
3.2.1 Das Gastmahl bei Dido
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Gastmahlszene im engeren Sinne zählt, da sie erst am Tag der Abreise, meist in räumlicher Entfernung vom Festsaal, erfolgt. Stets ist es der Gastgeber, der seinen scheidenden Besucher mit kostbaren Gaben ausstattet. In der nachhomerischen Epik dagegen gehören Geschenke, wenn solche überreicht werden, immer in den engeren Kreis der Gastmahlszene. Dieser Wandel ist darin begründet, daß hier oft nicht der Gastgeber, sondern der Gast Gaben überreicht, die seinen Reichtum und sein Wohlwollen zum Ausdruck bringen (s. z.B. Aeneas in Karthago, Verg. Aen. 1,643-656). In diesen Fällen gehört die Übergabe nicht zur Abreise, sondern zur Begrüßung und somit zur Gastmahlszene im oben definierten Sinn. Wie stellt sich nun ein von einem wohlhabenden Gastgeber ausgerichtetes Mahl in der nachhomerischen Epik dar, und welche Hilfen kann das aus dem Vergleich der Szenen abstrahierte Schema bei seiner Analyse bieten? Da sich Kontinuität und Veränderung am leichtesten an konkreten Beispielen demonstrieren lassen, werden im folgenden mit dem Gastmahl der Dido und dem Gastmahl der Kleopatra zwei Szenen aus der augusteischen und der neronischen Zeit vorgestellt, die wegen ihrer starken Nachwirkung (Mahl der Dido) und ihrer engen Bindung an ihre Primärquelle (Mahl der Kleopatra) einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand bilden.
3.2 Interpretationen 3.2.1 Das Gastmahl bei Dido (Verg. Aen. 1,695-3,718) Das Festmahl, das die karthagische Königin Dido zu Ehren des Aeneas und seiner Begleiter ausrichtet, nimmt in der Reihe der antiken epischen Gastmahlschilderungen eine zentrale Stellung ein. Mit Recht sind die zahlreichen Anspielungen, die die berühmte Szene mit ihren griechischen Vorbildern, vor allem der Odyssee und den Argonautica des Apollonios Rhodios, verknüpfen, immer wieder herausgearbeitet worden.69 Zwar rekurriert auch die spätere römische Epik auf griechische Vorgänger, doch geschieht dies mit stetem Blick auf deren vergilische Rezeption, so daß Homer und Apollonios gleichsam »durch Vergil hindurch« wahrgenommen und bearbeitet werden.70 So stehen die Gastmahlschilderungen bei Lucan und Stati69 Vgl. z.B. KNAUER (1964) 164; NELIS (2001)b 96-124; SCHENK (1989) 352f. 70 Die von J.J.L. SMOLENAARS (1994) XXVIII für Statius vorgenommene Klassifizierung der Vorbilder als »primary source« und »secondary sources« scheint mir auch für andere lateinische Epiker brauchbar. Als »primary source« einer Szene ist nach
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us, wiewohl sie auch Anspielungen auf Homer enthalten, der vergilischen Epik insgesamt deutlich näher, und zwar sowohl in inhaltlichen als auch in erzähltechnischen Details. Seine rezeptionsgeschichtliche Stellung macht Vergil daher zu einem lohnenden Ausgangspunkt der Betrachtung, läßt sich hier doch das Verhältnis zu Vorgängern und Nachfolgern in gleicher Weise studieren. Das Gastmahl bildet den Höhe- und Schlußpunkt des ersten Buches.71 Aeneas, von einem durch Juno veranlaßten Seesturm verschlagen, landet mit einem Teil seiner Gefährten an der libyschen Küste, wo ihn seine Mutter Venus in Gestalt einer Jägerin auf das Kommende vorbereitet (Verg. Aen. 1,314-410). Von ihr in eine schützende Wolke gehüllt, begibt er sich in Begleitung des Achates zum Junotempel und trifft dort, während er die Gemälde betrachtet, zum ersten Mal auf Dido. Diese erweist ihre freundliche Gesinnung, indem sie die plötzlich erscheinenden, von Aeneas schon totgeglaubten Trojaner um Ilioneus gastlich aufnimmt. Als sich schließlich die unsichtbar machende Wolke um Achates und Aeneas auflöst, öffnet die Königin auch ihnen ihr Haus. (Verg. Aen. 1,411-642). Aeneas entsendet daraufhin Achates zu den Schiffen, um Ascanius herbeizuholen (Verg. Aen. 1,643-656). Venus jedoch sinnt auf eine neue List, um Aeneas zusätzlich vor möglichen Anschlägen zu schützen, und schickt statt des Jungen ihren Sohn Cupido zu Didos Palast (Verg. Aen. 1,657-696). Bei seiner Ankunft (Verg. Aen. 1,697) setzt die Gastmahlszene ein. Der Abschnitt vor dem eigentlichen Mahl Die Trennung von Begrüßung und Bewirtung durch die eingelegte Götterszene ist für den Aufbau einer epischen Gastmahlszene singulär. Sie besitzt keine Parallelen bei Homer und Apollonios72 und wird trotz des großen SMOLENAARS ein Vorbild zu verstehen, »which provides (part of) its content and narrative structure and is often signalled by a Leitzitat«, während die »secondary sources« »supply specific conceptual and stylistic elements adding to, or replacing, those of its primary source«. 71 KÜHN, W. (1971) 38: »Das Festmahl in Karthago ist ein cardo rerum.« KLINGNER, F. (1967) 408: »Im Gastmahl findet die Bewegung, die durch das erste Buch geht, ihr Ziel.« 72 Vgl. demgegenüber die Stellung der Götterszene mit dem Gespräch von Eros und Aphrodite bei Apollonios Rhodios (A.R. 3,129-166), das das Vorbild der vergilischen Götterszene bildet. Dieses ist nicht zwischen der Begrüßung von Jason und Aietes und der Bewirtung im Palast eingeschoben, sondern findet bereits früher statt, während die Helden in den Fluß Phasis einlaufen, s. A.R. 3,167f.
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Einflusses, den die Bewirtung bei Dido auf die späteren lateinischen Dichter ausübt, von diesen nicht nachgeahmt.73 Wie ist diese Besonderheit zu erklären? Als der Liebesgott in Gestalt des Ascanius den Festsaal betritt, um die Liebe zwischen Dido und Aeneas zu entzünden, hat das Mahl gerade begonnen. Dido ruht auf ihrer prächtig geschmückten Liege, Aeneas und die Trojaner strömen zusammen, und die Dienerschaft nimmt ihre Tätigkeit auf (Verg. Aen. 1,697-706). Ganz ähnlich stellt sich die Situation in mehreren homerischen Mahlbeschreibungen dar, so z.B. in der ersten Besuchsszene der Odyssee (Athene auf Ithaka), die zu den Vorbildern des Mahls bei Dido gehört. Als die Göttin in Gestalt des Mentes das Haus des Odysseus betritt, treffen die Diener soeben Vorbereitungen für das Gelage der Freier (Hom. Od. 1,109-112). In Sparta sind gerade Hochzeitsfeierlichkeiten in vollem Gange, als Telemach erscheint, um Erkundigungen über seinen Vater einzuziehen (Od. 4,15-19) und auch Odysseus trifft die Phäaken und ihr Herrscherpaar inmitten der festlichen Mahlgemeinschaft an.74 Oft folgt bei Homer auf die Ankunft des Besuchers eine Ekphrasis des Palastes bzw. der Räumlichkeiten, die hauptsächlich aus der Perspektive des Gastes geschildert werden.75 Sowohl Telemach als auch Odysseus betrachten bewundernd die kostbar ausgestattete Wohnung ihrer jeweiligen Gastgeber, die des Menelaos in Sparta bzw. die des Alkinoos auf Scheria (Od. 4,75: SBAW M XEIE»SORÎVNTA; Hom. Od. 7,82f: POLLkDO¼KR 73 Am ehesten läßt sich die von Valerius Flaccus beschriebene Ankunft der Argonauten in Kolchis vergleichen (Val. Flac. 5,407-617). Dort begibt sich Jason zunächst zum Tempel des Sol, des Vaters und Schutzgottes seines Gastgebers (Val. Flac. 5,399407), ganz ähnlich wie Aeneas zuerst den Tempel der karthagischen Schutzgöttin Juno betritt (Verg. Aen. 1,441-452). Während Aeneas auf den dort angebrachten Gemälden Ereignisse aus seinem vergangenen Leben betrachtet (Verg. Aen. 1,453-493), erblickt Jason auf dem Fries und den Tempeltüren die bildliche Darstellung seines zukünftigen Schicksals (Val. Flac. 5,407-454). Noch während beide Helden in den Anblick versunken sind, betritt ihr königlicher Gastgeber die Szene und knüpft den ersten Kontakt (Verg. Aen. 1,494-636; Val. Flac. 5,455-546). Von dem folgenden Intermezzo, das in der Aeneis die Aussendung des Achates zu den Schiffen und das Gespräch zwischen Venus und Cupido umfaßt, hat Valerius nur die Gesandtschaft aufgegriffen: Jason schickt den Dioskuren Kastor aus, um die am Schiff wartenden Argonauten herbeizuholen (Val. Flac. 5,546f.), ganz ähnlich wie Achates bei Vergil den Ascanius zum Fest rufen soll. Anschließend beginnt bei Valerius – ohne eingeschobene Götterszene – die Beköstigung im Königshaus. 74 Anders als in Sparta steht bei den Phäaken, die gerade die Trankspende für Hermes ausgießen (Hom. Od. 7,136-138), das Fest sogar kurz vor dem Abschluß. Zum unterschiedlichen Zeitpunkt der Ankunft eines Gastes bei Homer vgl. REECE (1993) 193f. 75 Dazu o. S. 51f.
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¨RMAIN ¼STAMN¡ .76 Eine Beschreibung des Palastes liefert Vergil nicht unmittelbar vor der Mahlschilderung, also beim Eintreffen des Ascanius/Cupido, sondern schon ein wenig früher, als Dido Aeneas Gastfreundschaft zusichert (Verg. Aen. 1,637-642).77 Die Abfolge der Ereignisse stellt sich folgendermaßen dar: 1) Dido führt Aeneas mit allen Ehren in den Palast und sendet den am Strand wartenden Trojanern eine große Zahl an Stieren, Schweinen und Schafen (Verg. Aen. 1,631-636). 2) Kurze Ekphrasis des Palastes (Verg. Aen. 1,637-642). 3) Aeneas schickt nach dem bei den Schiffen wartenden Ascanius, der zugleich die Gastgeschenke für Dido mitbringen soll (Verg. Aen. 1,643656). 4) Venus ergreift diese Gelegenheit zu einer List: Sie fordert Cupido auf, an der Stelle des Ascanius zum Palast zu eilen und beim gemeinsamen Mahl die Liebe zwischen Aeneas und der Königin zu entfachen (Verg. Aen.
76 Vgl. auch außerhalb der untersuchten Gastmahlszenen die Ankunft des Aeneas bei Latinus im siebten Buch der Aeneis, wo der Erzähler anfangs kurz die Perspektive des Gastgebers einnimmt (Verg. Aen. 7,166-169). Die Palastbeschreibung erfolgt aber erst in dem Augenblick, als die Trojaner in den Thronsaal gerufen werden (Verg. Aen. 7,170191), wobei nach homerischer Art am Ende der Ekphrasis der Faden der Handlung wieder dort aufgenommen wird, wo er unterbrochen wurde, s. Verg. Aen. 7,168f.: intra tecta vocari / imperat et solio medius consedit avito und Verg. Aen. 7,192f.: tali [...] sede sedens Teucros ad sese in tecta vocavit. Auf diese Weise rückt die Ekphrasis in die Nähe einer Beschreibung aus der Figurenperspektive. 77 KNAUER (1964) parallelisiert die Beschreibung des Palastes des Alkinoos (Hom. Od. 7,84-133) nicht mit der des karthagischen Festsaals, sondern mit der Ekphrasis der Tempeltüren in Karthago, weil sowohl Odysseus als auch Aeneas zu diesem Zeitpunkt durch eine Wolke geschützt seien und die Beschreibungen ungefähr die gleiche Länge aufwiesen (S. 163). Während jedoch die Darstellung des Königspalastes auf Scheria zur Einleitung der Mahlszene gehört und wichtige Hintergrundinformationen über ihren Schauplatz liefert, handelt es sich bei den Kriegsdarstellungen der Tempeltüren um einen zeitlich zurückgreifenden Exkurs, der nicht im direkten Zusammenhang mit Ort und Verlauf des Gastmahls steht. (Erst die Schilderung Verg. Aen. 1,637-642 erfüllt – trotz ihrer Kürze – eine der Ekphrasis Hom. Od. 7,82ff. vergleichbare Aufgabe). Parallelen zwischen der Darstellung des phäakischen Palastes und der Darstellung der Tempelgemälde ergeben sich dagegen durch die deutlich markierte Figurenperspektive, die in der Beschreibung des karthagischen Hofes nur in indirekter Form spürbar ist. Vergil hat hier – wie auch an anderen Stellen seines Werkes – kein genaues Pendant des homerischen Vorbildes geschaffen, sondern einzelne Aspekte einer homerischen Szene – hier die erzähltechnische Funktion der Palastekphrasis und ihre Präsentation aus einer stark markierten Figurenperspektive – auf mehrere Szenen der Aeneis verteilt. Zu diesem Verfahren s. KNAUER (1964) 336.
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1,657-688). Ascanius wird unterdessen schlafend nach Zypern versetzt (Verg. Aen. 1,691-694). 5) Cupido gehorcht und kommt gerade rechtzeitig zum Beginn der Feierlichkeiten (Verg. Aen. 1,689f. und 695f.). Die Trennung der Ekphrasis vom Gastmahl läßt sich erzähltechnisch aus der Konzentration auf die Hauptfigur erklären. Nicht der Beginn des Gastmahls bildet den Anknüpfungspunkt für die Raumbeschreibung, sondern der erste Auftritt des Protagonisten Aeneas am Ort des Geschehens. Die näheren Umstände dieser Begegnung bedingen den Zeitpunkt der Ekphrasis: In der Aeneis läßt Dido das Mahl eigens veranstalten, um die Trojaner zu ehren. So hat Aeneas ausreichend Zeit, zwischen seinem ersten Besuch im Palast und dem Beginn der Festlichkeiten noch einige Vorbereitungen zu treffen (u.a. die Gastgeschenke aus den Schiffen holen zu lassen). Dieses Detail entspricht der größeren Souveränität des Aeneas im Vergleich mit dem Vorbild Odysseus: Jener kommt als schiffbrüchiger, mittelloser Bittsteller zu den zufällig gerade speisenden Phäaken, die er auf Athenes Rat sogleich um Hilfe anfleht. Seine verzweifelte Lage erlaubt keine retardierenden Vorbereitungen, so daß Ankunft, Ekphrasis und Beginn der Mahlbeschreibung unmittelbar zusammentreffen. Während der Ekphrasis der Räumlichkeiten tritt bei Homer, aber auch bei Apollonios Rhodios, zunächst die Perspektive des Ankömmlings in den Vordergrund.78 Eine vergleichbare Formulierung fehlt bei Vergil, doch enthält die Palastbeschreibung auch hier nur Elemente, die Aeneas optisch wahrnehmen kann, z.B. den Glanz der Ausstattung und die mit bildlichen Darstellungen geschmückten goldenen und silbernen Tische (Verg. Aen. 1,637: domus interior regali splendida luxu; Verg. Aen. 1,640f.: ingens argentum mensis, caelataque in auro / fortia facta patrum). Bei Homer und Apollonios dienen die Ekphraseis auch dazu, Macht und Größe der Gastgeber hervorzuheben, die der Ankömmling aus der Ausstattung erschließen kann, und die ihn mit Staunen und Bewunderung erfüllen.79 Eine ähnliche 78 Hom. Od. 7,82f: POLLkDO¼KR¨RMAIN ¼STAMN¡PR¹NXjLKEONOÆDÏN ¼KSYAI. A.R. 3,215: d&STAND NPROMOLSITEYHPÎTEW
RKE oNAKTOW. Erst später fließen auch auktoriale Bemerkungen ein, wie der Hinweis auf Hephaist als Schöpfer der Kunstwerke in den Palästen des Alkinoos und des Aietes (Od. 7, 91-94; A.R. 3,228f.). 79 Dieser Kunstgriff ist bei Homer nicht selten. KRISCHER (1977) 84: »Der Dichter kann Gegenstände, Örtlichkeiten und Personen direkt beschreiben, indem er ihre sichtbare Erscheinung wiedergibt, also ihre Eigenschaften aufzählt. [Diese] Form der Darstellung [...] wird ergänzt durch eine indirekte Darstellung, die das [...] Objekt in Relation
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Wirkung scheint auch der Anblick des karthagischen Königspalastes auszuüben, wie die Häufung steigernder Begriffe und wertender Ausdrücke nahelegt: ingens V. 1,640; series longissima V. 1,641; tot V. 1,642; arte laboratae V. 1,639; ostroque superbo V. 1,639f. Plausibel erscheint solches Staunen in Verbindung mit der menschlichen Hauptfigur Aeneas, nicht mit dem als Ascanius getarnten Liebesgott.80 Die im Vergleich zum typischen Schema isolierte Ekphrasis läßt sich also sowohl erzähltechnisch als auch inhaltlich rechtfertigen: Weil der Dichter sich auf die Hauptperson konzentriert und in der Regel aus ihrer Perspektive berichtet, bindet er die Palastbeschreibung an den ersten Auftritt des Aeneas bei Hofe und nicht an das Erscheinen des Gottes, mit dem die eigentliche Gastmahlschilderung beginnt. Aus der Sicht Cupidos erscheint nur die Darstellung der anwesenden Personen, die hier, wie in den meisten anderen Gastmahlszenen, nach der Beschreibung der Räumlichkeiten erfolgt. Die hier zu beobachtende szenische Gliederung, die durch das Auf- und Abtreten von Personen erreicht wird, gehört zu den Kunstgriffen des epischen Dichters.81 Sie schafft auf elegante Weise Zäsuren, durch die der Dichter das Werk strukturieren und auf bedeutsame Handlungsabschnitte hinweisen kann. Auf den Beginn der Gastmahlszene hat Vergil erzähltechnisch geschickt hingearbeitet. Die Begegnung von Venus und Cupido (Verg. Aen. 1,657-694), die die Aufmerksamkeit kurzfristig auf ein Geschehen außerhalb des Palastes lenkt und die »Ankunft« des Liebesgottes vorbereitet, ermöglicht es ihm, trotz des längst vorher erfolgten Auftritts des Aeneas die eigentliche Mahlschilderung ebenfalls aus der bei Homer und Apollonios gängigen Perspektive eines Ankömmlings zu beginnen. So kommt es – abgesehen von der isolierten Stellung der Ekphrasis der Räumlichkeiten – nicht zu größeren Verschiebungen im konventionellen Ablauf der Gastmahlszene, die in üblicher Form exponiert werden kann. Das oft
setzt zu anderen Objekten. [...] Dies Verfahren wird [...] auch auf Gegenstände angewandt, die Bewunderung oder Schrecken erregen.« 80 Es ist bezeichnend, daß auch beim Eintreffen der Göttin Athene (als Mentes) in Ithaka die zu erwartende Ekphrasis ausfällt. Sie wird erst im siebzehnten Buch aus menschlicher Perspektive geliefert, als Odysseus dem Sauhirten seine Eindrücke schildert (Hom. Od. 17,263-271). Die Subjektivität der Beschreibung ist dort durch die wörtliche Rede deutlich gekennzeichnet. Zugleich wird das homerische Prinzip gewahrt, das eine zweimalige Schilderung desselben Gegenstandes ausschließt. 81 Vgl. PATZER (1996) 97-101 sowie KNAUER (1964) 162f. über das Forteilen der Athene Hom. Od. 7,78-81.
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aus inhaltlichen Gründen inkriminierte Gespräch von Venus und Cupido82 liefert also auf formaler Ebene einen eleganten, die Bindung an Homer und Apollonios wahrenden Übergang zur folgenden Szene. Dieser Aspekt wird in der Forschung zu wenig beachtet.83 Zu den Details, die der Eintretende im Festsaal gewöhnlich bemerkt, gehören die Stühle oder Liegen, auf denen sich die Anwesenden zum Mahl niedergelassen haben. Die Beschreibung dieser Einrichtungsgegenstände kann mehr oder weniger genau ausfallen, umfaßt aber meist einen Hinweis auf die Qualität und Kostbarkeit des Inventars. Die Sitzordnung der Gäste kommt meist erst dann ins Spiel, wenn der Gast sich zum Mahl niederläßt, und ihm ein angemessener Platz zugewiesen werden muß. (S. zu diesem Element o. S. 67ff.). Daß trotzdem schon hier Didos Position auf der mittleren Liege erwähnt wird (Verg. Aen. 1,698), betont einmal mehr die dramatische, am Blickwinkel einzelner Figuren orientierte Darstellungsweise Vergils. Nur Dido, als Opfer des eintretenden Gottes, auf das sich im Folgenden seine Aufmerksamkeit richtet (Verg. Aen. 1,717 reginam petit), wird in dieser Weise lokalisiert, während Aeneas und die Trojaner in einem kollektiven Singular zusammengefaßt werden, der die genaue Sitzordnung offenläßt (Verg. Aen. 1,700: stratoque super discumbitur ostro). Größere Sorgfalt widmet Vergil der Kostbarkeit der Liegen. In vier Versen, von denen zwei den Platz der Dido, zwei den der Trojaner schildern, geht er auf ihre erlesene Ausstattung ein, wobei er sich ringförmig zuerst den Decken, die er als erhaben bezeichnet (aulaea superba, Verg. Aen. 1,697), dann
82 DUCKWORTH (1966) 41: »The divine intervention is not really necessary, for the reader is prepared for a natural development of love on the part of Dido.« Ähnlich schon FRIEDRICH (1941) 165ff. Vgl. aber STAHL (1969) 346-361, der die scheinbar doppelte Motivierung von Didos Gastfreundschaft aus der Darstellung der Venus als ›labiles Wesen‹ erklärt: Venus werde von immer neuen Ängsten um ihren Sohn gequält, so daß sie immer neue Maßnahmen zu seinem Schutz ersinne und dabei auch vor mehrfachem Eingreifen in Karthago nicht zurückschrecke. 83 Meist wird nur auf inhaltliche Übereinstimmungen bzw. Unterschiede zu der entsprechenden Szene bei Apollonios Rhodios verwiesen oder der inhaltliche Bezug des Göttergesprächs zur Didohandlung diskutiert. Für das erstere vgl. z.B. LESKY (1953) 172: Fast in der ganzen Szene »steht der feierliche Ernst Vergils im denkbar größten Gegensatz zu der leicht ironischen Vergnügtheit, mit der Apollonios das Verhältnis der etwas bürgerlich-hausbackenen Aphrodite zu dem maßlos verzogenen Erosbengel gestaltet hat«, für das zweite WLOSOK (1967) 101 zur Stelle: »Die ›Inszenierung der Liebesepisode‹ findet erst hier statt. Sie wird in der Bittrede der Venus an Amor auffallend sorgfältig als zusätzliche Sicherung zu der Gastfreundschaft Didos motiviert.«
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dem »goldenen Gestell« der Liege (aurea sponda Verg. Aen. 1,698)84 und schließlich wieder den Decken, diesmal unter dem Aspekt des kostbaren Purpurfarbstoffs, zuwendet (Verg. Aen. 1,700). Während die Materialien, aus denen die Einrichtung gefertigt ist, in den Gastmahlszenen aller Epochen erwähnt werden, erscheinen Purpurdecken und -kissen, die sich bei Homer auch in der Presbeia (Hom. Il. 9,200) und der Odysseus-Kirkeszene (Hom. Od. 10,352f.) finden, in der lateinischen Epik nur an wirklichen Königshöfen sowie dem ausdrücklich als »königsgleich« bezeichneten Gelage des Hannibal in Capua (Sil. 11,271). Wenn die kostbare Ausstattung in einem adligen Hause fehlt, wie beim Mahl des Euander, so verbindet der Dichter damit eine bestimmte Absicht, die er deutlich ausdrückt.85 So bietet die Darstellung der häuslichen Einrichtung dem Dichter Gelegenheit zu einer indirekten Charakterisierung seiner Figuren. Dido wird als mächtige, in standesgemäßer Pracht lebende Königin eingeführt, die ihren Palast bereitwillig den schiffbrüchigen Gästen öffnet: Die Fremden speisen auf ebenso kostbaren Liegen wie sie selbst.86 Hat der auf diese Weise charakterisierte Gastgeber den Ankömmling in Empfang genommen, so werden ihm Speisen und Getränke vorgesetzt, und zwar meist, noch ehe es zu ausführlichen Gesprächen kommt. Die Einladung zur Teilnahme an der Gesellschaft, die, wenn sich Gast und Gastgeber erst im Festsaal begegnen, gewöhnlich nach der Beschreibung der Räumlichkeiten und der Erwähnung der Tischgenossen, aber vor der Schilderung der Diener erfolgt (vgl. S. 62ff. zum Element »Begrüßung«), ist in diesem Fall schon früher ergangen, als Dido Aeneas zum Palast geleitete (Verg. Aen. 1,627: quare agite o tectis, iuvenes, succedite nostris).87 Durch die 84 Zum Kasus von aurea, das als Ablativ (mit Synizese) zu deuten ist, vgl. PARATORE (1978) ad loc. Servius war über den Kasus im Zweifel, vgl. ad Aen. 1,698. »Goldene« Liegen werden auch sonst in der römischen Literatur häufig erwähnt. Sie bestanden freilich nicht aus purem Gold, wie ja auch die ebenfalls oft bezeugten silbernen und elfenbeinernen Klinen nicht aus reinem Silber oder Elfenbein bestanden. Vielmehr hat man »nur an incrustirte Arbeiten zu denken, also an lecti inaurati, inargentati, eburati.« MARQUARDT (1886) I. 310 Anm. 7. 85 Im Falle des Euander steht z.B. die (würdevolle) Armut im Blickpunkt, die dem römischen Selbstverständnis und der Vorstellung von der eigenen Frühzeit entspricht, vgl. Verg. Aen. 8,105 pauperque senatus; Verg. Aen. 8,360: pauperis Euandri. 86 Dieses Verhalten stimmt mit Didos früherer Ankündigung überein, vgl. Verg. Aen. 1,574: Tros Tyriusque mihi nullo discrimine agetur. 87 Dazu Serv. ad Aen. 1,627: TECTIS SUCCEDITE NOSTRIS ad convivium vocat; nam iam supra [sc. Verg. Aen. 1,573] dixit ›urbe, domo socias‹. Die offizielle Aufnahme als hospites erfolgt erst während der Libation beim Gastmahl: »The formal designation is not
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Entsendung des Achates, der die von Dido bereitgestellten Tiere zu den Schiffen treiben und Ascanius mit den Gastgeschenken herbeiholen soll (und dabei Venus Gelegenheit zu ihrer List gibt), wird die freundliche Einladung der Königin noch einmal in Erinnerung gerufen, so daß sie nach der Ankunft des Jungen nicht ausdrücklich wiederholt zu werden braucht. Daher kann Vergil den Auftritt der Dienerschaft unmittelbar an die Darstellung der ruhenden Gäste anschließen, wodurch sich ein anschauliches Bild des gerade beginnenden Mahls ergibt. Das eigentliche Mahl Als Cupido den Saal betritt, sind die Diener bereits mit vielfältigen Aufgaben beschäftigt: Sie reichen klares Wasser zum Waschen der Hände, stellen Brotkörbe auf und bringen Tücher »mit geschorenen Fransen« herbei, die offenbar zum Trocknen der Finger dienen (Verg. Aen. 1,701f.). Letzteres stellt eine in den untersuchten Gastmahlszenen singuläre Geste dar, die weder bei Homer noch bei Apollonios vorgebildet ist, und auch von Vergils Nachfolgern nicht aufgegriffen wird, obwohl der Gebrauch solcher Tücher für den römischen Kulturkreis aus anderen Gattungen sicher bezeugt ist.88 Auch Vergil selbst spricht in keinem anderen Gastmahl der Aeneis von mantelia, die bei Tisch benutzt werden. Dieselbe Formulierung findet sich jedoch (an gleicher Stelle im Hexameter) noch einmal bei der Bewirtung des Aristaeus im vierten Buch der Georgica.89 Beide Mähler, die unter recht unterschiedlichen Bedingungen stattfinden (Dido bewirtet einen vom Sturm verschlagenen Fremden; die Nymphe Cyrene empfängt ihren trauernden Sohn Aristaeus) sind nicht nur durch inhaltliche und sprachliche Parallelen,90 sondern vor allem durch den gemeinsamen Bezug zu Nordmade until [...] the banquet when Dido, before making a libation prays Iuppiter, hospitibus nam te dare iura loquuntur (A. 1,731), but it is implied in her reply to Ilioneus.« MONTI (1981) 24. 88 S. Mart. ep. 2,37,7; 7,20,13; 7,53,4; 8,59,8; 7,20,8; 12,28,4 u.ö., Hor. sat. 2,8,63; 2,4,81. 89 Vgl. Verg. Aen. 1,701f.: Dant manibus famuli lymphas Cereremque canistris / expediunt tonsisque ferunt mantelia villis und Georg. 4,376f.: manibus liquidos dant ordine fontis / germanae, tonsisque ferunt mantelia villis. Die, soweit ich sehe, einzige andere Stelle, an der von einem fransenbesetzten mantele die Rede ist (Ov. fast. 4,933f.: a dextra villis mantele solutis / cumque meri patera turis acerra fuit), ist nicht direkt vergleichbar, da das Wort hier kein beim Mahl verwendetes Tuch, sondern ein Requisit für die feierliche Opferspende des flamen bezeichnet. 90 Vgl. Verg. Georg. 4,378f.: pars epulis onerant mensas et plena reponunt / pocula und Verg. Aen. 1,705f.: ministri, / qui dapibus mensas onerent et pocula ponant sowie
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afrika verbunden, den kein anderes Mahl bei Vergil aufweist: Dido herrscht über das libysche Karthago, und die von Apoll entführte Nymphe gab der libyschen Stadt Cyrene ihren Namen.91 Das Streben nach Lokalkolorit, welches sich bei der Bewirtung in Karthago auch daran zeigt, daß der Sänger Iopas ausdrücklich als Schüler des Atlas bezeichnet wird, den Vergil im vierten Buch der Aeneis mit dem gleichnamigen afrikanischen Gebirgszug identifiziert (s. dazu unten S. 169),92 läßt sich auch in den beiden anderen Gastmahlszenen der Aeneis nachweisen: Helenus, der ehemalige Kampfgenosse des Aeneas, hat nicht nur ein »kleines Troja« (Aen. 3,349) errichtet, das die in der Ilias erwähnten Orte vergegenwärtigt, sondern folgt auch in seinem Verhalten den bei Homer beschriebenen Bräuchen.93 Der in Latium herrschende König Euander und seine Untertanen wiederum verkörpern typisch römische Sitten (vgl. das Auftreten der salischen Priesterschaft, Verg. Aen. 8,285-305) und leben an Stätten, die bereits die römischen Ortsbezeichnungen tragen.94 Da in beiden Fällen der Lokalbezug sowohl durch geographische Bezeichnungen als auch durch die Verhaltensweisen der Figuren hergestellt wird, wäre zu erwarten, daß auch beim Gastmahl in Karthago außer dem nordafrikanischen Ortsnamen »Atlas« regionale Gepflogenheiten erscheinen. Als solche kommt jedoch nur der auffällige Gebrauch der mantelia »mit geschorenen Fransen« in Frage – das einzige Detail, das keine Entsprechung in anderen Gastmählern besitzt. Angesichts der Sorgfalt, die Vergil in den übrigen Mahlszenen auf landestypische Einzelheiten verwendet, kann die Einführung dieses gegenüber Homer und Apollonios neuen Details jedenfalls nicht mit den römischen Tischsitten begründet werden, deren Darstellung am karthagischen Königshof denkbar unpassend gewirkt hätte.95 Einen Hinweis darauf, daß derartige Tücher zu bestimmten Zeiten tatsächlich mit Verg. Georg. 4,379: Panchaeis adolescunt ignibus arae und Verg. Aen. 1,704: [sc. famulae, quibus cura] flammis adolere penatis. 91 Zur Sage von der Verbindung des Apoll mit Cyrene, aus der Aristaeus hervorging, vgl. Pind. Pyth. 9,39-65 und A.R. 2,500-527 (Aition der Etesienwinde). 92 Dazu KRANZ (1953) 35: »Atlas ist [...] zum Lehrer des Iopas gemacht [...], weil er als ›Libyscher Philosoph‹ aufgefaßt wird.« 93 Vgl. die vom Verhalten des Aeneas abweichende, an Homer orientierte Art, in der Helenus und Andromache ihre Gastgeschenke überreichen, s. dazu oben S. 108. 94 Verg. Aen. 8,322f. (Latium); Verg. Aen. 8,330-332 (Thybris); Verg. Aen. 8,337358 (porta Carmentalis; Lupercal, Argiletum, Tarpeia sedes, Capitolia, Ianiculum, arx Saturnia). 95 AUSTIN (1971) zu 702 konstatiert den Unterschied zur homerischen Tradition (»it has not worried Virgil that Homer says nothing of napkins«), bietet aber keine Erklärung.
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Nordafrika bzw. Karthago in Verbindung gebracht wurden, liefert Quintilian, der als Beispiel für ein punisches Lehnwort den Begriff mappa anführt, welcher eigentlich das Mundtuch bei Tisch bezeichnet, aber auch als Synonym für mantele gebraucht werden kann: Quint. inst. or. 1,5,57: Et ›mappam‹ circo quoque usitatum nomen Poeni sibi vindicant.96 Auf diese Weise ließe sich das auffällige Schweigen der späteren Epiker erklären: Wenn es sich bei den beschriebenen mantelia um ein Detail handelt, dessen Lokalbezug für die Leser spürbar war, so können sie in den späteren Gastmählern, von denen keines in Karthago stattfindet, ebensowenig erscheinen wie der (ebenfalls nur beim Bankett der Dido erwähnte) Berg Atlas. Diese Deutung wird durch die Tatsache gestützt, daß viele spätere Gastmähler sowohl im Verhalten der Figuren als auch in den geographischen Bezeichnungen regionale Charakteristika erkennen lassen.97 Offenbar hat nicht die für das Epos exotische Erwähnung der mantelia selbst, sondern das dahinter stehende Prinzip des Lokalbezugs traditionsbildend gewirkt. Anders als die Tücher gehört das dargebotene Waschwasser zu den Details, die in den vornehmen Gastmählern der Odyssee regelmäßig erwähnt werden. Da es bei Apollonios nicht erscheint, dürfte es sich hier um eine direkte Homerreminiszenz handeln. Auch das Brot zählt zu den in Ilias und Odyssee häufig genannten Einzelheiten, wo es (neben Fleisch) ganz oben auf dem Speisezettel steht.98 Selbst die Helden vor Troja begnügen sich in der Regel mit diesen einfachen Genüssen. Fisch dagegen wird in den homerischen Gedichten niemals verzehrt,99 obwohl das Schlachtfeld vor Troja nahe am fischreichen Hellespont liegt (s. z.B. Hom. Il. 9,360) und der odysseische Dichter in Gleichnisform vom Fischfang spricht (Hom. Od. 96 Für die schwankende Bedeutung des Begriffs MANTELE s. ThLL VIII (1938) 332f. s.v. mantel(i)um, sowie die Bemerkung des Servius ad. Georg. 4,376: »Lucilius autem mantelia dicit mappas.« 97 S. z.B. Verg. Aen. 3,349-351 (der Trojaner Helenus hat ein »kleines Troja« errichtet); Verg. Aen. 8,285-305 (Auftritt der römischen Priesterschaft der Salier); Verg. Aen. 8,337-361 (römische Ortsnamen); Lucan. 10,158f. (Kleopatra läßt dem Gast heilige ägyptische Tiere zum Mahl vorsetzen); Lucan. 10,176-192 (ein ägyptischer Priester ist Caesars Gesprächspartner bei Tisch); Sil. 11,265f. (Name des Campus stellas in der Umgebung Capuas); Sil. 11,270 (die Capuaner richten ein Gastmahl nach ihren Sitten aus); Statius Theb. 1,557-693 (Adrast erzählt von den Ursprüngen der lokalen Apolloverehrung); Val. Flac. 5,584-586 (Ein Kolcher trinkt am Hof des Aietes das Blut seines Pferdes) u.ö. 98 KLINGNER (1967) 404: »In seinem [sc. des Gastmahls] Verlauf erinnern an die heroische Zeit das Herumreichen von Handwasser und Brot (701ff, vgl. Od. 7,172f.).« 99 Dazu WILKINS (1993) 197.
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22,383-389). Auch sonst werden den Teilnehmern epischer Gastmähler keine Fischgerichte vorgesetzt (Zur einzigen Ausnahme, Lucan. 10,156, s.u.). An die homerischen Helden – nicht an die Schlemmer der römischen Elegien, wo Fisch ein Prestigeobjekt darstellt100 – erinnern die Gepflogenheiten im Palast der Dido. Charakteristisch für die epische Mahlbeschreibung ist auch die knappe Form, in der der Dichter die verschiedenen Tätigkeiten des Gesindes aufzählt: So entsteht der Eindruck einer emsig beschäftigten, gutgeordneten Dienerschar, die sich um die Gäste müht (Verg. Aen. 1,701-706). Die Differenzierung der Aufgabenbereiche ist typisch für die epische Darstellungsweise.101 Während bei Homer eine Klassifizierung nach einzeln benannten Gruppen erfolgt, welche das Nacheinander der verschiedenen Handreichungen betont, verwenden die späteren Epiker fast ausschließlich gliedernde Ausdrücke wie O¼MNO¼Dpars - pars oder alii - alii, welche das Augenmerk stärker auf die Gleichzeitigkeit der Aktivitäten lenkt (Stellenangaben s. oben S. 77f.). Individuelle Eigenschaften von Sklaven, wie Einfallsreichtum und Verschlagenheit, die z.B. in der Komödie eine wichtige Rolle spielen, haben dagegen im Epos keinen Raum.102 Ebensowenig wird Dienern, die bei Tisch aufwarten, eine Sprechrolle zugebilligt.103 Diese Zurückhaltung entspricht dem Streben der Epiker nach Konzentration: Individuelle Züge tragen vor allem die Protagonisten der Erzählung. Die Einführung von Nebenfiguren dient hingegen in erster Linie der Charakterisierung der zentralen Gestalten. Der Eifer, mit dem Didos Diener ihren Pflichten nachkommen, bezeugt die Gastfreundlichkeit der Königin gegenüber den schiffbrüchigen Trojanern, ganz wie auch die Rechtschaffenheit der homerischen Wirt100 Dazu WILKINS (1993) 200-202. 101 Vgl. Hom. Od. 7,103-106; A.R. 3,271-274; Sil. 11,274-277; Val. Flac. 2,653f. Lucan (10,128-135) ersetzt die Differenzierung der Dienerschaft nach Aufgaben durch die (syntaktisch ähnlich gebaute) Differenzierung nach dem äußeren Erscheinungsbild. Prunksucht und Dekadenz der Kleopatra, die die Szene beherrschen, schlagen sich so auch in diesem Detail nieder. 102 Die »Ehrwürdigkeit«, die der Dichter der homerischen Epen der TAM¸H zuschreibt, kann kaum als individuelle Eigenschaft gedeutet werden, da sie zu einem Komplex von Formelversen gehört und in unveränderter Fassung mehreren Dienerinnen beigelegt wird, so der Wirtschafterin des Odysseus (Hom. Od. 1,139), des Menelaos (Hom. Od. 4,55) und des Alkinoos (Hom. Od. 7,175). 103 Vgl. als Kontrast den Herold des Menelaos (Hom. Od. 4,26-36), der nicht ein einfacher Diener bei Tisch, sondern ein enger Vertrauter des Königs ist und daher beim Empfang der Gäste als eigener Charakter mit Sprechrolle in Erscheinung tritt.
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schafterin eher einen Eindruck vom ehrbaren Haushalt ihres Herrn als eine ausführliche Charakterzeichnung vermittelt.104 Neben den an erster Stelle genannten vorbereitenden Diensten bei Tisch (Verg. Aen. 1,701f.) hebt Vergil in den folgenden Versen auch die große Zahl der Sklaven hervor, die im Palast tätig sind (Verg. Aen. 1,703-706). Im Inneren des Hauses verrichten fünfzig Dienerinnen die Küchenarbeit, hundert weitere und eine gleiche Zahl von männlichen Sklaven sind mit dem Auftragen von Speisen und Getränken beschäftigt. Die umfängliche Dienerschar entspricht den griechischen Vorbildern und wird auch von späteren lateinischen Epikern aufgenommen.105 Anders als das emsige Treiben im Saal können die Tätigkeiten im Hausinneren (Verg. Aen. 1,703: intus) sowie die genaue Zahl der Bediensteten allerdings kaum von den Anwesenden wahrgenommen werden. Vergil leitet hier unmerklich von einer an den Erkenntnismöglichkeiten der Figuren orientierten Darstellungsweise zur auktorialen Perspektive über, die es ihm ermöglicht, im folgenden das verhängnisvolle Wirken des Liebesgottes einfühlend zu schildern. Erst jetzt, nachdem er schon die Bereitung der Speisen durch das Gesinde erwähnt hat, kommt der Dichter auf die zusammengeströmten Karthager zu sprechen, welche sich in großer Zahl auf buntgestickten Speiseliegen ausstrecken (Verg. Aen. 1,707f.). Diese zweigeteilte Darstellung der Anwesenden ist eine vergilische Eigenheit. Sie lenkt die Aufmerksamkeit zu den prächtigen Gastgeschenken und zu ihrem Überbringer, dem getarnten Liebesgott, zurück, von denen die Karthager gleichermaßen eingenommen sind (Verg. Aen. 1,709: mirantur dona Aeneae, mirantur Iulum). Vor allem die Königin läßt sich durch den Knaben und durch die Geschenke beeindrukken (Verg. Aen. 1,712-714: praecipue infelix, pesti devota futurae, / expleri mentem nequit ardescitque tuendo / Phoenissa, et pariter puero donisque 104 Bei der von Apollonios dargestellten Bewirtung in Kolchis, wo ebenfalls eifrige Diener beschrieben werden, liegt die Betonung nicht auf ihrer Sorge um das Mahl, sondern auf ihrem Gehorsam gegenüber Aietes, der so, anders als ein homerischer Wirt, die Gäste für einen Moment in den Hintergrund drängt (A.R. 3,273f.: OÆD TIW EN ÖW KAMjTOUMEY¸ESKENÇPODRSSVNBASILI). Deutlich wird diese Technik auch an der Darstellung der Diener am Hof von Alexandria, deren blondes Haar nicht für sich steht, sondern in seiner Wirkung auf den Betrachter Caesar beschrieben wird, den die Gastgeberin Kleopatra zu beeindrucken trachtet (Lucan. 10,129-131). 105 Hom. Od. 7,103-107 (Im Palast des Alkinoos verrichten fünfzig Mägde die Webarbeiten); A.R. 3,270-274 (Der gesamte Hof des kolchischen Königspalastes füllt sich mit einer Dienerschar); Lucan. 10,127 (Bei Kleopatra versieht ein famulae numerus turbae populusque minister den Dienst); Stat. Ach. 1,741 (Bei Lycomedes wird das Gesinde als famularis turba bezeichnet), s. dazu auch KLINGNER (1967) 404.
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movetur),106 ohne die List des Liebesgottes bemerken zu können, deren Wirkung Vergil in den folgenden Versen schildert (Verg. Aen. 1,715-722). Die ungewöhnliche Stellung des Abschnitts über die Dienerschaft inmitten der Aufzählung der Gäste bewirkt so im Vergleich zum typischen Ablauf einer Mahlszene eine Akzentverlagerung: Die Darstellung der Punier und die Übergabe der Geschenke an sie, die mit den Intrigen des vermeintlichen Ascanius (dessen wahre Identität der Leser bereits kennt)107 verbunden ist, werden vom Dichter zunächst retardiert, so daß er sie dann, ohne die Beschreibung der Diener nachreichen zu müssen, zusammenhängend schildern kann.108 Der rasche Erfolg der List tritt so deutlich hervor: Schon bei der Übergabe der Geschenke beginnt der Anblick des Knaben zu wirken (1,713f.: Ardescitque tuendo / Phoenissa, et pariter puero donisque movetur). Die Übergabe von Gaben durch den Gast hat in homerischen Mahlszenen, wo Geschenke immer vom Gastgeber überreicht werden, keine Parallele.109 Dasselbe gilt für die Argonautika des Apollonios.110 Wenn sich Vergil in diesen für den Fortgang der Handlung so bedeutsamen Details von der Tradition löst, so geschieht es offenkundig, um die folgende Entwicklung der Ereignisse anzudeuten.111 Schon die bloße Tatsache, daß hier gegen die homerische Konvention der Gast mit Geschenken aufwartet, mußte die Aufmerksamkeit des mit der epischen Tradition vertrauten Lesers erregen. Die Herkunft der unerwarteten Gaben (es handelt sich um ein Ge106 Das Adjektiv infelix, mit dem inmitten des freudigen Gastmahls das künftige Unheil angedeutet wird, belegt deutlich den Wechsel zur auktorialen Erzählperspektive. Vgl. DUCKWORTH (1966) 60. 107 Vgl. WILLIAMS (1990 [1972]) 211 zur »tragic irony« der Szene. 108 Der Auftritt Cupidos erfolgt zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie in der Vorlage bei Apollonios Rhodios. In beiden Fällen tritt der Liebesgott in Erscheinung, als die Partner eben im Königspalast zusammengetroffen und die Diener mit Mahlvorbereitungen beschäftigt sind (Vgl. A.R. 3,268-277 und Verg. Aen. 1,697-702). 109 REECE (1993) 35: »Gifts [...] are offered by a host to a guest, never vice versa.« Zwar zeigt der Dialog von Glaukos und Diomedes auf dem Schlachtfeld (Hom. Il. 6,215221), daß in der Ilias der Gedanke eines Gabentausches bekannt ist. Dieser wird jedoch in den Gastmahlszenen dieses Epos nicht dargestellt. S. dazu oben S. 106f.. 110 Vgl. z.B. das Lemnosabenteuer A.R. 1,845f. und 1,675f.: %¤RA MN [...] / PMPVMENJE¸NOISINPE¹KA¹ oREIONÑPjSSAI. Bei Vergil und seinen Nachfolgern wandelt sich das Bild: Dort tauschen Gastgeber und Gast Geschenke aus, oder nur der Gast überreicht zum Dank für seine Bewirtung Gaben (s. dazu oben S. 108f.). 111 Daß wechselseitige Geschenke den römischen Gepflogenheiten entsprechen (vgl. z.B. Liv. 30,15,11; Tac. Ann. 4,26), erleichtert die Einführung des Details, genügt aber nicht als Erklärung: Während des Empfangs bei Helenus z. B. überreicht nämlich – ganz nach homerischem Vorbild – nur der Gastgeber entsprechende Geschenke. Vgl. GIBSON (1999) 194.
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wand aus dem Besitz Helenas, s. Verg. Aen. 1,648-652) weckt die Assoziation des unverhofften Danaergeschenks, dem die Trojaner zum Opfer fallen sollten.112 Ihre volle Wirkung entfalten die (für den Leser) unheilverkündenden Gaben erst in Verbindung mit dem verstellten Cupido. Menschliches und Göttliches wirken hier zusammen; Aeneas handelt unwissend im Einklang mit seiner Mutter Venus, auf deren Aufforderung hin Amor tätig wird. Als vermeintlicher Ascanius steigert dieser seinen unheilvollen Einfluß auf Dido, indem er sich, offenbar auf ihrem Schoß sitzend, von ihr liebkosen läßt. Dieses Detail hat für Diskussion gesorgt, da es der vorher ausdrücklich erwähnten liegenden Haltung der Gäste (Verg. Aen. 1,698, 700 und 708) zu widersprechen scheint. Die Verwendung von Speiseliegen ist nicht nur bei Vergil, sondern auch in der späteren römischen Epik ein typisches Element, das sich von den Sitten der homerischen Helden auffallend abhebt, da diese, soweit sich die Position der Teilnehmer bestimmen läßt, ausschließlich sitzend speisen.113 Eine Lösung des Problems deutet sich in dem Adjektiv interdum (Verg. Aen. 1,718) an, das einen Wechsel zwischen liegender und sitzender Haltung nahelegt. Nachdem Ascanius/Cupido »die große Liebe des falschen Vaters erfüllt (= gesättigt) hat, geht er die Königin an« (Verg. Aen. 1,716f.). Das durch die betonte Stellung am Versanfang als Neuansatz markierte Kolon reginam petit bezeichnet die offensive Hinwendung Cupidos zu seinem eigentlichen Opfer.114 Eine Aussage über den Standort des 112 DUCKWORTH (1966) 59, GIBSON (1999) 193f. Als Vorausdeutung auf das kommende Unglück wurden die Geschenke auch von Valerius Flaccus verstanden. Venus schenkt Medea zur Hochzeit mit Jason ihre »doppelte Krone« (Val. Flac 8,235f.: ipsa suam duplicem Cytherea coronam / donat, deren Beschreibung offenbar an Vergil orientiert ist, vgl. Verg. Aen. 1,655 (Geschenke für Dido): duplicem gemmis auroque coronam), die später »bei einer anderen Braut funkeln werden.« (Val. Flac. 8,235f.: coronam / donat et arsuras alia cum virgine gemmas). Die Stelle setzt eine entsprechende Interpretation der Vergilstelle voraus, dazu SCHIMANN (1998) 126f. 113 REECE (1993) 22. S. o. S. 67f. 114 Die Vorgehensweise Cupidos, der sich zuerst Aeneas und dann der Königin zuwendet, wird schon von Donat als Teil des Täuschungsmanövers gedeutet. Die modernen Kommentatoren stimmen dem zu, s. STÉGEN (1975) zu Aen. 1,715-716: »Selon Donat (139,8) il est naturel que Cupidon, pour jouer son rôle, aille d’abord auprès du père d’Ascagne, dont il a pris l’apparence. De plus, si Énée lui-même est induit en erreur, cela rendra vraisemblable que les autres le soient aussi [...]. Il faut en effet que Cupidon soit capable de répondre d’abord à un grand amour paternel d’Énée pour pouvoir abuser aussi les autres convives, à commencer par Didon.« Ähnlich PARATORE (1978) zu Aen. 1,715: »Per rendere più naturale il proprio contegno, Cupido ostenta prima i segni d’affetto per il suo presunto padre.« Indem der Dichter den (körperlichen) Wechsel Amors von Aeneas
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Knaben ist ihm jedoch nicht zu entnehmen. Der Liebesgott richtet seine Aufmerksamkeit nun auf Dido und verfehlt die gewünschte Wirkung nicht. In drei Kola wird die Reaktion der Königin geschildert: haec oculis, haec pectore toto / haeret et interdum gremio fovet (V. 1,717f.) Dabei werden optischer Eindruck und vollkommene Zuneigung durch die Anapher (haec...haec) in enge Beziehung gesetzt, wie auch schon bei der Ankunft des Ascanius/Cupido sein bloßer Anblick den Ausschlag gab (V. 1,713f.: ardescitque tuendo / Phoenissa). Erst danach kommt »zuweilen« (interdum) auch die Berührung und die Liebkosung auf dem Schoß der Gastgeberin hinzu – eine freundliche Geste im Gefolge der schon durch das Schauen geweckten Sympathie. Die so geknüpfte Beziehung zwischen beiden wird durch das zweimalige Bild des Feuers veranschaulicht: Beim Anblick des »glühenden« Gesichtes des Gottes (flagrantis, V. 710) »entbrennt« die Königin (ardescit V. 713). Da der Gott nicht auf den physischen Kontakt angewiesen ist, um sein Ziel zu erreichen,115 kann er es sich leisten, sich nur bei Gelegenheit von Dido berühren zu lassen. Die grundsätzlich liegende Haltung bei Tisch und das Sitzen auf dem Schoß stehen also nicht in unlösbarem Widerspruch. Die Gesellschaft tafelt in nachhomerischer Weise auf Speiseliegen, und nur dann und wann richtet sich Dido auf, um das Kind auf ihren Schoß zu nehmen. Indem der Dichter auf eine noch aktivere Rolle des Cupido – z.B. auf den aggressiveren Pfeilschuß – verzichtet, legt er den Akzent auf die langsam wachsende Liebe der Dido, zu Dido betont, stellt er jedoch zugleich auch die Übertragung der (unkörperlichen) Liebe anschaulich dar, die Dido kurz darauf während der Erzählungen des Aeneas »trinkt.« (Verg. Aen. 1,749). Dieser Aspekt wird in der Forschung zu wenig beachtet. 115 Diese unkörperliche Wirkungsweise des vergilischen Liebesgottes konstatiert W. KÜHN zurückhaltend: »Amors Wirken geschieht völlig unsinnenhaft.« Es fehle nicht nur der aus Apollonios bekannte Pfeilschuß, sondern »nicht einmal des Feuerhauchs oder des Gifts bedarf der Gott, wie es dem Auftrag entsprochen hätte (v. 688) – und das hätte doch ein anschauliches Bild ergeben.« Es ist möglich, daß die Auffassung von einer typischerweise sinnlichen Einflußnahme des Gottes durch einen fragwürdigen Analogieschluß, möglicherweise unter Einfluß der Allectoszene, bedingt ist. Vgl. demgegenüber die aus auktorialer Perspektive gelieferte Einleitung der Venus-Cupido-Szene, in der von dona als primäres Mittel zur Verführung Didos die Rede ist, Verg. Aen. 1,659f.: pro dulci Ascanio veniat, donisque furentem / incendat reginam atque ossibus implicet ignem. Erst Venus stellt in ihrer Anrede das »Einhauchen« der Liebesglut in den Vordergrund, das durch Didos Küsse und Umarmungen erleichtert wird (Aen. 1,684-688). In der Durchführung des Plans nehmen sodann wieder die Geschenke eine wichtige Rolle ein, die den ersten Kontakt herstellen und mit der Wirkung des Cupido gleichgeordnet werden, vgl. V. 1,695f. und 1,709-714, bes. 713f. Das »unsinnenhafte« Wirken zeigt sich also nicht erst beim direkten Kontakt mit Dido, sondern ist von Anfang an intendiert.
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die er von Beginn des ersten Buches an sorgfältig vorbereitet hat.116 Zugleich stärkt diese Konzeption die Rolle der Venus, die wegen der fehlenden Eigeninitiative des Liebesgottes stets als eigentliche Akteurin im Hintergrund fühlbar bleibt. Das im Rahmen eines typisch epischen Gastmahls ungewöhnliche Element des maskierten Liebesgottes steht daher durchaus in Einklang mit der aktiven Rolle der Venus in der Aeneis.117 Die Zweiteilung des Mahls in eine Phase des Speisens und einen Umtrunk, wie wir sie hier finden, ist zwar aus anderen Quellen als verbreitete Sitte im griechischen und römischen Kulturkreis bekannt, erscheint aber in epischen Gastmahlszenen sehr selten. Bei homerischen Gelagen genießen die Teilnehmer Brot, Fleisch und Wein gewöhnlich zusammen,118 und auch in der Gruppe der nachhomerischen Gastmahlszenen, wo die Speisen meist vor dem Wein genannt werden, läßt sich nur in drei Fällen eine Trennung von Mahl und Trinkgelage nachweisen.119 Der Unterschied zu der homerischen Gepflogenheit von gleichzeitigem Essen und Trinken wird allerdings in der Dido-Aeneas-Szene dadurch verdeckt, daß bei einem wichtigen Vorbild, dem Gastmahl der Phäaken, der genaue Ablauf der Mahlzeit gar nicht geschildert wird, da Odysseus erst kurz vor Ende des Festes eintrifft. Zudem läßt Vergil in V. 1,723f. (postquam prima quies epulis mensaeque remotae / crateras magnos statuunt et vina coronant) zwei homerische Formelverse anklingen, von denen einer zur Vorbereitung der Speisen gehört (vgl. Hom. Od. 1,148 u.ö. KRHTRAWPESTCANTOPOTOºO), der andere den Einschnitt zwischen Mahl und Unterhaltung bezeichnet (AÆTkR PE¹ PÎSIOWKA¹DHTÃOWJRON
NTO Hom. Od. 1,150 u.ö.) Bei Vergil rückt 116 STAHL (1969) 347f. 117 KÜHN (1971) 169: »Der Wechsel zwischen einem feindseligen Unternehmen der Juno und einem helfenden Eingriff der Venus erweist sich geradezu als ein Rhythmus, der die Abfolge der Götterszenen bestimmt.« 118 S. dazu oben S. 80f. 119 Außer der Didoszene handelt es sich um den Besuch von Diomedes und Odysseus bei Lycomedes, Stat. Ach.1,773f. und das Abschiedsmahl der Argonauten bei Valerius Flaccus. Hier ist die Trennung nur angedeutet: Die Diener bringen zunächst Fleisch und Brot, Val. Flac. 1,253f., während der Wein erst wenig später, nach der Ankunft Chirons und des kleinen Achill, erwähnt wird (Val. Flac. 1,260f.: illum nec valido spumantia pocula Baccho / sollicitant). Zum Abschluß der Aktivitäten nach dem Mahl erscheint nur der Wein, während von Speisen keine Rede mehr ist, Val. Flac. 1,294: Iamque mero ludoque modus. KLINGNER (1967) 406 unterscheidet nicht deutlich zwischen wirklichen hellenistischen und römischen Tischsitten und der literarischen Konvention, wenn er bemerkt: »Nicht der Weise Homers, sondern späterer griechischer und römischer Sitte entspricht es, daß zwei Phasen unterschieden sind. Zuerst speist man (701-722), dann beginnt das Symposion (723-756).«
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dieser Vers zwischen Speisen und Umtrunk. So erhält die Szene trotz der Unterschiede im Detail eine homerische Färbung. Besonders deutlich wird die Homerimitation in dem Ausdruck vina coronant, bei dem Vergil eine wörtliche Übersetzung von PESTCANTO120 einer sinngemäß richtigen Wiedergabe vorgezogen hat. Aus »sie füllten die Becher bis an den Rand« wird nun, unter Bewahrung des wörtlichen Anklangs, »sie schmückten die Becher mit Kränzen.« Tatsächlich zeigen Vasenbilder solche bekränzten Trinkgefäße.121 Vergil sucht hier auf formaler Ebene den Anschluß an homerische Gepflogenheiten, während er sich inhaltlich von dem Vorbild löst. Dem Vorgang des Essens selbst widmet Vergil wenig Aufmerksamkeit. Diese Zurückhaltung ist ein durchgehendes Kennzeichen aller epischen Mahlbeschreibungen, die sie von der Satire, dem Epigramm und Roman unterscheidet (s. dazu oben S. 78ff.). Der Grund kann nicht allein darin liegen, daß Essen und Trinken, wie andere ›niedere‹ Tätigkeiten des Alltags, als unpassend für den hohen epischen Stil angesehen wurden.122 Denn auch in Ilias und Odyssee, in denen noch keine Stiltrennung vorliegt, wird das Verzehren von Speisen denkbar knapp abgehandelt.123 Vielmehr handelt es sich um eine Form der Raffung, die zur epischen Kürze beiträgt und das Hauptinteresse des Epikers erkennen läßt. Dies liegt, anders als in der Satire oder im Epigramm, auf dem zweiten Teil des Gastmahls, der sich an den Verzehr der Speisen anschließt.124 Generell weichen epische Gastmahlbeschreibungen in der zweiten Hälfte des Banketts stärker voneinander ab als in der ersten. Dies hängt damit zusammen, daß nach dem eigentlichen Essen die Unterhaltung beginnt, in der die spezifischen Anliegen und Figurenkonstellationen zum Ausdruck kommen, welche jedem Epos sein eigenes Gepräge verleihen. Heitere Erzählungen und Bittreden, Gesang oder wissenschaftlicher Vortrag sind nur einige Formen, die diese Konversation annehmen kann. Allerdings lassen sich einige Konventionen erkennen, die die einzelnen Varianten verbinden. 120 z.B. Hom. Od. 1,148. 121 LISSARRAGUE (1990) 197 Anm. 6 (mit Verweis auf Bildtafeln). 122 HEINZE (1957) 488: »Es ist aber überhaupt der Würde des heroischen Gedichts nicht angemessen, ohne Not die kleinen Alltäglichkeiten des Daseins zu erwähnen, essen und trinken, schlafen und sich ankleiden; wo es geschieht, hat es irgendwelche besondere Bedeutung.« 123 REECE (1993) 24: »The preparation of the feast is generally described in great detail, but the actual consumption of the food merits only a simple, one-verse formula.« S.o. S. 81ff. 124 Vgl. als Kontrast z.B. die lange Reihe von Speisen Mart. ep. 1,43 und 7,20,4-19.
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Häufig findet sich eine Trennung zwischen eigentlichem Mahl und Unterhaltung, die auch Vergil beachtet. Die beiden Phasen sind in der Dido-Aeneas-Szene nicht nur durch die Anspielung auf homerisches Versgut, sondern auch durch die Art der Darstellung markiert. Während im zweiten Teil der Szene (Verg. Aen.1,723756) der Gehörsinn im Vordergrund steht, konzentriert sich der Dichter in der ersten Hälfte (Verg. Aen. 1,697-722) auf die optische Wahrnehmung, vgl. aurea (V. 698), mediam (V. 698), ostro (V. 700), pictis (V. 708), flagrantisque dei vultus (V. 710), pictum croceo velamen acantho (V. 711), ardescitque tuendo (V. 713), haec oculis [...] haeret (V. 717f.). Den einzigen Hinweis darauf, daß schon während dieser Phase des Gastmahls ein Gespräch angeknüpft wird, liefert der Verweis auf die »geheuchelten Worte« (simulataque verba, Verg. Aen. 1,710), mit denen Ascanius/Cupido die Karthager in seinen Bann schlägt. Die im Vordergrund stehenden optischen Eindrücke vermitteln dem Leser jedoch keine geschlossene Vorstellung von den Räumlichkeiten und den Anwesenden. Vielmehr werden, wie schon in der von der Gastmahlszene getrennten Ekphrasis, einzelne Elemente herausgegriffen, die die in der Palastbeschreibung erzeugte Stimmung aufgreifen. Man vergleiche das wiederholte Detail des kostbaren Stoffes (V. 711, vgl. 639) und des – teils metaphorisch gebrauchten – Glanzes (flagrantis V. 710, ardescitque tuendo V.713), das sich auch in den zweiten Teil des Mahls hineinzieht (V. 726f. über die Leuchter). Die Konzentration auf einzelne Bestandteile statt auf den großen Zusammenhang läßt sich schon in homerischen Ekphraseis beobachten.125 Diese Form der Beschreibung, die Vergil geschickt nachahmt, ermöglicht es dem Dichter, bei größtmöglicher Kürze den gewünschten Effekt beim Leser zu erzielen: Nur die für den Zusammenhang bedeutsamen Details brauchen erwähnt zu werden, alle anderen können fortfallen, ohne daß der an Ilias und Odyssee geschulte Leser eine zusammenhängende Beschreibung vermißt. Stand im ersten Abschnitt des Gastmahls der optische Eindruck im Vordergrund, so liegt der Schwerpunkt im Schlußteil auf der akustischen Wahrnehmung. Die erhöhte Zahl der Belege wird auf erzähltechnischer Ebene durch die Wiedergabe der Darbietung des Iopas und des Gesprächs zwischen Dido und Aeneas hervorgerufen, der so erweckte Eindruck eines 125 KRISCHER (1977) 92: »Der Dichter breitet [...] die Eigenschaften eines Gegenstandes aus, seine Materialien, Teile, Dekorationen; dabei erfaßt er aber nicht (oder allenfalls in Andeutungen) die Relationen dieser Teile untereinander.«
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erhöhten Geräuschpegels liegt aber in der Absicht des Dichters: fit strepitus tectis vocemque per ampla volutant / atria (Verg. Aen. 1,725f.) heißt es zu Beginn des Umtrunks: Der Palast hallt also wider von der fröhlichen Festgesellschaft. Beschrieben wird jedoch nur die Unterredung der Königin mit ihrem Gast, die gleichsam stellvertretend das Geschehen im übrigen Hause illustriert. In früheren Gastmahlschilderungen fehlen Entsprechungen zum vergilischen fit strepitus, ja die Beschäftigung der übrigen Anwesenden wird in der Regel vollkommen übergangen. Dieses Schweigen ist jedoch aussagekräftig. In einem Sonderfall nämlich, bei dem im Festsaal neben der Unterhaltung der Protagonisten noch eine andere wichtige Tätigkeit stattfindet, wird diese ausdrücklich erwähnt: Es handelt sich um den Besuch von Athene/Mentes in Ithaka, als Phemios vor den Freiern singt (Hom. Od. 1,151-155), während Telemach und die Göttin sich unterreden. Beide Ereignisse werden als gleichzeitig gekennzeichnet.126 Da die späteren Epiker also über ein Modell für die Darstellung von Unterhaltungen auf mehreren Ebenen verfügten, kann das Fehlen dieser Konstellation nur heißen, daß sich während der Unterredung der Protagonisten keine anderen bedeutsamen Ereignisse im Festsaal abspielen. Der Abschnitt nach dem eigentlichen Mahl Der Umtrunk beginnt mit einer feierlichen Trankspende, die Dido zu Ehren Jupiters, des Beschützers der Fremden, ausgießt. Seit Homer ist eine solche Libation das Vorrecht des Gastgebers und Hausherrn bzw. einer ihm nahestehenden Person.127 In dieser Funktion führt auch Dido das Ritual durch, obwohl sie selbst nur an dem Wein nippt (s. u. Anm. 138). 126 Daß die beiden Beschäftigungen (pace ZIELINSKI) tatsächlich gleichzeitig stattfinden, ergibt sich deutlich aus Hom. Od. 1,155f. Nach dem Mahl verlangen die Freier nach Gesang und Tanz (Hom. Od. 1,150-152: AÆTkRPE¹PÎSIOWKA¹DHTÃOWJRON
NTO [...] TOºSINMNN¹FRES¹NoLLAMEMLEIMOLPT ÑRXHSTÃWTE , Telemach aber beginnt ein Gespräch mit seinem Gast, was er ausdrücklich bis zum Ende der Mahlzeit verschoben hatte (Hom. Od. 1,123f.). Er und die Freier haben ihren Schmaus also gleichzeitig beendet und wenden sich nun dem Gespräch bzw. dem Sänger zu. 127 In diesem Zusammenhang ist (außerhalb einer Gastmahlszene) Hom. Od. 18,151f. von Interesse. Der Bettler Odysseus gießt hier im Anschluß an sein Gespräch mit Amphinomos aus dem ihm gereichten Pokal eine Trankspende aus und gibt seinem Gesprächspartner dann den Becher zurück. Obwohl er sich noch nicht zu erkennen gegeben hat, übernimmt er hier bereits eine typische Aufgabe des Hausherrn. Die Stelle kann also zu den Gelegenheiten gerechnet werden, bei denen sich die wahre Identität des verwandelten Odysseus andeutet (Vgl. seine kräftige Gestalt beim Boxkampf mit Iros, der der Trankspende unmittelbar vorausgeht, Hom. Od. 18,66-71). Unrichtig hierzu REECE
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Die Position der Libation zwischen eigentlichem Mahl (Element VII) und dem Gespräch zwischen Gastgeber und Gast (Element IX) unterscheidet sich jedoch von der homerischen Tradition. In Ilias und Odyssee erfolgt eine vergleichbare Trankspende meist gegen Ende des Festes, kurz bevor sich die Beteiligten zur Ruhe begeben:128 Achill gießt eine Trankspende erst aus, als der Schmaus beendet ist, und auch Alkinoos hebt das offizielle Bankett mit dieser Geste auf, ehe er und Arete allein mit Odysseus zurückbleiben.129 Demgegenüber spiegelt der Zeitpunkt der Trankspende bei Dido eine nachhomerische Gepflogenheit wider, die auch außerhalb des Epos gut bezeugt ist.130 Bei Vergil findet sie sich noch beim Gastmahl des Euander: Der König hält sich bei Ankunft der Trojaner mit seinem Gefolge in einem (1993) 30: »Amphinomus [...] allows Odysseus to share in a libation.« Zwar hatte Amphinomos dem Bettler vorher anerkennend zugetrunken, aber es ist Odysseus, von dem die Libation ausgeht. Richtig bei KIRCHER (1910) 62. 128 S. Hom. Il. 9,174-178: Mahl der Heerführer vor der Presbeia; Hom. Il. 9,712: Presbeia zu Achill; Hom. Od. 3,390-396: Telemach bei Nestor; Hom. Od. 7,136-138 und 228f.: Odysseus bei den Phäaken. Die hier behandelten Spenden während einer ›gewöhnlichen‹ Mahlzeit sind dabei zu trennen von den Trankspenden, die zum Opferschmaus gehören: Wird ein Schlachtopfer dargebracht, so gießt der Leiter des Rituals den Wein nicht am Ende des Mahls aus, sondern vor dem Verzehr des Fleisches, vgl. Hom. Il. 11,774f.; Hom. Od. 3,43-64; A.R.1,435f. Eumaios, dessen Gastmahl von zahlreichen religiösen Handlungen geprägt ist, spendet den Göttern nicht am Ende des Mahls, sondern während er den Masteber schlachtet (Hom. Od. 14,447). Die Handlung rückt dadurch in die Nähe von Opferszenen und hebt die fromme Gesinnung des Sauhirten hervor. Zur Stellung der Libation s.o. S. 88f. 129 Eine Ausnahme bildet die oben erwähnte Libation, die Odysseus während des Gelages der Freier, das wir nicht als eigene Gastmahlszene gewertet haben, im Anschluß an das Gespräch mit Amphinomos darbringt. Sie kündigt nicht das Ende des gesamten Schmauses an, sondern nur den Endpunkt einer Unterredung, was von Amphinomos auch richtig verstanden wird, da er sofort durch den Saal davongeht (Hom. Od. 18,153f.). 130 Die Trankspende wird in den übrigen lateinischen Gastmahlszenen, in denen sich der Zeitpunkt der Libation näher bestimmen läßt, stets wie bei Vergil nach dem Essen dargebracht. Vgl. Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. Theb. 1,552-554; Hannibal in Capua, Sil. 11,299-302 (im Anschluß an das erste Lied des Teuthras). Die einzige Stelle bei Lukan, an der eine libatio erwähnt wird (beim gemeinsamen Mahl von Caesarianern und Pompeianern), ist zwar zu kurz, um als vollständige Mahlszene zu gelten, doch nennt der Dichter auch hier zuerst die Speisen, dann das Trankopfer und dann die angeregte Unterhaltung, Lucan. 4,197-200: mensas / instituunt et permixto libamina Baccho; / graminei luxere foci, iunctoque cubili / extrahit insomnis bellorum fabula noctes. Als Hannibal während des Gelages in Capua seine Libation darbringt, haben die Soldaten zwar schon zuvor Wein genossen (Sil. 11,285f.), doch fügt Silius ausdrücklich hinzu, daß erst nach der Trankspende dessen eigentliche Wirkung einsetzt (Sil. 11,299-302). Zu Belegen außerhalb des Epos s. KIRCHER (1910) 14f. Während des Trinkens konnten dann erneut Libationen, die sogenannten Gelagespenden, dargebracht werden. S. KIRCHER (1910) 14f.
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heiligen Hain auf, wo er Hercules ein Opfer dargebracht und das dazugehörige Mahl fast beendet hat (Verg. Aen. 8,109f.: cunctique relictis / consurgunt mensis; V. 8,175f.: dapes iubet et sublata reponi / pocula).131 Nach einer ersten Bewirtung der Trojaner (V. 8,184: Postquam exempta fames et amor compressus edendi, vgl. V. 1,723) bringt Euander schließlich eine Weinspende zu Ehren des Hercules dar. Sie folgt auf eine längere aitiologische Erzählung, in der er den Ursprung der Herculesverehrung dargelegt hatte (V. 8,184-272), und mit der er nun zur Libation überleitet (V. 8,273275: quare agite, o iuvenes, [....] date vina volentes). Die Stellung der Trankspende nach dem Mahl und ihre Einleitung durch eine religiöse Ansprache stimmen also mit dem Gastmahl der Dido überein. Nur nimmt die Ansprache in Karthago die Form eines auf die Zukunft gerichteten Bittgebets an, während es sich bei Euander um eine Rückbesinnung auf den Mythos handelt. Auch dieser wird jedoch mit einem Blick auf die Zukunft beendet (V. 8,271f.: hanc aram luco statuit quae maxima semper / dicetur nobis et erit quae maxima semper). Auch enden beide Reden mit einem betonten dixit (V. 1,736) bzw. dixerat (V. 8,276), die jeweils am Versanfang stehen und den Übergang zur eigentlichen Trankspende bezeichnen. Auch andere Autoren leiten, wenn sie ein ausdrückliches Gebet schildern, das Versprengen des Weines mit einer vergleichbaren Wendung ein, vgl. Hom. Od. 18,151: ªW FjTO KA¹ SPE¸SAW PIEN MELIHDA OÁNON Val. Flac. 1,204: sic fatus, Val. Flac. 3,456: dixerat et, Val. Flac. 5,615: fatur et. Didos Bitte (Iuppiter [...] / hunc laetum Tyriisque diem Troiaque profectis / esse velis, notrosque huius meminisse minores, Aen. 1,731-733) ist durch dieselbe tragische Ironie gekennzeichnet, die der Leser schon beim Auftritt Cupidos und dem bedeutungsschweren Gastgeschenk der Trojaner empfand. Zwar werden sich beide Wünsche erfüllen, aber auf andere Weise als die Königin hofft. Wohl endet der Tag fröhlich, doch in dem strahlenden Fest ist Didos Untergang bereits angelegt, so daß sich die Nachfahren von Trojanern und Karthagern mit Bitterkeit und in gegenseitiger Feindschaft daran erinnern werden. Die Tragik der Situation tritt um so deutlicher hervor, als Dido die religiösen Gepflogenheiten genau beachtet. Wenn beim epischen Gastmahl religiöse Riten korrekt und in gegenseitigem Einverständnis durchgeführt werden, so hebt dies die fromme Gesinnung der betreffenden Personen hervor, die zugleich eine günstige Einstel131 Man beachte das Detail des Ankömmlings, der auf eine speisende Gesellschaft trifft, s.o. S. 47f.
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lung gegenüber dem Gast impliziert: Die Phäaken beenden ihren Schmaus mit einer Trankspende an Hermes (Hom. Od. 7,136-138), und Nestor sprengt den Göttern Wein (Hom. Od. 3,341), ebenso wie der fromme Euander (Verg. Aen. 8,278f.).132 Odysseus kann darauf zählen, daß ihn die Phäaken sicher in die Heimat zurückführen, und auch Telemach kann sicher sein, daß Nestor ihm seinen Sohn in guter Absicht als Begleiter mitgibt. Aeneas wiederum wird in Euander einen zuverlässigen Bundesgenossen beim Kampf um Latium finden.133 Umgekehrt weist das Fehlen religiöser Riten nicht zwingend auf eine negative Beurteilung des jeweiligen Gastgebers hin. Bei der Bewirtung des Telemach am Königshof von Sparta im vierten Buch der Odyssee fehlt zwar die Libation, doch stellt Menelaos gleich zu Beginn die religiöse Verpflichtung zur Gastfreundschaft heraus.134 Beim Empfang von Telemach in der Hütte des Eumaios (Hom. Od. 16,4-153) wiederum können religiöse Anspielungen entfallen, da die unmittelbar zuvor geschilderte Bewirtung des Odysseus den frommen Charakter des Schweinehirten bereits hinreichend verdeutlicht hat. Eine eindeutig negative Wertung ist nur in Fällen gegeben, in denen Riten und Opfer in verzerrter Weise erscheinen, wie beim Fest der Kleopatra (Lucan. 10,107-333), und in den meisten Antigastmählern, wie z.B. dem der Lapithen und Kentauren, das in einer blutigen Schlacht endet (Ov.
132 Ein Beispiel für eine negativ dargestellte religiöse Handlung, bei der sich die Teilnehmer nicht nach dem üblichen Verhaltenskodex richten, bildet die Trankspende des Hannibal an Capys (Sil. 11,299f.). Die Libation, mit der der Feldherr seine freundliche Gesinnung gegenüber der zu ihm übergelaufenen Stadt Capua bekundet, mündet in ein ausschweifendes Gelage, bei dem sich die Gäste an Wein berauschen, s. Sil. 11,301f.: cetera quem sequitur Bacchique e more liquorem / irrorat mensis turba ardescitque Lyaeo. Vgl. auch die Trankspenden des Aietes und des Jason bei Valerius Flaccus, die am Schluß eines von latenten Spannungen geprägten Mahls getrennt ihren jeweiligen Schutzgottheiten opfern: occiduo libat cratera parenti / quisque suis tum vota deis et pocula fundit, / dent aciem, dent belligeros superare labores (Val. Flac. 5,615-617). Der Dichter betont hier mit der Libation einerseits die Nähe des Aietes zu seinem Vater Sol, zum anderen erzielt er durch die beiden parallel ablaufenden Libationen einen effektvollen Kontrast. 133 Weitere Beispiele sind die gemeinsame Libation des Achill und der Gesandten, Hom. Il. 9,656f. (Achill bleibt trotz seines Grolls gegen Agamemnon der Freund der Gesandten) und die des treuen Eumaios, Hom. Od. 14,446f. (er bietet dem unerkannt heimkehrenden Odysseus Schutz und wird neben Telemach zu seinem wichtigsten Helfer). 134 Hom. Od. 4,33-35 (im Gespräch mit Eteoneus): MN D N¤Ð JEINÐA POLLk FAGÎNTEW oLLVN mNYR¢PVN DEÅR ¼KÎMEY A½ K POYI ;EÄW JOP¸SV PER PAÃS×ÑIZÃOW.
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met.12,210-535), bzw. der lemnischen Frauen, die schließlich ihre ahnungslosen Männer ermorden (Stat. Theb. 5,186-264, s. unten den Exkurs). Vor diesem Hintergrund wirkt die Trankspende der Dido um so tragischer. Obwohl sie sich in allem an den Brauch der Väter hält,135 die Fremden freundlich bewirtet, den Göttern opfert und sie um Beistand anfleht, wird von dem Gastmahl für sie nur Unglück ausgehen.136 Die Art der Darstellung entlastet die Königin. Nicht die Menschen, sondern die Götter sind es, die das unheilvolle Geschehen in Gang setzen. Noch während die Protagonisten arglos beten, nimmt das Schicksal seinen Lauf, ohne daß die Figuren es bemerken oder gar verhindern könnten. Nur der Leser erkennt in der Schilderung einzelne Hinweise. Zu ihnen gehört das hastige Trinken des Bitias, der, als Dido ihm nach der Trankspende die patera reicht, sein Gesicht förmlich in den Wein taucht.137 Seine Eile fällt um so mehr ins Auge, als Dido selbst nur an dem Wein nippt, bevor sie ihrem Gefolgsmann die Schale weiterreicht (Verg. Aen. 1,737: summo tenus attigit ore). Servius deutet die Zurückhaltung der Königin als Adaption römischer Gepflogenheiten,138 doch dient sie erzähltechnisch auch als Folie für das ungestüme Verhalten des Bitias.139 Hastiges oder übermäßiges Trinken, ein naturalistischer Zug, der sich vom hohen epischen Stil abhebt,140 fungiert auch bei anderen Autoren als Warnsignal. Die 135 Verg. Aen. 1,729f.: implevitque mero pateram, quam Belus et omnes / a Belo soliti. 136 Die rechte Gesinnung der Dido wird noch dadurch unterstrichen, daß sie die Karthager mit den gleichen Worten zum Feiern einlädt wie der pius Euander: Verg. Aen. 8,173: annua, quae differre nefas, celebrate faventes; V. 1,735: et vos o coetum, Tyrii, celebrate faventes. 137 Zu der Wendung pleno se proluit auro vgl. u. Anm. 140. 138 Servius ad Aen. 737: »et verecundiam reginae ostendit, et morem Romanum. Nam apud maiores nostros feminae non utebantur vino, nisi sacrorum causa certis diebus.« Daß das Gastmahl nicht in Rom, sondern in Karthago stattfindet, beachtet er nicht. 139 AUSTIN (1971) zu V. 1,738.: »Virgil neatly shows here and in the next line the contrast between the delicate Dido and the somewhat unpolished manners of her men.« Vgl. PUTNAM in seinem ›Intervento‹ zu GRIFFIN (1995) 296: »Her [sc. Dido’s] moderation is counterbalanced by the deep, foaming draughts in which Bitias and his fellow courtiers find pleasure.« 140 Vgl. HEINZE (1957) 488. Auch ZWIERLEIN (1999) 430 weist, allerdings mit anderen Folgerungen für die Textkonstitution, auf den auffälligen Charakter der Verse als »derb-komische Trinkszene« hin. In den modernen Kommentaren, soweit sie Stellung nehmen, herrscht die Auffassung vor, pleno se proluit auro (V. 1,739) sei ein Synonym für ›trinken‹. Die Parallelen lassen jedoch Zweifel an dieser Interpretation aufkommen. Das Verb proluere als Synonym für bibere ist z.B. bei Horaz bezeugt, wird aber m.W. nie reflexiv gebraucht. (Vgl. Hor. serm. 1,5,16: multa prolutus vappa nauta von einem be-
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törichten Gefährten des Odysseus zeichnen sich nach dem Kampf mit den Kikonen ebenso durch unbeherrschten Weingenuß aus (Hom. Od. 9,44f.: TO¹DMGANPIOIOÆKP¸YONTONYADPOLLÏNMNMYUP¸NETO) wie der gefährliche Kyklop (Hom. Od. 9,361) oder die Kentauren, bevor sie die Schlacht mit den Lapithen provozieren (Ov. met. 12,219-221). Das Vorbild für Bitias bildet der streitsüchtige Idas, der durch sein Verhalten die Expedition der Argonauten in Gefahr bringt und so gierig trinkt, daß er sich sogar den Bart besudelt (A.R. 1,472-474).141 Erst durch den Gesang des Orpheus wird der Konflikt beigelegt (A.R. 1,496-515). Für Dido und Aeneas freilich – zumal im Rahmen des fröhlichen Mahls von Trojanern und Karthagern – ist dieser Zusammenhang nicht erkennbar. Sie lauschen sorglos trunkenen Seemann; 2,4,26f.: leni praecordia mulso / prolueris melius in der Zurechtweisung eines Zechers). GOLDBERGER (1932) 122 verweist auf »den Kraftausdruck se proluere, der trotz Verg. Aen. 1,739 sicher vulgär ist (Plaut. Curc. 121 cloacam proluere ›den Magen ausspülen – saufen‹ [...]),« ohne jedoch Belege für den reflexiven Gebrauch anzuführen, ebenso BONFANTE (1937) 51 vgl. JENKINSON (1989) 356 mit Anm. 51. Die mehrfach in diesem Zusammenhang angeführte Stelle Pers. prol. 1: nec fonte labra prolui caballino ist dagegen wohl im Sinne von ›bespülen‹, ›benetzen‹ zu verstehen. Vergil selbst verwendet proluere nirgends sonst im Sinne von ›trinken‹, ebensowenig wie Lukan und Valerius Flaccus, die das Verb gänzlich meiden, oder Statius und Silius, die es nur in seiner Grundbedeutung ›überströmen, benetzen, bespülen‹ kennen. In dieser Verwendung hat proluere keinen vulgären Unterton. Die antiken Kommentatoren deuten die Stelle daher im Sinne von ›sich benetzen‹, vgl. Servius ad loc.: »PROLUIT bibendo profudit« und Macr. sat. 7,1,14: Apud Didonem Bitias sic hauriens merum, ut se totum superflua eius effusione prolueret. Die antiken Horazscholien zu den beiden angeführten Stellen geben wenig Aufschluß, obwohl sie ausdrücklich auf Vergil verweisen, vgl. Pseudoacronis Schol. Hor. sat. 1,5,16: »›prolutus‹ plenus; ut Virgilius (Aen. I,739)« und Schol. Hor. 2,4,26 »›prolueris‹ profuderis [irrigaveris Virgilius« (Verg. Aen. 1,739). Mir scheint die Bedeutung ›sich beim Trinken aus der vollen Schale das Gesicht benetzen‹, ›das Gesicht in den Wein tauchen‹ den Sinn am ehesten zu treffen, zumal plenus so eine prägnante Bedeutung erhält. Vgl. die Übersetzung von CANALI (1978): »quegli [...] tuffò il viso nel pieno oro.« ähnlich STÉGENS (1975) Erklärung ad loc.: »il s’est baigné le visage dans l’or.« Das folgende post alii proceres (Verg. Aen. 1,740) braucht dabei nicht zu irritieren: Es bildet den Schluß einer Aufzählung (Verg. Aen. 1,737 prima [sc. Dido], Verg. Aen. 1,738 tum Bitiae dedit, Verg. Aen. 1,740 post alii proceres) und bezieht sich auf die Reihenfolge der Trinkenden. Kleine Abweichungen vom hohen Stil, wie hier der naturalistische Zug, werden auch von anderen Epikern als Kunstgriff eingesetzt, s. COFFEY (1996) 86-92 zu Lukan. 141 S. dazu NELIS (2001)a 96f. Eine bisher m.W. nicht beachtete Nachahmung des Auftritts des Bitias findet sich bei der Vorstellung der Gäste im kolchischen Königspalast durch Aietes (Val. Flac. 5,593-595), wo der (aus der Perspektive des Aietes beschriebene) kolchische Gefolgsmann Odrussa sich so über sein Trinkgefäß beugt, daß sein Bart den Wein verunreinigt: ille profundo / incumbens Odrussa mero; viden alta comantem / pectora et ingenti turbantem pocula barba?
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dem Gesang des Iopas (Verg. Aen. 1,740-747), der von der Entstehung der Welt und den Bewegungen der Gestirne erzählt. Daß Vergil hier dem Vorbild des Apollonios folgt, hat man oft gesehen.142 Aber nicht nur der Inhalt der Lieder (beide Male handelt es sich um kosmische Zusammenhänge), auch die Verbindung von hastigem Trinken und Gesang sind aus Apollonios übernommen.143 Dadurch gewinnt das kleine Detail für den Leser an Gewicht. Der Auftritt eines Sängers gehört zu den Vergnügungen, denen sich eine Festgesellschaft höheren Standes nach dem Mahl hingibt. Dabei lassen sich zwei große Themenbereiche unterscheiden. Entweder erzählt der Barde von Ereignissen aus der Lebenswelt der Figuren, oder er konzentriert sich auf überirdische (kosmische oder mythologische) Inhalte. Iopas lenkt mit seiner Darstellung die Aufmerksamkeit auf die großen Zusammenhänge des Kosmos. Er behandelt die Entstehung von Mensch und Tier, Regen und Feuer, gerahmt von den Bewegungen der Himmelskörper. Dabei gibt Vergil nicht den exakten Inhalt des Gesangs wieder, sondern erwähnt die einzelnen Themen nur summarisch, die meisten davon in Form indirekter Fragen (Verg. Aen. 1,743: unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes; Verg. Aen. 1,745: quid [...] properent; Verg. Aen. 1,746: quae [...] obstet). Die Darstellungstechnik läßt die Ungewißheit hervortreten, während die vom Sänger gelieferten Erklärungen in den Hintergrund gedrängt werden.144 Damit weist das Lied eine strukturelle Parallele zur nachfolgenden Unterhaltung zwischen Dido und Aeneas auf, bei der die ersten Erkundigungen der Königin ebenfalls als indirekte Fragen ohne ausdrückliche Antwort wiedergegeben sind (V. 1,751: quibus [...] armis; V. 1,752: quales [...] equi, quantus Achilles). Das für die Szene so charakteristische Motiv des Nicht-Wissens und die damit verbundene dramatische Ironie, verur142 S. z.B. SCHENK (1989) 352; SEGAL (1971) 339. 143 Allerdings hat Vergil gegenüber Apollonios die Szene gemildert und den Akzent auf die Lebhaftigkeit des Geschehens gelegt (vgl. V. 1,738: dedit increpitans; hausit, V. 1,739: spumantem pateram; proluit). Von einem beschmutzten Bart ist hier keine Rede. SEGAL (1971) 340 verweist auf den Zusammenhang zwischen beiden Stellen (»In the setting of Orpheus’ song drinking also plays a prominent part [...] and Virgil may have borrowed some details from this scene«) ohne den Gedanken weiter zu verfolgen. AUSTIN (1971) zu Verg. Aen. 1,739 verweist kommentarlos auf die Apolloniosstelle. 144 Vgl. als Kontrast die thematisch ganz ähnlichen Erklärungen des Anchises zur Weltentstehung im sechsten Buch, Verg. Aen. 6,724-751, deren Inhaltsangabe mit der Feststellung zusammengefaßt wird: inde hominum pecudumque genus (Verg. Aen. 6,728). Sodann folgt eine ebenfalls konkret gehaltene Erklärung der Phänomene ohne indirekte Fragen, vgl. V. 6,733: hinc; V. 6,739: ergo; V. 6,743: exinde.
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sacht teils durch bewußte Täuschung (Verg. Aen. 1,710 simulataque verba, Verg. Aen. 1,716 falsi; vgl. daraus resultierend Verg. Aen. 1,718 inscia), teils durch die Grenzen der menschlichen Einsicht (Dido kann weder die Zukunft [vgl. ihr Bittgebet] noch alle Einzelheiten der Vergangenheit genau kennen [vgl. die Fragen an Aeneas], s. auch Verg. Aen. 1,712: infelix, pesti devota futurae, Verg. Aen. 1,749: infelix Dido), tritt im Gesang des Iopas deutlich hervor: Die Figuren durchschauen nicht die größeren geschichtlichen und kosmischen Zusammenhänge, in denen sie sich befinden.145 Der Sänger wiederum, der Antworten auf einzelne Fragen zu geben vermag (V. 743: unde hominum genus et pecudes... etc.) verdankt seine Einsicht nicht menschlicher Erkenntnis, sondern der Unterweisung durch Atlas (V. 1,741: docuit quem maximus Atlas). Mit der Wahl gerade dieses Lehrers greift Vergil einerseits die homerische Tradition auf, nach der Atlas als Begründer der Astronomie galt,146 andererseits hebt er den regionalen Aspekt der Schilderung hervor, indem er den mythischen Himmelsträger an anderer Stelle (Verg. Aen. 4,246-251) ausdrücklich mit dem afrikanischen Berg Atlas identifiziert.147 Das Streben nach Lokalkolorit hat später u.a. Lukan aufgegriffen, indem er am Hof der Kleopatra statt eines Sängers einen gebildeten ägyptischen Priester auftreten läßt, der in einem naturwissenschaftlichen Vortrag die Geheimnisse des Nilverlaufs enthüllt (Lucan. 10,193-331). Die Kenntnisse afrikanischer Gelehrter, die im Fall Ägyptens schon in der Odyssee gerühmt werden (hier geht es um medizinische Kunstfertigkeit, Hom. Od. 4,227-232), dienen in beiden Fällen dazu, den Wissensdurst der Zuhörer zu stillen.148 Damit steht das Lied des Iopas trotz inhaltlicher Berührungspunkte in einem Spannungsverhältnis zu seinem Vorbild, dem Gesang des Orpheus bei Apollonios Rhodios. Orpheus setzt eine gleichnishafte mythische Erzäh145 Die antike Homererklärung sah in dem ›unpersönlichen‹ Inhalt des Iopasgesanges einen Kontrast zu dem anzüglichen zweiten Lied des Demodokos über Ares und Aphrodite, dem der Vortrag des Iopas strukturell entspricht, s. dazu unten Anm. 150. Der unverfängliche Inhalt verdeutliche die seelische Verfassung der Dido als einer regina adhuc casta (s. Serv. ad Aen. 742), die kurz darauf ihrer verderblichen Liebe zu Aeneas verfallen wird. 146 Serv. ad. Aen. 4,246. 147 S. GARBARINO (1994) mit einer Zusammenfassung früherer Forschungsansätze. 148 Nach SEGAL (1971) 345 »Virgil has chosen to emphasize the irregularities and the blemishes of nature rather than its orderliness and harmony.« Diese Deutung scheint mir unscharf: Aus der Perspektive der Figuren mag die Natur »irregulär« oder undurchschaubar erscheinen (s. die indirekten Fragen), jedoch folgt sie in Wirklichkeit bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die von Iopas im Gesang dargelegt werden.
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lung zugleich als didaktisches Mittel ein, das den zerstrittenen Argonauten hilft, ihre Situation richtig einzuschätzen und ihr persönliches Verhalten so zu ändern, daß die bevorstehende Expedition erfolgreich verlaufen kann. Eben dies ist bei Vergil nicht der Fall: Wie die Art der Darstellung eher die Unwissenheit der Hörer herausstellt, so trägt auch der Inhalt des Liedes nicht dazu bei, das kommende Unheil aufzuhalten. Die Fragen, die hier beantwortet werden, stehen für die Figuren in keinem erkennbaren Zusammenhang mit ihrer augenblicklichen Lage, so daß sie auch keinen fördernden Einfluß auf das kommende epische Geschehen gewinnen können.149 Die kommentierende Funktion des Sängers ist bei Vergil also allenfalls vom Leser zu durchschauen. Eine solche Konstellation, die auch auf das Lied des Demodokos über Ares und Aphrodite zutrifft (Hom. Od. 8,266366),150 ist in epischen Gastmahlszenen nicht ungewöhnlich (s. o. S. 99f.). Anders verhält es sich, wenn der Sänger Begebenheiten aus der Lebenswelt seines Publikums zu Gehör bringt, denn in diesem Fall besitzt der Vortrag für die Figuren Aktualität.151 Dies gilt selbstverständlich auch, wenn der 149 Inwieweit der Inhalt des Gesangs den Gang der Ereignisse symbolisch andeutet, ist, ebenso wie die Figur des Sängers, umstritten, vgl. z.B. RUDBERG (1936), DUKE (1950), PÖSCHL (1977) 185ff. für eine symbolistische Interpretation, dagegen EICHHOLZ (1968) 107, der betont, daß diese Deutung nicht den gesamten Inhalt des Liedes berücksichtige und der Gesang v.a. als Kontrast zur aufkeimenden Liebe der Dido betrachtet werden müsse. Ähnlich SEGAL (1971) 343-348 mit stärkerer Betonung des im Lied präsentierten »cosmic order«, in dem NELIS (2001)a 105-112 empedokleischen Einfluß erkennt; vgl. BROWN (1990); LITTLE (1992) und GARBARINO (1994). KRANZ (1953) bes. 34-38 sieht die Erwähnung von Sonne und Mond als Anspielung auf orientalische Gestirnsgötter, die der Szene Lokalkolorit verleihe. HERRMANN (1967) 474-476 will Iopas als Repräsentation des Maecenas und den Inhalt des Liedes als Anspielung auf dessen philosophische Interessen deuten. Diese These hat allerdings keinen Rückhalt im Text. 150 Beide Lieder entsprechen sich durch ihre Stellung im Epos, s. dazu SCHMITNEUERBURG (1999) 136f.: »Vergil läßt in seiner Adaption der odysseischen Szene an die Stelle dieser drei Gesänge [sc. des Demodokos] einen einzigen wesentlich geringeren Umfangs treten. Den ersten Demodokosgesang [...] verarbeitet er strukturell in der Beschreibung der kunstvoll gestalteten Wände des [...] Junotempels (1,466-493) [...]. Den Gegenstand des dritten Demodokosgesanges, die Iliupersis, verarbeitet Vergil im gesamten 2. Buch als ersten Teil der Erzählungen seines Helden; ihr zweiter Abschnitt, den das 3. Buch in voller Länge umfaßt, entspricht schließlich den – sich unmittelbar an den letzten Demodokosgesang anschließenden – Apologen des Odysseus. Damit wird die szenische und strukturelle Entsprechung zwischen dem Iopas-Gesang und dem zweiten Gesang des Demodokos (von Ares und Aphrodite) recht deutlich.« 151 Eine Verbindung zwischen mythischem Geschehen und aktuellem Bezug zeigt das bei Silius beschriebene Lied des Teuthras (vor Hannibal in Capua) über die Liebesabenteuer Jupiters, das sodann bis zur mythischen Gründung der Stadt Capua fortgeführt wird (Sil. 11,288-297).
3.2.1 Das Gastmahl bei Dido
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Sänger in belehrender Absicht ein Gleichnis vorträgt, wie es beim Lied des Orpheus (A.R. 1,496-511) der Fall ist (der allerdings zugleich das Geschehen für den Leser kommentiert, s. Nelis [2001] 105f.]). Solche Lieder nutzen die Dichter, um die Handlung unmittelbar voranzutreiben. Der bewußte Einsatz der Gesänge wird dadurch deutlich, daß aus der menschlichen Welt immer nur Ereignisse berichtet werden, von denen mindestens einer der Anwesenden direkt betroffen ist. Dies ist sogar dann der Fall, wenn der Sänger den Zusammenhang anfangs nicht ahnt.152 Als der phäakische Sänger Demodokos den Streit von Achill und Odysseus besingt (Hom. Od. 8,72-82), kann er noch nicht wissen, daß sich hinter dem fremden Gast der Held seines Liedes verbirgt. Der Gesang aber rührt Odysseus zu Tränen, bewirkt schließlich seine Identifikation und treibt so die Handlung des Epos ein gutes Stück voran. Phemios, der vor den Freiern die NÎSTOI der Trojakämpfer besingt, kann den Bezug auf die aktuelle Situation im Haus des verschollenen Odysseus zwar erfassen, provoziert aber dennoch mit dem Auftritt der trauernden Penelope, die ein anderes Lied zu hören wünscht, ein Ereignis, das eine unerwartete Folge, die selbstbewußte Äußerung des bis dahin so unsicheren Telemach, nach sich zieht (Hom. Od. 1,358f.). So trägt der Gesang einerseits zur Exposition der Figuren bei und fördert andererseits die Entwicklung Telemachs zur reifen Persönlichkeit, die später in der Lage sein wird, den heimkehrenden Odysseus bei seinem Rachefeldzug zu unterstützen. Iopas’ Lied, das den Gang der Ereignisse nicht unmittelbar fördert, steht durch seinen Kontext, die beiden ›trojanischen Partien‹ der Tempelbilder und der Irrfahrterzählung, in einer nur für den Leser erkennbaren Parallele zum Lied des Demodokos über Ares und Aphrodite (Hom. Od. 8,266-366, s. Anm. 150), das ebenfalls durch zwei ›trojanische Partien‹, das erste und das dritte Lied des Sängers, gerahmt wird. Aus der Figurenperspektive hingegen stellt die Darbietung des Sängers nur einen üblichen Bestandteil eines festlichen Mahles dar. Musik beim Mahl ist schon bei Homer so verbreitet, daß sie zuweilen auch bei Gesellschaften, die ohne Gäste stattfin-
152 Dieses Phänomen ist bei Homer nicht allein auf die Gesangseinlagen beschränkt. Vgl. HÖLSCHER (1939) 65: »Eine besondere Eigentümlichkeit der Odyssee [...] ist es, wenn Menschen, ohne daß sie ahnen können, wen sie vor sich haben, sogleich von dessen Dingen und von dem, was ihn am meisten betrifft, zu reden beginnen.« Ebd. Besprechung der Beispiele (Menelaos-Telemach, Hom. Od. 4,97ff.; Eumaios-Odysseus, Hom. Od. 14,37ff.; Penelope-Odysseus, Hom. Od. 18,251ff. etc.).
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den, eingehalten, und gelegentlich auch in sehr kurzen Erwähnungen eines Mahls eigens genannt wird.153 Die wichtigste und natürlichste Beschäftigung aber, der sich die Gesellschaft nach beendetem Mahl widmet, ist das Gespräch, das – im Gegensatz zum Auftritt des Sängers – nur unter besonderen Umständen fehlt (s. o. S. 92f.). In homerischen Gastmahlszenen ist es üblich, einen Ankömmmling erst dann nach seiner Person zu befragen, wenn er sich mit Speise und Trank gesättigt hat.154 Weicht ein Gastgeber in Ilias und Odyssee von dieser Sitte ab, so gilt dies als grober Regelverstoß, den sich gewöhnlich nur Barbaren, wie der Kyklop, zuschulden kommen lassen. Eine Ausnahme bildet Alkinoos, der, noch bevor Odysseus sein Mahl beendet hat, Mutmaßungen über seine Identität anstellt (Hom. Od. 7,189-206) und von ihm vertröstet wird (Hom. Od. 7,215: mLL MMNDORPSAIjSATE). Man hat die ungewöhnlichen Überlegungen des Königs als Reaktion auf das plötzliche Erscheinen des Odysseus gedeutet, der dank der verhüllenden Wolke mitten in den Festsaal gelangt war.155 Bei Dido liegen die Dinge anders. Die Schiffbrüchigen haben schon vorher, als sie um Hilfe flehten, ihre Identität preisgegeben (V. 1,524) und die Königin dazu veranlaßt, sie freudig aufzunehmen. Die Identifikation eines Fremden vor dem Mahl ist eine Eigenart nachhomerischer Bewirtungsszenen. In der Odyssee dagegen erfolgt sie erst nach der Beköstigung, so wie es auch in der Ilias die – nicht als selbständige Gastmahlszene gestaltete – Begegnung zwischen Bellerophon und dem König von Lykien voraussetzt.156 Die formvollendete Gastfreundschaft Didos erweist sich darin, daß sie nicht nur ein Fest zu Ehren der Fremden ausrichtet, sondern ihre Neugier auf nähere Einzelheiten so lange bezähmt, bis alle gegessen und getrunken
153 Vgl. die Aussage des Odysseus über das ohne Gäste stattfindende Gelage der Freier: FÎRMIGJPÃEINoRADAIT¹YEO¹PO¸HSANTA¸RAN (Hom. Od. 17,270f.). 154 S. Telemachs Versicherung, er werde seinen Gast Athene/Mentes erst nach dem Mahl befragen, Hom. Od. 1,123f. Dazu REECE (1993) 54. Zu der Erwähnung dieser Sitte in der Bellerophongeschichte der Ilias s. S. 292 mit Anmerkung 163. 155 So MATTES (1958) 147-149.Vgl. aber ROSE (1969) 397, der die Ursache in Alkinoos’ »ineptitude as a leader [...] and ignorance of protocoll« sieht. Die Frage ist mit dem vieldiskutierten Problem des Schweigens der Arete verbunden, s. dazu unten S. 400f. mit Anmerkung 16. 156 Belege innerhalb von Gastmahlszenen fehlen in der Ilias, weil dort stets einander bekannte Personen zusammentreffen, die nicht eigens identifiziert werden müssen.
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haben. Dann aber verbringt sie die Nacht in langem und wechselvollem Gespräch mit Aeneas (Verg. Aen. 1,748f.). Den Inhalt der Unterhaltungen hat Vergil unterschiedlich gewichtet. In indirekter Rede gibt er die Fragen Didos nach Einzelheiten der Kampfhandlungen um Troja wieder, jenen Abschnitt der Vorgeschichte also, der dem Leser aus der Ilias vertraut ist. Herausragende Gestalten und Ereignisse, wie Priamus, Hektor, Achill und die Aristie des Diomedes werden kurz in Erinnerung gerufen, ohne daß jeweils die Antwort des Aeneas hinzugesetzt würde.157 Damit erkennt Vergil die Autorität der Ilias an. Statt seinen Helden die dort erzählten Ereignisse noch einmal aus eigener Perspektive berichten zu lassen, verweist er den Leser an Homer, als dessen Fortsetzer er auftritt: Erst als Dido sich nach Ereignissen erkundigt, die nicht mehr von der Ilias abgedeckt werden, antwortet Aeneas in einer ausführlichen Ich-Erzählung, die bei der Eroberung Trojas beginnt und mit dem Tod des Anchises auf Sizilien endet. Der Anschluß an die Gegenwart des Erzählers wird mit einer knappen Bemerkung hergestellt (Verg. Aen. 3,715: hinc me digressum vestris deus appulit oris), aber nicht mehr im Einzelnen geschildert, da der Leser die Ereignisse am Strand von Libyen bereits kennt. Auch hier zeigt sich, daß Vergil sich bei der Darstellung der Erzählungen primär am Wissenstand des Lesers, nicht an dem der Figuren orientiert. Über den genauen Ablauf des Seesturms und die Ereignisse in Libyen vor ihrer Begegnung mit Aeneas wird Dido nicht ausdrücklich informiert. In der Primärquelle, den Apologoi des Odysseus auf Scheria, kommt dagegen auch seine Begegnung mit Nausikaa, die der Leser bereits kennt, ausführlich zur Sprache. Solche Wiederholungen, auch wörtlicher Art, sind bei Homer nicht selten (man denke an die Botenszenen, in denen zuerst der Auftrag erteilt und sodann die Nachricht vom Boten noch einmal wörtlich wiedergegeben wird). Der Dichter trägt damit den Erfordernissen eines mündlichen Vortrags Rechnung, in dessen Verlauf der Hörer immer wieder orientiert und an vorangegangene Ereignisse erinnert werden muß, da er sie nicht nachschlagen kann. Demgegenüber kann sich Vergil, wie schon Apollonios, eine konzisere Darstellung erlauben, durch die wichtige Punkte hervorgehoben werden.158 Die Art der Präsentation wahrt aber auch stets den Anschluß an das primäre Vorbild (die Apologoi des Odysseus am Hof 157 Verg. Aen. 1,750-752: multa super Priamo rogitans, super Hectore multa; / nunc quibus Aurorae venisset filius armis, / nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles. 158 PLANTINGA (1999) 34: »The almost verbatim repetition [...] is a well known Homeric, but rare Apollonian phenomenon.«
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der Phäaken). Thema der Ich-Erzählung sind in beiden Fällen die Irrfahrten des Helden, also ein Teil der Vorgeschichte, die nun aus der Figurenperspektive rekapituliert wird. Die Homerimitation zeigt sich auch in der ungewöhnlichen Länge der Erzählung, die mehrere Bücher umfaßt. Bei anderen Gastmählern überschreitet die Konversation die Buchgrenze nie, auch ist nirgends eine so deutliche Dominanz des Haupthelden festzustellen. Der Grund liegt darin, daß nirgends sonst ein so umfangreiches Stück der Haupthandlung nachgetragen werden muß. Der Leser der Argonautika hat die Expedition bis zur Ankunft in Kolchis sowie das Schicksal der Phrixossöhne chronologisch verfolgt, so daß eine kurze Rekapitulation der Ereignisse, wie sie Argos dem Aietes liefert, vollkommen ausreicht – zumal die Nachkommen des Phrixos nicht zum engeren Kreis der Helden gehören. Das Publikum der Telemachie ist über die Ereignisse in Ithaka und die Hintergründe von Telemachs Erkundungsfahrt informiert, so daß sich die Gespräche mit Nestor (Hom. Od. 3,69-329) und Menelaos (Hom. Od. 4,68295, 311 und 620) ganz auf den Zweck der Reise – die Suche nach Odysseus – konzentrieren können. Ähnlich verhält es sich in der späteren Epik mit den Tischgesprächen in der Kleopatra- und der Hannibalszene. Die punktuelle Art der Darstellung, die nur wichtige Details herausgreift, tritt auch am Ende des Banketts hervor. Mahlbeschreibungen finden stets – gemessen an der Gesamtlänge der Schilderung – ein abruptes Ende, auch wenn es nicht immer so knapp ausfällt wie beim Gastmahl der Dido. Vergil begnügt sich mit einem einzigen Vers (V. 3,718: conticuit tandem factoque hic fine quievit), der nicht die eigentliche Aufhebung der Tafel beschreibt, sondern nur dadurch, daß er die Begriffe von »Verstummen«, »Ende«, und »Ruhe« (conticuit, facto fine, quievit) verbindet, den Abschluß des Mahls ankündigt. Die Art der Darstellung ist auffällig, da ein abendliches Gastmahl gewöhnlich mit der Bereitung eines Nachtlagers für den Fremden endet (S. zu den Ausnahmen o. S. 102f.). Auf dieses Detail verwendet besonders Homer viel Aufmerksamkeit, illustriert es doch anschaulich die Fürsorge des Gastgebers.159 Vergil selbst hält sich – in deutlich erkennbarer Anlehnung an das homerische Vorbild – beim Gastmahl des Euander an diese Regel und schildert in drei Versen die Lage und Ausstattung des für Aeneas hergerichteten Bettes. (V. 8,366-368: angusti subter fastigia tecti / ingentem Ae159 REECE zu (1993) 172 zu Homer: »The provision of a bed [...] is an indispensable element of a hospitality scene [...]; its preparation is usually described in great detail.«
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nean duxit stratisque locavit / effultum foliis et pelle Libystidis ursae). Auch in anderen Epen endet ein abendliches Mahl in der Regel damit, daß die Teilnehmer sich zum Schlafen niederlegen, wobei sich der Dichter oftmals mit einem kurzen Hinweis begnügt.160 Das Element fehlt hingegen schon bei Homer regelmäßig in Fällen, in denen sich die Dichter unmittelbar einem Parallelschauplatz zuwenden. Dasselbe gilt für die späteren Epiker wie Lukan (V. 10,332f.) und Silius Italicus (V. 11,368-372), die am Ende der Mahlbeschreibung ohne Überleitung zu den Umtrieben des Pothinus, bzw. zu den Ereignissen in Karthago umschalten.161 Das Fehlen eines Abschlußverses erfüllt dort die Funktion, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse zu verdeutlichen. Ferner fällt die Bereitung des Nachtlagers in Szenen aus, in denen das Mahl nur den Auftakt für einen längeren Aufenthalt bildet und beispielhaft die Gastfreundschaft des Wirtes verdeutlichen soll. In diesem Fall wird durch das Fehlen des Ruhepunkts die exemplarische Funktion der Bewirtung für die folgenden Ereignisse betont, mit denen sie eng verknüpft ist.162 Ein innerer Zusammenhang zwischen dem Fest und der folgenden Szene ist bei Vergil zweifellos gegeben, doch handelt es sich nicht einfach um eine Fortetzung des harmonischen Zusammenseins wie z.B. beim Aufenthalt bei Helenus (Verg. Aen. 3,356: iamque dies alterque dies processit...). Das Gastmahl bildet vielmehr den Ausgangspunkt für Didos unglückliche Liebe zu Aeneas, die ihr in der folgenden Nacht den Schlaf raubt (V. 4,1-5: At regina [...] vulnus alit [...] nec placidam membris dat cura quietem) und später zu größerem Unglück führen wird. Der Bruch zwischen beiden Szenen zeigt sich schon in dem pointiert an den Vers- und Buchanfang gestellten at (V. 4,1). Nach dem ruhigen Ausklang von Mahl und Unterhaltung (V. 3,718: quievit), bei der Aeneas und indirekt auch seine Zuhörer im Mittelpunkt standen (V. 3,715: hinc me digressum vestris deus appulit oris), 160 Vgl. z.B. Val. Flac. 1,294-296: positique quietis / conticuere toris, solus quibus ordine fusis / impatiens somni ductor manet. 161 Zu der sog. »offenen« Szene vgl. FRIEDRICH (1975) 29-36 und HÖLSCHER (1939) 42f. Die hier vorgebrachten Überlegungen beziehen sich auf Gastmahlszenen im eingangs definierten Sinn. S. o. S. 16ff. Bei kurzen Erwähnungen von Mahlzeiten hingegen, bei denen nur einzelne typische Details genannt werden, kann das Nachtlager, ebenso wie der Sänger oder das Auftreten der Diener, auch aus Gründen der Erzählökonomie ausfallen, vgl. das erste Mahl der Argonauten bei Kyzikos (A.R. 1,978-984), wo die Bewirtung nur mit einem Satz (A.R. 1,979: TOºW MTA DAºT mLGUNE) angedeutet und von den typischen Elementen nur die Unterhaltung (A.R. 1,980-984) genannt wird. 162 Vgl. A.R.: 1,861f. (Argonauten auf Lemnos): b"MBOL¸H D E»W MAR mE¹ J MATOWENNAUTIL¸HW.
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wendet sich der Dichter, ohne in der Erzählung einen Ruhepunkt zu schaffen, allein Dido zu, die nach einer schlaflosen Nacht Rat bei ihrer Schwester Anna sucht. Dieser Kunstgriff kommt in den berücksichtigten Gastmahlszenen bei Homer und Apollonios nicht vor, wird aber in späterer Zeit von Statius und Valerius Flaccus aufgegriffen.163 Sie fällt um so mehr ins Auge, als einerseits die Kontrastwirkung darin liegt, daß Aeneas ruht, während Dido keine Entspannung finden kann, andererseits aber das typische Element des Nachtlagers, das inhaltlich im Mittelpunkt steht, auf darstellerischer Ebene so weit wie möglich zurückgedrängt wird. Von der sorgfältigen Bereitung des Bettes oder dem Schlummer des Gastes ist keine Rede. Einzig das Verb quievit läßt den konventionellen Schluß einer Gastmahlszene anklingen. Vergil mischt hier zwei Darstellungsweisen. Einerseits betont er die Kontinuität des Aufenthalts, indem er die Bereitung des Lagers nicht eigens schildert, andererseits hebt er den Bruch zwischen den Ereignissen hervor, indem er die Nachtruhe wenigstens anklingen läßt (und die folgende Szene mit at beginnt). Damit führt er die Tendenz zum Unbestimmten, die die ganze Szene durchzieht, konsequent zu Ende. Für die Herrichtung eines Bettes bei Homer ist es charakteristisch, daß die Position des Lagers für den Fremden angegeben und von dem des Gastgebers getrennt wird. Priamus schläft im Vorraum von Achills Zelt (Hom. Il. 24,673f.), und Telemach ruht bei Menelaos in der Vorhalle, ganz ähnlich wie auch Odysseus bei seinem Besuch auf Scheria. Die Gastgeber dagegen schlafen im Innersten ihrer Behausung an der Seite ihrer Frauen (Achill und Briseis, Hom. Il. 24,675f.; Nestor und seine Frau, Hom. Od. 3,397-403; Menelaos und Helena, Hom. Od. 4,304f.; Alkinoos und Arete, Hom. Od. 7,346f.). Zuweilen können dem Standort und der Beschaffenheit des Bettes auch eine besondere Bedeutung zukommen, wie sich – außerhalb einer geschlossenen Gastmahlszene – z.B. nach der Heimkehr des Odysseus zeigt. Zunächst schläft er außerhalb des Hauses bei Eumaios, dann in der Vorhalle,164 und schließlich will Penelope den Fremden ausdrücklich »im Haus« 163 Stat. Ach. 1,195-200 (Thetis kann bei ihrem Besuch in Chirons Höhle aus Sorge um Achill nicht schlafen); Stat. Ach. 1,816-818 (Odysseus wird am Hof des Lycomedes die Nacht lang). Val. Flac. 1,294-299 (während alle anderen schlafen, richtet Jason beruhigende Worte an Aeson und Alkimedes. Die darauf folgende allgemeine Nachtruhe wird hier zusätzlich durch ein Traumbild Jasons überspielt, Val. Flac. 1,300-307). Eine Traumerscheinung füllt auch die Phase des Schlafs beim Besuch der Anna in Latium (Sil. 8,164-184). Solche Traumgesichte haben Vorläufer bei Homer, s.o. S. 104. 164 Vgl. auch die Weigerung des ›Bettlers‹ Odysseus, das prächtig ausgestattete Lager anzunehmen, das Penelope ihm zugedacht hat, Hom. Od. 20,139-143.
3.2.1 Das Gastmahl bei Dido
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(Hom. Od. 19,598f. T¤D N¹ O½K¡) selbst ruhen lassen, eine Geste, die zwar freundliche Gesinnung, aber zugleich auch Zurückhaltung ausdrückt.165 Dies ändert sich erst, als sie den Fremden im Zuge der PEºRA, bei der die Position und die Eigenschaften des Ehebettes eine entscheidende Rolle spielen, als ihren rechtmäßigen Mann anerkannt hat. An diesem Abend legt sich das wiedervereinte Paar, wie der Dichter ausdrücklich hervorhebt, auf seinem angestammten Lager zur Ruhe: Die Irrfahrten des Odysseus sind damit vorüber. Vergil dagegen gibt nicht an, wo und wie die Gäste schlafen – ein signifikanter Unterschied z.B. zum Gastmahl bei Euander (Verg. Aen. 8,366-368). Wie die Präsentation der Szene zeigt, befindet sich die Beziehung von Dido und Aeneas noch in der Schwebe, und indem der Dichter das Element Nachtlager abwandelt und verkürzt, gelingt es ihm, diese Spannung aufrecht zu erhalten. Erst im vierten Buch, bei der von bösen Vorzeichen überschatteten ›Hochzeit‹ in der Grotte, wird sich das Verhältnis der beiden Figuren entscheiden, dessen künftige Entwicklung der Leser bisher nur aufgrund von Vorausdeutungen erahnen kann. Zusammenfassung Das Gastmahl bei Dido stimmt in den meisten Details und deren Anordnung mit dem aus 40 Szenen abstrahierten Schema überein. Eine Besonderheit bildet die Trennung der Begrüßung vom eigentlichen Mahl durch eine Götterszene (das Gespräch zwischen Venus und Cupido, Verg. Aen. 1,657688). Diese, im Rahmen der epischen Gastmahlszenen singuläre Anordnung ermöglicht es dem Dichter, eine zweite Ankunft (die des Cupido) einzuschieben und so das Geschehen aus der traditionellen Perspektive eines Ankömmlings zu schildern, obwohl sich der Protagonist Aeneas schon längst im Palast der Dido aufhält. Eine Eigenheit ist ferner die Erwähnung von Handtüchern (mantelia, Verg. Aen. 1,702), die, wie ein Vergleich mit georg. 4,377 zeigt, der Szene afrikanisch/karthagisches Lokalkolorit verleiht. Spätere Dichter haben das Detail daher nicht übernommen, bemühen sich aber, in Vergils Nachfolge jeweils landestypische Einzelheiten in ihre Erzählung zu integrieren. Dieses Bestreben läßt sich auch beim Gastmahl von Caesar und Kleopatra im zehnten Buch von Lucans Pharsalia nachweisen, bei dem die Vergilimitation besonders klar erkennbar ist. Die Szene
165 Vgl auch die ›Prüfung‹ des Odysseus durch Penelope nach dem Freiermord, Hom. Od. 23,178f.
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3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
wird daher im folgenden als zweites Beispiel für eine Bewirtung bei einem »wohlhabenden Gastgeber« besprochen. 3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra (Lucan. 10,107-333) Im zehnten Buch der Pharsalia beschreibt Lukan ein Festmahl, mit dem Kleopatra ihrem Verbündeten Caesar Dank für die Wiedergewinnung des ägyptischen Throns abstattet. Caesar hatte die Königin zuvor mit ihrem Bruder und Rivalen versöhnt und dessen Ratgeber, den Würdenträger Pothinus, vorübergehend ausgeschaltet. Am Abend nach dem gelungenen Coup findet sich die Festgesellschaft im Königspalast von Alexandria ein, während Pothinus bereits wieder auf Rache sinnt. Für das Verständnis der Szenentypik epischer Mähler stellt Lukans Beschreibung ein wichtiges Zeugnis dar: Sein Hauptvorbild ist, wie häufig festgestellt wurde, die im vorigen Kapitel besprochene Bewirtung des Aeneas durch Dido.166 Doch obwohl offenkundige Anklänge die Szene wie ein roter Faden durchziehen, trägt sie mit ihrer negativen Charakterisierung von Gast und Gastgeberin einen deutlich anderen Charakter als das vergilische Festmahl und dessen homerische Vorbilder.167 Mit welchen stilistischen Mitteln gelingt es dem Dichter, das Bild eines typisch epischen Gastmahls zu evozieren, dabei wiederholt auf eine oder mehrere Vorlagen anzuspielen und trotzdem seiner Darstellung eine ganz eigene Färbung zu verleihen?168 Der Abschnitt vor dem eigentlichen Mahl Dem typischen Beginn eines epischen Gastmahls entsprechend hat sich die Festgesellschaft bereits versammelt, als die Erzählung einsetzt. Kleopa-
166 SCHMIDT (1986) 190: »Bekanntermaßen [ist] die Gastmahlszene insgesamt an der entsprechenden Szene der Aeneis orientiert.« GAGLIARDI (1987): 186f.: »Che lo spunto del ›pezzo‹ risalga a Virgilio, è così pacifico che il fatto veniva già rivelato da uno scolio a Lucan. X,175, ove si parla di aemulatio Vergilii, con chiaro rimando alla parte finale del I libro dell’Eneide.« Vgl. ZWIERLEIN (1974) 61f. und 65; TUCKER (1975); LAUSBERG (1985) 1603. Für das Scholion s. USENERS Ausgabe (1869) 321. 167 LAUSBERG (1985) 1603: »Eine odysseische Basis im negativen Sinne hat auch Caesars Aufenthalt bei Kleopatra.« GAGLIARDI (1987) 187 Anm. 2: »Tutto l’episodio [...] riecheggia antifrasticamente Virgilio.« THIERFELDER (1935) 14 nennt Lucan »eine Art Gegen-Vergil«, V. ALBRECHT (1970) 281f. einen »Ultra-Vergil.« 168 Dieses Phänomen, das hier mit Blick auf die Gastmahlszenen untersucht wird, durchzieht das gesamte Epos, so daß HENDERSON (1998) 167 von »deformed epic topoi« spricht, die die Pharsalia prägen.
3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
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tra ist damit beschäftigt, ihren orientalischen Prunk zu entfalten,169 der sich in der Ausstattung der Räumlichkeiten (Lucan. 10,111-126), der Zusammensetzung der Dienerschaft (Lucan. 10,127-135) und den dargebotenen Speisen und kostbaren Salben (Lucan. 10,155-168) äußert. Allerdings fehlt die sonst für Bewirtungsszenen charakteristische Ankunft des Gastes, die eine deutliche Zäsur in der Erzählung markiert, und auf die, wie wir gesehen haben, selbst Vergil in Aeneis I nicht verzichten mag, obwohl sich sein Hauptheld Aeneas schon längst vor Beginn des Banketts im Palast der Dido aufhält. Die sich daraus ergebende Schwierigkeit löst Vergil elegant durch die Verdoppelung des Ankunftsmotivs, indem er den verkleideten Cupido gerade zu Beginn des Festes erscheinen läßt. Ein gut markierter Neueinsatz ist so gewährleistet. Umgekehrt erreicht Lukan, indem er die Darstellung der Ankunft meidet, gerade eine enge Verbindung des Mahls mit den vorhergehenden Versen, die noch dadurch verstärkt wird, daß es sich um ein durchgehendes Satzgefüge handelt, V. 107f.: Pax ubi parta duci donisque ingentibus empta est, / excepere epulae tantarum gaudia rerum. Nachdem der römische Feldherr, durch Kleopatras Verführungskünste auf ihre Seite gezogen,170 den Bruder der Königin durch große Geschenke versöhnt und Frieden unter den Geschwistern geschaffen hat, beginnt sogleich das Mahl. Lukan suggeriert auf diese Weise einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Vorgängen: Es handelt sich um ein Festgelage zur Feier der wiedergewonnenen Macht, bei dem Caesar die Rolle des Ehrengastes einnimmt. Dies entspricht der typischen Bewirtungsszene, bei der dem Fremden jeweils eine bevorzugte Stellung zukommt. Obwohl abweichend vom Schema keine Figur den Raum betritt, fährt der Dichter nach den einleitenden Versen, die das gerade beginnende Mahl anzeigen, in traditioneller Weise mit der Ekphrasis der Räumlichkeiten fort, die sonst immer aus der Perspektive des Ankömmlings – gelegentlich mit auktorialen Bemerkungen vermischt – geschildert werden. Die Wahl dieses point of view verleiht der Figur des Gastes besonderes Gewicht. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, handelt es sich dabei um die Hauptpersonen des Epos (Odysseus, Jason, Aeneas) oder eines Erzählabschnitts (z.B. Telemach in der Telemachie), das heißt zugleich: um Figuren, die nicht erst beim Mahl 169 V. 10,108-110: Excepere epulae tantarum gaudia rerum, / explicuitque suos magno Cleopatra tumultu / nondum translatos Romana in saecula luxus. 170 V. 104-106: Nequiquam duras temptasset Caesaris aures: / Voltus adest precibus, faciesque incesta perorat. / Exigit infandam corrupto iudice noctem.
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3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
in Erscheinung treten, sondern deren Vorgeschichte, augenblickliche Situation und Weg zum Gastgeber der Dichter schon mehr oder weniger ausführlich dargestellt hat. Die Schilderung des Gebäudes aus der Perspektive des Ankömmlings, die gleichzeitig als Indiz für das besondere Interesse des Dichters an der Figur gelten kann, ergibt sich in diesen Fällen zwanglos aus dem Zusammenhang. Wie stellt sich nun die Ekphrasis bei Lukan dar, der auf die Ankunftsszene verzichtet? Die Struktur der Raumbeschreibung (Lucan. 10,111-126) weist eine typische Zweiteilung auf, bei der zunächst die großen Gebäudeteile und allgemeinen Gestaltungsprinzipien (Lucan. 10,111-121), anschließend die Einrichtungsgegenstände (Lucan. 10,122-126) vorgeführt werden. Dabei bleibt die Ekphrasis wie in den übrigen epischen Gebäudebeschreibungen auf Gegenstände beschränkt, die die Festgesellschaft wahrnehmen kann; es liegt also prinzipiell die Figurenperspektive, oder – in der Terminologie STANZELS – eine personale Erzählsituation vor.171 Der Eindruck, den der Palast auf den Betrachter ausübt, faßt der Dichter gleich in den ersten beiden Versen der Ekphrasis in einem Vergleich zusammen, V. 111f.: Ipse locus templi [...] instar erat. Aufgrund der negativen Wertung, die das Bild erfährt (V. 111f. templi, quod vix corruptior aetas / extruat), können Kleopatra und die Ihren als Betrachter ausgeschlossen werden. Um wessen Perspektive aber handelt es sich in diesem Abschnitt? Das Verständnis des Relativsatzes [templum] quod vix corruptior aetas / exstruat ist seit Jahrhunderten umstritten. Schwierigkeiten entstehen hauptsächlich aus der (einheitlich überlieferten) Wendung corruptior aetas und damit verbunden aus den verschiedenen Lesarten des Verbs. Für exstruat (F) bieten ZV exstruet, MGU haben exstruit. Die Lesart exstruet ließe den Satz als eine auf die Zukunft gerichtete Aussage erscheinen; die Übersetzung müßte lauten: »Der Ort selbst glich einem Tempel, wie ihn eine verdorbenere Epoche kaum errichten wird.« Der potentiale Konjunktiv exstruat, den die meisten Herausgeber in den Text genommen haben, kann zwar sowohl auf die Gegenwart der Figuren wie auf eine zukünftige Epoche bezogen werden, wird aber von den Übersetzern meist nur im zweiten Sinne gedeutet, vgl. CANALI (1997): »Il luogo era simile a un tempio, che a stento un’età più corrotta sarebbe costruire«; EHLERS (1973): »Schon der Raum glich ei171 STANZEL (199312) 17. Nach der von DE JONG (1989) 37 favorisierten Einteilung handelt es sich um einen »complex narrator-text (embedded focalization): The external narrator-focalizer embeds in his narrator-text the focalization of one of the characters, who, thus, functions as an internal secondary focalizer.«
3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
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nem Tempel, wie ihn freilich selbst eine noch tiefer verdorbene Epoche kaum errichten würde.« Nach dieser Interpretation diente der Relativsatz dazu, der von allgemeinem Sittenverfall gekennzeichneten Epoche der Kleopatra ein künftiges, noch dekadenteres Zeitalter gegenüberzustellen – ein Zeitalter, das mehrfach mit der Herrschaft Neros identifiziert wurde. So konnte die Stelle sogar als Beleg für Lukans regimekritische Haltung herangezogen werden (s.u. Anm. 174). Diese Deutung ist nicht nur deshalb unbefriedigend, weil die Ära der Bürgerkriege, die Lukan gerade als besonders dunkle Epoche der römischen Geschichte beschreibt, auf diese Weise eine gleichsam mildere Bewertung erführe,172 sondern vor allem, weil der Text keinen konkreten Hinweis auf Nero liefert. Diese Schwierigkeiten werden beseitigt, wenn man den Konjunktiv als Eventualis ohne enge zeitliche Festlegung auffaßt. Der Komparativ corruptior wäre dann als verstärkter Positiv zu verstehen, eine in Prosa und Dichtung überaus gängige Bedeutung (Vgl. KS II 175 Anm. 19). Diese Lösung wird bereits in den adnotationes des Wallersteinensis I 2 (11./12. Jh.) und Vossianus XIXf. 63 (10. Jh.) vorgeschlagen (»TEMPLI QUOD VIX CORRUPTIOR AETAS E. id est cum magna luxuria est, tale templum non potest fabricari«) und von HOUSMAN (1926) ad loc. akzeptiert: »corruptior, ab integritate vergens, non amplius incorrupta«. Der Satz hieße demnach: »Der Ort selbst glich einem Tempel, den eine ziemlich verdorbene Epoche kaum errichten dürfte.« Eine ähnliche Aussage enthielte die Lesart exstruit. Allerdings würde durch die Verwendung des Indikativs die in vix liegende Zurückhaltung gleich wieder relativiert, weshalb sie zu recht von den Herausgebern zurückgewiesen wurde.
172 Kritik an seiner eigenen Zeit scheint Lukan eher indirekt dadurch zu üben, daß er die Bürgerkriege, die schließlich Caesar und seinen Nachfolgern zur Macht verhalfen, negativ schildert. Die kaiserliche Macht steht also von Anfang an unter dunklen Vorzeichen. Gerade deshalb darf die finstere Atmosphäre dieser Zeit nicht gemildert werden. Vgl. LEBEK (1976) 166 zu dem ähnlich gelagerten Problem der ersten drei Bücher und der Bedeutung der Caesargestalt, die mehrfach (vgl. PFLIGGERSDORFER [1959] bes. 346, vorsichtiger LAUSBERG [1985] 1604 Anm. 10) auf Nero bezogen wurde: »Die Differenziertheit, mit der Caesars Schuld abgeschwächt wird, [wäre] eine denkbar ungeeignete Art der Anspielung auf Gegenwartsverhältnisse«. In jüngerer Zeit kommt HOLMES (1999) 81 in einer Analyse des Pharsalia-Prooems zu dem Schluß, Lukan habe zwar das Kaisertum als Staatsform mißbilligt, sei aber von Nero als Person beeindruckt gewesen. »Nothing but prior expectation prevents a reader from understanding ›I admire Nero, but think we must be rid of Caesars.‹« Diese ambivalente Haltung könne die oft festgestellten Widersprüche zwischen dem enkomiastischen Nero-Anruf zu Beginn der Pharsalia und ihrer antikaiserlichen Tendenz erklären. Wie er jedoch selbst einräumt (S. 75), handelt es sich bei der Frage, ob der Anruf Neros ironisch zu verstehen sei, um »a question on which it seems unlikely that a scholarly consensus will be reached.«
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Dafür, daß corruptior hier tatsächlich auch die Gegenwart der Figuren und nicht in erster Linie die des Dichters bezeichnet, spricht überdies, daß das Adjektiv von Lukan sonst eindeutig zur Qualifizierung der Bürgerkriegsepoche und ihrer Erscheinungen verwandt wird. Im zweiten Buch (V. 2,256f.) fragt Brutus den sittenstrengen Cato: quid tot durare per annos / profuit inmunem corrupti moribus aevi? Die latinischen Hilfstruppen werden einmal (V. 10,404), ebenso wie Caesar selbst (V. 10,57) als corrupti bezeichnet. In der Leichenrede auf Pompeius schließlich ist das Adjektiv wie an unserer Stelle auf übermäßigen Luxus gemünzt, an dem Pompeius trotz seiner Erfolge nie Gefallen gefunden habe (V. 9,201: casta domus luxuque carens corruptaque numquam / fortuna domini). Einen Bezug zur Gegenwart des Dichters weist das Wort hingegen nirgends auf. Worin die Funktion des Relativsatzes genau besteht, tritt deutlicher hervor, wenn man ihn probehalber ausläßt. Der verbleibende Hauptsatz (ipse locus templi [...] instar erat) gibt für sich genommen keinen Aufschluß darüber, ob das Bild positiv oder negativ zu fassen ist. Wie die bewundernde Äußerung Telemachs über den Palast des Menelaos in Hom. Od. 4,74f. einerseits und die Luxuskritik Senecas (ep. 86,6, s. u. Anm. 179) andererseits zeigt, kann der bloße Vergleich zwischen Palast und Gotteshaus in der antiken Literatur sowohl Anerkennung wie Ablehnung bedeuten. Daß Lukan ihn tadelnd verstanden wissen will, zeigt erst die Ergänzung quod vix corruptior aetas / exstruat. Die Funktion des Relativsatzes liegt also nicht darin, eine potentiell noch negativere Epoche einzuführen, sondern den Vergleich mit einem Tempel, der allein auch positiv verstanden werden könnte, als negativen Kommentar zu kennzeichnen. Kritik an prächtig ausgestatteten Tempeln üben römische Schriftsteller oft im Zuge einer nostalgischen Verklärung der Frühzeit, in der die Armut als Kennzeichen eines noch unverdorbenen Lebenswandels erscheint, vgl. Ov. fast. 1,201f. zu Roms Anfängen: Iuppiter angusta vix totus stabat in aede, / inque Iovis dextra fictile fulmen erat. Je mehr die althergebrachten Werte verfielen, desto stärker hielt nach dieser Auffassung der Luxus Einzug, der den Autoren als Kennzeichen der Dekadenz gilt. Lukan führt diesen Gedanken bei der Beschreibung des ehrwürdigen Jupiter-Ammon-Tempels in Libyen aus: Obwohl der Gott bei den umliegenden Stämmen als einziger verehrt werde, sei er arm und noch unberührt von römischem Gold: Pauper adhuc deus est nullis violata per aevum / divitiis delubra tenens, morumque priorum / numen Romano templum defendit ab auro. (V. 9,519-521).173 173 An den übrigen Stellen, an denen der Dichter Heiligtümer erwähnt, spricht er dagegen von ihrem Schmuck wie von einer selbstverständlichen, nicht negativ gewerteten
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Auch für unseren Tempelvergleich, mit dem der Dichter ein ungünstiges Urteil über Kleopatras Luxus fällt, muß dieser Dekadenzgedanke berücksichtigt werden: Ein goldgeschmückter Tempel ist tadelnswert, weil er nicht dem Ideal der einfachen Frühzeit entspricht. Einem solchen degenerierten Heiligtum gleicht der ägyptische Königspalast, ja er übertrifft es noch: Daß in den ältesten Kultstätten kein Schmuck zu finden war, versteht sich im römischen Denken von allein, aber selbst ein späteres und damit »verdorbeneres« Zeitalter als diese frühe Epoche würde beim Tempelbau keine solche Pracht entfalten wie Kleopatra in ihrem Festsaal. Den implizierten Vergleichspunkt zu dem Komparativ corruptior bildet also die idealisierte Vergangenheit, mit deren Genügsamkeit verglichen alle späteren Epochen als mehr oder weniger dekadent erscheinen müssen. Da sich nun alle vom Urzustand entfernt haben, erscheint eine Eingrenzung des Begriffs aetas auf eine einzige geschichtliche Epoche, z.B. die Regierungszeit Neros, wie sie unter anderem von BRISSET und BASTET für diese Stelle angenommen wird,174 unzulässig. Jede Zeit, die nicht dem nüchternen Ideal der mores priores (V. 9,520) entspricht, muß sich diesen Tadel gefallen lassen – auch die Gegenwart der Figuren selbst. Damit bildet der quod-Satz nicht nur eine lockere, auf eine ferne Zukunft gerichtete Assoziation, sondern eine konkrete Kritik an der Epoche der Kleopatra, die sich, wie weiter unten gezeigt wird, nahtlos in den Rahmen der Gastmahlszene einfügt.
Die kurz darauf folgende Beschreibung der Dienerschaft und der kostbaren afrikanischen Tische, mit denen der Palast ausgestattet ist, ist dadurch geprägt, daß Personen und Gegenstände nicht für sich, sondern stets auf den Tatsache (so z.B. beim Angebot der Einwohner von Mytilene, dem Pompeius göttliche Ehren zu erweisen: diese umfassen templorum cultus aurumque deorum [V. 8,121] vgl. V. 8,858) und verurteilt einmal sogar den (wirklichen oder drohenden) Raub des Tempelschmucks während des Bürgerkriegs (vgl. V. 5,305 bei der Darstellung von Caesars frevelhaftem Charakter: non illis [sc. militibus] urbes spoliandaque templa negasset oder 3,155-168 (Plünderung des Saturntempels). Offenbar existieren bei Lukan eine positive und eine negative Einschätzung zum Tempelschmuck nebeneinander, von denen je nach Kontext die eine oder andere zum Tragen kommt. 174 BRISSET (1964) 206: »Lucain critique le luxe excessif de Néron, non seulement dans certains vers qui semblent bien rappeler les fêtes de l’empereur (X, v. 111-126), mais encore dans les attaques de caractère plus général contre le luxe du temps.« BASTET (1970) 144: »Je crois pouvoir admettre que le luxe décrit dans le livre 10 ne doit pas être exclusivement considéré du point de vu moralisateur, mais que, dans ces passages, Lucain s’érige en interprète du mécontentement que le mode de vie de Néron [...] faisaient naître dans les classes supérieures de la société. La Domus aurea [...] devait en devenir le témoin le plus manifeste.«
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römischen Feldherrn bezogen erscheinen: Ein Teil der Sklaven hat so blonde Haare, daß selbst Caesar zugeben müßte, am Rhein nichts Vergleichbares gesehen zu haben (Lucan. 10,129-131), und die aus afrikanischem Holz gefertigten Tischplatten sind von solcher Qualität, daß selbst Caesar nach der Kapitulation Jubas keine gleichwertigen in die Hände fielen (Lucan. 10,144-146). Der ungewöhnliche Vergleich mit den Erfahrungen des Römers legt die Vermutung nahe, daß dessen Perspektive vorherrscht, was gelegentliche auktoriale Einschübe nicht ausschließt:175 Da Caesar Staunen und Bewunderung für die Pracht des Königshauses empfindet, dürfte der oben besprochene Relativsatz, mit dem der Tempelvergleich negativ gewertet wird, als solche auktoriale Stellungnahme aufzufassen sein. Indem Lukan die Erzählung erst einsetzen läßt, als das Mahl bereits im Gang ist, schafft er mit erzähltechnischen Mitteln eine Nähe zu der vor allem bei Homer häufigen Ankunft eines Gastes während des Festschmauses. Ähnlich wie Lukan verfahren auch alle anderen berücksichtigten Epiker (mit Ausnahme Claudians), bei denen sich Wirt und Bewirteter meist schon früher begegnen, so daß eine Ankunft während des Mahls hier nicht in Frage kommt.176 175 Auch SCHMIDT (1986) 192 scheint die Perspektive Caesars vorauszusetzen, äußert sich aber nur vage: »Daß letztlich das Interesse Lukans dem römischen Feldherrn gilt, dies wird nicht erst im Laufe der Schilderung des Gastmahls deutlich, in welcher in zunehmendem Maße sich der Blick des Dichters auf den Römer richtet [...], um schließlich ganz bei diesem zu verweilen.« Die Ansicht GAGLIARDIS (1987), Caesar werde auf den Status eines Komparsen reduziert (188: »Cesare [...] appare quasi relegato alla parte di comparsa«) scheint mir nicht haltbar. Sie beruht auf der falschen Voraussetzung, daß auf die Hauptperson stets auch die meisten Verse verwendet würden. Gerade in Partien, in denen das Geschehen aus der Perspektive der Protagonisten betrachtet wird, kehrt sich das Verhältnis jedoch um: Beim Gastmahl der Dido im ersten Buch der Aeneis gelten, wie bei Lukan, die meisten beschreibenden Verse der Gastgeberin (Dido) bzw. ihrem Königshof, kaum einer dem Gast. Dennoch wird man Aeneas kaum als »Komparsen« bezeichnen wollen. Noch deutlicher wird der Sachverhalt beim Besuch des Odysseus bei den Phäaken, dem des Telemach bei Menelaos und dem Empfang Jasons bei Aietes. In allen drei Fällen wird eine ausführliche Ekphrasis des Palastes aus der Sicht der Gäste geliefert. Legt man GAGLIARDIS Maßstab an, nach dem die ausgedehnte Beschreibung des vom Gastgeber zur Schau gestellten Luxus den Ankömmling auf eine Nebenrolle reduziert, so ergäbe sich, daß Odysseus, Telemach und Jason als »Komparsen« anzusehen seien. Dies wird aber keiner der Szenen gerecht. 176 Vgl. A.R. 2,426-428 (Die Boreaden kehren von ihrer Jagd auf die Harpyien zurück, als Phineus und die übrigen Argonauten eben speisen; hier handelt es sich um die zweite Ankunft während einer Mahlszene); Verg. Aen. 1,697-700 (Ascanius/Cupido trifft ein, als Aeneas und Dido sich eben im Festsaal versammeln); Sil. 11,272-274 (Hannibal wird auf ein bereitstehendes Lager gebettet, nachdem er die Besichtigung Capuas beendet
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In der Beschreibung selbst dominiert, ebenfalls einer häufigen dichterischen Praxis entsprechend, der optische Eindruck der kostbaren Materialien (V. 113: divitias, aurum, V. 115: marmoribus, achates, V. 116: purpureusque lapis, V. 117: onyx, Meroitica, V. 119: ebur, V. 120f.: testudinis Indae / terga, V. 121: zmaragdo, V. 122: gemma, iaspide, V. 123: fuco, 125: auro, cocco), die hauptsächlich unter dem Aspekt des schimmernden Glanzes betrachtet werden (V. 114: nitebat; V. 122: fulget; V. 123: micant; V. 125: nitet). Dem persönlichen Stil Lukans entspricht hingegen die häufige Verwendung von Litotes und Antithesen, die besonders in der Beschreibung der einzelnen Bauteile ins Auge fällt. Nicht mit oberflächlich angebrachten und geschnittenen Marmor(platten) inkrustiert strahlt das Haus (V. 114f., d.h. der Marmor ist nicht nur Schmuck, sondern »fand solide Verwendung«177), nicht müßig (d.h. ohne stützende Funktion) stehen dort Achat und Porphyr(säulen) (V. 115f.), nicht als Verkleidung der Pfosten dient meroitisches Ebenholz, sondern es ersetzt billige Eiche (V. 117f.), eine Stütze, nicht (nur) Zierde des Hauses (V. 119).178 Die hochgesteckten Erwartungen des Betrachters werden hier durch die vierfache Verneinung (nec... non... non... non) vorgeführt, um sogleich effektvoll von Kleopatras Reichtum in den Schatten gestellt zu werden. Der Prunk der ägyptischen Königin, so wird dem Leser suggeriert, überschreitet alle Grenzen. Der Vorwurf der Maßlosigkeit schwingt auch in dem oben erwähnten Vergleich zwischen Palast und Tempel mit (Lucan. 10,111f.: Ipse locus templi, quod vix corruptior aetas / exstruat, instar erat: »Der Festsaal glich einem Tempel, den eine ziemlich verderbte Epoche kaum errichten dürfte«). Kostbarkeiten, die eigentlich für Sakralbauten angemessen wären, werden von hat); Stat. Theb. 1,512-515 (Tydeus und Polyneikes treffen so kurz nach einem Festmahl ein, daß die Altäre noch mit Asche bedeckt und die Speisen noch frisch sind); Stat. Ach. 1,120f. (Thetis trifft ein, als Chiron gerade ein Mahl für Achill vorbereitet); Val. Flac. 1,250-253 (die schon länger am Strand versammelten Argonauten setzen sich ohne Vorbereitungen direkt zum Mahl nieder); Val. Flac. 2,340-342 (die Argonauten begeben sich unter der Führung Hypsipyles zum Festplatz, wo die Dienerinnen das Mahl bereiten); Val. Flac. 2,649-654 (Kyzikos, der die Argonauten am Strand erwartet, öffnet sein Haus, in dem die Diener schon für das Fest bereitstehen). 177 SCHMIDT (1986) 200f. 178 Diese sogenannten ›Negationsantithesen‹, d.h. »die besondere Akzentuierung bestimmter Erzählmomente durch ihre Gegenüberstellung mit dem Nichtzutreffenden« (NOWAK [1955] 133) bilden bei Lukan ein wichtiges Stilmittel. Eng verwandt ist auch die Paradoxie, von der Lukan in der Pharsalia regen Gebrauch macht, vgl. dazu THIERFELDER (1935) 7: »Die Paradoxie ist in einzigartiger Weise bezeichnend und konstitutiv für Lukans Werk.«
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Kleopatra ihrem eigenen Repräsentationsbedürfnis dienstbar gemacht.179 Diese Einschätzung paßt zu dem Vorwurf des furor, den Lukan schon an früherer Stelle indirekt gegen die Königin erhoben hat180 und den er wenige Verse später zweimal wiederholt (Lucan. 10,146f.: Pro caecus et amens / ambitione furor; V. 10,156f.: luxus inani / ambitione furens). Der Vergleich eines Festsaals mit der (im weitesten Sinne) sakralen Sphäre ist zwar kein fester Bestandteil feierlicher Gastmahlszenen, doch steht das Bild in der antiken Epik auch nicht ganz allein: Telemach vergleicht, wie oben gezeigt, den Palast des Menelaos voller Staunen mit der Wohnung des Zeus, wird dafür jedoch sogleich von seinem Gastgeber zurechtgewiesen. Es sei Frevel, die Behausung eines Menschen auf eine Stufe mit der eines Unsterblichen zu stellen.181 Gerade dies ist bei Kleopatra der Fall. Zusammen mit dem Gebrauch der Antithesen in einer ansonsten auf traditionelle Gegenstände gerichteten Ekphrasis bildet der Tempelvergleich ein Beispiel dafür, wie Autoren konventionelle Elemente so abwandeln können, daß sie der persönlichen Erzählabsicht entsprechen, ohne die Bindung an die Vorbilder zu verlieren. Der epischen Konvention entspricht die Erwähnung typischer Einrichtungsgegenstände in typischer Anordnung (zunächst das Gebäude selbst, dann das Mobiliar) und die Hervorhebung weniger, aber typischer Eigenschaften (optische Wirkung, strahlender Glanz der Ausstattung). Diese Elemente wecken zugleich die Assoziation an die epischen Vorbilder.182 Wertende Kommentare und die gehäufte 179 Der Tadel tempelähnlicher Prachtbauten ist in der römischen Literatur auch sonst verbreitet, vgl. Sen. ep. 86,6: Pauper sibi videtur ac sordidus nisi parietes magnis et pretiosis orbibus refulserunt, [...] nisi Thasius lapis, quondam rarum in aliquo spectaculum templo, piscinas nostras circumdedit, ebenso Manil. 5,290-292. 180 V. 10,60-62 klagt er, Kleopatra habe den furor der Römer gesteigert, ähnlich wie Helena den von Argos: Quantum impulit Argos / Iliacasque domos facie Spartana nocenti, / Hesperios auxit tantum Cleopatra furores. 181 Hom. Od, 4,78f.: TKNA F¸L’ TOI ;HN¹ BROT¤N OÆK oN TIW R¸ZOI mYjNATOI GkR TOÅ GE DÎMOI KA¹ KTMAT’ ASIN Die göttliche Sphäre tritt bei der Ausstattung von Festsälen sonst nur in Form von Kunstwerken in Erscheinung, die von den Himmlischen selbst geschaffen wurden, so im Palast des Alkinoos (Hom. Od. 7,9194) oder des Aietes (A.R. 3,228-234). Diese Fälle sind jedoch nicht direkt vergleichbar: Die staunenswerten Ausstattungsstücke werden dort nicht von Menschen eingesetzt, um den Göttern gleichzukommen, sondern die Götter selbst überlassen sie den von ihnen besonders bevorzugten Menschen. Der Schimmer des Göttlichen ist in diesen Fällen also kein Zeichen von Hybris, sondern bekundet gerade die Nähe der Eigentümer zu den Unsterblichen. 182 In diesem Fall handelt es sich neben der Gastmahlszene aus dem ersten Buch der Aeneis (Verg. Aen. 1,695-3,718: primary source) vor allem um die Ankunft des Odys-
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Verwendung von Antithesen, also geschickt gewählten Stilfiguren, verleihen der Szene hingegen eine eigene Färbung. Das gleiche Prinzip läßt sich auch bei der Beschreibung der Dienerschaft nachweisen, die bei Lukan unmittelbar auf die Ekphrasis der Räumlichkeiten folgt (V.127-135). Gegenüber dem typischen Schema, nach dem zunächst der Schauplatz (Element IIIa), dann die Anwesenden (IIIb) und erst anschließend die Dienerschaft (VIIa) dargestellt wird, bedeutet diese Anordnung eine Modifikation, deren Gründe die Interpretation erschließen muß. Für sich genommen handelt es sich bei der Darstellung der Diener um eines der konstanteren Elemente der berücksichtigten Gastmahlszenen. Die Bediensteten treten, wie am Beispiel Vergils gezeigt, meist in mehreren Gruppen auf, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Zur Beschreibung der Dienerklassen wählen die lateinischen Dichter kurze Sätze, die durch distributive Ausdrücke wie alii - alii oder pars - pars gegliedert werden, wobei die knappen Formulierungen den Eindruck emsiger Geschäftigkeit erhöhen.183 Von den typischen Eigenschaften dieses Elements hat Lukan sowohl die Aufteilung der Dienerschaft in mehrere Gruppen, als auch die knappen Formulierungen und die Verknüpfung durch hos - alios, pars - pars übernommen. Trotz dieser äußeren Reminiszenzen weicht die Darstellung inhaltlich jedoch von allen untersuchten Mahlszenen ab: Die verschiedenen Klassen von Dienern unterscheiden sich nämlich nicht durch ihre speziellen Aufgaben, sondern ausschließlich durch ihre äußere Erscheinung: Weibliche und männliche Sklaven, schwarze und weiße, alte und junge, dunkelhaarige und blonde, sowie junge und ältere Eunuchen stehen sich gegenüber (V. 127-135). Keiner dieser Klassen ist eine bestimmte Aufgabe zugewiesen, so daß sie im Vergleich mit der eifrig beschäftigen Dienerschaft seus bei den Phäaken (Hom. Od. 7,81-347) und die des Jason bei Aietes in der Version des Apollonios Rhodios (A.R. 3,210-442). Zusammen mit der hier besprochenen Mahlbeschreibung bilden diese drei Szenen aufgrund ihrer zahlreichen intertextuellen Bezüge eine eng zusammengehörige Gruppe und zugleich einen Traditionsstrang, der auf andere Epiker eine nicht zu unterschätzende Wirkung ausgeübt hat (vgl. das Siegesmahl des Hannibal in Capua, Sil. 11,259-368; die Bewirtung des Tydeus und Polyneikes bei Adrast, Stat. 1,386-720 und des Jason bei Aietes, Val. Flac. 5,558-617). 183 Bei Homer kann die Darstellung der einzelnen Gruppen dagegen unterschiedliche Formen annehmen. Eine Abgrenzung durch distributive Ausdrücke erscheint nur zweimal (Athene bei Telemach, Hom. Od. 1,109-112: dort verbunden mit der Gruppenbezeichnung KRUKEW und Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,352-359: Dienerinnen der Kirke bei der Bewirtung des Odysseus, nachdem die Zauberkünste der Kirke wirkungslos geblieben sind).
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in den übrigen Mahlszenen statisch wirken. Aus diesem Grund kann Lukan ihre Darstellung sinnvoll an die Ekphrasis der Räumlichkeiten anschließen: Die Sklaven werden lediglich als dekoratives Element eingeführt, und in dem exotischen optischen Reiz liegt ihre Hauptfunktion und der wichtigste Unterschied zu anderen Gastmahlszenen.184 Die Dekadenz der Kleopatra, die sich, im Gegensatz zu allen epischen Vorläufern, nicht scheut, das Hauspersonal zu Ornamenten zu degradieren, wird so augenfällig.185 Die Arbeitsweise des Dichters läßt sich in diesem Fall folgendermaßen zusammenfassen: Auffällige strukturelle Eigenschaften eines Elements werden übernommen und ermöglichen dem episch geschulten Leser die Assoziation mit einem oder mehreren epischen Vorbildern. Inhaltliche Abweichungen hingegen tragen der spezifischen Erzählsituation Rechnung.186 Erst die Verbindung von traditioneller Form und modifiziertem Inhalt bewirkt den (von Lukan offenbar angestrebten) Kontrast zu den epischen Vorgängern und damit zugleich eine Aneignung (appropriation, HINDS [1998] 142) der überlieferten Stoffe. An die Stelle emsiger Geschäftigkeit zu Ehren des Fremden, wie sie sonst bei Gastmählern üblich ist, tritt bei Kleopatra vordergründiger Prunk. So liefert Lukan einen deutlichen Hinweis darauf, wie er die folgende Bewirtung Caesars verstanden wissen will, ohne seine Einschätzung expressis verbis deutlich machen zu müssen. Diese Erzähltechnik setzt eine enge Vertrautheit des Lesers mit den epischen Gepflogenheiten voraus. Unmittelbar an die Beschreibung des Palastes, in die Lukan auch die Darstellung der Dienerschaft einbezieht, schließt sich die Erwähnung der 184 Es ist bezeichnend, daß der Dichter bei der Schilderung der konkreten Mahlvorbereitungen – sonst der klassische Ort für die Darstellung des Gesindes – die Diener vollkommen zurückdrängt, indem er ein unbestimmtes Subjekt wählt oder die Trinkgefäße personifiziert: »Sie« legen die Tischplatten auf die Elfenbeinfüße (V.144f.), »sie« füllen die Speisen in Goldgefäße (Lucan. 10,155), »der Kristall« reicht das Wasser zum Waschen der Hände (V.159f.), »die Edelsteinbecher« nehmen den ungemischten Wein auf (Lucan. 10,160f.). GAGLIARDI (1987) 190 dagegen verweist nur auf die im Vergleich zu Aeneis I erhöhte Zahl der Sklaven: (»I 250 ministri che servivano il pranzo di Didone, diventano un’infinità di ancelle ed un intero popolo di servi [...] diversi per colore e per età, di varie razze e di varia condizione«), vergißt aber zu erwähnen, daß die erwähnten Diener gar keine Dienstleistungen mehr auszuführen scheinen. 185 ZWIERLEIN (1974) 62 Anm. 50: »Bei Vergil wird sie [sc. die vielgestaltige Dienerschar] in ihrer Funktion für das Fest, bei Lucan verselbständigt, als Ausweis der Üppigkeit und des Prunkes beschrieben.« 186 Dieses Verfahren ist mehrfach beobachtet worden, vgl. RUTZ (1968) 242; V. ALBRECHT (1968) 286.
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Gäste an (Lucan. 10,136-143), was dem typischen Ablauf der Mahlszene entspricht. Nur bei dieser Gelegenheit erwähnt der Dichter den Bruder der Herrscherin, der zwar auch an dem Bankett teilnimmt, aber nicht wie Caesar und Kleopatra mit eigenem Namen vorgestellt, sondern unter den Plural reges (Lucan. 10,136) subsumiert wird. Indem Lukan den dritten prominenten Teilnehmer zugunsten Caesars und Kleopatras zurückdrängt, schafft er eine strukturelle Parallele zu berühmten Paaren wie Odysseus und Kalypso, Odysseus und Kirke sowie Aeneas und Dido. Wird die Figurenkonstellation auf diese Weise künstlich in »traditionelle« Bahnen gelenkt, so fällt um so mehr die ungewöhnliche Personenbeschreibung ins Auge, die allein Kleopatra gilt (Lucan. 10,137-143), und für die die epischen Gastmahldarstellungen keine Parallelen bieten.187 Dennoch schließen sich die Verse so harmonisch an das Vorhergehende an, daß sie nicht als Fremdkörper empfunden werden.188 Lukan erreicht diese enge Verflechtung, indem er den ekphrastischen Stil der vorangehenden Verse beibehält. Kleopatras Kleidung und Schmuck werden in vertikaler Richtung, beginnend mit dem Gesicht (Lucan. 10,137: fucata), beschrieben, während persönliche Merkmale ausgespart bleiben. Die übermäßig geschminkte Königin stellt reichen, vom Roten Meer importierten Schmuck zur Schau, an dessen Gewicht – eine groteske Übersteigerung – sie schwer zu tragen hat.189 Ihre Brust ist von einem Gewand aus durchscheinendem sidonischen Stoff bedeckt, der eine besonders feine Variante der hauchdünnen serischen Seide darstellt. (Lucan. 10,141-143). Wie schon bei der Ekphrasis der Räumlichkeiten stehen nur die kostbaren Materialien sowie der Eindruck des (rein physischen) Glanzes im Vordergrund, dem, genau wie bei der Darstellung ihrer Dienerschaft, keine charakterlichen Vorzüge entsprechen. Im Gegenteil: Durch direkte wertende Kommentare des Dichters, die der eigentlichen Gastmahlszene unmittelbar vorausgehen, und eine ge187 In der flavischen Epik hat Valerius Flaccus die Personendarstellungen beim Gastmahl von Jason und Aietes geschickt mit dem Gespräch zwischen Gastgeber und Gast verknüpft: Jason befragt seinen Wirt während des Banketts über die anwesenden Personen, wobei auch deren Kleidung oder Verhalten zur Sprache kommen (Val. Flac. 5,576-614). Die Angaben beschränken sich jedoch auf die auffälligsten Merkmale und sind daher weder an Länge noch an Ausführlichkeit mit der Darstellung der Kleopatra vergleichbar. 188 Soweit ich sehe, ist die ausführliche Personenbeschreibung inmitten eines epischen Mahls bisher in der Forschung nicht als Sonderfall erkannt worden, vgl. ZWIERLEIN (1974) 60. 189 V. 10,139f.: Plena maris Rubri spoliis, colloque comisque / divitias Cleopatra gerit cultuque laborat.
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schickt angelegte Kontrastszene im zweiten Buch (die ohne festliches Bankett und festliche Kleidung begangene Hochzeit Catos, des Inbegriffs eines stoischen Weisen, mit Marcia V. 2,326-391) ist die Aufmerksamkeit des Lesers für die Oberflächlichkeit des ägyptischen Pomps bereits geschärft.190 Umso deutlicher tritt der verschwenderische Luxus in Ausstattung und Kleidung hervor, der als orientalisches Laster gekennzeichnet wird: Bisher hatte solcher Überfluß Rom noch nicht erreicht (V. 10,109f.: Explicuitque suos magno Cleopatra tumultu / nondum translatos Romana in saecula luxus). Die Neuartigkeit der in Alexandria gebotenen Genüsse zeigt sich besonders deutlich in den wiederholten Bezugnahmen auf Caesar, der zugeben muß, niemals etwas Vergleichbares gesehen zu haben (Lucan. 10,130f. und 145f.). Die traditionelle Figurenperspektive unterstützt so den vom Dichter angestrebten Effekt: Das Staunen, das mit stilistischen Mitteln beim Leser erweckt wird, ist zu verstehen als das Staunen des welterfahrenen römischen Feldherrn, selbst wenn entsprechende Verben, wie wir sie in anderen Gastmahlszenen finden,191 bei Lukan fehlen. An ihrer Statt fügt der Dichter, nachdem Caesar am Ende der Mahlvorbereitungen die kostbaren Tischplatten erblickt hat (Lucan. 10,145f.), einen emphatischen Erzählerausruf ein, mit dem er den aus blinder Ruhmsucht erwachsenden Leichtsinn der Kleopatra anprangert: Sie scheut sich nicht, einem Bewaffneten ihren ganzen Reichtum vor Augen zu stellen und so seine Habgier anzustacheln, Lucan. 10,146-149: Pro caecus et amens / ambitione furor, civilia bella gerenti / divitias aperire suas, incendere mentem / hospitis armati. Dabei hätten selbst die sittenstrengen Konsuln und Diktatoren der Frühzeit dieser Versuchung kaum widerstehen können (Lucan. 10,149-154).192 Der emotional gefärbte Kommentar, ein Kennzeichen des pathetischen Stils, gibt einen Hinweis darauf, wie der auktoriale Erzähler die Wirkung des Festsaals auf Caesar verstanden wissen will: Sie besteht aus Staunen und erwachen-
190 Vgl. z.B. V. 2,363 (zum Schmuck der Marcia): colla monile decens mit V. 10,139f.: Plena maris Rubri spoliis colloque comisque / divitias Cleopatra gerit cultuque laborat. 191 Vgl. Od. 4,75: SBAW M’ XEI E»SORÎVNTA Od. 7,133: NYA STkW YHEºTO POLÃTLAWDºOWb0DUSSEÃW A.R. 3,215: d&STAND’NPROMOLSITEYHPÎTEW
RKE’ oNAKTOWs. dazu oben S. 53. 192 Eine zutreffende Behandlung des Vergleichs bei KLOSS (1997).
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der Habgier. Damit übernimmt er die Funktion, die sonst den Verben der Bewunderung innerhalb der Ekphrasis zukommt.193 Mit der emotionalen Interjektion erweitert Lukan ein Stilmittel, das sich in Ansätzen schon bei Homer und Vergil nachweisen läßt. In der Ilias spricht der auktoriale Erzähler schon vor der Niederlage des Hektor von dessen ÑLOIMOºRA, die ihn bewogen habe, außerhalb der Stadtmauern zu bleiben, und redet in der Odyssee mehrfach den Sauhirten Eumaios direkt an (Hom. Od. 14,55 und 442). Vergil spricht aus der Erzählerperspektive von der infelix Dido (Verg. Aen. 1,749), läßt sich vom Tod des Pallas zu einem schmerzlichen Ausruf hinreißen (o dolor... Verg. Aen. 10,507-509) und verspricht Nisus und Euryalus ewigen Ruhm (Verg. Aen. 9,446-449: Fortunati ambo! Si quid mea carmina possunt, / nulla dies umquam memori vos eximet aevo...). Diese maßvoll angewandte »›Lyrisierung‹ des Epos« (M. v. Albrecht [1970] 290) durch eine persönliche Apostrophe greift Lukan auf, erweitert sie und erhebt sie in der Form des engagierten Erzählerkommentars zu einem häufig gebrauchten Stilmittel, durch das er immer wieder die persönliche Anteilnahme am Gang des Geschehens betont.194 Der Einschub weist – neben der Charakterisierung der Gastgeberin – auf eine zweite, sonst weniger sichtbare Funktion der Ekphrasis hin: Wenn sie, wie in Gastmahlszenen üblich, aus der Figurenperspektive geliefert wird, charakterisiert sie neben dem Betrachteten auch den Betrachter selbst, welcher selektiv bestimmte Elemente wahrnimmt oder sie in bezeichnender 193 Die in der Analyse der Gegenwartsliteratur allgemein akzeptierte Trennung zwischen dem »Autor« und dem »Erzähler« als einer gedachten vermittelnden Instanz ist in der klassischen Philologie noch nicht durchgehend rezipiert worden. Am ehesten wird sie für die kleinen Gattungen angenommen, in denen die Dichter selbst wiederholt darauf hinweisen, daß sie gerade nicht mit dem lyrischen Ich identifiziert werden wollen. Auch im Epos kann eine solche Unterscheidung vor voreiligen Schlüssen bewahren, wie sie gerade im Fall der Pharsalia häufig gezogen wurden. Diese Arbeit geht von der Prämisse aus, daß die Lebenssituation des Autors ein Werk zwar beeinflußt, daß aber Erzählstandpunkt und -perspektive künstlerische Ausdrucksmittel sind, die bewußt gewählt werden und die Persönlichkeit des Dichters nicht ungebrochen widerspiegeln. 194 Zur Problematik der Kommentare vgl. MARTI (1975) 88: »Though the feelings of this enigmatic persona correspond to those of the author, it cannot be identified with either the author or narrator,« und die folgende Diskussion der These. Nicht zuletzt das Hervortreten der Erzählerpersönlichkeit bzw. einer in seinem Namen kommentierenden persona hat die Auffassung begünstigt, daß es sich bei der Pharsalia um ein zeitkritisches Werk handele, die Darstellung der Bürgerkriege also in Wirklichkeit auf Nero und sein Regime ziele. So sei die negativ gefärbte Palastbeschreibung als Kritik am Luxus Neros zu verstehen, der sich u.a. in der prächtigen domus aurea äußerte (s. dazu BASTET o. Anm. 174). Der Text der Ekphrasis liefert dafür jedoch keine Hinweise.
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Weise deutet: Der unerfahrene Telemach weiß bei seinem ersten Besuch am spartanischen Königshof vor Staunen keinen anderen Vergleich, als daß so die Wohnung der Götter aussehen müsse (Hom. Od. 4,71-75), und Aeneas, selbst im Begriff, Ahnherr eines neuen Volkes zu werden, bemerkt im Palast der Dido – neben der kostbaren Ausstattung – auch die Darstellungen großer Taten aus ihrer langen Familiengeschichte.195 Demgegenüber fällt Caesar beim Anblick des prächtigen Festsaals vor allem die Relativität seiner eigenen Erfolge ins Auge: Er hat niemals vergleichbar blonde Menschen gesehen (sc. geschweige denn sie als Sklaven besessen) wie am Hof der Kleopatra und auch bei seinem größten Erfolg in Afrika kein vergleichbares Ebenholz erbeutet. Die drohende Begehrlichkeit, die die Vergleiche nur andeuten, macht der Erzählerkommentar explizit. Die von Ehrgeiz getriebene Kleopatra (Lucan. 10,157: ambitione furens) findet in ihrem Gast ein ebenbürtiges Gegenüber. Caesar wird so als der skrupellose, nach Beute lüsterne Kriegsherr gezeichnet, der, anders als die Konsuln und Diktatoren der Frühzeit, auf alles andere als das Wohlergehen des Vaterlandes bedacht ist. Trotz der freundlichen Bewirtung durch die Gastgeberin und des (augenblicklich) friedlichen Verhaltens ihres Besuchers erscheinen so beide als negative Figuren – eine im epischen Gastmahl bis dahin einzigartige Konstellation.196 Bei den Vorgängern wird der Ankömmling stets als positive Gestalt gezeichnet, so daß sich die Spannung des Lesers ganz auf das Verhalten des Gastgebers richtet. Wird er den Fremden wohlwollend aufnehmen, oder drohen ihm womöglich Gefahren?197 Tatsächlich gehen Regelverstöße, wenn sie überhaupt vorkommen, meist vom Gastgeber aus, sind jedoch mit insgesamt nur drei Fällen äußerst selten.198 Gewöhnlich 195 Verg. Aen. 1,640-642: Caelataque in auro / fortia facta patrum, series longissima rerum / per tot ducta viros antiqua ab origine gentis. 196 Sie findet sich nur später noch einmal beim Empfang Hannibals in Capua, s. u. die Interpretation der Szene. 197 Vgl. für potentiell bedenkliche Situationen den Bittgang des Priamos zu Achill (Hom. Il. 24,448-691, s. die warnenden Worte der Hekabe Hom. Il. 24,206f. und die Klagen der Freunde bei seiner Abfahrt, Hom. Il. 24,327f.); Odysseus bei Kirke (Hom. Od. 10,308-540) und Jason bei Aietes (A.R. 3,215-448; Val. Flac. 5,558-617). 198 Es handelt sich zum einen um Kirke, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt (Hom. Od. 10,237-243), zum anderen um ihren Verwandten Aietes, der auf die Bitten Jasons, ihm das goldene Vlies zu überlassen, eine menschenunmögliche Probe ersinnt (A.R. 3,396-421) bzw. zunächst nur mit unterdrücktem Zorn reagiert (Val. Flac. 5,519-531). Selbst in den blutig endenden Antigastmählern ist es mit zwei Ausnahmen, dem Mahl der Lapithen und Kentauren, (Ov. met. 12,146-579; Val. Flac. 1,137-148) und
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halten sich beide Parteien an das Gastrecht, d.h. auch der Wirt erweist sich in der überwiegenden Mehrzahl der Szenen als positiver Charakter. Daß der Dichter nun trotz des bei oberflächlicher Betrachtung regelkonformen Gastmahls beide Protagonisten negativ beurteilt, unterscheidet das Bankett der Kleopatra von seinen Vorgängern, und läßt den Pessimismus Lukans hervortreten. Sein Ziel ist es, die unglücklichen Verkettungen des Bürgerkriegs darzustellen, die eine klare Scheidung von Gut und Böse nicht erlauben.199 Unter dem Deckmantel gewahrter Konventionen verbirgt sich daher ein ganz anderer Sachverhalt als bei den epischen Vorgängern. Weder von der Gastgeberin noch vom Gast ist etwas Gutes zu erwarten: Sein furor wird durch das Fest eher noch gesteigert (Lucan. 10,169: Discit opes Caesar spoliati perdere mundi). Abweichungen vom traditionellen Schema entstehen bei Lukan also nicht nur dadurch, daß der Dichter unter Wahrung typischer struktureller Eigenheiten bei der Wertung Modifikationen vornimmt (z.B. in der Darstellung des als dekadent gekennzeichneten Palastes und der Dienerschaft), sondern auch durch die Einfügung eines neuen Elements, des ausführlichen Erzählerkommentars, der nicht nur das für Lukan insgesamt kennzeichnende Pathos erzeugt, sondern auch der Charakterisierung der beiden Protagonisten dient. Die geschickt gewählte Stellung des Ausrufs gegen Ende der Mahlvorbereitungen (Lucan. 10,146-154) bewirkt eine Zäsur in der Schilderung und zugleich einen prononcierten Neuansatz, mit dem der Dichter zum üblichen Ablauf eines Gastmahls zurückkehrt. Das eigentliche Mahl Nachdem die Vorbereitungen abgeschlossen sind, werden verschiedene Speisen aufgetragen, dazu Wein als Getränk und Wasser, um die Hände zu der Geschichte von Perseus und Phineus in den Metamorphosen (Ov. met. 4,757-5,235) stets der Wirt, der als erster zur Gewalt greift. Man erinnere sich an das Verhalten des Kyklopen (Hom. Od. 9,287-344), die schmähliche Behandlung des ›Bettlers‹ Odysseus durch die Freier bei seiner – nicht als geschlossene Szene gestalteten – Heimkehr (s. bes. den Schemelwurf, Hom. Od. 17,462-465) und den Meuchelmord der lemnischen Frauen an ihren heimkehrenden Männern, der bei Statius (Stat. Theb. 5,186-264), anders als bei Apollonios, während eines Gastmahls stattfindet. 199 Vgl. V. ALBRECHT (1968) 286 (zum Prooem): »Es geht Lucan weniger darum, Caesar anzuschwärzen oder Pompeius reinzuwaschen, viel wichtiger ist ihm die Darstellung der verhängnisvollen Situation des Bruderkrieges, bei der die Grenzen von Recht und Unrecht sich verwischen.« Die gleiche Einstellung spiegelt auch das Gastmahl in Alexandria.
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reinigen (Lucan. 10,155-163). Wie schon beim Aufstellen der Tische (Lucan. 10,144-146) tritt dabei jedoch die Dienerschaft, der diese Tätigkeit in einem vornehmen Haushalt normalerweise obliegt, nicht ausdrücklich in Erscheinung. Lukan wählt statt dessen eine Formulierung, die die Aufmerksamkeit des Lesers ganz auf die dargebotenen Speisen lenkt.200 Er bleibt damit seinem Darstellungsprinzip treu, nach dem die Dienstboten nicht als Dienstboten, sondern als schmückendes Beiwerk ins Bewußtsein treten. Derselbe Effekt entsteht durch die Personifizierung des Kristalls, der das Wasser zum Waschen der Hände »darbietet«, sowie der Edelsteingefäße, die den edlen Falerner aufnehmen. (Lucan. 10,159-161: manibusque ministrat / Niliacas crystallos aquas, gemmaeque capaces / excepere merum). Ähnlich werden auch die Speisen nicht konkret genannt, sondern nach ihrer Herkunft umschrieben: Infudere epulas auro, quod terra, quod aer, / quod pelagus Nilusque dedit (Lucan. 10,155f.). Alle Elemente, so suggeriert der Dichter, müssen ihren Tribut für die königliche Tafel liefern, und zwar unabhängig von ihrem eigentlichen Nährwert. Sogar Fisch trägt man auf, der sonst in epischen Mahlszenen niemals verzehrt wird. Wie die Diener haben auch die Speisen ihre primäre Funktion eingebüßt und dienen weniger der Sättigung, als der Selbstdarstellung der Gastgeberin: Infudere epulas auro, [...] quod luxus inani / ambitione furens toto quaesivit in orbe / non mandante fame. (Lucan. 10,155-158). Dieser Befund bestätigt die oben dargelegten Prinzipien. Seit Homer gehört die knappe Erwähnung von Speisen beim Gastmahl zur epischen Konvention. In Ilias und Odyssee werden Brot und Fleisch als wichtigste Bestandteile der Mahlzeit meist konkret mit Namen genannt, während weitere Zutaten allgemein als »Speisen« (E½DATA) erscheinen. In der römischen Epik ist diese summarische Beschreibung das übliche.201 Dieses Verfahren hat Lukan in seinem 200 SCHMIDT (1986) 237 bemerkt dazu richtig, daß »mit infundere und posuere [...] die Präsenz der Diener vorausgesetzt [wird]; sie sind das logisch zu ergänzende Subjekt der Handlung« – aber eben nur das zu ergänzende Subjekt. 201 Vgl. Hom. Od. 1,141: KREI¤N P¸NAKAW Hom. Od. 7,175f.: SºTON E½DATA PÎLL’; A.R. 1,456: E½DATA KA¹ MYU LARÎN; A.R. 3,301: DÎRP¡ TE POTT¸; Verg. Aen. 3,355: impositis auro dapibus; Verg. Aen. 7,109: dapes; Aen. 8,175: dapes, Sil. 11,275: dapes. Eine Ausnahme bildet Stat. Theb. 1,522f.: His labor inserto torrere exsanguia ferro / viscera caesarum pecudum, die wohl – dem mythisch-heroischen Thema der Thebais entsprechend – als bewußte Reminiszenz an homerische (Opfer-) Mahlvorbereitungen zu deuten ist, vgl. z.B. Hom. Od. 12,364f. Die knappe Nennung weniger Bestandteile unterscheidet das Epos von Satire und Epigramm, bei denen die Dichter gerade an der umständlichen Darstellung exotischer Leckerbissen Gefallen finden (vgl. Hor. sat. 2,2,15-48; Iuv. 5,143-170; Mart. 12,17,4-6 u.ö.).
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Sinne abgewandelt: Zwar knüpft er an die Struktur der homerischen Mahlszene an, indem er die Nahrungsmittel nennt, setzt aber gleichzeitig durch die alle Elemente einbeziehende Umschreibung andere Akzente. Wie schon bei der Darstellung des Palastes ist das Ergebnis der Eindruck von Dekadenz, den der Dichter durch den ausdrücklichen Zusatz non mandante fame deutlich ausspricht. Übermäßigen Speisenluxus, der sich in der Gier nach ausgefallenen Lekkerbissen äußert, hat Lukan schon mehrfach kritisiert, z.B. im neunten Buch, wo er in seiner Klage über die römische luxuria mit seltenen Speisen und Hölzern, die zu Tischen verarbeitet werden, zwei Beispiele anführt, die sich auch an Kleopatras Tafel wiederfinden.202 Was den Luxus so verwerflich macht, erläutert der Dichter in einem emotionalen Ausruf des vierten Buches (V. 4,373-381), der sich allgemein gegen die Schlemmer richtet: diese Menschen halten das Maß der Natur nicht ein, sondern überschreiten achtlos die ihnen gesteckten Grenzen.203 Das Thema ist in der römischen Literatur auch sonst verbreitet, wird jedoch nicht im heroischen Epos, sondern in der Satire, in der ›moralischen‹ Geschichtsschreibung und vor allem im philosophischen Schrifttum angesprochen.204 Hier zeigt sich der Einfluß der Stoa, der die Pharsalia allenthalben prägt.205 Bei Kleopatra tritt zu der bloßen Gier nach Luxus noch ein weiterer Aspekt: Sie scheut sich nicht einmal, ihrem Gast die Götter Ägyptens als Speise vorzusetzen (Lucan. 10,158f.: multas volucresque ferasque / Aegypti posuere deos). Durch seine pointierte Ausdrucksweise hebt Lukan das Paradoxe der Situation, für das er auch sonst ein sicheres Gespür zeigt,206 scharf hervor. Es handelt sich um den gleichen Hang zur religiösen Indifferenz, ja zur Blasphemie, der sich schon in der tempelähnlichen Gestaltung des Festsaales abzeichnete. Kleopatra ähnelt in dieser Hinsicht dem Bild, das Lukan sonst von Caesar entwirft.207 Nur der Fortuna folgend,208 setzt 202 V. 9,429f.: In nemus ignotum nostrae venere secures, / extremoque epulas mensasque petimus ab orbe. 203 S. bes. Lucan. 10,373-378: o prodiga rerum / luxuries numquam parvo contenta paratis / et quaesitorum terra pelagoque ciborum / ambitiosa fames et lautae gloria mensae, / discite quam parvo liceat producere vitam / et quantum natura petat. 204 Schon Sallust prangert mit ähnlichen Worten die Dekadenz seiner Zeitgenossen an (Cat. 13,3: vescendi causa terra marique omnia exquirere); das gleiche Phänomen beklagt auch Seneca (z.B. ep. 47,2 und 8). 205 S. zum Thema DUE (1968) 201-232. 206 Dazu zuerst THIERFELDER (1934/35) 7ff. 207 Zur Ähnlichkeit der Frauengestalten mit ihren jeweiligen Partnern vgl. HARICH (1990) 212: »Neben weiteren Erzählfiguren kommt, epischer Technik getreu, den Frau-
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sich dieser bedenkenlos und ungestraft über menschliches wie göttliches Recht hinweg.209 Der wiederholte Hinweis auf die Hybris der Kleopatra ist aber auch bemerkenswert, weil ihre pietätlose Haltung gegenüber dem Heiligen sie in Gegensatz zu den positiv besetzten Gastgebern früherer Epen bringt, bei denen, wie oben (S. 86ff.) gezeigt, Respekt vor den Göttern die Regel ist. Dem episch geschulten Leser muß Kleopatra so als negative Figur erscheinen, bei der Vorsicht geboten ist. Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, wenn die Libation, die im homerischen Epos meist zum Ende des Gastmahls, im nachhomerischen zwischen dem »eigentlichen Mahl« (Element VII) und »Gespräch zwischen Gastgeber und Gast« (Element IX) bzw. als Reaktion auf eine mythologische Erzählung vom Gastgeber dargebracht wird, hier ausfällt. Da sonst in der Pharsalia gelegentlich Gebete erwähnt werden,210 kann der Grund nicht darin liegen, daß Lukan, der die traditionelle Götterwelt weitgehend ausengestalten die Aufgabe zu, Einblick in das Wesen der Helden zu gestatten.« Wie Kleopatra ihrem Gast und Liebhaber Caesar, so steht Cornelia dem Pompeius und Marcia dem Cato charakterlich nahe. Dazu auch ZWIERLEIN (1986) 473. 208 Vgl. seine Worte beim Überschreiten des Rubicon (V. 1,225f.): ›Hic‹, ait, ›hic pacem temerataque iura relinquo; / te, Fortuna, sequor; procul hinc iam foedera sunto.‹ 209 Das prominenteste Beispiel ist die Abholzung des heiligen Hains in Gallien, bei der Caesar angesichts seiner zaudernden Legionäre sogar eigenhändig zur Axt greift (V. 3,399-452), dazu RUTZ (1950 [1989]) 162-165 und LEIGH (1999), bes. 171-179. Instruktiv sind auch Selbstaussagen wie die Seesturmreden (V. 5,532-537 und 5,578-593). In titanenhafter Weise wagt Caesar hier unter dem Schutz seines »Glücks« die offene Konfrontation mit den Überirdischen und den von ihnen entfesselten Naturgewalten – und siegt (V. 5,579f.: Italiam si caelo auctore recusas, / me pete). Die Szene ist als Kontrast zum Seesturm in der Aeneis (Verg. Aen. 1,81-143) konzipiert, mit dem die von Iuno bzw. Aiolos aufgestachelten Winde, noch während Aeneas um Schonung betet, die trojanische Flotte zerschmettern, dazu RUTZ (1950[1989]) 154f. In der Konfrontation des gottlosen, aber erfolgreichen Caesar mit dem hart getroffenen pius Aeneas zeigt sich der Pessimismus Lukans besonders deutlich: »Die alten Götter sind hilflos geworden gegenüber dem Mächtigen dieser Erde« (RUTZ [1950/1989]155). 210 Vgl. das Gebet, das Caesar bei seinem Besuch in Troja vor einem flüchtig erbauten Altar an die in den Ruinen wohnenden »Aschengötter«, die Laren des Aeneas und die Göttin des Palladions richtet (V. 9,987-999). Die Stimmung ist allerdings hier wie an vergleichbaren Stellen weit von derjenigen traditioneller Epen entfernt. Das Gebet auf den Trümmern von Troja stellt Caesar für den kundigen Leser nicht in die Nachfolge des pius Aeneas, die er durch die Selbstbezeichung gentis Iuleae [...] clarissimus (V. 9,995) für sich in Anspruch nimmt, sondern in die des »Erztyrannen« Alexander. Dieser aber war nach dem zeitgenössischen stoischen Denken »eine [...] signifikante Gestalt für das Böse geworden.« RUTZ (1950[1989]) 143, vgl. Sen. benef. 1,13,1-3; Sen. de ira 3,17,1, außerdem Cic. de off. 1,90. Zum Alexanderbild bei den Römern s. WEBER (1909). Gleichzeitig enttarnt die ganze Anlage der Trojaszene Caesar als Gegenbild des pius Aeneas. S. ZWIERLEIN (1986) 477.
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blendet,211 weshalb seinem Werk sogar der Rang eines Epos abgesprochen wurde,212 auch konsequent auf die Darstellung religiöser Riten verzichte. Vielmehr setzt sich hier die impietas der Mahlteilnehmer konsequent fort: Kleopatra, die sich nicht scheut, Caesar die heimischen Götter als Speise vorzusetzen, macht keinerlei Anstalten, das Bankett durch eine Trankspende den Himmlischen zu empfehlen. Damit ist jedoch nur die inhaltliche Seite des Tatbestandes erfaßt. Auf struktureller Ebene bedeutet der Verzicht auf die Libation zugleich, daß ein traditioneller Auftritt des Gastgebers ausfällt, die Stellung Kleopatras gegenüber ihrem Gast also geschwächt wird. Freilich hat eine fehlende Trankspende allein noch keine große Akzentverschiebung zur Folge. (Man erinnere sich, daß auch Menelaos den Göttern keinen Wein sprengt, ohne daß seine Stellung in der Telemachie dadurch gefährdet würde). Sie fällt aber ins Gewicht, wenn man den weiteren Verlauf des Mahls, vor allem des Tischgesprächs, hinzunimmt. Ohne der Interpretation zu weit vorzugreifen, läßt sich sagen, daß sich hier die schwache Position Kleopatras bestätigt: Zur beherrschenden Gestalt entwickelt sich Caesar, der schon zu Beginn der Festlichkeiten als maior potestas (Lucan. 10,136) bezeichnet wurde. Auf die Erwähnung des Handwassers, welches zur Mahlvorbereitung zählt, folgt unmittelbar die Darbietung des Weins, der aus kostbaren Edelsteingefäßen genossen wird (Lucan. 10,159-161: manibusque ministrat / Niliacas crystallos aquas, gemmaeque capaces / excepere merum). Nicht nur inhaltlich durch die fehlende Libation, sondern auch syntaktisch durch die Wahl eines fortlaufenden Satzgefüges wird so der Eindruck erweckt, Mahl und Umtrunk bildeten keine deutlich getrennten Phasen des Gastmahls. Zwar führt Lukan zuerst die Speisen samt dem dazugehörigen Waschwasser und erst danach den Wein an, doch sind Handwasser und Wein darstellerisch so eng miteinander verbunden, daß sie nahezu gleichzeitig in das Bewußtsein des Lesers treten. Beide werden unter dem Aspekt ihrer Behältnisse (crystallos, gemmaeque capaces, Lucan. 10,160) betrach211 Vgl. zum Problem der Religion in der Pharsalia LE BONNIEC (1968) passim, AHL (1974) passim. 212 Diese Einschätzung geht bis in die Antike zurück, s. Servius ad Aen. 1,382: Lucanus [...] ideo in numero poetarum esse non meruit, sowie Quint. inst. 10,1,90 vgl. dazu die Worte des Eumolpus bei Petron. 118,6: ecce belli civilis ingens opus quisquis attigerit nisi plenus litteris, sub onere labetur. non enim res gestae versibus comprehendae sunt, quod longe melius historici faciunt, sed per ambages deorumque ministeria [...] praecipitandus est liber spiritus. Vgl. auch Mart. ep. 14,194: (Lucanus): Sunt quidam qui me dicant non esse poetam: / sed qui me vendit bybliopola putat.
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tet, wobei die beiden Kola durch ein gemeinsames Prädikat zusammengeschlossen sind. So entsteht ein homogenes Bild, das eine zeitliche Differenzierung zwischen dem Darreichen des Handwassers und dem Auftragen des Getränks kaum zuläßt. Dies entspricht den auch sonst zu beobachtenden Konventionen. Den Wein läßt Kleopatra ihren Gästen abweichend von den normalen griechischen und römischen Gepflogenheiten als merum, also ungemischt vorsetzen. Schon seit homerischer Zeit ist es sonst üblich, den zum Trinken bestimmten Wein mit Wasser zu verdünnen213 – ein Brauch, an den sich, wie gesehen, Dido gewissenhaft hält.214 Überdies wählt Kleopatra nicht ein einheimisches Produkt, sondern einen uralten, von den Römern besonders geschätzten Falerner.215 Auch in diesem Punkt hebt Lukan also den maßlosen Aufwand hervor. Die Verwendung der Antithese (Lucan. 10,161-163: merum, sed non Mareotidos uvae, / nobile sed [...] Falernum) verknüpft das Detail mit der strukturell ganz ähnlich gestalteten Ekphrasis, die ja ebenfalls durch Antithesen die Maßlosigkeit der Königin herausstellte. Auch die Blumenkränze und das kostbare Parfüm, an denen sich die Festgesellschaft anschließend erfreut, sind durch die Beschreibung ex negativo in diesen Rahmen eingeordnet (Lucan. 10,166f.: Cui nondum evanuit aura / cinnamon externa nec perdidit aera terra). Der Gebrauch von Blumenkränzen und duftenden Salben beim Mahl ist aus der Satire und dem Epigramm wohlbekannt,216 wird im Epos jedoch selten erwähnt.217 Lukan nimmt hier ein neues Detail in den Ablauf des epi213 Vgl. Hom. Od. 1,110: O¼MNoR OÁNONMISGONN¹KRHTRSIKA¹ÉDVRu.ö 214 Nur bei der Trankspende an Iupiter hospitalis spricht Vergil ausdrücklich von merum (Verg. Aen. 1,729), während für den Umtrunk unter Anspielung auf einen homerischen Formelvers von vinum die Rede ist (Verg. Aen. 1,724: crateras magnos statuunt et vina coronant, vgl. Hom. Od. 1,148: KOÅROIDKRHTRAWPESTCANTOPOTOºO). 215 Vgl. Mart. ep. 1,18,1-4: Quid te, Tucca iuvat vetulo miscere Falerno / in Vaticanis condita musta cadis? / quid tantum fecere boni tibi pessima vina? / aut quid fecerunt optima vina mali? Ähnlich Mart. 3,77,8 u.ö. 216 S. LILJA (1972) mit ausführlicher Diskussion des Brauchs und dessen festlichen Konnotationen. Vgl. für Kränze Hor. sat. 2,3,13; 2,7,24; 2,11,14f.; 3,29,3; 4,11,3f.; dazu Mart. 5,64,3f.; 8,77,3f.; 12,17,7 (Salben und Kränze); Iuv. 4,108; 8,159; Persius 3,104; Stat. silv. 1,2,111 (Salben als Zeichen der Freude). 217 Außer Lukan spricht noch Silius von wohlriechenden Salben, die Hannibal beim Gastmahl in Capua kennenlernen werde (Sil. 11,402). Anders als in unserer Szene beschreibt er sie aber nicht während des Mahls selbst, sondern nennt sie nur allgemein in einer Rede der Venus, mit der die Liebesgöttin noch vor den eigentlichen Festlichkeiten ihre Söhne auffordert, die Karthager zum Wohlleben zu verleiten. Auch die zweite Bemerkung fällt eher beiläufig außerhalb eines Mahls, als sich Virtus in einer Scheideweg-
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schen Gastmahls auf, das für den an Homer, Apollonios und Vergil geschulten Leser eine Überschreitung der gattungsspezifischen Gepflogenheiten bedeutet. Während die ungewöhnliche Beschreibung der Kleopatra sich als eine Erweiterung der üblichen Darstellung aller Anwesenden deuten läßt, ergibt sich diese Neuerung nicht ohne weiteres aus dem traditionellen epischen Gastmahl. Allerdings ist sie nur vom Leser als solche zu erkennen, nicht aber aus der Figurenperspektive, für die Kränze und Salben – auch wenn diese im Epos gewöhnlich nicht beschrieben werden – zum gewöhnlichen Bestand zeitgenössischer Gastmähler zählen dürften. Die Übernahme von gattungsfremden Details stellt also einen weiteren Kunstgriff dar, mit dessen Hilfe Lukan die epischen Vorbilder in seinem Sinne modifiziert: Sie charakterisieren das Gastmahl der Kleopatra für den Leser als ein die üblichen Grenzen überschreitendes Gelage. Als Anhaltspunkt dafür, daß diese Details tatsächlich als Fremdkörper empfunden wurden, kann die Tatsache gelten, daß sie bei den späteren römischen Epikern, denen der Gebrauch von Kränzen und Salben beim Mahl durch ihren eigenen kulturellen Hintergrund durchaus vertraut war, nicht traditionsbildend gewirkt haben. S. Anm. 217. Szene mit Voluptas um die Seele des Scipio streitet (Sil. 15,117) und diesem dabei eine Reihe von verlockenden Annehmlichkeiten aufzählt, zu denen auch kostbare Parfüms gehören. In der Aeneis erscheint gesalbtes Haar nur außerhalb von Gastmahlszenen (Verg. Aen. 4,216f., 12,99f.) und wird als Zeichen der Verweichlichung gedeutet. So auch bei Val. Flac. 5,588-592. S. die Besprechung bei LILJA (1972) 86. Blumenkränze erscheinen in epischen Gastmahlszenen sonst nicht. Vergil und Statius erwähnen nur Kränze aus Laub, die aber nicht wie bei Lukan zum bloßen Schmuck dienen, sondern religiös besetzt sind: Sie gehören zur Kleidung der Teilnehmer bei religiösen Handlungen, s. das Mahl bei Euander, Verg. Aen. 8,274: cingite fronde comas et pocula porgite dextris; Verg. Aen. 8,275-277: ›date vina volentes‹ / dixerat, Herculea bicolor cum populus umbra / velavitque comas foliisque innexa pependit; Verg. Aen. 8,285f.: tum Salii ad cantus incensa altaria circum / populeis adsunt evincti tempora ramis; und das Mahl bei Adrast, Stat. Theb. 1,552-555: hanc [sc. pateram] undante mero fundens vocat ordine cunctos / caelicolas [...] comitum famulumque evincta pudica / fronde manus. Als nicht religiös gefärbter Kopfschmuck erscheint ein Kranz erst bei Claudian im Rahmen einer regulären Gastmahlszene (Die Manen tragen nicht näher bezeichnete Kränze, Claud. rapt. Pros. 2,328; Charon trägt während der Hochzeitsfeierlichkeiten von Pluto und Prosperpina einen Kranz aus Halmen, Claud. rapt. Pros. 2,359f.). Vor Claudian werden Kränze sonst nur während der Antigastmähler als allgemeines Zeichen der Festfreude genannt, Ov. met. 4,756-760; Stat. Theb. 5,190-192. Zu ungenau daher GRUZELIER (1993) zu Claud. rapt. Pros. 2,328 coronati: »the flower garlands of a traditional symposium, distributed in Greek tradition to the guests after the libation to Zeus Soter. Garlands always go with drinking.« Die angeführten Belege Iuv. 5,36; Anac. 396 (PMG) und Hor. Od. 1,38 stammen jedoch nicht aus dem Epos.
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Wirkt das auffällige Element der Bekränzung schon durch sein bloßes Vorhandensein überraschend auf den Leser, so entfaltet es seinen Einfluß auf der Figurenebene erst durch die hohe Qualität des dargebotenen Schmucks. In gleicher Weise wirkt nicht der Schmuck des Festsaals an sich auf Caesar, sondern erst der darin zur Schau gestellte maßlose Luxus. Obwohl die Bekränzung beim Mahl dem Epos inhaltlich fremd ist, unterscheidet sich die Art ihrer Wirksamkeit auf die dargestellten Personen also nicht von der konventioneller Bestandteile. Den verderblichen Einfluß des von der Pharaonin sorgfältig in Szene gesetzten Reichtums (vgl. Lucan. 10,109f.) auf Caesar faßt Lukan in einem direkten Kommentar zusammen, der ein Pendant zu dem an Kleopatra gerichteten Ausruf (Lucan. 10,146154) darstellt. Blind vor Ehrgeiz sei die Königin, hatte es dort geheißen, so daß sie sogar einem Bewaffneten ihren Reichtum offenbare (s. Lucan. 10,146-149: Pro caecus et amens / ambitione furor, civilia bella gerenti / divitias aperire suas, incendere mentem / hospitis armati). Nun zeigt sich der Erfolg dieses Kalküls: Der römische Feldherr, bisher von solchem Luxus unberührt, ›lernt‹ auf diese Weise, die Reichtümer der Welt zu verschwenden. (Lucan. 10,169: Discit opes Caesar spoliati perdere mundi). In wirkungsvoller Prolepse wird die drohende Plünderung der Welt vorweggenommen: Mit der verführerischen Bewirtung des kriegführenden Caesar sind weitere Raubzüge vorgezeichnet (Lucan. 10,170f.: et gessisse pudet genero cum paupere bellum, / et causas Martis Phariis cum gentibus optat). Diesen direkten Einwurf, der die vorangegangene Schilderung nach ihrer Wirkung und den daraus erwachsenden tragischen Konsequenzen zusammenfaßt, hat Lukan wieder effektvoll an eine traditionelle Zäsur innerhalb der Gastmahlszene geknüpft: den durch eine Reminiszenz an homerische Formelverse bezeichneten Übergang zwischen eigentlichem Mahl (Element VII) und Gespräch zw. Gastgeber und Gast (Element IX).218 Die nachträgliche Feststellung, daß das Mahl beendet sei, erlaubt es dem Dichter, den eigentlichen Vorgang des Speisens zu umgehen, der in epischen Gastmahlszenen nur dann näher beschrieben wird, wenn ihm besondere Bedeutung zukommt.219 Wie im vorigen Kapitel gezeigt, verwendet schon Vergil einen 218 Lucan. 10,172f.: Postquam epulis Bacchoque modum lassata voluptas / imposuit, vgl. Hom. Od. 1,150 u.ö.: AÆTkR PE¹ PÎSIOW KA¹ DHTÃOW J RON
NTO S. dazu oben S. 84f. 219 Vgl. auch außerhalb der Gastmahlszenen das Tischprodigium in der Aeneis, wo der Verzehr der Brote, dem eine entscheidende Bedeutung zukommt, ausführlich geschildert wird (Verg. Aen. 7,112-117).
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an Ilias und Odyssee orientierten Formelvers (Verg. Aen. 1,723f.: Postquam prima quies epulis mensaeque remotae, / crateras magnos statuunt et vina coronant). Anders als Lukan fügt er ihn jedoch nicht zwischen einem Umtrunk und dem Gespräch ein, sondern schon an früherer Stelle, zwischen dem Genuß der Speisen und dem Umtrunk, womit er der aus dem römischen Kulturkreis bekannten Trennung zwischen dem Genuß der Speisen und dem anschließenden Trinkgelage Rechnung trägt. Da Lukan seinerseits kein eigenes Trinkgelage schildert, sondern dessen Elemente in die Beschreibung der Beköstigung integriert, erscheint der an Homer orientierte Hexameter folgerichtig am Ende des gesamten Komplexes, also direkt vor dem Gespräch, in das ein Bankett gewöhnlich mündet.220 Der Abschnitt nach dem eigentlichen Mahl Anders als in den Primärquellen der Szene, dem Besuch des Odysseus bei den Phäaken und der Bewirtung des Aeneas bei Dido tritt nach dem Mahl jedoch kein Sänger auf, um das Ohr der Gäste zu erfreuen. Statt dessen beginnt Caesar eine lange, bis tief in die Nacht dauernde Unterhaltung. Diese Konstellation ist zwar inhaltlich auffällig, da meist nicht der Gast, sondern der Gastgeber den Anstoß zum Gespräch gibt,221 formal jedoch läßt sie die übliche Darstellung eines wißbegierigen Wirtes anklingen. Primäres Vorbild ist das Gastmahl bei Dido, vgl. Lucan. 10,173f.: longis Caesar producere noctem / inchoat adloquiis und Verg. Aen. 1,748f.: nec non et vario noctem sermone trahebat / infelix Dido. Gemeinsame Details, die beide Szenen mit anderen epischen Gastmählern teilen, sind einerseits die lange Dauer der Unterhaltung, andererseits der wechselvolle Gesprächsstoff, der bei Vergil ausdrücklich genannt (Verg. Aen. 1,748: vario [...] sermone), bei Lukan nur durch den Plural (Lucan. 10,174: alloquiis) angedeutet wird. Weiterhin ist das Prinzip gewahrt, daß von den zahlreichen 220 Dies ist in 35 der 40 untersuchten Gastmahlszenen der Fall. Nur fünf enthalten keine Unterhaltung nach dem Mahl: Aufenthalt der Gefährten des Odysseus bei Kirke, Hom. Od. 10,210-243; Odysseus bei Autolykos, Hom. Od. 19,413-427; Aeneas bei Helenus, Verg. Aen. 3,300-355; Thetis bei Chiron, Stat. Ach. 1,104-197; Hochzeitsmahl von Pluto und Proserpina, Claud. rapt. Pros. 2,306-372; dazu oben S. 92f. 221 In der Ilias eröffnet dagegen meist der älteste Teilnehmer das Gespräch. Die Erzählungen der Gäste in der Odyssee, die gewöhnlich vom Gastgeber angeregt werden, können dagegen geradezu als »Gegenleistung« für die freundliche Aufnahme betrachtet werden, s. REECE (1993) 28 (der seine Aussage allerdings unrichtig auch auf die Ilias bezieht): »The visitor provides news from abroad to a curious host, as though in exchange for material hospitality.« S. dazu S. 93f.
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Themen nicht alle wiedergegeben werden, sondern im Extremfall nur eines, nämlich die längere Erzählung einer einzelnen Person.222 Doch während sonst meist der Gast nach Aufforderung von seinen Abenteuern berichtet, ist es hier der ägyptische Priester Acoreus, der auf Caesars Bitten in einem naturwissenschaftlichen Vortrag die Geheimnisse des Nils enthüllt (Lucan. 10,193-331). Die für ein episches Gastmahl überraschende Initiative des hospes kommt durch eine lange wörtliche Rede (Lucan. 10,176-192) gebührend zur Geltung, während Kleopatra, die wahre Gastgeberin, in dem verbleibenden Teil der Szene mit keinem Wort mehr erwähnt wird – ja es ist nicht einmal sicher, inwieweit sie sich an den von Caesar angeregten alloquia beteiligt. Ein solches Übergewicht des Gastes, der nicht nur die Initiative zum Gespräch an sich zieht, sondern sogar die Wirtin ganz in den Hintergrund drängt, weist kein anderes episches Gastmahl auf.223 Lukan erreicht diese Verschiebung, indem er nicht nur die Initiative zur Konversation auf Caesar überträgt, sondern darüber hinaus das traditionelle Element des »Gesprächs zwischen Gastgeber und Gast« (IX) mit dem künstlerischen Vortrag verschmilzt. Während an Königshäusern oft ein (Hof-)Sänger auftritt, und zuvor oder, seltener, im Anschluß daran eine Unterhaltung über die Erlebnisse des Fremden stattfindet, bei welcher der Gastgeber durch seine Anordnungen und Wünsche eine lenkende Funktion ausübt, so besteht hier der berichtende Teil der Unterhaltung aus einem Vortrag, der nicht von Gast oder Gastgeber, sondern einem Dritten geliefert wird. In dieser Beziehung gleicht also die Rede des Acoreus eher den Liedern der Sänger, die ebenfalls als Außenstehende die Protagonisten unterhalten. Da außerdem die Aufforderung zum Vortrag während der Unterhaltung ergeht, tritt dieser zugleich an die Stelle der langen Erzählung, mit der sich gewöhnlich der Fremde näher vorstellt. Durch diese Verschmelzung zweier gängiger Elemente und die Übertragung der Initiative auf Caesar blendet 222 Auch bei Homer, der von allen Epikern die größte Vorliebe für längere Gespräche hat und manchmal bis zu vier Wechselreden darstellt (vgl. den Besuch des Telemach bei Menelaos, Hom. Od. 3,78-305) werden nicht alle erwähnten Themen ausgeführt. Apollonios und Vergil, dessen Beispiel Lukan folgt, raffen die Unterhaltungen noch stärker. Vgl. das Abschiedsmahl der Argonauten, A.R. 1,457-459, wo zwar viele Themen angedeutet werden, später aber nur der Streit mit Idas erscheint. Zu Vergil s. HEINZE (1957) 404: »Was zunächst bei Virgil ins Auge fällt, ist [...] die große Einschränkung, die bei ihm das Gespräch erfährt. [...] Zu allermeist beschränkt sich das Gespräch auf Rede und Gegenrede zweier Sprecher.« 223 Vgl. dagegen die Konversation von Jason und Aietes (Val. Flac. 5,574-614), bei der zwar der Gast Jason den Gesprächsverlauf durch Fragen lenkt, seinen Wirt aber ausdrücklich zu Wechselreden auffordert.
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Lukan die eigentliche Gastgeberin Kleopatra, wie zuvor schon ihren Bruder, vollkommen aus, ohne daß der Eindruck eines epischen Mahls dadurch ernsthaft gestört würde. Als Caesar den Priester zum Reden auffordert (Lucan. 10,176-192), schließt er in seine Bitte zahlreiche Einzelfragen ein, ganz wie es in anderen epischen Mahlszenen die Gastgeber tun, wenn sie den Ankömmling bitten, seine Geschichte zu erzählen.224 Anders als diese verlangt er jedoch nicht danach, persönliche Erlebnisse seines Gesprächspartners zu hören, sondern erkundigt sich nach der Geschichte, der Geographie, den Bräuchen und besonders der Religion des Gastlandes (Lucan. 10,177-181 und 189-191), also nach Einzelheiten, für die Acoreus nur in seiner Eigenschaft als gelehrter Priester, nicht aber als Person interessant ist. Da dieses Gespräch zugleich als einzige Phase der Unterhaltung breit ausgeführt wird, während ein Austausch zwischen Caesar und Kleopatra vollkommen fehlt, erhalten die alloquia insgesamt eine nüchternere Färbung als alle vergleichbaren Gastmahlszenen, in denen die Protagonisten in eine persönliche Beziehung treten.225 Eine so ausführliche Begründung für seine Wißbegier, wie Caesar sie liefert, ist in den epischen Gastmahlszenen einzigartig. Sowohl bei dem Lied eines Sängers als auch bei den Erzählungen eines Gastes wird gewöhnlich – wenn überhaupt – nur eine kurze Einladung ausgesprochen, weil sich die Unterhaltung harmonisch aus dem Zusammenhang ergibt. Wenn ein berufsmäßiger Sänger anwesend ist, muß nicht eigens begründet werden, warum gerade er ein Lied vortragen soll, und noch weniger müssen sich die Gäste dafür rechtfertigen, daß sie sich nach dem Mahl an einer musischen Darbietung erfreuen wollen.226 Auch wenn der Fremde vom Gastgeber auf224 Vgl. Hom. Od. 1,170-177 (Telemach an Athene); 3,71-74 (Nestor an Telemach und Mentor); 7,238f. (Arete an Odysseus); Hom. Od. 10,325 (Kirke an Odysseus); 14,187-190 (Eumaios an Odysseus); A.R. 3,304-316 (Aietes an die Phrixossöhne); Verg. Aen. 1,750-756 (Dido an Aeneas), vgl. auch die vorgezogene Befragung des Aeneas durch Pallas, Aen. 8,112-114, s. dazu oben S. 95 Anm. 219. 225 Diese kann im intensivsten Fall in einer Liebesbeziehung bestehen, aber auch in allgemein freundschaftlicher Verbundenheit, wie zwischen Telemach und Nestor oder Telemach und Menelaos. Selbst Zorn und Wut, wie sie zwischen Aietes und Jason herrschen (vgl. A.R. 3,367-382; Val. Flac. 567-569), stellen eine Form von persönlicher Beziehung dar, die sich von dem Schweigen, das Lukan über alle Wechselreden zwischen Caesar und Kleopatra breitet, deutlich abhebt. 226 So zeigt Homer den Beginn des Gesangs gelegentlich einfach dadurch an, daß dem Sänger sein Instrument gereicht wird, vgl. Hom. Od. 1,153f. (Phemios); Hom. Od. 8,67-69 (Demodokos).
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gefordert wird, von seinen Abenteuern zu erzählen, muß weder die Wahl des Vortragenden – nur er selbst kann seine Vorgeschichte kennen – noch der Wunsch des Hörers umständlich begründet werden. Entsprechend knapp fallen die Aufforderungen jeweils aus.227 Caesar hingegen greift zu einer freundlich vorgebrachten (Lucan. 10,175: placidis [...] dictis) und geschickt gegliederten Argumentation, in der er zunächst die Frömmigkeit und Gottesnähe des Acoreus hervorhebt (Lucan. 10,176f.: sacris devote senex [...] non neglecte deis).228 Die achtungsvolle Anrede als senex und der ausdrückliche Hinweis auf sein hohes Alter (Lucan. 10,176) schaffen einen harmonischen Übergang zu den Fragen Caesars nach der Frühgeschichte des ägyptischen Volkes und, daran anschließend, nach seinen Bräuchen, religiösen Riten und vielgestaltigen Gottheiten (Lucan. 10,177-179). Gerade von den ältesten und verborgensten Geheimnissen und Aufzeichnungen wünscht der Römer zu erfahren, wobei er sich auf die Götter selbst beruft, die sich gern erkennen ließen (Lucan. 10,179-181: quodcumque vetustis / insculptum est adytis profer, noscique volentes / prode deos). Als unterstützendes Argument dient ihm die Legende, daß die Vorfahren des Priesters sogar ihren Gastfreund Platon unterwiesen hätten (Lucan. 10,181f.: Si Cecropium sua sacra Platona / maiores docuere tui...).229 Von dem berühmten hospes leitet Caesar sodann unmerklich zu seiner eigenen Person über: Der Hauptgrund für seinen Aufenthalt in Alexandria sei zwar der Ruhm des Pompeius, jedoch, so fügt er rasch hinzu, auch der der Priesterschaft;230 habe er sich doch selbst während der Kämpfe des Bür227 Das Recht eines Wirtes, Näheres über seinen Gast zu erfahren, ist in der Odyssee so unumstritten, daß Reisende, die ihre Anonymität zu wahren wünschen, sogar eher zu einer Lügengeschichte greifen, als die Bitte des Gastgebers rundheraus abzulehnen. Vgl. als bekanntestes Beipiel die Trugrede des Odysseus vor Eumaios (Hom. Od. 14,191-359), aber auch die vorgetäuschte Identität der Athene im ersten Buch der Odyssee (Hom. Od. 179-212). 228 Die Ansprache weist Parallelen zur Rede des Aeneas vor seiner Unterweltsfahrt auf (Verg. Aen. 6,103-123), besonders was die Argumentation mit großen Vorbildern betrifft (Aeneas erwähnt Orpheus, Pollux, Theseus und Herakles). Vgl. dazu EICHBERGER (1935) 9-13. Die Rede des Aeneas wiederum geht möglicherweise auf orphische Vorbilder zurück, dazu NORDEN (1957) zu Aen. 6,120. 229 Die Legende, daß Platon nach Ägypten gereist sei, überliefern auch Diodor 1,96,2 und Cicero (De rep. 1,16, vgl. De fin. 5,50). Eine kommentierte Zusammenstellung der Zeugnisse bei DÖRRIE (1990) Nr. 62-65. 230 Lucan. 10,184f.: Fama quidem generi Pharias me duxit ad urbes, / sed tamen et vestri.
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gerkriegs mit Sternbildern und allgemein den Himmelserscheinungen beschäftigt und werde durch seine Kalenderreform sogar dem Mathematiker Eudoxos gleichkommen (Lucan. 10,185-187). Seine Kenntnisse stellt der Römer schon durch die Wortwahl heraus, die von feierlichen bzw. gelehrten Ausdrücken (V. 177: primordia; V. 180: adytis; V. 181: Cecropium) und seltenen oder fremdsprachigen Formen (V. 178: vulgi; V. 187: fastibus; V. 181: Platona) geprägt ist – eine geschickte Anpassung an seinen gebildeten Gesprächspartner.231 Sein mit virtus gepaartes großes Verlangen nach Wahrheit, das sich darin ausdrücke, finde freilich seinen Höhepunkt in der Frage nach den Nilquellen (Lucan. 10,189-191: Nihil est, quod noscere malim / quam fluvii causas [...] ignotumque caput). Hier erst enthüllt der Römer seine eigentlichen Absichten. Nicht die Götter Ägyptens und die Frömmigkeit, die er eingangs an Acoreus gerühmt hatte, stehen im Mittelpunkt seines Interesses, sondern ein sagenumwobener Ort jenseits der bekannten Welt. Um zu ihm vorzustoßen, sei er, der erfolgreiche Feldherr, sogar bereit, den Bürgerkrieg zu verlassen (Lucan. 10,191f.: spes sit mihi certa videndi / Niliacos fontes, bellum civile relinquam). Es zeigt sich, daß die Religion nur als Mittel zum Zweck dient: Sie bildet ein Glied in der Argumentationskette, mit deren Hilfe Caesar die eigentlich wichtigen Informationen von dem Priester zu erlangen hofft. Sein Verhalten korrespondiert also mit dem der Kleopatra, die die heiligen Tiere des Landes rücksichtlos ihrem Repräsentationsbedürfnis dienstbar macht, indem sie sie dem Gast als exotische Speise vorsetzt (Lucan. 10,158f.). Offenbar versteht Acoreus den eigentlichen Hintergrund der Frage sehr wohl: Seine Antwort befaßt sich nach einem kurzen Abriß über den Sternenhimmel (Lucan. 10,199-218) ausschließlich mit dem Verlauf des Nils und seiner geheimnisvollen Schwemme (Lucan. 10,219-331).232 Daß die geographische Lage der Quellen nur ungenau angegeben wird (Lucan. 10,287: medio consurgis ab axe) entschuldigt der Priester mehrfach durch Wendungen, die sein eigenes Wissen relativieren (Lucan. 10,237: quis causas reddere possit?; Lucan. 10,271: vincit adhuc natura latendi; Lucan. 10,284f.: nulli contingit gloria genti / ut Nilo sit laeta suo; Lucan. 10,285287: Tua flumina prodam, / qua deus [...] / te me nosse dedit). Von den re231 Auf diesen Effekt weist zu Recht TASLER (1972) 87 hin, der ihn vor allem im Vergleich mit der Caesarrede an den niedrig gestellten Amyclas herausarbeitet (ebd. 8688). 232 Die Ausführungen weisen Parallelen zum »De Nilo« überschriebenen Buch IV A der Naturales Quaestiones des Seneca auf. Vgl. aber auch Hdt. 2,19-34.
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ligiösen Bräuchen und den Göttern des Landes, nach denen Caesar zuerst gefragt hatte, ist hingegen keine Rede mehr. Sie spielen nur am Anfang des Vortrags eine Rolle, als der Priester ausdrücklich versichert, den Himmlischen seien seine Ausführungen zweifellos genehm (Lucan. 10,197: ast ego caelicolis gratum reor). Allerdings gründet sich diese Auffassung nicht auf eine göttliche Offenbarung oder gar die Tradition der ägyptischen Priesterkaste, sondern auf sein eigenes, nicht unumstrittenes Urteil (Lucan. 10,196f.: Sit pietas aliis miracula tanta silere; / ast ego...). Acoreus ist also keineswegs der konservative Vertreter der Priesterschaft, den Caesars Anrede o sacris devote senex (Lucan. 10,176) vermuten lassen könnte. Sein ambivalenter Charakter wird schon gleich beim ersten Auftritt des heiligen Mannes im achten Buch deutlich, wo ihn der Dichter unter die »Ungeheuer«, d. h. die Ratgeber, am Hof des Ptolemaios einreiht (Lucan. 8,474f.: omnia monstra / Pellaeae coiere domus, quos inter Acoreus), um allerdings abschwächend hinzuzufügen: [Acoreus] iam placidus senio fractisque modestior annis (Lucan. 8,476). Nun offenbart er, wenn auch mit warnendem Unterton, dem machtbesessenen Feldherrn geheime Kenntnisse über den Nil. Daß nur ein Teil der gestellten Fragen ausführlich beantwortet wird, ist, wie oben gezeigt, in einer epischen Gastmahlszene nichts Ungewöhnliches.233 Da die Dichter sich normalerweise am Kenntnisstand des Lesers orientieren, kommen im Vortrag hauptsächlich Einzelheiten zur Sprache, die diesem noch unbekannt sind. Hier verhält es sich anders: Die Antworten werden nicht nach den Vorkenntnissen des Publikums, ja nicht einmal nach denen des Gesprächspartners ausgewählt. Vielmehr orientiert sich der Priester nur an bestimmten Aspekten der ihm vorgelegten Fragen, während andere ganz ausgeklammert bleiben. Wie läßt sich der Vortrag des Acoreus nun formal fassen? Oben (S. 99f.) haben wir gesehen, daß sich Gesänge beim Mahl grob in zwei Kategorien einteilen lassen: Solche, die als Kommentar für den Leser konzipiert sind, und solche, die als handlungsfördernde Elemente wirken. Das Charakteristikum eines ›kommentierenden‹ Gesangs besteht darin, daß er für die Figuren einen bloßen Zeitvertreib darstellt, während ihnen seine eigentliche Bedeutung verborgen bleibt. Als Beispiel diente u.a. der Gesang des Iopas in 233 S. schon Schol. ad Lucan. 10,175 zur Ähnlichkeit der Bankette von Dido und Kleopatra: »ut illa Aenean interrogat de Troiano bello ac deinde contenta est de expugnatione urbis audire et de erroribus, ita hic [sc. Caesar] interrogat primordia gentis terrarumque situs vulgique mores et non indicat nisi de natura Nili.«
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der Aeneis (Verg. Aen. 1,740-747). Stellt man seinen Vortrag neben den des Acoreus, so werden einige grundlegende Unterschiede sichtbar. Daß der Gesang des Iopas auch allegorische Funktion habe, ist unbestritten. Jedoch sind die von ihm verwendeten Bilder so gewählt, daß sie unter den Lesern der Aeneis zu unterschiedlichen Deutungen führen können.234 Noch weniger sind die Bezüge und Vorausdeutungen von den involvierten Figuren zu erkennen, die sich nur an dem künstlerischen Vortrag erfreuen. Bei den Ausführungen des Acoreus verhält es sich anders. Nicht nur, daß der Priester sein Thema an dem ausdrücklichen Wunsch Caesars ausrichtet und ihm damit Bedeutung für die Gegenwart verleiht – auch die exempla für berühmte Nilexpeditionen entstammen dem Wissenshorizont seiner Hörer, werden eindeutig qualifiziert und auf Caesar bezogen. Der Wunsch, die verborgenen Quellen zu entdecken, hat vor ihm schon ägyptische, persische und makedonische Tyrannen geleitet, Lucan. 10,268f.: Quae tibi noscendi Nilum, Romane, cupido est, / et Phariis Persisque fuit Macetumque tyrannis. Die Anrede mit dem Völkernamen (Romane) stellt Caesar – auch für die Festgesellschaft erkennbar – auf eine Stufe mit ihnen, d.h., wie der Priester gleich präzisisiert, mit Alexander, Sesostris und Kambyses (Lucan. 10,272-282). Die darin liegende Warnung ist offenkundig, denn alle drei sind auch aus der Figurenperspektive als mächtige und bewunderte, aber auch skrupellose Eroberer erkennbar, denen es trotz ihrer militärischen Erfolge nicht gelang, den Ursprung des Nils zu ergründen.235 Besitzt aber der Vortrag des Acoreus für die Figuren Aktualität, so kann er nicht ausschließlich als Kommentar für den Leser eingestuft werden wie das Lied des Iopas. Es bleibt zu fragen, ob er stattdessen, wie vergleichbare »aktuelle« Gesänge in anderen Gastmahlszenen, handlungsfördernd wirkt, dem Geschehen also eine neue Richtung verleiht. Da das Epos kurz darauf abbricht, läßt sich dieses Problem nicht mit letzter Sicherheit klären. Unstrittig ist jedenfalls, daß, während z.B. das dritte Lied des Demodokos die Identifikation des Odysseus und das Lied des Orpheus die Versöhnung der 234 Man vergleiche die noch immer andauernde Forschungsdiskussion, dazu oben S. 168 mit Anmerkungen. 235 Zu den militärischen Erfolgen des ägyptischen Königs Sesostris s. Hdt. 2,102110, zu seiner Skrupellosigkeit ebd. 2,107. Vgl. den zusammenfassenden Bericht bei Strabo 790, ähnlich Diod. 1,57,1-5. Über die Regierungszeit des Kambyses s. Hdt. 3,166; zu seinem Wahnsinn, mit dem er wegen seines Frevels gegen den Apisstier geschlagen wurde, Hdt. 3,27-30. Zum Alexanderbild und der Alexandernachfolge Caesars s. o. Anm. 210 und u. Anm. 237.
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Argonauten erst herbeiführt,236 Caesars Wunsch, die Nilquellen zu entdekken, schon vor der Unterhaltung besteht. Nicht der Bericht des Acoreus weckt sein Verlangen, sondern gerade weil Caesar dieses Verlangen verspürt, fordert er einen entsprechenden Bericht. Ebenso weist der Priester, wenn er Caesar warnend mit Alexander vergleicht, auf eine schon bestehende Parallele hin. Während der Gesang des Demodokos zu neuen Aufschlüssen über die Identität des noch unerkannten Odysseus führt, stellt die aemulatio Alexandri, die Acoreus in Caesars Ansinnen erkennt, einen bereits bekannten Charakterzug des Römers dar,237 der sich durch seinen kurz vor dem Festmahl beschriebenen Besuch am Grab Alexanders (V. 10,1852) selbst in Beziehung zum makedonischen Eroberer gesetzt hatte.238 Aus diesem Grunde ist fraglich, ob die warnenden Worte des Priesters abschreckend oder nicht vielmehr bestätigend auf seinen Hörer wirken. Haben sie bestätigende Kraft, sprechen sie also nur eine ohnehin vorhandene Tendenz deutlich aus, so geben sie der Handlung keine neuen Impulse, wie es vergleichbare »aktuelle« Darbietungen tun. Bringen sie Caesar hingegen von seinem Wunsch ab, die Nilquellen zu sehen, so üben sie aktiv Einfluß auf den Verlauf des Epos aus und könnten daher im eigentlichen Sinne als »handlungsfördernd« bezeichnet werden. Die Indizien – und auf solche sind wir wegen des unvollständigen Zustands der Pharsalia angewiesen – sprechen für die erste Möglichkeit. Anders als bei den Gesängen des Phemios (Hom. Od. 1,337-344), Demodokos (Hom. Od. 8,83-85), Orpheus (A.R. 1,512-515) oder des Iopas (Verg. Aen. 1,747) fehlt bei Lukan jede Publikumsreaktion. Weder erhält Acoreus aus236 Drittes Lied des Demodokos, Hom. Od. 8,499-520; Lied des Orpheus, A.R. 1,494-515. 237 Die aemulatio Alexandri ist überhaupt ein fester Bestandteil des antiken Caesarbildes, vgl. Suet. Caes. 7,1; Cass. Dio 37,52,1-2 und 41,24,2, dazu Plut. Caes. 11,5-6. Zur Alexandernachahmung im Selbstverständnis Caesars vgl. jetzt BRACCESI (1993) 149-162. 238 Dieser bewußte Rückgriff auf den berühmten Eroberer läßt auch den kurz zuvor geschilderten Besuch Caesars in den Ruinen von Troja (9,964-999) in neuem Licht erscheinen. Man hat oft gesehen, daß Lukan diese Szene nach dem entsprechenden Aufenthalt Alexanders in Ilion gestaltet hat, als dessen Ebenbild der römische Feldherr erscheinen soll. Zieht man auch seinen kurz darauf folgenden Besuch am Grab Alexanders in Betracht, so stellt sich die Frage, ob die symbolische Bedeutung von Caesars Trojabesuch tatsächlich nur dem Leser bewußt wird, wie ZWIERLEIN (1986) 468 meint. Vielmehr scheint das Interesse, das Caesar selbst an dem Welteroberer bekundet, darauf hinzudeuten, daß auch die Figuren den typologischen Bezug der Ereignisse erkennen. Wir können also für den Caesar Lukans eine willentliche Alexandernachfolge annehmen, so daß die von Acoreus bemühten warnenden exempla geradezu als Anreiz wirken müssen.
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drücklich Beifall, noch übt jemand Kritik an seinen Ausführungen. Die aufs höchste gesteigerte Wißbegierde Caesars, die er unmittelbar vor der Rede des Priesters selbst eingestanden hatte (Lucan. 10,189: nihil est quod noscere malim und Lucan. 10,191f.: spes sit mihi certa videndi / Niliacos fontes, bellum civile relinquam) wird an ihrem Ende nicht revidiert, noch äußert Caesar Enttäuschung über die Darstellungen des Acoreus. Vielmehr nehmen die Unterhaltungen einen ruhigen und sorglosen Verlauf, wie Lukan zusammenfassend bemerkt, V. 10,332f.: Sic velut in tuta securi pace trahebant / noctis iter mediae. Der in den Versen 10,189-192 erzeugte Eindruck, Caesar sei zu einer Nilexpedition geneigt, wird also durch die Rede des Acoreus nicht getrübt. Es steht daher zu vermuten, daß Lukan diese nicht als »handlungsförderndes« Element im eigentlichen Sinne verstanden wissen wollte.239 Da sie aber auch nicht als nur an den Leser gerichteter Kommentar konzipiert ist, stellt sich die Frage, welchem Zweck die Erzählung statt dessen dient. Ein Blick auf die bisher analysierten Elemente des Gastmahls liefert einen möglichen Ansatzpunkt. Dabei hat sich ergeben, daß viele von ihnen beim Bankett der Kleopatra ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt haben. Die Dienerschaft erscheint als dekoratives Element, ebenso wie die Ausstattung des Festsaals und die aufgetragenen Speisen: Das Holz der Pfeiler ist nicht primär unter dem Gesichtspunkt seiner Tragfähigkeit, sondern nach seinem materiellen Wert ausgesucht, das Menü nicht nach seiner sättigenden Wirkung, sondern nach seinem exotischen Reiz. Da Lukan bei der Darstellung dieser Elemente jedoch Strukturprinzipien wahrt, die sich auch bei seinen Vorgängern finden, tritt durch den Kontrast zwischen traditioneller Form und ihrer Ausgestaltung die Dekadenz der beschriebenen Personen hervor, die fortwährend traditionelle Grenzen überschreiten.
239 Ob der historische Caesar tatsächlich eine Fahrt auf dem Nil unternommen hat, spielt für die hier behandelte Frage nach der Erzähltechnik eine untergeordnete Rolle, da der Dichter auch sonst gelegentlich frei mit historischen Tatsachen umgeht (Man vergleiche die – rein fiktive – Rede Ciceros in Pharsalos [V. 7,68-85] oder die ins Jahr 48 statt, wie historisch bezeugt, ins Jahr 49 datierte Rede Caesars vor seinen in Placentia meuternden Soldaten [5,319-364], zur Datierung RUTZ (1989 [1950] 30). Selbst wenn eine Fahrt auf dem Nil historisch erwiesen wäre, bedeutete dies also nicht zwingend, daß Lukan sie dargestellt hätte. Welche Funktion er der Acoreusrede zuweist, muß daher – mit aller gebotenen Vorsicht – aus dem vorliegenden Teil des Epos erschlossen werden. Von einer angeblichen romantischen Nilreise mit Kleopatra berichten Appian (BC 2,90) und Sueton (Caes. 52), während über wissenschaftliche Expeditionen nichts bekannt ist.
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Wendet man man dieses Prinzip auf die Acoreusrede an, so ergibt sich, daß auch hier äußerlich Strukturen bewahrt sind, die sich auch in anderen Gastmahlszenen finden. Daß Lukan dabei zwei typische Formen von Aktivitäten nach dem Mahl, das Gespräch zwischen Gastgeber und Gast (Element IX) sowie den Sängervortrag (Element X), verschmolzen hat, ist für diese grundsätzliche Feststellung ohne Belang. Während aber die einzelnen Details (Beginn der Rede nach dem Essen, Aufforderung zur Erzählung, Vortrag, Abbruch und Hinwendung zu einer Parallelhandlung) leicht identifiziert werden können, gestaltet sich eine sichere Aussage über die Wirkung der Rede problematisch: Entspräche sie den traditionellen »handlungsfördernden« Beiträgen, wie ihre formale Anlage vermuten läßt, so müßte sie dem Geschehen eine neue Wendung geben, das heißt, sie müßte Caesar von seinem früher gefaßten Wunsch, die Nilquellen zu sehen, abbringen. Während sich bei vergleichbaren Reden der Effekt sofort an den betroffenen Personen zeigt (Penelope äußert sofort ihr Mißfallen über das Lied des Phemios und gibt damit Telemach Gelegenheit zu seiner selbstbewußten Äußerung [Hom. Od. 1,337-344]; Odysseus weint schon während des Gesangs des Demodokos und leitet damit seine Identifizierung ein [Hom. Od. 8,83-86]) finden sich in dem erhaltenen Teil der Pharsalia keine Anzeichen für eine solche neue Wendung, die sich an Caesar als der betroffenen Person zeigen müßte. Sind diese Überlegungen richtig, so prallen die warnenden Worte des Priesters wirkungslos an dem nach Macht strebenden Feldherrn ab. Wie Kleopatra sich nicht scheut, die Grenzen von pietas und modestia zu sprengen, so läßt sich auch Caesar von Mahnungen zur Bescheidenheit nicht beeindrucken.240 Dies entspräche ganz dem Bild, das Lukan auch sonst von ihm entwirft.241 Übt aber die Rede des Priesters keinen erkennbaren Einfluß auf Caesar aus, so haben wir dieselbe Art der Modifikation vor uns, die sich auch an anderen Details des Gastmahls beobachten läßt. Eine von der jeweils positiv gefärbten Primärquelle (Aeneas bei Dido) und Sekundärquelle (Odysseus bei den Phäaken) abweichende negative Wertung der Ereignisse 240 Daß sich nach dem Tod des Pompeius und mit dem Aufenthalt in Ägypten eine neue Qualität seines Machtstrebens ankündigt, deutet Lukan selbst an, vgl . V. 10,170f. (über Caesar): et gessisse pudet genero cum paupere bellum / et causas Martis Phariis cum gentibus optat. 241 S. RUTZ (1950 [1989]) 169 zur Seesturmrede, Lucan. 5,654-671, eine für den Charakter Caesars besonders illustrative Stelle: »In dem Genuß dieses Gefühls, stets gefürchtet zu werden, steigert sich Caesar zu einem wahrhaft dämonischen Triumphbewußtsein und zerbricht [...] alle Schranken, die ihm als Mensch gesetzt sind.«
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unter weitgehender Bewahrung der Struktur und ihrer Elemente ist ein kontinuierliches Kennzeichen der Szene.242 Lukan kennzeichnet seine Protagonisten auf diese Weise als rücksichtslose, auf unbegrenzten Luxus und unumschränkte Macht bedachte Gestalten, die sich weder von Göttern noch von Menschen in ihrem Streben aufhalten lassen. Für Caesar läßt sich dieser beherrschende Wesenszug auch außerhalb des Festmahls durchgehend nachweisen.243 Als Antagonist steht ihm innerhalb des Epos Cato Uticensis gegenüber (dessen Hochzeit, wie wir gesehen haben, eine Kontrastfolie zum Luxus der Kleopatra bildet), für die spezielle Situation des Gastmahls aber auch all jene Gastfreunde in der vorlukanischen Epik, für die pietas und modestia die Richtschnur ihres Handelns bilden – in erster Linie also Aeneas und Odysseus, deren Bewirtungen in Karthago und auf Scheria die Primär- und die Sekundärquelle der Kleopatraszene bilden. Nach dem Ende der Rede schließt die Gastmahlszene abrupt mit einem einzigen zusammenfassenden Satz: Sic velut in tuta securi pace trahebant / noctis iter mediae (Lucan. 10,332f.). In gleicher Weise bringen auch andere Dichter die Szene nach der wörtlichen Rede rasch zu einem Abschluß, wobei sie allenfalls noch die Bereitung des Nachtlagers für den Fremden darstellen.244 Daß Lukan dieses Detail nicht mehr aufnimmt, hängt mit dem abrupten Ortswechsel zusammen, der den Leser mitten im Vers zu den Umtrieben des Pothinus versetzt: Lucan. 10,332-335: Sic [...] trahebant / noctis iter mediae. sed non vaesana Pothini / mens imbuta semel sacra iam caede vacabat / a scelerum motu. Indem er das Mahl kurz vor seinem eigentlichen Ende, der Nachtruhe, abbricht, deutet Lukan die Gleichzeitigkeit beider Handlungen an, ein Verfahren, das schon bei Homer zu beobachten ist, s.o. S. 104. Zusammenfassung Die verschiedenen Modifikationen, die Lukan gegenüber dem typischen Schema einer Gastmahlszene vorgenommen hat, lassen sich in zwei Grup242 Vgl. RUTZ (1950[1989]) 154, zum allgemeinen Verhältnis zwischen Pharsalia und Aeneis: Das Epos Lukans zeichne sich dadurch aus »daß nicht nur eine in der Situation gleichartige Szene einen entgegengesetzten künstlerischen Effekt erzielt, sondern vor allem alle Werte des einen beim anderen in ihr Gegenteil verkehrt sind.« 243 Vgl. z.B. die Seesturmreden, s.o. Anm. 209. 244 S. z.B. Hom. Od. 7,334-347 (Odysseus bei den Phäaken); Verg. Aen. 3,716-718 (Aeneas bei Dido).
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3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
pen einteilen. Die erste umfaßt formale Änderungen, also Eingriffe in die Struktur der Gastmahlszene, die dadurch entstehen, daß der Autor Elemente, die seine Vorgänger mehrfach gebrauchen, ausläßt (man denke an die fehlende Libation) oder neue einfügt. Das Material für solche Ergänzungen kann entweder aus anderen Gattungen stammen, wie die Blumenkränze und Salben beim Mahl, oder, wie der ausführliche Erzählerkommentar, aus Tendenzen früherer Epiker entwickelt sein und nun eine gewisse Eigenständigkeit erlangen. Da gattungsfremde Elemente einen Stilbruch bewirken, können sie eingesetzt werden, um eine negative Wertung auszudrükken: Die beschriebenen Personen, so suggeriert der Dichter seinem Publikum, halten sich nicht an den Kodex der heroischen Welt und entsprechen daher nicht den positiven Vorbildern der Vergangenheit. Da solche formalen Änderungen in den Aufbau der typischen Szene eingreifen, dürfen sie nicht zu zahlreich sein, wenn deren charakteristische Gestalt erhalten bleiben soll. Wesentlich häufiger sind daher Modifikationen, bei denen äußerlich die Form gewahrt und die Szene nur vom Dichter auf besondere Weise ausgestaltet wird (vgl. die ornamentale Funktion der Dienerschaft, die Art und die Aufzählung der Speisen oder die Art der Unterhaltung nach dem Mahl). Nicht immer sind beide Formen der Modifikation deutlich voneinander zu trennen, zumal sie wechselseitig aufeinander einwirken können. In unserer Szene führt z.B. die rein schmückende Funktion des Gesindes – also eine besondere Ausgestaltung des Strukturelements »Dienerschaft« (Element VIIa) – dazu, daß das Element nicht wie sonst beim Auftragen der Speisen erscheint, sondern direkt an die Ekphrasis des Palastes angeschlossen wird. Die Art der Ausgestaltung zieht also eine Verschiebung im typischen Ablauf – eine formale Änderung – nach sich. Beide Formen der Modifikationen wirken hier zusammen und verleihen Lukans Gastmahlszene ihre eigenartige Prägung. Für ihre Anwendung sind zwei Prinzipien entscheidend: 1. Konsequenz: Abweichungen vom typischen Schema zeigen sich im
Gastmahl der Kleopatra nicht nur bei einzelnen, sondern bei der Mehrzahl der Elemente, wobei sie stets in die gleiche Richtung zielen. Der Dichter geht damit über einzelne kleine Verschiebungen, wie sie jede Gastmahlszene aufgrund ihres spezifischen Kontextes verlangt, hinaus: Die ganze Szene erhält eine unverkennbare Färbung. 2. Transparenz: Die Modifikationen wandeln die aus anderen Epen bekannten Strukturelemente zwar ab, bewahren aber deren Grundzüge so
3.2.2 Das Gastmahl bei Kleopatra
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genau, daß jeder einzelne Bestandteil, und oft auch sein direktes Vorbild, zweifelsfrei erkennbar bleibt (s. S. 168). Die einzelnen Komponenten werden also nicht vollständig verkehrt oder deformiert wie in den Antigastmählern (z.B. dem Bankett der Lapithen und Kentauren oder dem der lemnischen Frauen, s. dazu unten den Exkurs). Welche Details sind nun dafür entscheidend, daß der Leser eine Gastmahlszene trotz aller individuellen Eigenschaften als »typisch episch« empfindet? Die bisherigen Ergebnisse legen nahe, daß der Struktur der Szene dabei eine wichtige Funktion zukommt. Da nun die Mähler bei Dido und Kleopatra eine grundlegende Parallele in der Figurenkonstellation aufweisen, aus der sich weitere Bestandteile harmonisch ergeben, bleibt zu prüfen, ob das Ergebnis durch diese Analogien verfälscht wurde. Beide Male handelt es sich um eine Frau, die einen Mann aus einem fremden Land bei sich aufnimmt, beide Male ist die Gastgeberin eine Königin. Aus der Konstellation Mann - Frau entwickelt sich die jeweils im Hintergrund präsente Liebesbeziehung; aus der königlichen Stellung der Gastgeberin ergibt sich die prunkvolle Kulisse und die Beteiligung der Dienerschaft. Welches Bild bietet sich uns aber, wenn diese Grundkonstanten wegfallen? Läßt sich auch in solchen Szenen noch von einer »typischen« Struktur sprechen, und wenn ja, wie wird sie erzeugt? Als Gegenprobe kommen nur wenige Szenen in Frage, da der männliche Held in den meisten Fällen entweder von einer Frau (Kalypso, Kirke, Dido, Kleopatra, in gewissem Sinne auch Arete) oder aber von einem Herrscher (Nestor, Menelaos, Alkinoos, Aietes, Euander, Lycomedes) empfangen wird. Eine Ausnahme bilden die Bewirtung des Odysseus durch Eumaios, da hier ein Schweinehirt unter bescheidenen Bedingungen als Gastgeber auftritt, der Aufenthalt der Argonauten bei Phineus, bei dem nicht ein einziger Gast hervorgehoben wird, sondern eine ganze Gruppe erscheint und das Fest für Hannibal in Capua, bei dem umgekehrt kein einzelner Wirt den Besucher aufnimmt, sondern eine ganze Stadt als »Gastgeber« fungiert. Die drei Szenen unterscheiden sich also in ihrer Grundkonstellation deutlich voneinander und von den bisher besprochenen Gastmählern und könnnen daher als Folie dienen. Zugleich erfassen wir mit der Odyssee, den Argonautika des Apollonios und den Punica drei Epen aus drei unterschiedlichen Epochen. Finden sich auch hier die Prinzipien, die wir bisher aus zwei nah verwandten Szenen abgeleitet haben, bestätigt?
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4.2.1 Odysseus bei Eumaios
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