Ernste Antworten auf Kinderfragen: Ein Beitrag zur häuslichen Erziehung [Reprint 2020 ed.] 9783112356241, 9783112356234


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Ernste Antworten auf Kinderfragen: Ein Beitrag zur häuslichen Erziehung [Reprint 2020 ed.]
 9783112356241, 9783112356234

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Ernste Antworten auf Mnderfragen Ein Beitrag zur häuslichen Erziehung von

Rudolph Penzig Dr. phÜ.

Zünfte Auflage

Berlin und Leipzig

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. Dermale S. J. SSschen'sche verlagehancllung : J. Suttentag, Verlagsbuchhandlung : Georg Heimer : Karl J. (Trübner : Veit L Comp.

1Ö2Q

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.

Bisher erschien eine polnische Ausgabe: „Jak odpowiadaö na pytania dziecigce“ von Zofja Rotszajnowa i Maija Lipska, Warschau 1905, u. eine holländische Übersetzung: „Eerlijke Antwoorden op Kindervragen“ von C. van Gelder, mit einer

Einleitung von A.H. Gerhard, Amsterdam, Em.Querido 1906.

Copyright by Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter ct Co., Berlin 1920.

Vorwort zur fünften Auflage. tTjer die Jahreszahl der letzten Ausgabe dieses Buches, 1913, mit der heutigen verglicht, versteht ohne weiteres, war­

um die Neuauflage hat aus sich warten lasten müssen.

Da-

zwischen, liegt der Weltkrieg, der ungeheure Tat- und Leidens­ beweis, baß Erziehung zur Menschlichkeit die allerdrängendste Aufgabe der Völker dieser Erde ist.

Unendlich viel wichtiger,

als alle Steigerung unserer Herrschaft über die Naturkräste und

jede Verschiebung der Ländergrenzen auf der Erdkarte ist offen­ sichtlich die Erringung der Herrschaft über das eigene Selbst, die

Verdrängung der die Völker und Einzelmenschen in unsägliches Elend stürzenden Selbstsucht durch den beseligenden Geist wahrer

Bruderliebe.

Darum darf keine, auch die schwächste Stimme

schweigen, die zu solcher Selbstbesinnung auftust.

Was unser

Friedrich Schiller vor mehr als hundert Jahren dm Künstlern zurief: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, be­

wahret sie!" das gilt vornehmlich von den E^iehungskünstlern, den Eltern des kommenden Geschlechts. Der Krieg und seine Folgen haben auch auf die äußere

Gestalt eingewirkt, in der das Buch nun erscheint: es ist durch

Weglaffung vieler, vielleicht mehr behaglicher Breite als straffer

— IV — Gedankenzusammenfassung dienender Ausführungen fast um die Hälfte seines Umfangs verkürzt und insofern verbeffert worden,

„Kürze

als das Sprichwort allem aber wäre

der

durch

ist Würze" die

recht hat.

ungeheure

Lor

Teuerung be­

dingte Preis eines unveränderten Abdrucks ein Hindernis für

die Verbreitung

des Gedankengehalts

gewordm.

In der

Sache selbst hatte ich nichts zu ändern; die sprachliche Aus­ gestaltung habe ich versucht, im Sinne der sehr dankenswerten

Verdeutschungsarbeit reinigen

Eduard Engels

von Fremdwörtern zu

und damit dem leichten Verständnis aller unserer

Volksgenoffm zugänglicher zu machen.

Charlottenburg, den 28. Juli 1919.

Dr. Rudolph penziI.

Inhaltsangabe.

I. Hauptstück. Kinderfragen. Das Erwachen der Seele. Was ist daS? Wie macht das? Wozu ist das? Wer hat daS gemacht? Warum macht man das?

Sette

1—19

II. Hauptstück. Ernste Antworten. Scherz und Märchen. Kann man dem Kinde alles sagen? Die Storchfabel und Verwandtes. „Biel­ liebchen." Belehrende Antwort

19—39

HI. Hauptstück. Das Kind undGrenzen. die Eltern. horsamsforderung und ihre Begründung der Warum soll ich? Warum darf ich nicht? Die Ge­ Sittlichkeit. Selbstbestimmung. Pflichtenwiderstreit.

39—57

IV. Hauptstück. Das Kind und seine Geschwister, Freunde und dergl. Das Kind und die Dienstboten („Warum ißt Minna nicht mit am Tisch?"). Der Kampf "gegen die Lüge („Der große Unbekannte")

57—87

V. Hauptstück. Mein und Dein. Die Heiligkeit des Eigentums. Zank. Gewalt und Recht. 'Schenken, Tauschen, Verkaufen. Das Taschengeld des Kindes

87—112

VI. Hauptstück. Das Kind und die Schule. Schulreform. Schulerziehung. Drill, Verbreitung und Berttefung der Bildung. Selbstzucht. Emheitsschüle. Anzeigerecht und Anzeigepflicht („Petzen"). 112—136 VII.Hauptstück. Das Kind und die Natur. Sein Verhältnis zur Tier- und Pflanzenwelt. Natur und Kultur. Leben und Tod („Wo ist jetzt das verstorbene Schwesterchen?") 136—162

- VI — VM. Hauptstück.

DaS Kind und die Gesellschaft.

Die ständische Glie­

Bettler «nd Wohltätigkeit.

Verbrechen

derung. Obrigkeit.

IX.Hauptstück.

«nd

Strafgewalt,

striez.

162—187

Kirche

Das Kind und die Gottheit.

Der „liebe Gott". Wahre Frömmigkeit. Lehrbirkert

der Religion.

Erlebte Liebe.

Abendgebet

. . . 187—210

Erstes Hauptstück.

Rinderfragm. Kinderfragen! — Mit einem Lächeln um die Lippen spreche» wir das Wort aus, einem Lächeln, das ebenso dem wehmütigen An­ denken an die entschwundene eigene Jugendzeit, als dem Bilde unserer keinen Lieblinge gilt, wie sie, die großen Augen weit den Wundern der Welt geöffnet, mit ungelenker Zunge drollige Fragen'über Fragen hervorstammeln. Die schrecklichen Kinder! Nicht nur im Sinne unserer Witzblätter, aber schrecklich in ihrer nie ruhenden, nie er­ lahmenden Fragesucht, die das Höchste und Medrigste, das Nächste und das Entfernteste mit gleichem inbrünstigem Ernst zu ergründen strebt, die stch an die Schürze der Mutter hängt und chr Ohr in nimmer ermüdendem, hartnäckigem Wortschwall betäubt, die den Vater durch die anscheinmde Plötzlichkeit und Unvermittellheit der Fragen verblüfft und über das Familimzimmer hinaus bis in die Küche und Dienstbotenkammer ihre forschende und bohrende Tätigkeit richtet. Schrecklich? Nicht vielmehr bewunderungswert, hoch-

erfreulich und nützlich? Memand weiß das bester, als die bedauernswürdigm Ellern, die etwa ein Kind habm, dem stch das Band der Zunge nicht lösen will, das, wie Parsifal, der reine Tor, in vollkommener Einfall das bunte Wellgedränge mit seiner Freude und seinem Leid an stch vorbeiziehen läßt und — nicht fragt! Selig die Ellern, deren Kinder fragen, viel fragen, nach allem fragen, unermüdlich fragen, die aus dem Wundern nicht Heraus-

kommen, das der Anfang aller Weltweisheit ist. Versetzt euch nur hinein in ihre Lage, ihr Ellern, denen manchmal der unstillbare Frageborn unbequem oder störend erscheinen will! Aus dem großen Nichts des Unbewußten, dem absoluten Dunkel des Nichtseins, find

fie aufgetaucht, das kleine Gehirn arbeitshungrig, selbst in ihrer kläglichen Unbeholfenheit und doch brennenden Erkenntnissucht ein Perrsig, Ernste Antw. 5. Aust.

1

2 holdes Rätsel. Wie ein brandendes Meer schlagen die Geräusche der Welt an das Ohr des Nmgeborenen. Sie kannten nur ein Innen, ein warmes, pulsierendes Leben im bergenden Mutterschoß, eine wohlige Zweieinigkeit von Mutter und Stnb — und nun plötzlich

mutet man ihnm zu, harte, kalte, stoßende Sachen einer Außenwelt anzuerkeimm und ihren lieblichen Traum aufzugeben, in dem sich so wohlig dahinträumen ließ*). Sie werdm ja damit fertig, wie man im Leben mit vielem fertig werdm muß, sie gewöhnm sich an die blmdende Lichtfülle, sie lernen aus dem tobenden Wirr­ warr vor ihrem Ohr Stimmen und Töne herauszufischen; fie em» pfinden und fühlen allmählich hart und weich, kalt und warm, trockm und naß, wohlschmeckend und abstoßmd;. ja über dm Umweg von lüft- oder unlustbringmd gleitet auch der Begriff von nützlich und schädlich, gut und schlecht in ihre Innenwelt hinein. Was Wunder, roetm dann, sobald die Zunge der Gehirnleitung zu gehorchm an­ fängt, eine schier unerschöpfliche Flut von Fragen hervorbricht!

Die geistige Riesenarbeit, die jedes Kind in feinen ersten fünf Lebens­ jahren leistet, ist größer als die gesamte Arbeit eines späteren Gelehrtmlebens; mit dm Kräften des Riesm Was erfaßt es die ganze ftemde Welt, um fie zu tragen und nicht von chr fortgetragen zu werdm. Alle die Verhältnisse, Mmschm, Dinge, Begriffe und Vorstellungen, die uns ein langes Lebm vertraut gemacht hat, stehm ihm mit einem Male vor dem staunendm Auge; von der Sonne am Himmel bis zum Wurm an der Erde gibt es nichts, das ihm nicht neu wäre und in ein Verhältnis zu dem klemm Gehirn traten möchte. Täglich und stündlich schlägt eine ftemde Sprache, in vielen Jahrhundertm zur schärfstm Ausprägung der fernsten Gedankenverbin­ dungen gebildet, an das Ohr des Kindes. Nicht ausgeschloffm möchte es sein aus dem Zauberkreis, dm feine Liebstm da nm stch ziehm — und so liest es die Worte von dm Lippm und fragt mdlich nach dem Schlüffe! zu dem großen Geheimnis, das es allmt» halbm umgibt. „Der Augmblick des Eintretens der Frage ist für das sprechende Kind von der höchstm Bedeutung; denn mit der *) Vergl. W. Preyer, Die Seele des Kindes, Leipzig 1884, S. 105. „Die erste Periode des menschlichen Lebens gehört zu den am wenigste» angmehmm, da sowohl die Anzahl der Genüffe, als die Genußfähigkeit eine geringe ist «nd die Uulustgefühle überwiegen, bis der Schlaf sie unterbricht."

3 Frage erwirbt es gleichsam die Wünschelrute, welche chm gestattet, jederzeit nach Belieben am geistigen Besitze Erwachsener teilzunehmen. Mit der Aneignung der Frage macht das Kind einen ähnlichen gewaltigen Fortschritt in seiner geistigen Entwicklung, wie ihn das Gehenlernen auf dem Gebiete der körperlichen Entwicklung bezeichnet. So wie das laufende Rinb nicht mehr zu »orten braucht, bis die Dinge der Außenwelt zu ihm lommen, so besitzt das fragende et» Mittel, die Personm seiner Umgebung zn nötigen, auf den Verlauf seiner Borstellungen einzugehen *)." Aber im Verlauf seiner Vorstellungen ist die Frage schon auf« getaucht, ehe noch die Zunge vom Gehirn die richtige und zweck« mäßige Leitung zum sprachlichen Ausdruck erhalten hat«). Fragt nicht schon der Blick des Neugeborenen, trüb, undeutlich, mit maß­ losem Erstaunen im Augenstern, was es hier solle, was man von chm wolle, was das alles zu bedeuten habe? Das Auge der Mutter versteht diesen Blick, und mit freundlichem Lächeln, kosenden, dem Vater fast sinnlos erscheinenden Sauten sucht sie das fragende Ge­ sichtchen zu beruhigen. Das Kleine verzieht sein Mündchen, runzelt die Braum, und mit schmettemdem Geschrei stellt es die unwillige Frage: warum so hell, warum naß, warum hungrig? Noch stießm dem Kinde Fragm und Bitten ineinander, wie in der Entwicklung der leiben Zeitwörter viele Sprachen zunächst nur einen Ausdruck für beides haben; die Unselbständigkeit und Hilflosigkeit der ersten Lebensjahre wendet sich täglich.und stündlich an die Helfermacht und Einsicht der Ellern mit fragender Bitte oder bittmder Frage. Wonach oder was fragt nun das Kind zunächst? Diese Frage ist natürlich ganz allgemein kaum zu beantworten, da hier die ge­ samten Verhältnisse seines jungen Lebms mitzusprechm haben; den*) Gustav Lindner, Zum Studium der Kindersprache, im Kosmos", herausg. von Dr. B. Better, Stuttgart, E. Schweizerbart, 1885. I. S. 163. 2) W. Preyer, a. a. O. S. 259. „Das der Wortsprache noch un­ kundige Kind . . . zeigt dem aufmerksamen Beobachter dmtüch, daß es lange vor der Kmntnis des Wortes als Verständigungsmittels der Mmschen und lange vor dem ersten erfolgreichen Versuche, in arti­ kulierten Wörtern sich auszudrücken, ja sogar lange vor der Erlernung der Aussprache auch nur eines einzigm Wortes, Borstellungm logisch verknüpft, d. h. benft. Denken ist zwar „inneres Sprechen", aber es gibt auch ein Sprechm ohne Wörter."

4 noch wird man kaum fehlgehen, wenn man die erste Kinderfrage^ im wesentlichen auf die Form zurückführt: Was ist das? Sie ist wesentlich eine sprachliche Frage. Darum befriedigt auch die einfache Namensnennung zunächst; es werden eben nur die Namen der Gegenstände gelernt, freilich nicht in der geistabstumpfenden Manier des Wörterbuchs, sondern in Verbindung von AnschauungSbild und Worterklärung. Darum weiter sind es sinnfällige Gegenstände, auf die sich der Wissenstrieb richtet; dämm nimmt es schwerere Wörter, auch fremdsprachliche, nicht wesentlich schwerer in sein Gehim und auf die Zunge, als die leichteren der Mutter­ sprache. „Mikroskop" und „Regulator" sind chm ebenso vertraut, wie „Tasse" und „Gabel", vorausgesetzt nur, daß es jene Dinge täglich sicht wie diese. Die Namengebung ist die erste Herrschertat, die von der mosaischm Schöpfungsgeschichte dem Menschen der Natur gegenüber zugeschrieben wird. Mit dem Augenblick, wo der Mensch sich innerlich gezwungen findet, eine Erscheinung zu benennen, anstatt sie mit dem erstaunten und stumpfen Ah! des Wildm an sich vorübergehen zu fassen, mit diesem Augenblick erkennt er an, daß es andere fühlende, wollende und denkende Wesen neben ihm gibt, mit denen er bereit ist, sich zu verständigen; er läßt die Erscheinung nicht unangefochten vorübergehen, sondem faßt sie mit seinem Worte, umspannt ihre Vielheit mit dem eisemen Reif seines Begriffes, stempelt das vorüberflüchtende Stück aus der Herde der Erscheinungen mit seinem Herrschernamen, und wmn das Kind diesen Namm auch fast immer aus dem Munde seiner Umgebung als ein fertiges Verständigungsmittel empfängt, was tut das? Beweist es doch damit nur die geistige Lückmlofigkeit seines Erbschastsanspruches auf die überkommene Herrfcherwürde. Und doch prägt es gelegmtlich auch ein persönliches Urwort eigenster Mache. Welche Kinderstube kmnt nicht die drolligen Neubildungen von Namen aus kindlichem Munde, die, eine Zeitlang im Scherz von der Familie ausgenommen und weiter verbreitet, allmählich, aber sicher, der Notwendigkeit einer ') G. Lindner, im 12. Jahresbericht des Lehrerseminars zu Zscho­ pau 1882, S. 13. „Die erste Frage: isn das? von: was ist denn das? wurde im 20. Monat beobachtet, das Fragewort was? im 22. Monat." Eine etwas abweichende Meinung bei Preyer, a. a. O. S. 379, wo der 28. Monat als Beginn der Fragetätigkeit und die Wo?-Frage als erste bezeichnet wird.

5 allgemeineren Verständigung zum Opfer fallen! Die Sprache der Kinderwärterinnen enthält eine Menge derartiger Wurzelwörter, natürlich nach der Gegend auch verschieden, aber doch in vielfacher Übereinstimmung, meist zu erkennen an dem einfachen Gefüge einer

Silbendoppelsetzung; die edelsten unter ihnm: „Mama und Papa" find ja sogar aus der Kinderstube in die Schriftsprache überge­ gangen ^). An die aufllärende Frage: Was ist das?, die dm Gegmstand mit Kmnmarke versteht und in den geistigen Besitzstand des Kindes einordnet, schließt sich bald die Frage: Was (Wie) macht das? Daß ein Ding etwas „mache", ist die erste Voraussetzung des die ganze Umgebung beseelmdm Kindergeistes; ist er doch selbst in an­ gestrengtester Arbeit, etwas zu „machm", in unaufhörlicher Schaffmsftaft2). Hatte die Frage nach dem Was ist das? der Nammsgebung gegolten, so gliedert die Frage: Was oder wie macht das? dm Gegmstand in die äußere Welt ein und sucht feinen Beziehungen zur Umgebung, in der sich das Kind ja auch findet, auf die Spur zu kommen. Uber das einfache Namenlernen hinaus ist hier ein gewaltiger Schritt geschehm, auch nach der rein sprachlichen Seite hin; es werden Sätze nachgedacht und nmgebildet. „Das Messer schneidet (macht „weh-weh"), das Feuer brmnt, die Katze miaut usw." Der nackte Gegmstand bekleidet fich allmählich mit Eigenschaften, ohne daß doch das Kind anders, als mit der ebm erwähntm Frage ihm nahekäme. Z.B. Mester schneidet, Schere schneidet, Glas schneidet. Was schneidet, ist scharf. Mester, Schere, *) Andere Beispiele liefert wohl jedes Haus selbst. Es sind na­ türlich meist die gewöhnlichen Gegenstände und Handlungen, die diese Keimstufenreihe der Bmmnung durchlaufen; ich nenne noch aus meiner Kinderstube: „njam-njam" (pappapp) — essen, eia-eia ---- schlafen, Hotto — Pferd, piepip — Huhn (Bogel), wau-wan — Hund, muh-muh --- Kuh, guck-guck — sehen, lala — fingen. (Bei einer lettischen Wärterin verwandelte sich schlasm in „tschtutschm", offenbar aus tscht! tscht! frz. chut! chut!) Sehr selten ist wohl die sonderbare Neubildung meiner dreijährigm Irma für das an anderm gesehene Lesm — „kappo kappo"! a) Ebenso die sprachschaffende Menschheit, wie 8. Noir« nachge­ wiesen. „Nichts hatte ein Interesse, nichts existierte überhaupt für die älteste Menschheit, als was als tätig gedacht und genannt werden konnte." Max Müller, Ursprung und Entwickelung der Religion, Straßburg 1886. S. 316.

6 Glas ist scharf. Die ganze belebte Welt drängt sich zunächst auf die Frage: Was macht das? um das Kind herum; die Tiere treten aus dem Kreise mißtrauischer Fernbeobachtung, dm das Kind um sie gezogm hatte, heraus und nmhm, krähen, singen, krächzen, iaen, wiehern, gackern usw., sie fressen, gehm, liegen, stehen, springen, fliegen, kurz, sie meld,en sich als entfernte Verwandte, sie „machen" doch auch alle ähnlich, wie wir machm, oder wir könnm ihnen wenigstms nachmachm! Mit etwas geringerer Begeisterung steht das kleine Kind der Pflanzenwelt gegmüber. Die Blume blüht, gewiß; aber der Vorgang ist ein zu stillet, heimlicher; die Blume düstet, vortrefflich; aber das arme Kind kmnt in seiner begrenztm Erfahrung nur schlimme Vorkommniffe ähnlicher Art mit traurigen Folgen, und die Frage: Was hast du gemacht? bekommt einen betrübmdm Doppelsinn. Nun wird die Frage: was oder wie macht das? außerhalb der belebten Welt bald abgelöst von der Frage: wozu ist das? Es ist mir immer als ein merkwürdiges Zeichm der menschlichen, durchaus nach Zielm oder Zweckm fragenden Vernunft erschienen, daß die Frage nach dem Wozu? lange vor der Frage etwa nach dem Woher? oder Warum? austaucht. Die fTatsache wird von erfahrenm Rennern des Kindesalters m. E. kaum in Zweifel ge­ zogm. Es mag wohl eine völlig natürliche Wirkung des Einstuffes sein, dm gebildete Eltern, ohne es zu wollen, auf das Kind ausübm. Rings um sich herum sieht es durchaus nach Zweckm han­ deln, nicht nur die Menschen, die Tiere, alle Gegmstände sind be­ stimmt zweckvoll gestaltet, wenigstms in unserem hmtigm Seien;

und sehr selten nur gerät etwas in dm Gesichtskreis des Kindes, das zunächst ohne alle Zweckbeziehung zum Dasein seiner Eltern oder seinem eigenen schiene. Kein Wunder, daß sich die Frage: wozu ist das? so frühe mmschlich-selbstsüchtig hürm läßt. Denn im selbstsüchtigm Sinne ist dieses Wozu sicherlich gedacht. Dieses Wozu gleicht zunächst nur allzusehr der bedmklichen Frage,, die das Kind handgreiflich an alle Gegmstände, die es erreichm kann, stellt: Was kmm ich damit machm? Oder auch schon allgemeiner: was kann man damit machm? Daß man aber mit jedem Ding etwas machen könnm mässe, anders, daß jeder Gegenstand zu etwas dimm müsse, ist ebm eine unwillkürliche Annahme der kiMichm Selbst­ sucht. Gewiß ist es eine der wichtigstm Aufgabm der Erziehung,

7 gerade bei Beantwortung dieser Frage aufs nachdrücklichste zu be­ tonen, baß für alle Naturdinge die Zweckbeziehnng auf den Menschm etwas ist, was erst in zweiter Linie steht, ein Hinzugekommmes, aber keineswegs die Hauptsache. Die Frage nach dem Wozu einer Muschel, eines Schmetterlings, einer Blume sollte glatt abgewiesm werden, mit dem Hinweis darauf, man frage 'ja auch nicht: Wozu bist denn du da? So gut wie das Kind sich des Lebens freue, ohne daran zu dmkm, irgendeinem Zwecke zn dienen, ebensogut hätten auch Stein, Tier und Pflanze, Beseeltes und Unbeseelles das Recht der Existenz kraft ihres Daseins, ohne fich erst darüber ausweisen zu milffen, wem sie dienten. Nicht Gemütsroheit ist es, die so häufig aus dem Kind, das bewußt niemandem gern weh tut, einen grausamen Zerstörer und Tierquäler werdm läßt. Es hat dann in der Regel aus seine Wozu-Frage falsche, unüberlegte, törichte Antwort bekommen. Ich habe wohlerzogene Kinder gesehen, durchaus kindlich und mttleidsvoll mit der ganzen Natur, die mit fanatischem Eifer unglückliche Baumwanzm, Maikäfer, Raupen zerstampften, wo sie sie nur fanden — ja noch schlimmer, sie suchten sie zur Vernichtung mit Eifer aus — nur well ihnen aus die Frage: wozu denn diese Wesen da wärm, leichtsinnig geantwortet wordm war: ach, die tun nur Schadm, die sind zu gar nichts gut! Es ist, als ob der Grausamkeüstrieb, der auch im Kinde es schon mit wollüstigem Gransm liebt, dm Herrn über Lebm und Tod des Schwächerm zu spielen, nur aus eine solche schwache Entschuldigung seines Beginnms ge­ wartet hätte! Also Vorsicht bei der Beantwortung der Frage: Wozu? Beschäftigte sich nun diese Frage hauptsächlich mit dm Natur­ dingen, da Handwerks- und Knnsterzeugnisse in der Regel ihre Zweck­ mäßigkett so deutlich zur Schau tragen, daß das Kind gar nicht zum Fragm danach kommt, so ist das Gegentell der Fall mit der Frage, die nach ihrer Häufigkeit dm nächstm Rang einnimmt, nämlich der Frage: wer hat dns gemacht? mit chrm Unterftagm: wie macht man das? Wie ist es so geworden? Es ist eine gewaltige Frage, nicht nur darum, well die vielm Jahrtausmde mmschlicher Geistesbillmng noch keine erschöpfmde Antwort daraus gesunden haben, sondem vor allem, well sie so echt mmschlich ist. Kein Tier, auch das begabteste nicht, geht über die einfache Tat-

8 fache des Daseins eines Gegenstandes zurück; sie begnügen sich sämtlich mit der gegebenen Welt. Anders noch mit der vorigm Frage. Das Wozu eines Gegenstandes fällt sicherlich noch in dm tierischen Berständniskreis. Wenn auch das eigentliche Werkzeug dem tierischen Verstände unbekannt zu sein scheint, so benutzm Tiere doch vielfach die Dinge für ihre besonderen Zwecke, nicht einmal ohne dm Rohstoff der Natur praktisch zu verbesserns, d. h. ihrer Absicht anzupassen — und den im Verkehr mit dm Menschen stehmdm Tieren ist das Wozu einer Flinte, Peitsche u. dgl. nur zu wohl bekannt. Wohl mag manches Tier über die Neuheit einer Er­ scheinung stutzen, auch beunruhigt werden durch etwas, was bisher nicht da war; der kluge Hund kratzt auch wohl einmal bei einem frisch aufgeworfenen Maulwurfshügel nach dem verstecktm Urheber dieser Erscheinung, aber wohl mehr, well entweder sein Auge ihm Bewegung oder seine Rase ihm Lebm verratm hat, als weil er der neuen Erscheinung aus den Grund zu kommen suchte — die bewußte Frage nach der Ursache irgmdeiner Erscheinung wird nur vom Mmschm gestellt. Es ist ein ganz außerordenllicher Schritt, der von der stumpfen Anschauung des Gegebenen sofort hineinsührt in die denkmde, geschichtliche Betrachtung der Welt. Noch ist beim Kinde das Vorurteil 'maßgebend, als wäre der Mmsch der Mittel­ punkt der Welt; es fragt nicht sowohl nach der Ursache, als nach dem Urheber, weil seine kleine Erfahrung ihm viel häufiger den bewußten Verursacher als die unpersönliche Ursache gezeigt hat — aber schon die ersten richttgen Antwotten, die es vom „Gemacht sein" auf ein „Gewordm sein" hinweism, die an die Stelle des persönlichm Schaffmden das Getriebe der Ursachenverknüpfung setzen, lassen es bald das Jrttümliche seiner Fragestellung einsehen, und: wie ist das so gewordm? tritt an die Stelle von: wer hat es gemacht? Aber'ob nun Urheber oder Ursache — in dem Zu­ rückgehen auf den Ur-Anfang liegt das Entscheidende; es wird ein Geschehm, ein Werden der Dinge zum erstenmal bewußt aufgefaßt. Die naive Sorglosigkeit, die Personen und Dinge als gegebme, nicht

w.eller erklärungsbedürstige Tatsachen hinncchm, ist der fruchtbaren Verwunderung über das Rätsel des Seins gewichen. Die ErfahT) Man denke an die Bauten des Bibers, der Hummeln, Bimen, der Ameisen, die Nester der Bögel, die Grdlöcher der Füchse, Mäuse usw.

9 rung hat sich erweitert; sie hat dem Kinde gelehrt, hoffentlich nicht

zu schmerzlich, daß ein eben noch Daseiendes verschwinden und schein­ bar völlig verloren gehm, daß ein noch nicht Wahrgenommenes plötzlich und scheinbar unvermittelt im Dasein austauchen konnte. Der Gedanke eines Noch nicht und Nicht mehr hält seinen Ein­ zug in das junge Gehirn; und wenn erst die Borstellung, daß dies

Seiende einst noch nicht da war, Wurzel geschlagen hat, so ergibt sich naturgemäß die Frage nach dem Woher.

Hier ist es nun, wo

der Verstand der Erwachsenen am häufigsten in Verlegenheit gerät um eine richtige und passende Antwort.

Ich meine hier nicht die

ja auch kitzliche Frage nach der Herkunst des Kindes selbst — diese Frage kann mit etwas Feingefühl und Geschicklichkeit sehr wohl beantwortet werden, soweit ebm überhaupt Antwort aus Ursachen-

stagm gegeben werdm kann — doch davon später.

Nein, es han­

delt sich darum, das richtige Maß zu treffen, nach dem man den

stagenden Verstand auf seinem rückwärtsgerichteten Wege nach der letzten Ursache aushaltm oder beschleunigm soll.

Es gibt hier zwei

Wege, von denen der erstere, soweit ich sehe, fast überall eingeschlagen

zu werdm pflegt, während mir der zweite der natürlichere und

bessere zu sein scheint. Man kann nämlich entweder die Fragm nach dem Ursprung der Dinge kurz abschneidm unter Überspringung aller Mittelglieder, mit einem letztm (freilich unbegreiflichm) Wort und durch die unzählige Wiederholung dieses Wortes den Geist des

Kindes vor ein erhabenes Rätsel stellen — oder aber man könnte, dem Gange des Naturgeschehens folgmd, ganz einfach die nächst­

liegende, Ursache nennen und es versuchen, wie lange sich der

kindliche Geist bei dieser richtigen, aber steilich nicht erschöpfenden

Antwort beruhigt, um dann wieder allmählich auffteigmd die höhere Kette der Verursachungm zu nennen, uff. Das erste geschieht nun,

sicherlich in der testen Absicht, tatsächlich bei der religiösm Er­ ziehung.

Ist die Frage nach dem Woher dieses oder jmes Dinges,

dieser oder jener Person einmal aufgetaucht, so erhält das Kind unweigerlich auf alle seine Versuche, in das Rückwärts des Ge­ schehens

emzudringen,

dieselbe Antwort: Gott hat es

Gott hat es so geordnet, Gott hat es geschaffm.

gemacht,

Der Gläubige

spricht damtt ja zunächst seine ernste und feste Überzeugung von

dem wirklichm Hergänge der Wellschöpfung aus — das wäre sein

10 gutes Recht und seine Wicht obenein —, falls eben die Frage des Kindes in der Tat aus die letzte Ursache alles Daseins gerichtet wäre. Nur in den seltensten Fällm aber ist das wohl der Fall. Es ist sehr menschlich und mtschuldbar, daß sich Ellern, die gerade, wie alle wahrhaft Frommen, ernst über die tiefsten Fragen des Daseins nachgedachs haben, über die Tragweite der einfachm Kinder-

ftagen täuschen. Ein Beispiel: Der Frühling ist gekommen — aus dem schwarzen Erdreich dringen aus einmal grüne Spitzen, goldene und weiße

Sterne, blühende Krokus in ihren bunten Farben. Entzückt ruft das Kind die Ellern: Seht nur, seht, woher kommt das? wer hat das so rasch gemacht? — Hier will es nun keineswegs auf die große Lebensfrage Antwort: woher alles Werden und Entstehen? sondern es möchte ganz einfach die reizvolle Frühlingserscheinung in seinen Erfahrungsschatz aufnehmen und wissen, wie das scheinbar tote, schwarze Erdreich sich so plötzlich mit Blüten hat schmücken können. Gewiß gibt ihm nun die Antwort, Gott lasse nach der langen Winterszeit wieder die Erde grünen und blühm, auch eine gewiffe Befriedigung, aber diese liegt gleichsam in einer anderen Ebene, sagen wir kurz einmal in der religiös-sittlichen, während das eigentliche Verlangen nach Erkenntnis des Vorganges, also in der naturgeschichllichen Ebene, — leer ausgeht. Warum soll aber nicht auch der Fromme dem Kinde die Blumenzwiebel aufzeigen, die im Schoße der Erde eingeschlofsen unter der wärmenden Schneehülle die sprofsmde Kraft bewahrt hat, watüm ihm nicht mitteilen, wenn es fragt, woher wir denn die Zwiebel gehabt, wie wir ‘sie voriges Jahr im Herbst vpn der Mutterzwiebel genommen — und es ruhig darauf ankommm lassen, ob das Kind nun noch weiter wissen will, woher die allererste Zwiebel gekommen sei, woher die Fortpflanzungs­ kraft in der Natur überhaupt stamme? Zu jener letzten Antwort ist dann noch immer Zett, und das Wunder der Natur verliert nicht nur nicht, wenn man es in die Ursachenreihe der Notwendig­ kett zerlegt, sondern es gewinnt an Anschaulichkeit und Größe. Das Kind hat an wirklicher Erkenntnis gewonnen und an seinem Ge­ fühl für das Wunderbare und Erhabene der Naturordnung zum

wenigsten nichts eingebüßt. Ein anderes Beispiel: Ein Gewitter ist ausgezogen, die Blitze

11 zucken, und schmetternd rollt der Donner in den Wollen.. Ängstlich geduckt fragt die Kleine: wer macht das? Unsere Vorfahren hatten es noch gut, sie konnten, eine anschauliche Antwort geben, indem sie dm Wagm des Donnergottes über die schwarzm Wolkm rotten ließen. Jetzt heißt es bald: der liebe Gott zürnt im Gewitter, bald: der liebe Gott schickt unter Donner und Blitz befmchtendm Stegen aus die durstige Erde, also aus Güte, um die verschmachtmde Well zu erquickm, oder aus Zorn, die sündige Well an seine Allmacht zu mahnm. Beides erklärt nichts von der erschütterydm Erscheinung. Köunm und sollen wir ihm nicht vielmehr mit« teilen, was wir missen, so wenig es auch sein mag: wie der elektri­ sche Funke von Wolle zu Wolke oder zur Erde überschlägt, wie die gewaltsame Erschütterung und Schwingung der Millionen von Lufttellchm in ihrem Zusammenprall dm Donner erzmgt usw. usw.? Wahrlich, es gehört nicht viel dazu, um dem Kinde aus der früherm Angst- und Schreckensstunde des Gewitters eine fröhliche Lernstunde mit praktischem Anschauungsstoff zu machen! Es bleibt ja dem Gläubigm auch nicht verwehtt, nebm der „natürlichen Erklärung", die sicherlich immer noch in ihrm letzten Gründm unvollkommm bleiben wird, die Wirksamkeit der Gottheit in der Natur und mit ihrm Kräften gleichzeitig hervorzuheben. Nur wird er sich als ver­ ständiger Erzieher selbst sagen, daß die stete Umwälzung und Ab­ schleifung des einen, edelsten, letzten Erklärungsgrundes, Gottes, im Munde des Erziehers bei jeder Ursachmfrage des Kindes not­ wendig abstumpfend mitten muß. Gott hat alles geschaffm — eine herrliche Antwort für das aus Zweifel in Zweifel geworsme Gemüt, das die Ursachmreihm der Wett durchforscht hat, ohne eine letzte Ursache zu findm, und der Verzweiflung nahe ist, — aber eine nichtssagmde, durch die Gewohnhell abgeschliffene Redensart für das Kmd, das doch ebm in der ursächlich bedingtm Well sich zurechtfindm möchte; ein Betäubungstrank für dm Forschertrieb. Wohl kommt es vor, daß die Gedankm eines geweckten jkindes zurückellm zu der großm Frage des Daseinsrätsels; schon fünfjährig j; B. be­ fragte mich mein Söhnchm, nachdem ihm die Herkunft der Ettem von dm Großeltern deutlich gemacht wordm war, nach dm aller-

ersten Ellern, und wessen Kinder dmn diese gewesm wärm — dann ist der Religiöse, wie jeder Vater, im vollm Recht, seine letzte Uberzmgung dem Kinde mitzuteilen; aber in dm allermeistm Fällen.

12 -gibt eine auf den Urgrund der Dinge zurückgreisende Antwort dem Kinde nicht das, was es wollte: die nächste Ursache*). Indessen der Fromme wird noch andere Gründe für seine Ant­ worterteilung geltend machen. Er gibt es uns vielleicht sogar zu, daß in eielen Fällen die einfache Sacherklärung mehr dem Wunsche -es Kindes mtspreche, als biejcetigtöfe Antwort. Aber es sei ge­ rade seine Absicht, das Abhängigkeitsgefühl schon in dem jungen Herzen früh zu wecken, aus die Mmacht Gottes aufmerksam zu fachen und Dankbarkeit gegen den Höchsten, dem es alles verdanke, wachzurusen. Ich gebe die gute Abficht zu, doch ist darauf wohl zu sagen, daß die unzählige Wiederholung einer Lehre keines­ wegs die tiefste Einprägung in das Heiz zu verbürgen vermag; jene Gefahr der Abstumpfung lauert im Hintergmnde. Ein Augenblick, in dem das Auge des Kindes, geblendet von der herrlichen Pracht der ursächlich verstandenen Natur, sein Geist, überwältigt von den tausendfachen Wundern der Welt, von selbst den Schöpfer des Alls sucht, dürste von tieferer Wirkung sein, als die stets gehörte Lehre. Man sollte Gott vom Kinde suchen lassen, ihn aber nicht täglich auf dem Präsentierteller ausbieten. Für das Kennenlernen Gottes im Geist und in der Wahrheit gibt es kein „Zu spät", das wird mir der Gläubige wohl einräumen, wohl aber leider ein „Zu früh". Ms Kind fragte man nach natürlichen Ursachen und erhielt — Gott; kein Wunder, daß man als Mann nach Gott — nicht mehr fragt. — Aus diesen Gründen erscheint mir die zweite Art, der Woherftage des Kindes zu genügen, richtiger zu sein; d. h. die Eltern sollten auf die Frage: wer hat das gemacht oder wie ist dies geworden? nur auf die nächstliegenden Urheber und Ursachen zurückgehen, um dem Kinde wenigstens eine leidlich Kare Erkenntnis der es um­ gebenden Welt mitzugeben. Bei Kunstwerken (im weitesten Sinne des Wortes) geschieht dies ja ohnehin; wenigstens wüßte ich nicht, daß ein gläubiger Vater auf die Frage: wer hat die Uhr gemacht?

jemals anders geantwortet hätte, als: der Uhrmacher. Bei den Erzeugnissen der Natur setzt nun freilich eine richtige Antwort der Eltern eine gewisse Kenntnis voraus, und der in den ’) Schon Kant (Werke, v. Hartenstein VIII, 617) meint, es sei sehr ungereimt, einem Kinde, das kaum angefangen, in dieser Welt heimisch zu werden, schon von der künftigen vorzuerzählen.

13 meisten Faller doch nur dürftige Wifsensschatz ans der Schulzeit

mag wohl manchem schwer arbeitenden Elternpaar allmählich ab­ handen gekomnen sein.

Manchmal möchte man, nicht nur bei Un­

gebildeten, «mehmen, die Antwort „Gott hat dies gemacht"

sei

hauptsächlich ein Verlegenheitsausdruck für „ich weiß es nicht".

Häufig ist es vorgekommen und geschieht noch täglich, daß die vor­ witzigen Kmderfragen den braven Arbeiter oder seine Frau einmal zwingm, das alte Schulbuch über Naturgeschichte aus einem Winkel wieder hervorzusuchen, um über das Geheimnis der Herkunft des

Schmetterling etwa nachzulesen, und es wäre nicht das erstemal,

daß die Eltem mit dem fragelustigen Kinde um die Wette neu zu lernen anfingm.

Auch diese erziehende Wirkung einer ernsten und

fachlichen Antworterteilung möge man nicht zu gering anschlagen. Hatte die Frage nach dem Woher der Dinge ihren Ausgangs­ punkt genommen von der Erkenntnis des Seins als eines ewigen Werdens und nach dem Wesensgrunde der Dinge gesucht, so führt

uns die nächste Kinderftage in das Gebiet des bewußten Handedrs

und fragt nach

dem Erkenntnisgrunde des

Geschehens.

Diese

Frage heißt: Warum ist dies so geschehen, warum tut man so?»)

Zum Teil fällt gewiß diese Frage im noch unklaren Kindes­

bewußtsein zusammen mit der oben erörterten Frage nach dem Wozu?

Nm, daß vorhin viel mehr von dem Daseinszwecke der

Dinge die Rede war, als von dem Zwecke des Handelns settens vernünftiger Wesen.

Das Warum unserer neuen Frage ftägt also

in der Tat auch nach dem Beweggründe zum So oder So handeln, ») Preyei, a. a. O. S. 388 „Am 1028. Lebenstage wurde zum ersten Male »arum? gefragt. Ich achtete mit der größten Sorgfalt auf das erste Auftreten dieses Wortes. Der Satz hieß: Warum nach Hause gehen? ich will nicht nach Hause. Als am Wagen ein Rad knarrte, fragti das Kind: „Was macht nur so?" Beides zeigt, daß endlich der Uisachentrieb, welcher schon vor mehr als einem Jahre sich durch eine Arl Forschertätigkeit, durch Experimentieren und noch früher (in der 12. Woche) durch Aufmerken kund tat, sprachlich geäußert wird .... Übrigens fand 'ich den Versuch, die Reihenfolge zu er­

mitteln, in welcher das Kind die einzelnen Fragwörter braucht, unaus­ führbar. Es hängt ganz und gar von der Umgebung ab, wann zuerst diese oder jem Wendung oder Frage wiederhott und dann selbständig benutzt wird. „Warum" hört es in der Regel nicht so oft wie „Was und Wie" uni „Wozu".

14 nachdem das Kind einmal gemerkt hat, daß überhaupt zweckmäßige Handlungen in seiner Umgebung erfolgen; und dann lautet die Ant­ wort darauf: Damit... usw. Es fragt aber zweitens auch nach der

wirklichen Ursache, nach dem Erkenntnisgrunde, und dann beginnt die richtige Antwort mit: Weil. Wenn wir einmal die unbewußten Md unklaren Fragen des Kindes denkgerecht betrachten wollen, so entspricht die vorhin behandelte Frage nach dem Woher der Dinge der Frage nach dem zureichenden Grunde des Seins und des Wer­ dens; ihre unbewußte Voraussetzung ist der Satz: kein Sein ohne Bedingung, keine Wirkung ohne Ursache. -Mit der Warumfrage aber begibt es sich auf das Gebiet des zureichenden Grundes für die Erkenntnis und für das Handeln; ihr entsprechen die Sätze: kein (wahres) Urteil ohne zureichendm Grund, keine Handlung ohne Antrieb. Hier setzt uns also das fragende Kind in aller Unschuld Dawnschraubm an und erwartet von seinen Erziehern mit einer,

sagen wir es nur offen, recht hochgespannten Vertrauensseligkeit, daß sie ihm für jedes Urteil, das dem Gehege ihrer Zähne entfloh, den zureichmdm Grund, für jede Handlung den wahren Beweg­ grund aufdecken sönnen und wollen werden. Nichts ist darum auch unbequemer, als das ewige unerbittliche Warum eines gewecktm Kindes*), nichts aber auch fördernder für die Selbsterziehung der

Eltern. Da läßt sich vielleicht der Vater vom Unmut über eine stark gewürzte Rechnung hinreißen zu einem unbedachten: ach, die Kaufleute find alle Betrüger — oder die Mutter macht ihrem Ärger *) Bergl. Preyer, a. a. O- S. 413 „Das Fragen des Kindes wird als Bildungsmittel desselben fast ganz allgemein unterschätzt. Der mit dem Sprechenlerne» immer mächtiger sich entfaltende Kausalitätstrieb, das für Ettern und Erzieher manchmal kaum zu ertragende Warumfragen hat seine volle Berechtigung und sollte nicht, wie es leider all­ zuoft geschieht, überhört, absichtlich nicht beantwortet, absichtlich falsch beantwortet werden. Ich habe von Anfang an. meinem Knaben nach bestem Wiffen jedesmal eine ihm verständliche, nicht wahrheitswidrige Antwort auf seine Frage» gegeben und bemerft, daß dadurch später im 5., 6. und besonders im 7. Jahr die Fragen, weil die früheren Ant­ worten behatten werden, immer intelligenter ausfallen. Antwortet man dagegen gar nicht oder mit Scherzen und Märchen, so ist es nicht zu verwundern, daß ein Kind selbst bei vorzüglicher Anlage alberne und törichte Fragen tut und unlogisch dentt, was schwerlich bei richtiger Beantwortung der Fragen und paffender Zurechtweisung geschieht, abz eschen vom Großziehen zum Aberglauben."

15 über das Dienstmädchen Lust mit einem: die Mädchen tauge» doch heute alle nichts. Gleich ist der Warnungsengel da mit fernem peinlichen: Warum denn, Mama, Papa? Jetzt heißt es Farbe bekennen und dm schönen, allgemeinm Satz folgerecht begründen —

denn mit dem in Betrüger, weil sie lässig, nichtsnutzig Melleicht ficht es aus seiner kleinm

diesen Fällm so beliebtm Zirkelsatz: „sie sind Betrügen, sie taugen nichts, well sie faul, nach­ sind", läßt sich ein kluges Kind nicht abspeism. die übertriebene Allgemeinheit des Urteils schon Erfahrung an und sag! etwa: aber Onkel N.

ist doch auch Kaufmann, nicht wahr, der ist doch kein Betrüger? Oder es bohrt weiter mit seinem Warum und nötigt uns, dm armm Kaufleutm unersättlichen Golddurst, dm Dimstmädchm un­ überwindliche Bequemlichkeit nachzusagm, wmn wir ihr behauptetes Handeln erklärm sotten. Aber hier wird uns unser Gewissen schon ein Halt zurufm und wir werden uns, wohl oder Übel, zu einem geordnetm Rückzüge mtschließm. Ein kluges Ellernpaar verbindet sogar dm Rückzug mit einem erzieherischm Vorstoß und wird fich nicht schmen, stch selbst als warnendes Beispiel der Verallgemeinerungssucht, der Übereilung des Urteils hinzustellm, ohne daß es, gerade wegen dieses offenen Eingeständnisses, eine Einbuße an Ansehm zu befürchten hätte. Anders liegt die Sache bei einem auch sehr unbequemm Wa­ rum, mit dem die Kinder — und zwar nicht immer nur schlechterzogme eigmwillige Kinder — unsere Machtbefehle zuweilen versehen. Die Anhänger der Forderung des unbedingtm Gehorsams beim Kinde find leicht geneigt, in einem solchm Warum dem Ge­ bote gegmüber eine Unbotmäßigkell oder Ungehörigkell zu sehm, und auch die Meister der Erziehungskunst pflegm das „Räsonieren mit dem Kinde" ohne weiteres zu verwerfen. Es ist dabei aber doch wohl zweierlei zu unterscheiden. Wmn ein Kind aus erntn Befehl hin: komm hierher! oder tue das nicht! warum stagt, so kann dies eitlen doppelten Grund haben. Kein erfahrmer Erzieher, auch kein Vater und keine Mutter werdm so leicht in Verlegenheit kommm zu unterscheiden, welcher von diesen Gründen vorliegt. Erstens nämlich kann dies Warum in der Tat heißen: du befiehlst mir, ich sehe aber nicht ein, warum ich diesmr Befehle folgen sollte. In diesem Falle liegt offene Widersetzlichkeit und Ungehorsam vor. Die richtige Antwort ist hier ficherlich die der Verehrer des Macht-

16 gebots: du hast gar nicht weiter zu fragen, sondern zu tun, was ich wünsche. Und ich zögere keineswegs, dem Erziehenden hier weitgehende Maßregeln einzuräumen, damit er seinen Willen gegen b«t aufrührerischen Kinderwillen durchsetze. Drill, d. h. Ge­ wöhnung an bestimmtes Handeln durch äußerliche Mittel, ist gewiß der Anfang (aber auch nicht mehr als der Anfang!) aller Erziehung. Zu wünschen wäre es, wenn solche Abrichtung mit dem ersten Le­ bensjahr des Kindes abgeschlossm wäre und der Erzieher nicht nachträglich den Versuch machen müßte, das dort verlorene Feld noch zu gewinnen. Oft ist mir von Müttern die Frage vorgelegt worden, ob es durchaus richtig sei, dm Eigenwillen des Kindes zu „brechen", wozu die Väter in der Regel sehr.geneigt find. In der Tat ist ein starker selbstbewußter Eigenwille in unserer Zeit der UberMe von Vorschristm und Maßregeln nicht nur für Kinder etwas so Wertvolles, daß die Frage sehr berechtigt erscheint. Nur ist fie alltmal zu spät gestellt. Brechen muß man nur da, wo

etwas zu hart gewordm ist, um gebogen zu werdm. Wie bei einem schlecht verheilten Knochenbruch der Arzt über die Wahr­ scheinlichkeit entscheidm muß, ob der Eingriff für den zu Behan­ delnden vorteilhaft sein werde oder nicht, so kann der Erzieher auch nur nach dm besonderm Umständm seinen Rat erteilen. Msweilen glückt es, bisweilm stiftet man größeren Schaden. Daß aber überhaupt die Frage nach dem Brechen des Willens austauchm kann, ist stets schon ein Versehen der ersten Erziehung, die min­ destens gmau mit der ersten Lebensstunde des Kindes beginnen sollte. Der Wille des Säuglings ist nicht zu brechen, sondern nur zu lenken. Wer aber aus Bequemlichkeit oder Gutherzigkeit dem Wickelkind auch seine unberechtigten Wünsche erfüllt, der kaust un­ ruhige und sorgenvolle Jahrzehnte für ein Viertelstündchm äußerer Ruhe. Ein selbstbewußter, starker und „ungebrochener" Wille wächst auch da heran, wo es die Eltern verstanden habm, mit leisestem und leichtestem Zug und Gegmdruck dem jungen Willensstamm die Richtung zu gebm. Ein so erzogmes Kind fragt nicht Warum? in dem eben erwähnten trotzigen Sinne; ihm ist Gehorsam Gewohn­ heit, d. h. zweite Natur gewordm. Nun aber kann auch ein willi­ gt Kind trotzdem Warum fragen — und dies ist der zweite Fall, der uns beschäftigt. Hier heißt das Warum nicht: Warum soll ich gehorchm?, sondem: Warum befiehlst du so? Jetzt nicht mit

17 dem Kinde „räsonieren", d. h. vernünfteln, hieße es vom Stand­ punkte eines vernünftigen, daher ftagenden Wesens aus die Stufe

des Hundes hinabdrücken.

Natürlich sollte auch in diesem Falle

dem Befehl erst gehorcht und dann erst die Begründung gegeben werdm *).

Aber wo keine Gefahr im Verzüge ist, wo vor allem

aus der ganzen Haltung des Kindes hervorleuchtet, daß chm der Gedanke an ein Widerstreben gar nicht gekommen ist, da wäre es

dürre Formmreiterei, um des unweigerlichen Gehorsams willen die

Fragelust des Kindes zu übertäubm, womöglich mit Scheltworten

auf es loszufahrm und ihm dadurch die Möglichkeit des Ungehor­ sams erst selbst unterzuschiebm. Vielleicht leidet in der Tat der Befehl keinen Aufschub, wie bei einem: beuge dich nicht aus dem Fmster! oder: fort mit dem Messer!

Dann heiße es ruhig, aber bestimmt:

erst tu', was ich sage, und dann komm her, damit ich dir erkläre,

warum; oder et verträgt ihn, dann sollte sich der Erzieher die kost­

bare Gelegenheit, seinem Zögling ein Gebot oder Verbot verstandes­ gemäß begreiflich zu machen, nicht mtgehm lassen, stärkt er doch damit nur die Eindringlichkeit des Gebots, und findet er den Geist

des ftagenden Kindes doch ebm jetzt aufgeschlossen und willig zur

Belehrung.

Nur heiße die Antwort auf diese Warumftage niemals

(wie man leider oft hören kann): well ich es verbiete oder well ich es so will.

Das ftagende Kind zeigt ebm durch sein Fragm, daß

es als Geist, «icht als Maschine behandelt sein will.

Vergessen

wir doch nicht, daß wir zur sittlichen Freiheit erziehen wollen, und so wahr es auch ist, daß.nur der sich selbst befehlm lernt, der einst

zu gehorchm lernte, so sicher ist es auch, daß nur blinder Gehorsam nie zur sittlichen Selbständigkeit führt. geborenm Herrscher.

Sonst wärm Sklavm die

Jme selbstherrliche Begründung ist nur dann

J) Vergl. W. Preyer, a. a. O. S. 254. „Die Übungen im Gehorsam­

sein könnnm nicht früh genug beginnen, und ich habe währmd sechs­ jähriger, fast täglicher Beobachtung feinen Nachteil der frühzeitigen konsequmtm Leitung des aufleimmden Willens entdeckt, wenn nur diese Lenkung mit der größten Milde und Gerechttgkeit geschieht, als wenn schon der Säugling eine Einsicht in den Nutzen des Gehorchens hätte. Durch Boraussetzung der Einsicht beim Kinde wird die Einsicht früher geweckt, als durch Dressur, und durch Angabe eiues wahrm und rationellen Grundes für jedes Gebot, sowie das Verständnis beginnt, durch Vermeidung aller grundlosen Verbote wird das Gehorchm wesentlich erleichtert." . Penzlg, Ernste Antw. 5. Anst.

2

18 am Platze — und auch wieder nicht am Platze, denn es wird ja nach gar keiner gefragt —, wo das Kind bei seinem ersten Wollen noch nicht zum Denken emporgestiegen ist. Da stößt Erzieherwille auf Kinderwille und formt diesen nach seinem Ermeffen. Sie ist fronet mit aller schon besprochenen Vorsicht möglich, wo Wille auf Wille feindlich prallt und der Erzieher es versucht, seinen harten Willen als Gesetz, anstatt der vernünftigen Begründung zu verkünben, aber sie ist völlig unberechttgt, wo ein verständiges Kind, das später ein verständiger Mensch werdm will, nicht aus Widersetzlich­ kett, sondern aus dem Triebe nach Verständnis aller gehötten Ur­ telle heraus nach dem Warum eines Befehls fragt So wenig es bett Erzieher verletzen darf, daß das Ktnd nicht seine Urteile als der Weisheit letzten Schluß hinnimmt, ebensowenig darf ihn ein Warum dieser Art entrüsten, wenn es zufällig statt bei einem aussagenden Satze bei einem Befehls- oder Soll-Satze austaucht. Fünf Fragen nur habe ich aus dem unerschöpflichen Born des Kindermundes herausgehoben: Was ist das? Was (Wie) macht das? Wozu ist das? Wer hat (Wie hat man) es gemacht? Warum macht man? Sie sind nur auf den einfachsten Ausdruck gebrachte Probestücke der unzähligen Fragen, die die Eltern umschwirren. Und doch umfassen sie die ganze mmschliche Erkenntnis. Wer aus sie immer erschöpfend zu antworten wüßte, vor dem gäbe es kein Rätsel des Daseins weiter. Mtt ihrer Beantwortung quält sich die ganze Mmschheit seit ihrem Entstehen. Das Wesen, die Wir­ kung, der Zweck, die Ursache oder der Urheber, der Grund alles Seins und Denkens ist von diesen fünf Fragen umschloffen. Er­ schöpfend vermögen wir sie nicht zu beantworten, auch bett Kindern gegenüber nicht — und das ist gut. Hätten wir, oder irgend­ ein Menschengeschlecht nach uns, einmal der Weisheit letzten Schluß, was bliebe bett Nachgeborenen übrig? Die rechte Antwort ist der Tod der Frage, wie die Wahrheit der Tod des Wahrheitssuchens, das erreichte Ziel die Vernichtung alles Sttebens ist. Leben heißt Fragenstellen und Antwortgeben, in einem viel wetteren Sinne, als man gewöhnlich annimmt. Das Was, Wie, Wozu, Woher, Warum sind gleichsam die vorgedruckten Fragm auf dem Paß, der jedem Wesen ausgestellt werden muß, damtt es in unsere mensch­ liche Vorstellungswell ungehinderten Eingang finde, aber auch die Natur selbst scheint ihn erbarmungslos von jedem Ankömmling zu

19 fordern. Willst du leben, so antworte erst darauf: Was bist du, wie wirkst du, wozu dienst du, woher kommst du, warum mußt du dasein — und nun wollm wir auch auf deine Fragm an das Leben ebenfalls Antwort geben. Das heißt Leben, Ordnung, Zu­ sammenklang von Ich und Weltall. — Und dies Leben wollten wir unsern Kindern nicht gönnen ? Wir möchten es auch nur wünschen, erschöpfende Antworten auf ihre Fragm zu habm? Erschöpfung wäre Schluß der Schöpfung, die sich noch täglich und stündlich im sprossmden Frühlingsgrün, im Werden und Vergehm der ganzm Um­ well, im leiblichm und geistigen Heranwachsen unserer eigenen Kinder vor uns abspiell, das Wunder aller Wunder. Nicht Erschöpfung aller Antwort, sondern stets Neues aus dem Allm zu schaffm steht dem Mmschmgeist an, keine ewige und ständige Wahrhell, aber immer Suchm nach Wahrhett, Antwort ist Tod, Fragm Lebm. Sind also die Antwortm auch nicht erschöpsmd, könnm und sollm sie es nicht sein, so könnm und sollen sie doch ernst sein. Davon im zwettm Hauptstück.

Zweites Haupt^tück.

Ernste Antwortm. Es gibt eine Frage, die wir im vorigm Abschnitt nicht mll behandelt habm, obwohl sie ebmfalls unter dm erstm Fragm ist, die Kindermund an die Eltern richtet. Das ist die Frage: Ist das (die Geschichte) auch wahr? Auf dm erstm Blick eine sehr auffallmde Frage, die mtweder aus die mißttauische Gemütsatt des Fragmdm oder auf die Wahrheitsliebe der Gesragtm einen üblen Schatten zu werfm scheint. Wie sollte ein Kind dar­ auf kommm, eine besondere Bestätigung der Wahrhell einer Aus­ sage zu verlangm, wenn es nicht schon trübe Erfahrungm darüber gemacht hätte, daß nicht alles, was gesagt wird, wahr ist? Der­ artige Erfahrungm mögen nun wohl auch vorkommm, so lange rott nicht unsere Kinder völlig von dem Verkehr mit allerlei sittlich mindergebildeten Menschen abschließm könnm. Aber in dm meisten 2*

19 fordern. Willst du leben, so antworte erst darauf: Was bist du, wie wirkst du, wozu dienst du, woher kommst du, warum mußt du dasein — und nun wollm wir auch auf deine Fragm an das Leben ebenfalls Antwort geben. Das heißt Leben, Ordnung, Zu­ sammenklang von Ich und Weltall. — Und dies Leben wollten wir unsern Kindern nicht gönnen ? Wir möchten es auch nur wünschen, erschöpfende Antworten auf ihre Fragm zu habm? Erschöpfung wäre Schluß der Schöpfung, die sich noch täglich und stündlich im sprossmden Frühlingsgrün, im Werden und Vergehm der ganzm Um­ well, im leiblichm und geistigen Heranwachsen unserer eigenen Kinder vor uns abspiell, das Wunder aller Wunder. Nicht Erschöpfung aller Antwort, sondern stets Neues aus dem Allm zu schaffm steht dem Mmschmgeist an, keine ewige und ständige Wahrhell, aber immer Suchm nach Wahrhett, Antwort ist Tod, Fragm Lebm. Sind also die Antwortm auch nicht erschöpsmd, könnm und sollm sie es nicht sein, so könnm und sollen sie doch ernst sein. Davon im zwettm Hauptstück.

Zweites Haupt^tück.

Ernste Antwortm. Es gibt eine Frage, die wir im vorigm Abschnitt nicht mll behandelt habm, obwohl sie ebmfalls unter dm erstm Fragm ist, die Kindermund an die Eltern richtet. Das ist die Frage: Ist das (die Geschichte) auch wahr? Auf dm erstm Blick eine sehr auffallmde Frage, die mtweder aus die mißttauische Gemütsatt des Fragmdm oder auf die Wahrheitsliebe der Gesragtm einen üblen Schatten zu werfm scheint. Wie sollte ein Kind dar­ auf kommm, eine besondere Bestätigung der Wahrhell einer Aus­ sage zu verlangm, wenn es nicht schon trübe Erfahrungm darüber gemacht hätte, daß nicht alles, was gesagt wird, wahr ist? Der­ artige Erfahrungm mögen nun wohl auch vorkommm, so lange rott nicht unsere Kinder völlig von dem Verkehr mit allerlei sittlich mindergebildeten Menschen abschließm könnm. Aber in dm meisten 2*

20 Fällen hat die Frage doch eine viel harmlosere BÄeutung. Tat­ sächlich sind dem Kinde schon eine Menge Märchen aufgebunden worden, teils, um es zu necken, teils um seiner Einbildungskraft die nötige Nahrung zu geben. Wie tief der Drang zu unschuldiger' Neckerei in uns , haftet, beweist uns am besten das Kind selbst, das schon im dritten Lebensjahre gelegentlich mit schelmischem Ge-

ficht ein Nein statt eines Ja antwortet, wobei an irgendwelchen Versuch wirklicher Täuschung gar nicht gedacht, vielmehr einfach das so überaus beliebte Versteckspiel aus dem Leiblichen ins Geistige übertragen wird, lind daß das Kind diejenigen Geschichten am liebstm hört, in denm die Unwahrheiten und Unglaublichkeiten so­ zusagen knüppeldick aufgetragen find, auch für die geringe Erfah­ rung des Vierjährigen schon erkennbar, darüber bedarf es angefichts der ganzen Märchen- und Fabeldichtung, sowie der Lügen- und Neckgeschichtm keines Beweises. Also das Kind weiß ganz genau: es gibt wahre Geschichten und es gibt auch unwahre („ausgedachte" Geschichten), es gibt ferner ein Ja, das nach dem Gefichtsausdruck des Antwortenden Nein

bedeutet und umgekehrt. So kommt es zu seiner Frage. Ganz unbedenklich möchte ich diese aber doch nicht nennen; die Tatsache, daß es fragen muß, ist das Bedenkliche. Erwachsene können in der Neckerei häufig zu weit gehen und belustigen sich um so mehr, je mehr das Kind wirklich nicht weiß, ob im Spaß oder im Ernst geredet wird. Das sollte unbedingt vermieden werden; es erzeugt eine peinliche Unsicherheit in dem kindlichen Gemüte, das so gerne sich ganz aufschließt mit rückhaltlosem Verträum. Der Ausruf,

dm man häufig hören kann: „ich mag Onkel gar nicht leidm, er neckt mich immer!" ist ein Zeichen, daß die Grmze überschrittm ist, wmn auch natürlich hier und da einmal ein Kind von zu empfind­ lichem Wesm ist. Aber das Neckm sollte doch eigmtlich nur erlaubt sein, wmn beide Teile Vergnügm daran findm. Niemand läßt fich gern „dumm machm", auch das Kind nicht, oder liebt es, anderen zum Gegenstand chrer Lustigkeit zu dimm. Es liegt ein winziges Stückchen Lieblosigkeit in diesem unablässigen „zum besten haben", und das Kind quittiert mit seinem feinen Empfindungsvermögm wirklich ganz richtig, wmn es nun auch in seiner Liebe wankmd wird. Gewiß gibt es auch Kinder von ursprünglich etwas schwieriger, wmn nicht gar mürrischer Gemütsart, die nie-

21 mals „Spaß verstehen* wollen, und beitest ein auch einmal derberes Hineinziehen in eine Neckerei nichts schaden kann: aber Vorsicht

dabei! Man sollte sich mit dm Kindern, aber nicht über ein Kind lustig machen. Wo mehrere Kinder zusammm sind, da ist die Sache schon leichter. Wenn, wie es bei nietet Gesellschafts­ spielen der Kinder ja üblich ist, einer nach dem attbern der Ge­ foppte sein muß, dann wird sich nicht so leicht ein Kind von dem allgemeinen Spiel ausschließen wollen; und tut es das doch, dann geschieht ihm sein Recht, wenn es maulend in der Ecke stehm muß, währmd die anderen chrm Spaß haben. Das ist dann auch die beste erziehende Strafe. Mer wo nur ein Erwachsmer oder ein Kreis von Erwachsenm sich mit dem Kinde neckt, da sollte dir Rücksicht, ob das Kind auch Vergnügen daran findet, maßgebmd sein. Wenn wir also dem Kinde antworten, so ist die erste Regel einfach: auf scherzhafte Fragen scherzhafte Antwort, aus ernste Fragm ernste Antwort. Wir könnm wohl auch aus eine drollige, vom Kinde aber ernst gemeinte Frage einmal eine scherzende Ant­ wort geben, aber dann muß das Kind sicher aus unserem Mimmspiel, aus der Betonung, kurz, aus unserer ganzen Haltung sofort herausfühlm könnm, daß wir jetzt nur spielen. Das ist nicht im geringsten schwierig, dmn an Feinfühligkeit für dergleichm übertreffm uns alle Kinder unmdlich. Man kann mit dem ernstesten Gesicht dm kleinen Zuhörern die tollstm Münchhausiadm vortr.agm, sie werdm dm Schalk in einer Falle des Augenwinkels sofort ent­ decken; man setze die harmloseste Miene aus und flunkere nur recht toll darauf los — es müßtm merkwürdige Kinder sein, die uns nicht bald auf die Schliche kämen. Entweder der auch für gläu­ bige Kindergemüter unglaubliche Inhalt unserer Aussage, oder ihre närrische Form muß jeden Zweifel darüber heben, daß wir nur scherzm. Wer fteilich mll der gebührmdm ernsten Miene eine ernste Nachricht mitteill und sich dann darüber freuen wollte, daß er die Kinder hinters Licht geführt habe, der hat keine Ahnung von dem Wesen des Scherzes und würde bald innewerdm, daß auch Kinder das nicht neckm, sondem lägen nennen. Wenn nun auf erliste Frage ernste Antwort gegeben werdm

soll, so heißt das natürlich weder Schulmeisterton, noch gelehrte Auseinandersetzungm, noch gar salbungsvollen Emst empfehlen.

22 Das Kind will etwas wissen, etwas Neues lernen; gut, es erfahre, was wir davon missen. — Ja aber kann man denn dem Kinde schon alles sagen? Die Frage hat eine doppelte Bedeutung. Einmal bezieht sie sich auf die (sicher vorhandme) Schwierigkeit, einem kindlichen, ungeschulten Verstände vielleicht recht verwickelte Lebensverhältniffe oder auch Dinge deutlich zu machen. Zweitens aber beruht sie auf dem alten Grundsatz: dm Kindern gegenüber müsse eine heilige Scheu obwaltm, und verlangt, daß gewisse Gegmstände und Verhältnisse überhaupt nicht zum Gegmstände der Mitteilung gemacht werdm dürften. Die erste Schwierigkeit besteht. Es scheint zunächst unmöglich, einem sechsjährigen Kinde etwa die Elektrotechnik völlig begreistich zu machm. Alles hängt übrigms dabei von dem eigenen Ver­ ständnis, das der Antwortende für die Sache besitzt, und von seinem Lehrtalent ab. Im schlimmstm Falle helfm die Bilder aus, ich meine nicht nur die Abbildungm, die ja nicht immer zur Hand sind, sondern die Bilder der Sprache. Müssen wir Erwachsene uns doch häufig auch schließlich mit solchen Bildem zufriedm geben! Wenn wir vom „Erzeugen" eines elektrischen „Stromes" durch chemische „Verbindung" hören, vom „Fließm" des Stromes durch den Leitungsdraht, vom „Umsetzm" der elektrischm Kraft in Wärme oder Bewegung — was find das anderes als Bilder für in ihrem eigentlichen Wesm noch unerklärte Vorgänge? Eine ungefähr rich­ tige Vorstellung auch verwickelter Erscheinungen wird sich also doch wohl bei einigem Lehrgeschick und dem Vermögm, sich in die Vor­ stellungsweise des Kindes zurückzuversetzen, geben lassen. Nur im äußersten Notfälle darf man zu der sehrbeliebtm Antwort greifen: „Das verstehst du poch nicht." Gerade, weil es nicht versteht, fragt , ja das Kind. Die Antwort heiße dann auch besser: Das vermag ich dir noch nicht so zu erklärm, daß du es ganz verstehm könntest. Sonst wird ein Kind, das häufig diese barsche Abweisung erfährt, leicht unlustig in feinem Fragebedürfnis, und wir gewöhnen uns allzu bequem daran, unsere mangelhafte Lehrgabe mit dem an­ geblich mangelhaften Lerngeschick des Kindes zu verwechseln. In der Regel gilt auch hier der erprobte Satz: was jemand wirklich richtig versteht, das wird er auch fast immer in faßliche Worte kleiden können.

23 Was nun das zweite Bedenken betrifft, daß Kinder nicht alles erfahren dürfen, was Erwachsene ohne sittlichen Schaden besprechen können und müssen, so liegt zweifellos auch hier ein durchaus be­ rechtigter Grundgedanke. Die Gefahr ist nur wiederum die, daß wir aus Bequemlichkeit oder auch aus übertriebener Ängstlichkeit

dem Satze eine zu weite Ausdehnung geben. Nicht dasAntwortgeben dürfen wir verweigern, sondern wir müssen es mitunter zu verhüten suchen, daß über Dinge, die das Kind noch nicht erfahrm soll, Fragen gestellt werden. Jenes ist leicht, dieses schwer; dafür nützt aber frellich nur das letztere. Denn werden die Fragen einmal gestellt, so können wir wohl die Antwort versagen, aber nicht hindern, daß das Kind, nun erst recht vom Reize des Verbotenen gewonnen, sich anderweit Belehrung verschafft. Was dabei herauskommm kann, läßt uns dann ost das eigene Antwortgeben als das weitaus geringere Übel erscheinm.

Nun liegt die Sache so: vollständige Absperrung eines KindeS gegen alle Erfahrungen, die in ihm die Fragelust rege machen könnten, ist wohl auch unter dm günstigsten Umständen kaum denk­ bar. Aber wohl könnm wir versuchm, solchen Erfahrungen ihr Gist zu nehmm. Kinderspeise ist nicht Mannesspeise. Lehren heißt nicht auf einmal die ganze FMe unseres Wissens auf das Kindergehirn ausleerm, sondern langsam, mit seinem Verständnis deffm, was schon begriffm werdm kann, die eigene Erfahrung dem Kinde, wmn auch erst in einer Reihe von Jahrm mitteilen. Viele Erfahrungen, die wir selbst machen mußtm, behalten wir auch gern zurück und wünschen, daß unsere Kinder nie in die Lage kämen, sie auch machm zu müssen. Der Soldat, der Arzt, der Richter, der Geistliche usw., sie alle werdm kaum in Versuchung kommen, auch da, wo die Verschwiegenheit nicht amtlich gefordert wäre, chre Ersahrungm den Kindem zugäng­ lich zu machm. Kinder brauchm glücklicherweise nicht alles zu missen. Aber hier werden sie auch kaum stagm. Ein Kmd, das lüstern wäre nach der Beschreibung eines Schlachtfeldes, das nach dm Ergebnissm eines Sektionsbefundes, dem Geständnis eines Verbrechers, der Beichte eines Sterbmdm fragte, wäre kein gesund empfindmdes Kind mehr und dürste eine derbe Zurechtweisung seiner Naseweis­ heit und Neugier als verdient ruhig hinnehmm. Daß wir ferner die, vielleicht unvermeidlichen, aber gewiß nicht

24 bildenden rohen Szenen aus dem Gemeinschaftsleben, wie z. B. das Schlachten der Tiere, die Überwältigung eines Verbrechers,

den Anblick von Geisteskranken, die Brunst von Tieren u. a., aus dem Gesichtskreise unserer Kinder fernzuhalten suchen, ist ebenfalls selbstverständlich. Sind sie durch Zufall Zeugen von dergleichen gewordm, so wird ihre Gemütsbewegung gewiß zahlreiche Fragen auswersen, die dann sachlich, kurz und bestimmt zu beantworten find. Wir befriedigen ihr Wiffensbedürsnis nur, um das Bild, möglichst ohne Rest ungelöster Zweifel, bald wieder sich verwischm zu lassens. Ganz die Beantwortung abweisen, ist hier nicht mehr x) Einer um Erläuterung dieser Antwort bittenden Mutter er­ widerte ich: „Hat Ihr Töchterchen (zehnjährig) also das-„Hängen" zweier Hunde in der Weise beobachtet, daß eine bloß ausweichende Antwort: „Sie spielen miteinander" nicht mehr angängig war, so würde ich der mit­ leidigen und manchmal angstvollen Frage, wie man ihnen helfen könne? u a damit begegnen, daß ich eine Art ehrfurchtsvoller Scheu vor dem nun einmal beobachteten Vorgang zu wecken suchte: „Da mußt du nicht hinsehen, da darf man nicht stören; das ist notwendig, damit das eine Hündchen Junge bekommen kann. Es tut ihnen auch gar nicht wehe — bald wirst du ste wieder ganz gesund herumspringen sehen." Ist das Kind beim Fragen noch ganz unbefangen, so sei es die Mutter auch und mache vielleicht selbst einen Scherz: „Sie spielen Vielliebchen!" „Aber im Ernst, du hast wohl auch schon einmal ein Pärchen Schmet­ terlinge, oder Libellen, oder Käfer gesehen. Da müssen sich immer zwei zusammentun, damit ste Eier legen können. — Die Vogelpärchen kennst du erst recht — und bei den meisten Blumenisi es ebenso; wenn ste Früchte ansetzen sollen, da muß der Blütenstaub der einen in die Blüte der anderen fallen, dann erst wächst fich die Blume zur Frucht aus." Zieht das Kind die Folgerung auf den Menschen, so geben wir das unbefangen zu: „gewiß, darum heiraten ja auch die Menschen", aber ich würde jedes Eingehen auf Einzelheiten mit dem Hinweis ab­ lehnen: „Das ist eine viel zu heilige und geheimnisvolle Sache, als daß man fich neugierig dabei aufhalten dürfte." Ebenso bitte ich, die „volle Wahrheit" (oben S. 25 u. 28) aufzufassen Die Eltern haben nicht eine naturwissenschaftliche Beschreibung "der Geschlechtsvereinigung zu geben, wohl aber werden dem Knaben wie dem Mädchen (gesondert) die Körperteile, die ste bisher nur zu anderer Verrichtung bestimmt glaubten, als Geschlechtsteile bezeichnet und die heilige Scheu vor dem Geheimnis Zeugung und Geburt (was es ja auch nach genauester wissen­ schaftlicher Erklärung bleibt) eingeschärft. Wenn dann später von der „vollen Bereinigung" in der Ehe die Rede ist, oder auch mit den Worten der Schrift von „ein Leib sein", wenn man es deutlich zu machen ver-

25 angängig; das wäre ebenso ungesund, als wenn ein Kind nach solcher Erfahrung es nicht wagte, zu bett Eltern mit Fragen zu kommm. Und so steht es überhaupt mit der Mitteilung von Erfahrungen, die das Kind nach dem gewöhnlichen Gange der Dinge einmal machm muß. Es kommt hier eben besonders das Geschlechtsleben in Frage. Wann darf dem Kinde davon gesprochen werden, wie­ viel dürfen wir ihm Mitteilen, um einerseits die oben genamtte Ehrfurcht vor der Unschuld nicht zu verletzen, andererseits unsere Elternpflicht in Abwehr möglicher Gefahren zu erfüllen? Das sind außerordentlich schwierige Fragen, die tmr mit feinem Zartgefühl, also wesentlich mit einem durchweg von Liebe zu den Kindern be­ stimmten Anpassungsvermögen an ihre Denkweise, beantwortet werden können. Es muß versucht werdm, die Dinge unter Vermeidung von falscher Zimperlichkeit einerseits, von geradeausfahrender Derb­ heit andererseits beim rechten Namen zu nennen. Hier nur einige Grundzüge. Zunächst gibt uns die Natur selbst einen guten- An­ halt. Nehmen wir einmal an, ein Kind wüchse allein, höchstens mit bett Eltern zusammen, auf einer Insel aus, dann würde die Schwierigkeit so gut wie keine sein. Da das Geschlechtsleben im gesunden Kinde bis zur Reifezeit ruht, so würden sich auch kaum Fragen darüber erheben. Mit dem Zeitpunkte aber, wo die Ent­

wicklung vollendet wäre und die natürliche Frage einträte, wäre auch die völlig einfache und natürliche Antwort gegeben: die volle Wahrheit. Daß dabei der Vater den Sohn, die Mutter die Tochter belehrt, ist selbstverständlich, ganz ebenso wie dies, daß die Antwort in ihrer klaren Einfachheit keinerlei Anlaß zut überspannten Ausmalerei der geschlechtlichen Beziehungen gebe. Indessen müssen standen hat, daß die Eltern einander so innig lieb haben, daß fie sich voreinander „nicht mehr zu scheuen brauchen", so weiß das Kind ge­ nug und ergänzt das Fehlende wohl von selbst. Daß dies nicht mit Lüsternheit geschehe, darum immer die tiefernste Hinweisung auf das Geheimnisvolle, Heilige der Sache, unterstützt durch die Mahnung nicht zu früh an solche Dinge zu denken und vor allen Dingm in Gedanken, Worten und Werken „züchtig und keusch" zu bleiben, Worte, die das Kind in der Reifungszeit vortrefflich versteht, aber auch wohl schon früher, wenn auch in halb unbewußter Weise. Es soll noch ein Rest von neuer Erkenntnis (darum die tiefsinnige Doppelbedeutung des bib­ lischen: „Adam erkannte sein Weib") und vor allem von persönlicher Erfahrung für das Eheleben übrig bleiben.

26 bei dem engen Gemeinschaftsleben der Menschheit die Fragen viel früher in den Gesichtskreis des Kindes treten, Geburt und Hoch­ zeit drängen sich in sein Sehfeld: die Sprache selbst, die Unter­ haltung der Erwachsenen gibt kleinen Kindern schon unbequeme Fragm ein: Was ist das: geboren werden, iheiraten? Großstadt­ kinder erfahren wohl noch mehr und Schlimmeres, Landkinder wiederum sehen mehr vom Geschlechtsleben der Tiere. Die Fragm sind also da, ob wir es wollen oder nicht. Zunächst einige Worte über die Scham. Tiere haben sie nicht ursprünglich, die Mmschheit hat sie erworben. Auch die alte jüdische Urkunde, die Bibel, rechnet sie nicht unter die natürlichen Gaben des ersten Menschm, sondern läßt sie (in ihrem Sinne) ge­ schichtlich — durch den Sündenfall — entstehm. Das Schamgefühl ist der Gefühlsausdruck unserer Erkenntnis, daß der Mmsch auch ein übersinnliches, höherstrebendes Wesm ist, und nicht nur als Gleicher, Tier unter Tieren, in der Reihe der übrigm Lebewesm steht. Mit dieser Erkenntnis steht nun unser erzieherisches Verfahren im Einklang, vielleicht,, daß sogar ein wenig zu viel geschieht, z. B. in der Tren­ nung der Geschlechter während der Lernzeit, währmd diese im Spiel und Scherz unbeaufsichtigt miteinander verkehrm. Für die erste Kinderzeit wird ja glücklicherweise sogar bis zur Kleidung hin kein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht. Allmählich — mit den ersten Hosen — lernt der Junge nun: ich bin ein Junge, Schwester N. ist ein Mädchm. (Hoffmtlich lernt er nicht, wie man auch hören kann: Schwester N. ist nur ein Mädchen!> Diese Unterscheidung wird durch die Gewohnheit, durch die Vornamm, durch die Kleidung fast unbewußt vollzogen. Das Scham­ gefühl dürste in diesem ersten Abschnitt der Kindheit keineswegs durch Gegmüberstellung der geschlechtlichen Berschiedmheit, sondern nur durch den beiden Geschlechtern gemeinsamen Trieb, die niederen Körperverrichtungm zu verbergm, geweckt werden. Die wohl 'schon vom Tier ererbte Scheu vor dem Ausscheidungsvorgang der körperlichm Abfallstoffe und der Ekel vor ihnen helfen mit. Rein­ lichkeit ist die Vorstufe zur Reinheit, und die Gewöhnung an körper­ liche Reinheit hat gewiß ost genug die Bewahrung der sittlichen Reinheit zur Folge. Nacktheit an sich darf dem Kinde nicht anstößig sein. Zwar

27 wird es mangels aller künstlerischen Bildung von der „Schönheit" des gesunden Mmschmkörpers noch keine bewußte Vorstellung haben, wohl aber die Empfindung von der köstlichen Freiheit des ungehemmten Spiels gesunder Glieder, und vor allem wird ihm zweckvolle Nacktheit, also zum Bade in Wasser, Lust und Sonne, beim Turnen und Spiel, selbst bei Mischung von Buben und Mädchen fast bis zur Reifegrmze der letzteren, kaum die Harm­ losigkeit stürm. Diese rein gefühlsmäßige Schranke kann unter günstigen Ver­ hältnissen bis tief ins Jünglings- und Jungstauenalter hinein dm besten Schutz abgebm, und das Bestrebm, dm eigenen Körper rein zu haltm vor unreinem Blick und lüsterner Berührung, aber auch die Fähigkeit, selbst mit dem Unschuldsauge des „reinm Torm" alles Natürliche einfach natürlich zu erblickm, das ist gerade der zarteste Schmuck und Schmelz der Jugend. Bei gesundm Kindern sollte jedenfalls diese Erziehung zur Scham genügen, ohne daß noch

ein besonderer Hinweis aus die geschlechtliche Verschiedenheit nötig wäre; jedmfalls dürstm die meisten Erzieher jetzt darüber einig sein, daß die Trmnung der Geschlechter, soweit sie sich überhaupt durch­ führen läßt, weder für die Sittlichkeit im engeren Sinne, noch für die gute Sitte (den guten Ton) der Kinder besonders förderlich ist1). Das Bewußtsein der geschlechtlichen Verschiedenheit erwächst von selbst in völlig harmloser Weise, und es ist am testen, wmn sich der Erzieher da mit besonderem Hinweis oder gar mit Ge­ heimniskrämerei gar nicht eindrängt. Bekannt ist auch jene leise

Abneigung der Geschlechter voreinander etwa vom achtm bis zum fünfzchntm Jahre; Knabm ist es „zu dumm", mit Mädchen zu spielen — und dm Mädchen sind die Jungm zu flegelhast, zu roh. Soweit da nicht ein schon eben kurz gerügter Erziehungsfehler vor­ liegt, der ein Geschlecht als „das bessere" hervorgehobm, sollte man nicht dagegm einschreitm; es ist weiter nichts als das bekannter gleich und gleich gesellt sich gern. Mit der Reifezeit spätestens

x) Vergl. Jean Paul, Levana: Werke (Hempelsche Ausgabe) 57. Tl., S. 255. „Mischt die Geschlechter, um sie aufzuheben; denn zwei Knaben werdm zwölf Mädchm oder zwei Mädchm werdm zwölf Knabm recht gut gegm alle Winke, Redm und Unschicklichkeitm gerade durch die vorlaufmde Morgenröte des erwachenden Triebes, durch die Schamröte beschirmen und beschränken."

28 tritt auch hier die Pflicht an die Eltern heran, den Kindern die volle Wahrheit über diese Verhältniffe mitzuteilen und das »keusch und züchtig leben in Worten und Werken* als ein Gebot der Ge­ sundheitspflege, der menschlichen (jugendlichen) Würde und als «Sittengebot einzuschärfen. Die Naturgeschichtsstunde der Schule hat dann schon vorgearbeitet. Der Lehrer darf bei der Besprechung des menschlichen Körpers freilich nicht, wie leider viele Schulbücher in Bild und Wort es tun, ein geschlechtsloses Einzelwesen zugrunde legen, sondern er sollte die vorzügliche Gelegenheit, den Kindern das Beispiel einer rein wissenschaftlichen Behandlung der Geschlechts­ unterschiede zu geben, nicht unbenutzt lassen, der Lehrer vor Knaben, die Lehrerin vor Mädchm. Während es nun hier nichts mehr zu verhüllen gibt, mußte in der elften Kindheitszeit zwar die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit gesagt werden. Den ersten Anstoß gibt stets das „geboren werden*. Daß weder die Storchfabel*), noch auch die religiös gefärbte Mitteilung: „die Engelchm hätten das Kind gebracht*, zulässig ist, liegt aus der Hand. Der Storch bringt nur solchen Kindern Geschwister, die überhaupt noch gar nicht fragen und die Ankunft eines neuen Brüderchens als einfache Tatsache hinnehmen — die Bemühung der Englein aber ist nicht jedermanns Sache. In der Tat verwickelt jedes noch so gut gemeinte Märchen die Urheber in die betrübende Lage, Einzelheiten hinzulügen zu müssen; denn von einfachem Märchenerzählen ist ja schon deshalb keine Rede, weil eine wirkliche Tatsache: die Krankheit der Mutter und die Erscheinung des Neugeborenen er« klärt werden soll. Daher die jammervoll ungeschickte Ausrede von der Bissigkeit des Storches, die Verlegenheit der Dienstboten und Pflegerinnen bei den unvermeidlichen kleinen Enthüllungen des Krankenzimmers; daß aber Engelchen so ungeschickt sein sollten wie der Storch, nicht schenkm zu können, ohne zu verletzen, geht auch einem Kindskopfe nicht leicht ein. Und doch hat schon vor neunzig Jahren ein Dichter, der gewiß nicht so leicht in den Verdacht der x) Unbegreiflicherweise findet diese selbst bei einem Manne Ver­ teidigung, der sich sonst so liebevoll, wie wenige, in das Empfindungsleben des Kindes versetzt hat, bei Prey er, a. a. O. S. 413. „Das einzige Märchen, an das ich meinen Knaben fest glauben laffe, ist der Storch, welcher die Kinder bringt, und was damit zusammenhängt/'

29 Gemütsroheit geraten wird, Jean Paul Fr. Richter, zur Zeit der Sentimentalität die richtige Antwort gegeben: „Womit ist dem fragenden Kinde zu antworten? — Mit so­ viel Wahrheit, als es begehrt: ,wie das Käfer-Würmchen in der Nuß, so wächst das Mensch-Würmchen in der Mutter Leib von chrem Blut und Fleisch; daher wird sie krank usw. Da Kinder uns zehnmal weniger verstehen, als wir glauben, und gleich dem Erwachsenen tausendmal weniger nach der letzten Ursache, sobald sie die vorletzte rotffen, umfragen, als einige bei beiden vorausfetzen: so wird das Kind vielleicht erst nach Jahren wieder vorfragen: woher aber das kleine Menschlein? Antwortet: ,vom lieben Gott, wenn die Menschen einander geheiratet haben und nebeneinander schlafen/ Mehr missen auch wir erwachsenen Philosophen von der ganzen Sache nicht." . . . Jean Paul hat Unglück mit seiner Weisung gehabt, wenigstens haben ihm die Mütter der Empfindsamkeits- und der romantischen Gefühlsperiode meines Wissms die Gefolgschaft verweigert. Viel­ leicht weil er, der große Bilderkünstler, diesmal,sich entschieden un­ glücklich in seinem Bilde vergriffen hatte. Für ein „Käser-Würm­ chen", für die Made oder Larve sollte die Mutter ihr Kind aus­ geben? Der hellige Werdevorgang im Mutterleibe sollte nicht mehr sein, als ein Krankheitsprozeß, dessen Ende eine taube Nuß? Das war zuviel verlangt. Aber was hindert uns, den richtigen Ge­ danken glücklicher einzukleiden? Selbst wenn wir, wie Jean Paul rät, die Vergleichung mit dm Tierm aufs ängstlichste meiden wollten, so bleibt uns doch immer die Pflanzenwelt. Das kleine Keimfähnchm in der Bohne, der Erbse, mtdeckt das Kind leicht, und wenn wir chm nun sagm, das kleine Brüderchm sei bei Mama gerade so geschützt und heimlich aufgewachsen wie hier der zarte Keimsproß in der bergendm Hülle, es nehme seine erste Nahrung von Mama, wie dort das winzige Pflänzchm aus dm Keimblättern sich nähre und wachse, so glaube ich weder, daß die Antwort sachlich falsch sei, noch, daß sie dem Kinde zuviel oder zuwmig sage. Dasi so wenig wie der Todeskampf des Sterbmdm, so wmig auch der Geburts- oder Zeugungsakt in den Gesichtskreis des Kindes gehürm, ist selbstverständlich. Dagegm ließe sich das allm Kindern wohl­ bekannte Ei sehr wohl zur Belehrung im gleichm Sinne verwertm,

wenn jemandem die Pflanzenwelt zu unlebendig erschime; wissm

30 -och die Kinder, daß aus Eiern, wenn deren Mama ihnen Wärme gibt, Hühnchen werden. Nun, hier ist der Vorgang ganz ins Innere verlegt; Brüderchen steckte zuerst in einem kleinwinzigen Ei Lei Mama, das man noch gar nicht sehm konnte, und nun ist es im Schoße der Mama gewachsen, gewachsen, bis es endlich so groß war, daß ste es neben sich legen konnte. Wird weitergefragt: wie denn das Kindchen herauskomme? so antworte man ruhig: Ist das flehte, zusammengekauerte Kindchen so weit, daß es Lust und Licht vertragen kann, dann bildet sich eine Öffnung, die gerade groß ge­

nug ist, es durchzulassen. Aber die Wunde verheilt wieder völlig, wenn die Mama sich ganz still verhält. — (Meine neunjährige Tochter erwiderte diese Belehrung durch eine stürmische Umarmung der Mutter mit den Worten: „Wie furchtbar dankbar müssen wir dir sein!") — Aber das hat Mama natürlich tüchtig angegriffen, denn ein Brüderchen ist viel schwerer als ein Hühnchen — und so muß sie jetzt schön Ruhe habens. Warum unterschlägt die bisher x) Vergl. a. Gmil F. Rüdebusch, Freie Menschen in der Liebe und Ehe, Magville, Wisconsin. „Nirgends zeigt sich mehr die Roheit und Gemeinheit unserer jet­ zigen Moral, als in der Art und Weise, wie die Menschen, hauptsäch­ lich die Jugend, die Mutterschaft ansehen und behandeln. Man ver­ gegenwärtige sich nur die demütigende Stellung der werdenden Mutter ihrem achtjährigen Sohne gegenüber! Der Junge hat zufällig von einem zu erwartenden Zuwachs zur Familie gehört. Er ftagt die Mutter. Sie wird verlegen, ste kann nicht recht ausweichen, und bindet ihm dann irgendein albernes Märchen auf von dem Storche, der die Kinder aus dem Teiche fischt oder dergl — Er gibt stch zufrieden, bis einmal ein frühreifer Straßenjunge ihn in geheimnisvoller Dämmer­ stunde, in irgendeinem stcheren Verstecke, aufllärt über so verschiedene schaurige Geheimnisse: was die Menschen für häßliche, schmutzige Sachen anstellen, wo die Kinder Herkommen, wie ste gemacht werden, was auch die eigene Mutter „getan" haben muß!! — Letzteres kann er noch nicht recht glauben, Hause angekommen, stellt er wieder einige seiner verfänglichen Fragen, — und da bemerkt er ganz deutlich, daß die Mutter sehr verlegen wird! — Sie wird rot, ste schämt sich, es ist also wahr! — Ihre Mahnung, daß ein Junge nicht nach so etwas ftagen, von so etwas sprechen sollte, läßt ihn sehr kühl. — Er ist jetzt kein dummer Junge mehr, dem man solche Storch­ geschichten aufbinden kann! — Spöttisch lächelnd wendet er stch ab, trotzig, mit überlegener Miene trollt er ab. Er ist jetzt hinter die Schliche der Menschen gekommen! . . . Nein, er hat jetzt dm ersten

31 Äbliche Fabel dem Kinde die herrliche Tatsache, daß seine'Mutter -ihm auch nach der Geburt noch Leben und Nahrung gegeben, daß

es an ihrer Brust groß geworden, daß ihre Säfte seine Säfte find?

Hat doch das Christentum das Bild der stillenden Mutter zur Ver­ körperung der schönsten und edelsten Liebe gemacht!

Es käme dann zweitens die unbequeme Frage: Was ist das:

heiraten? mit ihrem großen Kometenschwanz aus derselben Unwissen­ heit heraus geborener Fragen.

Ihre Beantwortung kann geradezu

als Probe dafür dienen, ob erzieherisches Feingefühl vorhanden ist

oder nicht.

Jean Paul legt den Nachdruck aus das „Zusammen

schlafen" und vermerkt doch, als gewissenhafter Geschichtensammler

gleichzeitig die verbürgte Tatsache, wie ein Knabe,

der (jedenfalls

durch Bibellesen) von der Sünde gehört hat, bei einem Weibe zu schlafen, vor Angst kein Auge zugetan habe, als es einmal bei der

Amme hätte schlafen müssen.

Das hätte ihn stutzig machen sollen.

Eine halbe Unwahrheit, die sofort schlechte Frucht trägt!

Warum

aber die Vertraulichkeit des Schlafzimmers überhaupt vor dem

Kinde ausbreiten?

Genügt es nicht zu sagen:

Wenn ein Mann

und eine Frau fich so herzlich lieben, daß sie ihr ganzes Leben lang beieinander bleiben und alles miteinander teilen wollen, dann

heiraten sie, nehmen zusammen eine Wohnung und leben völlig gegroßen Schritt getan zur Welt- und Menschenverachtung, und kein Predigen der christlichen Nächstenliebe kann dieses Gefühl auslöschen Betrachten wir uns nun ein anderes Bild: die künftige Mutter ruft ihren achtjährigen Sohn zu sich heran. Stürmisch dringt er auf ste ein, aber mit stolzem, glücklichem Lächeln wehrt ste ihn ab und macht ihn daraus aufmerksam, daß er ste nun etwas sanfter anfassen müsse. Sie erklärt ihm dann, wie ein Keines Brüderchen oder Schwester­ chen in ihrem Körper entstanden ist, wie es jetzt noch so ganz, ganz Kein ist, wie sie es von ihrem eigenen Blute ernähren muß, damit es fich weiter entwickelt, immer größer wird, bis sie es unter großen Schmerzen der Wett übergibt, so daß ste alle ihre Freude daran haben könnm, wie ste es dann auch noch ernähren muß an und von ihrem Körper, wie auch ihr großes Bübchen so aus ihr entstanden ist usw. — und ich frage euch: welchem Jungen, dem ihr die Sache nicht grund­ sätzlich mit Schmutz beworfen habt, würde dies nicht schöner und er­ habener erscheinen, als das schönste Märchen, das ihr darüber erdichten könntet? — Welche andere Gefühle sollten ihm dabei kommen, als die, stolz zu sein auf sein liebes, tapferes Mütterchen, das soviel für ihn ge­ tan, das noch soviel erdulden muß, um ihm einen kleinen Spiellameraden es Himmelsherrn wäre. Bis unsere Wetterkunde aber soweit ist, diese gerechte Verteilung zu verbürgen, wird man wohltun, die Gießkannen beizubehalten. Nun sind ja die Zeiten, da man das Kind mit dem Pfennig direkt zum Bettler schickte, dahin; die ganze Liebestätigkeit hat sich heute im Vereinswesen eine Gliederung geschaffen, unzureichend, gewiß, aber besser als keine. Dadurch ist die persönliche Berührung mit den Hilfesuchenden zum Teil eingeschränkt worden, wenn auch um den Preis einer gerechterm und verständigeren Hilfeleistung; um: allem aber ist der Kreis der Betätigung, an diesem Liebes­

merke für Kinder sehr verengert worden. Eine verständige Mutter wird freilich auch so die Teilnahme ihrer Kinder für diese Art der Nächstenliebe zu wecken verstehen, sei es nun, daß sie sich auf ihrm Gängen in die Hütten der Armut von ihnen begleiten läßt, oder daß sie von dem, was sie gesehen, erzählt; ja sie wird vielleicht, obwohl Mitglied des Vereins gegen Verarmung und Bettelei, ein­ mal ein Auge zudrücken, wmn das Kind, dem die verständige Überlegung ja noch fern liegt, aus Mitleid dem eigenen Spar-

täpschen ein Almosen entnimmt und persönlich spendet; Hilfe, von Kinderhand gespendet, beschämt den Nehmer weniger und nützt sicher dem Geber. Sie wird aber auch keine Gelegenheit unbenutzt lassen, dem Kinde das verständige Geben zu lehren und das ungeregelte Miüeid in die Zucht der Überlegung zu nehmen. Wir kommen zu Täusch und Verkauf. Meines Erachtens dürfm Kinder ihr Eigentum nur unter einer Bedingung tauschen oder verkaufen, nämlich unter der, daß sie keinen Gewinn dabei machen, oder auch nur erwarten. Ein gewinngieriges, ein berechnendes Kind ist ein-Greuel. Bei den meisten derartiger Tausch- und Kauf­ geschäfte unter dm Kindern ist die Frage: Wm täuscht man da (absichtlich oder unabsichüich)? berechtigt. Darum würde ich allm Handel bedingungslos aus der Kinderstube verbannen, wäre nicht noch der erzieherisch hochwichtige Sammeltrieb da, der wmigstens dm Tauschverkehr fordert. Daß die Kinder untereinander Muscheln,

Pflanzen, Schmetterlinge und Käfer für ihre Sammlungen aus-

104 tauschen, ja Briefmarken, Ansichtskarten, Bilder u. dgl., scheint mir im allgemeinen unbedenklich; hier steht nämlich LiÄhaberwert gegen Liebhaberwert und ein wirllicher Marktpreis besteht entweder nicht oder bleibt doch dem Kinde eher unbekannt. Insofern kann man wohl von einem Tausch- 'und Handelsverkehr ohne eigentlichm Nutzen sprechen; beide Teile müssen sich als Gewinnende fühlen, und natürlich ist jede absichtliche Täuschung über dm Seltenheitswert einer