Erinnerung, Spur und Raum: Geohistorisches Spurenlesen entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien 3515131728, 9783515131728

Sie umgeben uns immer und überall: Spuren. Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit bleiben sie zumeist unbemerkt und stumm. Ob al

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German Pages 312 [314] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
2 Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte
3 Spuren, Spurensuche, Spurenlesen
3.1 Alltäglichkeit von Spuren und Spurenlesen
3.2 Wissenschaftlichkeit von Spuren und Spurenlesen
3.3 Spuren-Axiome
3.3.1 Spuren als unabsichtliche Hinterlassenschaften
3.3.2 Spuren als materielle Relikte
3.3.3 Spuren als präsent Absentes
3.3.4 Spuren(lesen) als Mittel der Orientierung
3.3.5 Spuren als Anzeichen gestörter Ordnungen
3.3.6 Spuren durch Spurenlesen
3.3.7 Narrative, interpretative und polyseme Konstitution von Spuren
3.3.8 Spuren als Zeitenbrecher
3.3.9 Spuren als eindimensionale und unumkehrbare Wirklichkeiten
3.3.10 Medialität, Heteronomie und Passivität von Spuren
3.4 Was also ist eine Spur und was heißt Spurenlesen?
4 Geographie, Geschichte und Spurenlesen
4.1 Geographiegeschichtliche Wegleitungen zum Spurenlesen
4.2 Geohistorisches Spurenlesen – konzeptioneller Rahmen
4.2.1 Die Spur als Handlungsspur
4.2.2 Spurenlese(r)typen
4.2.3 Spuren(lese)logik: dem Spurenleser beim Spurenlesen folgen
4.3 Geohistorische Rahmung des Spurenlesens
4.3.1 Räumlich-geographische Dimension des Spurenlesens
4.3.2 Zeitlich-historische Dimension des Spurenlesens
4.4 Zur raumzeitlichen Dialektik des geohistorischen Spurenlesens
5 Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?
5.1 Spurenlesen als abduktives Erschließen
5.2 Spurenlesen als Lesen und Lesen-Lassen
5.3 Spurenerkundungen in materieller und sinnhafter Leserichtung
5.3.1 Körperlich-materieller Nachvollzug von Spuren und Spurenlesern
5.3.2 Sinnhafter Nachvollzug von Spuren und Spurenlesern
5.3.3 Geohistorisches Spurenlesen als materielles wie sinnbezogenes Lesen(-Lassen)
6 DDR-Erinnerung: Figurationen eines Gedächtnisgegenstandes
7 Spurenlesen entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien
8 Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien
8.1 Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Eva Apitz
8.2 Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Karl Westhäuser
9 Geohistorisches Spurenlesen in reflexiver Schleife
10 Wozu Erinnerungen, Spuren und Räume geohistorisch lesen?
Literatur
Interviewdokumente
Transkriptionszeichen
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Erinnerung, Spur und Raum: Geohistorisches Spurenlesen entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien
 3515131728, 9783515131728

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Ralf Leipold

Erinnerung, Spur und Raum Geohistorisches Spurenlesen entlang erinnerter DDR­Grenzgeographien

Sozialgeographische Bibliothek Band 22 Franz Steiner Verlag

Sozialgeographische Bibliothek Herausgegeben von Benno Werlen Wissenschaftlicher Beirat: Matthew Hannah / Peter Meusburger † / Peter Weichhart Band 22

Ralf Leipold

ERINNERUNG, SPUR UND RAUM Geohistorisches Spurenlesen entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Spuren. Gestaltung und © Marcel Franz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Druckerei Steinmeier GmbH & Co. KG, Deiningen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13172-8 (Print) ISBN 978-3-515-13173-5 (E-Book)

Inhalt

Vorwort (von Ulrike Jureit)

7

1

Einleitung

9

2

Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

13

3

Spuren, Spurensuche, Spurenlesen

40

3.1 3.2 3.3 3.4

40 42 48 72

4

Alltäglichkeit von Spuren und Spurenlesen Wissenschaftlichkeit von Spuren und Spurenlesen Spuren-Axiome Was also ist eine Spur und was heißt Spurenlesen?

Geographie, Geschichte und Spurenlesen 4.1 4.2 4.3 4.4

79

Geographiegeschichtliche Wegleitungen zum Spurenlesen Geohistorisches Spurenlesen – konzeptioneller Rahmen Geohistorische Rahmung des Spurenlesens Zur raumzeitlichen Dialektik des geohistorischen Spurenlesens

79 88 112 153

Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?

159

5.1 Spurenlesen als abduktives Erschließen 5.2 Spurenlesen als Lesen und Lesen-Lassen 5.3 Spurenerkundungen in materieller und sinnhafter Leserichtung

159 164 166

6

DDR-Erinnerung: Figurationen eines Gedächtnisgegenstandes

185

7

Spurenlesen entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien

200

8

Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien

213

8.1 Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Eva Apitz 8.2 Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Karl Westhäuser

213 238

5

6

9

Inhalt

Geohistorisches Spurenlesen in reflexiver Schleife

262

10 Wozu Erinnerungen, Spuren und Räume geohistorisch lesen?

270

Literatur

278

Interviewdokumente

311

Transkriptionszeichen

312

Vorwort

Der wissenschaftliche Dialog zwischen Geschichtswissenschaft und Geographie ist bereits seit Längerem nicht frei von Kontroversen, manche sprechen sogar von zerrütteten Verhältnissen. Mit der Wiederentdeckung der Kategorie Raum in den Geisteswissenschaften regte sich Kritik an dem vor allem von Soziologen/innen und Historikern/innen ausgerufenen Spatial Turn. Das ahnungslose Gerede vom Raum an sich reproduziere altgeographische Wissensbestände, die in der Humangeographie nach schweren internen Gefechten endlich überwunden schienen. Bei ihrem Frontalangriff kennen die zu Sozialwissenschaftlern konvertierten Geographen keine Verwandten: Nicht nur die Raumsoziologie wird wegen ihres vermeintlich ontologisierenden Zugriffs als trivial demontiert, auch wer im Raume die Zeit lesen wolle, rekurriere auf eine unmittelbar-anschaulich gegebene und als solche erfassbare Raumtotalität, wie sie einst die deutsche Landschaftsgeographie mit ihrer üppigen Raummetaphorik beschworen habe. Die Empfehlung an alle aufgeklärten Raumspezialisten, über die grassierende Euphorie in den Nachbardisziplinen nicht länger verärgert zu sein, sondern sich an ihr wie ein Kunstkenner an der naiven Malerei zu erfreuen, trug verständlicherweise wenig zur Entschärfung des Konfliktes bei. Haben sich Geographie und Geschichtswissenschaft tatsächlich nichts mehr zu sagen, wenn es um räumliche Bedingungen des Da-Seins in der Welt geht? Bekanntermaßen ist es nicht Sinn und Zweck wissenschaftlicher Forschung, disziplinübergreifend Einigkeit über ihre Gegenstände herzustellen. Vielmehr gehört es zu ihren Grundprinzipien, die eigenen Erkenntnisse systematisch anzuzweifeln und sie (fach-)öffentlich zur Diskussion zu stellen. Für einen konstruktiven Dialog der beteiligten Disziplinen scheint es gleichwohl unabdingbar, dass sich Sozial-, Kulturund Geschichtswissenschaftler/innen nicht länger aus der theoretischen Mottenkiste ihrer Nachbardisziplinen bedienen, sondern ihre und andere Raumkonzepte konsequent historisieren. Ein theoriegeleitetes Beobachten von Raumproduktionen zielt nicht nur darauf, essentialistische Raumbilder beharrlich zu dekonstruieren, sondern es gilt zudem, ihre Entstehungsbedingungen, Überlieferungswege und Wirkmechanismen als kulturelle Aneignungsprozesse offenzulegen. Making geography beschreibt eine interdisziplinäre Forschungsperspektive, die unser In-derWelt-Sein nicht als soziale Gegebenheit versteht, sondern seine raumzeitlichen Bezüge durch soziale Praktiken hergestellt sieht. Die Herausforderung besteht darin,

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Vorwort

Konzepte zu entwickeln, mit denen sich Praktiken gegenwärtiger wie historischer Raumproduktionen als kulturelle Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen untersuchen lassen, ohne die unterschiedlichen fachlichen Wissens- und Theoriebestände gegeneinander auszuspielen. Ralf Leipold hat sich dieser Aufgabe in bemerkenswerter Weise angenommen. Sein Konzept des geohistorischen Spurenlesens rekurriert auf Reinhart Kosellecks Grundsatz, dass Raum jeder nur denkbaren Geschichte metahistorisch vorausgehe, gleichzeitig aber selbst historisierbar sei, weil er sich sozial, ökonomisch und politisch verändere, und somit grundsätzlich zu den Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte zähle. Zudem greift Leipold auf Carlo Ginzburgs Spuren- und Indizienparadigma zurück und verklammert beide Forschungsperspektiven zu einem Ansatz, mit dem Spuren nicht nur als übriggebliebene Reste einer nicht mehr gelebten Zeit, sondern zudem als epistemische Dinge, als epistemologische Wissens- und Deutungsweisen (S. 271) verstanden werden. Spuren bezeugen oder übermitteln nicht etwas durch sich oder an sich; sie stehen eher für die Präsenz der Absenz von etwas, insofern sie einmal unabsichtlich in der (vornehmlich) materiellen Welt hinterlassen, einer intuitiven wie klugen Spurenlese wie auch eines findigen Spurenlesers bedürfen, um sie aus ihrer präsent-absenten Verborgenheit herauszuholen und, abhängig von der jeweiligen Leserichtung, interpretativ-verstehend erschließen zu können (S. 72f.). Spurenlesen als sozial-kulturelle Praxis nimmt nicht nur die Spur als materiellen Überrest mikroanalytisch in den Blick, sondern bezieht das Spurenlesen als Handlungsgeschehen und somit auch den Spurenleser als Akteur explizit mit ein. Ralf Leipold verortet seinen Ansatz damit in einer handlungstheoretisch orientierten Sozialgeographie, die er in ihren räumlich-geographischen wie auch zeitlich-historischen Dimensionen ganz im Sinne der angestrebten Disziplinverständigung miteinander ins Gespräch zu bringen sucht. Spurenlesen als Kulturund Deutungstechnik erweist sich in dieser Logik als eine spezifische Variante subjekt- und handlungsbezogener Raum- und Zeitbindungen und steht damit für eine gegenwärtig-historische Form der Welt-Aneignung. Leipolds methodischer Zugriff verbleibt indes nicht im Abstrakten, sondern wird als exemplarische Feldforschung entlang erinnerter DDR-Grenzgeographien empirisch durchgespielt. Dass sich das Spurenlesen als geschichtskultureller Anwendungsfall bewährt, überrascht indes nicht, schließlich verweist bereits jedes autobiographische Erinnern auf die Interdependenzen seiner gegenwärtigen wie historischen Bedingungen. Spurenlesen steht für ein Konzept, das die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Geschichte anhand materieller Spuren offenlegt und gleichzeitig Kosellecks viel zitiertes Paradigma der Zeitschicht nicht nur temporal, sondern auch materiell wie räumlich auslotet. Dass der Dialog zwischen Geographie und Geschichtswissenschaft davon profitiert, steht außer Frage, es wäre zudem ebenso wünschenswert wie ergiebig, wenn sich derlei Anstrengungen vergleichbar kompetent auch für andere Herausforderungen des historisch-geographischen Miteinanders fortschreiben ließen. Ulrike Jureit

Hamburg, im März 2020

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Einleitung

»Man ahnt sie immer noch: die deutsch-deutsche Grenze zwischen Thüringen und Franken. Nüchtern zieht sich die Linie durchs Land. Die Zeit tut, was sie kann, sie vergeht und mit ihr ihre Zeichen.« Mit diesen Zeilen beginnt eine im Jahre 2019 ausgestrahlte Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks Miteinander grenzenlos in Thüringen und Franken. Während des gesprochenen Textes eröffnet sich dem Zuschauer 1 aus der Vogelperspektive schauend, der Blick auf eine Landschaft, der so noch ein paar Jahrzehnte zuvor für viele Menschen undenkbar schien. Bildete doch diese Landschaft in ihrer ganzen Ausdehnung den geographischen Rahmen, auf dem der Kalte Krieg, die Legitimation der DDR und die Abgrenzung zum Anderen, dem sogenannten Klassenfeind alles in allem gründeten. Die ehemalige deutsch-deutsche Teilung, die sich an diesem und an anderen Grenzorten zementierte, hat heute vor allem als Grünes Band, als Lebenslinie (BUND 2019) überdauert. Eine Linie, entlang derer man nicht nur das Einschneidende der Geschichte, sondern vor allem eine ortsbezogene Biodiversität offenbart bekommt, die die Geschichte der Zweistaatlichkeit Deutschlands unfreiwillig hervorgebracht hat. Obwohl die DDR in den Nachwendejahren in ihren äußeren wie inneren Grenzregimen weitestgehend beseitigt wurde, insofern viele Orte, Infrastrukturen, Institutionen, Gebäude oder Alltagsobjekte von heute auf morgen verschwanden bzw. obsolet wurden, zählen Orte, wie das Grüne Band, doch noch zu den offensichtlicheren Zeichen des ehemals Bestehenden. Dagegen gibt es eine Vielzahl von Relikten der Grenze, die nicht derart augenscheinlich zutage treten, allzumal sie weniger Gegenstand von Konservierungsbemühungen, TV-Dokumentationen, Ausstellungen oder Gedenkveranstaltungen sind. Es sind die Grenzen der Trennung, deren Ende und Nachgeschichte, die auf viel subtileren Ebenen, fernab des Bewahren-Wollens, des immer wiederkehrenden Gedenkens und medialen Sich-Rückerinnerns, ihre Spuren hinterlassen haben. Da wären zum einen die durch die Teilung 1

Im Folgenden ist bei personen- sowie gruppenbezogenen Bezeichnungen immer sowohl das männliche wie auch weibliche Geschlecht gleichermaßen miteingeschlossen. Für dieses Vorgehen wurde sich aus Gründen der besseren Lesbarkeit entschieden.

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Einleitung

gezeitigten innergesellschaftlichen Grenzziehungen sowie deren postwendenden Aufarbeitungsbemühungen, welche nicht nur zwischen den alten und neuen Bundesländern, sondern vor allem auch innerhalb von Familien oder Stadt- und Dorfgemeinschaften Risse im Zwischenmenschlichen nach sich gezogen haben. In diesem Zusammenhang sind ferner die unzähligen biographischen Brüche selbst zu sehen, welche durch unterschiedliche Grenz- und Umbruchserfahrungen viele Lebensläufe ermöglicht, erschwert oder verunmöglicht haben, was nicht zuletzt für Einzelne die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte bis heute immer wieder vor Herausforderungen stellt. Hier sind zum anderen aber auch verwaiste Orte, wie z.B. stillgelegte Militäranlagen oder Industriebrachen (sogenannte lost places) zu sehen, die ein größtenteils verborgenes Dasein fristen und die als stille Zeugen einen Fingerzeig auf den abrupten Strukturwandel und Bedeutungsverlust von bestimmten Standorten infolge der Jahre 1989/90 geben. Derart hat die Vergangenheit aber auch Spuren im Alltäglichen hinterlassen, wie z.B. das bewusste oder unbewusste Benutzen DDR-bezogener Wortschöpfungen (z.B. Kollektiv, Datsche, Kosmonaut) oder aber auch das Rekurrieren auf bestimmte soziale Praktiken (Protest-, Wahlverhalten, Gemeinschaftssinn, Selbermachen, etc.) deutlich machen. In den letzten Jahren ist ein zunehmender Trend zu verzeichnen, diesen im Verborgenen gründenden Überbleibseln der DDR, die lange als Leerstellen unbewusst orts- und zeitbezogen zutage traten, ins Licht der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Überraschenderweise verknüpft sich mit dieser Aufmerksamkeitsverschiebung zugleich der Eindruck, dass diese Leerstellen im Hinblick auf die DDR/Grenze und deren Nachgeschichte(n) noch nicht in Gänze untersucht, erzählt denn umfassend dargestellt wurden. So zeigt sich heute, dass viele Spuren jener vergangenen Gegenwart noch im Bereich des Verborgenen schlummern. Im Folgenden soll es darum gehen, diesen Leerstellen auf die Spur zu kommen. Vielmehr gilt es genauer auszuloten, wie es gelingen kann, solche ortsbezogenen Spuren – geographisch wie historisch besehen – in den Blick zu bekommen. Zu diesem Zweck wird im Laufe des Buches schrittweise ein konzeptioneller Rahmen entwickelt und vorgestellt, mit dem es möglich scheint, diesen Spuren – theoretisch wie empirisch – in ihren räumlichen wie zeitlich-historischen Schattierungen gleichermaßen nachkommen zu können. Zum Aufbau des Buches: Entsprechend der Titelgebung »Erinnerung, Spur und Raum« setzt sich die nachfolgende Darstellung im Wesentlichen aus drei größeren Themenblöcken zusammen. Entgegengesetzt zur obigen Begriffsreihung wird es im ersten größeren Themenblock (KAPITEL 2) um Raum, mehr noch um disziplinäre Raumansichten gehen. In diesem Teil richtet sich der Fokus auf die zeitgenössische Raumdebatte, wie sie im Gefolge verschiedener raumtheoretischer Wendungen (spatial turns) bereits zu einigen Neuorientierungen und Kontroversen in der Wissenschaftslandschaft geführt hat. Jene Wendungen haben nicht nur Geographinnen und Geographen neuerlich darüber nachdenken lassen, was und wie Raum und Raumforschung sein kann, sondern auch viele Sozial- und Kulturwissenschaften (darunter auch die Geschichtswissenschaft) dazu gebracht, sich neu bzw. erneut Räumen und Raumfragen zuzuwenden. Der spezifische Ausgangspunkt der nachfolgenden Arbeit liegt in einer Raumfrage begründet, wie sie sich

Einleitung

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im deutschsprachigen Diskurs insbesondere zwischen einer neueren Sozial- und Kulturgeographie einerseits und einer stärker raumorientierteren Geschichtswissenschaft andererseits aufgetan hat, und zwar: Wie kann es gelingen, aus Räumen bzw. räumlich gebundenen Bedingungen des Lebens Zeitliches bzw. Historisches herauszulesen? Ausgehend von dieser Problemlage, versteht sich die hier vorliegende Arbeit als ein Beitrag zur Konvergenz von Geographie und Geschichte. In diesem Sinne fungiert der zweite größere Themenblock als ein Verbindungspunkt, welcher die konfligierenden geographischen und historischen Ansichten darüber, wie man im Raum die Zeit lesen kann, (wieder) in Einklang zueinander zu bringen verspricht. Zu diesem Zweck gelangt der Topos der Spur und des Spurenlesens, wie er in den letzten Jahren durch ein Indizienparadigma zu gewisser Bekanntheit gelangt ist, mit KAPITEL 3 sukzessive in den Mittelpunkt der Betrachtung. Mit der eigenen Inblicknahme von Spuren soll schließlich ein heuristisches Instrumentarium verfügbar gemacht werden, das von geographischen wie auch geschichtswissenschaftlichen Forschungen gleichermaßen genutzt werden kann. Was Spuren und das Lesen von Spuren mit Geographie und Geschichte gemein haben und wie beides zur Versöhnung unterschiedlicher Raumansichten jeweils seinen Beitrag leisten kann, ist Gegenstand und zugleich Auftrag von KAPITEL 4. Unter Rekurs auf spuren-, geographie- und geschichtstheoretische Wissenschaftsdiskurse wird hier das der eigenen Darstellung zugrunde liegende Konzept des geohistorischen Spurenlesens schrittweise entwickelt und hinsichtlich der Frage, wie es selbst raum- und zeitbezogen theoretisiert werden kann, genauer ausbuchstabiert. Wie die terminologisch-konzeptionelle Verbindung von Geographie, Spur und Geschichte in eine angewandte Forschung überführt werden kann, ist schließlich zentraler Bestandteil des dritten und letzten Themenblocks. In KAPITEL 5 wird es zunächst darum gehen, die Frage nach der forschungstechnischen Übersetzung eines geohistorischen Spurenlesens, von der Theorie zur Empirie blickend, zu stellen und im Rahmen einer methodologischen Diskussion auch in ersten Schritten zu beantworten. In den darauffolgenden KAPITELN 6, 7 und 8 findet das geohistorische Spurenlesen Eingang in eine explorativ angelegte Feldforschung, innerhalb derer das zuvor konzeptionalisierte und methodisierte Spurenlesen mit Blick auf den dargelegten Untersuchungsgegenstand (DDR-Grenzerinnerungen) exemplarisch erprobt werden soll. Unter Bezugnahme auf Arbeiten und Befunde einer kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung soll hier der Ausgangspunkt zu einer sozialgeographischen Beschäftigung mit individuellen Lebensgeschichten vor- und eingeschlagen werden. Ins Zentrum des Interesses rücken dabei nicht nur die besondere Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Spur, sondern vor allem der Spurenleser als erinnernder Orts- und Zeitzeuge. Wie Spuren der Vergangenheit an Orten überdauern, wie Orte diese Spuren für die Geschichte und deren Akteure im Wechselspiel von Erinnerung und Vergessen verfügbar halten und welche Rolle hier das Suchen von Spuren im Hinblick auf Formen lebensgeschichtlicher Selbstvergewisserung spielt, sind allesamt Fragen, die in diesem Zusammengang gestellt werden. Vor diesem Hintergrund wird anhand zweier ausgewählter Grenzbiographien zu zeigen sein, welche raumzeitlichen Erinnerungsspuren die deutsche Teilung bis heute in der alltäglichen Gedächtnispraxis einzelner Geschichtsakteure hinterlassen

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Einleitung

hat. Im KAPITEL 9 soll es schlussendlich darum gehen, die sowohl wissenschaftstheoretisch motivierten wie auch forschungspraktisch inspirierten Spurensuchen insgesamt einer Reflexion zuzuführen. Schlussendlich erfährt die gesamte Darstellung im KAPITEL 10 unter der Frage nach dem Wozu Erinnerungen, Spuren und Räume geohistorisch lesen? ihre finale Zusammenfassung sowie Beantwortung.

2

Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

»Zeit und Raum sind Grundkategorien des Lebens. Menschliche Existenz, gesellschaftliche und staatliche Strukturen sind nur durch beide Kategorien definierbar: durch zeitliche Einordnung und räumliche Verortung. Freilich kommt es darauf an, beide Begriffe miteinander in Beziehung zu setzen. Das gilt in besonderer Weise für das Bemühen um wissenschaftliche Erkenntnis. Geschichtswissenschaft und Geographie, jahrhundertelang eng einander verbunden, haben zu ihrem eigenen Schaden Kontakt miteinander verloren. Wenn aber eine so wichtige und notwendige Orientierung zueinander fehlt, stellen sich fast notwendigerweise Kurzschlüsse ein, wenn über den anderen Bereich geurteilt wird.« (SCHÖLLER 1989:73) Dass es die Geographie mit räumlichen Phänomenen zu tun hat, ist ein Allgemeinplatz, welcher vermeintlich keiner weiteren Erläuterung bedarf. Gleiches scheint für die Geschichte zu gelten, deren Aufgabe – so die weithin geteilte Ansicht – darin besteht, zeitliche Phänomene greif- und erklärbar zu machen. Konsequenterweise wurde der Nutzen der Geographie lange einzig und allein darin gesehen, sich (wie auch immer) mit Räumen zu beschäftigen, wie es auch für die Historiographie unumkehrbar schien, sich allein über die Auseinandersetzung mit vergangen Zeiten zu definieren. So singulär die fachspezifischen Zuständigkeiten derart jeweils erscheinen mögen, so plural sind die Beziehungsverhältnisse, welche von alters her zwischen beiden Fächern bestehen. Sucht man nach den Anfängen der Verehelichung von Geographie und Geschichte, dann bedarf es eines weiten zeitlichen Zurückgehens, bis hin in die sogenannte Alte Zeit, in der sie von antiken Gelehrten zuallererst erdacht und auch gedacht wurde (vgl. RATHMANN 2007). Ob in Herodots berühmten Historien (HAUSSIG 1955), als Zeugnisse erster Weltgeschichtsschreibung, oder Strabons Geographika (VON RADT 2001−2011), als erste umfassende kulturräumliche Erdzeichnung, in allen Werken ist ein dezidiertes Zusammendenken geographischer wie historischer Sachverhalte von Grund auf angelegt gewesen. Diese fachlichinhaltliche Nähe zwischen beiden Fächern lässt sich, einen Zeitsprung wagend,

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Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

schließlich bis ins 19. Jahrhundert hinein beobachten, zu einer Zeit als beide Disziplinen ihre wissenschaftliche Fundamentierung und Institutionalisierung erfuhren. Auf Seiten der Geschichte hatte sich seinerzeit Johann Gustav DROYSEN in seiner Historik für die Betrachtung von Zeit und Raum als zweier gleichberechtigter Formen der Anschauung (1868:16) ausgesprochen, da [a]lles, was im Raum ist, auch in der Zeit ist, und umgekehrt (1868:67). Jene, Immanuel KANTs ([1770]2006) gleichende Welt-Ansicht fand hierauf nicht nur ihren Fortbestand in den nachfolgenden Historikergenerationen, sondern wurde, wie prominent von Karl LAMPRECHT (1886) vorgemacht, ebenso zur Begründung sich räumlich ausdifferenzierender landes- und regionalgeschichtlicher Forschungsrichtungen genutzt: Denn was nützt dem Historiker für ein volles Verständnis des Vergangenen seine angebliche Beherrschung der Zeit, gebietet er nicht zugleich über die Herrschaft des Raumes? (LAMPRECHT 1912:132). Im Geiste ganz nahe standen jenen Denkweisen auch die Gründungsväter der wissenschaftlichen Geographie, Alexander v. HUMBOLDT und Carl RITTER. Beide pflegten nicht nur eine genuin geographische Erdkunde zu betreiben. Sie wussten ihre Erdbeschreibungen ebenso ins Verhältnis […] zur Geschichte des Menschen (RITTER 1817/1818) zu stellen, genauso wie sie ihren raumbezogenen Ansichten zur Natur (HUMBOLDT [1807]2008) stets auch geschichtliche folgen ließen. Ihre konzeptionelle Zuspitzung sollte die Zusammenschau geographischer und historischer Phänomene gleichwohl erst in der von Friedrich RATZEL Ende des 19. Jahrhunderts begründeten Anthropogeographie erfahren (vgl. RATZEL 1882), in der eine bereits etablierte Erdkunde noch mehr auf die Geschichte und historische Fragestellungen hin angewandt wurde – alles dem Ziel hin ausgerichtet: den räumlichen Gesetzen der Geschichte (RATZEL 1907: 23ff.) nachkommen zu können. Mit diesen vielfältigen wie engen Verzahnungen zwischen Geographie und Geschichte, wie sie im Denken der vorgestellten Geographen- und Historikerpersönlichkeiten zum Vorschein kamen, sollte gleichwohl vorerst ein gewisser Höhepunkt in der Beziehungshistorie 2 von Geographie und Geschichte erreicht sein. Die zuvor in aller Kürze dargebotene wissenschaftshistorische Verhältnisbeschreibung wirkt in Anbetracht des einleitenden Zitates geradezu harmonisch, was das genealogisch skizzierte Beziehungsbild zwischen Geographie und Geschichte, wenn nicht deplatziert, dann doch zumindest irritierend erscheinen lässt. Wird im Zitat Peter SCHÖLLERs, seines Zeichens ein Geograph, doch ein gänzlich anderes, mithin kontrastäres Bild gezeichnet, wonach die Beziehung zwischen beiden Fächern in eine Krise geraten ist und die alte Ehe denkbar zerrüttet scheint. Wie kommt es nun, dass SCHÖLLER meint, Geographie und Geschichte hätten zu ihrem eigenen Schaden Kontakt miteinander verloren? Und wie kann es sein, dass sich 2

Wenngleich die Historie selbst noch viele weitere Schauplätze der Verbindung beider Disziplinen zueinander parat halten würde; vgl. hierzu vonseiten der Geschichtswissenschaft die Darstellungen von RAPHAEL (2003) oder vonseiten der Geographie die umfangreichen Abhandlungen von SCHULTZ (1980, 2002). Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sich das Verhältnis zwischen Geographie und Geschichte in anderen räumlichen Kontexten, so bspw. in Frankreich, natürlich ganz anders zusammenlesen lassen könnte (vgl. RAU 2013:39−52).

Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

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der eine über den anderen kein begründetes Urteil mehr erlauben dürfe, alles nur zu kurz greife? Raum-Wenden Dass das SCHÖLLER-Zitat aus dem Jahre 1989 stammt, mag zunächst nur als eine bibliographische Randnotiz erscheinen. Besieht man es jedoch genauer, dann stellt dieses Jahr im Beziehungsgefüge von Geographie und Geschichte ein nicht unwesentliches Datum dar, insofern es das disziplinäre Verhältnis grundlegend verändern sollte. Dies ist nicht nur auf den Umstand zurückzuführen, dass in diesem Jahr Epochales geschah, wodurch sich der Status quo eines lang bestehenden Gestern und die raum-zeitlich zementierten Verhältnisse (bipolare Raumblöcke, Kalter Krieg) von heute auf morgen ihrem legitimatorischen Grund beraubt sahen. So kam es mit der Wende 1989 gleichermaßen zu einer grundlegenden Raum- und Zeitenwende, oder, wie es einzelne Großdenker mit dem Siegeszug des Kapitalismus drastischer zu formulieren wussten: zu einem gleichschwingenden Ende von Geographie und Geschichte (vgl. FUKUYAMA 1992; O'BRIEN 1992). 1989 symbolisiert bei aller gesellschaftshistorischen Bedeutung, die bis heute um dieses annus mirabilis kreist, vielmehr aber noch einen Wendepunkt, in dem etwas Neues, ein neuer Topos aufkam, der nach und nach vor allem die Wissenschaft vorantreiben, wohl mehr aber noch umtreiben sollte: die Rede ist vom spatial turn. Auf Edward W. SOJAs Buch Postmodern Geographies (1989) zurückgehend, hat der spatial turn bis heute im Wissenschaftssprachgebrauch eine begrifflich-diskursive Omnipräsenz erreicht, die gegenwärtig gewiss ihresgleichen sucht. 3 Wichtiger jedoch als das modische Aufkommen und inflationäre Benutzen dieses omnipräsenten Begriffes sind gleichwohl die sprichwörtlichen Wenden und Wendungen, die sich mit ihm bis heute im Wissenschaftsbetrieb eingestellt haben. Im Einklang mit anderen wissenschaftlichen Wend(ung)en, namentlich dem cultural turn, hat der spatial turn indes dazu geführt, dass derlei unumstößlich erachtete Zuständigkeiten, wie sie zuvor mit Blick auf die Geographie und Geschichte umrissen wurden, zwar nicht vollends zur Revision gelangten, durch wissenschaftstheoretische Neuperspektivierungen disziplinärer Fachgegenstände allerdings auch keine Absolutheit mehr beanspruchen konnten (vgl. BACHMANN-MEDICK 2006: 7ff.). Derart ist das (allzu lang unhinterfragte) Bild der Geographie, als der Raumwissenschaft, in Teilen sicher auch das der Geschichte, als der Zeitwissenschaft unlängst ins Wanken geraten. Was dies zu bedeuten hat, mag man u. a. an der Renaissance des Raumes ermessen, infolge derer Raum und genuin geographisches Gedankengut auch in eher raum-lose bzw. raum-ferne Wissenschaftsbereiche gelangt ist. So kann man sich derzeit nicht dem Eindruck erwehren, dass beinahe eine jede Wissenschaft die Kategorie Raum, wie auch die der Raum-Wende (spatial turn) für sich zu entdecken und zu beanspruchen versucht. Meinen sich 3

Zur Wort-, Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte des spatial turn siehe genauer die umfassenden Darstellungen von BACHMANN-MEDICK (2006:284ff.), DÖRING & THIELMANN (2008a:7−13) oder auch WARF & ARIAS (2009).

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Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

doch im Zuge des spatial turn immer mehr Disziplinen – ganz im Sinne der Geographie – als Raumwissenschaften neu bzw. erneut wiederzuentdecken (vgl. BAUMGÄRTNER et al. 2009; GÜNZEL 2009). Ein exemplarischer Beleg dafür ist der von Stephan GÜNZEL 2009 herausgegebene Sammelband Raumwissenschaften, in dem Auskunft über den State of the Art angewandter Raumtheorie (GÜNZEL 2009:7) gegeben wird. Hier lassen sich neben Fächern wie der (Sozial-)Geographie, Kartographie oder Physik, also Disziplinen, die sich beständig mit räumlichen Phänomenen beschäftigt haben und somit prima facie als Raumwissenschaften einzustufen sind, schließlich auch solche finden, deren Platz man im Kanon der Raumwissenschaften nicht unbedingt erwartet hätte. Dass Raum und räumliches Denken noch nie so verbreitet [waren] wie heute (SOJA 2008:241), 4 lässt sich nicht zuletzt an Fächern wie der Soziologie oder Theologie, sondern insbesondere auch an der eingangs erwähnten Zeitwissenschaft, der Historiographie, sehen. Geschichtswissenschaftliche Wiederentdeckungen des Raumes Nach einer lang anhaltenden Phase geschichtswissenschaftlicher Raumabstinenz (OSTERHAMMEL 1998:374) haben sich seit einigen Jahren vornehmlich deutschsprachige Historiker darangemacht, sich vom quasi-natürlichen Primat der Zeit zu entfernen – mit dem Ziel, Geschichte wieder mehr vom Raume her zu denken. Fachinternen Verlautbarungen zufolge hat sich innerhalb der Historiographie seit einigen Jahren so etwas wie eine Wiederkehr des Raumes vollzogen (vgl. SCHLÖGEL 2006a:11f.; OSTERHAMMEL 1998). 5 Einer, der diese Wiederkehr im Wesentlichen benannt, mehr aber noch selbst angestoßen und getragen hat, ist der Osteuropahistoriker und Essayist Karl SCHLÖGEL. Als einer der Protagonisten der geschichtswissenschaftlichen Wiederentdeckung des Raumes hat SCHLÖGEL in den letzten 4

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Meint mit Edward W. SOJA eben derjenige, der, wie oben bereits angerissen, selbst nicht unwesentlichen Anteil an diesem Trend hatte. So wird der US-amerikanische Humangeograph aus heutiger Sicht zum Urvater einer raumtheoretischen Wende (spatial turn) stilisiert, die er zwar begriffsgeschichtlich angestoßen, aber wohl kaum terminologisch tiefgründig ausbuchstabiert hat (vgl. DÖRING 2010:90). So hat er zwar selbst mit seinem Konzept des Thirdspace (1996) eine Raumkonzeption für die Stadtforschung vorgelegt, in der er fernab bestehender Dualismen (insb. Objekt/Subjekt) zu verstehen gibt, einen alternativen dritten Weg begehen zu wollen, insofern nicht der physische oder imaginierte Raum, sondern ein, weitaus umfassenderer gelebter Raum in den Mittelpunkt rückt. Dessen ungeachtet findet man aber eben wenig Grundlegendes zur Begründung eines spatial turn. In diesem Zusammenhang muss gewiss auch auf die nicht unproblematische Lektüre, Exegese und Verbreitung Henri LEFEBVREs La production de l'espace (1974) verwiesen werden, wie sie durch SOJAs Thirdspace im Zuge seiner eigens betriebenen Raumwende befördert wurde (vgl. SOJA 1996, 2003, 2005, 2008); siehe dazu u. a. DÖRING (2010:90−93), HARD (2008:295f.) oder auch SCHMID (2005:62−71). Damit stand und steht die deutschsprachige Geschichtswissenschaft, wie bereits erwähnt, keineswegs allein. Initiiert und getragen durch den spatial turn hat die Renaissance des Raumes, wenngleich mit je eigener Schlagrichtung und Intensität, auch unzählige andere Disziplinen erreicht; prominent und unübersehbar allen voran in der Soziologie, in der die SIMMELsche Soziologie des Raumes (1903) zu neuen Ehren gelangt; siehe hierzu insbesondere die raumsoziologischen Arbeiten von LÖW (2001) und SCHROER (2006).

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Jahren wie kaum ein anderer an der Rehabilitierung des geschichtsideologisch durchtränkten (und somit lang unbrauchbar gewordenen) Raumbegriffs gearbeitet, um in der Konsequenz für eine Erneuerung der Geschichtsschreibung (SCHLÖGEL 2002a:308) zu werben.6 Das Neue am Schreiben von Geschichte sollte sich dabei nicht nur allein darin erschöpfen, das historische Narrativ zu verräumlichen – im Sinne von SOJAs Losung: to spatialize the historical narrative (1989:1). Ziel war es vielmehr, eine Spatialisierung der Geschichte und Geschichtswissenschaft in Gänze voranzutreiben (vgl. EBELING 2010:126; SANDL 2009:159ff.; SCHLÖGEL 2006a: 37f.). Galt es doch insofern eine veränderte Blickrichtung auf das Räumliche von Geschichte in die Geschichte selbst Einzug halten zu lassen, indem Raum nun nicht länger als historisch antiquiert und obsolet abgetan wurde, noch weniger nur (implizit) als Hintergrundfolie zum Schreiben von Geschichte in Betracht kam (s. Landes- und Nationalgeschichtsschreibung; vgl. GOTTHARD 2005:16; LANGTHALER 2013:7). Raum reifte solcherart vielmehr zum archimedischen Punkt geschichtswissenschaftlicher Betrachtung selbst, indem er mit stetig ansteigendem Forschungsinteresse zu einem bevorzugten [und expliziten] Gegenstand historischer Studien (SCHRÖDER & HÖHLER 2005:9; eig. Einschub) erklärt wurde. Ungeachtet dessen, dass es vor allem SCHLÖGEL war, der dem Bestreben, Räumliches wieder (bewusster) in die Geschichte zu holen und zu integrieren, eine Stimme gab, hat es neben ihm noch insbesondere zwei andere Historiker gegeben, die in je unterschiedlicher Art und Weise und Intensität dafür sorgten, dass der Raum (wieder) im historischen Denken seinen Platz finden konnte. Einer der beiden ist der 2006 verstorbene Historiker Reinhart KOSELLECK. KOSELLECK, der zeitlebens der sogenannten Bielefelder Schule (ASAL & SCHLAK 2009) angehörte, hat es 1986 mit einem viel beachteten Vortrag auf dem Trierer Historikertag 7 als 6

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Warum der Raumbegriff lange als obsolet abgetan wurde und erst rehabilitiert werden musste, lässt sich auf die Jahre 1933 bis 1945 und die missbräuchliche Verwendung des Raumes im Zuge volksgeschichtlicher Lebensraumforschung zurückführen (vgl. RAPHAEL 2003:85−90). Infolge teils fragwürdiger Arbeiten zu deutschen Volksräumen, die den geopolitischen Agitationen der Nationalsozialisten qua pseudowissenschaftlicher Zuarbeit den Weg ebneten (Stichwort: Volk ohne Raum), verschwanden raumbezogene Fragestellungen Mitte des 20. Jahrhunderts fast vollends aus der deutschsprachigen Historiographie. Es mag daher nicht verwundern, dass der Terminus Raum in der Geschichtswissenschaft bis in die 1990er-Jahre hinein gewissermaßen ein Schattendasein (LOSSAU & LIPPUNER 2004:209) führte, weswegen Geschichte weithin als a-räumlich und noch mehr nur zeitbezogen gefasst und betrieben wurde (vgl. JUREIT 2012a:388; LOSSAU 2009:29; RAPHAEL 2003:85−90; RÖSSLER 1990). Der deutsche Fall wiegt insofern besonders schwer, als man es woanders, bspw. im französischen Wissenschaftssystem, fortwährend verstand, den Nexus zwischen Geschichte (Zeit) und Geographie (Raum) programmatisch wie auch institutionell zu festigen und ohne irgendwelche Berührungsängste (RÖSSLER 1991:154) in gemeinsamer Wissenschaftsarbeit zu erforschen; siehe hierzu allen voran die Texte und Arbeiten der sogenannten Annales-Schule (vgl. MIDDELL 1994); hier vor allem die von BRAUDEL (1977, 1989), FEBVRE ([1931]1994) oder (aktueller) auch die von NORA zu den lieux de mémoire (1990, 2005). Dies ist insofern etwas Besonderes, als zu diesem Zeitpunkt – Mitte der 1980er-Jahre – viele Historiker die bewusste Verwendung des Raumes angesichts des belasteten und noch immer belastenden Disziplinerbes eher mieden denn herbeisehnten. So überrascht es wohl auch, dass

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einer der ersten deutschsprachigen Historiker, noch vor SCHLÖGEL und anderen, vermocht, neuerliche Sensibilität für die unterschiedlichen Relationsbestimmungen von Raum und Geschichte ([1986]2000:78) zu schaffen. KOSELLECK zufolge schien dies seinerzeit insofern ein wichtiges wie dringendes Unternehmen zu sein, als sich die Geschichte des Raumes in der Geschichte selbst noch als weitgehend unerforscht zeigte.8 Dementsprechend bemühte er sich selbst darum, einige begriffsgeschichtliche wie theoretische Gedanken dazu anzustellen, wie Raum und Geschichte in ihrer Verbindung zueinander für historiographische Zwecke gefasst und untersucht werden können. In diesem Zusammenhang gelangte er zu der Überzeugung, dass: Raum […] sowohl jeder nur denkbaren Geschichte metahistorisch vorauszusetzen wie selber historisierbar [ist], weil er sich sozial, ökonomisch und politisch verändert (KOSELLECK [1986]2000:82). Auf Grundlage dieser dialektischen Sichtweise leitete er einen bipolaren Raumbegriff für die Geschichtswissenschaft ab. Hiernach kann Raum einerseits als metahistorisch begriffen werden – quasi als Naturvorgegebenheit jeder menschlichen Geschichte (ebd.:83). Andererseits gilt es nach KOSELLECK die natürliche Umwelt aber auch als menschlich-historischen Raum terminologisch zu (er)fassen, wonach gewissermaßen erst das Menschgemachte an Räumen sichtbar würde. In der Zusammenschau beider historischen Raumbegriffe bzw. Raum-Geschichts-Pole sah er schließlich den Punkt dafür gegeben, einen starren Historismus alter Tage samt geschichtspositivistischer Grundüberzeugungen – alle Vergangenheit sei nur historisch-zeitlich erklärbar – über Bord werfen zu können, um hiermit wiederum mehr die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte (KOSELLECK 2000c:300; eig. Herv.) stärker ins Auge zu fassen.9 Zur Umsetzung dieses Vorhabens entwickelte KOSELLECK auf Basis

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der Trierer Historikertag selbst unter dem Motto Räume der Geschichte – Geschichte des Raums stattfand. Der Titel mag auf den ersten (suggestiven) Blick eine differenzierte (dialektische) Inblicknahme der Raumthematik offenbaren. Dagegen sprechen jedoch die Themen sowie die einzelnen (Raum-)Inhalte des Programms, das insgesamt von einer noch weithin oberflächlichen und rudimentären Beschäftigung mit historischen Räumen zeugt (vgl. IRSIGLER 1987; SCHUHMANN 1988). Im Vergleich dazu erscheint der 18 Jahre später stattgefundene Historikertag in Kiel, der unter dem Thema Kommunikation und Raum abgehalten wurde, in seiner Herangehensweise und Themenauswahl schon ein wenig differenzierter (vgl. REITEMEIER & FOUQUET 2005). Kleine Randnotiz zu KOSELLECKs Triervortrag: KOSELLECKs Beitrag aus dem Jahre 1986 sollte erst 14 Jahren später veröffentlicht werden, zu einer Zeit, in der die Raumthematik bereits an Schwung gewonnen sowie eine breitere Resonanz unter deutschsprachigen Historikern erfahren hatte. An diesem Umstand konnte dann selbst das von KOSELLECK mit BRUNNER und CONZE ins Leben gerufene Mammutunternehmen der Geschichtlichen Grundbegriffe (vgl. KOSELLECK 1972) nichts ändern; nach dem Eintrag Raum und etwaiger Begriffsgefährten oder Querverweisen sucht man bis heute vergebens (vgl. TROEBST 2006:1). Diese Ansicht ordnete sich nahtlos in den dieser Jahre aufkommenden Trend ein, im Sinne FOUCAULTs, die Epoche des Raumes (FOUCAULT [1967]1998:34) betreten zu haben. Hiernach versuchte man einen übersteigerten Zeitfetischismus, wie ihn ein Historismus durch ein chronologistisches wie evolutionistisches Entwicklungs- und Fortschrittsdenken vorlebte, zugunsten mehr raumbezogenen Denkens zu überwinden (vgl. BACHMANN-MEDICK 2006:285f.). Mit SOJA gesprochen, hielt damit gleichsam das Ende einer lang anhaltenden ontologischen

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seiner Raumüberlegungen eine Zeitschichtentheorie, oder wie er es selbst nannte eine Theorie geschichtlicher Zeitschichten, in der er neben der Zeit die Kategorie des Raumes eben zu einer der grundlegenden Bedingungen möglicher Geschichte erklärte (KOSELLECK [1986]2000:82). Die geologische Figur der Zeitschicht diente ihm bei alledem als zentraler Begriffsanker, um auf das gleichzeitige Anwesendsein ungleicher Zeitlogiken und Temporalgeschwindigkeiten – z. B. diachron, synchron, singulär, zyklisch, etc. – innerhalb eines bestimmten Zeitraumes der Geschichte begrifflich hinweisen zu können. 10 Auch wenn KOSELLECK im Vergleich zu ihm nachfolgenden, selbsternannten Raum-Historikern (RAU 2013a: 108) seine Gedanken nicht auf ein derart breites raumtheoretisches Fundament stellte, derentwegen es nicht frei von (geo)deterministischen und reduktionistischen Denkweisen blieb (s. Raumbegriff), ist sein Verdienst um eine historische Raumforschung gewiss nicht gering genug zu erachten, zumal er als einer der Ersten den Startschuss zur Wiederbesinnung auf alles Räumliche der Geschichte sowie deren genauerer, noch zu leistender innerfachlichen Aushandlung gab. Einer, der KOSELLECK, quasi als zweiter in der Protagonisten-Reihung, nachfolgte, war Jürgen OSTERHAMMEL. Der Konstanzer Historiker für Neuere und Neueste Geschichte sorgte zwölf Jahre nach dem Trierer Historikertag mit einer Veröffentlichung auf seine Weise für ein (wieder-)belebendes Moment im geschichtswissenschaftlichen Diskurs um Raum. In einem Artikel, mit dem programmatischen Titel Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie machte OSTERHAMMEL in Analogie zu KOSELLECK, zunächst auf die fehlende Berücksichtigung des Raumes und desgleichen auf den Mangel geographischer Sichtweisen innerhalb der Historiographie aufmerksam. Um die Vorbehalte deutscher Historiker gegenüber Raum [und] Geographie (OSTERHAMMEL 1998: 375), welche noch aus den Verstrickungen der Geschichtswissenschaft mit der NSGeopolitik herrührten, peu à peu abzubauen, begab sich OSTERHAMMEL aufs Neue zu eben jenen benachbarten (geographischen) Ufern, um von dort aus die Geschichte (wieder) räumlich rückbesehen, mithin re-spatialisieren zu können. So ist der erwähnte Text in erster Linie als eine Zusammenschau verschiedener für Historiker relevanter Raumlektüren zu betrachten, in der neben Klassikern der räumlich-informierten Sozialtheorie (SIMMEL, LEFEBVRE, GIDDENS) und Werken geopolitischer/-historischer Raumdenkern (MACKINDER, SCHMITT, BRAUDEL) ebenso und

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Verzerrung (SOJA 2008:244) Einzug ins Wissenschaftsdenken, wodurch die Vorstellung von Welt, lange als einseitig zeitlich bzw. historisch überstrapaziert, erst durch einen spatial turn wieder ins Lot gebracht werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auch seine Begriffsfindung der Sattelzeit zu sehen (KOSELLECK 2000c:302), mit der er ein verändertes Verhältnis zwischen einem Erfahrungsraum (historische Vergangenheit) und einem Erwartungshorizont (historische Zukunft) mit Blick auf das 18./19. Jahrhundert zu begreifen versuchte (KOSELLECK 1989:354ff.). Die Anleihen an der französischen Annales-Schule, allen voran bei BRAUDEL sind hier nicht zu übersehen. So folgte auch KOSELLECK (wie BRAUDEL) in Ansätzen einem trialektischen Zeit-Raum-Denken, was gleichermaßen aus der Parallelschaltung von langer, kurzer und situativer Dauer herausgedreht […] auf ein gemeinsames anthropologisches Grundmuster zurückgeführt [wird], das zugleich verschiedene Zeitschichten in sich birgt (KOSELLECK 2000b:14); ohne jene Zeit-Ansichten lässt sich laut KOSELLECK schließlich keine Geschichte erkennen oder darstellen (ebd.).

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vor allem die Arbeiten (neuere) Humangeographen (GREGORY, AGNEW, ENTRIKIN, PAASI) Eingang fanden. Nach Meinung OSTERHAMMELs scheint gerade das Anhören der Nachbarwissenschaft Geographie, mithin der (zeitgemäße) Import geographischer Wissensbestände, denen lange ziemlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt [wurde] (OSTERHAMMEL 1998:382), von Nöten, beabsichtigt man einen erkenntniserweiternden Nutzen in Richtung einer historischen Raumforschung auf den Weg bringen zu wollen. Geographisch rückbefragt, galt es insofern vor allen Dingen die grundlegende Frage nach der Verfahrensweise der Verräumlichung von Geschichte und deren Maßstäblichkeit zu klären, bevor es schlussendlich an das Schreiben raumbezogener Geschichte gehen konnte. Vor dem Hintergrund historischer und vor allem gegenwärtiger Globalisierungserfahrungen (Kolonialismus, Imperialismus, time-space-compression) sollte laut OSTERHAMMEL denn von einer historischen Ortsgebundenheit im Sinne lokal- oder landesgeschichtlicher Forschung sowie einer rein aufs Nationale eng geführten Historie weg gekommen werden, um so gesehen Geschichte jenseits des Nationalstaats (OSTERHAMMEL 2001) und fernab eurozentristischer oder anderer kontinentalräumlich verhafteter Blickobsessionen schreiben zu können (vgl. CONRAD & RANDERIA 2002; OSTERHAMMEL 2015; SCHRÖDER & HÖHLER 2005). So kann etwa ein jeder beliebiger Nationalstaat […] in umfassendere Zusammenhänge eingeordnet werden (OSTERHAMMEL 2007:601), indem man ihn seiner starren geschichtsgeleiteten Territorialitätsbeschau entzieht und in transnationale Beziehungs- und Verflechtungsgeschichten (entangled histories) einbettet. Geschichte mit einem anderen, erweiternden multiskalaren Maßstab in den Blick zu rücken, war dann gewissermaßen auch der Ansatzpunkt und zugleich Antrieb für OSTERHAMMELs eigene Forschungsarbeit, mit der er eine neue Weltgeschichtsschreibung in Form einer Globalgeschichte fruchtbar wie auch salonfähig machte (vgl. BARTH et al. 2014; CONRAD et al. 2007; ENGEL & MIDDELL 2005; EPPLE 2012; SCHÄBLER 2007; WENZELHUEMER 2012). Im Wechselspiel von Lokalisierung und Globalisierung (OSTERHAMMEL 2007:596) und zwischen den Rändern einer Mikro- und Makro-Historie alternierend, hat er so auf beeindruckende Art und Weise die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert globalhistorisch erschlossen und nachgezeichnet (vgl. OSTERHAMMEL 2009). Ferner hat er aufgezeigt, wie die Entzauberung Asiens (2010) in ihrer weltregionalen bzw. netzwerkartigen Verflechtungsgeschichte in Augenschein genommen werden kann, ohne dabei allzu sehr gängiger Großerzählungen (grand narratives) das Wort zu reden. OSTERHAMMELs Verdienst um eine Wiederentdeckung des Raumes ist letztlich nicht nur in einem Re-Import geographischen Wissens und in einem neuerlichen Bewusstsein für geographische Lektüren zu sehen. Er hat obendrein eine neue Sichtweise in die Geschichtswissenschaft importiert und integriert, wodurch – postkolonialen Wissenschaftsdiskursen entsprechend – erst andere räumlich variierende Weltsichten, wie z. B. dezentrale oder hybride Perspektiven auf Welt und Weltgeschichte, ihre Berechtigung erfuhren. Ausführlicher über die räumliche Dimension von Geschichte ins Gespräch zu kommen, war gewissermaßen auch das Anliegen des bereits erwähnten Osteuropahistorikers Karl SCHLÖGEL. Nach KOSELLECK und OSTERHAMMEL als dritter im Bunde, gilt SCHLÖGEL heute weithin als der bekannteste Raum-Historiker (RAU

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2013a:110). Das hat er wohl allen voran seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit (2006a) zu verdanken, mit dem er über die Geschichtswissenschaft hinaus zugleich viele andere Fachdisziplinen aber auch unzählige nicht-wissenschaftliche Leserkreise gewinnen konnte. Mit seiner bis heute breit rezipierten Monographie machte SCHLÖGEL, ausgehend von der Devise, dass Geschichte […] nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum [spielt] (SCHLÖGEL 2006a:9), auf einen lang vergessenen historiographischen (Raum-)Befund bzw. Gemeinplatz aufmerksam, und zwar: that history takes place, dass alle Geschichte […] einen Ort [hat] (SCHLÖGEL 2006a:71). Unter Rückgriff auf den Anthropogeographen Friedrich RATZEL, der von wir lesen im Raume die Zeit11 gesprochen hatte, erklärt SCHLÖGEL die Wiederbesinnung auf die Räumlichkeit aller Geschichte a limine zu dem zentralen Desideratum zeitgenössischer Historiographie, dessen sich historisch arbeitende Wissenschaftler alsbald (wieder) gewahr werden sollten. Vor dem Eindruck raumrevolutionärer Zäsuren 12 wird SCHLÖGEL seither nicht müde zu betonen, dass Historisches nicht nur im chronologischen Nacheinander, sprich im einfachen Periodisieren und Aneinanderreihen von Geschichtsereignissen aufgeht, sondern vielmehr auch im räumlichen Neben- und Übereinander (SCHLÖGEL 2002a:308ff.). Jenseits einer ausschließlich auf Zeit ausgerichteten Geschichtsschreibung favorisiert SCHLÖGEL folglich ein Bild von Geschichte zu zeichnen, das durch die Verschränkung von Raum und Zeit Vergangenheiten facettenreicher erscheinen lassen soll. Einzige Voraussetzung dafür: Man hält Ausschau nach den heuristischen Potenzen (SCHLÖGEL 2002a:317), die historischen Orten im Speziellen und räumlichen Figurationen im Allgemeinen innewohnen, um der Verborgenheit örtlicher und räumlicher Zeit- bzw. Tiefenschichten in ihrer gleichzeitig-präsenten Gegenwart auf die Spur kommen zu können. Wie dies forschungspraktisch zu verstehen und anzugehen ist, hat er derweil in unzähligen Studien zu osteuropäischen Städten dargelegt (vgl. SCHLÖGEL 1998, 2002b, 2005, 2006b, 2011a). Angeregt durch BENJAMINs Passagen- und Stadtspaziergänge (vgl. BENJAMIN 1984), kommen für SCHLÖGEL nicht zuletzt vor allem urbane Geschichtsschauplätze – wie bspw. Moskau (2011a) oder St. Petersburg (2002b) – als besondere Vergangenheitszeugnisse in Betracht, da sie, wie kaum eine andere Quelle, historische Zeitenverläufe gegenstands- sowie wirklichkeitsnah herauszustellen und zu visibilisieren erlauben. Denn städtische Orte und Räume erscheinen als:

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RATZEL, der SCHLÖGEL durch seine Formulierung wir lesen im Raum die Zeit (RATZEL 1904:28) die Vorlage zum Buchtitel gab und der damit (implizit) zum Namensgeber und zugleich Gewährsmann seines Buches gemacht wurde; dies alles jedoch ohne, dass SCHLÖGEL selbst irgendwelche disziplinhistorischen Einordnungen oder Reflexionen zur Person RATZEL, seiner zitierten Aussagen oder seiner Rezeption anzustellen geneigt war (vgl. DÖRING & THIELMANN 2008a:22/Anm. 73). Hierunter fasst SCHLÖGEL vor allem den Fall der Mauer, wie auch die Terroranschläge vom 11. September. Dazu er selbst: 1989 ist nicht nur ein Datum auf der Zeitskala, sondern auch eine Marke, um die herum ein spezifischer historischer Raum zusammenbrach und sich ein ganz neuer zu bilden begann. Der 11. September 2001 ist nicht nur ein Zeitzeichen, sondern eine Marke, um die herum die Weltkarte neu gezeichnet wird (SCHLÖGEL 2004:268).

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Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte Dokumente sui generis. […] Städte stehen für Aufstieg und Niedergang ganzer Kulturen. Wenn wir wissen wollen, wie es um Gesellschaften bestellt ist, blicken wir auf die Städte als die Punkte ihrer maximalen Verdichtung. Sie sind wie ein aufgeschlagenes Buch der Geschichte, in dem wir nur zu lesen verstehen müssen. In ihnen kristallisieren sich Epochen. Epochenbrüche hinterlassen ihre Spuren und ihre Narben. Sie sind als steinerne Chroniken das umfangreichste und massivste Dokument, das sich denken lässt […] (SCHLÖGEL 2007:34).

Wenngleich SCHLÖGEL mittlerweile konzediert, dass mit Steinen und Wänden zu sprechen […] etwas Gestörtes an sich [hat] (2011a:283) und der Versuch eine Stadt zu lesen, doch allzu naiv [scheint] (2011a:323), ist er gleichwohl bis heute nicht davon abzubringen, ein immer neues Plädoyer für die Schulung eines geschichtlichen Raumbewusstseins (2004:279) im Speziellen und einer raum- und gegenstandsorientierten Geschichtswissenschaft im Allgemeinen zu halten. Letztere soll nicht zuletzt Historiker dazu bringen bzw. befähigen, das kundige Studium von Räumen und Orten in geschichtlicher Perspektivierung wieder aufnehmen zu können. Folglich werden Fachkollegen beständig dazu aufgefordert, eine, wenn überhaupt nur implizit betriebene Erd- und Ortskunde wieder expliziter zu betreiben, um Geschichte buchstäblich wirklich, d. h. mit allen Sinnen erdräumlich (er)fassen zu können, insofern man es nur aufs Neue versteht, sie aktiv, d. h. vor Ort zu begehen, zu besehen und auch zu erfühlen (SCHLÖGEL 2002a:316f., 2004:275). Dieser Grundansicht zufolge kann alle Geschichte neben ihrer quellenbasierten Auslegung immer auch ortskonkret wie dinglich in Form eines Erlesens von Geschichtsspuren erfahren und geschrieben werden, als es doch immer genügend Oberflächen [gibt], die alles zeigen, was zu zeigen ist (SCHLÖGEL 2004:277). Daher gilt es jene Erkenntniskraft, die Orten und Oberflächen inhärent ist, in größerem Maße zu nutzen, indem man eben nur geschichtliche Schauplätze oder historische Topographien, vergleichbar anderer Geschichtsdokumente auch, in ihrer historisch-zeitlichen Aufschichtung zu lesen und lesbar zu machen versteht. Das so formulierte Programm eines Raum- und Orte-Lesens, wie es SCHLÖGEL derart vorschwebt, gründet entsprechend auf der Idee einer topographischen Hermeneutik (SCHLÖGEL 2006a:39). Einer Form hermeneutischen Lesens, welcher die Funktion zukommt, die vielschichtige Räumlichkeit des Vergangenen durch Spuren lesende Geschichtsarbeit (SCHLÖGEL 2011b:8) augenscheinlicher und sichtbarer werden zu lassen. Anstatt eben weiterhin nur dem eindimensionalen Erschließen des klassischen Quellenkanons zu frönen, sollten Historiker neben einer forcierten Augenarbeit ferner (wieder) vermehrt dazu übergehen, sich aus den Archiven und Bibliotheken hinaus in die Welt zu begeben, um mit allen Sinnen mehr Orte und Räume, denn Schriftstücke zu studieren. Auf die Frage, wie es denn wirklich war bzw. sich in der Vergangenheit zugetragen hat, gilt es so gesehen vermehrt Antworten über das geschichtswissenschaftliche Studium der Oberflächen (SCHLÖGEL 2006b:39) und des kartographischen Quellenmaterials zu finden; und das kann schlussendlich nur gelingen, wenn man sich an die Schauplätze der Geschichte – hier vor allem an die Orte verdichteter Geschichte (Städte) – begibt. SCHLÖGEL spricht in diesem Sinne dem einzelnen Ort und seiner Physiognomie ein gewisses Recht auf Veto zu (SCHLÖGEL 2002a:318, 2004:279). Ein Veto, dass meist textual bezeugte Geschichtsurteile begleitend entweder physiognomisch stützen oder eben

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widerlegen kann. Letzten Endes ist es, zusätzlich zu den zuvor genannten RaumHistorikern, das Hauptverdienst SCHLÖGELs, die lange in der historischen Wissenschaft für unüberwindbar gehaltene Dominanz der Temporalität aufgebrochen und so auch größtenteils überwunden zu haben, worauf Raum- und Zeitansichten, sich ausgleichend, erst wieder im geschichtlichen Bewusstsein zusammenfinden konnten. SCHLÖGEL hat sich vielmehr aber noch in einem anderen Punkt verdient gemacht, zu dem er sich selbst jedoch bisher eher zurückhaltend bis (selbst-)kritisch gibt: SCHLÖGEL hat die Geschichtswissenschaft (willentlich oder nicht) am bis heute andauernden Diskurs um den spatial turn und einer damit stetig ansteigenden Raumkonjunktur teilnehmen lassen. Sozial- und kulturgeographisches Raum-um-Denken Ungeachtet der Tatsache, dass die zuvor beschriebenen historiographischen Raumwiederentdeckungen gewiss einen Impuls für fächerübergreifendes Denken und Forschen gegeben haben und daher grundsätzlich als begrüßenswert zu erachten sind, insbesondere für eine hierdurch wieder näher heranrückende geographische Fachwissenschaft, fängt interessanterweise genau an dieser Stelle die zu Anfang durch SCHÖLLER intonierte Dissonanz im Zusammenspiel zwischen Geographie und Geschichte am stärksten an zu schwingen. Im Folgenden ist nun genauer die Frage danach zu stellen, warum die zuvor vorgestellten Wiederentdeckungsbestrebungen deutschsprachiger Historiker, allen voran die von SCHLÖGEL, keinen Anlass dazu geboten haben, sich der lang vernachlässigten Beziehung zueinander – denn Abgrenzung voneinander – bewusst(er) zu werden. Um begründete Antworten auf diese zentrale Frage geben zu können, muss nun nachfolgend erst einmal der Blick auf die andere Seite, auf die der wissenschaftlichen Geographie und deren Rolle im Geschehen (spatial turn) gerichtet werden, bevor beide Seiten wieder in ihrem gegenwärtigen Verhältnis zueinander in Augenschein genommen werden. Die durchaus gegenständlich zu verstehende Umarmung des Raumes (REUBER 2005:5) durch die deutschsprachige Historiographie, namentlich durch SCHLÖGEL, konnte vonseiten der Geographie, die qua Tradition Raum und Raumforschung lange zu ihrem Alleinstellungsmerkmal erklärt hat, sicher nicht unbemerkt bleiben. Weniger mit Wohlwollen als vielmehr mit einem gewissen Gefühl von Betroffenheit, Unverständnis sowie paradigmengeschichtlichen Rückversetztseins musste die Geographie, als die Ur-Raumbeauftragte (SCHLOTTMANN 2011:310), ihrerseits zur Kenntnis nehmen, dass, ohne selbst hierin wirklich rückbefragt worden zu sein, in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren die Überzeugung um sich griff, dass der Raum als eine Art symbolisches Lesebuch der historischen Transformationen gesellschaftlicher Prozesse (REUBER 2005:5) zu besehen und zu untersuchen sei. In diesem Zusammenhang sind vor allem Vertreter der neueren deutschsprachigen Humangeographie in Erscheinung getreten, die der historiographischen Raum(re)fokussierung in der Version SCHLÖGELs kritisch und vehement

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entgegentraten.13 Die damit korrespondierende Kritik richtete sich nicht so sehr an die von einer gewissen Ahnungslosigkeit geleiteten Raumbeobachtungen (JUREIT 2012a:11) einzelner sich wieder vermehrt räumlich interessierender Historiker, als eher an die von prominenter Stelle proklamierte Art und Weise der Raumwiederentdeckung: d. h. an die weithin affirmative und kurzschlussartige Aufmerksamkeitsverschiebung von Zeit in Richtung Raum. Als zeitgenössischem Geographen musste es in einem doch schon allein wegen der präpositionalen Verwendung im Raume, wie sie SCHLÖGEL im historischen Sprachgebrauch wieder salonfähig machte, sowohl ein gewisses Unwohlsein hervorrufen als auch das Schreckensbild des längst verbannten Raum-Containers vor Augen rufen – was dann die Abwehrreflexe von neueren Humangeographen erklären sollte, die sich in der Folge divers Bahn brachen. Denn während Geschichtswissenschaftler sich unter der Anleitung SCHLÖGELs (wieder) an die Schulung ihres räumlichen Blicks machten, wurde allen voran innerhalb der sozial- und kulturwissenschaftlich arbeitenden Humangeographie eine gänzlich andere, um nicht zu sagen fundamental entgegengesetzte Entwicklung in Bezug auf Raum eingeschlagen. Hatten doch Humangeographen wie Ulrich EISEL (1980), Gerhard HARD ([1987]2002), Helmut KLÜTER (1986) oder Benno WERLEN (1986) ehedem bereits neue Wege vor- und eingeschlagen, welche sich von einer Raumzentrierung dezidiert abwendeten, um im Zuge einer wissenschaftstheoretischen Neu-Justierung zu einem ontologisch-sensiblen, gegenstandsoffeneren und kritisch-reflexiven Umgang mit dem die eigene Disziplin bis dahin vereinigenden Schlüsselwort Raum (HARD [1977]2003:15) zu gelangen. Ob der lang anhaltenden Phase obsessiver Hinwendungen zum Räumlichen galt es doch insoweit die Altlasten und Fallstricke traditioneller Geographien14 zugunsten neuerer sozial- und kulturtheoretischer Positionen zu überwinden, um sodann einsehbar zu machen, dass Raum – verstanden als ein Element und Produkt sozial-kultureller Praxis – im alltäglichen Tun von Subjekten, d. h. in verschiedenen tätigkeits- und subjektgebundenen Bezugnahmen zur Welt entsteht, wirklich wird und so gesehen auch nur in den (verstehenden) Blick von Geographen gelangen kann. Zu derlei innergeographischen Blickverschiebungen hat nicht zuletzt – neben den genannten Arbeiten von EISEL, KLÜTER und HARD – das Werk WERLENs wichtige Einsichten und Grundlagen geliefert. Wurde doch erst durch ihn (radikal) aussprechbar, was lange nicht auszusprechen gewagt wurde, und zwar: Gibt es eine Geographie ohne Raum? (WERLEN 1993a; eig. Herv.). Diese Frage stellte WERLEN in den 1990er-Jahren als einer der ersten und in gewisser Beharrlichkeit immer wieder, was ihm innerhalb der eigenen Disziplin jede Menge Kritik und von Vertretern anderer Wissenschaften verwunderte Blicke einbringen sollte. Sahen doch viele seiner Fachkollegen, nicht zuletzt auch wegen des stetig anwachsenden Interesses an Raum in anderen Fächern, wie LOSSAU & LIPPUNER (2004:202) konstatieren, die 13 14

Siehe hierzu stellvertretend, wenngleich keinesfalls repräsentativ, die im Spatial-Turn-Band von DÖRING & THIELMANN (2008b) prominent versammelte Geographenschaft. Worunter u. a. Hypostasierungen, Containerisierungen oder Naturalisierungen von Raum gezählt werden können. Allen gewissermaßen gleich ist, dass sie Raum als etwas postulieren, dass es an sich, mithin wirklich gibt, d. h. als Gegenstand, als Begrenzendes oder als natürliche Erscheinung.

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eigene Wissenschaftsarbeit und deren Alleinstellungsmerkmal gefährdet. Mit zunehmender Dauer wurde jedoch klar, nicht welche Gefahren, sondern welche Möglichkeiten sein Denkanstoß in sich trug, nämlich Geographie und Raum – insbesondere vor dem Hintergrund eines sich vollziehenden geographischen Wandels (Stichwort: Globalisierung) – ganz neu zu denken. Mit der Frage Gibt es eine Geographie ohne Raum? wurde in der Folge nicht nur die selbstkritische Frage nach dem Wozu Raum (REDEPENNING 2006) lauter und zum Gegenstand innergeographischer Debatten (vgl. BELINA 2013; HARD [1999]2003; MIGGELBRINK 2002). Vielmehr verband sich mit WERLENs Infragestellung des Raum-Primats auch die grundlegende Absicht, all diejenigen Probleme zu identifizieren und zu thematisieren, welche man sich in der Paradigmengeschichte der Geographie durch eine Überbetonung des Räumlichen (wie auch des Natürlichen) immer wieder eingehandelt hatte. ROTHFUß & DÖRFLER sehen mit WERLENs Denkanstoß rückblickend betrachtet und so gesehen nicht weniger als eine Kopernikanische Wende in der Humangeographie ausgelöst (ROTHFUß & DÖRFLER 2013:9). Wusste er doch überzeugend altgeographische Denkweisen und die darin eingeschlossenen Problemlagen (insb. Determinismen, Reduktionismen und Absolutismen) durch eine argumentativ schlüssige Dekonstruktionsarbeit zu entschleiern, worauf der Schlüsselbegriff Raum nicht nur um seine Schlüsselstellung gebracht wurde – er wurde vielmehr aufs Neue aushandelbar. Entgegen der Logik der Anthropogeographie eines Friedrich RATZEL (1882) oder der Länderkunde eines Alfred HETTNER (1927) wurde »Raum« nun nicht mehr als rein physisch-materielle Wirklichkeit, als etwas per se Gegebenes oder kausal Wirksames ins Zentrum geographischer Forschung gerückt. 15 Ebenso wenig erschien es weiterhin geboten, »Raum« in klassisch landschaftsgeographischer wie raumwissenschaftlicher Manier als absoluten Container, als beinhaltendes Behältnis 16 (WERLEN 2010i:11) zum Thema werden zu lassen, in dem sich einfach alles befindet, d. h. alle lokalisierbaren Objekte und eben auch der Mensch, und in dem man als Forscher nur noch einzusteigen braucht, um alle geographisch relevanten Phänomene hermetisch abgeriegelt untersuchen zu können.

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Raum wurde also weder als geodeterministisches Agens, mithin als selektierende Lebensinstanz gefasst, die organizistisch über das Sein oder Nicht-Sein von Menschen an Ort und Stelle entscheidet (s. RATZEL); noch wurde Raum als Einheit verschiedener Geofaktoren verstanden: als natürliches Landgefüge, von dem aus der Mensch und die menschliche Kultur im Wesentlichen umgrenzt bzw. bestimmt sei (s. HETTNER). Der von einigen Geographen seit einigen Jahren diskreditierte Raum-Container erfreut sich hingegen bei vielen Raum-Neu- bzw. Wiederentdeckern einer gewissen Revitalisierung. So wird Raum, wissentlich oder nicht, im Sinne von Schul-, Party- oder Stadträumen, als gesetzte, klar umgrenzte und damit greifbare Entität verhandelt, entlang und innerhalb derer z. B. Soziales oder Historisches untersucht werden sollen (vgl. LÖW 2001; SCHLÖGEL 2006a). Dass dieses Raumverständnis der Wissenschaftskonzeption vieler an Raum interessierter Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften (insb. Konstruktivismus, Praxeologie) aber gerade zuwiderläuft, ist wohl eines der Paradoxa aktuellen Räumelns, wie es neuerdings außerhalb der Geographie, aber traditionellerweise auch innerhalb der Geographie zu beobachten ist (vgl. HARD 2008:306).

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Um die (Sozial-)Geographie von einer derart starren und in der Folge wenig erkenntnisfördernden Wissenschaft der Räume und Orte zu einer verstehenden Wissenschaft zu machen, welche grundlegend nach der subjektivierten Situiertheit in und gesellschaftlichen Konstruiertheit von Welt fragt, wurde es WERLEN zufolge notwendig, sie programmatisch zu wenden, und zwar von einer Raum- hin zu einer Handlungswissenschaft (WERLEN 2007:62−66). Auf Grundlage jener disziplinären Neuausrichtung – wenn man so will: einem sozialgeographisch vollzogenen spatial turn 17 – verlor der Raum insofern seinen quasi-religiösen Nimbus, als Kategorien wie Handlung oder handelnder Akteur an seine Stelle traten. Kurzum: Geographie sollte nicht länger Analyse von Räumen, sondern Analyse raumbezogener Tätigkeitsformen bedeuten. Dieser Perspektivwechsel machte es insofern erst möglich, die geographisch lang vernachlässigte Frage nach dem ontologischen Status von Raum, der Art und Weise wie Raum sein kann (Ontologie) – kritisch zu stellen und im Rahmen einer größeren wissenschaftshistorischen Betrachtung zu erörtern (vgl. WERLEN 1999:144−227). Die hieraus resultierende Erkenntnis: So etwas wie Raum kann es – überspitzt formuliert – im Sinne einer praxis- und handlungsorientierten Sozialgeographie an sich gar nicht geben. Würde dies doch voraussetzen, dass sich so etwas wie Raum in Wirklichkeit, d. h. als empirischer Gegenstand – vergleichbar einem Gebäude oder Berg – nachweisen ließe (WERLEN 2009:154). Was sich letztlich jedoch allein nachweisen lässt, so die damit verbundene Einsicht, sind die Konstitutions- und Konstruktionsweisen von Raum, denen vorhergehende gesellschaftliche, aber vor allem wissenschaftliche Konzeptionalisierungen im Wesentlichen zugrunde lagen, man müsste wohl eher sagen erlagen: nämlich Essentialisierung (Raum als Gegenstand), Verabsolutierung (Raum als Container), Biologisierung (Raum als Organismus) oder Mystifizierung (Raum als Übernatürliches/Gottgegebenes). So ist dann auch der wichtigste Gewinn in Werlens Theorie der Geographie […] in der Veränderung der geographischen Raumontologie zu [sehen] (HARD [1999]2003:253). Denn, was mit einer solcherart neu perspektivierten Sozialgeographie im Grunde genommen einsichtig wurde, war, dass der Begriff Raum – entgegen der Ontologie der irdisch erfüllten Räume (HARD [1999]2003:258) – auch nur als ein solcher gefasst und verstanden werden kann. Handelt es sich doch bei ihm bei genauerer Betrachtung um nichts anderes als ein Sprachkonstrukt, das sich zuvorderst begrifflich formiert (WERLEN 2010j:16). Die Rede über den Raum, egal ob nun relational oder essentialistisch geführt, ist in diesem Sinne allein verbaliter und damit selbstredend als eine Rede über Raum, d. h. als eine Rede über Denk- und Ausdrucksweisen in Kategorien des Raumes zu verstehen – und nicht als eine materialiter vorbestimmte 17

Obwohl WERLEN als ein wichtiger Referenzpunkt innerhalb der aktuellen Spatial-Turn-Debatte gilt (vgl. DÖRING & THIELMANN 2008:25f.; LIPPUNER 2011), tut er sich bisher schwer, sich unter eben genau diesem zu subsumieren. Geht es ihm doch gerade nicht, wie bereits angedeutet, um eine Hinwendung zum Raum, wie dies die Rede von der Raumwende suggestiv nahelegt und in vielen außergeographischen Raumwenden so schließlich auch zu beobachten ist. Vielmehr geht es ihm um eine konstruktivistische Wende im geographischen Denken, d. h. um eine Wegwendung vom Raum als Gegenstand hin zu einer analytischen Erschließung sozial-kultureller Raumkonstruktionen.

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Rede über ein irgendwie geartetes Ding Raum. 18 Die erkenntnisleitende Frage konnte dementsprechend also nicht länger lauten: Was können forschungsrelevante Räume sein? oder: Wo sind sie zu finden und zu begrenzen?, sondern: Wie werden Räume durch sinnhaftes Handeln erst einmal hervorgebracht? bzw. Wofür steht das Sprach-Kürzel Raum in jeweiligen Handlungskontexten? (vgl. WERLEN 2008:295f.). Die wissenschaftliche Untersuchung von Raum – wie auch die seiner geographischen Begriffsgefährten Region, Land oder Landschaft – vermochte hiernach also nur noch über die Inblicknahme sozialer Praktiken der Produktion von Raum in Angriff genommen zu werden. Mit dem Eingeständnis an die soziale Produziertheit des Raumes reihte sich WERLEN gleichsam in die Genealogie von Raumdenkern wie Henri LEFEBVRE (1974) oder Michel DE CERTEAU (1988) ein, welche in gleichem Maße, wenngleich mit Unterschieden im Detail, 19 den Weg zu einem Raumverständnis ebneten, das sich heute als phänomenologisch, praxistheoretisch und konstruktivistisch ausweisen lässt, und vor allem neueren 18

19

In diesem Zusammenhang führt WERLEN Raum weiterführend als einen formal-klassifikatorischen Begriff aus, was dann die totale Absage an essentialistische Raumvorstellungen und eine Favorisierung relationaler Denkweisen von Raum explizit zum Ausdruck bringt: Raum ist formal, weil er sich nicht auf inhaltliche Merkmale von materiellen Gegebenheiten bezieht und klassifikatorisch, weil er Ordnungsbeschreibungen von materiellen Objekten und die Orientierung in der physischen Welt ermöglicht (WERLEN 2009:154). Diese Begriffssetzung fußt auf einer breiteren Auseinandersetzung WERLENs mit der Drei-Welten-Lehre POPPERs (1973). Hiernach kann es – ontologisch gesehen – neben physischen Formen des Seins (gegenständliche Welt) noch die der mentalen Seinsweise (Welt der Bewusstseinszustände) und die des symbolischen Seins (Welt der Ideen) geben (WERLEN 2010f:175f.). In unmittelbaren Bezug zu letzterer Welt, derer sich vor allem die Geisteswissenschaft annimmt, ist der WERLENsche Raumbegriff anzusiedeln. In dieser Hinsicht wird deutlich, dass Raum keine rein physisch und psychisch manifeste Kernbedeutung an sich annehmen kann, sondern nur eine nach situativer bzw. historisch-kontextualer Aneignung je andere Begriffskonnotation erfahren kann, mithin eine andere sprachliche Bedeutung (vgl. WERLEN 1999). Somit ist es möglich, dass unterschiedliche wissenschaftliche wie alltagsweltliche Ideen, Semantiken und Begriffe davon existieren können, die darüber Auskunft geben, was Raum ist bzw. bezeichnen soll und was nicht. So entwickelt der französische Kulturphilosoph DE CERTEAU (1988) einen genuin erfahrungsbezogenen Raumbegriff, der Raumpraktiken – und nicht Raumstrukturen oder Raumordnungen an sich – ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt. Der Fokus richtet sich hiernach insbesondere auf performative und narrative Raumpraktiken, wie das (Be-)Gehen oder Erzählen von Stadt, mittels derer Alltagshandelnde räumliche Figurationen (wie z. B. Gebäudekomplexe) durch die Inbeziehungsetzung örtlicher Elemente immer wieder aufs Neue zu produzieren, anzueignen oder umzustrukturieren wissen (vgl. LIPPUNER 2007). Der französische Philosoph LEFEBVRE (1974) indes sieht den Raum vornehmlich als Produkt sozialer Praxis an. Wie genau sich seiner Ansicht nach Raum in und durch Soziales konstituiert, macht er anhand dreier Modi der Produktion von Raum deutlich. Ihm zufolge bedarf es eines trialektischen Raumverständnisses (wahrgenommener, vorgestellter, gelebter Raum) wie auch einer dreiteiligen Perspektivierung sozialer Räumlichkeit (Raumpraxis, Raumrepräsentationen, Repräsentationsräume), anhand derer erst eine eingehendere Analyse gesellschaftlicher Produktionsweisen des Raumes möglich scheint (vgl. SCHMID 2005). In die oben skizzierte Genealogie von Raumdenkern könnten sicher noch weitere Autoren und Autorenwerke aus unterschiedlichsten Sprach- und Denkschulen aufgenommen werden; siehe hierzu allein die umfassende Übersicht zu Key Thinkers of Space and Place von HUBBARD & KITCHIN (2011).

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Disziplinentwicklungen innerhalb und außerhalb der Geographie als zentrale Verständigungsgrundlage dient (vgl. KAJETZKE & SCHROER 2012; LIPPUNER 2011; MEUSBURGER 1999; WERLEN 2013a/b). 20 WERLEN hat mit einer handlungs- und praxiszentrierten Sozialgeographie letztlich ein elementares Theorie-Fundament für die wissenschaftliche Geographie gelegt, auf dem sich angemessen und sensibel wie auch kritisch-reflexiv mit dem Thema Raum und der Konstruktion geographischer Wirklichkeiten (WERLEN 2010b) in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Grund auf beschäftigt werden konnte (vgl. ESCHER & PETERMANN 2016:10f.). Mit speziellem Verweis auf die kommunikative Seite aller Raumkonstruktion lieferte WERLEN, ähnlich zu HARD, allen voran einer sich in den 2000er-Jahren entwickelnden sprachorientierten Geographie (vgl. FELGENHAUER 2007; GLASZE & PÜTZ 2007; HARENDT 2019; SCHLOTTMANN 2005a) die notwendige raumtheoretische Legitimation, mit der die Verbindung von Sprache und Raum tiefgründiger geblickt und erforscht werden konnte. Darüber hinaus gab er, sicher auf eine andere Art und Weise als dies KLÜTER (1986) tat, einer immer stärker systemtheoretisch verfahrenden Sozialgeographie gezielte Impulse, was sie selbst in Abgrenzung zu seiner eigenen handlungstheoretischen Ausrichtung stärker auszudifferenzieren und zu konturieren half (vgl. LIPPUNER 2005; REDEPENNING 2006). Mit seiner Theoriearbeit bot er aber vielmehr noch Gelegenheit dazu, eine traditionelle geographische Mensch-UmweltForschung – im Sinne einer gesellschaftlichen Ökologie – zu reformulieren und auf aktuelle sozioökologische Transformationsprozesse, wie den Klimawandel, hin anwendbar zu machen (vgl. GÄBLER 2015; WERLEN 2015a). Obendrein gab er gewiss auch neueren non-repräsentionalen Forschungsansätzen in der Geographie, welche in der Zwischenzeit mehr auf Affekte und die Verbindung von Körper, Sensitivität und Leib bei der Betrachtung raumbezogener Handlungen abhoben, ihre Berechtigung, wenngleich hier nicht selten in kritischer Rückbespiegelung seiner eigenen 20

Mit dieser von WERLEN beförderten Wendung im Denken von Raum wurde nicht, wie von Einzelnen befürchtet, der Geographie der Boden unter den Füßen weggezogen, also das Physisch-Materielle, das Gegenständliche aus der Geographie verbannt. Was allein gemacht wurde, war Raum hinsichtlich seiner bis dahin dominierenden absoluten und essentialistischen Auslegungen (Anthropogeographie, Länderkunde, Landschaftsgeographie, raumwissenschaftliche Geographie) kritisch zu hinterfragen und folglich zu wenden, um zu einem kritisch-reflexiven, wissenschaftlich-aufgeklärten und vor allem zeitgemäßen Bild von Raum und Welt zu gelangen (WERLEN 2008:17); weswegen freilich der Materialität seitens einer handlungsorientierten Sozialgeographie weiterhin eine Bedeutung beigemessen wurde; allein schon der Tatsache wegen, dass der Mensch aufgrund seiner eigenen körperlichen Verfasstheit (Physis) immer wieder zwangsläufig physisch-leibliche Bezüge zu seiner ihn umgebenden (materiellen) Welt herstellen muss, ohne diese gar nicht zu leben vermag (vgl. WERLEN 2008:227−228). Aus handlungsund praxisorientierter Sicht stellt die Materialität der Lebenswelt letztlich eine nicht hintergehbare Bedingung (WERLEN 2008:277) dar, welche so auch ernst zu nehmen ist. Dass diese Einsicht – trotz sprach- und sozialkonstruktivistischer Wendungen weiter Teile der Humangeographie – (wieder) vermehrt theoretische wie auch empirische Beachtung erfährt, zeigen die Ansätze der non-representational geography, die unter dem Banner des performative oder material turn wieder stärker die Körper-, Leib- und Räumlichkeit der conditio humana zu berücksichtigen versuchen (vgl. THRIFT 2008).

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konzeptionellen Ansichten (vgl. BOECKLER et al. 2014; STRAUß 2018). WERLEN ist zu guter Letzt als ein Spiritus Rector einer kulturtheoretischen Wende (cultural turn) innerhalb der deutschsprachigen Kulturgeographie in Erscheinung getreten, indem er nicht nur eine neue Sozialgeographie, sondern eben auch eine Neue Kulturgeographie (vgl. DÖRING 2010:93; GEBHARDT et al. 2003:3; WERLEN 2003) und hierin: neue (konstruktivistische) Ansichten von Geographie und geographischer Forschung mit auf den Weg brachte. Mit dem gewendeten Verständnis von Geographie, Raum und Welt, wie es WERLEN zusammen mit anderen (neueren) Raumdenkern anstieß und in unterschiedlichen geographischen Arbeits- und Forschungsfeldern befruchtete, wurde letztlich die Möglichkeit eröffnet, jene Begriffs-Trias nicht mehr als etwas (Vor-) Gegebenes, Kausalwirksames oder Determinierendes denken zu müssen (mit all den damit verbundenen Problemlagen), sondern aus einer handlungs- und praxisorientierten sowie konstruktivismusgeleiteten Perspektive heraus als etwas vom Menschen Gemachtes zu begreifen. Geographie-Machen als Anknüpfungspunkt zum Welt-Verstehen Unter dem Schlagwort des Geographie-Machens, das in gewisser Analogie zu dem des Geschichte-Machens 21 von Karl MARX (1869) steht, vereinigt WERLEN selbst verschiedene Formen und Prozesse sogenannter Welt-Bindungen (WERLEN 2007:228), welche zusammengenommen den Ausgangspunkt und zugleich Analyserahmen sozialgeographischer Forschung darstellen. Entsprechend eines methodologischen Subjektivismus (WERLEN 1999:69) ist es allen Formen des Geographie-Machens eigen, dass sie Raum einzig und allein als ein Bestandteil von subjektiven Handlungsvollzügen bzw. als ein Element des Handelns (WERLEN 2009:154) fassen, und eben nicht, wie dies bis dahin eine raumzentrierte Geographie favorisierte, als eine Allem und Jedem vorgestellte Passform (s. Raum-Container; WERLEN 2009:154). 22 In der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen (WERLEN 2007), die einen konzeptionellen Kern WERLENscher Überlegungen darstellt, finden sich drei Modi des alltäglichen Geographie-Machens, wenn man so will, drei mögliche 21 22

Die dazu passende Textstelle von MARX lautet: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen (MARX 1869:13). Mit dem Hinweis auf den Raum als ein Element des Handelns kommt die handlungstheoretische Fundamentierung des WERLENschen Denkgebäudes stärker zum Vorschein. WERLEN greift die klassischen Handlungstheorien von PARETO, WEBER, PARSONS und SCHÜTZ in ihrer zweckrationalen, normorientierten und verständigungsorientierten Schlagrichtung auf, um sie durch die räumliche Dimension zu erweitern, derer sie bis dahin größtenteils entbehrten (WERLEN 1997:275−309). Zudem re-justiert er die mit Raumbezug angelegte Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony GIDDENS (vgl. WERLEN 2007:242−247), um sie zum einen von ihren teils nicht unproblematischen Querverbindungen zur skandinavischen Zeitgeographie zu befreien und zum anderen mehr für eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Geographie fruchtbar zu machen.

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Weisen, wie Subjekte die Welt alltäglich auf sich beziehen bzw. zu sich bringen können (WERLEN 2010k:98). 23 Neben allokativen Praxisformen Geographie-machender Bindung an Welt in Form von produktiv-konsumtiven Regionalisierungen, wie sie sich z. B. in geographisch begründeten Produktions- oder Konsumtionsentscheidungen zeigen (s. nachhaltiger Konsum, Standortwahl kreativer Milieus), rücken hier ebenso all die Raumbezüge in den Blick, wie sie sich in autoritativen Praktiken offenbaren und ein Ausdruck spezifischer politisch-normativer Regionalisierungen abgeben (s. Nationalismus/Regionalismus, Territorialkriege, Migrationspolitik). Besonderes Augenmerk ist gleichwohl auf den dritten und letzten Bereich des Geographie-Machens zu richten, der informativ-signifikativen Regionalisierungen, der nicht zuletzt genauere Ansatzpunkte zum grundlegenden Verstehen liefert, wie Raum im Tun und Handeln von Menschen genau entsteht, wirklich wird und – bei aller paradigmatischen wie epistemologischen Raumabwendung – dann doch noch am Ende seine sozialgeographische Relevanz erlangt. Die informativ-signifikative Form des Geographie-Machens interessiert sich primär dafür, wie handelnde Subjekte Raum wissensbasiert durch subjektive Bedeutungszuweisungen (WERLEN 2000:348) mit Sinn versehen, mithin sinnhaft entstehen lassen. Hierbei werden allgemein Akte der symbolischen Bezugnahme auf bestimmte erdräumliche Ausschnitte wie Orte, Regionen oder Landschaften verstanden, wie sie sich im Besonderen sprachlich-diskursiv niederschlagen. Dies kann sich bspw. immer dann zeigen, wenn Subjekte innerhalb kommunikativer Handlungen Bezug auf bestimmte Erdgegenden nehmen, indem sie bspw. Erzählungen an räumliche Gegebenheiten knüpfen (vgl. HARENDT 2019), Diskurse verorten (vgl. GLASZE & MATTISSEK 2009) oder (un)bewusst geographische Argumentationsmuster evozieren (vgl. FELGENHAUER 2007). Zu diesen Ausprägungen von Geographien (im Plural) können neben geographischen Sprechweisen, welche per se raumsymbolisierende Gehalte in sich tragen und die Raum erst auf einen Begriff bringen, u. a. auch körpersprachliche Ausdrucksformen gezählt werden. Diese Form geographischer Symbolisierungen offenbart sich in vornehmlich nicht-repräsentionalen Praktiken, wie z. B. in rituellen Handlungen oder symbolischen Inszenierungen, welche neben dem Gesagten vermittels des Dargestellten Orte ganz eigen mit Bedeutung belegen können (vgl. PETERMANN 2007). Die symbolische Aneignung von Welt, ob genuin sprachlich oder körpersprachlich vollzogen, stellt nicht 23

Mit dem WERLENschen Zugeständnis an die menschliche Entscheidungs- und Handlungsfreiheit – Geographie machen zu können – ist beileibe kein willkürlicher Konstruktivismus oder gar ein ungezügelter Voluntarismus verbunden, wie vereinzelte kritische Stimmen meinen (vgl. MEUSBURGER 1999). Freilich wird in sozialgeographischer Perspektivierung den Geographiemachenden Subjekten – insbesondere unter dem Eindruck spätmoderner Lebensbedingungen – eine gewisse Autonomie innerhalb ihres Tätigseins zugestanden. Dass das eigene Handeln dabei jedoch immer auch an je gegenwertige gesellschaftliche sowie sozialstrukturelle Bedingungen (Restriktionen, institutionelle Normen, Regeln, Zwänge) gekoppelt ist, wird dabei nicht außer Acht gelassen. Die vorgetragene Kritik ist insofern in vielen Teilen deplatziert, als es WERLEN doch versteht, neben handlungstheoretischen eben auch strukturationstheoretische Überlegungen – Stichwort: Dualität von Struktur und Handlung (GIDDENS 1988:70) – in seiner Konzeption zu verknüpfen.

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zuletzt den Kern des WERLENschen Theoriedenkens dar und damit auch den Drehund Angelpunkt der Erforschung des alltäglichen Geographie-Machens. Bei alledem geht es schließlich nicht darum, wie noch bei einer objekt- und raumzentrierten Geographie, zu sehen, welche Bedeutungen Orten sui generis inhärent sind, und wie diese räumlich zu lokalisieren, begrenzen und zu kartographieren seien, sondern wie (und welche) Bedeutungszuschreibungen zu Orten subjektseitig (re-)produziert werden, auf Grundlage derer sie erst einmal Bedeutung erlangen, sozusagen zu Orten von Bedeutung werden. Zur Un-Vereinbarkeit und Wieder-Vereinbarkeit von Geographie und Geschichte im Zuge des Spatial Turn Belässt man es bei den genuin geographischen und historiographischen Raumbetrachtungen und geht nun wieder dazu über, die beiden disziplinären Teilbetrachtungen zum Raum und zu einer Raumwende an dieser Stelle einmal zusammen Revue passieren zu lassen, dann dürfte doch eines deutlich geworden sein: Während eine sich im Zuge des spatial turn immer stärker an Räumlichkeiten ausrichtende Geschichtswissenschaft (deutscher Provenienz) dazu aufmachte, große oder weniger große Orte und Räume der Geschichte lesen zu lernen, begab sich eine akteursund handlungsorientierte Sozial- und Kulturgeographie infolge vielfältig vollzogener cultural turns hingegen auf ganz andere Wege – Wege, die sie schließlich mehr zur Untersuchung praxisgebundener Raum- und Ortsproduktionen führen sollten. Aus dieser denkbar gegensätzlichen Positionierung bzw. Wegleitung zum Raum resultiert bis zum heutigen Tage eine Zerklüftung zwischen einer raumorientierten Geschichtswissenschaft einerseits und praxisorientierter (Sozial-)Geographie andererseits, welche bisher scheinbar nicht zu überwinden ist. Auf der Suche nach genauen Gründen, warum sich die Versuche, Historiker und Geographen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen (SCHRÖDER & HÖHLER 2005:18) bisher so schwierig gestalteten, lässt sich auf beiden Seiten indes Unterschiedliches, wenn auch in Teilen gewiss Ähnliches in Erfahrung bringen. Ein wesentlicher, auf Seiten der Geschichtswissenschaft zu suchender Grund ist wohl darin zu sehen, dass Historiker – bei aller wiederentdeckten Raumemphase und getätigten Seitenblicken zu benachbarten Raumwissenschaften – bisher weitestgehend davon abgesehen haben, raumtheoretische Diskussionen aus der deutschsprachigen Sozial- und Kulturgeographie der letzten 30 Jahre zu rezipieren (vgl. PILTZ 2011:214f.). Nicht zuletzt deswegen hängen der Wiederbesinnung auf alles Räumliche der Geschichte aus Sicht der Geographie allerlei Problemlagen an. Problemlagen, die in dem kulminieren, was HARD einen ontologischen slum (HARD 2008: 268) genannt hat und sich schließlich in dem widerspiegelt, wie Raum historiographisch gebraucht wird, und zwar: in vielfältigen Seinsweisen und Durchmischungsverhältnissen, innerhalb derer er nebulös als Grenzgänger zwischen Materie und Sinn aufscheint (vgl. MIGGELBRINK 2005:80). So mag es im Hinblick auf SCHLÖGELs historiographische Ortskunde zwar einen gewissen Reiz haben, Stadtlandschaften flanierend abzugehen und hinsichtlich ihres historischen Sujets zu erlesen (vgl. HUFFSCHMID 2015; KOTTMANN 2005). Was bei all der neuerdings ent-

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brannten Euphorie um eine historische Raumforschung aber solcherart zumeist übersehen wird, ist der Umstand, dass sich hinter jenem Vorhaben nicht selten alter Wein in neuen Schläuchen [verbirgt] (GEPPERT et al. 2005:18). Freilich hat allen voran SCHLÖGEL mit seinem Werk sowohl wissenschaftlich als auch außerwissenschaftlich geographisches Denken popularisiert, was grundsätzlich viel Belebendes für die lang verdrängte Tradition der Beziehung von Geographie und Geschichte mit sich brachte (DÖRING & THIELMANN 2008a:21, 22). Wie DÖRING & THIELMANN mit Blick auf die deutschsprachige Humangeographie bereits treffend konstatiert haben, war dies eben aber genau das falsche (ebd.). So wiederbelebt [Schlögel] die erfolgreich zu Grabe getragene Vorstellung des Geographen als Kulturmorphologen und Landschaftsbetrachter und wirft die geographische Fachdiskussion auf ein Stadium zurück, das man vor mehr als dreißig Jahren […] glücklich hinter sich gelassen zu haben glaubte (DÖRING & THIELMANN 2008a:21f.). So gesehen hat das Erschleichen geographischer Diskussionsstände (MIDDELL 2005:39) seitens der deutschsprachigen Raumhistoriographie letztlich nicht dazu geführt, Theorie-, Wissens- und Erkenntnis(be)stände einer zeitgenössischen Geographie in die Geschichte zu holen und dort gewinnbringend zu integrieren. 24 Ganz im Gegenteil, wurden, wie im Falle SCHLÖGELs und ihm Folgender, eher totgesagte Geographietraditionen mitsamt der darin eingeschlossenen Raumfallen (LOSSAU & LIPPUNER 2004:203, 206) wiederbelebt, ohne sich bewusst zu machen, dass es sich besseren Wissens natürlich um ganz andere Dinge drehen müsste. 25 So wird der Ort, jedweder Erkenntnislogik entbehrend, als Schauplatz der Vergangenheit kurzerhand zum zentralen Geschichtsträger/-medium erklärt, indem man davon ausgeht, dass alle historische Information schon im Ort stecke, über ihn vermittelbar sowie durch ihn erfahrbar sei. Dies lässt einen zwangsläufig in eine Essentialismusfalle tappen, die, bewusst oder unbewusst betreten, das Bedeutete (den Ort) einfach mit der Bedeutung (der Ortsgeschichte) in eins fallen lässt. Folglich läuft man auch hier immer wieder Gefahr, ähnlich zum durch Pierre NORA (1990, 2005) berühmt gewordenen Konzept des Gedächtnis- bzw. Erinnerungsortes (lieux de mémoire), sowohl den Ort, an dem gleichsam alles haftet, als 24

25

Dies lässt sich so u. a. an DIPPER & RAPHAEL (2011) nachvollziehen, die auf einen – ihrer Meinung nach übersteigerten – Konstruktivismus in der Gegenwartsgeographie und deren Transfer in die Geschichtswissenschaft warnen, gar (Abwehr-)Stellung beziehen: gerade die Geografie hat es nicht erst seit ihrer Konstitution als Wissenschaft im Wesentlichen mit Räumen zu tun, die als teils von der Natur, teils von den Menschen gemacht betrachtet und einer entsprechend umfangreichen Klassifikation unterworfen worden sind; sie müsste daher eigentlich das letzte Bollwerk gegen den konstruktivistischen Ausschließlichkeitsanspruch darstellen (DIPPER & RAPHAEL 2011:40). Die teils ausschließende oder auch wechselseitige Durchdringung materialistischer und konstruktivistischer Raumkonzepte (JUREIT 2012a:13) wurde an anderer Stelle wiederum zum Anlass genommen, einen skeptischen Blick auf die eigene, teils eigenwillige Raumdiskussion in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zu werfen; siehe genauer dazu noch die nachfolgenden Ausführungen. Gemäß LOSSAU & LIPPUNER (2004) sind hier vor allem die Fallen einer, wie zuvor schon besprochenen, unreflektieren Verräumlichung und damit Vergegenständlichung und Naturalisierung von nicht-gegenständlichen, nicht-natürlichen Sachverhalten, wie soziale oder historische Praxis- und Symbolgehalte, gemeint.

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auch dessen Materialität als Gedächtnisvehikel (1990:7) zu überhöhen, ohne darauf aufmerksam zu machen oder gar dahinter zu kommen, wer und was den Ort überhaupt zum erinnerungs- bzw. geschichtswürdigen Ort hat werden lassen: die sozial-kulturellen Geschichts- bzw. Erinnerungspraktiken affekt- und gedächtnisfähiger Subjekte, welche in unterschiedlicher Art und Weise und in gewisser Kontinuität Zeugnis über den Ort und seine Geschichte ablegen (vgl. BERGER & SEIFFERT 2014; SERRIER 2015:130; SIEBECK 2011:75). 26 Was einen Ort letztlich zu einem Ort der Geschichte resp. Erinnerung macht, wird insofern verwischt oder verdeckt, als der Natürlichkeit und Authentizität von Geschichts- und Erinnerungsorten das Wort geredet wird. Ähnlich dem SCHLÖGELschen Bestreben im Raume die Zeit lesen zu wollen, ist es eben auch den von NORA inspirierten Projekten zu geschichtsträchtigen Gedächtnisorten eigen, sich wenig differenziert und unzureichend theoretisch-reflektiert mit der Vielgestaltigkeit der Räumlichkeit von Geschichte auseinanderzusetzen (vgl. ERLL 2012:266f.; SIEBECK 2011:85ff.). Einem (neo-)positivistischen Wissenschaftsverständnis verhaftet (vgl. GEPPERT et al. 2005: 18), werden historische Räume und Orte naturaliter als existierende Wirklichkeiten angesehen, in bzw. an die man nur noch zu gehen braucht, um räumlich bezeugt, nachschauen zu können: wie es eigentlich gewesen ist (SCHLÖGEL) bzw. welche Erinnerungen Orten sui generis innewohnen (NORA). Dass dies nur in fragwürdige Reduktionismen wie Essentialismen münden kann, und folglich wenig erkenntnistheoretisches Potential in sich birgt, mag man wohl, auch ohne raumtheoretisch sensibilisiertes Bewusstsein und ohne den Blick in die Paradigmengeschichte der Geographie gerichtet zu haben, erkennen. Denn was beide Autoren an Orten und Räumen meinen lesen bzw. erlesen zu wollen, sind weniger Vergangenheiten bzw. Erinnerungsgeschichten an sich, als vielmehr Spiegelbilder ihrer ganz eigenen, an den jeweiligen Ort mitgebrachten und nicht frei von Nostalgie vorgefertigten Raum- und Geschichtsansichten. So gesehen bleibt die Frage nach dem Nexus zwischen Raum und Geschichte (und auch Erinnerung) trotz oder gerade wegen derartiger Inblicknahmen nach wie vor klärungsbedürftig und infolgedessen eine drängende Forschungsangelegenheit. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass selbst in den Reihen der Geschichtswissenschaft mittlerweile Stimmen laut wurden, die einen verstärkten Bedarf an theoretischen Reflexionen in Sachen Raum anmerken bzw. einfordern (vgl. RÜSEN 2005:7). So wurde die einst von KOSELLECK in den 1970er-Jahren formulierte Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft (KOSELLECK 2000c) unlängst insbesondere von einer Neuen Kulturgeschichte mit Blick auf Raumund Ortsfragen erkannt, kundgetan und bereits produktiv umgelegt (vgl. AULKE 2015; FÜSSEL 2013; HANDRO & SCHÖNEMANN 2014; JUREIT 2012a; LANGTHALER 2013; PILTZ 2011; RAU 2013a; SANDL 2009). Als ein erster dahingehender Versuch 26

Siehe in diesem Zusammenhang weiterführend die bereits angestellten Überlegungen des Autors zu einer Geographie der Erinnerung, welche diese Problematik an anderer Stelle schon ausführlicher besprochen hat (vgl. LEIPOLD 2014, 2019). Die spezielle Verbindung zu mehr erinnerungsgeographischen Themen- und Forschungsbezügen wird an späterer Stelle des Buches indes nochmal aufgegriffen und zum Gegenstand einer detaillierteren Betrachtung gemacht.

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eine raumtheoretisch informiertere Geschichtswissenschaft zu betreiben, kann die politikgeschichtlich runderneuerte Raumhistoriographie der Hamburger Historikerin Ulrike JUREIT angesehen werden. JUREIT fragt in Bezug auf Lebensraumvorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, welche im Kolonialismus und Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichten, nach der Historisierung politischer Räumlichkeit, mehr noch: nach der historischen Herstellung und Variabilität von Raumvorstellungen, nach spezifischen Erscheinungsformen politischer Territorialität, nach der Verklammerung wissenschaftlicher Theoriebildung und politischer Handlungspraxis sowie und vor allem nach den zentralen Semantiken, Konzepten und Praktiken räumlichen Ordnens (JUREIT 2012a:21f.). 27 In Analogie dazu hat sich die Erfurter Neuzeithistorikerin Susanne RAU (2011, 2013a) unlängst dazu aufgemacht, eine breiter aufgestellte historische Raumforschung auf den Weg zu bringen und entsprechend von Grund auf zu (re-)formulieren und zu konzeptionalisieren. Die reinen Absichtserklärungen einer räumlichen Wende in der Geschichtswissenschaft beiseiteschiebend, geht es ihr speziell darum, in der mittlerweile wiederverorteten deutschsprachigen Historikerschaft und unter dem Eindruck geäußerter Geographenkritik, einen reflektierten und reflexiven Umgang mit der Vokabel Raum einzuüben (RAU 2013a:60) – unter der Bedingung: nicht gänzlich den Blick fürs Zeitliche und die eigene geschichtliche Expertise zu verlieren.28 Unter Rekurs auf einschlägige Raumdebatten, -konzepte und -werke hat sie indes aufgezeigt, welche verschiedenen Forschungszweige einer historischen Raumanalyse (RAU 2013a:133f.) alles eingeschlagen werden können. RAU zufolge scheint dabei gerade in der Analyse und genauen Bestimmung von kultur- und zeitspezifischen Raumbegriffen, Raumkonzepten, Raumwahrnehmungen und Raumpraktiken […] der genuin historiographische Beitrag zur Raumdebatte zu liegen (RAU 2013a:108). Im Hinblick darauf hebt sie – analog zu JUREIT – ferner die methodischen Verfahrensweisen und historischen Quellenbestände hervor, mithilfe derer u. a. historische Raumformationen und Raumdynamiken, zeitbezogene Konstruktionen von Räumen oder die kontingente Nutzung von Geschichtsräumen letztlich erst erforschbar würden (RAU 2013a:134).29 Fragt man nun, wieder die andere, geographische Seite der Betrachtung einnehmend, danach, warum die neue Affinität von Geschichte und Geographie (REU27

28

29

Ähnlich zum obigen Vorschlag JUREITs hat sich Jahre zuvor bereits die Humangeographin Antje SCHLOTTMANN geäußert: anstatt sich mit Räumen per se und der Verräumlichung von gewordener Geschichte zu beschäftigen, sollte man vielmehr nach der handlungszentrierten Historisierung der alltäglichen Herstellung von Raum Ausschau halten (SCHLOTTMANN 2005b:132). Ganz in diesem Tenor ist dann auch der von JUREIT erschienene Sammelband zu Umkämpften Räumen (2016) zu sehen, der die Thematik Raum mit der der Gewalt auf ähnlich interessante Art und Weise verschränkt. Vgl. RAU (2013b:56). Unter dieser Prämisse ist dann auch der Sammelband von DORSCH & RAU (2013) zu lesen, in welchem sich unterschiedlichste historisch interessierte Autoren raumzeitlichen Praktiken zuwenden, womit eine gleichberechtigte Einbindung von raum- wie zeitbezogenen Fragestellungen ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rückt. In diesem Zusammenhang lassen sich dann auch RAUs Bemühungen um eine transdisziplinär angelegte RaumZeit-Forschung sehen, wie sie durch sie und andere seit 2011 in Erfurt betrieben wird (RAU et al. 2012).

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BER 2005:7), trotz erkennbarer Annäherungsversuche der Geschichtswissenschaft, bisher noch keine richtigen Früchte tragen konnte, so sind auch hier spezifische Gründe ausfindig zu machen. Ein wesentlicher Grund, weshalb die Wiedervereinigung geographischen und historischen Denkens bisher weithin fruchtlos blieb, ist wohl darin zu sehen, dass eine neuere Sozial- und Kulturgeographie trotz ihrer Expertise in Fragen des Raumes selbst bisher keine geeignete Form gefunden hat, über die missbilligende Haltung gegenüber den historiographischen Raumwiederentdeckungsbestrebungen hinaus, tiefergehende Angebote zu unterbreiten, anhand derer sich Historiker vergangener Zeiten räumlich dimensioniert und in angemessener Art und Weise hätten nähern können. So wird die Geographie unter dem Eindruck raumtheoretischer Wendungen (spatial turns) zwar immer wieder von Außenstehenden in den Rang einer Leitdisziplin gehoben (BACHMANN-MEDICK 2006:285). Doch scheint sie diese Rollenzuschreibung insofern nur bedingt anzusprechen, als sie sie bisher nur in Teilen anzunehmen und meist nur dann auszufüllen wusste, wenn es darum ging, beständig aufzeigen, was alles vom eigenen (Wissenschafts-) Standpunkt aus mit dem Raum zu machen sei und was nicht. Ungeachtet dessen haben sich im Laufe der letzten Jahre gleichwohl ganz verschiedene Sprecher- und Beobachterpositionen herauskristallisiert, die zur Raumkonjunktur außerhalb der Geographie, mit speziellem Blick auf die Geschichtswissenschaft, divers Stellung bezogen haben. Die Position, die bisher wohl am wenigsten Kritik hinsichtlich der vielen außergeographischen Raumwenden und deren problematischen Anhängseln zu formulieren wusste, ist die des bereits erwähnten nordamerikanischen Humangeographen Edward W. SOJA. Bis zu seinem Tode im November 2015 vertrat er in der aktuellen Raumdebatte eine weithin emphatische Position (DÖRING & THIELMANN 2008a:33). Das nicht nur deswegen, weil er der Renaissance des Raumes, mithin dem spatial turn einen Namen gab und als Vater des Gedankens der einmaligen Chance ins Auge blickte, mit seiner Begriffsgebung ein neues, historisches Großparadigma eingeleitet zu haben. Es begründet sich vor allem auch damit, dass es für ihn nicht die eine Definition für diese andere Art des Denkens von Raum und Räumlichkeit [gibt], sondern unendlich viele Betrachtungsperspektiven, von denen jede spezifische neue Erkenntnisse über geographical imagination entfaltet, und damit auch auf ihre eigene Art die Grenzen und Dimensionen einer kritischen Humangeographie erweitert (SOJA 2003:269; Herv. i. Orig.). In diesem Sinne wusste er den sich in den letzten Jahren ausbreitenden Raumgeist (SOJA 2008:241) in den benachbarten Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft entsprechend zu honorieren. Inspiriert von FOUCAULT und LEFEBVRE ging es ihm doch schließlich darum, einen gegenseitigen Ausgleich zwischen den fächerspezifischen Betrachtungen und Dimensionierungen von Sozialem, Historischem und Räumlichem zu schaffen, indem er, entsprechend seiner entwickelten thirding-Logik, die Verbindung von Räumlichkeit – Gesellschaftlichkeit – Geschichtlichkeit (SOJA 2003: 271) ins Zentrum seiner Geographiekonzeption rückte, was nicht zuletzt eine gezielte Annäherung an die Nachbarwissenschaften, allen voran an die Soziologie und Historiographie, selbstredend mit einschloss.

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Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

Am anderen Ende des so aufgemachten Diskussionsspektrums sind indes jene zuvor bereits erwähnten Geographen zu finden, die allen voran aus der deutschsprachigen (neuen) Sozial- und Kulturgeographie stammen und welche die Position SOJAs wie seiner damit verbundenen Implikationen nicht oder nur teilweise teilen. Sie nehmen im interdisziplinären Raumdiskurs eine aversiv-souveräne Position ein (DÖRING & THIELMANN 2008a:34). 30 In ihrer klarsten Ausprägung offenbart sich diese kritische Grund- und Abwehrhaltung vor allem bei den schon mehrmals angeführten Geographie-Theoretikern HARD und WERLEN. Beide bemängeln je auf ihre Art und Weise den sorglos-uninformierten Umgang von Nicht-Geographen mit Alt-Beständen der eigenen Fachgeschichte (DÖRING & THIELMANN 2008a:34). So wussten sich HARD und WERLEN vor allem an der von SCHLÖGEL prominent wiederbelebten Figur des Raum- und Orte-Lesens zu stoßen, da sie – wie bereits erörtert – eine Sichtweise und Vorstellung von Geographie transportierte, die innerfachlich durch eigene kulturtheoretische Wendungen (cultural turn, linguistic turn) bereits längst ad acta gelegt wurde – zu mindestens für einen neueren, theoretisch-aufgeklärteren Fachteil der Geographie. Glaubte man doch das Paradigma der Landschaftsgeographie und eine geomorphologisch geleitete Sicht der Dinge durch konstruktivistische und praxisorientierte Raumwendungen schon weit bzw. weiter hinter sich zu haben. Umso überraschender musste man also feststellen, dass eine Schlögelsche Landschaftshermeneutik (HARD 2008:268) und eine damit wiederbegründete Raummorphologie (WERLEN 2008:365) nicht nur zu neuen Weihen gelangte, sondern auch einen gewissen Nährboden fand (vgl. SCHENK 2007). Aus der Sicht aufgeklärter Geographen, deren Sinnbild HARD und WERLEN in persona darstellen, ist es raumorientierten Geschichtswissenschaftlern denn nicht in vollumfänglichem Maße gelungen, einen wirklichen turn zu vollziehen bzw. herbeizuführen. Ein turn, der, wie es BACHMANN-MEDICK pointiert auf den Punkt bringt: einen Umschlag vom Untersuchungsgegenstand zur Analysekategorie (2006:25), also einem Wegdrehen von der Raumoberfläche hin zur analytischen Durchdringung unterschiedlichster die Sozialwelt betreffender Raumphänomene mit sich gebracht hätte und an deren Ende erst die Ausbildung eines kritischen Raumverständnisses (2006:289) innerhalb der Geschichtswissenschaft gestanden hätte.31 An dieser Stelle sei, wenngleich etwas spät, angemerkt, dass es innerhalb der wissenschaftlichen Geographie freilich schon lange einen Ort gibt, an der Geo30

31

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass DÖRING & THIELMANN dazwischen, d. h. zwischen den beiden genannten Positionen noch eine strategisch-neutrale Position innerhalb der humangeographischen Diskussion um den spatial turn veranschlagen (exemplarisch vertreten durch die angloamerikanischen Geographen THRIFT und CRANG). Auf Grundlage dieser Position wird unaufgeregt die Raumdiskussionen der Nicht-Geographen auf der Suche nach anschlussfähigen Beständen [durchmustert] (DÖRING & THIELMANN 2008a:34). Vgl. QUADFLIEG (2011:22f.). Dass eine kritisch-reflektierte Sichtweise auf Raum mittlerweile in der Geschichtswissenschaft Einzug gehalten hat, sei hier nicht umgangen und muss hier vielmehr nochmals betont werden. Dies sollte sich vor allem an den zuvor dargestellten Arbeiten von JUREIT (2012a) und RAU (2013a), stellvertretend für andere der neueren Kulturgeschichte deutlich gemacht haben.

Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

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graphie und Geschichte programmatisch und institutionell zusammentreffen: die Historische Geographie (DENECKE & FEHN 1989; SCHENK 2011). Aufgrund weitgehend fehlender theoretischer Unterfütterung eigenen Erkenntnisinteresses und der weitgehenden Nicht-Präsenz in aktuellen Wissenschaftsdiskussionen (spatial turn/ cultural turn) bleibt die Stimme der Historischen Geographie deutscher Provenienz allerdings – anders als z. B. ihr angloamerikanisches Pendant (vgl. BAKER 2003; GREGORY 2004; HARVEY 1990; NAYLOR 2008; WITHERS 2009) und trotz selbst attestierter Raum-Zeit-Kompetenz 32 (FEHN 2007:449) – in Geographie wie auch Geschichte leider größtenteils ungehört. So vermochte es folglich selbst eine Historische Geographie bisher nicht, trotz umfangreich dokumentierter Forschungstätigkeit, dazu beizutragen, und deswegen auch das lange Beschweigen zuvor, die wiederstreitenden Raum-Positionen zwischen Geographen und Historikern wieder zusammenzuführen (vgl. DIX 2005:3f.).33 Das lag und liegt nicht zuletzt wohl vor allem daran, dass die deutschsprachige Historische Geographie beharrlich und unkritisch auf eben jenen geo- und raummorphologischen Erklärungsansätzen besteht (vgl. GEBHARDT 2015:2f.; SCHENK 2011:1), wie sie neuerdings Historikern, welche sich immer mehr raummaterialistisch ausrichten, scharf und ohne Kompromisse einzugehen, zum Vorwurf gemacht werden. Hält man abschließend beide Positionen, die der Geschichtswissenschaft und die der Geographie im aktuellen Raumdiskurs gegeneinander, dann lässt sich nun abschließend eines im Wesentlichen herausstellen: Der spatial turn hat eine einschneidende Spur hinterlassen, die das Verhältnis zwischen deutschsprachiger (Human-)Geographie und Historiographie nachhaltig erschwert hat – mit dem Ergebnis: einer bis heute anhaltenden Unvereinbarkeit von geographischer und historischer Forschungsarbeit (s. Abb. 1/vertikale Achse). Umso mehr drängt sich hier die Frage auf, wie sich die so aufgemachte Kluft zwischen Geographie und Geschichte im aktuellen Raumdiskurs beiderseitig gewinnbringend überbrücken lässt? D. h.: Wie lässt sich am Ende der von vielen Historikern im Anschluss an SCHLÖGEL geäußerte Wunsch – durch den Raum die Zeit lesen zu wollen –, der bei einigen Geographen (berechtigterweise) auf Abneigung stieß, dann doch noch forschungslogisch angemessen umsetzen und damit Geographie und Geschichte (wieder) zusammenbringen? 32

33

Im Hinblick auf eine Gegenwartsgeographie tritt die kompetente Betrachtung des Raum-ZeitNexus' ferner am deutlichsten innerhalb zeitgeographischer Forschungsarbeiten zutage, wenngleich hier mit Zeit nicht per se historisch Sinnhaftes gemeint ist, sondern Zeit (wie auch Raum) vielmehr als relational-metrisch bzw. hochgradig technisch gedachte Kategorie ihre Übersetzung findet (vgl. HÄGERSTRAND 1970; CARLSTEIN et al. 1978). Raum und Zeit als bedeutungsvolle epistemologische Dimensionen zu betrachten, ist dagegen die Art und Weise, wie eine anglophone (new) Historical Geography in Abgrenzung zu älteren Ansätzen geohistorische Forschung zu betreiben beabsichtigt: Traditional forms of historical geography could scarely claim a better track record, of course, so the solution was not to defend existing methods but, rather, to create a critical, theorectically informed historical geography within a new, historically sensitive human geography (HEFFERNAN 2009:334). Darauf weiß dann, wenngleich zeitlich entrückt, auch das Zitat von SCHÖLLER zu Anfang des Kapitels hinzuweisen.

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Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

Abb. 1: Un-/Vereinbarkeit von Geographie und Geschichte im Zuge des spatial turn

In den nachfolgenden Kapiteln und Ausführungen wird es darum gehen, sich der zuvor geschilderten Problemlage – der Unvereinbarkeit von Geographie und Geschichte im Zuge raumtheoretischer Wendungen (spatial turns) – Schritt für Schritt anzunehmen. Zu diesem Zweck wird im Folgenden in mehreren Teil-Etappen eine Forschungsperspektive zu entwickeln versucht, welche sich, in ersten Schritten theoretisch und in finalen mehr methodisch-empirisch, der konzeptionellen Verbindung von Raum und Zeit verschreibt. Demgemäß hat es sich die Arbeit zum übergeordneten Ziel gesetzt, einseitig gestrickte Dimensionierungen von Raum und Zeit einerseits sowie von Geographie und Geschichte andererseits aufzubrechen – alles daraufhin ausgerichtet und dem SCHÖLLERschen Eingangszitat (1989) Rechnung tragend: beide Wissenschaftskategorien und -disziplinen mehr in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander (denn in ihren Abgrenzungen voneinander) fassen und verstehen zu können. Mit dem Konzept des geohistorischen Spurenlesens (s. Abb. 1/horizontale Achse), so der hier unterbreitete Vorschlag, soll einiges von dem, was die interdisziplinären Problemlagen zwischen Geographie und Geschichte derzeitig ausmachen, zusammengeführt werden, mehr noch, basierend auf dem gemeinsamen terminologisch-konzeptionellen Nenner Spur, überwunden werden. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet, wird zu klären sein, welchen heuristischen Mehrwert sich durch die Hinzunahme der Kategorie Spur und der des Spurenlesens für sowohl geographische als auch geschichtswissenschaftliche Theorie- und Forschungsentwicklungen ergeben können. Mit dieser Ausrichtung wird schließlich der Versuch unternommen, der unlängst ausgegebenen Maxime folgend, die Sozialgeographie mehr in Transdisziplinarität (WERLEN 2013b:89), d.h. im Gleichschritt mit archäologischen, historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen [zu betreiben] (WERLEN 2010c:332). Im Rahmen der eigenen

Zum Verhältnis von Geographie und Geschichte

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Arbeit soll dezidiert der transdisziplinäre Dialog zu historischen Forschungsdisziplinen gesucht und an der Spur aufgenommen werden. Schlussendlich geht es darum, die (scheinbar unüberbrückbare) Kluft zwischen Geographie und Historiographie, die sich seit geraumer Zeit aufgetan hat, zu überbrücken und in der Folge zum beiderseitigen Gewinn werden zu lassen (vgl. BAKER 2003; GOTTHARD 2005; LEIPOLD 2015b; PILTZ 2011; RAU 2013a/b; REUBER 2005; SCHLOTTMANN 2005b). Die Konzeptionalisierung eines geohistorischen Spurenlesens ist in dieser Hinsicht jedoch nicht als ein neuerlicher Anlauf oder gar großer Wurf zu einer neuen – in BRAUDELscher Tradition stehender – Geohistorie (BRAUDEL [1949]1994; GRATALOUP 2005) misszuverstehen. Vielmehr soll mit der Perspektivierung von Spuren entsprechend am Problemfall und im Kleinen angesetzt werden sowie ein offenes und anschlussfähiges heuristisches Instrumentarium vorgestellt und verfügbar gemacht werden, was für geographische und historische Forschungen, sich wieder einander annähernd, gegenseitig befruchtend und ohne etwaigen Kurzschlüssen (SCHÖLLER 1989:73) zu erliegen, gleichermaßen genutzt werden kann.

3

Spuren, Spurensuche, Spurenlesen

Was ist eine Spur? Mit dieser einleitenden Frage nimmt nicht nur dieses Kapitel seinen Ausgang. Sie wurde ferner schon an den Anfang eines Sammelbandes (KRÄMER 2007a:11) gestellt, der den kurzen aber zugleich denkwürdigen Begriff der Spur im Titel trägt (KRÄMER et al. 2007). Was eine Spur ist, gilt es in den nächstfolgenden Kapiteln genauer zu ergründen. Antworten auf diese Frage werden aus vielerlei Richtungen her versucht zu geben. Neben kleineren alltags- und lebensweltlichen Seitenblicken wird der Topos der Spur dabei insbesondere in den Mittelpunkt einer wissenschaftshistorischen sowie wissenschaftstheoretischen Betrachtung gerückt. Vor dem Hintergrund eines seit einigen Jahren prominent gewordenen Indizien- und Spurenparadigmas gilt es in den nachfolgenden Kapiteln genauer auszuloten, wann und wie sich Spuren erstmalig ins Zentrum wissenschaftlicher Erkenntnis drängten und welche paradigmatischen Ansichten zu Spuren sich hieraus bis heute entwickelten. Außer disziplingenuinen Zugangsweisen zu und Umgangsweisen mit Spuren werden hier vor allem grundlegende Theoreme und konzeptionelle Grundansichten einer zeitgenössischen Spurenforschung vorgestellt, bevor sie zum Fundament der eigenen Theoriearbeit gemacht werden. Dem Grundanliegen dieser Arbeit Rechnung tragend, wird sich im Folgenden entsprechend – als Leitmotiv wie zugleich auch Fluchtpunkt der zu entwickelnden Gesamtargumentation – immerwährend der Verbindung von Raum und Zeit wie Geographie und Geschichte verschrieben. 3.1

Alltäglichkeit von Spuren und Spurenlesen

In der deutschen Sprache existieren unterschiedlichste Begriffe, Konnotationen und Redewendungen, welche allesamt dem Wortstamm Spur entspringen. Dabei treten uns beim Sprechen über Spuren zugleich immer auch – im metaphorisch gemeinten Sinne – Bilder vor Augen, die dem, was da als Spur bezeichnet wird, visuellen Ausdruck verleihen. Kurzum: In unserem Alltag zirkulieren viele sprachlich und bildhaft vermittelte Vorstellungen von Spuren, die uns in unserer Sicht auf selbige leiten und bestimmen.

Spuren, Spurensuche, Spurenlesen

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Da wäre zunächst das Wort Spur, das etymologisch besehen, dem althochdeutschen Wort Spor entstammt, und so viel wie den durch niedertreten oder stoszen gebildeten eindruck des fuszes im boden bezeichnet (GRIMM & GRIMM 1960:235). Über jenes Sinnbild der Spur als Fußspur hinaus gibt es ferner das sogenannte Gespür (auch Spürsinn), eine anlagebedingte wie auch erlernbare Fähigkeit, die es einem erlaubt, einer Spur erst gewahr zu werden. Nebstdem existieren Spurrillen, Tonspuren oder auch Spurweiten (u. a. Schmalspur) oder, damit zusammenhängend, ebenso Redewendungen wie nicht aus der Spur geraten, die Spur halten, die die Spur zusammengenommen im Sinne einer technisch vorgerichteten Infrastruktur bezeichnen; bis hin zu Ausdrücken wie Spurenelemente und der berühmt-berüchtigten Spur Salz oder bestimmten Attribuierungen wie spurlos verschwunden, spürbar oder zu guter Letzt Tätigkeitsbeschreibungen wie spuren oder (er)spüren selbst, die wiederum und im eigentlichen Sinne zu verstehen geben, wie man – expressis verbis – Spuren selbst auf die Spur zu kommen vermag. Das zuvor kurz skizzierte Spektrum an Spurenwörtern und -ansichten kann als ein exemplarischer Beleg dafür hergenommen werden, mit welcher Vitalität sich die Spur-Metapher im Alltagsdiskurs und in kommunikativen Situationen immer wieder niederschlägt (SPITZNAGEL 2001:240). Denn, so lässt sich an dieser Stelle mit der Philosophin Sybille KRÄMER konstatieren: [s]elbst wenn wir keine Jäger sind, die der Fährte des Wildes folgen, keine Kommissare, die am Tatort Spuren sichern, keine Archäologen, die nach Überresten vergangener Zivilisation fahnden, haben wir doch ein lebensweltliches Wissen davon, was Spuren sind und in welchen Zusammenhängen Spuren lesen sinnvoll ist (KRÄMER 2007b:155).

Mit der so formulierten Alltäglichkeit von Spuren und ihr verbundener Erscheinungen korrespondiert gleichsam eine genuine Wissenschaftlichkeit, die sich in gleicher Weise mit dem Phänomen der Spur verbinden lässt. Es steht außer Frage, dass die sich zumeist fein säuberlich voneinander getrennten Bereiche, das Alltägliche und das Wissenschaftliche, und so auch alltagsweltliche und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Spuren, gleichwohl gegenseitig rahmen und bedingen. So gesehen bestehen auch zwischen spurenbezogenen Alltagsansichten und der Verwissenschaftlichung von Spurenphänomenen zahlreiche wechselseitige Bezüge. So ist die wissenschaftliche Diskussion über Spuren immer auch auf ein lebensweltlich-sprachliches Vorverständnis (GAWOLL 1986/87:45), einem Verständnis, was zuvor in aller Kürze dargelegt wurde, angewiesen, wie auch das gelehrte Nachdenken über Spurenphänomene wiederum nicht ohne Einfluss auf unser Alltagsleben, -denken und vor allem auch unsere Alltagssprache bleibt. Wie sich diese Wechselseitigkeiten zwischen alltäglichen und wissenschaftlichen Spurenansichten derzeitig genau gestalten bzw. vordem über die Wissenschaftshistorie gestalteten, ist eine Frage, auf die im Folgenden eine geschichtlich-genealogische wie theoriegeleitete Betrachtung von Spuren genaueren Aufschluss geben soll.

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Spuren, Spurensuche, Spurenlesen

3.2

Wissenschaftlichkeit von Spuren und Spurenlesen

Der Ausgangspunkt paradigmatischer Hinwendung zu und expliziter Auseinandersetzung mit Spuren wird aus heutiger Sicht in die 1970er-Jahre datiert, einer Zeit, als das Spurensuchen erstmals in den Rang akademischer Wissenskunst (KRÄMER 2007b:156) erhoben wurde. Einer, der aus der Retrospektive im Wesentlichen dafür verantwortlich zeichnet, ist der italienische Historiker Carlo GINZBURG. Ihm und seiner Arbeiten ist es zu verdanken, dass Spuren und ihr verbundene Wissenspraktiken (insb. Spuren-Suchen, -Lesen, -Interpretieren) die wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Inwertsetzung erfahren haben, die ihr zuvor über lange Zeit weithin verwehrt blieben.34 Doch auf welchen Wegen kam GINZBURG zur Spur bzw. die Spur zu GINZBURG? Antwort auf diese Frage gibt ein Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Spurensicherung. 35 In diesem programmatischen Text legt GINZBURG grundlegend zweierlei Dinge offen. Einerseits zeigt er detailreich auf, dass das Suchen und Lesen von Spuren wohl als ältester Gestus in der Geschichte des menschlichen Intellekts (GINZBURG 1988c:91), mehr noch als anthropologische Grundkonstante angesehen werden kann. Zur Untermauerung dessen und als historische Erstreferenz dient ihm schließlich der Urtypus des Jägers, der es seiner Meinung nach im Verlauf zahlreicher Verfolgungsjagden lernte, aus Spuren im Schlamm, aus zerbrochenen Zweigen, Kotstücken, Haarbüscheln, verfangenen Federn und zurückgebliebenen Gerüchen Art, Größe und Fährte von Beutetieren zu rekonstruieren. Er lernte es spinnwebfeine Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren. (GINZBURG 1988c:88)

Über jene Einsichten hinaus macht er andererseits deutlich, und dies bildet das Kernmoment seiner Überlegungen, dass es sich beim Spurenlesen in gleichem Maße um ein epistemologisches Modell (GINZBURG 1988c:78) handelt, was im Vergleich zum entwicklungshistorisch bezeugten Gebrauch von Spuren eher den wissenschaftlichen Erkenntnisnutzen betont. Anstoß für letztere Einsicht gab GINZBURG eine wissenschaftshistorische Beobachtung der Jahre 1870−1880, innerhalb derer er zahlreiche Zeugnisse für eine veränderte Sicht der Dinge erspürte, die für ihn schlussendlich und qualitativ betrachtet in etwas ganz Neuem kulminierten 34

35

An dieser Stelle ließen sich sicher auch die Philosophen Jacques DERRIDA (1974), Martin HEIDEGGER (1953) oder Emmanuel LÉVINAS (1987) ins Feld führen, welche vor, während und nach GINZBURG ebenfalls und in jeweiliger Manier zur wissenschaftlichen Inwertsetzung der Spur beitrugen (vgl. GAWOLL 1989). Für GAWOLL (1986/87:46) sind diese zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit Spurenphänomenen dagegen nur eine Station innerhalb einer längeren Genealogie, die bei PLATON und seinen Überlegungen zu Gedächtnisspuren anfängt und über LEIBNIZ, DESCARTES, PROUST, BERGSON, BENJAMIN bis zu FREUDs psychoanalytischen Spurensuchen reicht. Da GINZBURGs Arbeit – wie noch zu zeigen sein wird – rückblickend betrachtet die zentrale Initialzündung für eine zeitgenössische Auseinandersetzungen mit Spuren auslöste, beginnt die nachfolgende Darstellung auch bei ihm. Auf die oben genannten Autoren und deren Überlegungen zu Spuren wird noch an entsprechender Stelle Bezug genommen. Der italienische Originaltext wurde bereits 1979 publiziert. Die deutsche Übersetzung erschien zuerst 1980. Der hier zugrunde gelegte Text wurde 1988 zusammen mit anderen in einer Essaysammlung veröffentlicht.

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(GINZBURG 1988c:87). Nicht weniger als ein Indizienparadigma 36 ist es, was am Ende seiner Reise durch die Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts steht. Die Legitimität eines solchen Paradigmenfundes sieht GINZBURG, als Entdecker37, selbst durch überlieferte Quellenbestände humanwissenschaftlichen Denkens und Arbeitens gestützt. In Kunstgeschichte, Kriminalistik und Psychoanalyse nebst namhafter Vertreter (Giovanni Morelli, Sherlock Holmes, Sigmund Freud) macht GINZBURG schließlich den Ursprung spurenbezogener Wissenschaftsarbeit ausfindig. In allen drei genannten Fällen wurde seiner Ansicht nach die Spurensuche als semiotisches Paradigma (GINZBURG 1988c:107) entwickelt und etabliert: im Falle Morellis als kunsthistorische Methode, um die Echtheit und Provenienz von Bilder zu bestimmen; im Falle Holmes als kriminalistische Verfahrensweise zur Aufklärung von Straftaten; und im Falle Freuds als analytisches Werkzeug, um psychische Störungen spurengeleitet zu ergründen (vgl. GINZBURG 1998c:79ff.). Allen drei genannten Spurensuchern ist es schließlich eigen, dass sie fast zur gleichen Zeit gedachten, über Spuren und das Auslesen von Spuren eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen (GINZBURG 1988c:87). Letzten Endes hat GINZBURG die Spur und ein damit verbundenes Indizienparadigma nicht nur entdeckt und so zur Prominenz verholfen. Er hat es darüber hinaus ebenso zur Grundlage einer geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin gemacht, die sich unweigerlich mit seinem Namen verknüpft: die microhistoria oder Mikrogeschichte (vgl. GINZBURG & PONI 1985; GINZBURG 1993b). Wie den von ihm entdeckten Vorläufern des Indizienparadigmas (Kunstgeschichte, Kriminalistik, Psychoanalyse) ist es auch der Mikrogeschichte eigen, so GINZBURG, eine in hohem Grade qualitative Wissenschaft (1988c:93) zu sein, deren Augenmerk sich am Einzelfall, am Unbekannten und Unbesehenen ausrichtet. 38 Im Gegensatz zu den bis dahin dominanten Historiographien, die an den großen historischen Ereignissen, Personen und Strukturlinien der Vergangenheit interessiert waren, sah und sieht die Mikrogeschichte ihre Aufgabe indes eher darin: aus scheinbar nebensächliche[n] Eigenschaften tiefgründige Phänomene von großer Bedeutung [zu] enthüllen (GINZBURG 1988c:115), indem sie vergessene, vernachlässigte oder verdrängte Details der Geschichte mikrologisch zutage zu fördern versucht. Hiernach soll Geschichte nicht – gängiger Metanarrationen der Geschichte zufolge (vgl. WHITE 36

37 38

GINZBURG (1988:118/Anm. 1) spricht in diesem Zusammenhang ganz bewusst von einem Paradigma im KUHNschen Sinne (vgl. KUHN 1976), welcher selbst darunter allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen [versteht], die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern (KUHN 1976:10). GINZBURG gilt heute gemeinhin als Spiritus Rector des von ihm entdeckten Indizien- bzw. Spurenparadigmas. Allerdings insistiert er immer wieder dagegen, aufgrund seines Fundes als alleiniger Meisterdenker eben jenes Paradigmas hingestellt zu werden (GINZBURG 1988a:9). Damit grenzte GINZBURG sein Indizienparadigma in gleichem Zuge von einem galileischen Paradigma ab, welches sich seinem Namensgeber folgend, schon immer mehr für Messbares, für Quantitäten, Allgemeinsätze und Letztwahrheiten interessierte, und damit anders als GINZBURG, für den qualitativ unterscheidbaren Einzelfall (vgl. GINZBURG 2007:257). Diese grundlegende Unterscheidbarkeit hielt ihn aber indes nicht davon ab, auch Gemeinsamkeiten und Schnittmengen zwischen einer quantitativen und qualitativen Spurenforschung aufzuzeigen.

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1991) – allein von oben herab betrachtet, geschrieben und erzählt werden, als vielmehr von den kleinsten bestimmbaren historischen Einheiten, also von Spuren ausgehend, zum Gegenstand reifen.39 Bei alledem versucht GINZBURG stets ein alltagsnahes und mikroskopisch kleines Bild der Geschichte zu skizzieren, das sich z. B. von strukturgeschichtlichen Ansätzen einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte allein schon von der Maßstäblichkeit der Perspektive her gesehen klar unterscheidet. Darüber hinaus rückt er mit seiner spurenbasierenden Geschichtslektüre historische Gegenstände, Subjekte und Gemeinschaften in den Fokus, die man zuvor auf geschichtswissenschaftlichen Forschungsagenden noch vergebens zu finden suchte. GINZBURGs Spurensuche im Gewand der Mikrogeschichte hat ein Um- bzw. Neudenken von Vergangenheit und Geschichtswissenschaft befördert, das sich bis heute in Reihen der Historikerzunft sowie über Länder- und Fachgrenzen hinweggehend, nachhaltig ausgewirkt hat. Das Programm mikrohistorischer Spurensuchen hat dabei gleichwohl nicht nur Anstoß zu weiteren Disziplinentwicklungen innerhalb der Historiographie gegeben – man denke nur an die seit den 1980er-Jahren aufkommenden alltagsgeschichtlichen Forschungsansätze (vgl. HARDTWIG 1994; VAN LAAK 2003:42ff.; LÜDTKE 2007:636f.) und deren gesellschaftlichen Parallelentwicklungen (vgl. BERLINER GESCHICHTSWERKSTATT e.V. 1983; LINDQVIST 1989; MUSEUMSPÄDAGOGISCHER DIENST HAMBURG 1988) oder zeitaktueller: an die historischen Forschungsarbeiten, die das Erbe des Indizienparadigmas bis heute weitertragen und in andere geschichtswissenschaftliche Anwendungsbereiche gebracht haben (vgl. ANKELE 2009; CORBIN 1999; FLIEGLER 2010, 2015; HOFFMANN 1998a/b, 2007; KABALEK 2009; RUPNOW 2005; SAUPE 2009). Die GINZBURGsche Spurensuche befeuerte darüber hinaus vielmehr auch eine ganze Reihe anderer Fächer, die sich von natur-, sozial-, kultur- oder geisteswissenschaftlichen Erkenntnishintergründen aus an die wissenschaftliche Entdeckung und Verarbeitung von Spuren machen sollten. Ausgehend vom GINZBURGschen Auffinden eines Indizienparadigmas hat der Begriff der Spur und des Spurenlesens so gesehen auch in breitere Wissenschaftskreise Eingang gefunden wie auch konzeptionelle Weiter- und Fortent39

Wie dies zu verstehen ist, hat GINZBURG derweil in verschiedenen mikrohistorischen Studien dargelegt. Es lassen sich dabei insbesondere drei – mittlerweile zu Standardwerken der Mikrogeschichte gewordene – Arbeiten (GINZBURG 1990, 1993a, 2011) benennen, in denen er das, was er bei Morelli und anderen selbst noch als epistemologisches Modell entdeckte, in historiographische Forschungspraxis übersetzte. Unter den Arbeiten findet sich auch eine Studie mit dem wissenschaftlich eher ungewöhnlich klingenden Titel Der Käse und die Würmer (2011), in der GINZBURG die Lebenswelt eines Geschichtssubjekts um 1600 ins Zentrum seiner Betrachtung stellt. Das Subjekt, ein aus Friaul stammender Müller namens Menocchio, wird 1599 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem er sich der Ketzerei schuldig machte. GINZBURG rekonstruiert in quellenkritischer Auseinandersetzung auf Grundlage von Inquisitionsbzw. Verhörprotokollen nicht nur, wie es zur Anschuldigung und Verurteilung kam, sondern vor allem auch, welche eigentümlichen Weltenstehungstheorien und Deutungsweisen39 (DANIEL 2001:287) den Bauern Menocchio überhaupt des Irrglaubens verdächtig machten. Dabei gibt er nicht nur einen Einblick in eine spätmittelalterliche Weltsicht, die von dunklen bäuerlichen Mythologien (GINZBURG 2011:16) wie naturalistischen Deutungen durchzogen war. Er eröffnet zudem den Blick für die italienische Volkskultur jener Zeit, welche ansonsten aufgrund ihrer rein auf Oralität beruhenden Kultur so heute nicht verfügbar wäre.

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wicklung erfahren. 40 Derart lassen sich nicht nur in der Spurenwissenschaft par excellence (Holtorf 2007:334), der Archäologie, verstärkte Bemühungen darum erkennen, über das eigene Spurenlesen und deren erkenntnistheoretischen Grenzen ins Gespräch zu kommen (vgl. HOFMANN 2016; HOLTORF 2003, 2004, 2007; SCHNEIDER 1984; VEIT et al. 2003). Es hat sich mittlerweile auch in anderen Kreisen rumgesprochen, dass Spuren wissenschaftliche Relevanz besitzen, mehr noch: aller Anfang wissenschaftlicher Erkenntnissuche mit Spuren, genauer mit der Suche nach ihnen beginnt. Eine Einsicht, die so vor allem von den science studies und einer an Spuren interessierten Wissenschaftsgeschichte in den Diskurs eingebracht wurde, wonach besonders das Beziehungsgeflecht zwischen epistemischen Dingen und epistemologischen Erkenntnisweisen in den Vordergrund rückte (vgl. HONNEFELDER & PROPPING 2001; LATOUR 1997, 2000a/b; RHEINBERGER 1992, 2007; RHEINBERGER et al. 1997). In Analogie dazu lässt sich auch in Teilen der Kulturwissenschaften ein ansteigendes Forschungsinteresse erkennen, das, u. a. inspiriert durch die dichten Beschreibungen eines Clifford GEERTZ (1983), Spuren nicht nur in klassischethnologischen Zusammenhängen für sich zu entdecken beginnt, sondern auch in neueren, weitaus breiteren Diskursfeldern (vgl. DE JONG 2007; DRALLE 2013; DROHSEL 2016; FRINGS et al. 2012; GEERTZ 1997; KORCZAK 2010) – so z. B. in der kulturwissenschaftlich inspirierten Stadtforschung. In der philosophischen Denktradition ist das Phänomen der Spur hingegen schon seit der Antike und seit Platon Thema, noch lange bevor es in anderen Wissenschaften zum Thema wurde. Gegenwärtig wendet sich die Philosophie (vgl. GAWOLL 1986/86, 1989; GRUBE 2007, 2009; KRÄMER 1998, 2005, 2007a/b, 2008a/b; MEIER-OESER 1997; PAPE 2007) Spuren gleichwohl wieder bewusster zu; u. a. mit der grundsätzlichen Frage nach der Mittel- und Unmittelbarkeit des eigenen Seins, in Kombination mit der Frage, in welchem Weltverhältnis eigentlich Spuren zu uns und wir zu ihnen stehen. In den Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften wurden mittlerweile nicht weniger viele Überlegungen angestellt sowie Forschungsunternehmungen losgetreten, die in bewusster Weise allesamt auf den Topos der Spur rekurrieren (vgl. ASSMANN 1988; BOROWICZ 2013; FEHRMANN et al. 2005b; KESSLER 2012a/b; LEHMANN 2000; MITTERBAUER et al. 2009; PINTO 2012; SPITZNAGEL 2001; WEIGEL 2004; WETZEL 2005; WINKLER 2010; WIRTH 2007). Hier wird u. a. danach gefragt, inwiefern sich in Texten, Medien oder Alltagskommunikationen Figuren von Spuren oder Motive 40

Einen guten Überblick hierüber bietet der von KRÄMER et al. (2007) herausgegebene Sammelband, der verschiedene disziplinäre Zugänge zur Thematik Spur parat hält und der natürlich nicht nur bei der Spur GINZBURGs ansetzt. Der Band selbst ist aus einer internationalen Tagung mit dem Titel Spurenlesen. Zur Genealogie von Kulturtechniken hervorgegangen, die 2005 am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik stattfand (vgl. KRÄMER et al. 2005). Die Tagung selbst ist Teil des DFG-Projekts Von der Schrift zur Spur gewesen, welches 2001−2006 an selbiger Forschungseinrichtung durchgeführt wurde (ebd.). Die interdisziplinäre Vielschichtigkeit und Anschlussfähigkeit der Spurenthematik betonen auch die beiden von Kurt SCHÄRER herausgegebenen Sammelbände zu Spuren (2006a) und Spuren lesen (2007), die jeweils aus einer Ringvorlesung an der Universität Zürich hervorgingen. Auch in diesem Zusammenhang zu erwähnen sind die Publikationen von FEHRMANN et al. (2005b), MITTERBAUER et al. (2009) oder von ATTIA et al. (2016), welche ebenfalls unterschiedlichste fachwissenschaftliche Beiträge und Ansichten zur Spur ins Feld führen sowie zur Diskussion stellen.

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des Spurenlesens finden lassen, um deren Existenz wir meist nicht wissen, deren Erforschung in literatur-, kommunikations- oder medienwissenschaftlicher Hinsicht darum aber nicht weniger, sondern umso lohnender erscheint. Seit geraumer Zeit finden auch Kunstwissenschaften wie auch bildästhetische Forschungen vielfältige Anlässe zur Sicherung von Spuren (vgl. DIDI-HUBERMAN 1999; GEIMER 2007; HOFFMANN 2007; HOFFMANN & ERMERT 1985; HOLLENDONNER 2009; METKEN 1977; NEEF 2008; SCHAUB 2007; WEINGART 2005). Dabei wird einerseits vermehrt danach Ausschau gehalten, welche Spuren Kunst- oder Bildprodukte unterschiedlichster Art bis heute hinterlassen haben. Demgegenüber werden Spurensicherungen aber auch in diesen Materialien selbst vorgenommen, indem die besonderen Herstellungs- und Gebrauchsweisen eben jener (Bild-)Kunstprodukte oder anderer ästhetisch wertvoller Erzeugnisse spurengeleitet einsehbar gemacht werden. Auch eine von Grund auf mit Spuren verfahrende Kriminalistik und Rechtswissenschaft hat sich im Anschluss an das GINZBURGsche Indizienparadigma neuerlich darangemacht, die Methoden, Quellen und Wissensbestände eigener spurenkundlicher Arbeit zu sichten und zu durchleuchten. Nebenbei verbindet sich mit dem Spurenlesen bis heute auch ein konkretes Interesse für handlungspraktische Anleitungen und Anwendungen für die Polizei- und Kriminalarbeit wie auch für die Rechtspraxis insgesamt (vgl. BACHHIESL 2012; HABERMAS & SCHWERHOFF 2009; KIJEWSKI 1997; PFEFFERLI 2000; REICHERTZ 1996, 2007; VEC 2002). Eine immer stärker interdisziplinär ausgerichtete wie verfahrende Gedächtnisforschung ist, wenngleich nicht allein durch GINZBURG inspiriert, über die letzten Jahre und Jahrzehnte gleichermaßen auf die Spur gekommen (vgl. ALKON 1995; ASSMANN 1991, 2009; MARKOWITSCH 2002; RICŒUR 2004, 2009; RUCHATZ 2001; SCHACTER 2001; STEGMAIER 2007). So finden nicht nur diverse Naturwissenschaften am Begriff der Spur zusammen, sondern auch verschiedene Sozial- und Kulturwissenschaften, um in jeweiliger Manier die natürlichen sowie sozialen Funktions- und Arbeitsweisen unseres Gedächtnisses entlang und vermittels von Engrammen, sogenannten Gedächtnisspuren genauer zu ergründen. In der Reihung spureninteressierter Wissenschaften lässt sich ferner ein Wissenschaftszweig anführen, der sich – trotz mitgebrachter Expertise – um so etwas wie Spuren lange Zeit nicht gesorgt hat, sich aber vor einiger Zeit zu grundsätzlichen Überlegungen herausgefordert sah, was Spuren sind und wie sich Spuren in die Typologie von Zeichen einordnen lassen. Die Semiologie, als die Lehre der Zeichen, ist nicht zuletzt dadurch, allen voran durch die Arbeiten von ECO (1977), ECO & SEBEOK (1985), JÄGER (2001, 2002), SEBEOK & UMIKERSEBEOK (1982) – neben denen von GINZBURG – zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für die aktuelle Beschäftigung mit Spuren geworden; wurden doch hierdurch grundlegende Einsichten über die spezielle Beschaffenheit und Eigenart von Spuren in zeichentheoretischer Hinsicht eröffnet. In der zuvor gezeigten Bandbreite von Arbeiten zu Spurenphänomenen kann bereits eine gewisse Produktivität des [Spur-]Begriffs (FEHRMANN et al. 2005a:9) in fachtheoretischer, methodischer und auch in empirischer Hinsicht ermessen werden. Zudem lässt sich an den verschiedenen Spurenwissenschaften ersehen, in welcher Vielfältigkeit und Bandbreite – im Sinne eines Travelling Concept (BAL 2002; NEUMANN & NÜNNING 2012) – der Topos der Spur bis heute auf die

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wissenschaftliche Agenda gelangt ist (vgl. HOLTORF 2007:333; SCHÄRER 2006b:10): Ob als Botschaft längst vergangener Zeiten (archäologische, historiographische Spur), als neuronal eingeschriebener Erfahrung (Gedächtnisspur), als metaphysischer Bezugspunkt (philosophische Spur), als justizieller Beweis (Tatspur), als literarische, mediatisierte Botschaft (kommunizierte Spur), als kulturelle Einspurung (ethnologische Spur), als gesonderte Zeichenart (semiologische Spur) oder einfach nur als ökologischer Abdruck (natürliche Spuren). Laut KRÄMER kommt man folglich nicht mehr umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass eben auch der Begriff des Spurenlesens zu einem grundlegenden Term jedweder Wissenschaftsarbeit avanciert, insofern er ein immer stärkeres Nachdenken darüber in Gang setzt, inwieweit die Spur und der Spurengebrauch nicht nur archaischer Restbestand eines wilden Wissens, Kinderstube der Metaphysik, textloses Stadium einer Hermeneutik und instinkthafte Frühform symbolischer Grammatiken [ist], sondern sich in allen entfalteten Zeichen-, Erkenntnis- und Interpretationspraktiken aufspüren [lässt]. (KRÄMER 2007a:11; Herv. i. Orig.)

Im Sinne KRÄMERs darf man sich also nicht länger dem Eindruck verwehren – und dem wird in dieser Arbeit explizit Rechnung getragen –, dass das eigene Forschen und das eigene Erkenntnisinteresse denn nicht auch und vor allem damit beginnt und in hohem Maße davon geleitet ist, Spuren zu entdecken, Spuren zu lesen und Spuren zu entziffern. 41 Als inhärenter Bestandteil jedweder Erkenntnisgewinnung scheinen Spuren und Spurensuchen so gesehen zunehmend mehr auch wissenschaftlich erkannt und anerkannt zu werden – mit dem folgenreichen Ergebnis: dass nicht nur einzelne Natur- und Kulturwissenschaften (wie zuvor dargestellt), auf dem gemeinsamen Nenner Spur gründend, sich paradigmatisch einander annähern, sondern auch, dass die verbindenden Wesenszüge wissenschaftlicher Praxis als solche wieder zur breiteren Disposition gelangen. So werfen momentan fächerübergreifende Spurenwerke die lange Zeit nicht gestellte bzw. umgangene Fragen auf, was denn (nicht nur mikrohistorisch besehen) überhaupt alles Spuren sein können, was Spuren von herkömmlichen Zeichen unterscheidet, in welchen ontologischen Verfasstheiten Spuren auftreten, und zu guter Letzt: wie man (tautologisch gesprochen) eigentlich Spuren wissenschaftlich angemessen auf die Spur kommen kann und vor allem zu welchem Ziel (vgl. KRÄMER 2007a:11f.). Welche Antworten eine zeitgenössische und transdisziplinär orientierte Spurenforschung auf diese erkenntnisleitenden Fragestellungen zu geben vermag, welchen Grundaxiomen dabei gefolgt wird, und welche genuin sozialgeographischen Einsichten hieraus wiederum gewonnen werden können, das werden nun die nächstfolgenden Kapiteln zeigen.

41

Vgl. dazu auch LIEBENBERG (1990), der – im Unterschied zu KRÄMER – betont, dass im Spurenlesen der Ursprung aller Wissenschaft selbst liegt.

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3.3

Spuren-Axiome

Um eine Basis für die eigene (sozialgeographische) Spurenarbeit legen zu können, ist es zunächst unabdingbar, die aktuelle Diskussion um Spuren und Spurenlesen in einer systematischen Zusammenschau theoriegeleitet auszuloten. Im Nachfolgenden werden dazu – im Sinne einer Bestandsaufnahme – insgesamt zehn Spuren-Axiomen vorgestellt, die sich in ihrer Grundstruktur an der Systematik von KRÄMER (2007a:14−18, 2007b:158−163) orientieren. Diese Axiome stellen nicht nur den State of the Art und damit zugleich auch den Common Sense dar, der von vielen an Spuren Interessierten derzeitig geteilt wird. Vielmehr zeigen die Spurenaxiome zugleich auch das Spektrum dessen auf, in welchen Kontrapunkten aktuell wissenschaftlich über den Topos der Spur nachgedacht, gesprochen aber nicht zuletzt auch widerstreitend diskutiert wird. Schließlich kann erst mit jenem Wissen die Arbeit an der selbst zu entwickelnden Spurenkonzeption (Kap. 4) von Grund auf in Angriff genommen werden. 3.3.1

Spuren als unabsichtliche Hinterlassenschaften

Alles fängt damit an, dass Spuren hinterlassen werden. Auf einen Satz gebracht, ist diese Aussage in ihrer Einfachheit gleichwohl der Ausgangspunkt, von dem aus der wissenschaftliche Diskurs um Spuren überhaupt erst sein legitimatorisches Fundament erhält. Dabei steht außer Frage, dass Spuren hinterlassen werden. Es geht vielmehr um die Frage, wie und unter welchen Bedingungen. Aus Sicht eines zeitgenössischen Spurenparadigmas kann im Allgemeinen dann von Spuren die Rede sein, wenn sich etwas oder jemand einem anderen etwas oder jemand eindrücklich vermittelt hat. Das Ergebnis dieser eindrücklichen Vermittlung – die Spur – rückt dabei aber nicht als ein reiner und unmittelbarer Abdruck einer so und nicht anders gewollten Hinterlassenschaft in den Blick. Dass Spuren nicht das Resultat einer intentionalen Handlung oder eines geordneten Aktes sind, dem Ziel folgend, eine Spur hervorbringen zu wollen, sondern einzig und allein aus einer gewissen Unmotiviertheit und Zufälligkeit heraus geboren werden, charakterisiert die Spur im Besonderen (KRÄMER 2007a:16, 2008b:279). Im Unterschied zu Zeichen, die ganz bewusst gesetzt werden – siehe Redewendung ein Zeichen setzen –, werden Spuren insofern nicht gesetzt, also mit voller Bewusstheit gelegt, arrangiert oder inszeniert (vgl. GRUBE 2007:229). Denn: Eine Spur, die gemacht wird, ist keine Spur (KRÄMER 2005:162). In dem Moment, wo eine Spur absichtsvoll gelegt, d. h. markiert oder implementiert wird, kann im Grunde genommen nicht mehr von einer Spur im eigentlichen (semiotischen) Sinne die Rede sein.42 Es ist vielmehr dem Nicht-Intentionalen, Unbeabsichtigten, 42

Ungeachtet dessen weist REICHERTZ (2007:316) im Duktus einer soziologischen Kriminalwissenschaft darauf hin, dass gewiss auch Spuren – in dem Fall falsche Spuren – als gelegt angesehen werden können. Derart gibt es schließlich nicht nur unabsichtlich zurückgelassene Tatspuren, sondern auch Tarnspuren oder fingierte Spuren, welche einer zielgerichteten

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Unkontrollierten [und] Unwillkürlichen (KRÄMER 2007a:16) einer Bewegung, Begebenheit oder Tat zu verdanken, dass es so etwas wie Spuren überhaupt gibt. Das Zurücklassen von Spuren ist zwar ein Effekt, nie aber Absicht, Ziel oder Zweck eines Handelns. […] Spuren haben keinen Auftraggeber (KRÄMER 2008b:280). So gesehen erlaubt insbesondere die menschliche Spur als unabsichtliche Hinterlassenschaft einen Einblick in ein Geschehen zu gewähren, unter welchen Umständen und unbeabsichtigten Nebenfolgen etwas passiert ist und somit auch, wie ein Relikt aus der Vergangenheit in die Gegenwart gelangt ist. Derart muss die Spur letztlich als ein unfreiwilliger Bote (KRÄMER 2008a:85) einer vergangenen Geschichte angesehen werden, die nicht direkt zum Vorschein kommt, da sie nie auf ihre direkte Übermittlung hin gelegt bzw. angelegt wurde. 3.3.2

Spuren als materielle Relikte

Spuren liegen als unbeabsichtigt hinterlassene Boten eines ehemaligen Geschehens in erster Linie in der materiellen Welt vor (vgl. HOLTORF 2007:337; KRÄMER 2008b: 279f.; PAPE 2007:38ff.; REICHERTZ 2007:313; RICŒUR 2009:129; SCHAUB 2007:124; VEIT et al. 2003). In diesem Zusammenhang ist interessant zu sehen, dass Spuren als physische Markierungen nicht nur ihren Ursprung, sondern zugleich auch ihren Ausdruck in der Materialität der Dinge finden. 43 So äußern sich Spuren einerseits und zunächst darin, dass sie gegenständlich hinterlassen werden, indem sich ein Körper, eine Entität einem/einer anderen eingeschrieben hat. Die berühmte Fußspur im Sand ist nur ein Sinnbild dessen. Dass Spuren aus einem ständigen Wechselspiel zwischen Körpern resultieren, zeigt sich andererseits aber auch daran, dass es in gleichem, wenn nicht besonderem Maße einer Körperlichkeit bedarf, um überhaupt einer Spur gewahr zu werden (vgl. KRÄMER 2005:155f.). Spuren treten gegenständlich vor Augen (KRÄMER 2007a:15). Damit ist gesagt, dass sie als verkörperte Entitäten wiederum selbst einer gewissen Verkörperung zugrunde liegen. Spuren sind insbesondere auch deswegen materielle Phänomene, so die einhellige Meinung vieler Spurentheoretiker, weil sie erst durch körperhafte Anverwandlungen, sprich durch Prozesse der Inkorporierung 44 wirklich

43

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Absicht entspringen, etwas bewusst zu hinterlassen, um jemanden auf eine falsche Fährte zu locken. KESSLER gibt in ihrer Arbeit indes zu bedenken, dass die Materialität ein möglicher, nicht aber notwendiger Modus der Existenz [von Spuren ist, R. L.] (2012:39). In welchen anderen Existenzweisen Spuren über ihre physische Präsenz hinaus noch auftreten können, wird im Kap. 3.4 noch thematisiert, wenn die Seinsweisen der Spur ihre genaue Besprechung erfahren. Der Begriff der Inkorporierung wird hier über BOURDIEUs Begriffsverwendung hinaus (vgl. BOURDIEU 1985:17, 22, 1997b:51, 1998:23) – Verinnerlichung habitueller Kulturgewohnheiten (Denk-, Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen) – stärker auf seine materielle Konnotation hin ausgelegt, also als die Einverleibung einer rein physischen Erscheinung verstanden. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass bei der physisch-materiellen Einverleibung von Spuren nicht auch und vor allem sozial-kulturelle Sachverhalte (z. B. soziale Konventionen oder Kulturtechniken) eine Rolle spielen. Dieser Punkt wird nachfolgend noch stärker aufgegriffen und zum

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werden (vgl. KRÄMER 2005:157; WETZEL 2005). So werden Spuren zwar zuallererst materiell geschaffen, vermittels körperlicher Ein- bzw. Abdrücke. Da sie im Zuge dessen, wie im Kapitel 3.3.1 bereits dargestellt, jedoch unabsichtlich zurückgelassen werden und erst im Nachhinein als Spuren erspürbar werden, offenbart sich deren Spursein infolgedessen auch erst post festum aufgrund ihrer körperbasierenden Entdeckung, Wahrnehmung und Erfahrung. Spürbar wird die Spur schließlich erst in dem Moment, wo der Spürende an ihr mit allen zur Verfügung stehenden Körpersinnen aufmerkt, sie ersieht, erhört, erriecht oder ertastet und sodann mit früheren Körpererfahrungen in Beziehung setzt (vgl. HOLLENDONNER 2009:143; KESSLER 2012a:92). Denn erst das sinnliche Aufmerken an und das körperlich-leibliche Erfahren von einer Spur lässt sie als solche in Erscheinung treten (vgl. RUCHATZ 2001:560).45 Nur kraft eines Kontinuums in der Materialität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Welt, so lässt sich im Anschluss an KRÄMER (2007a:15) konstatieren, ist die Möglichkeit dafür gegeben, Spuren nicht nur zurückzulassen, sondern überhaupt erst als solche zu erkennen und zu erfahren. Was dabei in Erfahrung 46 gebracht werden kann, ist materialiter zwar zuhanden, jedoch durch die Spur nicht eineindeutig vermittelt bzw. übermittelt. Die physische Signatur der Spur fungiert im Gegensatz zu historischen Quellen im Allgemeinen, die etwas (z. B. eine Botschaft) meist im postalischem Sinne direkt übertragen, eher als ein Anzeichen dessen, was nicht allein aus sich heraus sprechen kann, sondern erst mithilfe des körperlich-sinnlichen Nachvollzugs zum Sprechen gebracht werden muss (vgl. KESSLER 2012a:73; KRÄMER 2008a:81ff.). An der Spur treffen letzten Ende immer mindestens zwei Materialitäten bzw. Körperlichkeiten zusammen, besser gesagt, aufeinander. Zum einen die Spur als materiell verfestigtes Artefakt an sich, und zum anderen die Körperlich- und Leiblichkeit desjenigen, der der Spur multisensorisch und erfahrungsbezogen auf die Spur zu kommen versucht. Als Stein des Anstoßes vermag die Spur einer nicht mehr präsenten Vergangenheit somit also nur im Verbund mit der Körperlichkeit

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Gegenstand einer eigenständigen Diskussion gemacht. An dieser Stelle soll es genügen, Spuren als etwas Inkorporiertes zu verstehen, dass so zunächst und vor allem körperlich-materiell in Erscheinung tritt. In der Phänomenologie WALDENFELS' gesprochen, können sich Spuren ebenso leiblich in den Spurensucher einschreiben, insofern auch hier im wortwörtlichen Sinne die Zeit ihre Spuren hinterlässt: Der Leib fungiert nicht nur als Urwerkzeug, sondern auch als Urinsignie und Urskript. Seine Narben und Falten gehen nicht zurück auf eine Verräumlichung der Zeit, sondern in ihnen verkörpert sich die Macht der Zeit, die uns altern läßt und im Leib ihre Spuren hinterlässt. Lebenslinien, die Gesicht und Hand durchfurchen, sind keine Aufzeichnungen, die etwas festhalten, sondern Einzeichnungen, die etwas realisieren (WALDENFELS 2009:101). Der Begriff der Erfahrung, wie er oben bereits benutzt wurde, ist einer, der, wie es GADAMER einmal treffend auf den Punkt gebracht hat: zu den unaufgeklärtesten Begriffen […] gehört, [den] wir besitzen (GADAMER [1960]2010:352). Gemäß Minimalkonsens neuerer Phänomenologie vermag man sich aber darauf zu verständigen, dass Erfahrung zunächst ein Geschehen [bedeutet], in dem die ,Sachen selbst‘, von denen jeweils die Rede ist, zutage […] treten. […] ,Erfahrungen machen‘ heißt etwas durchmachen […]. Erfahrung bedeutet […] einen Prozeß, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen (WALDENFELS 1997:17); vgl. weiterführend dazu auch WALDENFELS (2002).

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und dem Tätigsein des sie Suchenden eine Brücke zu eben jener Vergangenheit zu schlagen, aus der sie (ganz unbeabsichtigt) als materielles Überbleibsel ihren Ursprung nahm. 3.3.3

Spuren als präsent Absentes

Obwohl die Spur als materielles Relikt auf vergangene Geschehnisse hinweist, ist sie weder etwas, das die Vergangenheit ohne Weiteres überdauert, noch etwas, das den Kontext ihrer Entstehung einfach eins zu eins abbildet. Unter spureninteressierten Wissenschaftlern besteht heute im Wesentlichen Konsens darüber, dass Spuren kein einfaches Abbild vergangener Wirklichkeiten präsentieren, insofern sie das ehemals an ihr Stattgefundene wie sie Prägende nicht einfach unversehens ins Hier und Jetzt zu holen vermögen (vgl. HOLTORF 2007:333; LEHMANN 2000:232; LINZ & FEHRMANN 2005:89; RICŒUR 2009:128). Wenn Spuren von sich aus überhaupt etwas abbilden, dann nur die Präsenz der Absenz dessen, was sie zur Spur werden ließ: Das Vorhandensein einer Spur ist immer verknüpft mit dem Hinweis auf die faktische Abwesenheit desjenigen, was die Spur hinterlassen hat (KRÄMER 2008a:86). In diesem Sinne kann ein x-beliebiger Fußabdruck gewiss aufs Erste als Überrest einer ehemals stattgefundenen Begebenheit bzw. Tat aufgefunden und betrachtet werden. Dabei steht jedoch außer Frage, dass allein diese Hinterlassenschaft, und nur sie allein, einem Spurensucher als Spur augenfällig werden kann. Die die Spur erzeugenden Umstände und Kausalitäten, z. B. wie ein Fußabdruck zustande kam, welchem Fuß bzw. Körper er sich verdankt, bleiben aber gerade jener Betrachtung aufs Erste gesehen (noch) verborgen. Oder mit einem Bildnis Jacques DERRIDAs (1988) auf den Punkt gebracht: Die Asche ist da, aber das sie Hervorbringende (Feuer) und dessen Verursacher bzw. Ursächlichkeit (Feueranzünder) bisweilen nicht (mehr). So unstrittig die kollektiv geteilten Ansichten, dass Spuren Vergangenes nicht eins zu eins abbilden, im aktuellen Diskurs auch sind, so strittig ist die hiermit verbundene Frage, was denn Spuren, ungeachtet aller Einschränkungen (was sie alles nicht sind/können) bei genauerer Betrachtung dann noch für wissenschaftliche Erkenntnispotentiale mit sich führen. Was für wissenschaftliche Erkenntnisse und Aussagen Spuren im Stande sind zu ermöglichen und was sie am Ende doch präsent hält, an dieser Frage macht sich derzeit wohl die größte Ambivalenz im Diskurs fest (KRÄMER 2007b:156). Hierbei lassen sich vor allem zwei diskursive Eckpfeiler ausfindig machen, die in ihrer epistemologischen Grundausrichtung wohl unterschiedlicher nicht sein könnten. Da wäre auf der einen Seite das schon angesprochene Indizienparadigma (s. Kap. 3.2), wie es von GINZBURG wissenschaftshistorisch entdeckt, mikrohistorisch ausbuchstabiert und interdisziplinär anschlussfähig wurde. Dessen Kontrapunkt liegt auf der anderen Seite in einer philosophischen Geisteshaltung begründet, die sich vor allem auf den Namen Emmanuel LÉVINAS und dessen Denken beruft. Während die eine Perspektive in der Denktradition GINZBURGs von einer grundsätzlichen Immanenz der Spur ausgeht, welche die Spur zu einem empirisch nachweisbaren sowie ergründbaren Indiz erklärt, ver-

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schreibt sich die andere Perspektive demgegenüber einem Spurenverständnis, das, ausgehend von LÉVINAS, in der Spur eher eine metaphysische Erscheinung sieht, die vornehmlich im Transzendentalen aufgeht (vgl. KRÄMER 2007b:166ff.). Die erste Sichtweise ist eine, wenn man so will, positiv konnotierte. Positiv deswegen, weil die Spur hier mit einer positiven Wissenskunst (KRÄMER 2007b:156) korrespondiert, welche es erlaubt, unsichtbare bzw. unbesehene Hinterlassenschaften (sprich Spuren) aus ihrer Verborgenheit ans Licht zu holen. Hiernach avanciert eine Spur dadurch zur Spur, indem sie von einem noch unbekannten Anzeichen infolge des Suchens und Auslesens zu einem aussagefähigen Indiz gemacht werden kann, das z. B. Aussagen über deren Herkunft und Genese bereithält. Die Spur wird somit zu einem Instrumentarium, das hilft: Abwesendes in Anwesendes, Unverfügbares in Verfügbares [und] Unkenntnis in Wissen zu transformieren (KRÄMER 2007b:156). In dieser Art und Weise wird der Spur eine immanente Indexikalität, eine potentielle Aussagekraft zuteil, die die Spur als solche (positiv gesehen) sicht-, les- und verstehbar werden lässt (KRÄMER 2007b:166). Die Spur wird dadurch zwar nicht zu einer Evidenz ihrer selbst. Sie kann aber zu einem Medium47 der Evidenz werden, wonach die Rückführung der Spur auf ihre Entstehungssituation und ihre Bedeutung zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Verkehrt man nun diese Spurenansicht ins Gegenteil, so gelangt man am anderen Ende des Wissenschaftsdiskurses zu einer Sichtweise, die, wie es KRÄMER (2007b:174) vorschlägt zu nennen, einem Entzugsparadigma angehört. Der das Paradigma bezeichnende Präfix ist insofern treffend gewählt, als er das diesbezügliche Denken über die Spur, das sich – wie bereits erwähnt – aus der Philosophie LÉVINAS' (1987) speist, nur zu gut auf einen Begriff bringt. Entzug und Spur bilden hier ein Paar, weil das, was die Spur ist und was sie einst zur Spur machte, unwiederbringlich verschwunden ist, mithin in einer unumkehrbaren Transzendenz (LÉVINAS 1987:233) verweilt. Dementsprechend bleibt die Spur logischerweise in ihrer Ursprünglichkeit und Wesenhaftigkeit dem Diesseits ganz und gar verborgen, genauer gesagt entzogen. 48 Das Denken über die Spur erfährt hiermit eine radikale 47

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Hier und nachfolgend wird der Begriff des Mediums – mit allen seinen begrifflichen Ableitungen: medial, Medialität, etc. – in einem konstruktivistischem Grundverständnis verwendet (vgl. KESSLER 2012a:66ff., 73ff.; KRÄMER 2008a:66ff., 2016:24). Mit KRÄMER könnte man dieses Begriffsverständnis so oder so ähnlich zusammenfassen: Medien sind nicht Instrumente und Überträger eines ihnen von Anderswoher aufgehobenen Zweckes, sondern Medien bringen zugleich hervor, was sie vermitteln. Ihnen eignet ein konstruktivistischer, generativistischer, um nicht zu sagen: demiurgischer Zug (KRÄMER 2008a:67). LÉVINAS steht selbst mit seinem Œuvre zwischen zwei namhaften Philosophen, die sich vor und nach ihm gleichermaßen zu Denkern der Spur aufschwangen. So ist LÉVINAS Beeinflusster und Beeinflussender zugleich. Beeinflusst wurde er selbst durch das existenzphilosophische und fundamentalontologische Denken Martin HEIDEGGERs (1953). Durch die Weiterführung des HEIDEGGERschen Denkens beeinflusste er wiederum selbst das Denken Jacques DERRIDAs (1974). Alle drei zusammen stehen schließlich in einer Verbindungslinie, die von einer Philosophie der Präsenz abzukommen versuchte, um auf etwas abwesendes Anderes, auf eine Exteriorität hinauszuweisen (vgl. GAWOLL 1989:294). Alle rekurrieren auf die Spur als ein Phänomen, was unhintergehbar und uneinholbar ist und was seinem Wesen nach grundsätzlich

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Wendung. Die Radikalität der Wendung liegt im Wesentlichen darin, dass Spuren nur dann zutage treten und folglich sein können, wenn sie in irgendeiner Art und Weise transzendiert werden. So heißt es bei LÉVINAS an entsprechender Stelle: Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert, kann eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist (LÉVINAS 1987:233). In dieser Hinsicht steht die Spur – als quasi Extramundanes – zugleich und insbesondere für das negative Moment, und zwar für die Unmöglichkeit sowohl der Spur und ihrer Bedeutung selbst auf die Spur zu kommen als auch aus ihr mit gewohnten Mitteln Wissen und Erkenntnis zu schöpfen (vgl. KRÄMER 2007b:167, 2016:22f.). Das, was im Falle GINZBURGs als Indiz auf Grundlage von Interpretations- und Rekonstruktionsarbeit noch sichtbar gemacht werden kann, entzieht sich hier ex negativo jedweder Erschließ-, Les- und Verstehbarkeit. Die Spur bleibt somit ein von der Immanenz des Denkens nicht berührbares Äußeres (GAWOLL 1989:278). Einzig sicht- und nachvollziehbar bleibt der Entzug von etwas (KRÄMER 2007b:167), der Bruch mit dem Hier und Jetzt, der vermittels der Spur zutage tritt, der aber eben weder aus vertrauten weltlichen Ordnungszusammenhängen (u. a. kulturelle Lesarten, Wissensmodelle) noch aus der subjektiven Betrachtung des Spurensuchers heraus allein verständlich werden kann. Anders als bei GINZBURG erscheint die Spur bei LÉVINAS schließlich nicht als etwas, was selbstaktiv, intentional und unmittelbar aufgefunden und zielgerichtet in seiner Bedeutung enthüllt werden kann. Es steht vielmehr für etwas uneinholbar Anderes, was einer subjekt- und kulturunabhängigen, überirdischen, quasi-göttlichen Instanz entspringt (LÉVINAS 1987:235).

nicht bedeutet werden kann. In diesem Zusammenhang geht es allen drei Genannten (aber vor allem LÉVINAS) nicht zuletzt auch um eine grundlegende Revision bzw. Kritik der modernen Subjektphilosophie. Derart kann das Fremde, das Andersartige, das Übernatürliche weder von Subjekten einfach in den Bereich des Gewussten und Vertrauten (hinein)geholt werden, noch kann es eine subjektive Freiheit geben, die eine unabhängige Findung auch Erfindung von Spuren ermöglicht. Vielmehr sind Subjekte immer auch durch das Heteronome, durch Spuren und damit durch vorhergehende Wirkungen geleitet. Allen gemein ist letztlich auch, dass sie den Begriff Spur weniger definitorisch eng fassen, als vielmehr auf dessen breite Metaphorik hin auslegen (vgl. KESSLER 2012a:62/Anm. 197). Unterschiede in der jeweiligen Konzeptionalisierung der Spur liegen im jeweiligen Ansinnen der Autoren. DERRIDA spricht im Zusammenhang von Spuren genauer von architrace, einer unhintergehbaren Urspur, die auf das Urtümlichste, den Anfang von allem (Schriftlichen) verweist, was sich vorstellen lässt und deren Aufschichtungen er durch grammatikalische Strukturen zu dekonstruieren beabsichtigt, um damit letztlich auf das dahinter liegende Differenzdenken zu stoßen (vgl. WETZEL 2005:86). Bei HEIDEGGER hingegen fungiert die Spur größtenteils als eine metaphorische Umschreibung für das Hinausweisen auf eine ferne göttliche Instanz (vgl. GAWOLL 1989:282). LÉVINAS verwendet die Spur dagegen mehr als ethisch-moralische Denkfigur, die den Dialog und respektvollen Umgang mit einer metaphysischen Andersheit sucht, die sich in der Spur Gottes bzw. idealiter im Antlitz des Anderen, einer Epiphanie zeigt (vgl. LÉVY 2007:153).

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Die Spur wird zur Spur des Anderen (LÉVINAS 1987), einer Andersheit, die jenseits der sicht- und wahrnehmbaren Welt liegt, was zur Folge hat, dass nicht der Spureninteressierte die Spur sucht, als er vielmehr von ihr heimgesucht wird, wodurch ihm etwas Anderes49 (mittelbar) widerfahren kann. Ein Widerfahren, das sich vom urAbb. 2: Spur als präsent Absentes sprünglichen Welterfahren radikal unterscheidet und eben nicht, wie dies GINZBURG meint, derselben Welt wie die Spur selbst zugehörig ist (KRÄMER 2007b:166). Als etwas Sich-Entziehendes (GAWOLL 1986/87:46) bleibt die Spur zwar immer in ihrer transzendentalen Opazität gefangen, d.h. in ihrer ganzen Wesenheit dem vertrauten Blick auf die Welt entzogen. Ungeachtet dessen kann die Spur einen nicht minder starken Eindruck auf uns haben, als wir sie ebenso im Diesseits erfahren, wenn auch als Jenseitserfahrnis (vgl. KRÄMER 2007b:175, 2008b:294). Bei all der Divergenz der beiden vorgestellten Spurenperspektiven bleibt es im derzeitigen Diskurs indes diskutabel, inwieweit jene paradigmatische Bipolarität weniger das Bild zweier sich ausschließender als vielmehr zweier sich einschließender Positionen umfasst. Geht man nach KRÄMER, dann stellen beide Positionen ungeachtet ihrer Janusköpfigkeit zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Das liegt ihrer Meinung nach insbesondere daran, da beide Seiten jeweils die Gestalt eines epistemologischen Doppellebens der Spur (KRÄMER 2007b:157) abgeben, worauf sie auch stärker in Beziehung zueinander und weniger in strikter Trennung voneinander gesehen werden müssten; konstituiert und konfiguriert sich doch die Spur – und hier setzt der finale Schluss KRÄMERs an – genau im hybriden Bereich des Dazwischen, d.h. zwischen der immanenten Erschließbarkeit (GINZBURG) einerseits und der transzendentalen Entzogenheit der Spur (LÉVINAS) andererseits. Obendrein kann die diesseitige oder jenseitige Spur ins jeweilige Gegenteil umschlagen, d.h. sie kann sich jederzeit von einer sicht- und greifbaren zu einer metaphysischen, entzogenen Erscheinung wandeln und vice versa.

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Das Andere wird bei LÉVINAS mit dem Neologismus der Illeität (illéité) terminologisch präzisiert. Darunter versteht er jene Drittheit, die vom Ich (dem Eigenen) und Du (dem Fremden) verschieden ist (LÉVINAS 1987:230ff.). Als Sinnbild des Anderen und zugleich als authentische Spur fungiert LÉVINAS das Antlitz, das einer anderen Welt als der unseren entspringt: Das Jenseits, von dem das Antlitz kommt, bedeutet als Spur. Das Antlitz ist in der Spur des absolut Verflossenen, absolut vergangenen Abwesenden, zurückgezogen […]. Das Antlitz ist gerade die einzige Erschließung, in der das Bedeuten des Transzendenten nicht die Transzendenz vernichtet, um sie einer immanenten Ordnung einzufügen; hier im Gegenteil erhält sich die Transzendenz als immer verflossene Transzendenz des Transzendenten (LÉVINAS 1987: 228; Herv.i.Orig.).

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Die Spur gleicht so gesehen in gewisser Hinsicht einem Oxymoron 50, sie ist Präsenz und Absenz zugleich, sie ist sozusagen etwas präsent Absentes (s. Abbildung 2). Präsent durch den (materiellen) Eintrag, der gesucht, gefunden und auch gelesen werden kann, absent durch die Unerreichbarkeit und Entzogenheit jenes Zusammenhanges, aus dem die Spur ihren Ursprung nahm. In der Spur kristallisiert sich also eine Koexistenz, genaugenommen ein gegenseitiges Bedingen von Präsentem und Nicht-Präsentem, Erreichbarem und Nicht-Erreichbarem, Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem, Bekanntem und Nicht-Bekanntem, Vertrautem und NichtVertrautem, Eigenem und Fremdem sowie Materiellen und Immateriellen, welche die Spur so gesehen zu einem epistemologischen Sonderfall macht. Das Sonderbare bzw. Besondere: die Spur vereint zwei (normalerweise) sich widersetzende, abgrenzende Sachverhalte. An ihr kommen sowohl Abwesenheit, Entzogenheit und Transzendenz als auch Anwesenheit, Erreichbarkeit und Immanenz eines Phänomens zusammen. Erst innerhalb dieses Zusammenspiels kann einem die Spur (keineswegs nur epistemologisch besehen) erscheinen. Um dem paradigmatischen Ganzen der Spur konsequent Rechnung zu tragen, soll im weiteren Verlauf der Arbeit, insofern beide Pole der Diskussion adressiert sind, entsprechend immer von einem übergeordneten und beide Paradigmenhälften integrierenden Spurenparadigma die Rede sein. 3.3.4

Spuren(lesen) als Mittel der Orientierung

Egal welcher paradigmatischen Ausrichtung man nun am Ende folgt, einem Indizien- oder Entzugsparadigma, in jedem Fall fungieren Spuren als Anhaltspunkte zur Orientierung (vgl. STEGMAIER 2007:82). Spuren bringen bei alledem eine Besonderheit ins Spiel: Sie zeigen etwas an, ohne dabei jedoch dieses etwas genau(er) anzuzeigen bzw. zu bezeichnen. Wohl aus diesem Grund verleiten Spuren – nicht nur wissenschaftlich gesehen – dazu, ihnen zu folgen, sie zu entdecken und als Anzeichen für etwas noch Unverstandenes zu lesen (vgl. RICŒUR 2009:129; STEGMAIER 2007:92). Es mag daher auch ganz offensichtlich erscheinen, dass dem, der der Spur folgt, ein gewisses Versprechen darauf gegeben wird, Orientierung zu erlangen (vgl. SCHAUB 2007:140); Orientierung, wo es entweder noch keine gibt oder wo man sich der bestehenden wiederum rückvergewissern möchte (vgl. HOGREBE 2007:286f.). Zunächst und zuallererst ist es gleichwohl, und das stellt ein Grundsatz aktueller Spurenforschung dar, das Bedürfnis nach Orientierung selbst, das den Ausgangspunkt aller nur denkbaren Spurensuchen darstellt. Das Suchen und Lesen von Spuren erscheint in dieser Hinsicht als eine Grundform im erkennenden Umgang mit der Welt (KRÄMER 2008a:89). GINZBURGs Einsichten zum prähistorischen Ursprung aller Spurentechniken (Jägergesellschaften) haben dies bereits anschaulich gemacht (vgl. GINZBURG 1988c:91). Neben einem weit zurückreichendem und historisch bezeugtem Orientierungsbedürfnis, dem in uns wohnendem Interesse an der Erklärbarmachung von Rätselhaftem, das einer Spurensuche bisweilen voraus50

Der Begriff Oxymoron umschreibt das Zusammenziehen zweier sich normalerweise widersprechender Wörter oder Wortgruppen.

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geht, ist es ebenso und selbstredend die Spur und der aktive Vollzug der Spurenlese, auf Grundlage derer erst die Möglichkeit zur eigentlichen Orientierung gegeben wird. So dienen uns Spuren jedweder Art auch heute noch als zentrale Orientierungspunkte, auf die wir – mal mehr, mal weniger unverhofft – stoßen und an denen wir unser weltgewandtes Handeln (u. a. unser forschendes Tun) immer wieder ausrichten. Ob nun als professionalisierter Spurensucher oder als passionierter Laie: Denen, die Spuren lesen, geht es immer um eine Orientierung für das eigene praktische und theoretische Handeln (KRÄMER 2007a:15; Herv. i. Orig.). Wissenschaftlich betrachtet, vermag die Spur in diesem Sinne als ein theoretisches Mittel zur Findung von (tieferer) Wahrheit und Erkenntnis dienen. Alltagsweltlich betrachtet, sind Spuren ein nicht minder bedeutsames Mittel zur Orientierung bzw. Ordnung. So helfen einmal unabsichtlich hinterlassene Spuren sich im eigenen Lebensumfeld immer wieder zurechtzufinden. Wissenschaftliche oder alltagsweltliche Spurenerscheinungen dienen, wenngleich je anders geartet, in gewisser Weise alle zur Orientierung, indem wir (mitunter ganz bewusst) unser Tun an diesen Spurenäußerungen ausrichten, um damit in unserem Lebensumfeld praktische oder raumzeitliche Orientierung zu erlangen. Indem man versucht (wie auch immer) Orientierung mithilfe von Spuren und Spurenlesen zu finden, ob nun wissenschaftlich oder alltagsweltlich, steht einem offen, schließlich auch jene Orientierung zu finden, so das einfache aber klare Zwischenfazit. Weniger klar ist dabei jedoch, ob und welche Orientierung man am Ende letztlich hierüber erzielen kann. Denn in der Art und Weise wie Spuren einem in seiner Sicht auf die Welt oder der Lektüre von Vergangenem orientierend leiten können, so können Spuren ebenso auch fehlleiten, je nachdem, wie man an sie herantritt, welche verborgenen Horizonte sie einem eröffnen und mit welchem situativem Forschungs- oder Praxisinteresse man sie schlussendlich zu lesen beabsichtigt. 3.3.5

Spuren als Anzeichen gestörter Ordnungen

Die Matrix des Gewöhnlichen und des Geordneten gibt die Folie ab, auf der sich die Störung als Spur abzeichnen kann (KRÄMER 2007b:160). Spuren können nicht nur Orientierung ermöglichen, indem sie Handlungen anleiten, leiten (aber auch fehlleiten). In gleicher Weise können sie einmal erlangte Orientierungen und Ordnungen in umgekehrter Richtung ebenso durcheinanderbringen und zutiefst erschüttern (vgl. GAWOLL 1989:281; RICŒUR 2009:135f.; STEGMAIER 2007:92). Konsequenterweise müsste also eher wieder ein Schritt zurückgegangen werden, vor das in Kapitel 3.3.4 dargelegte Spuren-Axiom, wenn man sich vor Augen führt, dass vor einer jeden Spurensuche (Orientierungsfindung) zunächst ein anderes Spurenmoment greift, und zwar das der Spur als Anzeichen einer gestörten Ordnung. Diesbezüglich geht ein Spurenparadigma auch fast einhellig davon aus, dass Spuren ferner erst dann wirklich zutage treten und sichtbar werden, wenn das gestört bzw. zerstört wird, was bis dahin das Bild des Gewohnten und Vertrauten abgab (KRÄMER 2007a:16). Ergo: Ohne Irritationen, Störungen, mithin Abweichungen vom Normalzustand können sich Spuren dem Betrachter nicht als solche offenbaren

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(vgl. GRUBE 2007:232). Die Störung, die eine Spur hervorbringt und als solche erst augenscheinlich werden lässt, kann sich ganz überraschend und temporär zeigen. Sie kann sich aber auch im schleichenden Prozess über einen langen Zeitraum erst peu à peu abzeichnen. In jedem Fall zeigt sich dann etwas, mit dem man so vielleicht nicht gerechnet hätte, etwas, das einen überrascht und das einen über die eigene (vertraute) Sicht der Dinge nachdenken lässt. Spuren bedürfen solcher Überraschungsmomente, um aus der Versenkung ihrer Unsichtbarkeit (Stichwort: Absenz) emporzukommen. 3.3.6

Spuren durch Spurenlesen

Die eine Seite ist, dass Menschen (wie auch Dinge) immerwährend und vielerorts Spuren hinterlassen. Dass man diesen einmal hinterlassenen Spuren im Nachhinein begegnen kann, sie im wahrsten Sinne des Wortes erspüren kann (vgl. Kap. 3.1), indem man ihnen folgt, sie wahrnimmt, liest oder an ihnen aufmerkt, ist gleichwohl eine andere Seite der Spur (vgl. KRÄMER 2007a:17). Liegt es doch in der Natur der Sache (Spur), dass Dinge, die einst zurückgelassen wurden, auch im Nachhinein entdeckt und betrachtet werden können. Logischerweise bringt das Hinterlassen von Spuren selbstredend immer auch das Auffinden und Nachverfolgen von Spuren mit sich. Beide Spurenweisen – das Hinterlassen wie Nachverfolgen von Spuren – stehen trotz ihrer offensichtlichen Verbundenheit zueinander jedoch weder in einem engen Kausalverhältnis noch gehen sie vollkommen ineinander auf. Im Gegenteil, sie sind different, insofern sie auf je anderen Grundprämissen fußen. Während das Spurenhinterlassen ohne jegliche Absicht passiert, also ganz beiläufig und unwissentlich vonstattengeht (vgl. Kap. 3.3.1), muss das Verfolgen, Auffinden und insbesondere aber das Lesen jener Überbleibsel hingegen als eine intentionale und damit ganz bewusst herbei- wie durchgeführte Tätigkeit begriffen werden (vgl. KRÄMER 2007b:161). 51 Einer der Grundsätze, wohl eher der Grundsatz, auf den sich ein zeitgenössisches Spurenparadigma (vor allem aber ein Indizienparadigma) verständigen kann, lautet dann auch: Eine Spur wird erst dann zur Spur, wenn sie von einem Spurensucher gelesen bzw. lesbar gemacht wird (vgl. GRUBE 2007:231; HOLTORF 2003:539; KRÄMER 2007b:158; REICHERTZ 2007:324). So liegen Spuren nach ihrer ungewollten Hinterlassenschaft zwar meist als dinghafte Ab-/Eindrücke eines ehemaligen Geschehens vor (vgl. Kap. 3.3.2), wonach sie aufs Erste gesehen auch auffindbar und damit grundsätzlich auch lesbar erscheinen. Was jedoch schlussendlich als und durch die Spur in den Blick gerät, so die Implikation des zuvor Gesagten, drängt sich weniger gegenständlich, d. h. durch das wie auch immer geartete Objekt Spur selbst auf. Vielmehr ist das Erblickte nicht nur bestimmt davon, dass es, sondern vor allem auch wie es erblickt wird (vgl. KESSLER 2012a:52). Die Spur bleibt damit auf besondere Weise einem spürendem Subjekt (KESSLER 2012a:32), also 51

Diese Einsicht bildet schließlich den brüchigen Charakter von Spuren ab, der sich am Widerspruch zwischen dem unaufmerksamen Spurenleger einerseits und dem aufmerksamen Spurensucher andererseits manifestiert (vgl. KRÄMER 2007a:17).

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einem Spurensucher und seiner Spurenlektüre verbunden, insofern die Spur erst durch seine Erkundungen und Lesebemühungen wirklich zutage treten kann. KRÄMER bringt diesen Sachverhalt einfach wie treffend auf den Punkt: Es gibt nicht einfach Spuren, sondern es gibt es etwas, das als Spur gedeutet wird (KRÄMER 2007b:158; Herv. i. Orig.). Gewiss geben Spuren Anlass zum Nachspüren bzw. Nachverfolgen, indem sie Leerstellen an- und aufzeigen, die sich einfach nicht ins vertraute Bild bzw. in vertraute Sehgewohnheiten einordnen (lassen). Diese Ansicht entspricht im Wesentlichen der Position eines Entzugsparadigmas (vgl. LÉVINAS 1987:243). In dieser Hinsicht ist weder etwas an sich und von vornherein eine Spur, genauso wenig kann eine auserkorene Spur eineindeutige Signale aussenden, sie ihrer verborgenen Existenz zu entreißen. Auch gibt die Spur am Anfang kein Versprechen darauf, am Ende der Spurenlese auf etwas Phänomenales zu stoßen.52 Sicher können Spuren vorgefunden werden, zum genaueren Hinsehen anstiften und gegebenenfalls auch Phänomenales für den bereithalten, der sie findet. Die eigentliche Spurwerdung konstituiert sich jedoch erst in dem Moment, in dem Prozesse des Identifizierens, Entzifferns und Auslesens an einem noch unbekannten oder neu besehenen Phänomen greifen. Erst der aktive und willentlich herbeigeführte Versuch hinter die Oberfläche und das ad hoc Ersichtliche einer noch unerklärlichen Erscheinung zu schauen, nach deren noch unbekannten Geschichte zu fragen, macht eine Spur schlussendlich zu einer Spur. Doch was macht nun ein Lesen genauer zu einem Spurenlesen? Mehr noch: Wie unterscheidet sich das Lesen von Spuren zu herkömmlichen Formen des Lesens? Lesen ist nicht gleich Lesen (KESSLER 2012a:209), so könnte hierauf eine erste (noch nicht allzu aussagekräftige) Antwort lauten. In ihrer Einfachheit besitzt diese Feststellung für das Spurenlesen aber gleichwohl eine besondere Relevanz; folgt das Spurenlesen doch einer ganz anderen Verfahrenslogik, als die, mit der man für gewöhnlich zu lesen gedenkt. Anders als beim gewöhnlichen Zeichenlesen, bei dem bestimmte Zeichen(bedeutungen) gewusst wiedergefunden sowie regelgeleitet entschlüsselt werden können, meint das Spurenlesen eben nicht ein Lesen im konventionellen Sinne, dass methodisch streng und rein mechanisch verfährt, wie z. B. das buchstäbliche Lesen von Texten (vgl. KOGGE 2007:186); hier liest man etwas für etwas, das dieses etwas im wahrste Sinne des Wortes bezeichnet (bspw. eine Buchstabenreihung für einen begriffenen Gegenstand). 52

An LÉVINAS und ein dazugehörendes Entzugsparadigma erinnert, können Spuren, verstanden als subjektlose Sedimentierungen (ANGEHRN 2001:357), nicht ausschließlich nur erfahren werden, als sie einem vielmehr eher auch widerfahren (vgl. Kap. 3.3.3). Widerfahren kann einem dann vor allem das, was unwiederbringlich verloren ist, also der Ursprung der Spur. An der Spur ist das Sichtbare zugleich Ausdruck für das Unsichtbare, Präsenz und Absenz reichen sich an der Spur die Hand. Ungeachtet, ob nun eine Spur erfahren wird oder einem widerfährt, in jedem Falle ist es ein Subjekt, das der aufscheinenden Spur bewusst folgt, und sie sodann auch selbstbewusst liest. Spuren bringen uns zum Handeln (KRÄMER 2008b:292; eig. Herv.). So oder so ist es letztlich der Spurenleser, der sich handelnd bewegt oder zum Handeln bewegt fühlt und solcherart der Spur erst zur Geltung bzw. Bedeutung verhilft. Das ist wohl dann auch einer der gemeinsamen Nenner, auf den sich beide Paradigmenhälften eines Spurenparadigmas (Entzugs-/Indizienparadigma), trotz ihrer divergierenden Grundansichten, bringen lassen.

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Die Kunst des Spurenlesens (HOLTORF 2007:340) besteht indes darin, an einen Spurengegenstand heranzutreten, dessen harte Schale zu durchbrechen und zum eigentlichen (Bedeutungs-)Kern vorzustoßen, ohne jedoch dafür Kriterien (Lesehilfen, Bestimmungsbücher) an der Hand zu haben, die dies verlässlich gewährleisten könnten. Es bedarf vielmehr eines erspürenden und explorativen Herangehens, welches erst im Laufe der Spurenlektüre Kriterien und Codes dafür entwickelt, um das Dechiffrieren einer Spur aus der Situation heraus zu ermöglichen. Dass dieses Lesen vonnöten ist und eine besondere Herausforderung darstellt, zeigt sich vor allem immer dann, wenn plötzlich Fälle bzw. Spuren auftreten, die es zuvor noch nicht gab, und die gerade solcher vorangelegten Lese-Kriterien entbehren. Das Lesen des Spurenlesens ist daher niemals der kontinuierliche Fluss der unproblematischen Lektüre, niemals nur ein Ablesen, vielmehr immer ein Lesen im Sinne des Auflesens und Herauslesens. Im Spurenlesen muss erst herausgefunden werden, was signifikant, was ein Zeichen für etwas sein könnte (KOGGE 2007:186).

Beim Lesen von Spuren spielt daher explorierendes Forschen geleitet von spürsinniger Intuition eine besondere Rolle. Eine Intuition, die natürlich von gewissen Vorahnungen, Vorstellungen und einem vermeintlichen Wissen53 darum zehrt, worum es sich im Falle der Spur handeln könne (vgl. GINZBURG 1988c:116f.; HOFFMANN 1998a:6; SCHÄRER 2006b:9). Im Wesentlichen spielt sich das Spurenlesen aber weniger gewusst als vielmehr im Rahmen dessen ab, was Aleida ASSMANN (1988:237, 2015:18−31) unter Rekurs auf den Psychoanalytiker Jacques LACAN eine wilde Semiose genannt hat. Hiernach kommt die Spurenlese einem Akt des offenen Suchens und spekulativen Interpretierens gleich, indem bestenfalls etwas zur Bedeutung verholfen wird, was bis dahin noch keine Bedeutung bzw. Zeichenentsprechung besaß. 54 Finden von Spuren schließt damit also stets das Erfinden – im Sinne der Semiotisierung eines (neuen) Zeichens – mit ein (vgl. ECO 1985:313). Die so formulierte Konstruiertheit von Spuren (KRÄMER 2008b:280) zeigt sich grundsätzlich daran, dass es in letzter Instanz der Spurenkundler und nur er allein ist, der sich durch sein motiviertes wie interessiertes Erschließen eines noch unerschlossenen Terrains erst zum Generator, Konstrukteur und damit nicht nur zum Finder, sondern vielmehr noch zum Erfinder eben dieser von ihm betrachteten 53

54

Mit GINZBURG gesprochen handelt es sich hier um Formen eines tendenziell stummen Wissens – und zwar deswegen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. […] Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition (GINZBURG 1988c:116f.). Für GINZBURG gibt es so gesehen zwei Formen spurenbezogener Intuition: eine niedere und eine höhere. In der niederen – tierischen Lebenswesen eigenen – Intuition sieht er den Ursprung aller Spurensuchen, die den gelehrteren (menschlichen) Formen der Spurensicherung vorausgingen, aber durch selbige mittlerweile auf eine neue Stufe gehoben wurden. Was dann auch besagen soll, dass infolge des Interpretierens und Auslesens gleichwohl auch Spuren zu (eineindeutigen) Zeichen werden können, vorausgesetzt man überführt sie in zeichenhafte Formen (vgl. LÉVINAS 1987:244; REICHERTZ 2007:330f.). Spuren sind insofern also auch semiologisierbar (KRÄMER 2008b:295). Schlägt das Spurenlesen in dieser Weise allerdings fehl, kann also nichts bezeichnet werden, dann, so kann man mit SCHÄRER bildhaft konstatieren: droht die Spurenlese zu einem hoffnungslosen Herumtappen in einer Nacht voller Irrlichter zu verkommen (SCHÄRER 2006b:9).

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Spuren macht. Dies geschieht nun dadurch, dass der Spurensucher einem noch unbekannten Phänomen nachspürt, es entdeckt und solcherart Kenntnis von ihm nimmt. Es geschieht vielmehr aber vor allem dadurch, indem er der stummen, weil materiellen Spur im Zuge der spurengenerierenden Lektüre (LINZ & FEHRMANN 2005:100) eine bedeutsame Stimme verleiht. Wozu die Spur letztlich spricht, ist allerdings nicht durch sie und schon gar nicht in ihr festgeschrieben, sondern rückgekoppelt an den Kontext ihrer Erschließung, an den Kontext, aus der man sie herauszulesen versucht (vgl. HOLLENDONNER 2009:148; HOLTORF 2007:340; KESSLER 2012a:52; KRÄMER 2007a:16f.). Radikal weitergedacht ist damit eine besondere Blick- bzw. Leserichtung in Anschlag gebracht, die sich mit KESSLER gesprochen so zusammenfassen lässt: Nicht die Spur macht aus einem Lesen ein Spurenlesen, sondern das Spurenlesen macht aus einem Gegenstand eine Spur (KESSLER 2012a: 131). In diesem Sinne liegen Spuren nicht einfach und ausschließlich irgendwo vor, wartend darauf, dass sie gefunden und gelesen werden, was Spuren so von anderen Lesegegenständen, wie z. B. Texten klar unterscheidet (vgl. KOGGE 2007:186). Sowenig wie die Spur einfach nur vorliegt, sowenig gibt sie (vergleichbar einem Text) vor, zu welchem Ziele man sie studieren solle. Spuren sind gewiss generative Zeichen, die zu Deutungen herausfordern, sie sind gewissermaßen Motivationen für Interpretationen (vgl. KRÄMER 2007a:17; LINZ & FEHRMANN 2005:90; REICHERTZ 2007:331; WETZEL 2005:80). Sie sind jedoch mitnichten Fundgruben schlummernder Botschaften, deren Sinngehalte ohne Weiteres empfangen, ausgegraben oder entziffert werden können (vgl. HOLTORF 2007:344; REICHERTZ 2007:324). Ohne einen Spurenleser wäre das, was den Status einer Spur beansprucht, auf ewig im Verborgenen gefangen, ohne eine Chance darauf, jemals zum Vorschein zu kommen und solcherart bedeutsam zu werden. Eine Spur konstituiert sich derart also immer erst im Auge des Betrachters (KRÄMER 2008a:86), mithin im Zuge eines interessierten Spurenlesens und der Ergründung einer Leerstelle, für die ein spurenlesendes Subjekt aktiv nach Erklärungen sucht. Auch wenn das Lesen von Spuren keine Tätigkeit ist, die nach bestimmten Kriterien, Gewohnheiten und habituellen Mechanismen per se abläuft, lesen wir doch gleichwohl tagtäglich Spuren, wie wir auch ein mehr oder wenig reflektiertes Wissen darüber besitzen, dass wir dies tun. Zum herkömmlichen Lesen, welches meist eine klare Lesegrundlage und -richtung vorgibt und auch zumeist zu Eineindeutigkeiten führt, ist das Spurenlesen demgegenüber gleichwohl komplexer gestrickt (vgl. KESSLER 2012a:99; KRÄMER 2008a:87). Es impliziert sowohl das explorative Erschließen von etwas (vermittels Praktiken des Suchens, Findens und Ordnens) wie auch das intuitive Schließen auf etwas (durch Praktiken des Entzifferns, Kodierens und Interpretierens) – alles darauf ausgerichtet, Sinnordnungen bzw. Lesarten für etwas zu generieren, wofür es entweder noch keine gibt oder zumindest nur unzureichende. Müsste dies alles zusammengenommen letztlich nicht bedeuten, dass die Spur eher als Verfahren denn als Phänomen anzusehen ist, wie dies LINZ & FEHRMANN (2005:89) zu bedenken geben? Ist nun das Spurenlesen beachtenswerter als die Spur an sich? Im Tenor aktueller Spurendiskussionen gesprochen, ließe sich in jedem Falle und bis hierhin festhalten: Spuren nur durch Spurenlesen.

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3.3.7

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Narrative, interpretative und polyseme Konstitution von Spuren

Wie im vorigen Kapitel zu sehen, stellt nicht die Spur an sich, als vielmehr das Spurenlesen, also die Beziehung zwischen der Spur und dem Spürendem das zentrale Moment beim Auf- und Erschließen verborgener Zeichenwelten dar. Spuren allein geben nur ungewollt Auskunft darüber, wie sie entstanden sind und wie sie sodann ins Heute gelangten, sie überbringen, wenn überhaupt, nur unfreiwillig Botschaften (vgl. REICHERTZ 2007:324); sie gebärden sich selbst eher als eine Botschaft des Nicht-Überbringbaren. Beim Spurenerkunden kommt es folglich, mehr als dass dies bei allen anderen Formen des Lesens der Fall ist, auf den Leser und seine Lesung an. Denn Spuren werden allein und zuallererst zu solchen vermittels des intentionalen Zugriffs eines Spurenlesers, sprich durch Akte des subjektiven Auf- und Erlesens, innerhalb derer sie erst sinnhaft gesehen und zugleich mit Sinn versehen werden (vgl. HOLTORF 2003:538). Da Spuren von sich aus [aber] nur wenig und vor allem […] nicht immer das Gleiche zu allen sagen (REICHERTZ 2007:310), geben Spuren auch keine Garantie darauf, an ihr den wahrhaftigen Gehalt ihrer Hinterlassenschaft zu erkunden. Dass das Spurenlesen (im Gegensatz zum Zeichenlesen) in der Art kein routinisiertes Tun darstellt, das nach Schema F abläuft, sondern vielmehr ein schwieriges, hochgradig vages, weil intuitives Unterfangen ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es – trotz des Willens die Spur lesbar zu machen – in seinem Verlauf und Ausgang nicht vollends plan- bzw. steuerbar ist (vgl. GRUBE 2007:232; KRÄMER 2007a:20f.; LINZ & FEHRMANN 2005:90; SPITZNAGEL 2001:259). Das Spurenlesen stellt zwar eine bewusst angewandte, weniger jedoch eine gewusst standardisierte Technik dar, die Schritt für Schritt zur wirklichkeitsgetreuen Rückverfolgung jener Ereignisse führt, aus der die Spur ihren Ursprung nahm. Vielmehr erscheint die Spurenlese als ein Modus, der zunächst und in erster Linie allein die explorative Bedeutung einer Spur und ihrer ermöglichenden Umstände erlaubt (vgl. REICHERTZ 2007:323f.). Nach HOLTORF (2003:539) handelt es sich bei Spuren insofern um Interpretationskonstrukte, deren Sinngehalte zwar zuvorderst auf materiellen Einschreibungen gründen, aber keineswegs in diesen lagern noch aus diesen sui generis einfach emporsteigen. Spuren können, sobald sie als solche gesichert sind, keineswegs die Vergangenheit quasi von selbst zum Sprechen bringen, indem sie als historische Indizien Zugang zum Kern der Dinge erlauben. Stattdessen bedarf es eines kreativen Interpretierens, um Spuren erst bedeutungsvoll werden zu lassen. (HOLTORF 2007:333; eig. Herv.)

Um so etwas wie Spuren zunächst und überhaupt als signifikant und damit als bedeutsam erachten zu können, braucht es also ein kreatives Nachsinnen darüber, wo, wie und weshalb etwaige Spuren eigentlich vorliegen. Es bedarf einer Such- und Interpretationsarbeit, die das Unverständliche, die Spur, verständlich zu machen sucht (vgl. KRÄMER 2008b:282). Bei der Verständlichmachung von Spurenphänomenen kommt es, neben einer findigen Spurenverfolgung und -sicherung, besonders auf eine Fähigkeit an, die der Spurenbedeutung schließlich erst im wahrsten Sinne des Wortes einen Ausdruck verleiht (vgl. KRÄMER 2008a:87). Unter dem Stichwort der Narrativität zusammen-

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gefasst, sind es Interpretationen in Form von Erzählungen (Narrationen), die als missing link fungieren und ausschlaggebend dafür sind, eine Verbindung zwischen dem Spurensucher einerseits und der (noch unbekannten) Spur andererseits herzustellen. Der unerzählte Ursprung [der Spur; R. L.] wird zum Ursprung des Erzählens (KESSLER 2012a:194).55 Nicht jedoch Spuren besagen etwas, in der Art, dass sie sich dem Spurenleser anbieten, ihre Geschichte zu erzählen. Weder verraten Spuren die Wahrheit noch die Unwahrheit über ihren vergangenen Ursprung noch über ihre gegenwärtige Präsenz. Dies liegt jedoch nicht daran, dass sie unehrlich sind oder in ihrer Aussagekraft schwanken. Dies liegt einzig und allein daran, dass sie Wahres oder Unwahres gar nicht erst zur Sprache bringen können (REICHERTZ 2007:324). Die Semantik der Spur entfaltet sich erst in der Logik der Narration(en) (KRÄMER 2008a:88) – als dem Ergebnis eines Inbezugsetzens eines Spurensubjekts mit einer Spur –, indem der Spurenleser sich ihrer annimmt, Fragen und Deutungen ins Feld führt und damit den visuellen Schein56 der Spur zu durchschauen versucht. So sind Spuren schlussendlich vom Interpretanten, von seinem Interesse und nicht zuletzt von seiner Beredtheit abhängig. Denn: Spuren zu lesen heißt, Dinge zum Sprechen bringen; doch die Dinge sind stumm. Beredt – und damit zu Spuren – werden sie erst in der Erzählung des Spurenlesers (KRÄMER 2008b:281). In letzter Konsequenz ist es also der Spurenleser, der die Spur aus ihrer – der Materialität geschuldeten – Sprachlosigkeit entreißt, indem er sich in den Referenzgegenstand einbringt, ihn beschreibt und eine verständliche wie verständlich machende Sprache bzw. Erzählung für ihn findet resp. erfindet (vgl. KESSLER 2012a:73; KRÄMER 2008b:281). 57 Das Argument, dass Spuren allein aus ihrer Narrativierung heraus wirklich werden, spitzt der Kriminalsoziologe Jo REICHERTZ noch pointierter zu, indem er meint, dass Spuren […] grundsätzlich nie gelesen [werden] (REICHERTZ 2007:324). Seiner Ansicht nach entwirft [man] vor dem Hintergrund von Handlungsrelevanzen und bestimmtem (Erfahrungs-)Wissen Lesarten der vergangenen Ereignisse, trägt sie an die Wahrnehmung heran und prüft, ob sie passen (ebd.). In diesem Sinne fängt das Spurenlesen nicht erst beim Entdecken der Spur an, sondern bereits vorher, da die Spurenlektüre in gewisser Weise schon vorgeprägt ist, vorgeprägt von mitgebrachten Vorstellungen, Semantiken und eben auch Narrativen. Aus diesem Grund plädiert KESSLER (2012a:98ff.) auch für eine konstruktivistische Begriffswendung im Diskurs um Spuren: vom eher Missverständnis erzeugenden Begriff des Spurenlesens hin zum mehr Klarheit 55

56 57

GINZBURG stellt in diesem Zusammenhang ferner die Hypothese auf, dass die Idee der Erzählung selbst […] zuerst in der Gesellschaft von Jägern und aus der Erfahrung des Spurenlesens entstand (GINZBURG 1988c:88). Der Jäger hätte demnach als erster eine Geschichte erzählt, weil er als einziger fähig war, in den stummen – wenn nicht unsichtbaren – Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen (GINZBURG 1988c:89). In Anlehnung an Dan DINER (1996:151), der mit jener Formulierung auf das auratische Trugbild, das seiner Meinung nach ehemaligen Konzentrationslagern und heutigen Gedenkstätten inhärent ist, aufmerksam macht. Indem er z.B. als Kriminologe ein Gutachten verfasst oder als Zeitzeuge eine Erzählung oder als Wissenschaftler eine Abhandlung präsentiert, die die Spur zusammengenommen jeweils zu verstehen und folglich zu erklären verspricht.

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schaffenden Begriff des Spurenerzählens. In dieser Hinsicht liegt wohl das größte terminologische Wirrnis in dem Umstand begründet, dass der Topos des Spurenlesens die positivistische Suggestion in sich birgt, über die Technik des Lesens unmittelbar zum Bedeutungskern eines Gegenstandes zu gelangen, d. h. unmittelbar über die Lesung zu erfahren, wie es sich denn mit der Spur genau zugetragen hat (vgl. HOLTORF 2003:538, 2007:335; KRÄMER 2008a:87). Das Erschließen von Spuren offenbart sich jedoch – anders als bei gesetzten (Schrift-)Zeichen – weniger als ein reines Rezipieren, systematisches Decodieren und Dekonstruieren einer spurenvermittelten Botschaft (vgl. Kap. 3.3.6). Es präsentiert sich eher als ein aktives Codieren und Konstruieren, dessen grundlegende Praxis und Arbeitslogik das interpretierende und sinngenerierende Erzählen ist (vgl. KESSLER 2012a:149; REICHERTZ 2007: 323f.). In dieser Weise manifestieren sich historische Wirklichkeiten nicht ausschließlich in der Spur per se, sondern vielmehr in den Erzählungen, die um die Spur kreisen, mehr noch: die die Spur vom interessierten Spurenleser zugesprochen bzw. zugeschrieben bekommt (KESSLER 2012a:15f.). Die Rolle des Spurenlesers ist so gesehen weniger die eines Lesers im eigentlichen Sinne, als vielmehr die eines Erzählers, eines Schreibers, der die Geschichte einer Spur (nach)erzählt, umschreibt und solcherart sprachlich niederlegt.58 Obwohl, oder sollte man nicht eher sagen gerade, weil die Spur als semantisch arm und in ihrer Bedeutung schwer festzulegen [ist] (RUCHATZ 2001:559), vermag sie dann auch zu vielerlei Bedeutungen bzw. pluralisierenden Ansichten und Geschichten über sie führen. Das in der Spurenforschung viel diskutierte Charakteristikum der Polysemie speist sich aus der grundlegenden, von postmodernen Diskursen durchzogenen Einsicht, dass es potentiell so viele Spuren und Ansichten von Spuren geben kann, wie es Spurenleser und Interpretationen von diesen gibt (vgl. KRÄMER 2008a:87). Die Vieldeutigkeit von Spuren (KRÄMER 2007a:17) zeigt sich jedoch nicht nur an pluralistischen Auslegungen einer potentiell großen Leserschaft von Spuren, sondern auch an den Überlagerungen und netzwerkartigen Verknüpfungen verschiedenartiger Spureneinträge zwischeneinander: Die Spur verweist

58

Dieses Theorem lässt sich an den spurendurchzogenen Werken Umberto ECOs, im Besonderen dem Roman Der Name der Rose (ECO 1982), eindrücklich nachvollziehen. Es lässt sich aber auch am Beispiel sogenannter Songlines plausibilisieren. Songlines dienten und dienen den australischen Ureinwohner, den Aborigines als Spur, um zu ihren verstorbenen Ahnen eine Verbindung aufzubauen. So haben sich der mythologischen Erzählung nach die ehemals Verstorbenen in die Landschaft, in Pflanzen oder in andere natürliche Dinge eingeschrieben, wonach sie nach deren Ableben als Spuren für ihre Nachkommen weiterlebten. Diese spurenversehenen Orte werden durch die Nachkommen auf Grundlage von rituellen Praktiken wie Gesängen oder Tänzen über die Zeit sichtbar gehalten und somit letztlich weitergegeben. Dadurch gestaltet sich nicht nur eine Form des Totengedenkens. Zudem werden damit Jahrhunderte alte Wissensbestände, die sich an konkrete Personen knüpften, bewahrt und weitertradiert – und dies alles über die bewusst angewandte Technik des Auslesens von Spuren (vgl. ATKINSON 2002). Da jene Spuren und Spurungen in gewisser Weise gewusst erscheinen, sind hier Spuren, um begriffsscharf zu bleiben, natürlicherweise zu gezielt nachvollziehbaren Zeichen bzw. Symbolen geworden, die (einmal gesetzt) auch semantisch durchdrungen werden können.

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immer auf Spuren, die Spuren von Spuren sind (WETZEL 2005:84). 59 So gesehen ist die Diskussion um Spuren neben einem ubiquitären Charakter immer auch durch ein gewisses Kontingenzdenken gekennzeichnet (vgl. KESSLER 2012a:212). Kontingent meint: dass etwas immer auch anders (gewesen) sein kann. So kann die Hinterlassenschaft der Spur immer auch anders vonstattengegangen sein oder viele Gründe gehabt haben, wie auch die Interpretation des Spurenlesers nur eine unter vielen (möglichen) sein kann; auch kann die Suche nach Spuren mit der Außerachtlassung anderer relevanter Spuren einhergehen wie sie auch dazu führen kann, beim Erschließen einer ausgewählten Spur andere zu verwischen oder zu tilgen (vgl. LINZ & FEHRMANN 2005:101). Spuren sind mehrdeutig und zugleich immer auch kontingent, was jedoch nach Ansicht HOLTORFs (2007:341) nicht der Überzeugung Vorschub leisten soll, anzunehmen, dass Spuren in Bezug auf ihre Auslegung von einer gewissen Beliebigkeit gekennzeichnet wären. So kann eine x-beliebige Spur HOLTORF zufolge gewiss immer auch anders gelesen und interpretiert werden. Nichts ist schwerer vorherzusagen als die Vergangenheit … [Aber:] Aus diesem Postulat der Mehrdeutigkeit von Spuren ergibt sich in keiner Weise, dass Spuren beliebig interpretiert werden könnten. Was Spuren besagen, hängt davon ab, wie man sie liest, und niemand liest sie auf beliebige Art. (HOLTORF 2007:341; Herv. i. Orig.)

In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass sich der Zugang zu Spuren sowohl offen als auch ganz konkret gestaltet. Spuren sind zwar Quell mannigfaltiger Deutungen und Geschichten. Über ihre interpretative Offenheit hinaus werden sie aber zumeist nur von einem Spurenleser, aus einer Handlungssituation und aus einem Wissensbedürfnis herausgelesen, was sie schlussendlich – ungeachtet der Vielzahl möglicher Interpretationen (KRÄMER 2007b:159) – als eine konkret bedeutete wie bedeutende Sache ausweist. 3.3.8

Spuren als Zeitenbrecher

Erklärt man das Zeitliche genauer zum Ausgangspunkt einer Spurenbetrachtung, dann lässt sich zu aller Anfang feststellen, dass Spuren materiale Signaturen auf Zeit [sind] (SCHAUB 2007:124). Das Signum der Zeit umfasst beim genaueren Hinsehen im Wesentlichen die Spanne zwischen dem Zeitpunkt des Hinterlassens der Spur einerseits und dem des Auffindens (oder Erscheinens) andererseits. Innerhalb 59

WINKLER (2010:43) sieht in der zahlenmäßigen Erscheinung von Spuren, noch mehr als dies WETZEL tut, einen wichtigen Punkt und zugleich blinden Fleck in den bisherigen Diskussionen um Spuren, wie sie im Anschluss an KRÄMERs Spuren-Attribuierungen (KRÄMER 2007a:14−18) bis heute geführt wurden. Seiner Meinung nach weisen Spuren, neben allen qualitativen Einsichten, die sie erlauben, immer auch auf eine quantitative Seite hin, die es lohnend wäre, noch stärker zu fokussieren. Diese Forderung speist sich aus der Beobachtung: dass Spuren häufig nicht einmal, sondern mehrmals begangen werden, wodurch sie sich entweder überlagern und dadurch unkenntlich werden, oder aber ganz im Gegenteil sich durch Eingrabung vertiefen (WINKLER 2010:42). Hiernach wären Spuren mehr noch über deren Ausmaß, Dichteverhältnisse und quantitative Muster ihrer Hinterlassenschaft sowie die Wechselbeziehungen zwischen Einzel- und Kollektivspuren in den Blick zu nehmen.

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dieser Zeitspanne changiert die Spur in einem diffusen Zwischenbereich zwischen Absenz und (möglicher) Präsenz (vgl. Kap. 3.3.3). Solange die Spur nicht aus ihrer leisen, weil unsichtbaren und ungewussten Hinterlassenschaft heraustreten kann, kein Spurensucher sie sieht und ersieht, solange bleibt sie stumm und auf unvorhersehbare Zeit im Absenten gefangen. Es mag daher auch nicht verwundern, dass Spuren im Hinblick auf ihre Halbwertszeit zu äußerst flüchtigen Gebilden mutieren, die, sofern sie nie in den Blick eines Spurensuchers geraten, von ihren Orten geschluckt oder einkassiert werden [können] (SCHAUB 2007:130). So tragen z. B. Verwitterungsprozesse, Verwischungen, Überschreibungen oder oberflächliche Ab- und Umnutzungen an einem Gegenstand dazu bei, das Spuren kurz-, mittel- oder langfristig zum Verschwinden gebracht werden (vgl. LINZ & FEHRMANN 2005:90; SCHAUB 2007:139f.; WETZEL 2005:84). Der Modus des Verschwindens (WETZEL 2005:84) ist ein der Spur inhärentes Charakteristikum, was sich mit Blick auf das Zeitliche indes besonders deutlich zeigt. Der wesentliche Grund für das Verschwinden von Spuren hängt grundsätzlich mit dem schon mehrmals betonten Faktum zusammen, dass Spuren nicht willentlich, sondern quasi en passant geschaffen werden, worauf sie nach ihrer Hinterlassenschaft ins Unsichtbare abdriften und somit bis auf Weiteres verschwunden bleiben. Zieht man eine noch stärkere Zeitperspektivierung in Betrachtung, dann sind Spuren einstmals – präterital gesprochen – hinterlassen worden, was sie, um eine Tautologie zu bemühen, zu einem Produkt einer vergangenen Vergangenheit macht. Da Spuren sich dem Kausalnexus eines vergangenen Geschehens verdanken, ragt – in Gestalt der Spur – ein vergangenes Ereignis in die Gegenwart irgendwie hinein (KRÄMER 2008b:277). Wie die Aussage KRÄMERs in Ansätzen deutlich macht, offenbart sich eine Spur gleichwohl nicht nur und keinesfalls ausschließlich als Vergangenheitsüberbleibsel, das irgendwo im Verborgenen liegt und unaufhörlich seiner Entdeckung harrt. Vielmehr unterliegen Spuren in vielerlei Hinsicht zeitlichen Verschränkungen, Verwerfungen und nicht zuletzt auch Parallelisierungen. KRÄMER und REICHERTZ haben dafür bereits eine Terminologie gefunden, mit der sie die spezifische Temporalität von Spuren auf einen Begriff zu bringen versuchen. Sie sprechen von spurenbezogenen Zeitenbrüchen (KRÄMER 2007a:17) bzw. Zeitensprüngen (REICHERTZ 2007:313). Der größte Zeitenbruch/-sprung besteht den beiden Spurentheoretikern zufolge darin, dass unbeabsichtigte Relikte eines vergangenen Geschehnisses zumeist erst nachträglich, d. h. erst in einem gewissen zeitlichen Abstand zu ihrem Zurücklassen, aufgefunden und gelesen werden. Dieser der Spur eigenen Nachträglichkeit (GAWOLL 1986/87:46; RHEINBERGER et al. 1997:10) steht jedoch in keinem Verhältnis dazu, wie Spuren gemeinhin gesehen und verstanden werden: als etwas, dass das an ihr Stattgefundene auf Dauer in sich trägt und damit zeitlich auch nachträgt. Wenn die Spur denn aber etwas nachträgt und solcherart bezeugt, dann allein das unwiederbringliche Vorbeigegangensein (GAWOLL 1986/87:45; KRÄMER 2008b:277; RICŒUR 2009:129). Ein Vorbeigegangensein derjenigen Geschehnisse, die die Spur einst hervorbrachten sowie in der Folgezeit (ver)formten. So gesehen deutet eine Spur allenfalls auf etwas Vergangenes hin, indem sie etwas an[zeigt], was zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel vergangen ist (KRÄMER 2007a:17; eig. Herv.).

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Ein aufgefundener Gegenstand kann zwar in die Vergangenheit zurückweisen, insofern ein Rest jener Vergangenheit an ihr haftet. Allerdings erlaubt dieser verweisende Rest keine wirkliche Rückschau, denn eine authentische Wiederherstellung der Vergangenheit (vgl. HOLTORF 2003:540f.). Als verweisender Rest bleibt die Spur immer mehr auf den Kontext ihrer Verweisung, d. h. auf den Fluchtpunkt ihrer Lesung, bspw. einer erinnernden Rückschau beschränkt, weniger jedoch auf den Kontext ihrer ursprünglichen Zurücklassung. Demnach ist es eher dem Hier und Jetzt und einer just stattfindenden Spürbewegung geschuldet, aus der die Spur heraus im wahrsten Sinne des Wortes erst gegenwärtig wird. Ähnlich der Retrospektive, einer vergangenheitsorientierten Erinnerung, die der Betrachter an und mit der Spur in Anschlag bringt, kann sich eine Spurensuche dabei aber genauso auch in entgegengesetzter zeitlicher Reihung erstrecken. Im Sinne eines prospektiven Vorausweisens beansprucht die Spur zugleich immer auch ein Anzeichen für etwas zu sein, das die Vorausdeutung von noch zu erwartenden Geschehnissen und Zeiten, mithin von zu erwartenden Zukünften ermöglicht. Doch auch hier wird eine (möglicherweise sich noch zutragende) Begebenheit nur aus einer je aktuellen Situation, d. h. aus einer situativen Spurenlesung heraus gesehen bzw. vorausgesehen, und zwar indem sie mit der aktuellen Zeit bricht und in eine andere (zukünftige) Zeit gedanklich wie körperbezogen hineinspringt. Kurzum: Ohne Zeitverschiebung keine Spur (KRÄMER 2007b:164). Die temporale Scharnierstelle, an der die Spur entsteht, indem sie den Weg ins Vergangene oder Kommende weist und damit die Zeit verschiebt, ist eine sich stetig wechselnde Gegenwart, in die eine Spur hineinreicht oder hinausweist und aus welcher je aufs Neue die Motivation entspringt, dieser Spur selbst auf die Spur zu kommen (vgl. HOLTORF 2003:540). In Anbetracht der vielschichtigen zeitlichen Beschaffenheiten von Spuren kommt der französische Philosoph Paul RICŒUR denn auch zu der Einsicht, dass Spuren als Bindeglied zwischen den Zeiten (2009:129) und zugleich immer auch als Orte fungieren, an denen stets verschiedene Zeithorizonte zum Tragen kommen. So überlagern sich in Spureneinträgen, wie zuvor bereits aufgezeigt, gleichzeitig Vergangenes, Gegenwärtiges und auch Zukünftiges (vgl. KRÄMER 2007b:164). In dieser spurbedingten und -bedingenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 60 lässt sich nicht zuletzt ein konstitutives Grundmoment einer jeden Spurenerscheinung ausmachen (vgl. KRÄMER 2008b:177). Im Sinne einer der Spur(enlese) eigenen Simultanität, dem gleichzeitigen Vorhandensein und Ineinandergreifen von verschiedenen Zeiten, kann das Spurenlesen gleichermaßen das 60

Der Topos der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen geht auf KOSELLECK zurück, der sich wiederum auf den französischen Historiker Ernst BLOCH (1985:111ff.) bezog. Seine eigene Maxime lautete: Wir müssen […] lernen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in unserer Geschichte zu entdecken (KOSELLECK 2000c:307). Hierunter wollte er schließlich eine Betrachtungsweise verstanden wissen, die – über synchrone und diachrone Konzeptionalisierungen von Zeit hinausgehend – die Vielschichtigkeit geschichtlicher Zeiten anerkennt (vgl. KOSELLECK 2000b:9). Dass zeitgleich immer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenkommen und damit übereinanderlagern, auf diese zentrale historische Einsicht stütze er wiederum selbst seine Theorie geschichtlicher Zeitschichten (KOSELLECK 2000a:7), die, wie bereits erwähnt (vgl. Kap. 2), vielerlei Verbindungen zur französischen Annales-Schule unterhielt.

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gegenwärtige Auffinden einer vergangenen Hinterlassenschaft in sich vereinen, wie auch das richtungs- bzw. zukunftsweisende Hinausgreifen auf etwas noch zu Erwartendes (vgl. KESSLER 2012a:33). In dieser Hinsicht lässt sich das Spurenparadigma GINZBURGscher Prägung, das sich vornehmlich durch eine Vergangenheitsorientierung auszeichnet (s. Mikrogeschichte), in konzeptioneller Erweiterung ebenso als ein, wenn man so will, futurologisches Paradigma, oder wie es GINZBURG (1988c:91) selbst meinte, als ein Wahrsageparadigma weiterdenken. In Anerkennung dessen ergäbe sich ein wesentlich breiteres Spektrum an zeitlichen Ausrichtungen für das Lesen von Spuren. Neben einer vergangenheitsorientierten Sicht der Dinge würde dies in gleichem Maße eine Sensibilität für zur Zukunft hin ausgerichtete Deutungsweisen und deren Erforschung schaffen, indem man dezidiert nach den noch zu erwartenden Geschehnissen, Verläufen oder materiellen Folgeerscheinungen von Spurenphänomenen und deren Erkundung fragt. Vorausgesetzt man lässt neben einer spurenvermittelten Vergangenheitsschau ebenso Formen des Vorausschauens und -deutens als eine temporal erweiterte Sichtweise auf Spuren und Spurenlesen zu (z. B. Prognosen; vgl. HOHGREBE 2007). Letztlich wären damit vielerlei Wege zur Suche nach verschiedenen Zeiten, Zeitverhältnissen und Zeitvorstellungen vermittels und anhand von Spuren und Spurenerkundungen eröffnet, welche weit über deren historisch (vorher)bestimmten Horizont hinausweisen würden. 3.3.9

Spuren als eindimensionale und unumkehrbare Wirklichkeiten

Wenn allein der Spurensucher durch sein interessiertes und motiviertes Erspüren dafür verantwortlich ist, dass es Spuren überhaupt gibt, dann ist damit hinsichtlich der Seinsweise von Spuren eine weitere merkmalsspezifische Differenzierung von Spuren (vor allem im Unterschied zu konventionellen Zeichensystemen) ausfindig gemacht. Die diesbezügliche Differenzierung wäre die, dass Spuren im Gegensatz zu herkömmlichen Zeichen durch eine spezifische Eindimensionalität und Unumkehrbarkeit gekennzeichnet sind (KRÄMER 2007a:18). Das so festgeschriebene Spurenaxiom wurzelt in der schon mehrmals angesprochenen Tatsache, dass Spuren nicht durch sich und schon gar nicht aus sich heraus sein können. Spuren verschaffen sich nicht Bedeutung dadurch, indem sie einfach irgendwo lagern, also sind. Sie sind vielmehr erst dadurch und deswegen, weil sie sich sowohl einem spurendem als auch spürendem Moment verdanken. Spuren werden nämlich erst in dem Moment wirklich, an dem sie jemand im Vollzug des Spurenlegens und -lesens wirklich werden lässt. So bedarf es zunächst einer Spurenzurücklassung, sozusagen einer Spurung, innerhalb dessen die Spur ihre erste Einprägung und damit Verwirklichung erfährt (vgl. Kap. 3.3.1). Tatsächlich und offenbar werden Spuren gleichwohl erst in dem Moment, in dem sie in den Blick eines spürenden Wesens geraten, worauf sie selbstredend und im wahrsten Sinne des Wortes erst wirklich wirklich werden. Allen voran Praktiken und Techniken des Lesens, Auslesens, mehr aber noch des Erzählens (vgl. Kap. 3.3.7) bringen Spuren ans Tageslicht und damit zuallererst hervor. Denn würde man Spuren sich selbst überlassen, so die bisher dar-

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gelegte Kernthese, dann würden sie – ungeachtet ihres Latenz-Zustandes – für immer stumm, unsichtbar und so gesehen für alle Welt unwirklich bleiben. Spuren sind unberedte Dinge. Das vor allem deswegen, weil sie unabsichtlich und ohne jegliche Botschaft für die Nachwelt hinterlassen wurden. Spuren haben keinen Auftraggeber (KRÄMER 2008b:280), aus welchem Grund sie – mehr als alle anderen Dinge – einer besonderen Sichtbarmachung bedürfen. Sichtbar werden Dinge jedoch nicht allein dadurch, dass man sie wahrnimmt und erkennt, zumal das Erkennen Erkenntnis voraussetzt; es ist ja aber gerade die Unkenntnis, die in den meisten Fällen den Anfang aller Spurensuche darstellt. Sichtbar werden Dinge eben erst dadurch, dass man über sie spricht und einen Ausdruck bzw. eine Sprache für sie findet, auch wenn sie gerade zu Anfang jedweder Form der Artikulation entbehren. Glücklicherweise besitzt im Gegensatz zur sprachlosen Spur gerade der Spurenleser eben jene Fähigkeit zur Versprachlichung, um etwas bisher Unverstandenes, Unbesprochenes und Unausgesprochenes verbaliter verständlich zu machen, mithin um Spuren zum Sprechen zu bringen (REICHERTZ 2007:326). Medial betrachtet scheint damit das Verhältnis bzw. die Rollenverteilung zwischen Spur und Spurenleser klar geregelt (vgl. KRÄMER 2007a:18). Da allein der Spurenleser der Sprache mächtig ist, kann konsequenterweise auch nur er derjenige sein, der den eigentlichen Ton bei einer jeden Spurensuche angibt (vgl. Kap. 3.3.6). Ungeachtet der Tatsache, dass die Spur den Aufhänger einer Spurensuche darstellt, ist sie aufgrund ihrer Sprachlosigkeit selbst gezwungenermaßen in die Rolle des Adressaten gedrängt, der den angegebenen Ton vonseiten des Spurensuchers empfängt, ohne allerdings selbst je in die Position eines alleinig tonangebenden Mediums zu gelangen. Konventionelle Zeichensysteme wie bspw. Zahlenstränge oder Buchstabenreihen können gewiss eine ganz eigene Sprache sprechen wie auch eine ganz eigene Botschaft aussenden, die zumeist auch verstanden wird und an die ein jeder auch semantisch anknüpfen kann: Sprachliche Aussagen gerinnen zur physiognomischen Textur; Sinn materialisiert sich in der Sinnlichkeit eines Körperhaften (KRÄMER 2008b:116f.). Als Inversion des von KRÄMER beschriebenen Botenmodells zeichnet sich die mediale Beziehung zwischen Spur und Spurenleser aber gerade nicht als eine vom Zeichen ausgehende wie auch konventionalisierte Kommunikation aus. Ganz im Gegenteil, es ist eine genau umgekehrte und somit anders geartete Eindimensionalität der Kommunikationsrichtung, die das Sender-Empfänger-Verhältnis einer jeden Spurenpraxis ausmacht: der Spurenleser sendet, die Spur empfängt (KRÄMER 2008a:88). Was die Spur bei der Spurensuche empfängt, hat dann logischerweise zumeist weniger mit ihr selbst zu tun, als vielmehr mit dem Spurensucher und seiner Spurensuche. So gesehen gibt die Spur am Ende mehr über die Spurensuche und den Spurensucher preis, als über sich selbst. Oder anders gesagt: Die Suche nach dem Kern der Dinge erweist sich am Ende […] als die Suche nach sich selbst (HOLTORF 2007:350). Was HOLTORF in Bezug auf die Archäologie und die Tätigkeit von Archäologen im Speziellen konstatierte, dies wird so bereits auch in anderen Diskurszusammenhängen angenommen und zum Spurenattribut erhoben. 61 Egal ob dabei wissenschaftliche oder alltagsweltliche Formen 61

Vgl. hierzu u. a. die kriminalsoziologischen Beobachtungen von REICHERTZ (2007:310).

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der Spurenlese gemeint sind, in jedem Fall scheint es in zunehmenden Maße Konsens zu werden, dass die Beschäftigung mit Spuren mitunter mehr Einsichten über den an Spuren Interessierten und dessen Blick auf die Welt offenbart, als die Spurensuche allein zur reinen Rekonstruktion und Inspektion von Vergangenheiten (oder auch Zukünften) taugt. Denn: Was man aus Spuren lesen kann, so man sie denn lesen können sollte, hängt in hohem Maße von dem Lebens- und Berufswissen ab, das der Spurenleser aktiv oder passiv gelernt hat (REICHERTZ 2007:310). Durch den selbstreferentiellen Charakter des Spurenlesens gerinnen Spuren von materiellen Überbleibseln folglich mehr zu sozialen Tatsachen (HOLTORF 2007: 348). Verraten sie doch mitunter mehr über die Identität, die Seh- und Denkgewohnheiten des Spurenlesers wie auch die soziale oder akademische Umwelt oder über die zeitaktuellen Gesellschafts- oder Wissenschaftsverhältnisse, in der der Spurenleser und seine Spurensuche sozio-kulturell eingebettet sind – sie verraten aber indes weniger über sich selbst (vgl. GINZBURG 1988c:87; GRAMPP 2009:44; HOLTORF 2003:540f.). Was wird zu welcher Zeit als Spur wahrgenommen und was nicht? Und was sagt die Nicht-Beachtung von bestimmten Spurenphänomenen über die spurenlesenden Subjekte und ihre erlebten und gelebten Zeitverhältnisse aus? Bei aller sich breitmachenden Einigkeit darüber, dass Spuren und Spurensuchen in erster Linie Spiegelbilder gesellschaftlicher Verhältnisse sowie persönlicher Ansichten, Erfahrungen und Wissensbeständen sind, bleibt im aktuellen Diskurs um Spuren diesbezüglich dennoch ein Rest an Skepsis bestehen. Diese Skepsis besteht im Wesentlichen darin, dass Spuren bis zu einem gewissen Grad sicher auch ohne Spurenleser existent sein können; d. h., dass sie auch allein als referentielle Belege in Betracht kommen können, indem sie Zeugnis davon ablegen, was eigentlich nicht bezeugt werden kann, und zwar das irreversibel Vorbeigegangensein, das Nicht-Mehr-Erreichbare, dessen einzig beglaubigter Rest die Spur gewissermaßen selbst ist (vgl. HOLTORF 2007:344f.).62 Mit Verweis auf LÉVINAS und anderen dem Entzugsparadigma zugehörigen Autoren (u. a. DERRIDA) sei daran erinnert, dass Spuren nicht nur erfahren werden, indem man sie mit eigenem Wissen – gespeist von persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen – sucht, findet und liest. Spuren können neben dem erfahrungsbezogenen Reflektieren und subjektiven (Hinein-)Projizieren ebenfalls das Widerfahren und Zustoßen von etwas Anderem, von etwas nicht Gekanntem (weil bisher nicht Erfahrenem) mit sich bringen (vgl. Kap. 3.3.3). Die Spur als Anderes ist dann nicht ohne Weiteres auf das Eigene, dem vertrauten Verstehenshorizont, zurückprojizierbar. Das der Spur zugewandte Subjekt offenbart sich in der Denklogik eines LÉVINAS eher als ein radikal Empfangendes, das in der Konfrontation mit der Spur nicht die Möglichkeit, sondern die Grenzen seiner Macht erfährt (KESSLER 2012a:66). So kann an der Spur bei aller augenscheinlicher Offensichtlichkeit – dem gefühlten Wissen darum, was die Spur in sich birgt – ebenso ein unverstandener Rest zurückbleiben, der eine offene (Wissens-)Lücke 62

Hier bleibt natürlich zu fragen, inwieweit Spuren solcherart zwar existent aber damit nicht gleich und ohne Weiteres evident werden. Denn: Wenn es letztlich niemanden gäbe, der an Spuren aufmerken und ihnen nachgehen würde, gäbe es sie dann überhaupt?

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zwischen dem Heute und dem Damals, dem Selbst und dem Gegenüber aufreißt, woraus schlussendlich mehr Fragen als Antworten resultieren. Und dennoch, so ist festzuhalten, ist der archimedische Punkt aller mit Spuren korrespondierenden Praktiken, trotz aller Einwände durch LÉVINAS und andere, eine vom Spurensubjekt und nicht -objekt forcierte (Re-)Konstruktionsarbeit. Spuren übermitteln den sie prägenden Um- bzw. Gegenstand nicht von selbst, allzumal sie (in den meisten Fällen) selbst sprach- und leblose Gegebenheiten sind, welche eine Lebendigmachung erst durch den Spurenleser erfahren. Die Spur spricht, aber nicht von selbst, sondern eben auch nur durch den und aus dem Spurenleser heraus: Spurenlesen ist ein handfestes Sich-Auseinandersetzen mit einer zunächst unverstandenen, dann aber zunehmend begriffenen Dinglichkeit. Dabei geht es vornehmlich keineswegs um die Rettung verlorener Zeiten, sondern um die eigene Positionsbestimmung des Spurenlesers in der Gegenwart. Im Spurenlesen manifestiert sich der Lernprozess, dessen es bedarf, um etwas Fremdes und Abwesendes unter Kontrolle zu bringen. Der Prozess des Spurenlesens drückt deshalb im Verweisen auf das Andere in erster Linie bestimmte eigene Denk- und Handelnsweisen [sic!] des Spurenlesers aus. Spuren machen Unsichtbares vor allem in dem Sinne sichtbar, dass sie der Perspektive des Spurenlesers materiellen Ausdruck verleihen (HOLTORF 2007:345; Herv. i. Orig.).

Dass die vergangene oder zukünftige Wirklichkeit, die der Spurenleser sucht, sich am Ende der Suche mehr zu der seinen entwickelt, weil seine Suchbewegung sie schließlich erst hervorgebracht hat, ist in gedanklicher Weiterführung des zuvor gebrachten HOLTORF-Zitats und in Zusammenfassung des zuvor Gesagten sicher nicht unwichtig und hier nochmals besonders herauszustellen. Egal ob die Spur ein Erfahren oder Widerfahren mit sich bringt, die Präsenz und Evidenz der Spur wird ihr nur im Zusammenspiel mit dem Spurenleser und seiner Spurenlesung zuteil. Trotz einseitig gelagerter Kommunikationsverhältnisse – der Spurensucher sendet, die Spur empfängt – ist die Spurensuche gleichwohl eine weitaus umfassendere und auch schwierigere Angelegenheit. Nicht zuletzt deswegen, weil die Interdependenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt einer jeden Spurensuche zu schwankenden Erkenntnispotentialitäten (Spur als Anhalts- oder Entzugspunkt) führt und so mit vielerlei Überraschungen und Unerwartetem einhergehen kann. 3.3.10 Medialität, Heteronomie und Passivität von Spuren Das zehnte und letzte spureneigene Spezifikum wird rückbezüglich zu den bereits dargelegten Attribuierungen, den Fokus nochmalig, aber diesmal genauer, auf die (besondere) Medialität von Spuren lenken. Wie wir in den Kapiteln zuvor sehen durften, sind Spuren immerwährend von einem Spurenleser und dessen Absicht, eine Spur lesbar zu machen, abhängig. Aus diesem Grund spricht KRÄMER (2007a:18) in ihrer Zusammenstellung von Spurencharakteristika der Spur auch das Kennzeichen der Heteronomie, der Fremdbestimmtheit zu. KRÄMER zufolge sind Spuren aus zweierlei Gründen heteronom. Einerseits, weil sie sich in erster Linie fremder Einwirkungen und Gesetzmäßigkeiten verdanken (KRÄMER 2007a:18). So werden Spuren dadurch zu Spuren, weil sie auf einem situativen Moment gründen, innerhalb dessen sich eine Entität einer anderen ein-

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drücklich vermittelt hat, woraus – als unbeabsichtigtes Nebenprodukt – schlussendlich eine Spur resultierte. Andererseits und einschneidender äußert sich jene Fremdbestimmung von Spuren wohl aber darin, dass Spuren nach ihrem Hinterlassen mehr noch einer anderen Fremdheit namens Spurensucher bedürfen (KRÄMER 2007a:18), welche es möglich macht, sie aus dem Bereich des Verborgenen in den Bereich des Sichtbaren zu holen. Die Fremdbestimmtheit von Spuren in ihrer zweiseitigen Ausprägung ist letztlich darauf zurückzuführen, dass Spuren gewissermaßen ohne ein anderes Medium gar nicht sein könn(t)en, also zwangsläufig auf mediale Übersetzungen angewiesen sind. Von den Prozessen des Hinterlassens und Auffindens herrührend, sind Spuren so gesehen auch in zweierlei Hinsicht auf eine mediale Vermittlung angewiesen. Die eine Seite der Medialität von Spuren basiert auf der Körperlichkeit und Materialität (vgl. Kap. 3.3.2), aus der die Spur, als unwillentlicher Ein-/Abdruck, nicht nur entspringt, sondern auch als ein im Verborgenen liegendes Phänomen seitdem verbunden bleibt. Die andere mediale Seite der Spur ist ferner beim Spurenleser zu suchen, der dem unergründbaren Fleck durch sein körperlich-sinnliches Nacherfahren wiederum erst selbst physisch-materiellen Ausdruck verleiht, indem er sich die dargebotene Spur multisensual, d. h. alle seine Sinneskanäle nutzend, einverleibt. Bezogen auf letztere Ausdrucksform ist es jedoch keineswegs nur die auf der eigenen Körperlichkeit des Spurenlesers basierende Sinneswahrnehmung und ein speicherfähiges Körpergedächtnis, welche zusammen der Spur zur Geltung verhelfen (vgl. KRÄMER 2008b:117); augenscheinlich werden Spuren nicht nur im Auge oder in der tastenden Hand des Spurensuchers, als vielmehr und eigentlich vermittels des sprachlichen Bedeutens und Semantisierens, welches – von einem medientheoretischen Standpunkt aus gesprochen – die Spur überhaupt erst zum beachtenswerten Gegenstand bzw. Medium erhebt. Insbesondere wegen ihrer Fremdbestimmungen geht von der Spur gewissermaßen selbst auch keinerlei Aktion aus, welche sie durch sich selbst mitteilen könnte. Weder vermittelt sich ein Spureneintrag beim Zurücklassen von selbst, noch zeigt er sich beim Entdecken von allein. Denn (nochmals): Spuren sind in Passivität erstarrte Dinge, die ohne Zutun einer anderen medialen Instanz weder irgendwo vorliegen würden noch jemals eine Chance darauf hätten, in die Sphäre des Sichtbaren überzugehen. Spuren sind passiv in der Weise, dass sie selbst nie in die Gelegenheit kommen, eine Kommunikation von alleine zu führen. Spuren geben, wenn überhaupt nur Anlass zur Kommunikation. Anders als beim Boten und einer damit korrespondierenden Botschaft, die selbstaktiv spricht und Informationen übermittelt, hat die Spur als Medium hingegen keinen Drang und auch keinen Auftrag etwas überbringen oder vortragen zu müssen (KRÄMER 2008b:278f.). Unterstellt man einer Spur abschließend nun doch einmal die Absicht, sich mitteilen bzw. zeigen zu wollen, dann müsste sie sich gleichwohl – nicht zuletzt aufgrund ihrer kommunikativen Inkompetenz – an eine vermittelnde Medialität halten, die sie in Kommunikation überführt und so verständlich macht. Allein in der Obhut eines Spurenlesers ergibt sich für die Spur die Möglichkeit, aus der Versenkung ihrer unwissentlichen Zurücklassung ins bewusstseinsmäßige Hier und Jetzt zu gelangen. Kurzum: Spuren sind medial vermittelte Dinge, was erklärtermaßen

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einen Vermittler und eine Vermittlung unabdingbar macht. Die Rolle des Vermittlers kann der Spurenleser einnehmen, allzumal er ein Gespür dafür besitzt bzw. entwickeln kann, um mit der Spur als Mittler sonst nicht zugängliche Tiefenrealitäten (hinter oder unter einer Oberfläche) zu erreichen (vgl. KESSLER 2012a:83). Der Prozess der Vermittlung selbst vollzieht sich dann im tätigen Vollzug des Spurenlesens, wonach es möglich erscheint, die noch unverstandene Spur in ein aussagekräftiges (Zeichen-)Medium zu transferieren. So gesehen kann der Spurenleser durch die Spur sicher auch eine Mitteilung bzw. Botschaft übermittelt bekommen. Er muss nur gewillt sein, die Sprache der Spuren (GRUBE 2007:231) zu lernen, um diese schließlich vollumfänglich erschließen und verstehen zu können. Am Ende der grammatikalischen Entschlüsselung entspricht die Spurensprache aber mehr der seinen und seiner Leseprinzipien, als die mediatisierte Spurenbotschaft selbst im Stande gewesen wäre, sich je selbst zu versprachlichen. Der Spurenleser verhält sich als Adressat von etwas, dessen unfreiwilligen Absender er allererst zu rekonstruieren hat (KRÄMER 2008b:282). Dass das Rekonstruieren einer Spur angesichts des zuvor Referierten dann aber am Ende eher dem Schaffen eines Mediums Spur gleichkommt, als das Medium sich bereits vorher schon selbst (in seiner Mitteilung) erschuf, stellt eine zentrale Einsicht dar, die dem letzten Axiom der Medialität, Heteronomie und Passivität von Spuren zu entnehmen ist. 3.4

Was also ist eine Spur und was heißt Spurenlesen?

Alles auf Anfang gestellt: Was also ist eine Spur und was heißt Spurenlesen? Bevor wir uns der finalen Schlussbeantwortung dieser Frage im Sinne eines Zwischenfazits widmen, lassen wir zunächst den Spiritus Rector eines zeitgenössischen Spurenparadigmas nochmals zu Wort kommen: Wenn alles als Spur angesehen wird, wird der Begriff der Spur selbst nichts sagend [sic!] (GINZBURG 2007:257). Um der von GINZBURG eingeforderten Trenn- bzw. Begriffsschärfe im aktuellen Diskurs um Spuren Rechnung zu tragen, soll im Folgenden das Wesen der und das Wesentliche zur Spur nochmals resümierend herausgestellt und sodann weiterführend diskutiert werden. Also noch einmal: Welche Bedingungen und Umstände müssen alle zusammenkommen, damit die wissenschaftliche Rede über Spuren ihre Legitimität erhält? Kurzum: Was macht ein Zeichen zur Spur resp. zur Nicht-Spur und was heißt Spurenlesen? Was eine Spur ist und was nicht, dass macht sich zuallererst abhängig davon, in welcher Art und Weise etwas seinen Weg von einer einstigen in eine gegenwärtige Handlungssituation gefunden hat. Spuren sind in erster Linie und zu aller Anfang unabsichtliche Hinterlassenschaften. Die Spur als ein unfreiwilliger Bote (KRÄMER 2008a:85) bezeugt oder übermittelt hiernach nicht etwas durch sich oder an sich. Die Spur steht eher für die Präsenz der Absenz von etwas, insofern sie einmal unabsichtlich in der (vornehmlich) materiellen Welt hinterlassen, einer intuitiven wie klugen Spurenlese wie auch eines findigen Spurenlesers und einer Spurenerzählung bedarf, um sie aus ihrer präsent-absenten Verborgenheit herausholen und,

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abhängig von der jeweiligen Leserichtung, interpretativ-verstehend erschließen zu können. Nimmt man nun das bisher über Spuren Gesagte einmal zusammen und trägt es gedanklich weiter, dann mag man zu dem einfachen aber einleuchtenden Ergebnis kommen, dass Spuren im Vergleich zu anderen Zeichen etwas Besonderes sind. Das Besondere an ihnen: Sie geben nicht wie Zeichen im eigentlichen Sinne etwas an sich zu verstehen, noch weniger fungieren sie nur als Platzhalter für irgendwelche Kodes, Semantiken oder Geschichten. Spuren sind genau genommen prädiskursive Zeichen (KRÄMER 1998:79), was heißt, dass sie zwar etwas zur Anzeige bringen, ohne aber, wie dies gemeinhin Zeichen tun, etwas direkt, also diskursiv zu bezeichnen (vgl. KESSLER 2012a:42). Im weit gefassten Sinne können Spuren demnach freilich als Zeichen gelten, insofern sie etwas anzuzeigen wissen.63 Da sie dabei aber im Grunde genommen nichts bzw. nichts Genaueres zeigen – außer vielleicht einer unerklärlichen Leerstelle –, sind sie im eng gefassten Sinne wiederum auch keine Zeichen. Denn entgegen der klassischen Zeichendefinition nach Charles S. PEIRCE stehen sie nicht für etwas, das für etwas steht 64 (PEIRCE 1931:228, zit. nach ECO 1977:31). Weder signalisieren oder vermitteln Spuren etwas, noch bedeuten sie etwas (anderes) – Referent und Referiertes, Repräsentant und Repräsentiertes fallen hier nicht in eins. Im Gegensatz zu herkömmlichen Zeichentypen sind Spuren nicht schon von vornherein Zeichen, d. h. semiotisch gesprochen gesetzt, noch weniger erscheinen sie arbiträr, mithin in ihrer Symbolik oder Botschaft virulent (vgl. KRÄMER 1998: 78f.). Würde dies doch sowohl die zuvor dargestellten Eigenarten als auch den Gedanken der Spur an sich alles in allem ad absurdum führen. Spuren kann allenfalls eine Zeichenhaftigkeit zu eigen werden, wie sie z. B. Indizes, Symbolen oder ikonischen Zeichen inhärent ist, die bewusst gesetzt wurden, etwas bedeuten und ebenso in enger Beziehung zu dem so Bedeuteten stehen, wenn sie am Ende einer praktizierten Spurenlese (erfolgreich) entschlüsselt wurden; dann sind sie aber folglich auch schon mehr ausgedeutetes Zeichen und weniger noch Spur an sich. 65 63

64 65

In seinem Überblick über Zeichen subsumiert ECO Spuren so auch unter die Kategorie natürlicher Zeichen (ECO 1977:67). Die Natürlichkeit der Spur als Zeichen ergibt sich hierbei aus der bereits mehrmals angesprochenen (natürlichen) Zufälligkeit bzw. Unfreiwilligkeit, aus der heraus Spuren hinterlassen werden. In Anbetracht dessen rücken Spuren als natürliche Anzeichen gleichsam in die Nähe von Symptomen, welche etwas überbringen bzw. aussenden, aber eben nicht ausdrücklich, mithin aus einem beabsichtigten Grund heraus, sondern nur aus ihrer ihr eigenen Natürlichkeit. So sprechen eben auch Symptome, sofern sie nicht vorgetäuscht werden, nicht immer eine eineindeutige (vor allem medizinisch) verstehbare Sprache. Demgegenüber und somit in Kontrast zu Spuren stellt ECO die künstlichen Zeichen, die, wie es der Name schon sagt, aus einem bewussten und intendierten Kunstgriff heraus in ihrer Zeichenhaftigkeit geschaffen wurden; hierunter zählt ECO u. a Sprachsymbole oder Embleme. Im Original: something which stands to somebody for something in some respect or capacity. Dazu passend wie beispielhaft noch einmal ECO: Ich schließe nur dann von den Spuren der Erde auf die Anwesenheit eines Tieres, wenn ich gelernt habe, eine konventionelle Beziehung zwischen diesem Zeichen und diesem Tier herzustellen. Wenn die Spur Spuren von etwas sind, was ich noch niemals vorhergesehen habe (und von dem mir niemals gesagt wurde, welche Art

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Eine genuine Spur bleibt in ihrer Wesensganzheit zumeist un- bzw. unterbestimmt (vgl. ARNOLD 2009:90; HOLTORF 2007:344f.); auch selbst dann, wenn sie durch ein zielgerichtetes Interesse lesbar gemacht wurde und durch gekonnte Entschlüsselungsarbeit zu einem indexikalischen Zeichen 66 umgeformt wurde. Wenngleich so gewiss Interferenzen wie auch Grenzverschiebungen von einem zum anderen auszumachen sind, bleibt ein Spurenparadigma von einem klassischen Zeichenparadigma indes grundlegend zu unterscheiden (GRUBE 2007:227f.). So kann sich ein Zeichenparadigma bzw. Zeichenlesen eben auf gängige Lehren und Regeln der Semiose stützen, wohingegen das Lesen von Spuren sich durch die Unbestimmtheit ihres Betrachtungsgegenstandes gleichsam zu anderen (unkonventionelleren) Herangehensweisen (bspw. intuitives Schließen) gezwungen sieht, was logischerweise dann auch eine andere paradigmatische Ausrichtung nach sich ziehen muss. Denn Spuren verweisen durch ihren prekären Zeichenstatus (RUCHARTZ 2001:558) zuerst und allein auf eine äußere Gestalt bzw. Hülle, einem Signifikanten, dessen Inhalt, ein Signifikat, aber weder einfach wiedergefunden noch mit gebräuchlichen Kodierschemata aufgedeckt, gelesen und automatisch verstanden werden kann. Im Vergleich zum idealtypischen Zeichenlesen heißt Spurenlesen, etwas als Spur zuallererst zu finden und eben auch kreativ zu erfinden, indem die Korrelation zwischen dem signifikanten Verweis der Außengestalt einer Sache (Ausdruck) und dem signifikativen Gehalt dieser Sache (Inhalt) erst durch einen Spurenleser in semantisierender Weise hergestellt werden muss (ECO 1977:169). Der (besondere) Zeichencharakter von Spuren, der gewissermaßen keiner ist, weil er sich von herkömmlichen Zeichencharakteristiken abhebt, steht nicht zuletzt auch in einem direkten Zusammenhang mit der besonderen Wesensart von Spuren. Fragt man grundsätzlich nach dem Wesen bzw. Sein von etwas, d. h. wie und woraus etwas seine Existenzweise bezieht, dann führt dies einen unweigerlich in das Feld der Ontologie67. Überträgt man die in der Philosophiegeschichte häufig gestellte Frage nach der Seins- bzw. Existenzweise speziell auf den hier relevanten Fall von Spuren, dann mag die Antwort – nach den vorhergehenden Ausführungen – aufs Erste gesehen klar auf der Hand liegen: Spuren gehören der physischmateriellen Welt der Dinge an. So lässt sich in Wissenschaft und Alltag denn auch eine eindeutige Tendenz dahingehend beobachten, Spuren zu dinglichen Erscheinungen, zu Sachen per se zu erklären (vgl. KRÄMER 2008b:279f.; VEIT et al. 2003). Das mag vermutlich daran liegen, dass unser Bild von wie auch unsere Sprache über Spuren fast vollends davon durchdrängt sind, die materielle Wirklichkeit als der der Spur wirklichen Wirklichkeit anzunehmen; gesellschaftliche Vorstellungen von Täterspuren, Spurrillen oder archäologisch ausgegrabenen Spuren tragen sicher einen

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von Spuren es hinterläßt), dann erkenne ich den Index nicht als Index, sondern interpretiere ihn als natürlichen Zufall (ECO 1972:242, zit. nach GRUBE 2007:230). Dazu weiterführend FRINGS: Indexikalische Zeichen existieren nicht als solche in der Welt, sie werden erst durch eine spezifische Fragestellung des Forschenden zur Quelle, zum Zeichen, das Auskunft über die interessierende Vergangenheit gibt (FRINGS 2012:19). Ontologie bezeichnet die Lehre vom Sein (griech. to on = das Seiende; logos = die Lehre). Zur Ideen- und Begriffsgeschichte der Ontologie siehe genauer WERLEN (1999:32f.), JOHN et al. (2013) oder auch TEGTMEIER (2000).

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nicht allzu geringen Teil zur Zementierung dieser Spurenansicht immer wieder bei (vgl. Kap. 3.1). Ungeachtet der Tatsache, dass Spuren natürlicherweise ihren Ursprung aus einem Geschehen nehmen, aus dem sie heraus als materialisiertes Artefakt übrigbleiben, lassen sie sich gleichwohl nicht nur und ausschließlich als objekthafte Dinge betrachten, sondern vielmehr noch in anderen Seinszusammenhängen ausfindig machen. So gesehen verknüpft sich die Wesenhaftigkeit von Spuren überdies eben auch mit anderen, weniger festen Aggregatzuständen oder mikroskopisch kleinen Wirklichkeitsbereichen, in denen ihnen gleichermaßen nachgespürt werden kann. Derart mag z. B. ein olfaktorischer Rückstand oder eine akustisch wahrnehmbare Spur an einem Ort (vgl. PINTO 2012; STAHL 2014), vielleicht unbewusster aber in gleicher Weise wie eine vorfindbare feste bzw. verfestigte Spur zum Spurenlesen einladen und am Ende vielleicht auch Aufschluss darüber geben, was sich vor geraumer Zeit an diesem Ort abgespielt haben muss. Wenn Spuren nach deren ontologischen Verfasstheit in den Fokus geraten, dann muss freilich der Blick über die rein chemisch-physikalischen Wesenszüge – der festen, gasförmigen, flüssigen oder auch klanglichen Beschaffenheit von Spuren – weiter hinausgreifen. Denn Spuren sind, mit Karl Raimund POPPERs (1973:174) Drei-Welten-Lehre zu sprechen, neben der physisch-materiellen Welt, innerhalb derer sie Festigung und Fortbestand erfahren, ebenso – und dann aber mehr auf den Menschen bezogen – in mentalen und sozial-kulturellen Weltzusammenhängen aufgehoben, inkorporiert und dortselbst auch potentiell auffindbar. In diesem Sinne kann die Spur auch als ein mentales bzw. psychisch gelagertes Phänomen bestimmt werden. Dies betrifft nicht nur, wie man gleich vermuten würde, die Denkakte, welche das Spurenlesen fortwährend begleiten, und welche die Spur kognitiv verinnerlichen und in den Bereich des Bewusstseins zu holen ermöglichen. Dass Spuren nicht nur sinnlich wahrgenommen und als Wahrgenommenes im Gehirn verarbeitet werden, sondern zudem ein eigenständiges biologisch-organisches Element mit einer spezifischen Funktion darstellen, zeigt der Begriff der Gedächtnis- bzw. Erinnerungsspur (auch Engramm). Wie bereits bei PLATON (1990: 193ff.) vorgedacht, gleicht unser Gedächtnis – metaphorisch gesprochen – einer formbaren Knetmasse oder wie dies späterhin FREUD (1924) ergänzen sollte, einem Wunderblock, auf dem sich dauerhaft jeweils Erlebtes einschreibt (vgl. GAWOLL 1986/87:48, 68). Diese so synaptisch gebahnten und miteinander verstrickten Dauerspuren (FREUD 1924:1) führen uns immer wieder zu den uns ins Gedächtnis eingeprägten Erfahrungsschätzen zurück, entlang derer wir unsere Erinnerung sowohl immer wieder aufs Neue heben als auch ganz neu, d. h. je nach Gegenwartssituationen und -bedürfnissen, arrangieren und konstruieren (vgl. LINZ & FEHRMANN 2005:97f.). Mental abgelegte Spuren können so u. a. die pathologische Verfasstheit unseres Gedächtnisses nicht nur terminologisch begründet beschreibbar und nachvollziehbar machen; obgleich deren exakte Lokalisierungen im Gehirn nach wie vor schwierig erscheint und immer wieder diverse Forschungskontroversen zeitigt (vgl. MARKOWITSCH 2002:103ff.). Die Gedächtnisspur (Engramm) vermag ferner aber auch Einblicke in die Prozesse (inter-)subjektiver Gedächtnisausbildungen geben, indem sie nicht nur Neurobiologen, sondern insbesondere auch Sozialpsychologen

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empirisch besehen auf die Spur bringt; in diesem Fall u. a. auf die Spur nach memorial einschneidenden Erlebnissen und deren zurückgebliebenen Erinnerungseinträgen, wie sie z. B. für den Selbstentwurf von Subjekten oder Gruppen (u. a. bei Generationen) identitätsstiftend wirken (vgl. WELZER 2010:2ff.). Dass die Spur in Bezug auf ihr Wesen mit Blick auf das zuvor Gesagte ein Brückenphänomen (HOLLENDONNER 2009:140) darstellt, was zahlreiche hybride Verbindungen unterhält, mag sich nicht zuletzt daran erkennen lassen, dass sie zwischen materiellen und immateriellen Wirklichkeitsdimensionen hin- und herwandelt und damit entsprechend Brücken zwischen ontologisch differenzierten Welten schlägt (KRÄMER 2007b:162). Außer in handfesten materialen oder flüchtig mentalen Zusammenhängen taucht die Spur vielmehr noch in sozialen Weltzusammenhängen auf, womit sie schließlich stärker in die Nähe immateriell gefasster Wirklichkeitsdimensionen rückt. Die Immaterialität von Spuren zeigt sich allen voran daran, dass kulturgeschichtlich hervorgebrachte aber unbeachtet gebliebene Relikte der Vergangenheit auch ohne ihre Vergegenständlichung als ideelle Artefakte in uns und durch uns selbst überdauern können. Damit sind all jene Phänomene angesprochen, die uns auf den ersten Blick nicht ersichtlich erscheinen, weil sie einmal inkorporiert entweder verdrängt bzw. vergessen wurden oder aber ohne Wissen um deren Weitergabe und Übernahme in unsere sozial-kulturelle Lebenswelt gelangt sind, wo sie unsere Handlungen, Gedanken und Gefühle seither (unterschwellig) rahmen und bestimmen. So können Spuren einer längst vergangenen Zeit ins Hier und Jetzt gelangen, indem sie als eingespurte Traditionslinien oder inkorporierte Geschichte 68 (BOURDIEU 1997b:43) von Generation zu Generation weitertradiert wurden (vgl. GEERTZ 1983, 1997). Da hier jedwede Kenntnis darum fehlt bzw. verloren gegangen ist, macht es gewissermaßen erst Sinn, auch in diesem Fall von Spuren zu sprechen. Im Sinne neuerer phänomenologischer Zugänge zur Spur könnte man in diesem Zusammenhang u. a. auch an solche Spuren denken, die sich in unser Alltagshandeln und in unsere Alltagserfahrungen quasi unbemerkt eingeschlichen haben.69 Neben Sprach-Spuren in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, die u. a. Spuren verbaliter zum Ausdruck bringen, wären damit vor allem Spurenerscheinungen im Hinblick auf ihre körper(sprach)lichen Äußerungen in den Fokus gerückt, wie bspw. rituelle Handlungen oder vergleichbare Formen performativen Ausdrucks (vgl. ANKELE 2009:163; BETTE 2005:16; DE JONG 2007; GINZBURG 1988b:61f.; LEHMANN 2000:232; WINKLER 2010:50). In diesem Zusammenhang wäre aber vor allen Dingen die Praxis des Spurenlesens selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt; handelt es sich doch bei ihr gewissermaßen um die Protoform aller nur denkbaren Kulturtechniken (KRÄMER et al. 2005:1). Obwohl 68

69

Nach BOURDIEU setzen sich in historischen Situationen zumeist zwei Zustände der Geschichte miteinander in Verbindung […]: die Geschichte im objektivierten Zustand, d. h. die im Laufe der Zeit in den Dingen (Maschinen, Gebäuden, Monumenten, Büchern, Theorien, Sitten, dem Recht usf.) akkumulierte Geschichte und die Geschichte im inkorporierten Zustand, die Habitus gewordene Geschichte (BOURDIEU 1997b:28; Herv. i. Orig.). Siehe hierzu u. a. die bereits angestellten Überlegungen von WALDENFELS (2009:101−105). Ferner sind hier die philosophischen Vorläufer eines Spurenparadigmas – HEIDEGGER, DERRIDA und LÉVINAS – zu sehen.

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jene Kulturtechnik grundsätzlich von Intentionalität getrieben ist, zumal wir sie zumeist bewusst zur Anwendung bringen, wird das Wie und Weswegen ihres Gebrauchs darum nicht immer gleich hinterfragt oder artikulierbar. So wurzelt das Spurenlesen selbst in einem nicht immer gewussten wie bewussten Rückgriff auf ein kultur-historisches und individual-historisches Archiv (von auch körperlichen) Erfahrungen (HOLLENDONNER 2009:143), insofern es zwar als etwas habituell und kulturell Eingeübtes abläuft, ohne aber dabei immer wieder reflexiv und diskursiv begründen zu können und zu wollen, warum dies so (und nicht anders) der Fall ist. 70 Ist nun mit der ontologischen, mithin wesenhaften Inblicknahme von Spuren alles gesagt, was man über das Wesen von Spuren wissen muss? Geht man nach KESSLER (2012a:17), dann reicht es keineswegs aus, noch ist es zielführend genug, Spuren nur ihrer Seinsweise nach, d. h. nur einseitig ontologisch fassen und betrachten zu wollen. Jener Ansicht liegt das zuvor schon häufig dargelegte Argument zugrunde, dass Spuren grundsätzlich erst aus dem Spurenlesen und durch den Spurenleser ihre Wesenszüge und damit ihre Wirklichkeit beziehen. So konstituiert sich die Spur nicht sui generis aus sich selbst heraus, d. h. sie ist nicht nur in handfesten Ontologien sicht- wie auch vorstellbar. Die Spur kommt vielmehr dann ins Spiel und in den Bereich des Wirklichen, wenn sich ein Spannungsverhältnis von Körperlichem und Semiotischem (KRÄMER 2005:157) auftut, in deren höchstem Spannungspunkt sich die Spur erst als Spur herauskristallisiert. Aber eben nur weil es Spurenleser und Spurenlesungen gibt (und nicht nur Spurenleger und Spuren), können Spuren gleichsam in greifbare Dinge verwandelt werden. So liegen Spureneinträge zwar, nachdem sie unbemerkt hinterlassen wurden, in der dem Menschen äußerlichen (meist physischen-materiellen) Welt vor. Dennoch erhält die Spur ihren ontologischen Status, wie bereits mehrmals betont, immer erst aus der Innenperspektive, aus dem Handlungsmovens des die Spur suchenden Subjekts, aus dem heraus sie je gegenwärtig geschaffen wie auch modifiziert wird. HOLTORF geht in diesem Punkt indes noch einen Schritt weiter, wenn er meint: Nicht auf die Ontologie, sondern auf die Semantik der Spuren kommt es […] an. Nicht die bloße Spurenidentifikation bringt uns weiter, sondern das Spurenlesen (HOLTORF 2007:337; Herv. i. Orig.). Eine Spur kann hiernach allein dadurch sein, indem sie gelesen wird. Spur-Sein und Spurenlesen stehen somit in einem komplementären Verhältnis

70

Vgl. KOGGE (2007:187). Mit SPITZNAGEL ließe sich an dieser Stelle noch ein anderer Aspekt anführen. So meint er, dass über die Menschheitsentwicklung hinweg eine spurenvermittelte Sprache, eine Sprache über Spuren in Form zahlreicher metaphorischer Verwendungen an Gewicht gewonnen hat (vgl. Kap. 3.1), wohingegen die Praxis des Spurenlesen selbst, vor allem in ihrer gekonnten Form als jägerische Fährtenlese, immer weniger Anwendung findet, wonach sie fast gänzlich verschwunden gegangen ist (SPITZNAGEL 2001:248). Für KESSLER scheint es aus diesem Grund geradezu angezeigt, eine Genealogie oder Sozialgeschichte des Spurenlesens (2012:209), als ein Desiderat aktueller Spurenforschung anzugehen. Damit würden sodann verschiedene sozialgeschichtlich dokumentierte Verwendungsweisen von Spuren, ergänzend bzw. weiterführend zu GINZBURGs (1988c) Entwicklungslinien alltäglichen oder wissenschaftlichen Gebrauchs von Spuren, genauer zum Vorschein kommen.

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Spuren, Spurensuche, Spurenlesen

zueinander, insofern sie zwei Seiten ein und derselben Medaille abbilden (vgl. KRÄMER 2007a:18, 2016:25). Die Spur als eine unabhängig von allem anderen auf dieser Welt existierende Wirklichkeit ist letztlich, ungeachtet anderslautender Ansichten eines Entzugsparadigmas (vgl. LÉVINAS 1987), insofern schwerlich bzw. nur ansatzweise vorstellbar – die Spur begriffen als unverstandene Lücke, irreversibles Vorübergegangensein oder unwiederbringliche Absenz. Eine Spur ist weder Zeichen, Wort, synaptische Struktur, Substanz noch Transzendenz allein, sondern eben wesentlich mehr. Spuren sind hochgradig komplexe Phänomene, welche in gleichem, wenn nicht besonderem Maße komplexer Forschungsinstrumentarien bedürfen, um sie schließlich in ihrer Komplexität ergründen zu können. Würde man sich z. B. nur auf die einseitige Suche nach der harten Bedeutung (HOLTORF 2007:340) von Spuren allein begeben, indem man die Materialität der Spur allzu stark ins Auge fasst und sie ferner noch zum Verweisungspunkt der Bedeutungssuche selbst erklärt, dann müsste dies einen – wissenschaftlich betrachtet und HOLTORF in diesem Punkt weiter folgend – unweigerlich zu einer Spurensuche ins Nichts oder schlimmer noch, auf essentialistische wie positivistische Irrwege führen (vgl. Kap. 2). Letztlich kommt es doch weniger auf die Spurenlage allein an, als vielmehr auf eine semiotische Praxis (ECO 1977:189) und damit zuvorderst, auf wissenschaftliche wie auch gesellschaftliche Praktiken, im Rahmen derer Spuren je gegenwärtig und in jeweils anderem, auch ontologischem Lichte erscheinen können. Die Wirklichkeit von Spuren lässt sich derart also nicht einfach bloß an den Dingen oder an Psychen allein ablesen. Sie wird vielmehr erst in jene Erscheinungen eingebracht, indem sie im Zuge unzähliger Spurenlektüren ihre Zuschreibung, Rückerinnerung, Erzählung und damit letztlich ihre Konstruktion erfährt. Was Spuren in Bezug darauf besagen und was nicht, so lässt sich hier abschließend schlussfolgern, ist also weniger spurenimmanent, d. h. der Spur schon mitgegeben bzw. ontologisch fix. Genauso wenig schwirrt eine Spur, in der negativen Ontologie (KRÄMER 2007b: 167) eines Entzugsparadigmas gesprochen, nur im Transzendentalen, im Orbit herum, wartend darauf, Jemandem als Widerfahrnis zu begegnen. Die Spur ist vielmehr abhängig davon, wie und aus welcher spezifischen Kontextsituation heraus sie und ihre Bedeutungsgehalte in explorativ-intuitiver Art und Weise vom Spurenleser – wissenschaftlich oder alltagsweltlich – erfahren oder erschlossen werden. Denn nochmals: Die Spur ist ein durch und durch unwillkürlich hervorgegangenes Phänomen, dessen sinnliche und sinngebende Gewahrwerdung erst in dem Moment stattfindet, an dem sich ein motiviertes Wesen (Spurenleser) daranmacht, sie zu entdecken und zu erlesen. In Zeiten postmodern formulierter Selbstreferenzialität gerät die Spur so besehen schlussendlich mehr zu der Spur eines Spurenlesers, insofern sich seine von persönlichen Interessen und Fragen gespeiste Sicht der Dinge im betrachteten Ding selbst widerspiegelt, aber eben nicht umgekehrt. Die zentrale hieraus hervorgehende Schlussfolgerung für die Beschäftigung mit Spuren, wie sie nachfolgend noch genauer zu forcieren sein wird: Eine auf Spur ausgerichtete Forschungsarbeit sollte sich mehr auf die Praxis des Spurenlesens konzentrieren, als auf die Ontologie der Spur allein.

4

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

Mit jenem zuvor dargestellten Einsichten zu den wissenschaftstheoretischen und axiomatischen Besonderheiten der Spur und der Spurenlese wird es nun darum gehen, jenen Blick für die Potentialitäten der Spurenthematik, wie sie zuvor benannt und ausgebreitet wurden, für einen anderen Sachzusammenhang frei zu bekommen. Damit soll nunmehr das theoretische Grundfundament der eigenen, sich mehr an geographischen wie historischen Erkenntnisfragen ausrichtenden Spurenkonzeption in Angriff genommen sowie sukzessive aufgebaut werden.

4.1

Geographiegeschichtliche Wegleitungen zum Spurenlesen

Der geneigte Geographie-Leser mag bei der vorangegangenen Darstellung sicher ins Grübeln gekommen sein, inwieweit das, was durch GINZBURG als Indizienparadigma gefunden, benannt und zum Ausgangspunkt weitergehender Spurenbeschäftigungen wurde, denn nicht vieles von dem abbildet, was für die wissenschaftliche Geographie über lange Strecken ihrer Paradigmengeschichte mehr oder minder gang und gäbe war, weil es von Geographen nicht anders als selbstverständlich und unumstößlich erachtet wurde. Umso überraschender erscheint es wohl, dass sich in Anthologien und Bibliographien zur Thematik Spur so gut wie keine geographischen Referenzen finden lassen (vgl. ATTIA et al. 2016; FEHRMANN et al. 2005b; GINZBURG 1988c; KESSLER 2012a:219−235; KRÄMER et al. 2007:353−358; KRÄMER 2008b; MITTERBAUER et al. 2009; SCHÄRER 2006a, 2007; VEIT et al. 2003). Dass die Geographie in der wissenschaftlichen Diskussion um Spuren bisher eine derartig randständige Position einnimmt, mag HARD zufolge angesichts der eigenen Disziplingeschichte nicht weiter verwundern, insofern sie eine einfache wie logische Konsequenz dessen ist, wie mit den eigenen Forschungsgegenständen über lange Zeit verfahren wurde. HARD, der wie kaum ein anderer Geograph zeitlebens Spuren inspiziert hat, sieht mit jener Randständigkeit genau genommen eine fachgenuine Paradoxie zutage treten, die das Verhältnis zwischen Geographie und Spur bis heute im Wesentlichen kennzeichnet: Obwohl die Geographie schon immer im Kern als hermeneutisches Spurenlesen (HARD 1989:10) betrieben wurde, war und ist sie jedoch lange einer Spurenblindheit (HARD 1995:10) anheimge-

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Geographie, Geschichte und Spurenlesen

fallen, insofern sie die Kategorie Spur nie umfassend in den Mittelpunkt geographischen Theoretisierens gerückt hat. Derart kann die Spur nebst Spurenlese zwar als eine Konstante in der Geschichte der modernen Geographie (HARD 1991:127) identifiziert werden; diente sie ihr doch lange als klassische Selbstbeschreibungs- und Legitimationsformel (vgl. HARD 1990a:15). Freilich sollte dies aber nicht darüber hinwegtäuschen, so HARD, dass es das Lesen geographisch relevanter Spuren nie über die reine praktische Anwendung hinaus zu grundlegenden theoretischen Überlegungen – wie, weshalb und wozu man überhaupt Spuren geographisch lesen sollte – geschafft hat; was dann vielleicht auch die zu Anfang geschilderte Unattraktivität der Geographie für andere Spurenwissenschaften in Ansätzen zu erklären vermag. Mit speziellem Verweis auf die geographische Landschaftsforschung und die Historische Geographie, als den geographischen Spurenparadigmen, machte HARD schließlich deutlich, dass es Geographen gewiss immer schon um Spuren ging: neben natürlichen Spuren vor allem um menschliche Spurenhinterlassungen in Kulturlandschaften wie z. B. historische Orts- und Flurgemarkungen oder Wüstungsformen, welche dann und wann auch in anderen geographischen Begriffsgewändern als Sediment, Palimpsest, Seismograph oder landschaftlicher Indikator ihre Übersetzung fanden (HARD 1995:47). Bei all der geographischen Euphorie um das (wie auch immer bezeichnete) Spurenlesen ging Geographen dabei jedoch eines im Wesentlichen ab, und zwar eine grundlegende Reflexion darüber, welchen Basisprämissen, theoretischen Wegleitungen und methodologischen Grundsätzen eine solche Spurenlese zu folgen hat. 71 Dieses Defizit der eigenen Fachdiskussion zum Ausgang nehmend, hat sich HARD in den 1980er/ 1990er-Jahren in mehreren Arbeiten theoretisch, methodologisch, didaktisch wie auch ganz praktisch von Neuem an die Fruchtbarmachung der Spur für geographische Zwecke gemacht (vgl. HARD 1988a/b, 1989, 1990a/b, 1991, 1993a, 1995, 1996). Eine geographische Semiotik (HARD 1991:129) vor Augen, ging es ihm dabei allen voran darum, eine zeichen- bzw. spurensensible Geographie auf den Weg zu bringen, wie sie von ihm zuvor bereits durch eine Arbeit über Die Landschaft der Sprache und die Landschaft der Geographen (HARD 1970) angestoßen wurde, wie sie aber desgleichen von ISENBERG (1985, 1987) oder STRASSEL (1975) oder im anglophonen Bereich durch die Arbeiten von COSGROVE (1998), COSGROVE &

71

Sicher wurden mit kulturgenetischen und geomorphologischen Perspektivierungen von Spuren in Landschaften, wie durch die (historische) Landschaftsgeographie vorgemacht, methodische Verfahrensweisen entwickelt und etabliert, die das Spurenlesen zu einer forschungsleitenden Untersuchungstechnik machten (vgl. SCHENK 2011:32−66). Wie bereits erwähnt, fehlte es dabei aber an grundsätzlichen metatheoretischen wie methodologischen Reflexionen darüber, wie man logisch-begründet dazu gelangt, u. a. kulturlandschaftliche Morphogenesen anhand von Spuren sicht- und erklärbar zu machen (vgl. HARD 1989:7). Vor allem blieb aber eine grundsätzliche Diskussion darüber aus, welche Grenzen und Probleme das eigene forschende Tun in sich birgt, wie die unreflektierte Reproduktion von Raumfallen, insbesondere essentialistischen Fehlschlüssen (vgl. LOSSAU & LIPPUNER 2004:203, 206), rückblickend und aus Sicht neuerer Disziplinentwicklungen gesprochen – siehe Neue Kulturgeographie (vgl. GEBHARDT et al. 2003; LOSSAU 2008) – nur zu deutlich haben werden lassen.

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

81

DANIELS (1988) oder auch DUNCAN (1990) in gleicher Weise auf den Weg gebracht wurde. Diesen Weg einmal eingeschlagen, machte HARD sich selbst innerhalb der eigenen scientific community in der Folge immer wieder für die Forcierung des semiotischen Blicks (HARD 1991:131) stark; verbunden mit dem Versprechen darauf, einen tiefgründigeren und weniger problembeladenen Zugang zur geographischen Welt zu erlangen, und das aufs Neue – aber eben ganz anders – anhand und vermittels ingeniöser Umdeutungen von Spuren (HARD 2003:11). Unter Bezugnahme auf die klassische Semiotik (ECO, DE SAUSSURE) wie auch einer semiotisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft (GINZBURG, D'HAENENS) verwies HARD dabei von Anfang an auf einen Punkt überaus deutlich. Bevor es zum Gemeingut einer transdisziplinären Spurenforschung werden konnte, vertrat er die für das Geographenohr jener Zeit noch eher ungewohnt wie irritierend klingende Ansicht, dass es keine geographisch vorfindbare Spur gäbe, sei sie noch so ansprechend bzw. augenscheinlich, die nur durch sich selbst und von vornherein ist, wenngleich es wiederum viele Erscheinungen gibt, die als Spur gesucht, gefunden und auch gelesen werden können (HARD 1989:7; HARD & KRUCKEMEYER 1991:118). Fast im Tenor aktueller Spurendiskussionen gesprochen, kam er sodann auch zu der naheliegenden Einschätzung, dass es sich bei Spuren keineswegs um herkömmliche Zeichen, sondern um ganz spezielle Arten von Zeichen, mithin um Zeichen besonderer Art handele (HARD 1993:72). Nicht zuletzt deswegen bedürfen Spuren – anders als herkömmliche Zeichen – seiner Ansicht nach auch einer besonderen Forschungslogik wie auch speziellen wissenschaftlichen Handhabung. Denn weder indizieren Spuren im eigentlichen Sinne etwas noch können sie ohne Weiteres indiziert werden, zumal sie weder geographisch relevante Informationen einfach übermitteln, noch erklären sie sich Geographen von allein oder geben ihnen etwas an sich zu verstehen. Vor diesem Hintergrund muss dann auch die HARDsche Kritik in Richtung traditioneller Geographien, worunter er insbesondere die zuvor erwähnten Paradigmen der Landschaftsgeographie und der Historischen Geographie zählt, gesehen werden. Jenen wirft er mit aller Vehemenz vor, allzu lange und gutgläubig dem Schein von Spuren in Landschaften und Räumen nachgegangen und sodann aufgesessen zu sein. Mit teils süffisantem Ton prozessiert er dabei gegen jenen Typ geographischen Spurenleser, der sich in der Geschichte der Geographie als Landschafts-, Raum- und Ortsleser einen Namen gemacht hat. Auf der Anklagebank sitzen neben dem geographiegeschichtlich bedeutsamen Marco Polo ferner ebenso Anhänger der zuvor genannten Geographieparadigmen (vgl. HARD 1991:142ff.). Als oberstem Anklagepunkt hält HARD ihnen allen ihre altgeographische Naivität (HARD 1995:163) vor, deren Quelle er in dem positivistischen Urglauben begründet sieht, dass einmal natürlich oder kulturell hinterlassene Spuren in der Landschaft oder im Raum oberflächlich vorfindbar, erdräumlich lokalisierbar und damit erklärbar scheinen, wonach ein Geograph nur noch darangehen müsse, diese systematisch zu erfassen, auszulesen und zu kategorisieren. Mit seinem rundum die Spur entstandenen Œuvre wollte HARD von diesen antiquierten, sich aber in der Geographie hartnäckig haltenden Sichtweisen loskommen, indem er eine stärker theoretische, kritisch-distanzierte und wissenschaftlich-

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Geographie, Geschichte und Spurenlesen

reflektierte Sicht auf geographisch relevante Spurenphänomene zu entwickeln versuchte. HARD verband mit der geographischen Reformulierung der Spur letztlich die grundlegende Absicht, die Selbstverständlichkeiten, Altlasten und eingeübten Denkmuster traditioneller Geographien zugunsten neuerer und aufgeklärterer Perspektiven auf Spuren zu überwinden. Gemäß dieser kritischen Grundhaltung hat HARD bestehende Spurenfelder nicht nur aufs Neue sondiert, sondern auch die Technik des Spurenlesens auf eine konkrete Forschungsprogrammatik hin gesichtet, ausgelotet und konzeptionell ausformuliert. Im Rahmen dessen war er – entgegen seinem geographischem Tausendsassatum – speziell an der Fruchtbarmachung der Spur und des Spurenlesens für einen kleineren Zweig der Geographie interessiert, der Vegetationsgeographie. Der Anspruch HARDs blieb dabei jedoch stets ein breiterer, sowohl im Hinblick auf die Geographie als universales Ganzes als auch im Sinne einer ganzheitlichen Theorie der Geographie (vgl. HARD 1995). Bei all der Theorie- und Konzeptionalisierungsarbeit hat HARD nicht versäumt, immer wieder auch Rückbezüge zur forschungspraktischen Arbeit im Feld zu suchen. Insofern versuchte er die allzu lange Zeit theoriefernen Spurenlesungen seiner geographischen Vorgänger und Weggenossen gegen den Strich zu bürsten (HARD 1990a:8), indem er ihnen eine theoretisch unterfütterte Spurenlektüre entgegenstellte. So ist er auf Grundlage seiner konzeptionellen Überlegungen z. B. Spureneinträgen in Rasenflächen, Sträuchern, Hecken oder auch Bäumen nachgegangen, um mithilfe eines semantischen Erlesens von Pflanzenphysiognomien unterschiedlichste Nutzungsweisen natürlicher Umwelten – insbesondere in städtischen Kontexten – spurengeleitet einsehbar zu machen (vgl. HARD 1990b, 1995:93ff.). Mit seiner Theorie der Spur und des Spurenlesens (HARD 1995), seinem alle Gedanken umkreisenden Projekt, verband sich, entgegen dem Titelversprechen, demzufolge kein reines Theorieprogramm, als es ihm stets und vor allem auch um den praktischen Nutzen seiner theoretischen Gedankengänge ging. 72 Dass es dabei ebenso wenig nur ein physiogeographisch motiviertes Forschungsinteresse war, was ihn dabei antrieb und leitete, sondern eine wesentlich breitere theoretische Informiertheit wie vor allem auch geographische Neugier, hat HARD an unzähligen Stellen seiner nicht weniger unzähligen Ausführungen zur Spur deutlich gemacht. Denn, so HARD selbst konstatierend: Wer die Vegetation als Spur propagiert, denunziert damit keine andere der zahllosen Möglichkeiten, auf die eine spurenlesende Phantasie verfallen kann (HARD 1990a:31). So hat er über sein vegetationsbzw. naturkundliches Erkenntnisinteresse hinaus immer wieder auch aufgezeigt, worin ferner ein sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschungsnutzen in Bezug auf Spuren liegen könnte. Folglich wollte er das Programm des Spurenlesens – als 72

So wurde HARDs Interesse an der Spur dann auch aus eher praxisbezogenen Beweggründen heraus geweckt. Inspiration erfuhr er dabei vor allem durch die Kasseler Schule der Vegetationskunde und Freiraumplanung, zu der er sich selbst zugehörig fühlte (vgl. HARD 1990b, 1998). Diese Schule verschrieb und verschreibt sich namentlich der gestalterischen Landschafts- und Freiraumplanung in ihrer aktiven und praktischen Anwendung. Einem praktischen Eingreifen in Planungs- und Gestaltungsprozesse, zu der sich HARD – allen voran im Hinblick auf stadtökologische Fragestellungen und zahlreich von ihm identifizierte Fehlplanungen – immer wieder auch selbst ermuntert sah (vgl. HARD 1995a:10, 32).

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zu bearbeitendes Desiderat – insbesondere noch mehr auf sozial- und kulturgeographische Forschungsbereiche hin auskonzeptionalisiert wie auch empirisch umgesetzt sehen (vgl. HARD 1989:4f., 1991:154f., 1995:55ff., 114f.). Im Zuge dessen hat er vereinzelt immer wieder zu einem Fremdgehen aufgerufen, d. h. zu einem Aus-dem-Felde-Gehen, einem Verlassen des eigenen Beobachtungs- und Forschungsstandpunktes, um durch einen Perspektiv-, Paradigmen- oder Methodenwechsel Spuren mehr noch in anderen Kontexten und in ihrer ihr eigenen Vielgestaltigkeit erforschen zu können (HARD 1995:66). In diesem Punkt übte er sich selbst noch daran, die Spur und das Spurenlesen auf wahrnehmungsgeographische, aber im Speziellen auch auf geographiedidaktische Zusammenhänge hin zu übertragen und anzuwenden; was dann u. a. auch eine Erklärung dafür liefern mag, warum seinem Aufruf zum Fremdgehen bis heute vor allem Fachdidaktiker gefolgt sind, welche das HARDsche Erbe in andere Anwendungszusammenhänge und Arbeitsfelder gebracht und dort auch weiterentwickelt haben. 73 Mit dem Verweis darauf, dass Spuren und ihr zugewandter Erkenntnisprozesse immer auch in verschiedene andere geographische Fach- und Gegenstandsbereiche überführbar sind, hat HARD schließlich eine – von ihm allerdings nicht stets bewusst gemachte – Verbindung zu einem Geographen aufgenommen, der Jahrzehnte zuvor auf eben jenen anderen Feldern das Spurenlesen bereits gezielt in die geographische Forschungspraxis integrierte. Wolfgang HARTKE, einer der Mitbegründer der deutschsprachigen Sozialgeographie (vgl. WERLEN 1997:314), hat schon in den 1950er-/1960er-Jahren im Rahmen seines Indikatorenansatzes aufgezeigt, worin das Potential des Spurenlesens für eine vorrangig sozialgeographische Forschung liegen könnte. Hiernach war es ihm ein besonderes Anliegen, die mit seinem Zutun in Deutschland emporkommende Sozialgeographie im Einklang mit dem landschaftsgeographischen Geist jener Zeit in Teilen zu einer spurenlesenden Disziplin umzufunktionieren. Weniger dem Zeitgeist entsprechend war hingegen das spezielle Ansinnen HARTKEs, was sich hiermit verband. Wollte er doch, anders als andere zeitgenössische Geographen, entlang von Landschaften und ihr eingeschriebener Landschaftsspuren nicht einfach nur zu etwaigen Landschaftsbeschreibung oder -klassifizierungen gelangen. Mit seinem Programm verknüpfte sich vielmehr der theoretische wie auch analytische Anspruch, einerseits Räume gleichen sozialgeographischen Verhaltens (HARTKE 1959) näher zu bestimmen, in denen die Handlungen der Glieder der 73

Einen guten Überblick hierzu gibt KANWISCHER (2014). Die Verfremdung des HARDschen Spurenlesens fand so vor allem in exkursionsdidaktischen oder unterrichtspraktischen Fragestellungen und Arbeiten seinen größten Widerhall (vgl. BÖHM 2009; DENINGER 1999; DICKEL 2006; DICKEL & SCHNEIDER 2013; KRUCKEMEYER 1993). Neben der didaktischen Weiterführung erfuhr HARDs Ansatz darüber hinaus, und das in Einklang mit GINZBURG, in der geographischen Kriminalforschung seine Fortführung. Neuerdings mit dem Attribut kritisch versehen, versucht die Kriminalgeographie – als kleinerer Zweig der Humangeographie – dem Verhältnis von Kriminalität, (Un-)Sicherheit und Raum auf die Spur zu kommen; dies u. a. anhand des Broken-Windows-Ansatzes, der unbeabsichtigte Spuren (wie zerbrochene Fensterscheiben o. ä.) als (stadt-)geographische Anzeiger von Kriminalität in Betracht zieht (vgl. GLASZE et al. 2005; ROLFES 2015).

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betreffenden Sozialgruppe Spuren hinterlassen [haben], die die Einheitlichkeit der Aktionen und Reaktionen der betreffenden menschlichen Gruppen widerspiegeln (HARTKE 1959:427). Andererseits wollte er mit seinem Forschungsprogramm das seinerzeit gehäuft auftretende Phänomen brachliegender Areale und Nutzflächen, von ihm als Sozialbrachen benannt, auf dem Fundament einer zunehmend sozialwissenschaftlich orientierteren Geographie genauer zu ergründen helfen (vgl. HARTKE 1956). Die Landschaft bzw. Kulturlandschaft diente ihm dabei durchweg als eine Art photographische Platte (HARTKE 1959:428), auf der er nachzuvollziehen versuchte, wie sich Menschen durch unterschiedlichste Aktivitäten, insbesondere durch Formen der Arbeit, kontinuierlich in die sie umgebende Umwelt einbrachten. Als ein spezifisches Resultat dessen vermögen Spuren letztlich insoweit Auskunft darüber zu geben, wann und wo welches sozialgruppenspezifische Verhalten zum prägenden Instrument der kulturellen Gestaltung und Umgestaltung von Landschaftszügen wurde. In dieser Sichtweise erschienen Kulturlandschaften als Teilniederschlag der geglückten und mißglückten Spekulationen von Menschen auf der Erde (HARTKE 1956:268), deren Nebenprodukte – Spuren – in Form von eben z. B. Sozialbrachen ungewollt zurückblieben. Eine sozialgeographische Spurenarbeit sollte es nun ermöglichen, zu ergründen, warum und wie es zu jenen Phänomenen kommen konnte und inwiefern sich soziale Gruppen in der Bewertung gleicher oder ähnlicher naturräumlicher Gegebenheiten (Geofaktoren) unterschieden (vgl. WERLEN 2007:38). Das physiologische Bild einer Landschaft kam für HARTKE insofern nur als das Ergebnis menschlicher Wertung (HARTKE 1959:426) in Betracht. Wie im Falle der Sozialbrache von HARTKE eingehender dargelegt, kann ein Landschaftsbild so besehen als das Ergebnis eines sozialen Umschichtungsprozesses (HARTKE 1956:259) wie auch als ein Indiz für den sozialen Umbau (HARTKE 1959:436) innerhalb sich verändernder Gesellschaften im Allgemeinen wie auch sich differenzierender Gesellschaftsstrukturen im Speziellen gelesen und interpretiert werden. Hiernach wird die die Brachlandschaft anzeigende Spur zu einem zeitgeschichtlichen Zeugnis dafür, bis zu welchem Grad der soziale Differenzierungsprozess, wie er im Zuge der Moderne zu einem Umbau von einer agrarisch geprägten zu einer industriell organisierten Gesellschaft geführt hat, vorangeschritten ist, und unter welchen sozialräumlichen Vorzeichen und Folgekonsequenzen dies letztlich vonstattenging (vgl. HARTKE 1956:268).74 Was dann als Brachlandschaft ins geographische Auge fällt, lässt sich nicht weniger nur naturbedingt, d. h. von der Oberfläche her oder von der Beschaffenheit der Böden oder von anderen natürlichen Einflussfaktoren allein erklären. Die Brache als Landschaftsspur ist durch die sozialgeographische Brille HARTKEs betrachtet vielmehr als ein physischer Ausdruck einer viel tieferliegenden sozialstrukturellen Entwicklung zu verstehen, wie sie in einem Europa der Nachkriegszeit allen 74

Siehe hierzu fallbeispielhaft die Studie zum Strukturwandel im Spessart (HARTKE [1957] 1969), in welcher HARTKE eine treffende Aussage zum oben geschilderten Phänomen der Sozialbrachen am konkreten Fall tätigt: Es sind die Acker- und Grünlandflächen, wo negative Veränderungen eintreten, die die sozialen Strukturveränderungen im Gefüge der Gesellschaft spiegeln, unter deren Verfügung diese Flächen stehen (HARTKE [1957]1969:314).

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voran durch grundlegende Transformationen der Arbeits- und Wirtschaftswelt Einzug hielt und letztlich zu vielerlei sozio-ökonomischen Brüchen führte, welche sich wiederum, und das ganz eindrücklich, im Landschaftsbild niederschlugen (vgl. WERLEN 2008:142, 2010e:115). Anders, als dass dies für klassische Landschaftsgeographen der Fall war, galt HARTKE die Spur infolgedessen mehr als ein Indikator. Ein Indikator für soziale Prozesse, Entwicklungen und Zäsuren, und damit als ein stummer, weil vergegenständlichter Ausdruck eines bestimmten Geographie-Machens (HARTKE 1962:115). Nicht nur durch letzteren Topos, den er erstmals zum Ausdruck brachte, sondern auch durch sein gesamtes Werk, hat HARTKE, wie dies WERLEN rückblickend honorierend anmerkt, zu einer Wende im geographischen Denken geführt, indem er einen neuen Tatsachenblick in die innerfachliche Diskussion einführte (WERLEN 2010e:103). Das grundlegend Neue an seinem Denken: Er ging nicht allein vom geographischen Gegenstand, der Landschaft, aus, sondern mehr von den menschlichen Aktivitäten, die den geographischen Betrachtungsgegenstand Landschaft im Laufe der Zeit prägten und für ihre Bedürfnisse gestalteten, mithin machten. HARTKE ebnete solcherart bereits in den 1950er-Jahren den Weg zu einer Anthropo- und Tätigkeitszentrierung, wie sie in der deutschsprachigen Geographie erst in den 1980er-Jahren durch eine handlungs- und praxiszentrierte Sozialgeographie ihre bis heute fundierteste Gestalt annehmen sollte (vgl. WEICHHART 2008:38; WERLEN 1997:317). Ungeachtet dessen blieben seine auf die Spur bezogenen Gedanken, mehr als dies HARTKE wahrscheinlich selbst lieb war, noch in vielen Punkten und trotz des bewussten Absetzens hiervon, den paradigmatischen Problemen der Geographie seiner Zeit verhaftet (vgl. WERLEN 2007:41ff., 2010e:109, 118). So blieb das innovative Potential seines sozialgeographischen Spurenlesens im Großen und Ganzen – das sollte besonders seine spätere Rezeption noch zeigen – »verschüttet (WERLEN 2007:33, 2010e:120), insofern es ihm nicht konsequent genug gelang, sich von der konventionellen Landschaftsbetrachtung und der Raum- und Dingzentriertheit traditioneller Geographien vollends loszusagen. Hat er doch ganz ähnlich zu seinen Weggefährten (u. a. Hans Bobek) den Sinn und Zweck menschlichen Handelns noch zu sehr im materiellen Substrat, in dem Fall dem Substrat Spur gesucht und damit unfreiwillig eine raummorphologisch geleiteten Sicht der Dinge weitergeführt, als er den Fokus auf die landschaftsprägenden Menschen und ihre Verhaltensweisen richten konnte, dem sein Augenmerk denn eigentlich galt (vgl. WERLEN 1997:232). In dieser Hinsicht hat er das Soziale (das gruppenspezifische Verhalten) noch immer vom Naturräumlichen (den landschaftlichen Spureneinträgen) aus zu erschließen und zu begrenzen versucht, als andersherum, womit seinem Ansatz schließlich immer noch ein zu großer Ballast an reduktionistischen und materialistischen Anschauungen auflastete (vgl. WERLEN 1997:322). Zudem zielten seine Untersuchungen mehrheitlich auf die Aufdeckung räumlicher Gesetzmäßigkeiten und Verteilungsmuster ab (Räume gleichen Verhaltens), was sie unter der Hand mehr zu einer geographischen Raumforschung machte und weniger, wie es ihm selbst vorschwebte und Sozialgeographen sie späterhin betreiben sollten, einer geographischen Gesellschaftsforschung (vgl. WERLEN 2010e:118ff., 2008:130ff., 2013a:14). Ungeachtet der Probleme, die dem Spurenlesen HARTKEs alles in allem noch anhingen, hat er den konventionellen Geo-

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graphien seiner Zeitgenossen eine andere, weitaus zeitgemäßere Form des wissenschaftlichen Geographie-Machens zur Seite gestellt. In dieser Hinsicht formulierte und beförderte er disziplinkritische Innenansichten der Geographie bereits Mitte des 20. Jahrhunderts, noch lange bevor Kiel 1969 (vgl. WERLEN 2014) und seine Erben die Geographie grundlegend verändern bzw. erneuern sollten. 75 Jene kritische Selbstbespiegelung war, wenngleich in gesteigertem Maße, auch die Art und Weise, wie Gerhard HARD während seiner akademischen Schaffensphase Geographie wissenschaftlich betrieben wissen wollte. So hat auch er, wenngleich expliziter als dies HARTKE tat, den Fachkollegen seiner Zeit immer wieder den Spiegel vorgehalten, um in der Rückspiegelung zeitaktueller Ansichten die Grundsätze des eigenen forschenden Tuns besser verstehen und reflektieren zu können. In diesem Verständnis von Geographie hat er sich nicht zuletzt auch dem Thema der Spur und des Spurenlesens angenommen, indem er es nicht nur auf eine metatheoretische Betrachtungsebene hob, sondern auch der eigenen Zunft neuerlich zum Gespräch anbot. Er eröffnete jedoch nicht nur der eigenen Zunft die Möglichkeit, über das eigene Spurenlesen (und dessen Problemlagen) ins Gespräch zu kommen. Ferner eröffnete er die erkenntnistheoretische Tür zu einem sich derzeit entwickelnden Spurendiskurs, ohne die eine wissenschaftliche Geographie bis heute vielleicht ohne Zugang geblieben wäre. Hat er doch aufgezeigt, wo überall anders, d. h. über die Vegetation hinaus, es noch Sinn macht und lohnt Spuren zu lesen. Obwohl er der Spur breitere Aufmerksamkeit schenkte und sie damit wissenschaftlich breiter in Wert setzte als HARTKE, hat sich seine eigene Arbeit ebenso, aber im Unterschied zu seinem Vorgänger, ganz bewusst der Spur als natürlichem Phänomen angenommen. Infolgedessen blieb auch HARD, allerdings auf einem breiteren Theoriefundament gründend, eher bei einer natur- bzw. pflanzenkundlichen Thematisierung der Spur stehen. Galt sein vornehmliches Interesse doch den Spuren in der Vegetation und pflanzensoziologischer Betrachtungen, als es eine rein sozial- oder kulturwissenschaftliche Inblicknahme von Spuren auf seine Agenda schaffte. Nicht die Sozialwelt, sondern die Pflanzenwelt wurde auch hier zum Aufhänger der geographischen Auseinandersetzung mit Spuren. So trägt dann auch selbst die HARDsche Spurenlese die Züge jener Spurenlese von HARTKE in sich, welche von Geländebefunden auf soziale Befunde schließen wollte. Dieser Vorwurf an 75

Mit der Orts- und Zeitangabe Kiel 1969 ist wohl eines der einschneidensten Ereignisse in der Paradigmengeschichte der deutschsprachigen Geographie benannt. Es steht aus der Retrospektive betrachtet für einen grundlegenden Umschwung bzw. sinnbildlichen Bewusstseinswandel im geographischen Denken und Forschen, wie er zum Kieler Geographentag 1969 im Wesentlichen seinen Anstoß fand. Allen voran von einer westdeutschen (kritischen) Studierendenschaft eingefordert (u. a. von Gerhard HARD oder Hans-Dietrich SCHULTZ), ging es insbesondere darum, von den wenig fruchtbaren landschafts- und länderkundlichen Forschungsorientierungen der Jahre zuvor wegzukommen, um eine mehr wissenschaftstheoretisch begründete, methodisch-reflexive und zugleich auch gesellschaftsrelevante wie zukunftsfähige Fachausrichtung anzuvisieren. Ein zentrales Ergebnis dessen war zunächst eine sogenannte quantitative Revolution, welche eine raumwissenschaftliche Geographie und einen damit korrespondierenden spatial approach auf den Weg brachte. Späterhin, d. h. in den 1980er-Jahren, sollte Kiel 1969 aber schließlich auch seinen Beitrag zu einer steten Versozialwissenschaftlichung der deutschsprachigen Geographie leisten (vgl. EISEL 1979).

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die Adresse HARDs wiegt allerdings nicht so schwer, da er sich über die eigenen Semiose-Gewohnheiten (HARD 1991:144) wie auch die seiner Fachkollegen beim Lesen und Erlesen von Spuren in der Natur fortwährend und vor allem selbstreflexiv bewusst war. Liest man nun die beiden geographischen Spurenprogramme in einer paradigmengeschichtlichen Genealogie einmal zusammen, dann trägt die sie verbindende Geschichte selbst schon gewisse schicksalshafte Züge. Der eine wollte das Spurenlesen auf sozialgeographische Füße stellen, konnte aber (noch) nicht. Der andere konnte, wollte aber (noch) nicht. So vermochte auf der einen Seite HARTKE das Spurenlesen seiner landschaftsgeographischen Fesseln noch nicht vollumfänglich zu entreißen, weil ihm dazu bedauerlicherweise noch eine theoretische Grundlegung fehlte, um es in jeder Beziehung sozialgeographisch angehen zu können (vgl. WERLEN 2007:44f., 2010e:119). HARD auf der anderen Seite hätte eine stärkere Fundamentierung der Spur und des Spurenlesens in sozialgeographischer Hinsicht gewiss leisten können. Da sein Forschungsinteresse in Bezug auf Spuren jedoch weniger einer Sozialgeographie als vielmehr einer Vegetationsgeographie galt, blieb auch in diesem Fall jene Position unbesetzt. Nimmt man die fachdidaktischen Fortführungen des Spurenlesens einmal aus, dann hat diese so zutage tretende Forschungslücke bis heute Bestand. Oder bildlicher ausgedrückt: Die Spuren HARTKEs und HARDs haben sich nach ihnen weitestgehend im Sande verlaufen, weil sie in der eigenen Zunft im Großen und Ganzen unbeachtet und ungenutzt blieben. Mit den nachfolgenden Überlegungen zu einem Programm geohistorischen Spurenlesens wird der Versuch unternommen, an die Spur bzw. Leerstelle, welche HARTKE unbewusst zurückließ und die HARD bewusst offenließ, anzuschließen. Damit soll nicht nur der Weg, den HARTKE und HARD auf ihre Weise vorzeichneten, fachwissenschaftlich weitergegangen werden. Mit dem geohistorischen Spurenlesen soll nun mehr auch das zu Anfang des Buches formulierte Ziel, ein konzeptionelles Angebot zu formulieren, dass Geographie und Geschichte nach dem sich Auseinanderdividieren wieder ein Stück näher zueinander bringt, stärker ins Auge gefasst werden.

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4.2

Geohistorisches Spurenlesen – konzeptioneller Rahmen »Ein Gutteil unserer alltäglichen Wissenspraktiken zehrt vom Identifizieren, Deuten und Berücksichtigen von Spuren.« (KRÄMER 2007b:156)

Spurenarbeit jedweder Couleur haftet immer etwas Alltägliches wie auch Triviales an. Das liegt im Wesentlichen daran, weil wir es nicht ausschließlich – dies mag vor allem für philosophische Spurenbesprechungen gelten – als Glasperlenspiel intellektueller Kombinatorik (KRÄMER 2007b:163) angehen, sondern gleichwohl immer auch als etwas Unhinterfragtes und daher zumeist auch als etwas Unwissentliches und Ungewusstes (vgl. Kap. 3.1). In diesem Sinne geht die Spur und das Aufund Erlesen von Spuren unter Rückbezug auf alles bisher Gesagte grundsätzlich und zunächst in einer Art Alltagshermeneutik bzw. Alltagspraxis auf, die, zumal wir es eben nicht immer nur kundig tun, stets auch durch eine gewisse Unbedarftheit und Laienhaftigkeit gekennzeichnet ist (HARD 1990a:23; ISENBERG 1987; KESSLER 2012a:91f.). Möchte man indes hinter die Fassade dieser hermeneutischen Alltags- und Laienpraxis und deren Betrachtungsgegenstände schauen, dann muss man dazu übergehen, das vermeintlich Triviale zu enttrivialisieren (HARD 1991: 133). Zur Enttrivialisierung von Spuren und Spurenlesen haben nicht nur HARTKE und HARD wichtige Vorarbeiten und Hinweise geliefert. Eine hilfreiche wie fruchtbare Fährte für wissenschaftskritische Auseinandersetzungen mit Spuren hat in gleicher Weise ein bis heute in zunehmendem Maße transdisziplinär agierendes Spurenparadigma gelegt (vgl. Kap. 3.2). Wenn nachfolgend im Anschluss an jene Vorarbeiten und Fährtenlegungen vom geohistorischen Spurenlesen die Rede sein soll, dann sollen dabei nun drei Dinge im Besonderen in den Blick geraten. Erstens gilt es genauer darzulegen, entlang welcher Spuren das zu entwickelnde Spurenprogramm konzipiert und ausgerichtet sein soll. Zweitens und daran anknüpfend wird es darum gehen, die Forschungsfelder, -logiken und -verfahren eines solchen Spurenlesens näher zu bestimmen. Drittens und letztens gilt es schließlich genauer Auskunft darüber zu geben, zu welcher besonderen Bestimmung das Attribut geohistorisch beitragen soll. Wie müsste nun also eine Konzeption aussehen, die die Spur und das Spurlesen in konsistenter Weise und zudem unter geographischen wie historischen Gesichtspunkten einer konkreten Wissenschaftspraxis zuführt, mithin erforschbar macht? Ungeachtet einer noch genauer zu bestimmenden geohistorischen Ausrichtung, müsste sie in jedem Falle den Stand aktueller Spurendiskussionen zum Ausgang ihrer Konzeptionalisierungsarbeit nehmen (vgl. Kap. 3.3). Eine Spurenkonzeption müsste in dieser Hinsicht so formuliert sein, dass sie das Fahrwasser etablierter Wissenschaftsroutinen, gängiger Zuordnungsmuster oder festgelegter Deutungssysteme verlässt, um die Spur in ihrer ihr eigenen Unbestimmtheit erfassen und theoretisieren zu können (GRUBE 2007:233). Schließlich braucht es eine Heuristik, die Unklarheiten, Diffusitäten und (vermeintlich) Nebensächliches zulässt, mehr noch selbst zum Programm erklärt. Die Spur und das Spurenlesen in dieser Art als epistemische Grundfiguren zu begreifen, heißt, sich von normalen Wissenschafts-

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ansichten und althergebrachten Denkweisen erst einmal gänzlich zu verabschieden, und einen neuen, anders gelagerten Blick zu veranschlagen. Werden wir nun aber konkreter, vollziehen wir jenen Perspektivwechsel zum geohistorischen Spurenlesen, indem wir den Blick auf die schematische Abbildung 3 wenden.

Abb. 3: Konzeptioneller Grundrahmen des geohistorischen Spurenlesens

Wie wir mittlerweile wissen, ist der Kern einer jeden spurenvermittelten Erscheinung eine unabsichtliche Hinterlassenschaft (A A1), deren Ursprung in einem vergangenen Geschehnis liegt. Hier gelangt etwas in die Welt – ob nun in die materiale, mentale oder soziale Welt –, ohne ein bewusster oder gewusster Bestandteil dieser zu sein.76 Nimmt doch das Geschehen, was zu einer Spur führte, nicht aus einem willentlich herbeigeführten Akt, als vielmehr aus einem ganz beiläufigen und unbe76

Dass die Spur solcherart zu einem Brückenphänomen (HOLLENDONNER 2009:140) avanciert, das zwischen den Welten wandelt, ist mit Verweis auf die POPPERsche Drei-Welten-Lehre (1973) zuvor bereits diskutiert worden (vgl. Kap. 3.4). Hiernach ist die Spur nicht nur in körperhaft-dinglichen Weltzusammenhängen als physiko-chemischer Ein- oder Abdruck aufgehoben und zu suchen (Fußspur, Gebrauchspur, Duftspur, Klangspur, etc.). Die Spur ist zudem auch in psychisch-mentalen Weltzusammenhängen (s. Erinnerungsspur; vgl. FREUD 1924) wie insbesondere auch, so wird nachfolgend noch stärker herauszustellen versucht, in sozial-kulturellen Weltzusammenhängen (Spuren in Sprache, Praktiken, Ideellem, Traditionen, Kulturtechniken, etc.) zu Hause und dort potentiell auch auffindbar.

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merkten Umstand seinen Lauf. Aus diesem Grund scheint es nur zu konsequent, Spuren zu aller Anfang als ein [A]ggregat von side effects (HARD 1989:7, 1990a:28; eig. Herv.) zu begreifen und zum Ausgang der Theoriearbeit zu nehmen. Wenn wir uns der Spur in diesem Sinnzusammenhang noch mehr als einem sozialen wie kulturellen Phänomen annehmen (vgl. HOLTORF 2007:348; KRÄMER 2007b:161ff.), indem wir es sozial- und kulturwissenschaftlich perspektivieren, dann rückt die Spur diesbezüglich nicht nur als Nebeneffekt etwaiger Ereignisse – z. B. als übrig gebliebene Spur eines Naturereignisses – ins Blickfeld. Damit rückt die Spur nun vielmehr und explizit als menschliche Handlungsspur in den Blick. 4.2.1

Die Spur als Handlungsspur

Mit der Perspektivierung der Spur als Handlungsspur 77 (s. Abb. 3) soll schließlich der Tatsache theoretisch stärker Rechnung getragen werden, dass wir uns seit Menschengedenken durch unterschiedlichste Tätigkeiten in die uns umgebende Welt eingeschrieben haben, indem wir in vielerlei Hinsicht und zunehmend mehr, jedoch meist ohne Wissen hierum, Fußstapfen in dieser Welt hinterlassen haben. Die Welt um uns ist hiernach nicht nur als Spur der Natur, d. h. als Produkt ökologischer Einflüsse oder physiologischer Prozesse allein zu lesen und zu erklären, sondern vielmehr als eine genuine und fortlaufende Spur menschlichen Handelns, dessen Niederschlag im Buch der Natur genauso zu Buche schlägt wie der der Natur selbst (HARD 1995:16). Das Buch der Natur als verborgenes Archiv menschlicher Spurenhinterlassenschaften zu begreifen und zu lesen hieße zunächst, den Menschen und seine nicht immer gewusste Rolle als spurenerzeugendem Akteur stärker anzuerkennen. Dies hieße im gleichen Zuge auch, nicht nur einseitig nach den spurenermöglichenden Naturbedingungen (Umweltfaktoren etc.) zu fragen, wie dies landschaftsgeographische Spurenlesungen zumeist taten. Eher gilt es – in Fortführung HARTKEs und HARDs – die je gegenwärtigen sozial-kulturellen Gegebenheiten und Umstände wie auch die gesellschaftlich gerahmten Handlungsbedingungen (Normen-, Werte-, Wissenssysteme, etc.) und ferner auch die subjektiven Inkorporierungen stärker zu gewichten und einzubeziehen, welche zu dieser oder jener Spurenerscheinung implizit, d. h. unterschwellig geführt haben. Handlungstheoretisch besehen wäre dann, wenn man die Spur zunächst nur auf der Ebene der Zurücklassung betrachtet, speziell der Bereich unbeabsichtigter Handlungsvollzüge und -folgen von besonderem Interesse. Entgegen klassischer Vorstellungen von Handeln, als einem intentionalen, reflexiven und sinnhaften Tun, und von Handlung, als dessen (geplantem) Ergebnis (vgl. WEBER 1980:1), büßen diese Kategorien bei der Betrachtung der Spur (als hinterlassene Spur) insoweit jedoch alles in allem ihre Gültigkeit ein. Wenn es bei der Erforschung menschlichen Handelns um die Erfassung dessen [gehen soll], was der Handelnde mit seinem Handeln meint (WERLEN 1997:122; Herv. i. Orig.), dann reicht dies bei weitem nicht aus, um ein Spurenhandeln und somit das Tätigsein rund um die Spur ver77

Siehe in diesem Zusammenhang die dazu bereits angestellten Vorüberlegungen und Denkanstöße von HARD (1989:8, 1995:36), HARTKE (1959:426f.) oder REICHERTZ (2007:311ff.).

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stehen zu lernen. Meint doch der Handelnde zu aller Anfang mit der beiläufig von ihm zurückgelassenen Spur nichts, zumindest nichts im eigentlichen Sinne, insofern beides (Spur und Spurenhinterlassung) idealtypisch gedacht einfach nur passiert sind und sodann sind (vgl. GRUBE 2007:235). Der ursprünglichen Spurwerdung (A A1) liegt insofern kein bewusst entworfener Handlungsplan zugrunde. Das Spurenfeld ist in erster Linie als ein Handlungsfeld zu sehen und zu begreifen, auf dem weithin nicht gewollte, nicht-intentionale Handlungsfolgen nicht nur ihren Eintrag, sondern überhaupt erst ihre wissenschaftliche Thematisierung erfahren; bedenkt man schließlich, dass klassische Handlungsmodelle derlei Handlungsprodukte und -felder, wenn nicht gänzlich als Problem abtaten, so doch wenigstens im Bereich des Marginalen hielten (vgl. WERLEN 1997:85). Um an menschlich induzierte Spuren und deren tieferliegenden Sinngehalte zu kommen, muss diese Dimension des Handelns aber stärker als bisher theoretisch in Wert gesetzt werden. Dafür braucht es nicht zuletzt ein leicht modifiziertes Verständnis von Handeln und Handlung. Eine an Handlungsweisen interessierte moderne Sozialgeographie 78 und ein daran anschließendes geohistorisches Spurenprogramm wäre hiernach so auszurichten, dass das Verstehen und Auslegen derjenigen Formen des Handelns stärker Berücksichtigung fänden, deren zugrunde liegenden Handlungslogiken nicht auf einer bestimmten Ziel- oder Zwecksetzung fußen. Denn in keinem Punkt einer Handlung, als einer idealtypisch sequenzierten Einheit (vgl. WERLEN 1997: 39f.), mag der Spur bisher ein Platz zukommen: weder im Handlungsentwurf, noch in der Situationsdefinition noch in der Handlungsrealisierung. Allenfalls im Endresultat einer Handlung können Spuren als Ungewolltes, Ungeplantes, Ungewusstes aufscheinen und solcherart ihren Platz bekommen, dann aber auch nur als Nebenerscheinung, als etwas Randständiges, um das man bisher – wie bereits betont – aber kein besonderes Aufheben gemacht hat. 79 Freilich darf so etwas wie eine Spur deswegen nicht als Unwichtiges oder gar als Negativum zur Seite geschoben werden, nur weil es nicht gängiger Handlungsvorstellungen entspricht oder nicht in gängige Handlungsmodelle 80 passt. Vielmehr muss die Spur als etwas umso Wichtigeres angesehen werden, wie auch die aktuell verstärkte Hinwendung zur Spur als wichtiger Anlass dahingehend verstanden werden kann, eine erweiterte Facette des menschlichen Handelns begreifen und theoretisieren zu können. Die damit verbundene Erweiterung würde sich dann auf den Bereich des Handelns beziehen, der sich unterhalb bzw. fernab des geplanten und gewussten Tätigseins als etwas nicht-bewusst-Eingeübtes, nicht-Routinehaftes, allenfalls als etwas Vorrefle78 79

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Siehe zur handlungstheoretischen Fundamentierung einer zeitgenössischen Sozialgeographie die Ausführungen in Kapitel 2 sowie zur ideengeschichtlichen Gesamteinordnung auch grundlegend WERLEN (1997, 2010c, 2013a). WERLEN hat gleichwohl mit der POPPERschen Situationsanalyse in den Anfängen seiner Konzeptionalisierungsarbeit einen Vorschlag unterbreitet, der genau darauf abzielt, unbeabsichtigten Handlungsresultaten auf die Spur zu kommen (vgl. WERLEN 1997:85f., 2010f). Wie HARTKEs und HARDs Vorschlag blieb aber auch WERLENs Angebot im innerfachlichen Theoriediskurs weitestgehend unbeachtet bzw. ungenutzt. Worunter klassischerweise zweckrationale, normorientierte sowie verständigungsorientierte Handlungsmodelle zu zählen wären.

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xives abspielt. Will man schließlich alle Facetten dessen verstehbar machen, was Menschen tun, scheint es folglich wenig zielführend, Spuren – als einem Typ von handlungsinduzierten Artefakten – zugunsten rein sinnhafter Hervorbringungsleistungen weiterhin in der Diskussion klein zu halten oder gar negieren zu wollen. So vermochte selbst eine handlungstheoretische Sozialgeographie sich vor derlei Tendenzen nicht zu verwehren, da sie solchen Denkweisen durch eine leicht einseitige Blickrichtung auf Artefakte, verstanden als rein absichtsvolle Produkte von Handlungen, unbewusst Vorschub leistete: Artefakte sind Träger subjektiv gemeinter sozial-kultureller Sinngehalte, die nach Abschluß des Herstellungsaktes einerseits eine eigenartige Eigenständigkeit erlangen, aber andererseits trotzdem auf den Sinn der Hervorbringungsakte verweisen und diesen zu einer gewissen Persistenz bringen (WERLEN 1997:252). 81

Aus dieser allgemeinen Sichtweise auf Artefakte leitete sich sodann auch eine spezielle auf Spuren ab: [A]bsichtsvoll hinterlassene Spuren müssen […] eindeutig sowohl als Spuren als auch bezüglich ihres Bedeutungsgehaltes verstehbar sein, dass ein Leser sie nicht verwechseln kann […] – sie müssen verwechslungsresistent sein (WERLEN 2010g:307).

Was ist nun aber konkret mit jenen Artefakten und Dingen, die unbeabsichtigt, unbewusst und unwissentlich aus Handlungen hervorgegangen sind, die gar nicht anders als sinnlos, d. h. jedweder Sinnhaftigkeit verborgen, bezeichnet werden müssen? Im Rahmen einer auf Spuren hin erweiterten sozialgeographischen Artefaktanalyse (WERLEN 1997:256) wäre schließlich mehr auf eine differenzierte Rekonstruktion des Handelns aufgrund seiner materialisierten Spuren (WERLEN 2007:43) zu fokussieren und somit auf all solche Dinge, die in und fernab von beabsichtigten Handlungsvollzügen und -produkten unbesehen in die Welt gelangten. Denn, so bringt es HARD treffend auf den Punkt: Der berühmten Asymmetrie von historischen Intentionen und historischen Resultaten entspricht die zwischen Handlungsabsichten und Handlungsspuren (HARD 1995:79; eig. Herv.). HARDs Feststellung weiterführend, ist die Historie der Menschheit nur zu charakteristisch dafür und zu voll von Geschichten davon, wie Anspruch etwas zu tun (u. a. Geschichte zu machen) und dem letztendlich Getanen (der gewordenen Geschichte) nicht selten stark auseinanderklaffen. So bringt die Geschichte zwangsläufig unbeabsichtigte Spuren hervor, egal welcher ontologischen Verfasstheit (physisch, bewusstseinsmäßig, sozial-kulturell), um die in den meisten Fällen weder der handelnde Geschichtsakteur noch der Geschichtsinteressierte (Historiker, Archäologe) immer gleich im Bilde zu sein scheint. Die historisch wohl älteste und urtypischste 81

Bei genauerem Hinsehen, mag man an dieser Stelle des WERLENschen Gedankenganges die Verbindung zu SCHÜTZ und seinem phänomenologischen Ansatz erkennen; SCHÜTZ äußerte sich ehedem nämlich in ganz ähnlicher Weise: mögen diese Objektivationen, konstituierte Handlungsgegenständlichkeiten sein (vollzogene Bewegungen, Gesten oder Handelnsresultate) oder Artefakte (Zeichen im engeren Sinne oder produzierte Gegenstände der Außenwelt, Geräte, Denkmale usw.) sein […]. Sie sind Erzeugnisse eines Handelns und als Erzeugnisse sind sie auch Zeugnisse für das Bewußtsein des Handelnden, welcher sie in seinem Handeln erzeugte (SCHÜTZ 1974:186, zit. nach WERLEN 1997:373).

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Form einer solchen Handlungsspur, die sich nur denken lässt, ist mit der Allegorie der Spur als Fußspur bereits zuvor mehrmals angebracht worden. Obschon sich dergleichen Allegorien mehr hier anführen ließen (vgl. GINZBURG 1988c), das eigentliche Ursprungsmoment aller nur denkbaren Spurenarbeit ist gleichwohl in den prähistorischen Fährten und Fährtenlegungen zu sehen, die Jäger und Sammler einerseits selbst hinterließen, denen sie andererseits mehr aber noch selbst nachgingen, um das Spurenlesen zu perfektionieren und um damit erst vielen anderen Handlungsspuren, und eben nicht nur paläontologisch bedeutsamen, auf die Spur zu kommen. 82 Die Spur als genuine Handlungsspur zu begreifen, darauf hat nicht zuletzt, gleichwohl frei von jeglicher Bezugnahme zu einem Spurenparadigma, auch schon der französische Historiker und Kulturphilosoph Michel DE CERTEAU aufmerksam gemacht (vgl. SCHAUB 2007:130ff.). Ohne direkten Bezug zu GINZBURG oder anderen Spurengelehrten seiner Zeit bespricht DE CERTEAU in seinem Werk über die Kunst des Handelns (DE CERTEAU 1988) Spuren ganz konkret als Spuren von Handlungen. So geht er Alltags- und Gebrauchsspuren nach, die er vor allem in städtischen Kontexten und dessen materialem Inventar (Straßen, Gebäuden, etc.) zuhauf hinterlassen sieht und an deren Erkundung und Ausdeutung er sich macht. Für DE CERTEAU liegt die Urszene vieler Spurenhinterlassenschaften – und in diesem Punkt trifft er sich mit GINZBURG – in der bewegten und bewegenden Praxis des Gehens (und Erzählens hierüber) begründet. Wie er meint, manifestieren sich gerade in der Rhetorik des Gehens (1988:192) vielerlei Spuren, die an Orten des Urbanen einmal im Laufe habituellen Tuns, u. a. im Zuge des von-hier-nach-dortGelangens, als nicht erklärbarer Affekt-Rückstand heften bleiben, was sie aus diesem Grund ein schon beschriebenes, hier aber nochmal mit DE CERTEAU aufgemachtes Problem mit sich führen lässt: Sicher, die Prozesse des Gehens können auf Stadtplänen eingetragen werden, indem man die (hier sehr dichten und dort sehr schwachen) Spuren und die Wegbahnen (die hier und nicht dort durchgehen) überträgt. Aber diese dicken und dünnen Linien verweisen wie Wörter lediglich auf die Abwesenheit dessen, was geschehen ist. Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. (DE CERTEAU 1988:188; eig. Herv.)

DE CERTEAU kommt in diesem Zusammenhang letztlich zu dem Schluss, dass die Spur gewissermaßen die Praxis [ersetzt]. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen, wobei sie eine Art des In-der-Welt-seins in Vergessenheit geraten läßt (DE CERTEAU 1988:189; eig. Herv.). Zusammengenommen verweist DE CERTEAU in den hier gebrachten Textauszügen alles in allem auf die Flüchtigkeit von Spuren in Gestalt von Handlungsspuren, wie sie zuvor unter dem Begriff der Absenz (vgl. Kap. 3.3.3) 82

Jene die Spurengeschichte in ihren Anfängen ausmachenden Urszenen und Urspuren standen den Initiatoren und Denkern eines zeitgenössischen Spurenparadigmas (vgl. Kap. 3.2) an verschiedenen Stellen ihrer eigenen Spurenwerke und Spurenlesungen immer wieder Pate (vgl. GINZBURG 1988C; DERRIDA 1988); und dies war dem Autor dieser Arbeit beim Nachdenken über die Spur und das Lesen von Spuren nicht selten oft auch der erste Einfall, an dem die eigenen Überlegungen immer wieder gedreht und gewendet wurden.

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bereits umfassend, aber indes weniger aufs menschliche Handeln hin besprochen wurde. Weil Spuren eben nur Beiwerk von (Bewegungs-)Handlungen sind, können sie einem auch erstmal weder im Handlungsvollzug noch danach unmittelbar ersichtlich erscheinen, womit sie bis auf Weiteres verloren gehen, unsichtbar werden und schlussendlich ins Absente abgleiten – oder mit DE CERTEAU gesprochen: in Vergessenheit geraten (ebd.). Aus diesem Grund scheint es für das eigene Arbeiten an und mit Spuren angezeigt, und damit wird DE CERTEAU wie auch GINZBURG gefolgt, die spurenbezogenen Praktiken (Spurenlegen, -suchen, -lesen, etc.) durch eine mikroanalytische Perspektive zu blicken. Hiermit eröffnet sich gewissermaßen erst die Chance, Spuren und das Evozieren von Spuren aus der Sphäre der Absenz in die Sphäre der Präsenz zu holen. Die Maßstäblichkeit des analytischen Blicks hat zur Folge, dass in Analogie zu GINZBURG und DE CERTEAU der Blick einzig und allein auf Kleinstphänomene bzw. Kleinstspuren zu richten sein wird, dem Zweck verbunden, unbesehene Spuren und die an ihr wirkenden Praktiken in ihrer mikroskopisch winzigen Erscheinung gefasst zu bekommen. Mit der mikrologischen Inblicknahme kann nicht zuletzt erst der Blick auf eben jene Handlungs-Spuren frei werden, um es mit DE CERTEAU zu sagen: auf alle mikrobenhaften Praktiken (1988:186), die zum einen für alle nur denkbaren (menschlichen) Spuren ursächlich waren bzw. sind, und die zum anderen für die Suche, Findung, Sicherung und vor allem Interpretation von Spuren (Spurenlesen) eine wichtige Grundlage bilden. Geht man nun gemäß dieser Grundperspektive die Abbildung 3 weiter von links oben nach rechts unten entlang der skizzierten Handlungsspur ab, dann mag man sehen, dass Spuren nicht nur einmal infolge eines (Handlungs-)Ereignisses (im Kleinen) entstehen und zugleich absent werden. Vielmehr kann man erkennen, dass sie über ihr temporäres Stattfinden und der Unwissenheit über ihr Dasein hinaus immerwährend auch einen Verlauf durchmachen. Die Spurenlogik auf eine einfache Formel 83 gebracht: A1 (Spurenhinterlassung) → V (Verlauf) → A2 (Spurensuche/-lese) → V (Verlauf) → A3 (Spurenzukunft)

Zwischen den Spurenereignissen A1 und A2 vollzieht sich hiernach ein Spurenverlauf (V V), im Zuge dessen die Spur entlang ihrer latenten bzw. absenten Präsenz eine Transformation erfahren kann, die, nimmt man die Spur schließlich als Entität im eigentlichen Sinne ernst, sie in ihrer Materialität unterschiedlich stark betreffen, mithin verändern kann. Die Veränderungen an der Spur können in der Folge dazu führen, dass Spuren einen Wandel, bspw. einen Formenwandel durchlaufen, aber im extremsten Fall auch, dass sie zum Verschwinden gebracht werden, ohne dass sie jemals sichtbar wurden. 84 Werden nun Spuren aber einmal innerhalb eines 83 84

In ähnlich, wenngleich zeitlich kürzer bemessenen Art und Weise bringt es auch HARD formelhaft auf den Punkt (vgl. HARD 1995:75). So kann eine historisch hinterlassene Spur durch natürliche Prozesse weggespült, weggeweht oder anderweitig wegdegradiert werden. Durch die hier zu interessierenden menschlichen Handlungen kann sie ferner aber auch überformt werden, indem sie durch nachfolgende

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Sachzusammenhangs als etwas Stoffliches sichtbar, indem sie ganz bewusst und körperhaft-sinnlich erspürt wurden, dann besiegelt die so entdeckte Spur A2 nicht nur das Ende ihrer verborgenen Existenz (Absenz), sondern vielmehr überhaupt erst den Anfang ihres gewussten Daseins (Präsenz). An dieser Stelle (A A2) fangen im Grunde genommen erst die Geschichte und damit die Wirklichkeit der Spur an. Hier wird die Spur zum Auslöser für Semioseprozesse (KESSLER 2012a:53), indem sie Semiosen anstößt, welche sie nicht nur zu deuten, sondern überhaupt erst zu bedeuten erlauben. Über die Funktion des reinen Belegens von etwas physisch Stattgefundenen hinaus, tritt am materiellen Abdruck Spur solcherart, durch das handlungsbezogene Erschließen, etwas per se Sinnhaftes hinzu. Im Moment der Spurenentdeckung verschmilzt die Materialität der Spur auf der einen Seite mit der an ihr greifenden Semiose auf der anderen Seite. Nicht jedoch die Materialität und das signifikante Dasein der Spur allein macht aus einem Lesen ein genuines Spurenlesen, als es zuvorderst einer spurenbezogenen Lektüre und Lektürerichtung obliegt, aus Materialitäten Spuren zu machen (vgl. KESSLER 2012a:101). Aus diesem Grund erscheint es zunächst wohl auch recht unbedeutsam, von welchen (Handlungs-)Gegenständen bzw. vergegenständlichten Anzeichen sich eine Spurenlektüre in Gang setzt. Wichtig ist nur, dass das, was erlesen und gelesen wird, in seinen semantischen Tiefenschichten noch nicht bzw. nicht mehr lesbar, decodierbar und somit verstehbar ist; andernfalls wäre es kein Spurenlesen, sondern ein reines Lesen, Ablesen von Zeichen im klassischen Sinne, also ein Zeichenlesen. Im Hinblick auf die Spur ist aber gerade von Vornherein nichts verständlich bzw. selbstverständlich. Anders als beim idealtypischen (Ein-)Schreiben und Lesen von Zeichen ist das Spurenlegen und -lesen indes bestimmt davon, dass es weder eine fixe Materialität noch eine eingeübte oder verallgemeinerbare Kulturtechnik (Semiose) zur Grundlage hat, auf die sie jeweils rekurrieren könnte. 85 Gibt es doch kein kulturell geformtes Material ebenso wenig wie ein kulturtechnisches Tableau (KOGGE 2007:195), eine Semiosphäre (LOTMAN 1990), auf dem bzw. innerhalb derer Spuren und das Spurenlesen ausschließlich und unvermittelt stattfinden. Da es keine standardisierte oder routinisierte Praktiken und Praxisfelder gibt, welche Spuren zielgerichtet zu finden und zu lesen erlauben, ist gerade das Spurenfinden und -lesen in größerem Umfang als jede andere Form des Erforschens auf eine intuitive, explorative, mitunter auch phantasierende wie wilde Erschließungspraxis eines an Spuren interessierten Subjekts angewiesen (vgl. ASSMANN 2015:18ff.; HARD 1991:145; HOFFMANN 1998b:108; KESSLER 2012a:98). Beim Betrachten und Erschließen von Spuren selbst kann es infolgedessen nur um zwei Dinge gehen: zum einen um ein Überschreiten der üblichen Kodes, also um ein Überschreiten der bereits bestehenden Signifikationen und Semiosen, und zum anderen um ein Semantisieren von nicht

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Ereignisse, Gebräuche und weitere Spurungen (Spurenlegungen) ebenso überformt und damit ebenso weggearbeitet wird. Siehe hierzu u. a. die archäologische Gebrauchsspurenanalyse von Lanzetten, wie sie HOFMANN & SCHREIBER (2011:178ff.) durchgeführt haben, welche diesem Sachverhalt empirisch nachgegangen sind. Dagegen ist es genau das Kennzeichen klassischen Lesens und Schreibens, hierfür sowohl ein Material (bspw. Papier bzw. Texte) als auch eine Technik, ein Schema (Alphabet, Orthografie, Typografie, etc.) zur Hand zu haben.

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semantisiertem Gelände, mithin um bisher unbesehene Signifikanten und Materialitäten (HARD 1995:66). Oder in anderen Worten ausgedrückt: Je mehr neue Signifikanten und Signifikate, umso mehr wirkliches Spurenlesen (HARD 1995:66; eig. Herv.). Jedwede Spurenarbeit ist demzufolge notwendigerweise an eine entautomatisierte Lektüre der Wirklichkeit (HARD 1993:92) gebunden, die wiederum und selbstredend ein Kreieren von noch nicht-expliziten, d. h. noch unbekannten Zeichen und deren Bedeutungshorizonten in sich vereint. Den archimedischen Punkt einer spurenbezogenen Wissenschaftsarbeit, somit auch der eigenen, stellt so gesehen nicht so sehr die Spur an sich dar, als vielmehr die Erfahrung der Spur und damit das erschließende und schließende Spurenlesen. Die Kernfokussierung auf das Spurenlesen begründet sich insofern damit, dass Spuren als Prozessierungsergebnis von Lektüren (LINZ & FEHRMANN 2005:89) erst aus der subjektiven Erfahrung und Lesung heraus existent und evident werden – Spuren nur durch Spurenlesen (vgl. Kap. 3.3.6). Demzufolge kommt es nicht nur darauf an, verstehen zu wollen, was und warum eine Spur ist; eine ontologische Inblicknahme von Spuren allein ist nicht zielführend genug (vgl. Kap. 3.4). Es kommt eher darauf an, zu verstehen, wann ein Spurenlesen stattfindet (das erst zur Spur führt), wie eine spurenlesende Praxis verfährt, welchen Handlungslogiken es folgt und auf welche Art und Weise die Praxis des Spurenlesens selbst nicht nur zur Erforschung unbekannter Dinge, sondern vielmehr noch zur Selbst-Beforschung herangezogen werden kann. Fragt man vor diesem Hintergrund nach dem Wann, dann setzt ein Spurenlesen zumeist immer dann ein, wenn im sonst Geordneten und Gewohnten etwas hervorsticht, das dem Geordneten, Gewohnten in seiner Erscheinung gleichsam entgegensteht bzw. widerspricht (vgl. Kap. 3.3.5). In diesem Zusammenhang kann es einerseits ein Widerfahren sein, das einen auf die Spur bringt und sie sodann erkennen lässt; dass die Spur zu einem kommt (und man selbst nicht zur ihr), mag insbesondere nach LÉVINAS und einem Entzugsparadigma die richtige Richtung des Spurenlesens sein (vgl. KRÄMER 2007b:174ff.). Andererseits lässt sich mehr aber noch für das hier konzipierte (geohistorische) Spurenlesen feststellen, dass ein Spurenlesen in stärkerem Maße in ein subjektives Erfahren mündet, ein Erfahren dessen, was noch ungewusst bzw. unerklärlich vor einem liegt. Egal ob nun von der Spur oder durch sich selbst zur Spurensuche getrieben, der Spurenleser hat sich schließlich, anders als der Spurenhinterlasser, irgendwann einmal (mehr oder weniger bewusst) darauf eingelassen bzw. auf den Weg gemacht, sich durch das Dickicht [unlesbarer] Zeichen (ASSMANN 2015; eig. Einschub) zu schlagen. Im Gegensatz zur Zurücklassung der Spur geschieht die Aneignung der Spur durch den handelnden Akteur insofern also größtenteils ganz gezielt und absichtsvoll, was sie – Spurensuche und Gesuchtes – dann auch, klassischer Handlungsvorstellungen entsprechend, als etwas Sinnhaftes und Intentionales ausweisen lässt. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund scheint es angezeigt, den context of discovery (HARD 1993:98ff., 1995:130) genauer zu kennen, aus dem sich ein Spurenlesen heraus entwickelt und vollzieht. Die Kontextabhängigkeit des Spurenlesens ist dabei weniger nur in Bezug auf das (stumme) Spurenobjekt und die materielle Spurenlage insgesamt zu sehen, als vielmehr, und das sollten die vorhergehenden Ausführ-

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ungen deutlich gemacht haben, in Bezug auf das (ausdrucksfähige) Spurensubjekt. Dass Spuren meist materialiter vorliegen, ist außer Frage. Gerade deswegen ist es natürlich mit Bezug auf das Spurenobjekt nicht unwichtig zu sehen und zu wissen, was zufällig oder gezielt als Spur resp. Nicht-Spur erkannt wurde. Geht doch jeder anders daran, Spuren zu sichten wie ein Jeder auch das Gesuchte in einem anderen ontologischen Aggregatzustand zu finden meint (HARD & KRUCKEMEYER 1991: 117). Neben der Ontologisierung und dem Herausfiltern der Spur aus ihrem Fundkontext, mithin der Spurensondierung und -selektion kommt es nicht zuletzt aber darauf an, zu wissen, aus welchem bewusst erfahrenden oder widerfahrenden Handlungsmovens heraus, Spuren gesucht und gefunden werden. So oder so: Eine Spur wird aus ihrem [Handlungs-]Kontext heraus geboren, sie gebiert sich nicht selbst aus ihrer Materialität (HOLLENDONNER 2009:148; eig. Einschub). Derart ist es ein Irrglaube, zu meinen, Spuren kämen einfach so, d. h. ontologisch dingfest daher, insofern sie einstmals gegenständlich hinterlassen, ihre Vergangenheit und somit ihre historische Wahrheit einfach mit sich führen; allzumal sie nicht anders als in ihnen steckt oder quasi durch sie transzendiert werden kann. Von einer wie auch immer vergegenständlichten Spurenwahrheit oder überirdischen Spurentranszendenz auszugehen, führt auf kurz oder lang in die Irre. Allein schon deswegen, weil jedwede Spurenerscheinung über ihre äußere Gestalt hinaus eigentlich nichts über ihren inneren oder metaphysischen Gehalt, d. h. nichts über ihre immanente oder quasi-gottgegebene Geschichte auszusagen weiß. Das hängt einerseits damit zusammen, dass Handlungsspuren zu keiner Zeit ihres (verborgenen) Daseins, weder beim Hinterlassen noch im späteren Spurenverlauf, jemals irgendeine Signifikanz oder Bedeutungsessenz besitzen – Spuren sind signifiants insignifiants (HARD 1995:91; eig. Herv.). Andererseits hängt dies aber auch damit zusammen, dass Spuren ihre Herkunft und das rundum sie Geschehene nicht im Sinne einer Zeugenschaft bzw. Zeugenaussage verbaliter bezeugen können. Sie zeugen gewiss von etwas, und zwar einem vergangenen, mithin vorübergangenen Geschehnis, aber ihnen ist es nicht möglich, das einst Geschehene, Vorübergegangene an sich zu bezeugen. Spuren sind keine Zeichenträger im eigentlichen Sinne, also Semiophoren (POMIAN 1988:13ff.), die ohne Widerstände zwischen der Vergangenheit und Gegenwart sowie dem Unsichtbaren und Sichtbaren einfach vermitteln. [Spuren] selbst überführen kein Abwesendes in Anwesenheit, machen nicht selbst schon das Nicht-Wahrnehmbare wahrnehmbar, und sie rufen auch kein Unsichtbares in Erscheinung. Spuren selbst bilden nur das Material zur Rekonstruktion, die Rekonstruktion selbst, d. h. die eigentliche Vermittlung obliegt allein dem Rezipienten. (KESSLER 2012a:68; Herv. i. Orig.)

Aus wissenschaftlicher Sicht besteht beim Lesen und Erschließen von Spurenphänomenen im Umkehrschluss trotz alledem immer auch die Gefahr, bei der (Re-) Konstruktion und (Re-)Kontextualisierung der Spur in ihren Entstehungs- und Verlaufslinien einer allzu stark vereinfachenden, weil reifizierenden, essentialistischen Sichtweise anheimzufallen (vgl. Kap. 4.1/Anm. 71). So wird allzu oft und gutgläubig davon ausgegangen, den originären Ursprung der Spur beim Spurenlesen ohne Weiteres finden und auch wieder herstellen zu können, indem man ihn z. B. einfach stofflich-plastisch herauspräpariert oder konserviert. Dabei wird im Zuge

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einer Reifizierung oder Essentialisierung das zum Gegenstand gemacht, was eigentlich jedweder Gegenständlichkeit entbehrt, und zwar die Spur in deren Bedeutungsund Sinndimension. So wird die Spur nicht selten als materielles Anzeichen für den manifesten Sinn, für die Bedeutung schlechthin gehalten, ohne zu wissen, dass sich der Sinn nicht im Ding an sich manifestiert – Spuren diktieren sich ihre Bedeutung nicht von selbst auf, ebenso wenig sind sie Referenten ihrer selbst. Eine Spur wird einzig und allein bedeutungsvoll in dem ihr Zusprechen und in dem ihr Verleihen von Signifikanz. Auf den Punkt gebracht: Wenn eine Spur zunächst nur materialisiert wird, infolge einer rein körperhaften Handlungspraxis (Spurenlegen), innerhalb derer ungewollt zwei Körper blind, d. h. ohne erkennbaren Sinn aufeinander wirkten, dann kann sie, fortan in der materialen Welt gründend, folglich erst durch eine gewollte und sinnhafte Handlungspraxis (Spurenlesen), mithin durch eine Symbolisierung bzw. Kulturalisierung bedeutsam werden. Auf die Implikationen einer allzu naiven, weil nur gegenstandsbezogenen Spurenlektüre, die die spurenevozierende Hintergrund-Kulturalisierungen und -Symbolisierungen komplett unberücksichtigt lässt, hat nicht nur HOLTORF (2007:336) in Bezug auf die Archäologie oder KOGGE (2007:217f.) mit Bezug auf die science studies bereits eindrücklich hingewiesen, sondern überaus pointiert auch in geographischer Blickrichtung HARD: Wie schon die Schrift, so hat und bewahrt auch die Spur von sich aus keinen Sinn, auch keine ihr innewohnende vis significativa, auch nicht eine Art Sinnleiche, die der Historiker oder Spurenleser wieder durch die Kunst des Verstehens oder sonst wie zum Leben erwecken könnte. Es gibt nur die materiellen Spuren, und es ist nicht sinnvoll sich vorzustellen, in ihnen stecke – wie eine Art von Geist oder Gespenst – ein Sinn, eine (ursprüngliche oder andere) Bedeutung oder auch nur eine sinnverleihende Kraft oder Potenz. Es gibt da keine ursprünglichen oder anderen historischen Spuren-Bedeutungen oder Spuren-Kontexte zu entdecken, weder solche, die irgendwie in der Materie der Spur eingeschlossen und aufbewahrt sind, noch solche, die man außerhalb der Spur suchen könnte. (HARD 1995:89f.; eig. Herv.)

Trotz der Reflexivität und Bewusstmachung der eigenen Rolle als Spurenleser, wie sie HARD zuvor implizit einfordert, macht sich in und an Spuren, seiner Meinung nach, noch allzu oft: ein wunschvoller Menschheitsaberglaube an eine dauerhafte und sichere Präsenz und Wirkung, (Be)Greifbar- und Verwertbarkeit von Wesen, Handlung, Ursprüngen und Urszenen […] [fest]. Auch in der Spurenverliebtheit der Spurensucher und den Sicherheiten der Spurensicherer steckt, wie es scheint, dieser magische Glaube an die Präsenz des Ursprungs in der Spur […]. (HARD 1990a:47)

Um nicht in jene problematischen Schieflagen eines naiv-verliebten Spurenlesens 86 zu geraten, bedarf es also einer Sichtweise, die im Erkenntnisprozess nicht so sehr der Ontologie der Spur, als vielmehr der Praxis des Spurlesens selbst Auf86

Ein naiv-verliebtes, weil unbedarftes Lesen von Spuren findet in dieser Weise gleichwohl im Alltag immerwährend statt. Hier weiß der Spurenleser zumeist nicht um die eigene Rolle als Spuren-(Er)Finder. Ferner ist es ihm nicht immer bewusst, mit welchen semiotisch vorgefertigten Deutungsmustern er an das semiotisch noch nicht gefasste Spurenphänomen herantritt. Zur wissenschaftlich motivierten Entrivialisierung des trivialen Spurenlesens bedarf es aber eben jener zuvor vorgeschlagenen kritisch-reflexiven Perspektive und distanzierten Grundhaltung im Hinblick auf Spuren/-lesen.

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merksamkeit schenkt. Denn erst über jenen Perspektivwechsel, wenn man so will einem practice turn (vgl. RECKWITZ 2003; SCHÄFER 2016; SCHATZKI et al. 2001), kann man zu der theoretischen Einsicht und zugleich auch forschungspraktischen Aussicht gelangen, dass was es als Spur gibt und (möglicherweise) noch geben kann, sich einzig und allein danach ausrichtet, wie und wozu Spuren in praxi, d. h. im tätigen Vollzug gesucht, gebraucht und gelesen werden.87 Lässt man in diesem Zusammenhang zum einen die Spur als soziale Tatsache (HOLTORF 2007:348) noch einmal expliziter werden, und zum anderen das praxistheoretische Theorem, dass der Ort des Sozialen […] die sozialen Praktiken [sind] (RECKWITZ 2003:289), dann kann der Ort der Spur folgerichtig nur noch in der Spur als (Sozial-)Praxis gesucht und gefunden werden. Kurzum: nicht die Spur als Gegenstand, sondern die Spur als Praxis hat hier zu interessieren. 88 Dass Spuren zur Bedeutung kommen, ist hiernach einzig und allein darauf zurückzuführen, dass Spurenleser sich aktiv wie willentlich, d. h. in semantisierender und körperlich-tätiger Art und Weise, also mit bestehenden oder im Laufe der Spurenlesung erworbenen Körpererfahrungen, inkorporierten Wissensinhalten 89, Vorstellungen, Deutungsweisen oder Botschaften, aber eben auch Unwissenheiten in sie eingebracht haben (vgl. KESSLER 2012a:73ff.).

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An dieser Stelle sei angemerkt, dass die zuvor in vielen Punkten stark gemachte Handlungstheorie mit der hier eröffneten Praxistheorie (auch Praxeologie) mitnichten gleichgesetzt oder vermengt werden darf. So ist letzteres, mitnichten homogen umrissenes, Theoriegebäude zwar auf dem Fundament ersterer Theorie(n) erbaut und sodann fortentwickelt worden. Aber in der Fortentwicklung lag dann eben auch eine andere Schwerpunktsetzung begründet, welche eine verstärkte und dezidierte Einbeziehung der Körperlichkeit, Relationalität, Materialität und Performativität des Sozialen, auf den gemeinsamen Nenner Praxis gemünzt, implizierte (vgl. BONGAERTS 2008; HIRSCHAUER 2016:46ff.; RECKWITZ 2003:282f.; SCHÄFER 2016:11ff.). Hiernach definiert Praxis im Wesentlichen den körperlichen Vollzug sozialer Phänomene, wohingegen der Begriff Praktiken die bestimmbaren Formen dieses Vollzugs umschreibt, mithin die kulturell vorstrukturierten ways of doing (HIRSCHAUER 2016:46). Mit einem practice turn eröffnete sich schließlich der Blick für kleinere, niederschwellige Aktivitäten sowie deren materiellen Settings, was für die Betrachtung von Spuren und Spurenpraktiken gewiss eine grundständige Voraussetzung darstellt. Siehe hierzu auch KRÄMER, die bereits in diese Richtung gehend, vom Spurenverfolgen als soziale Praxis (KRÄMER 2007b:161) gesprochen hat. Vergleichend und grundlegender dazu auch HÖRNING & REUTER (2004), die unter Rekurs auf zeitgenössische praxistheoretische Wendungen mit dem Topos des Doing Culture die Kultur als Praxis für kulturwissenschaftliche Forschungsanstrengungen in Gänze stark gemacht haben. Damit trugen sie nicht zuletzt dem Grundanliegen vielfältiger cultural turns (vgl. BACHMANN-MEDICK 2006) explizit Rechnung, indem sie sich von der Kultur an sich (gegenständliche Kultur) ab- und mehr zur Kultur als Bedeutungssystem (symbolisierte, praktizierte Kultur) hinwendeten, ohne jedoch die Kulturgegenstände gänzlich außen vor zu lassen. Es gelang ihnen insofern den Umschlag [turn; R. L.] vom Untersuchungsgegenstand zur Analysekategorie (BACHMANN-MEDICK 2006:15) zu vollziehen. Jener sozial- und kulturtheoretische Umschlag soll nun auch richtungsweisend für das eigene Arbeiten an und mit Spuren sein. Vgl. RECKWITZ (2003:289f.). Bei ALKEMEYER findet man dies begrifflich anders gewendet als Körperwissen folgendermaßen ausbuchstabiert: das auf Erfahrung beruhende, in körperlichen Routinen, praktischen Fähigkeiten oder Materialgespür sich zeigende vorreflexive Körperwissen der Akteure (ALKEMEYER 2010:293; eig. Herv.).

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Im Sinne einer hier eingenommenen konstruktivistischen und praxisorientierten Grundperspektive verleihen sich Spuren keine Bedeutung von selbst, nur weil sie (materialiter) sind, sondern sie bekommen erst welche verliehen, und das erst nachträglich und nur dann, wenn sie von einem Spurensucher entdeckt (SSpur A2) und in der Folge mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln semantisch (re-) konstruiert wurden. Am Ende ist es der Spurenleser, der der Spur zur Bedeutung verhilft, indem er sie nicht nur ans Tageslicht holt, sondern mehr noch durch seine tätige Exploration erhellt und solcherart zum Sprechen bringt. In einem medial gemeinten Sinne ruft also nicht die Spur den Spurenleser an, als die spurenvermittelte Anrufung vielmehr über den Spurenleser und seine spurenlesende Praxis geschieht. Neben dem anrufenden Suchen, sinnesbezogenem Finden und gedanklichem Ordnen des Spurenfeldes, ist es dabei vor allem einer Lektüre- und Interpretationspraxis zu verdanken, dass es Spuren und eine Semantik, d. h. eine oder mehrere Lesarten von ihr gibt. Denn erst die praxisbezogene Interpretationsarbeit eines Spurenlesers vermag die Spur in einen ontologischen Sachverhalt, der eine Unterscheidung zwischen Spur und Nichtspur impliziert, [zu verwandeln] (KRÄMER 2008a:87). Da das Lesen von Spuren dabei selbst weniger einem klassischen Lesen, verstanden als Ablesen und Erkennen von etwas, gleichkommt und da der Anfang aller Spurensuche somit ohne Kenntnis bzw. Erkenntnis beginnt, ist das Spurenlesen, wie hier konzeptionalisiert, schließlich mehr ein lesendes Zuerkennen als Erkennen. Indem Spurenleser im Zuge ihrer spurenbezogenen Anrufung einer aufgefundenen Handlungsspur etwas zuerkennen, fangen sie an, die Spur sich oder auch anderen verständlich zu machen. Die Verständlichmachung vollzieht sich dabei allen voran über die Semantik der Sprache und die dem Spurenleser eigenen Sprachfähigkeit, mit der er der Spur ihre Geschichte zurückgibt (HARD 1995:84), indem er ihre (mögliche) Vergangenheit in verständliche Worte zu fassen versucht, mithin Geschichten an und vermittels der Spur erzählt. Zusätzlich dazu darf aber auch die performative Qualität von Spuren (LEHMANN 2000:232) nicht unberücksichtigt bleiben, und das nicht nur im Hinblick auf die Zurücklassung, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Spurensuche. Manchmal sind es nur einfachste körperlich vermittelte Ausdrücke, eine Gestik oder Mimik, bspw. ein kritisches Beäugen, ein Fingerzeig auf die Spur, ein sich-Eingraben ins Material oder ein Nachahmen, Nachstellen der die Spur (vermeintlich) hervorbringenden Handlungen, welche zusammen dazu führen, das Unausgesprochene – die Spur in ihrer Entstehung und Genese – jenseits verbaler Sprachführung zur Sprache zu bringen. Denn: Wer Spuren liest, gräbt sich vielmehr direkt ins Material hinein. Das Material wird betrachtet, untersucht, vermessen oder gewogen, berochen oder gar geschmeckt (KESSLER 2012a:82). Demgemäß erlauben es dem Spurenleser neben all den sprachlichen also auch performative, d. h. körper- und sinnesbezogene Ausdruckformen, die an der Spur zutage getretene Unordnung in Ordnung, Unerklärliches in Erklärliches, und letztlich Ungewissheiten in materielle Gewissheiten (HOLTORF 2007:333), mithin in teilgewusstes Wissen (tacit knowledge) zu überführen. Hierbei kommt ob der Körperlichkeit der Praktiken (RECKWITZ 2003:290) dem Performativen, dem körperlich-leiblichen Nachvollzug des Spurengeschehens und der

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physisch-oberflächlich zutage tretenden Spurenlage, wenn auch im Vergleich zum Narrativieren der Spur keine Schlüsselrolle, so doch aber zumindest eine nicht unbedeutende Nebenrolle zu. Derart erlaubt es gleichwohl erst ein subjekt- und handlungsseitiges Spurenerzählen den Zugang zum Kern der Spur zu eröffnen, indem es das vergangene Handlungsgeschehen narratologisch 90 besehen aufzudröseln und damit einsichtig zu machen verspricht (vgl. HARD 1995:74; KRÄMER 2007b:172f.). Im Endeffekt führt das Spurenlesen im Ergebnis dazu, dass ein Geschehen in narrativer Form erfahrbar wird (KESSLER 2012a:104). Oder in eine Metaphorik gehüllt: Erst durch den Spurenerzähler und seine Geschichtenerzählungen wird die ansonsten dunkle Erscheinung der Spur erhellt. Wenn man so will, ermöglicht es die narrativierte Spur, mithin eine Sprach- bzw. Erzähl-Spur, als verdichtetes Bedeutungsarsenal 91, das physisch-materiell Angezeigte, die Objekt-Spur, je nachdem, aus welcher paradigmatischen Richtung man sich auf sie zubewegt, in deren semiotischen Überschuss oder Unbestimmtheit zu greifen, und positiv gewendet, in einen narrativen Fluss zu bringen – einem narrativen Fluss, der zumeist dann endet, wenn die Spur bedeutet, d. h. semantisiert ist. 92 Natürlich ist das sinn- und damit spurengenerierende Erzählen unbeachteter Handlungsrückstände keinesfalls nur uneingeschränkt Möglichkeit, sondern immer auch Unmöglichkeit. Zwar ist es dem Spurenleser möglich, die Spur und deren Geschichte entlang seiner Fragen und Interessen auszulesen und auch zu erzählen, indem er sich in die vor ihm auftuende Leere (LÉVINAS 1987:244) mit seinem vollen Bewusstsein oder implizit-verborgenem Wissen einbringt (vgl. POLANYI 1985). Letztendlich lässt das Spurenlesen am Ende aller Spurenarbeit, und dies verkennt ein semiologischer Konstruktivismus (vgl. JÄGER 2001) zumeist, aber wohl mehr Leeren, Leerstellen und blinde Flecken zurück, als es Lehren bringt. Das nicht nur deswegen, weil das ursprünglich Geschehene, was zu einer Spur führte, weithin opak scheint oder der Lauf der Dinge an der Spur selbst Spuren hinterlassen hat, 90

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Narratologisch meint hier in Bezug auf die Narratologie die besondere Inaugenscheinnahme von im- und expliziten Erzähllogiken, die dem sprachlichen Bedeuten von etwas (hier von Spuren) inhärent sind; bspw. postkoloniale, geschlechterorientierte oder ethische Erzählweisen (vgl. NÜNNING 2013). Die Erzählungen (Narrationen) fungieren dabei selbst als zentrales und ubiquitäres Muster der Formgebung, das für die menschliche Erfahrungsbildung unverzichtbar ist (NEUMANN 2013:552f.). Dass Erzählungen hierbei im Vergleich zu anderen Sprachfiguren einer ganz eigenen Logik und Binnenstruktur gehorchen, zeigt sich daran, dass sie Erfahrungen und Wissensinhalte, ungeachtet ihrer Heterogenität und Provenienz, fortwährend in einen kohärenten und kontinuierlichen Zusammenhang bringen (NEUMANN 2013:553), was so letztlich nicht nur – teleologisch gesehen – die Verknüpfung zwischen Anfangs- und Endpunkt einer Erzählung stets sinnvoll und logisch erscheinen lässt. Vielmehr werden damit fast immer auch Aspekte der Kontingenz, des immer-auch-anders-Möglichen, geschickt umgangen, weil sie – solcherart geglättet – gar nicht erst zur Sprache kommen. Die Verdichtung ergibt sich aus der engen und linearen Aneinanderreihung historisch vielfältiger Signifikanzen, die der Erzählungen erst ihre Struktur geben. Der natürlich auch dann enden kann bzw. erst gar nicht in Gang kommt, wenn eben jenes Bedeuten und Semantisieren weithin ausbleibt oder (viel schlimmer noch) erfolglos bleibt. Bei erfolgreich endender Spurenlektüre kann die Spur, wie bereits erwähnt, gleichwohl im Sinne einer eineindeutigen Bestimmung (Zeichensetzungen) zu einem Zeichen werden – die Spur als Zeichen (vgl. KRÄMER 2007b:177).

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was die Urspur (als Archetyp) in ihrer Erscheinung gänzlich oder in Teilen zum Verschwinden brachte. Die zurückbleibende Leere hat aber vielmehr wohl auch deswegen Bestand, weil im Zuge des Auslesens und sich-Einbringens, mithin Erzählens der Spur, wiederum selbst Teile der Spur oder das Spurenfeld als ganzes Ensemble betrachtet, entweder überhöht, verdrängt, verkannt, verzerrt oder gar verfälscht wurden (vgl. HARD 1995:122f.). LINZ & FEHRMANN (2005:101) meinen dann auch eine spezifische Logik von Spurenlektüren darin zu erkennen: spurkonstituierend wie spurtilgend zu sein. In diesem Sinne kann ein Spurenlesen am Ende auch nie richtig sein (REICHERTZ 2007:331), zumal es dem Spurenleser mitnichten möglich scheint, über die Richtigkeit [und Vollständigkeit; R. L.] seiner Lesart (KESSLER 2012a:214) allein zu befinden. Ferner ist das, was die Spur einst zur Spur machte, von dieser Welt, d. h. weithin entzogen, weil nicht intendiert und irreversibel vergangen, wonach das Entzogene wie auch das noch-Sichtbare und deren Lesart freilich keine vollumfängliche Beglaubigung erlangen können. Darüber hinaus macht es der selektiv verfahrende Spurensinn (Spürsinn) des spureninteressierten Subjekts unmöglich, der Spur vollends, d. h. in ihrer ganzen Gestalt und Vielschichtigkeit nachzukommen. In der Spur ist die Beziehung zwischen dem Bedeuteten und der Bedeutung nicht eine Korrelation, sondern die eigentliche Unrichtigkeit (LÉVINAS 1987:228; Herv. i. Orig.). Den kritischen Einwand von LÉVINAS hier berücksichtigend, scheint eine spurenbasierende Lektürearbeit also nicht in der Lage, die verborgene Geschichte der Spur, als der Spur des Anderen, des nicht mehr Erreichbaren, quasi Außerirdischen, vollständig aufzudecken und zu durchblicken. Egal, ob man der skeptischen bzw. negativierenden Sichtweise eines LÉVINAS bis zum Ende folgen mag oder nicht, sie gibt einem in jedem Falle zu verstehen, dass Spurenlesungen letztlich nicht dazu geeignet scheinen, objektiv erfahren zu wollen, wie es denn wirklich war, zumal sie kein objektivgültiges Letztwissen hervorzubringen erlauben wie sie auch – der Weisheit letzter Schluss – nicht dazu geeignet scheinen, zu der historisch wirklichen Wirklichkeit an sich zurückzukehren. In ihrem Innersten und Ursprünglichsten bleibt die Spur dem Betrachter gleichsam verborgen, was A1) einer jeden Handlungsspur nichts anderes heißt, als dass der Ursprungskern (A für alle Zeit grosso modo unerreichbar und damit schließlich auch in Teilen unverstanden bleiben muss. LÉVINAS gibt hiermit, wenngleich nicht derart deutlich, ebenso einen Hinweis darauf, dass alle Spurenbedeutungen schlussendlich nicht die wirkliche Spurenwirklichkeit bedeuten können, als eher nur die, unter der je gegenwärtig ein Erfahren oder, ihm entsprechend, genauer ein Widerfahren der Spur geschieht. Sowenig wie es nur die eine Spurenwirklichkeit geben kann, sowenig kann es am Ende einer jeden Spurenlektüre folglich nur die eine, singulär feststehende Spuren-Bedeutung geben. Vielmehr gibt es viele Ansichten und Bedeutungen und auch (mögliche) Anlässe um Spuren überhaupt, nochmal oder ganz aufs Neue zu lesen – mindestens so viele, wie es Spurenleser, Motivationen Spuren zu lesen oder bereits realisierte Spurenlesungen gibt. Dem Axiom der Polysemie von Spuren (vgl. Kap. 3.3.7) in Bezug auf das eigene Konzept Rechnung tragend, wird auch im Rahmen des geohistorischen Spurenlesens der Ansicht gefolgt, dass Spuren, Spurenlesungen und Spurenbedeutungen

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sich durch eine gewisse Zirkularität 93, Pluralität und auch Kontingenz auszeichnen, da sie aus vielfältigen und vieldeutigen Zusammenhängen immer wieder heraus ihre, immer auch anders mögliche Entdeckung, Artikulation und Geltung erfahren können (vgl. KESSLER 2012a:54). Mitnichten soll damit einem referenzlosen Flotieren der Zeichen (KRÄMER 2007a:13) und damit korrespondierend, einer konventionalisierten Semantik (KRÄMER 1998:79) das Wort geredet werden, wonach Zeichen als arbiträr, d. h. als beliebig, willkürlich und lose zum Bezeichneten angesehen werden müssten. 94 Ein Spurenparadigma und ein hieraus zu entwickelndes geohistorisches Spurenlesen versucht allerdings zu alledem einen Gegenpunkt, gegen jene Referenzlosigkeit allen Zeichenhaften zu setzen, welche im Symbol bisher ihre gängigste Übersetzung und in BAUDRILLARDs Simulakren95 (1978:14) 93

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Mit dem Terminus der Zirkularität der Spur ist gleichsam die Nähe zu LATOURs zirkulierenden Referenz (LATOUR 2000a) hergestellt. LATOUR versteht darunter, dass Sinnzuschreibungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen ständig kreisen. Gemäß dem LATOURschen Parlament der Dinge (LATOUR 2001) wird hierbei vor allem auch nichtmenschlichen Wesen zugestanden, eine Stimme zu erheben oder abzugeben, um sich und ihre Existenzweise (LATOUR 2014) und auch ihre Geschichtlichkeit selbst äußern zu können. Nicht zuletzt aufgrund der fragwürdigen Eigenmächtigkeit bzw. Eigensinnigkeit, d. h. der zugestandenen Stimm- und damit Handlungsfähigkeit der Dinge wurde und wird der LATOURschen Sicht der Dinge, trotz seiner innovativen Denkanstöße zur Überwindung eingefahrener Natur-Kultur-Dichotomien, und damit auch der von einem Spurenparadigma forcierten Überwindung eines entweder-oder-Denkens, aber verständlicherweise auch jede Menge Kritik entgegengebracht (vgl. RAMMERT & SCHULZ-SCHAEFFER 2002; RECKWITZ 2003:298). In spurenparadigmatischer Sicht ist es indes im Sinne eines sowohl-als-auch-Denkens gewiss richtig, Dingliches und Menschliches auf ein gleichberechtigtes Tableau zu heben. In letzter Instanz ist es jedoch – versteht man Spuren als genuine Handlungsspuren – richtiger, weil zielführender, die Spur gezielter in ihrer Handlungs- und Praxisabhängigkeit sowohl beim Hinterlassen als auch Auffinden zu verfolgen. Damit muss dann an dieser Stelle auch HARDs Spurenargumentation in Teilen widersprochen werden, der den Fall denn ein wenig anders sieht: die Bedeutungen der Spuren (die Relationen zwischen den Spuren und ihren Bedeutungen) sind ihm [dem Spurenleser] vielmehr durchaus vorgegeben; es handelt sich ja um soziale Institutionen. Die Bedeutung einer Spur ist arbiträr (willkürlich, beliebig, indeterminiert, auch-anders-möglich) nur im Hinblick auf das materielle Substrat (die Spur im eigentlichen Sinn). Kurz: Das Signifikat ist hochgradig unabhängig von der Natur des Signifikanten […] (HARD 1989:6; Herv. i. Orig.). HARD lässt so unter der Hand (in der Manier DE SAUSSURES) die Spur zum Symbol, und damit zum Zeichen werden. Dass die Spur aber von vornherein kein arbiträres Zeichen (Symbol) darstellt und in ihrer Bedeutung sozusagen keineswegs autonom ist, in der Art, dass sie bei der Spurenlese einfach ihre symbolische Bedeutung erhält, ist hier wichtig anzumerken. Denn die Spur präsupponiert keine Bedeutung. Als Anzeichen deutet sie allenfalls auf etwas Vorgängiges hin, ohne es jedoch schon signifikativ vorgegeben zu haben. HARDs eindimensionaler Spurenblick mag dann wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass er seinerzeit nur die Ansichten und Argumente eines Indizienparadigmas (s. GINZBURG) rezipierte, das von einer immer möglich gegebenen Entschlüsselbarkeit beim Spurenlesen ausging. Seine Rezeption richtete sich aber eben nicht auf das am anderen Ende des Diskurses aufgestellte Entzugsparadigma und dessen negativierenden Spurenansichten (s. LÉVINAS). Die dazu passende Textstelle bei BAUDRILLARD: Simulakrum bedeutet, daß es sich niemals gegen das Reale austauschen läßt, sondern nur in sich selbst zirkuliert, und zwar in einem ununterbrochenen Kreislauf ohne Referenz […] und Umfang (BAUDRILLARD 1978:14).

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wiederum wohl ihre speziellste Zuspitzung erfahren hat. Mit der zirkulären Verfasstheit der Spur soll indes zum Ausdruck gebracht sein, dass es das fortwährende Wechselspiel zwischen einem spurenlesenden Subjekt und einem erlesenen Spurenobjekt ist, worüber auf Grundlage von Handlungspraktiken so etwas wie eine Spur in ihrer Ding- und Tiefensemantik ihre (kontingente) Bedeutung erfährt. Dergestalt verschwistern sich in der Spur die Dinghaftigkeit von Markierungen mit dem Tätigkeitscharakter des Spurenlesens (KRÄMER 2007b:159), insoweit es jeweils körperlich-materiale Anstöße, subjektive Interessen und handlungs- bzw. praxiskulturelle Motivationslagen zur Spurenlese und Spurenbedeutung sind, welche zusammengenommen die zentralen Bausteine, Kontexte und Bedingungen für das konstitutive Spurendasein bilden. 4.2.2

Spurenlese(r)typen

Mit den zuvor gelieferten Einsichten zu Handlungsspuren lassen sich nun auch entsprechende Typen, Veranlassungen, Absichten und eben auch Handlungskontexte sowie Praxisfelder identifizieren und differenzieren, die allesamt sowohl ein Spurenlesen anregen, befördern wie auch einen typischen Spurenleser als solchen ausmachen. Eine Auswahl möglicher Spurenlese(r)typen findet sich nachfolgend: • • • •

alltäglicher Spurenleser detektivischer Spurenleser wissenschaftlich-gelehrter Spurenleser Spurenleser der Spurenleser

Jeder der hier idealtypisch entworfenen Spurenakteure steht jeweils für ein Praxisfeld, in dem das Spurenlesen seine situative Umsetzung erfahren kann.96 Da wäre zuallererst der alltägliche Spurenleser, der Spuren in Alltagssituationen mitunter ganz unbedarft nachgeht, indem er sie flüchtig aufliest, ausliest und wenn es ihm passend erscheint, in sein Tun einbindet. Nebstdem lässt sich, als zweiter Typ Spurenleser, der detektivische Spurenleser benennen, der qua Profession Spuren ganz 96

Siehe hierzu auch HARD, der zwischen naiven und verführbaren, gutgläubigen und detektivistisch-trainierten, […] wachsam-böswilligen Spurenlesern unterscheidet (HARD 1993:83). Gewiss gäbe es noch viele andere mögliche Situationen, Praxisfelder und damit auch Typen von Spurenlesern, die hier hätten aufgeführt und feingliedriger unterschieden werden können; so bspw. ein an Symptomen interessierter medizinischer oder psychoanalytischer Spurenleser oder kulturspezifische Spurenspezialisten wie Schamanen, Bengalen o. Ä. (vgl. ECO 1985:298; GINZBURG 1988c:117). Siehe hierzu ebenso REICHERTZ' Typologie von Spurenlesern, welche von Berufswegen her alle ein Lesen von Spuren praktizieren; hier konkret das von ihm gebrachte Beispiel der spurengeleiteten Auslesung einer Speisekarte und ihrer verdächtig günstigen Preise durch einen Ökonomen, Soziologen und einen Polizisten (REICHERTZ 2007:309f.). Das Festlegen von Idealtypen bringt letztlich immer bestimmte Setzungen (und Absetzungen) mit sich. Mit der obigen Setzung meint der Autor aber indes ein breites Spektrum einer vielgestaltigen Spurenpraxis – gewiss in stark verallgemeinernder Form – erfasst zu haben.

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gezielt verfolgt, indem er sie in undurchsichtigem Terrain sucht, aufgreift, inspiziert und nicht zuletzt für die Lösung von Rätseln für sich dienstbar macht. Der dritte, der wissenschaftlich-gelehrte Spurenleser geht hingegen auf unterschiedlichen akademischen Untersuchungs- und Betätigungsfeldern epistemisch noch unentdeckten oder unerklärlichen Phänomenen (empirisch und/oder theoretisch orientiert) auf den Grund. Der Spurenleser der Spurenleser, als vierter und letzter im Bunde, interessiert sich mehr als alle anderen Spurenleser zuvor für die Praxis des Spurenlesens selbst und damit auch für das Tun der Spurenleser und deren Eigenarten. Im Rahmen der eigenen Forschungsausrichtung kommt ersterem, dem alltäglichen Spurenleser, mit Blick auf den eigenen Forschungsgegenstand bzw. Anwendungsfall (s. Kap. 6), und – bezogen auf die eigene Forscherrolle – vor allem letzterem Typus, dem Spurenleser der Spurenleser, eine besondere Relevanz zu. Natürlich ist es von einer mikrologischen Grundperspektive her gesehen gewiss auch eine detektivische Spurensuche und dem eigenen Selbstverständnis nach, gewiss auch eine wissenschaftliche Spurenlese, die bei alledem mitschwingt. Da es in dieser Arbeit aber weniger – beide zusammengenommen – um eine wissenschaftsdetektivische Suche nach unbekannten epistemischen Dingen geht (vgl. LATOUR 2000a/b; RHEINBERGER 1992), als vielmehr um alltägliche (Handlungs-)Spuren und damit mehr noch um die Spurenleser des Alltags, ist es gleichwohl die Alltäglichkeit des Spurenlesens gepaart mit dem Nachvollzug dieser Alltäglichkeit in ihrer Praxis, worauf sich das Hauptaugenmerk alles in allem hin ausrichtet. Denn wenn man sich in Anbetracht der Typen und Kontexte von Spurenpraxen noch einmal vergegenwärtigt, dass Spurenleser (Laien wie Experten) durch deren direkte Involviertheit (KOGGE 2007:183) nicht nur Finder einer unbekannten Spur sind, sondern durch ihre primären Semiotisierungsleistungen (Interpretieren, Erzählen, Vorausdeuten) zugleich auch zu deren Erfinder werden, indem sie es selbst sind, die die Spur aufdecken, dann kann das geohistorische Spurenlesen nicht zuletzt dazu beitragen und gemäß einer Heuristik dazu hilfreich sein, das Spurenlesen und den Spurenleser tiefgründiger erforschbar und verstehbar zu machen. Über jenen vierten Typus Spurenlese(r) wäre letztendlich die Möglichkeit geschaffen, die Tür zur Welt des Spurenlesers (HARD 1995:70) weiter, d. h. weiter als bisher aufzustoßen. 4.2.3

Spuren(lese)logik: dem Spurenleser beim Spurenlesen folgen

Die Welt des Spurenlesers zu verstehen lernen hieße, sich noch stärker von jener grundlegenden konstruktivistischen, praxistheoretischen wie phänomenologischen Maxime leiten zu lassen: dass sich Spurenleser ihre Welt aus Spuren zumeist selbst schaffen, weil sie und nun mal nur sie es sind, die Spuren auf der Spur sind. Spurenleser schaffen sich ihre Spuren-Welt jedoch nicht allein dadurch, dass sie Spuren finden und (oberflächlich) aufdecken. Sie schaffen sich eine Welt aus Spuren vielmehr dadurch, indem sie Spuren aktiv lesen, deren (verborgenen) Geschichten erzählen und bedeuten. In dem Moment, in dem sich ein Spurenleser daranmacht, die Geschichte einer Spur zu erzählen und zu bedeuten, erzählt und bedeutet er im Grunde genommen nicht so sehr die Geschichte der Spur an sich, zumal sie weithin

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vergangen und irreversibel entzogen scheint, als vielmehr seine ganz persönliche Spuren-Geschichte, indem er sich und seine Sicht der Dinge in die Spur hineinprojiziert. Indem ein Spurenleser die Spur kontextbezogen nach etwas befragt, sendet er etwas an die Spur aus, wohingegen die Spur selbiges – rein ontologisch begründet – nicht zu tun vermag, derentwegen sie, in Umkehrung des klassischen Botenmodells (KRÄMER 2008b:283), letztlich nur zum Empfänger des vom Spurensucher Gesendeten werden kann, aber eben nicht Antwortgeber oder Sender selbst. Was die Spur bei der Spurenerzählung empfängt, hat dann meist weniger, wie zuvor schon mehrmals betont, mit ihr selbst, als etwas Dinghaftem, als vielmehr mit dem Spurenleser und seiner Spurenpraxis zu tun, also mit seiner Geschichte, seinem Hintergrund und seinem (handlungspraktischen) Interesse an Spuren. So übersieht man in der Diskussion um unlesbare (An-)Zeichen immer allzu leicht, dass das Lesen von Indizien am Ende vor allem etwas über den Indizienleser selbst sowie sein Publikum aussagt. Semiotisch gesprochen heißt das, alle Zeichen aus der Vergangenheit sind kontextspezifisch kodiert […], aber Kontext und Code sind die des heutigen Betrachters – ohne ihn gäbe es die Zeichen [als Spuren; R. L.] womöglich gar nicht […]. (HOLTORF 2003:541)

Derart verraten Spuren im Zuge ihres Auslesens bei genauerem Hinsehen immer auch etwas über die Person des Spurenlesers, über seine präferierten Arten des Sehens, Lesens und Kodierens. In gleicher Weise geben sie etwas über die habituellen Handlungsgewohnheiten (BOURDIEU 1979:139ff., 1997b:59−79), die ästhetischen Vorlieben sowie zu guter Letzt auch etwas über die soziale oder auch akademische Umwelt zu verstehen, in der der Spurenleser – als bspw. Geograph oder HobbyArchäologe – und seine Spurensuche sozio-kulturell eingebettet sind (HOLTORF 2003:540f., 2007:350). Was Spuren allerdings nicht so sehr tun, so sie denn überhaupt etwas tun, ist, über sich und ihre Herkunft etwas selbst preiszugeben. Die Spur gerinnt gleichsam zum objekthaften Gegenüber, zum materialisierten Spiegelbild des Spurenlesers und seines Umfeldes. In diesem Sinne können Spuren resonant wirken (vgl. ROSA 2012, 2016), indem sie uns, nachdem wir ihnen ein- oder mehrmalig etwas zugesendet haben, wieder etwas zurücksenden; etwas, was wir vielleicht so nicht ohne Weiteres entdeckt hätten oder zu dem wir nicht ohne Weiteres in Beziehung hätten treten können. 97 Spuren stehen in ihrer physischen Beschaffenheit schlussendlich also mehr im Verhältnis zur Erfahrungsaufschichtung (Biographie) des die Spur lesenden Subjekts, als zu ihrer eigenen (morphologischen) Aufschichtung. Erfahren wir über das Auslesen unbekannter Dinge im Sinne einer resonanten Selbstreferenzialität doch letztlich mitunter mehr über uns 97

Resonant ist hier keineswegs mit stimulierend oder reizend gleichzusetzen, wie man es in kognitivistischer bzw. behavioristischer Denktradition zu tun geneigt wäre. Resonant meint eher widerhallend, ein Widerhall der vom sendenden Medium – hier dem Spurenleser – über die Spur wieder zum Sender zurückwirkt. Zum Begriff der Resonanz siehe genauer die von Hartmut ROSA in den letzten Jahren entwickelte Gesellschaftstheorie und zugleich Gesellschaftskritik (ROSA 2012, 2016). ROSA begreift mit dem Begriff der Resonanz in sozialphilosophischer Manier eine zeitdiagnostische Figur, die ein Ausdruck dafür abgibt, wie wir derzeit in ein neues (resonantes) Weltverhältnis getreten sind, dessen kontradiktorischen Ankerpunkte in der Entfremdung/»Nicht-Entfremdung sowie in der Beschleunigung/»Entschleunigung gleichermaßen liegen.

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oder eben auch den Anderen 98, über die uns fremde oder die uns eigene Sozialwelt und zu guter Letzt über unser der Welt zugewandtes Tun, als über die (verloren gegangene) Welt der Spuren an sich. Sofern man es eben nicht ontologisch, sondern autologisch angeht (HARD 1995:139), lässt sich das Spurenlesen solcherart als ein Konzept sowohl zur Selbst-Beforschung, mithin zur Erforschung der Praktiken des Selbst (RECKWITZ 2003:293) als auch zur Untersuchung bisher weithin unbeachteter Praxisformen (BOURDIEU 1979:139) formulieren. Eine entsprechende Forschungslogik, die sich daran anschließen würde, wäre dann so auf den Punkt zu bringen: dem lesenden Spurenleser beim Spurenlesen lesend auf der Spur. 99 Um dieser Vorgabe Rechnung zu tragen, bedarf es in einem vorhergehenden Konzeptionalisierungsschritt zuerst einer hermeneutischen Wendung (HARD 1991:145). Einer Wendung, welche in stärkerem Maße in einen Reflexionsgrad umschlagen müsste, von dem aus das subjektive Semiotisieren, also das Lesen und Erzählen von Spuren in seinen Eigen-Logiken erst konzeptionell fassbar und damit auch erst forschungspraktisch nachvollziehbar sein dürfte. Das Nachvollziehen des praxisbezogenen Spurenbedeutens, als gewendete Blickverschiebung auf Spuren, würde in erster Linie zur Folge haben, dass bei der Bedeutungssuche, -erschließung und -setzung durch den Spurenleser fortwährend eine Selbstbezogenheit sowie Selbstreflexion, also eine entsprechende Reflexion auf sich selber (HARD 1989:9) im Vordergrund stünde. Hermeneutisch gedreht, wäre dann das zu hinterfragen, was der Spurenleser bezogen auf sein Selbst während einer Spurenlese (bewusst oder unbewusst) einbringt bzw. preisgibt und inwieweit dieser Selbstbezug das Endresultat einer Spurenlese beeinflusst und zu welchen Teilen. Derart ist die Frage nach dem, was die Spur denn zu bedeuten hat, umzukehren in die Fragerichtung, was diese oder jene Spur für den Spurenleser bedeutet und welchen besonderen Wert die Ding-Spur für ihn persönlich hat. Insofern muss ein jeder Spurenleser sich fragen oder wenigstens fragen lassen, warum z. B. gerade diese Spuren die Spuren seiner Wahl sind (und warum nicht ganz andere) (HARD 1990a:50). Das Spurenerkunden entwickelt sich hiernach schlussendlich mehr zum reflexiven Erkunden des Selbst, des Subjekts auf körperlich-materialer Grundlage und Verbindung zu den Spuren-Objekten, denen es sich zuwendet, aber eben nicht vice versa. In dieser Hinsicht wird der Spurenleser folglich mehr zum Hermeneutiker in eigener Sache (HARD 1995:125), aber, und das ist hier besonders hervorzuheben, eben nicht so sehr in fremder Sache. Denn: Da man im Zuge des Erspürens vergangener Lebenszeichen und der damit zutage tretenden Ungewissheiten mehr auf sich selbst 98

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Der Andere, verstanden als der, der nach LÉVINAS für die Spur in erster Instanz verantwortlich ist, weil er sie in die Welt gebracht hat. Der Andere kann hier aber auch vor dem Eindruck eines postcolonial turn als der verstanden werden, den wir beim identitätsstiftenden Entwurf unseres Selbst zugleich immer auch als das das Eigene vergewissernde Andere, das fremde Gegenüber entwerfen; siehe zur Diskussion einer postkolonialen Wende genauer BACHMANN-MEDICK (2006:184−238). Oder in systemtheoretischer Terminologie ausgedrückt: den beobachtenden Beobachter beim Beobachten beobachten; in Entsprechung zur Beobachtung 2. und 3. Ordnung nach LUHMANN (2009:104). Siehe hierzu ganz ähnlich die bereits unterbreiteten Überlegungen von REICHERTZ (1991:172ff.).

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zurückgeworfen scheint, als man mehr mit den eigenen Sehgewohnheiten (u. a. Natur-, Geschichts- und Weltansichten) und des in-die-Welt-Gesetztseins konfrontiert wird, als mit der absenten Entstehungsgeschichte von objekthaften Zeichen, ist die geohistorische Suche nach Spuren schließlich weniger die Suche nach den Dingen an sich, als vielmehr mehr die Suche eines Spurensuchers nach sich und seiner Spurenwelt. Hebt man die Spurenlese in dieser Art und Weise auf eine 2. und 3. Beobachtungs-/Reflexionsebene, dann ist damit schlussendlich die Tür zu den zuvor benannten Spurenwelten aufgestoßen, mithilfe derer nun die subjektiven Erfahrungswelten derjenigen aufgespürt werden können, die sich am Spurenlesen üben und dadurch Spuren immer wieder erst entstehen lassen. Ungeachtet der Tatsache, dass Spuren in ihrer Prädiskursivität noch kein semantisches Äquivalent (Zeichen) besitzen und derentwegen eigentlich keiner um sie weiß, bringt der Spurenleser gleichwohl immer schon etwas mit (spätestens nach der Spurenlese auch etwas hervor), was das bisher Unbezeichnete und Ungewusste zu bezeichnen, zu bedeuten und letztlich auch zu wissen hilft (vgl. KRÄMER 2008b: 283). Damit ist nicht nur die sensitive oder (körper-)sprachliche Gewandtheit gemeint, die wir zum Spurenerkunden zumeist alle mit dabeihaben und die es schlussendlich auch braucht, um das physisch Unverstandene erst wahrnehmungspsychologisch, kognitiv und sprachlich übersetzen zu können. Hiermit ist vielmehr, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ein tendenziell stummes Wissen (GINZBURG 1988c:116) gemeint, was so, wenn noch nicht explizit, so doch wahrscheinlich bisher allenfalls nur leise, d. h. implizit seine Artikulation erfahren hat. Stoßen wir am Ende durch die Resonanz der Spur beim Spurenlesen nicht in Teilen doch auch auf etwas, was wir (vermeintlich) schon wissen, was wir bei uns oder in uns haben, was wir irgendwie schon einmal so oder so ähnlich erkannt bzw. erfahren haben? Ist man also nicht schon im Vorhinein geleitet und bestimmt davon, scheinbar zu wissen, auf was für Spuren und Spurengeschichten man am Ende der getanen Erschließungsarbeit trifft? Es ist davon auszugehen, dass wissenschaftliche wie alltagsweltliche Spurensucher gleichsam schon immer etwas mitbringen sowie in die Spurenlese einbringen, wonach sie der Spur und dem Spurenerkunden keineswegs unbedarft oder vollkommen unwissend gegenüberstehen. Dies betrifft zum einen das sozial-kulturell geprägte Vor-Wissen, zum anderen aber auch mehr oder minder eingeübte, teilshabitualisierte Kulturtechniken und nicht zuletzt auch semiotisch-latente Mechanismen, auf die eine Spurenpraxis dann doch immer auch in bewusst unbewusster Weise Bezug nimmt. 100 Spuren setzen also Sprach- und Interpretationsgemein100 HARD hat dies an der Sportart Fußball und einem Fußballfeld (als Spurenfeld) schon einmal deutlich gemacht: Nur wer weiß, was ein Fußballspiel ist, hat die Chance, irgendwo (z. B. in der Vegetation) die Spuren von Fußballspielern zu erkennen. Nur wer die betreffende Kultur und ihre Semantik kennt, sieht Spuren (HARD 1990a:23). Ähnlich dazu äußern sich auch SCHERKE & MITTERBAUER: Die Spur allein ist niemals aussagekräftig, sie benötigt ein erkennendes Subjekt und sein Kontextwissen über das Milieu, in dem die Spuren entstanden sind, um mit Sinn aufgeladen werden zu können (2009:9). Letztlich ist das Lesen, wie dies RECKWITZ (2003:286) seinerseits betont, eine höchst voraussetzungsreiche Tätigkeit, die zwar von

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schaften, Bedeutungs- und Relevanzsysteme voraus (HARD 1990a:27) wie sie sich wiederum und schlussendlich auch als Spuren eines biographisch gewachsenen, zuweilen sehr subjektiven und intimen Engagements, eines personal knowledge und einer tacit dimension des Wissens [erweisen] (HARD 1993:106). Wie wir seit LATOUR & WOOLGAR (1979) und anderer ihnen folgenden Wissenschaftsforschern (vgl. KNORR CETINA 1991; RHEINBERGER 1992, 2007) wissen, ist es selbst experimentell arbeitenden und an wahrheitsfähigen Aussagen interessierten Naturwissenschaftlern (s. Typ wissenschaftlich-gelehrter Spurenleser) nicht vollumfänglich möglich, selbst an so sterilen Orten, wie dem Labor, sich, mithin eigene Erfahrungen, Wissenskulturen und ihre gesellschaftlichen Hintergründe aus der Suche nach bisher unbekannten Dingen und deren angestrebten objektiven Erschließung herauszuhalten. Sich und seine Kultur- und Lebenswelt aus der Spurenbetrachtung komplett auszublenden, scheint nach den bisher formulierten Annahmen also schwer bis und unmöglich zu sein, was sich insbesondere bei alltagsweltlichen Spurensuchern und Spurenlektüren wohl am einfachsten nachvollziehen lässt; aber eben nicht nur da, sondern auch bei gelehrteren Formen der Spurensuche (vgl. LATOUR 2000a/b). Ungeachtet aus welcher Profession und Situation heraus Spuren nun gelesen werden, der hier idealtypisch entworfene Spurensucher projiziere und kompensiere sich beim Spurenlesen [immer] selber, suche also, was er irgendwie schon kenne (HARD 1995:92). Geht man noch einmal an den Anfang aller Spurensuchen (also vor die Spurenentdeckung A2), dann geben einem allein schon beim Entschlussfassen, etwas oder jemandem auf die Spur zu kommen, vorhergehende positiv oder negativ konnotierte Erfahrungen gleichsam etwas mit bzw. an die Hand, um den Entschluss, eine Spur zu suchen, schlussendlich in die Tat umzusetzen.101 Im Hinblick darauf spielen vor allem bei der verwirklichten Tat, dem Erschließen von Spuren, eigene Erlebnisse, frühere Resonanzen, persönliche Emotionslagen oder (verborgene) Wissensbestände eine zentrale Rolle, da sie unterschwellig an der Objekt-Spur und deren Auslesung greifen. Aber anstatt danach zu fragen, welches Wissen schon da ist, um der Spur praktisch Herr zu werden, gilt es angesichts der an der Spur zutage tretenden Unwissenheit wohl eher danach zu fragen: welches Wissen in einerbestimmten sozialen Praktik [wie dem Spurenlesen] [gewissermaßen erst bzw. erstmalig] zum Einsatz kommt (RECKWITZ 2003:292; eig. Einschub). In dieser Hinsicht wandelt sich eine spurenbasierende Objektivierung (materiale Bestandsaufnahme) allmählich in eine spurenbezogene Subjektivierung (subjektbezogene BeEinzelnen in Einsamkeit vollführt wird, aber selbst von diversen sozial-kulturell eingespurten bzw. kollektiv geformten Gewohnheiten durchzogen ist. 101 So kann es in Ausnahmefällen gewiss auch vorkommen, dass ganz gezielt ein passender Gegenstand zu einer Bedeutung gesucht [wird] (KESSLER 2012a:98), indem Spurengegenständen gefolgt wird, die zur Lesart und dem Gesuchten passen. Exemplarisch hierfür stünde z. B. eine geschichtliche Erwähnung eines Artefakts oder eines Ortes, dessen dingliche Erscheinung noch im Verborgenen weilt, noch nicht aufgefunden werden konnte, was eine Spurensuche solcherart enorm befeuern kann; siehe hierzu u. a. die historische Suche nach Troja, die durch Homers historiographische Schilderungen neben Schliemann schließlich auch viele andere Archäologen dazu anregte, sich auf die Suche nach der verschollenen Stadt zu begeben.

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standsaufnahme) um (vgl. HARD 1995:140). Jene subjektiven Spurungen an der materialen Spur können sodann u. a. Aufschluss darüber geben, wie es um die sozial gerahmte Erfahrungs- und Gefühlswelt des Spurenlesers bestellt ist und welche Bedeutung den gefundenen Gegenstände im Hinblick auf die Konstitution und Reproduktion persönlicher oder gruppenspezifischer Gedächtnisbestände zukommt. Obgleich ein Spurenlesen idealtypischerweise unvoreingenommen ablaufen sollte, um nicht nur ein Zeichenlesen zu sein, tragen wir bei den intuitiven, explorativen, emotionalen und teils wilden Semiosen an Spuren freilich immer schon ein Gepäck von bereits inkorporierten Spuren von praktischem Wissen (RECKWITZ 2003:292) mit uns herum, und das, ohne sie derart vielleicht schon einmal wahrgenommen, geschweige denn in irgendeiner Art und Weise reflektiert oder kommuniziert zu haben: die Rede ist von semiotischem, methodischem oder prozeduralem Wissen und, zudem noch wichtiger, von personalisierten Erinnerungsspuren102 sowie kollektivierten Erinnerungsmustern (JUREIT 1999a).103 Das an Spuren sich vollziehende Wechselspiel zwischen Sehen und Wissen (LANZMANN [1985]2000: 103f.) ist inhärenter Bestandteil einer jeden Spurenpraxis, wenngleich sich das 102 Erinnerungsspuren, wie sie zuvor unter Rekurs auf FREUD (1924) als engrammatische Einschreibungen einmal erfahrener Erlebnisse und Dinge in das individuelle Gedächtnis (Wunderblock) bereits beschrieben wurden; je ergreifender eine Erfahrung ist, umso eindringlicher und dauerhafter kann sie sich als eine Erinnerungsspur im Gedächtnis einschreiben und halten, aber umso schwieriger ist es dann mitunter auch, sie im Sinne der FREUDschen Psychoanalyse freizulegen und zu ergründen. 103 Dazu passend ein Textauszug aus dem autobiographischem Roman Weiter leben von Ruth KLÜGER (2012): Gewiß, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier oder Sensationslust kommen, zu den alten Lagern [von Auschwitz; R. L.], aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht (KLÜGER 2012:75; eig. Herv.). KLÜGER spielt an dieser Stelle ihres Romans auf die Eigenwilligkeit von Spurensuchen und -suchern im Hinblick auf Orte des Schreckens wie Auschwitz an. Die Eigenwilligkeit liegt ihrer Ansicht nach darin, dass man gemeinhin glaubt, vor Ort (an ehemaligen Konzentrations- und Todeslagern) die Vergangenheit irgendwie dinghaft, oberflächlich oder besser noch, in ihrer ortsauratischen Wirkung erspüren zu können. Was man jedoch bei alledem erspürt, KLÜGERs Gedanken bis zum Ende gehend, ist jedoch nicht so viel auf die Vergangenheit des Ortes und seiner Ortsgeschehnisse zurückzuführen, sondern auf das diskursive und erinnerungskulturell geformte Wissen hierum. Dazu passt schließlich auch ein Fall, den HARD (1993a:103f., 1995:170ff.) in seinen Spurenveröffentlichungen des Öfteren beschreibt. Innerhalb einer Gelände-Exkursion sollten Geographie-Studierende der Universität Osnabrück Vegetationsbestände und -befunde auf einer Industriebrache aufnehmen und pflanzensoziologisch untersuchen. Am Ende der Geländeübung stellte sich für HARD und alle anderen Anwesenden überraschend heraus, dass ein Student nicht so sehr den Pflanzen nachging, als vielmehr einer anderen Sache, auf die er im Gespräch mit einem Anwohner gebracht wurde. Er las das Gelände nämlich nicht (wie alle anderen) als vegetationsgeographisches Terrain, als vielmehr als zeitgeschichtliches Dokument, das ihn letztlich auf die Spur zu einem ehemaligen Zwangsgefangenenlager, genauer – wie er im Gespräch mit dem Anwohner erfuhr – einer Russenbaracke brachte. Einer Russenbaracke, die an Ort und Stelle einst stand, in einzelnen (Fundament-)Resten noch erspürbar war und die dem auf Abwegen befindlichen Spurensucher, veranlasst durch den Anwohner-Hinweis, tiefer bohren ließ. Nach HARD übte sich der studentische Spurenleser solcherart am Fremdgehen, was ihn schließlich dazu brachte, die Spur nicht im Gelände, sondern in einem Bericht über das Gelände zu suchen (HARD 1995:179).

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(entfernte) Wissen um und das (direkte) Sehen von Spuren zu aller Anfang weniger durch einen expliziten als vielmehr durch einen impliziten Beziehungscharakter auszeichnen. Oder anders gewendet: Die Spuren-Bedeutung und das implizit vorhandene spurenbezogene Praxiswissen werden erst aus der Praxis heraus geboren (auch wiedergeboren), also aus dem sehenden Erfahren bzw. Erspüren der Spur, womit beides in zeitlicher Kontingenz und damit immer auch in gewisser Unvorhersehbarkeit zusammen in Erscheinung treten kann (vgl. RECKWITZ 2003:294f.). Das Reflektieren und Verbalisieren des Eigenen, der eigenen Spurenwelt – und des Anderen, der anderen Spurenwelt – im Prozess und der Praxis des Spurensehens und -lesens scheint demnach dazu zu dienen und davon geleitet zu sein, zu erfahren, inwieweit und in welchem Umfang das spurenkonstituierende Sehen und Lesen von situativ variierenden und subjektiv verborgenen wie kollektiv latent geteilten Ansichten, gemachten Erfahrungen, übermittelten Wissensinhalten oder selbst eingeschriebenen Erinnerungen durchdrungen ist, zu deren Ebenbild die objekthafte Spur im Zuge der Spurenlese schließlich selbst avanciert: In irgendwelchen kollektiven und personalen Gedächtnissen werden diese schönen Geschichten abrufbar aufbewahrt; dort warten sie sozusagen wie arbeitslose Schauspieler auf ein neues Engagement, und bei ihrem neuerlichen Auftritt verleihen sie dann den neuen Spuren des Spurenlesers (oder den neuen Gegenständen des Wissenschaftlers) einen alten Glanz und ein oft ungeheures (bei Licht besehen, absurdes) Gewicht, aber eben das ist es ja, worauf Spurenleser und Wissenschaftler aus sind. (HARD 1995:158)

Natürlich ist dieses vorgelagerte und semantisch durchwirkte Spurenwissen, wie dies HARD zuvor beschreibt, nicht misszudeuten mit einer Beschränkt-, Festgelegtund Abgestumpftheit eines konventionell geprägten semiotischen Blicks, wo immer alles schon geregelt und festgelegt ist und wo Zeichen schon immer für etwas gehalten werden (was sie selbst nicht sind). Die Spur(lesung) birgt durch ihre Offenheit im Gegensatz zu herkömmlichen Zeichen(lesungen) letzten Endes sowohl etwas Neues, Ungewusstes oder Unerfahrenes in sich, wie es immer auch etwas Altes, Überdauertes, weil schon Gewusstes oder Erfahrenes, mit sich führt. So ist der geneigte Spurenleser aufgrund seines angehäuften Wissens, seiner erlernten Interpretationskunst, seiner erfahrenen Erlebnisse und seiner encodierten Erinnerungen sowie seiner (auch ästhetischen 104) Erfahrung mit den Dingen im Hinblick auf das Spurenlesen einerseits gefestigter, geprägter und versierter Hermeneutiker, aufgrund seines noch-nicht-Wissens und noch-Erfahrens aber eben auch ein im Schwanken begriffener Unterstellungshermeneutiker (HARD 1990a:48), der am Ende über Spuren mal mehr mal weniger vorsichtig und in Bezug auf sich Selbst nachsinnt. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich letztlich nicht nur eine jede Spurenpraxis auf. Hierüber spannt sich auch das Spurenfeld als Forschungsfeld auf. In jenem sich eröffnenden Praxis- und Forschungsfeld liegt letztendlich jener zuvor 104 Zur Ästhetik der Spur hat sich HARD bereits umfassend geäußert. Ihm zufolge besitzen Spuren einerseits einen ästhetischen Mehrwert, der sich als etwas augenfällig Schönes erblicken lässt. Andererseits vermag eine ästhetische Betrachtung die Lektüre von Spuren immer auch fehlleiten, indem man sich vom Schönen allzu sehr verzaubern lässt, ohne den eigenen Anteil an der spurengeleiteten Verzauberung vernommen zu haben (HARD 1995:138ff.).

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offerierte tiefergehende Zugang zu den Spurenwelten der Spurenleser begründet, über den nun die verborgenen Wissensbestände, Vorstellungs- und Erfahrungswelten, und – für die eigene Arbeit von besonderer Bedeutung – die Erinnerungsspuren freigelegt und erforscht werden können, die jedwedes Spurenlesen immer wieder rahmen und damit in Teilen erst möglich und somit wissenschaftsempirisch handhabbar machen. 4.3

Geohistorische Rahmung des Spurenlesens

Fragt man nach der zuvor breit dargelegten konzeptionellen Grundlegung danach, welche Rahmung das zuvor aufgemachte Spuren- und Forschungsfeld (s. Abb. 3) denn noch umgibt, dann führt dies einen eigentlich erst zum Geohistorischen des Spurenlesens. Spuren sowie auf sie bezogene Praktiken zeichnen sich im Sinne des zuvor entwickelten Konzepts nicht nur durch eine besondere Semiologie und Praxeologie aus, insofern ihnen eine unkonventionelle Zeichenlogik wie auch eigenartige Praxislogik zugrunde liegt. Ihnen ist darüber hinaus vielmehr noch eine besondere RaumZeitlichkeit 105 eigen. Überraschenderweise wurde gerade letzterem Aspekt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Spuren bisher keine oder zu mindestens keine größere Bedeutsamkeit zuteil. Wenn Spuren als etwas RaumZeitliches bedeutsam wurden, dann überhaupt nur zugunsten einer der beiden Kategorien. So fand bisher allen voran die besondere Zeitlichkeit der Spur Eingang in die theoretisch-konzeptionellen Debatten (vgl. Kap. 3.3.8). In diesem Zusammenhang kamen im Speziellen die temporären Brüche und Zeitverschiebungen aufs Tableau, die eine Spur und ein Spurenlesen implizieren oder aus beiden erst gewissermaßen hervorgehen. Dabei wurde der räumlichen Seite, der Räumlichkeit der Spur – obwohl geographische Spurenarbeiten dazu gewiss Anlass geboten hätten (vgl. HARD 1989:2) 106 – jedoch bis heute viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die übersteigerte Affinität für die Zeit mit gleichzeitiger Herabdefinierung des Raumes, wie sie seit KANTs (1839:427) kategorialer Unterscheidung zwischen Historie und Geographie zu quasi-natürlicher Gültigkeit heranreifte, lässt sich so bereits auch in den Anfängen wissenschaftlicher Spurenbeschäftigungen finden; so prominent bei einem der Vordenker der Spur, bei LÉVINAS: Die Spur ist das Einrücken des Raumes in die Zeit, der Punkt, an dem die Welt sich zu Vergangenheit und Zeit beugt (LÉVINAS 1987:233). Mit dem Einrücken des Raumes in die Zeit ging, wenn man so will, die Kategorie Raum dem Spurendiskurs bereits in seinen Anfängen verloren, da sie von der Kategorie Zeit fast vollends verdrängt wurde. 105 Als eine – wie es das Suffix (-keit) zu verstehen gibt – Wesensbestimmtheit, die gleichermaßen auf Räumlichem wie zugleich auch Zeitlichem fußt (vgl. DORSCH & RAU 2013; RAU et al. 2012:2f.; RAU 2013a:25ff.; SOJA 2003:270f.). 106 Warum sie dies am Ende doch nicht taten, lässt sich größtenteils, gemäß der geographiekritischen Innenansichten HARDs, auf die Theorielosigkeit wie auch die lang anhaltende Raum- und Dingzentriertheit aller nur denkbaren geographischen Spurenbeschäftigungen zurückführen (vgl. Kap. 4.1).

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Mit dem Wissen darum, weiß man dann wohl auch die Überlegungen des französischen Philosophen Paul RICŒUR besser einzuordnen, der im Nachdenken über die Spur eben der Zeit zuungunsten des Raumes den Vorrang gibt: Die Spur zu verfolgen, ist zunächst eine Weise des Rechnens mit der Zeit. Wie auch sonst sollte die im Raum hinterlassene Spur auf das Vorübergehen des gesuchten Objekts zurückverweisen, wenn wir nicht in etwa die Zeit berechneten, die zwischen dem Vorübergehen und dem Zeitpunkt verflossen ist, wo wir auf die Spur gestoßen sind? (RICŒUR 2009:134; eig. Herv.)

Zentrale Belege für die abseitige Stellung raumbezogener Betrachtungen sind nicht nur solche Arbeiten, die, wie LÉVINAS und RICŒUR die räumliche Seite der Spur klein zu reden versuchen. Es sind vielmehr die zahlreichen Arbeiten, die derlei Überlegungen überhaupt erst gar nicht anstellen, d. h. die Räumlichkeit der Spur komplett außen vorlassen (vgl. GINZBURG 1988c, 2007; KESSLER 2012a; KRÄMER 2007a/b; FEHRMANN et al. 2005b; MITTERBAUER et al. 2009). Entgegen einer bisher nur einseitig perspektivierten Zeitlichkeit von Spuren hat es sich das hier entwickelte geohistorische Spurenprogramm zum Ziel gesetzt, nicht nur eine stärker und tiefergehende raumbezogene Perspektive auf Spuren zu entwerfen und zu konturieren. Vielmehr gilt es – im verbindenden Tenor des bisher Argumentierten – das gegen-sich-Ausspielen von Raum und Zeit ganz zu umgehen, um mehr die dialektische Verwiesenheit von Raum (Geographie) und Zeit (Geschichte) entlang von Spuren ins Auge fassen und theoretisieren zu können. Bevor es darum gehen soll, Spuren in ihrer raumzeitlichen Dialektik zu blicken, wenden wir uns zunächst doch noch einmal den beiden Bereichen – dem Geographischen/Räumlichen und dem Historischen/Zeitlichen – in jeweils separater Betrachtung zu. 4.3.1

Räumlich-geographische Dimension des Spurenlesens

Es mag ein Einfaches sein, zu meinen, nur weil Spuren sich in der physisch-materiellen Welt niederschlagen, würden sie gleich auch zu einem räumlichen Phänomen werden. In dieser Aussage ist dann wohl auch schon der einzige Punkt zu sehen, wo ein aktueller Spurendiskurs auf so etwas wie Raum Bezug nimmt. Dabei ist jene Bezugnahme auf Raum freilich eine sehr einfache (sicher auch nicht unproblematische), zumal sie in zunehmendem Maße verkennt, wie vielschichtig und anders eine raumbezogene Sichtweise auf Spuren alles in allem ausfallen kann. Natürlich sind Spuren Erscheinungen, die in erster Linie in der Welt der Dinge gründen (KRÄMER 2007a:15). Insoweit mag es gewiss auch ein Erdräumliches sein, innerhalb dessen sich Spuren als räumliche Figurationen (KRÄMER 2008b:289) immer wieder einschreiben und abspielen können. Hiernach werden Spuren in Form eines vornehmlich physisch gedachten Substrats des Erdräumlichen angenommen, das bspw. im Landschaftlichen, wie dies HARTKE einst formulierte, als das Nebenergebnis (unbeabsichtigte[r] Handlungsfolge[n]) menschlichen Lebens und Handelns (HARTKE 1959:426) Niederschlag findet. Darüber hinaus kann die Spur (als substantieller Niederschlag) von deren latent-absentem Dasein ausgehend, auch an bestimmten Erdpunkten aufgefunden und aufgeschlossen werden. Innerhalb dieser beiden (erd-)räumlichen Eckkoordinaten erschöpft sich gleichwohl schon eben

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jene Raumperspektive auf Spuren, wie sie insbesondere von einem Spurenparadigma bisher veranschlagt wurde. Damit blieb letztlich weithin unerkannt, wie viele andere, weniger auf den ersten Blick ersichtliche, Raumbezüge die geographische Dimension von Spuren ferner noch alles zum Inhalt haben kann. Topologien von Spuren Veranschlagt man in einem ersten Schritt eine (weiterführende) geographische Perspektive auf Spuren in ihrem zuvor beschriebenen primär-sichtbaren Raumbezug, dann eröffnet dies einem zunächst den Blick auf die topische bzw. chorische Beschaffenheit von Spurenphänomenen. In Entsprechung zu einer handlungs- und praxisorientierten Sozialgeographie und einer ihrer Interessensgebiete ginge es dann darum, Spuren als unbeabsichtigte objektive Handlungsfolgen und -ergebnisse in ihrer erdräumlichen (chorischen) Anordnung als solche [zu untersuchen] (WERLEN 1997:368). Im Sinne einer topologischen Semiotik (HARD 1991:141) kämen hier genauer betrachtet Spurenlagen in ihrer ihr eigenen Topologie 107 in den Blick, was bspw. Lagepositionen, räumliche Disparitäten oder konzentrierte Verteilungen innerhalb ausgewählter Raumausschnitte umfassen würde. Die Aufmerksamkeit wäre hiernach u. a. auf bestimmte spurenbezogene Dichteverhältnisse zu richten, die sich in unterschiedlicher Reichweite und Intensität an Orten oder Dingen abgelagert haben oder fortwährend ablagern. In diesem Zusammenhang ließe sich z. B. danach fragen, wo hohe resp. niedrige Dichten 108 an Spurenhinterlassungen zu finden sind. Darüber hinaus könnten ebenso die direkten Beziehungen der dichten oder weniger dichten Spurenlagen zu einer an ihr wirkenden Spurenleserei in Betracht kommen. In Bezug darauf hat bereits HARD unter Rekurs auf den belgischen Historiker D'HAENENS (1984) angemerkt, dass die Dichte von Spuren und damit auch die Möglichkeit Spuren zu entdecken, an solchen Orten besonders hoch sei, welche sich an den Rand- und Grenzbereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens befinden. Damit bezog sich HARD insbesondere auf alle möglichen Orte des Abfalls (HARD 1995:119); also wortwörtlich auf all solche Orte, an denen etwas endet, mehr aber noch abfällt, ohne dass dieses Ende und dieser (Spuren-)Abfall jemandem jedoch gleich auch auffallen und bewusstwerden würde. Ob dies nun häusliche Mülleimer, städtisch-kommunale Müllhalden oder Keller resp. Dachböden sind, an denen jeweils nicht mehr Gebrauchtes endet bzw. beherbergt liegt, 107 Zum Begriff und Konzept der Topologie siehe GÜNZEL (2007, 2008). GÜNZEL hat einem seit einigen Jahren prominent gewordenen spatial turn (vgl. Kap. 2) einen topological turn subsumiert, der ihm zufolge eine notwendige Differenzierung in eine sich seit Jahren vollziehende raumtheoretische Wende einführt: eine Beschreibung räumlicher Verhältnisse, die LageDistanz-Relationen in sich fasst, wie auch räumliche Strukturmuster oder physische Ausdehnungen (GÜNZEL 2007:13); dies schließt letztlich sowohl eine mathematische wie auch phänomenologische Denkrichtung gleichermaßen mit ein. 108 Siehe hierzu die konzeptionell tiefschürfende Arbeit von ROSKAMM (2011), der aus vielfältigen disziplinären, theoretischen und thematischen Richtungen den Terminus der Dichte ausgelotet und beleuchtet hat, um ihn selbst letztlich ideen-, diskurs- wie auch begriffsgeschichtlich zu dekonstruieren.

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oder ob dies verlassene Orte (sog. lost places) sind, an die keiner mehr geht: in allen Fällen offenbaren sich beim genaueren Hinsehen hohe Spurendichten und damit auch hohe Wahrscheinlichkeiten, um auf Spuren zu stoßen (HARD 1995:119). Es mag von einer gewissen Ironie der Geschichte zeugen, dass Geographen gemeinhin Spuren dort zu suchen pflegten, wo entweder Kulturen gewissermaßen in ihrer Blüte standen (in Städten oder im Ländlichen) oder wo besonders schöne Spuren zu entdecken waren (in Landschaften). 109 Wo Geographen aber nicht so sehr Spuren suchten, wenn sie denn bewussterweise welche suchten, waren jene Orte, die an den Peripherien der Kultur oder Gesellschaft lagen und welche nicht unbedingt so sehr den Inbegriff des geographisch Schönen abgaben. Wolfgang HARTKE mag mit Blick auf die Disziplingeschichte der Geographie sicher ein gutes Gegenbeispiel dazu abgeben. Wusste er doch, entgegen dem Großteil seiner geographischen Weggefährten, einen wenig beachteten Spuren-Ort, wie eine Sozialbrache (1956), an dem etwas endete, indiziengeleitet zu identifizieren, zu visibilisieren und zu guter Letzt erst beim Namen zu nennen. Ganz ähnlich suchte auch HARD nicht nur in der natürlichen Umwelt nach marginalisierten und unbesehenen Rand-Spuren, die ihn auf verwilderte Vegetationsareale oder schlecht gepflegte Pflanzenbestände stießen ließen. Er machte sich – seinem Verständnis nach – vielmehr noch vereinzelt als fremdgehender Spurensucher daran, in sozialen und kulturellen Weltzusammenhängen nach Spuren zu suchen. In diesem Fall sah er es u. a. darauf ab, in detektivischer Kleinstarbeit die Dichte von Graffiti-Spuren, als einer – zu seiner Zeit – weithin noch gesellschaftlich randständig wahrgenommenen Erscheinung, zu sichten und auszudeuten (HARD 1993). Um dabei keinem klassischen Zeichenlesen zu erliegen, die ein Graffito als eine symbolisch-ikonographische Zeichensetzung auf- und erfassen würde, verstand er seine so betriebene geographische Spurenkunde als ein spezifisches (Er)Lesen von graffitistischen SubTexten (HARD 1993:73). Dabei versuchte er nicht nur die latenten Botschaften von Graffitis zu decouvieren, indem er deren Formen, Stile und Inhalte subtextuell dekonstruierte (HARD 1993:75). Durch die Verräumlichung unterschiedlichster Graffitiprodukte versuchte er vielmehr quartiersmäßige Differenzierungen entlang aufgefundener und kartographisch-statistisch festgehaltener Spuren herauszustellen, welche schließlich Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Zusammensetzung und Abgrenzungen bestimmter Bezirke hinsichtlich etwaiger sozialräumlicher Lebens(ungleich)verhältnisse zulassen könnten (ebd.:76). Insofern konnte er spurenlesend (am Beispiel Osnabrücks) aufzeigen, dass die Graffiti-Dichte oft ein Indiz des sozialen Status darstellt (ebd.:77). 110 Im Fall von Wander-Graffitis konnte er demgegenüber aber auch zeigen, dass die Wahl des Standortes, also die Frage nach 109 Damit suchten Geographen dann schließlich auch weniger Spuren an sich als vielmehr symbolisierte Zeichen, die ihnen schon immer etwas sagten bzw. zu verstehen gaben. 110 Auf eine einfache Formel gebracht: In Arbeitervierteln (niedriger sozialer Status) gibt es zahlenmäßig mehr Graffitis als in Akademikervierteln (hoher sozialer Status). Dass die Sachlage gleichwohl nicht so einfach auf der Hand liegt, zeigt der Sonderfall studentische Wohnquartiere, wo (trotz des sozialen Status) ein spezifisches Mitteilungsbedürfnis durch Graffitikunst, wohl nicht zuletzt aufgrund alternativer Protestkultur, ebenso hoch zu sein scheint, wie an den (vermeintlich) normalen Standorten von Graffitikunst (vgl. HARD 1993:76ff.).

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dem Wo ein Graffiti letztlich platziert wird, zwar keineswegs unwichtig scheint, eine zu stark verräumlichende Spurenlogik den Blick aber auch dafür versperren kann, welche grenzüberschreitende wie auch -widersprechenden Verbreitungen (über die städtischen Quartiersgrenzen hinweg) Spuren überdies denn noch alles erfahren können. 111 Vermögen doch einmal hinterlassene Spuren auch ihren Weg vom Rand ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und der öffentlichen Aufmerksamkeit zu finden, indem sie an hoch frequentierten und bevorzugt wahrgenommenen Orten platziert werden oder mobiler Weise dort hingelangen (s. ZugGraffitis). Eben genau dort – im Zentrum – meint u. a. auch Mirjam SCHAUB (2007) besonders dicht Spuren angehäuft zu sehen. Im Hinblick auf quantitativ-topologisch bemessbare Erscheinungshäufigkeiten von Spuren, sieht sie gerade nicht in den Peripherien unseres Aktionsraums den zentralen Hort von Spuren, sondern ganz im Gegenteil überall dort, wo wir uns häufig und ganz präferiert aufhalten: Räume, in denen Spuren leicht auftreten können wie etwa an einem Strand, sind immer schon Orte, an denen viele verschiedene Spuren gleichzeitig auftreten. Spuren neigen dazu, sich an bestimmten Orten zu verdichten; und ihr Verdichtungspotential wächst proportional mit der Attraktions- und Deformationskraft bestimmter Räume und ihrer Materialitäten. (SCHAUB 2007:129; eig. Herv.)

Hiernach sind es gewissermaßen zunächst all jene Orte, die im Alltag, in der Nähe zu unserem eigenen körperlichen Standort von uns ganz bewusst und auch relativ oft aufgesucht werden, und welche dadurch wiederum erst infolge unseres unwissentlichen Nebenbei-Handelns diverse Spuren an sich tragen, und das zumeist in dichter bzw. verdichteter Weise. 112 Insofern muss eine singuläre Ortsspur – als lokale Markierung (SCHAUB 2007:139) – immer wieder auch mit vielen anderen Spurenzurücklassungen, die neben, unter oder über ihr lagern, konkurrieren; das nicht nur im Bemühen um die Gunst des Spurensuchers, sondern auch im Hinblick auf die Materiallage und Widerstandsfähigkeit, welche denn Spuren ermöglichen (oder eben auch verunmöglichen), an Ort und Stelle kurz- oder längerfristig zu lagern. Obendrein können Spuren bezogen auf ihren Ortspunkt über ihr potentielles Verschwindengehen hinaus auch verschwinden gehen ohne jedoch wirklich ver111 Man denke hier nur an die Graffitis, die entweder durch wandernde Graffitikünstler fernab des eigenen Aktionsraums verfertigt wurden, oder noch einschlägiger: an solche Graffitis, die an Züge eine stetige Standortveränderung und damit Mobilität erfahren (vgl. HARD 1993:75). 112 Dass dies auch für sozial abseitige Handlungen gilt, hat eine an Spuren interessierte Kriminalgeographie durch diverse Forschungsarbeiten bereits vereinzelt herausstellen können. Hier sind vor allem bestimmte Dichteverhältnisse von Tatorten und kriminalstatistisch belegten räumlichen Häufigkeitsverteilungen von unterschiedlichsten Straftatbeständen im Städtischen untersucht und kartographisch dargestellt worden (vgl. MEUSBURGER 2002:274−277). Aus diesen spurenbasierenden Erhebungen wurden dann – analog zu HARD – nicht selten ferner sozio-ökonomische oder sozio-demographische Korrelationen abgeleitet, auch in der Hinsicht, dass nach bestimmten Standorten, räumlichen Kontexten oder Settings gefragt wurde, die Kriminalität in ihren jeweiligen Ausprägungen ermöglichen. In neueren Arbeiten wird gerade die einfache Verräumlichung und die kriminogene Rolle des Raumes (BELINA 2000:129) kritisch beäugt und durch neuere Forschungsansätze konzeptionell reformuliert (vgl. EISENHARDT 2012; ROLFES 2015).

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schwunden gegangen zu sein. Damit ist gesagt, dass Spuren nicht nur stofflich-materiell an Ort und Stelle transformiert werden können, indem sie modifizierend überformt oder in Teilen abgetragen werden. Sie können in gleicher Weise eine Veränderung erfahren, ohne wirklich verändert zu werden, indem sie einfach nur an eine andere Stelle verbracht, mithin transloziert 113 werden. Dementsprechend ist es möglich, dass örtliche Spureneinträge an verschiedenen Orten gleichermaßen zu Hause sein können, indem sie zwischen Peripherie und Zentrum gesellschaftlichen Lebens hin und her wandeln. So kann eine Spur nicht nur verkehrsbedingt durch einen mobilen Spurenträger räumlich wandern (s. Graffiti-Beispiel). Sie kann durch eine an ihr stattgefundene Spurensicherung vielmehr noch – ihrem Ursprungsort einmal enthoben – auf einen anderen Ort wieder zurückfallen; bspw. indem sie von einem gesicherten Tatort zur kriminaltechnischen Untersuchung in ein Labor verbracht wurde oder als Bodenprobe ins Reagenzglas oder als ausgegrabenes Artefakt in ein Archiv wanderte (vgl. HOFFMANN 1998a:6, 1998b:107f.; HOLLENDONNER 2009:148; LATOUR 2000; REICHERTZ 2007:314f.). In allen dargestellten Fällen hinterlässt die Spurensicherung wiederum selbst Spuren, die die ursprünglich inspizierte Spur an mindestens drei Orte rückbindet (Tatort, Transportmittel, Verwahrungsort). Vermittels ganz gezielter Translozierung vermag die Spur ganz bewusst Örtlichkeiten zu durchwandern. Sie kann aber auch durch weniger gewusste Translozierungstätigkeiten auch eher unbewusst herbeigeführte Ortsverschiebungen (WALDENFELS 2009:95ff.) durchlaufen. Dass sich Spuren multilokal an verschiedenen räumlichen Punkten akkumulieren und potenzieren können, hängt hiernach im Wesentlichen damit zusammen, dass sie infolge von Bewegungshandlungen immer wieder aufs Neue und eben vor allem plural, d. h. vielerorts eine Zurücklassung erfahren (vgl. WINKLER 2010:43f.). Folgt man an diesem Punkt noch einmal jener praxisorientierten Perspektive, wie sie DE CERTEAU in seinem Kapitel über die Praktiken im Raum (1988:179−241) veranschlagt hat, dann würden damit in erster Instanz all jene raumschaffenden Tätigkeitsformen in den Untersuchungsfokus rücken, die insbesondere während des Durchquerens räumlicher Gegebenheiten immer wieder unterschiedlich dicht wie eindrücklich Spuren zeitigen, aber eben auch jene, die die einmal hinterlassenen Handlungsspuren und den daraus resultierenden räumlichen Spurenmustern in der Folge erst zu finden und

113 Translozieren, Translozierung oder auch Translokation sind allesamt Begriffe, die aus der Terminologie der Denkmalpflege stammen. Hierunter wird allgemein das Abbauen und Versetzen eines Denkmals von einem Standort zu einem anderen verstanden (vgl. VEREINIGUNG DER LANDESDENKMALPFLEGER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 2011:44). Der Begriff erfährt in der Denkmalpflege zumeist eine negative Konnotation, da die Translozierung eines Denkmals meist zum Verlust dessen führt, was gemeinhin als schützens- bzw. pflegenswert gilt: der Authentizität. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist der Tempel von Abu Simpel, der in den 1960er-Jahren auf Initiative der UNESCO von seinem historisch angestammten Platz, welcher vom ansteigenden Wasser des Assuan-Staudamms zusehends bedroht wurde, eine Umsetzung auf eine Hochebene erfuhr.

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zugänglich zu machen und damit wiederum auch (räumlich) zu bewegen helfen.114 Egal wie: erst im Gehen, im Vorbeigehen äußert sich etwas Räumliches wie sich wiederum auch erst dadurch etwas ins Räumliche veräußert; oder mit DE CERTEAU kürzer auf den Punkt gebracht: Gehen ist der Raum der Äußerung (1988:189). Ein (urbaner) Raum mitsamt seinem Inventar an Spuren, wie ihn DE CERTEAU vor Augen hat, entsteht schließlich erst dadurch, dass verschiedene bewegte und bewegende Elemente sich veräußern und dadurch topologisch in Beziehung zueinander treten: Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten (DE CERTEAU 1988:218). Räumliche Ordnungen werden hiernach gewissermaßen erst aus den Bewegungshandlungen – wie eben dem Gehen (oder eben auch dem Befahren von etwas) – heraus geschaffen, fixiert und stabilisiert. Gleichzeitig vermag ein in Bewegung befindlicher Akteur die geschaffene Raumordnung ebenso zu verändern, durcheinanderzubringen oder gar zu zerstören, da er […] auf seinem Weg bestimmte räumliche Elemente bevorzugen, verändern oder beiseitelassen kann (DE CERTEAU 1988:190). Versteht man in diesem Zusammenhang Spuren mit DE CERTEAU explizit als jene räumlichen Elemente, die einer Tätigkeit einmal entsprungen, eine besondere Topologie ausbilden, dann erlaubt einen dies als wissenschaftlicher Spurenleser, und darin ist ein Zugewinn zu den bisherigen Spurenbeschäftigungen zu sehen, bestimmte Formen spurenbezogener Raumproduktionen näher zu fassen, die sich – bisheriger Wissenschaftsblicke weithin verborgen – auf jene unwillentlichen und unwissentlichen Praktiken und deren Erzeugnissen (Spuren) in ihrer räumlich-relationalen Beschaffenheit stützen. Spuren als Ein- und Ausdruck gesellschaftlicher Raumverhältnisse Fügt man das bisher Gesagte einmal zusammen und überträgt es auf einen anderen konzeptionellen Kontext, dann kann die Spur in ihrer topologischen Mannigfaltigkeit mehr noch als ein Ein- und Ausdruck Gesellschaftlicher Raumverhältnisse (WERLEN 2010c) in Betracht kommen. 115 Mit der Konzeption der Gesellschaft114 Zu dieser Einsicht ist DE CERTEAU nicht nur mit Blick auf seinen Untersuchungsgegenstand Stadt und damit einem Land-Gang gekommen, sondern ebenso im Hinblick auf einen weitläufigeren Ort und einer diesbezüglichen Ortspraxis: die See und einen See-Gang. In seinem Aufsatz über Die See schreiben (2005) äußert er sich dazu folgendermaßen: Der Ozean ist in seiner Ursprünglichkeit immer schon da. Er umfängt. Ohne Unterlaß muß man aus ihm Namen herausschneiden (Inseln, U-Boote oder schwimmende Maschinen), sinnstiftende Auswege finden, die punktierte Linie einer väterlichen Symbolik in ihn einschreiben, versuchen, fortzugehen, geboren zu werden, sich zu bewegen. Navigationen in einer ursprünglichen Höhle, wo Namen und Orte zu markieren sind (DE CERTEAU 2005:137; Herv. i. Orig.). Nicht nur durch die Weitläufigkeit der See, sondern ebenso durch das ständige in-Bewegung-sein des Mediums Wasser, und auch durch dessen besonderen Aggregat- und Dichteeigenschaften, scheinen Seespuren auf den ersten Blick indes – anders als Landspuren – schwieriger sowohl zurücklassbar als auch auffindbar zu sein. 115 Mit dem Programm Gesellschaftlicher Raumverhältnisse verknüpft sich der Weg zu einem neuen Ausgangspunkt sozialgeographischer Forschungsarbeit (WERLEN 2010c:322).

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lichen Raumverhältnisse, wie sie bereits in die inner- und transdisziplinäre Diskussion eingeführt wurde (vgl. WERLEN 2013a/b), lässt sich die Topologie der Spur nun noch mehr in eine Denkrichtung drehen und lesen, vermittels derer das gesellschaftlich geschaffene Verhältnis zu den als räumlich aktuell vorgegebenen, handlungsrelevanten Gegebenheiten (WERLEN 2010c:326) vermittels von Spurenphänomenen nochmalig, aber ganz anders in den Blick gerät. Im Rahmen dieser raum- und gesellschaftstheoretischen Perspektivierung konzentriert sich der Spurenblick auf die historisch erzeugten wie bezeugten Arten und Weisen des intersubjektiven Anverwandelns der und des sich-ins-Verhältnissetzens mit der Welt und deren unbeabsichtigten side effects in Form von Spuren. Bis wohin konnten Menschen zu verschiedenen Gegenwarten handeln und damit überhaupt Spuren evozieren? In welchen handlungsbezogenen Reichweiten, Tiefen und Höhen haben sich Menschen solcherart durch Spurenrückstände in die Erde eingeschrieben? Und: Auf was für weltgewandte, (sozial-)geographischen Praktiken lassen diese einmal hinterlassenen Handlungsspuren letztlich schließen? Wenn man Spuren in dieser primär räumlich-relationalen Raumsicht fassen und befragen möchte, dann lohnt es in der neu von WERLEN veranschlagten Denk- und Sprechweise genauer danach Ausschau zu halten, in welcher Form unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften über die Menschheitsentwicklung hinweg die Räumlichkeit der Welt zu meistern, d. h. für sich zu nutzen wussten, um zum einen Dinge und Umwelten bewusst zu gestalten und absichtsvoll hervorzubringen, um aber auch zum anderen – und das ist für die eigene Arbeit von besonderem Interesse – verschiedenste Dinge in Form von Spuren ganz unbewusst zurückzulassen und damit unfreiwillig zu überliefern. Unter Bezugnahme auf die WERLENsche Konzeption der Gesellschaftlichen Raumverhältnisse ließe sich hier speziell nach den unterschiedlichen Mitteln, Formen und Ergebnissen jener – aus einer seiner früheren Arbeiten übernommenen Terminologie – unfreiwillig spureninduzierenden Welt-Bindungen (WERLEN 2007:228, 2010k:98f.) fragen; also nach jenen weltbezogenen Bindungsprozessen, die die soziale Beherrschung räumlicher Bezüge zur Steuerung des eigenen Tuns und der Praxis anderer (WERLEN 2010l:305) in historischer Hinsicht alles in allem umfassten; oder anders ausgedrückt: Bindungen, die die intersubjektiven Herstellungs- und Aneignungsweisen der Welt in natürlicher wie sozialer Hinsicht beinhalteten. Hier ließe sich z. B. nach den (kultur-) Ausgehend von den bereits gegangenen Wegen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie (vgl. Kap. 2; WERLEN 1997, 1999) soll der Weg nun zu einer genuinen geographischen Gesellschaftsforschung (WERLEN 2013a:14) führen. Hierzu entwickelt WERLEN eine neue Sprache des Räumlichen (WERLEN 2010c:335), die nicht nur die neuen geographischen Verhältnisse (ebd.:321) zu (be)greifen versucht. Mit dem neu eingeschlagenen Weg sollen überdies mehr noch epochenübergreifend verschiedene modi der Welt- und Raumaneignung, mithin die Kapazitätsgrade der Welt-Bindung (ebd.:337) in gesellschaftstheoretischer, -historischer wie auch transdisziplinärer Blickrichtung erforschbar werden. Dafür führt er u. a. Begriffe wie eben die Gesellschaftlichen Raumverhältnisse, zudem aber auch Begriffe wie Räumlichkeit, Körperlichkeit, Weltsicht oder auch den Begriff der Meisterung ein, die dies letztlich in terminologischer Hinsicht leisten sollen. Auf diese neue Sprache des Räumlichen wird im Folgenden vereinzelt noch genauer Bezug genommen, wenn es darum gehen soll, sie auf die eigene Spurenkonzeption hin zu übertragen.

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technischen Möglichkeiten (auch Unmöglichkeiten) von Welt-Bindungen fragen und forschen, die Menschen auf Grundlage ihrer eigenen körperlich-leiblichen Verfasstheit (Körperlichkeit) und einem erlangten Entwicklungs-/Technologisierungsgrad mit der physisch-stofflich gegebenen Dingwelt (Materialität) eingehen konnten, woraus im Laufe der Geschichte nicht nur räumlich situierte, weltgebundene und die Räumlichkeit meisternde Kulturen und Gesellschaften entstanden, sondern darüber hinaus auch unzählige Spurenorte und -artefakte und damit zu guter Letzt auch eine schier unüberschaubare Spurenwelt. KRÄMER gibt mit dem Medium der Karte und der Kulturtechnik des Kartierens einen Hinweis darauf, wie derlei Kulturspuren wissenschaftlich zu fassen und zu behandeln sind: als Spur ihrer technischen und sozialen Herstellungsbedingungen (KRÄMER 2016:27). Jene so entstandenen Erzeugnisse sind sozusagen als Manifestationen einer jeweiligen gegenwartsbezogenen Meisterungsform (WERLEN 2010:326) anzusehen, eines modus operandi, welcher am Rande, d. h. ganz beiläufig im Zuge der Beherrschbarmachung räumlicher Gegebenheiten und eines daraus ermöglichenden oder verunmöglichenden Gesellschafts-Raum-Verhältnisses Spuren zurückließ. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang z. B., wie denn mit der Räumlichkeit der eigenen Lebenswelt, die sich aus der eigenen körperlichen Erdverankerung, der eigenen Korporiertheit 116 und den physiologischen Bezügen zur Dingwelt ergaben, eigentlich umgegangen wurde, mit welcher Intensität und Dichte an Spurenausschlägen. Wie wurde z. B. die räumliche Distanz zu anderen Menschen gemeistert, mithin (technisch) beherrschbar gemacht, um nicht nur die eigene Existenz, sondern auch das Dasein einer Gruppe zu konstituieren, zu strukturieren und zu etablieren, indem z. B. kartographische Ankerpunkte und Landmarken gesetzt wurden (vgl. KRÄMER 2016:26ff.). Was für Makrospuren entsprangen diesen Räumlichkeitsmeisterungen, als man bspw. auf Grundlage von Vergemeinschaftungs- oder Vergesellschaftungsprozessen versuchte, distanzüberwindend und damit in größere (skalare) Maßstäblichkeiten hinein zu handeln; bspw. als man daranging, translokale oder überregionale Kommunikationsstrukturen zu schaffen, die – historisch betrachtet – soziale Gruppen gewissermaßen erst zum Leben erweckten wie auch darauf fortan am Leben erhielten (WERLEN 2010c:327). Denn beachtet man, dass Menschen und Gemeinschaften immer schon allen voran durch ihre eigene Körperlichkeit mit der Räumlichkeit, mit der physisch-materiellen Welt konfrontiert waren, dann wurde über die Menschheitsgeschichte hinweg kulturell doch ganz unterschiedlich mit dieser (sozialgeographischen) Tatsachenlage umgegangen. In dieser Hinsicht lassen sich mit WERLEN verschiedene idealtypisch formulierte und historisch periodisierende modi operandi, soziotechnologische Innovationen und Gesellschaftsrevolutionen ausfindig machen, welche in entwicklungsgenealogischer Blickrichtung betrachtet dem Menschen bis 116 Der an dieser Stelle gewählte Terminus der Korporiertheit soll hier zum Ausdruck bringen, dass der Mensch aufgrund seiner physischen Gestalt ein körperhaftes Wesen ist, das zum einen durch den eigenen Körper physiologisch, biologisch funktioniert und agiert, wie auch zum anderen dadurch logischerweise an die naturgegebene Umwelt und alltagsweltliche Räumlichkeit in seinen Weltbindungsversuchen rückgekoppelt bleibt.

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heute zusehends mehr bzw. andere Potentialitäten vermachten, mit der räumlichen, aber nicht nur der räumlichen, sondern auch mit der natürlichen Umwelt zurechtzukommen – mit der (ex- oder impliziten) Zielrichtung ein dauerhaftes Zusammenleben in Gesellschaften oder Kulturen zu ermöglichen.117 Spuren können so gesehen als kulturelle Überbleibsel bzw. Abfallreste jener Entwicklung in Betracht kommen, welche als stumme, weil inoffizielle Geschichtszeugnisses (vgl. GINZBURG 1988c) vielleicht noch mehr Auskunft darüber zu geben vermögen, wie Menschen und Menschengruppen je gegenwartsbezogen in der Lage waren, die Welt in Teilen oder als Ganzes kreativ zu sich bringen bzw. an sich zu binden (WERLEN 2010c:325), um sich selbst als Subjekt, oder im Zusammenschluss mit anderen als Gesellschaft, aus- und fortbilden zu können. Aber nicht nur dies erlauben Spuren von einem mikrologischen, lokalen Betrachtungsstandpunkt aus in größere skalare Maßstäblichkeiten hinausgreifend, einsehbar zu machen. Indem man ihnen mehr noch in ihrer topologischen Ubiquität folgt, könnten sie vielmehr noch als ein Anzeichen dafür hergenommen werden, 117 WERLEN schlägt hierfür genauer ein Schema vor, das eine periodische Abgrenzung größerer Figurationen Gesellschaftlicher Raumverhältnisse erlauben soll (WERLEN 2010c:329−333, 2013a:14f.). Ihm zufolge lassen sich dabei grob drei kulturhistorisch divers erscheinende Punkte und Entwicklungen unterscheiden, welche unterschiedliche Bedingungen, Mittel und Medien des Handelns, die Räumlichkeit der Alltagswelt zu meistern hervorbrachten (WERLEN 2010c:326). Angefangen von der Neolithischen Revolution (vor ca. 10.000 Jahren), infolge derer Menschen nicht nur sesshaft wurden, die Natur domestizierten, sondern vielmehr noch durch eine sich ausbildende Oralität sowohl räumliche als auch soziale Nähe und damit erste Formen von Gemeinschaft schufen. Über die Industrielle Revolution (vor ca. 250 Jahren), im Zuge derer distanzaufhebende Medien wie Schrift- und Drucktechniken sowie verbesserte mediale Verbreitungs- und Kommunikationsmöglichkeiten aufkamen (Telegrafie, Postwesen), oder innovative Mittel wie Elektrizität oder Mechanik entwickelt wurden, die nicht nur zu Motoren von Verstädterungsprozessen und einer arbeitsteilig ausweitenden Produktivität je Flächeneinheit wurden, sondern im größeren Ganzen gedacht, auch zum Motor einer aus- bzw. um sich greifenden politisch-rationalen Raum-Meisterung im Sinne von Nationalstaatswerdungen. Bis schließlich hin zu einer sich seit der Jahrtausendwende vollziehenden Digitalen Revolution, in der die bisherigen gesellschaftlichen Raumverhältnisse [komplett] auf den Kopf gestellt werden (WERLEN 2010c:331; eig. Einschub), indem durch die Digitalisierung der Lebens- und Alltagswelt die Opposition zwischen Nähe und Ferne anscheinend in zunehmendem Maße an Gültigkeit verliert und im Umkehrschluss hiermit scheinbar auch althergebrachte Gesellschafts-Raum-Verhältnisse (bspw. Nationalstaaten). Was man aus der historischen Abfolge hypothetisch formulierter Gesellschaftlicher Raumverhältnisse, die aufgrund ihrer groben zeitlichen Periodisierung sicher nicht unproblematisch scheint (vgl. RAU 2013b: 56), am Ende lernen und verstehen kann: ändern sich die Mittel, Formen und Medien der Räumlichkeitsmeisterungen im historischen Verlauf (abrupt oder schleichend), so kann daraus – räumlich besehen – potentiell stets ein anderer Modus der intersubjektiven Welt-Bindung und damit des sozial-kulturellen Zusammenlebens auf dieser Erde entstehen. Welche das mit Blick auf zeitaktuelle Formen des Gesellschaftlichen sein mögen, bleibt abzuwarten bzw. empirisch abzuklären (vgl. WERLEN 2010c:337). Mit den Topoi der Netzwerkgesellschaft (CASTELLS 2001), der Digitalen Gesellschaft (BECKEDAHL & LÜKE 2012) oder der GoogleGesellschaft (LEHMANN & SCHETSCHE 2007) mögen in dieser Richtung bereits Formulierungen gefunden worden zu sein, um eine sich geographisch wandelnde Gegenwart auf einen ersten prägnanten Begriff zu bringen.

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um zu erkunden, wie auch die lebensnotwendigen naturräumlichen Bedingungen gesellschaftlich gemeistert wurden (oder nicht) – und auch hier: zu welchen spurenbemessbaren Kosten. Dafür müsste man den Blick von den Gesellschaftlichen Raumverhältnissen nur auf die gleichermaßen kulturhistorisch hergestellten und regulierten Verhältnisse zur Natur, den Gesellschaftlichen Naturverhältnissen (BECKER et al. 2011; GÄBLER 2015; GÖRG 2003) wenden, welche sich in anderer theoriesprachlicher Benennung, mehr nur auf die existenzsichernde Meisterung bzw. Befriedigung basaler Grundbedürfnisse des Lebens (Essen, Trinken, Fortpflanzung, Energie, Mobilität, etc.) beziehen. Auch hier wären Spuren als Nebenprodukte jener gelingenden (oder misslingenden) Kulturbestrebungen, etwas Räumliches (wie die Natur) beherrsch- und regulierbar zu machen, anzusehen. Damit wären nicht nur vielfältige Einblicke in die kulturell eingespielten Regulationsmuster (BECKER et al. 2011:81) von Natur und Natürlichem in Aussicht gestellt, sondern auch in die konstitutive Gestaltung und Ausgestaltung von Gesellschaftlichem, was wiederum auch die Logiken von Praktiken der Welterzeugung (WERLEN 2010c:325) einsehbar machen würde – nur über einen ganz eigenen, wenngleich etwas verborgeneren Weg: über kulturhistorisch hinterlassene Natur-Spuren. Zwischenfazit: Geographizität von Spuren Insgesamt betrachtet, so darf man an dieser Stelle zwischenresümieren, besticht die Spur nicht nur durch eine besondere Zeichenhaftigkeit, die sie letztlich von allem anderen Erfahrbaren scheidet. Sie fällt, so konnte zuvor in vielerlei Hinsicht aufgezeigt werden, vielmehr noch durch eine besondere Geographizität 118 auf. Die besondere Geographizität der Spur ergibt sich indes keineswegs nur daraus, dass Spurenphänomene sich mit ihrem diffusen Wesen in geographische Gegebenheiten (Orte, Artefakte) in unterschiedlich ausgreifender topologischer Reichweite wie Tiefe eingeschrieben haben. Sie begründet sich vielmehr und grundsätzlich auch daraus, dass dies mit Spuren in ganz eigensinniger Art und Weise geschah. Die Besonderheit und geographizitäre Eigensinnigkeit119 von Spuren erklärt sich grundsätzlich mit der Tatsache, dass Spuren trotz ihrer irdischen Existenz und ihres 118 Siehe zum Begriff der Geographizität RAFFESTIN ([1989]2010) oder auch ZAHNEN (2007, 2008). RAFFESTIN ([1989]2010:27ff.) verwendet den Begriff – unter Anleihen bei DARDEL – als gesonderten Ausdruck, um damit einen besonderen Modus aller nur denkbaren geographischen Praktiken, Modelle, Verfahren, Verhältnisse und Erkenntnisse begrifflich zu bündeln. ZAHNEN (2007:73, 2008:16) benutzt den Begriff in ähnlicher Manier, um damit auf eine bestimmte Wesenhaftigkeit geographischer Bedingungen, aber mehr noch geographischen Arbeitens hinzuweisen. 119 In Anlehnung an den von BERGMANN & LANGE (2011) formulierten Topos der Eigensinnigen Geographien, der sich gleichwohl weniger auf Spuren, sondern auf andere, eher stadtgeographische Zusammenhänge und die eigensinnigen Aneignungen urbaner Orte und Räume unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe bezieht. Siehe in diesem Zusammenhang in Verbindung zum Nomen der Eigensinnigkeit ebenso den Sammelband von HAHN (2015) zum Eigensinn der Dinge, welcher sich grundlegend mit den Widerständigkeiten und zugleich auch den speziellen Umgangsweisen mit den Dingen beschäftigt, was eine direkt indirekte Verbindung zur Spurenthematik erkennen lässt.

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erdräumlichen Ausmaßes – anders als gesetzte Erdzeichen – zumeist keine direkte Verbindung mit der sichtbaren wirklichen Welt und der geographischen Wirklichkeit als solche unterhalten. Gerade weil Spuren im Unsichtbaren, in verborgenen Welten schlummern ist es ihnen unmöglich, selbst eine unmittelbare Verbindung mit der sichtbaren und gewussten Welt aufzunehmen. Hierfür bedarf es schließlich, wie zuvor bereits mehrmals angemerkt, eines wichtigen Übersetzungsschrittes und damit korrespondierend, eines Übersetzers. 120 Denn erst im Zusammenspiel dieser beiden kann eine Übersetzung bzw. Übermittlungen der Spur ins Hier und Jetzt vollzogen und damit eine Kontaktstelle zur Präsenz, der präsenten Wirklichkeit hergestellt werden. So gesehen vermag erst im Nachgang an eine primäre Welt-Bindung (Spurenzurücklassung) eine sekundäre Welt-Bindung (Spurenlesen) eines an verborgenen Dingen interessierten Spurensuchers dafür Sorge tragen, dass sich die Spur in ihrer räumlichen Verfasstheit und eigenwilligen Geographizität wirklich entfalten bzw. zeigen kann. Erst über die subjekt- und kulturspezifische Welt-Bindung in zweiter Instanz, über das Anverwandeln der Welt seitens eines spurenlesenden Subjekts und einer spurenlesenden Praxis, vermag sich die Spur zu einem evidenten Element topologischer und damit auch geographischer Wirklichkeiten (WERLEN 2010b) zu entwickeln. Dass es dazu kommt, ist aber nicht allein auf einen irgendwie gearteten Spureneffekt und damit einhergehend, einem wie auch immer gearteten Ortseffekt (BOURDIEU 1997a) zurückzuführen, als vielmehr und in besonderer Weise auf einen bestimmten Handlungs- und Praxiseffekt. So mag eine Spurenerschließung zwar augenscheinlich immer bei einem Spurenobjekt, einem Spurenort und einer lokal zutage tretenden Störung des gewohnten Blicks beginnen; und obwohl die Spur – als Ort mit deiktischem Potential (FLIEGLER 2010:24) – gewiss etwas anzeigt, weiß aber weder das Spurenobjekt noch der Spurenort am Ende darüber zu bestimmen, das und was letztlich in praxi genau als Anzeichen in Betracht kommt. Spuren sind allenfalls Anhaltspunkte (STEGMAIER 2007:82ff.), entlang und anhand derer gewiss zu Vielem gelangt werden kann, z. B. zu räumlicher Orientierung, indem man entlang von Wegspuren (Fährten) unterschiedliche Handlungsspielräume – hier, dort oder dahin gehen zu können – offeriert bekommt. Dass dies so ist, zeigen wohl nicht zuletzt besonders die polysemen 120 Mit dem Topos der Übersetzung ist an dieser Stelle eine direkte Verbindung zur Methode der Actor-Network-Theory (ANT) angezeigt. In der Terminologie der ANT ist ebenso von Übersetzungsschritten (Stadien der Übersetzung) die Rede, welche einmal vollzogen, ein Netzwerk zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten aus- und fortbilden können (vgl. BELLIGER & KRIEGER 2006:38f.; CALLON 2006). Auch hier tritt zuerst ein Phänomen auf, was es davor so noch nicht gegeben hat bzw. so noch nicht wahrgenommen wurde (bspw. das Ozonloch oder Milchsäurebaktieren) und was in der Folge zu neuartigen (hybriden) Verbindungen und Allianzen zwischen den Dingen, d. h. zwischen natürlichen, technischen und gesellschaftlichen Dingen führen kann (LATOUR 2008:7ff.). Die ANT hat es darauf abgesehen weder Objekt noch Subjekte [zu beschreiben], sondern Netzwerke von Hybriden (BELLIGER & KRIEGER 2006:43). In Übereinstimmung dazu wären Spuren einerseits als nichtmenschliche Aktanten zu deklarieren und Spurenleser andererseits als menschliche Aktanten, welche – gemäß einer Hybridizität – im Verbund über die Praxis des Spurenlesens Neues oder noch Ungeahntes (netzwerkartig) hervorzubringen vermögen.

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Typologien, Intentionalitäten und schließlich auch die vielen raumbezogenen Lesarten hinsichtlich ein und derselben Spurenerscheinung. Spurenlesen als eine besondere Form der »Welt-Bindung« Um am Ende nicht der Tyrannei des Visuellen (RAFFESTIN [1989]2010:24), der für die geographische Wissenschaftsarbeit lange typisch war (vgl. Kap. 4.1), im Falle von Spuren zu erliegen, gilt es sich folglich nicht nur dem sich aufspannenden Spurenort, dessen Materialität oder den räumlich-figurierten Spurenverhältnissen allein zuzuwenden (vgl. KRÄMER 2007a:15f.). Gemäß der in Kapitel 4.2.3 unterbreiteten Forschungsperspektive – dem Spurenleser auf der Spur – gilt es sich logischerweise vielmehr den an und mit Spuren Handelnden zuzuwenden, welche am Ort und in räumlicher Hinsicht die undurchsichtige Spurenlage nach und nach abzutragen, aufzudecken und so auch erst in ihrer (raumbezogenen) Deixis 121, d. h. in ihrer deiktischen Verweisstruktur zu entdecken helfen. Damit sind an dieser Stelle noch einmal all jene Spurenpraktiken benannt und adressiert, welche zuvor bereits bei der Grundlegung des Konzepts besprochen wurden: das Suchen, Folgen, Lesen, Interpretieren, Erzählen und Vorausdeuten von Spuren. Da es sich bei diesen Praktiken allesamt um zumeist bewusst angewandte Praktiken handelt, indem sie – anders als die ursprüngliche Praxis des Spurenhinterlassens – auf explizit wahrgenommenen Bindungsprozessen basieren, mag die Spur im Sinne einer sekundär an ihr greifenden Welt-Bindung schließlich als ein ganz besonderer Ausdruck eines In-Beziehung-Setzens eines Subjekts mit der Welt, mit der eigenen und mit der anderen (fremden), die noch im Verborgenen liegt, verstanden werden. Der Spureninteressierte fungiert solcherart als sekundäres, wenngleich genau genommen als quasi erstes (und vielleicht auch letztes) Bindeglied, das in der Lage ist, eine Verbindung zwischen den Welten herzustellen, mithin zwischen der (seinen) wirklichen Welt und der (anderen) noch unwirklichen Spuren-Welt. Zumal eben weder die Ortsspur noch der Spurenort als solche etwas zu erzählen oder an sich zu äußern haben, nimmt alle nur denkbare Spurenarbeit ihren Anfang stets beim Spurensubjekt und seiner lebens- und alltagsweltlichen Rückbindung.122 121 Mit dem aus der Sprachwissenschaft stammenden Begriff der Deixis verbinden sich verschiedene Bezug- wie zugleich auch Verweisnahmen auf Realobjekte wie Gegenstände, Personen oder auch Orte. Deiktisch getätigten Aussagen liegen also typischerweise zum einen Bezüge und zum anderen Verweise zugrunde, die sich z. B. im Sinne einer Ortsdeixis u. a. in der Begriffsopposition hier – dort offenbaren können. Siehe zu räumlich-deiktischen Äußerungsformen CUNTZ (2015) oder die sozialgeographischen Betrachtungen von FELGENHAUER (2007:148f.). In diesem Zusammenhang scheint ferner der Aspekt raumbezogenen Vergleichens (BELINA & MIGGELBRINK 2010) interessant und wert weiter verfolgt zu werden. Hier könnte schließlich das raumbezogene Gegenüberstellen und Abgleichen von gleichen oder verschiedenen Spurenphänomenen stärker zum Thema gemacht werden. 122 Das mag dann rückblickend betrachtet wohl auch ursächlich dafür gewesen sein, warum GINZBURG letztlich zu Spuren und zum Spurenlesen fand und daraus hervorgehend, ein Indizienparadigma begründete. Machte sich doch GINZBURG von Anfang an auf Grundlage persönlicher

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Derart liegt der aktive wie auch aktivierende Part während des ortsbezogenen Spurenlesens beim Spurenleser, zumal die Spur und die Beschäftigung mit ihr erst durch seinen Ortsfund, von seinem Standpunkt aus und durch sein ortsbezogenes Tätigwerden zur Spurenlese gelangt. Dazu passend HOLTORF, der sich zur archäologischen Suche nach Spurenorten und -artefakten folgendermaßen geäußert hat: Auch archäologische Funde werden natürlich erst von Archäologen als solche konstituiert. […] Archäologen machen in diesem Sinne ihre Spuren selbst. Funde werden erst durch die Arbeit des Archäologen zu historischen Spuren. […] So wie das Werk eines Handwerkers immer auch die eigene Arbeitsweise widerspiegelt, wird die gelesene Spur zur Spur des Spurenlesers (HOLTORF 2007:347).

Dass dies so ist, zeigen nebstdem vor allem die persönlichen Einsprengsel, mit der der Spurenleser seine Spurenlektüre nicht nur beginnt, sondern mit der er die Spurenerzählung im Zuge der Lektüre immer wieder anreichert, sei es durch die eigene Biographie, eigens gemachte Orts-Erfahrungen, einmal verinnerlichte Orts-Erinnerungen oder erlernte (geographische oder archäologische) Kenntnisse. Umso mehr gilt es schließlich danach zu fragen, mit welchem erfahrungsbasierten, aber weithin verborgenen Wissen um und über Räume (LEIPOLD 2015a) der Spurensucher denn eigentlich ins Feld zieht und sodann wieder aus diesem herauskommt, um Spuren schlussendlich sichten, ausloten und semantisierend durchleuchten zu können. Welche räumlich-impliziten Vorstellungen im Sinne von geographical imaginations (GREGORY 1994) oder raumbezogenen Semantiken (REDEPENNING 2006, 2008) rahmen und leiten den Spurenleser letztlich unterschwellig bei seiner spurenbezogenen Arbeit? – nicht nur bei der anfänglichen Suche, sondern vor allem bei der späteren Lese, Auslese und Erzählung von Spuren. Es scheint insoweit angezeigt, im Rahmen aktueller Spurenforschungen mehr sowohl auf geographisch-gefestigte Weltbildvorstellungen (vgl. GEBHARDT & KIESEL 2004; HARENDT 2019) als auch demgegenüber auf dynamisch-kontingente Weltsichten (vgl. SCHLÖGL 2004:13; LOSSAU 2008:328; WERLEN 2010c:323, 2015b:6) gleichermaßen zu achten, die beim Entdecken und Aufdecken von objekthaften Spuren, in unterschiedlicher Gewichtung, allesamt unterschwellig eine Rolle spielen (können). Wie viele alte oder neu gewonnene Erkenntnisse und Ansichten über die Welt (im kleinen oder großen Maßstab gedacht) sind beim Spurenbedeuten am Werk oder werden letztlich als Endresultat der Spurendeutung präsentiert? Auf Grundlage der zuvor breit thematisierten Selbstreflexivität des Spurenlesens soll es mit dem in dieser Arbeit entworfenen Spurenprogramm insbesondere möglich werden, solche Fragen nicht nur als Wissenschaftler kritisch stellen zu dürfen, sondern zudem auch selbstbezogen beantworten zu können. Daraus eröffnet sich nicht zuletzt die Möglichkeit, die geographischen Lesefehler123, die ein Spurenlesen im Wissenschafts- und Alltagserfahrungen für die Beachtung der historiographisch lang missachteten kleinen Details der Geschichte stark, was ihn – als (Mikro-)Historiker – schlussendlich mehr und mehr die Bedeutung von Spuren hat erkennen lassen. 123 Siehe hierzu HARD (1991:153). Der grundsätzliche Fehler beim geographischen Spurenlesen lag, um es noch einmal deutlich zu machen, vor allem darin, im realen Gegenstand – z. B. einer Landschaftsformation – schon eine real-historische Erscheinung zu sehen, der eine (sinnhafte) Geschichte einfach entnommen werden kann.

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Laufe der Paradigmengeschichte der Geographie über geomorphologische und kulturgenetische Blickobsessionen/-beschränkungen hinweg zuhauf evozierte, gewinnbringend umzulegen. Dazu müsste nicht einmal der Gegenstand (Landschaftspuren o. ä.) verworfen werden. Es müsste einfach nur die eigene Rolle als Forscher oder die Rolle als alltagsweltlicher Spurenleser mehr Berücksichtigung finden, stärker reflektiert werden und letztlich eine methodologische Diskussion bzw. Operationalisierung erfahren.124 Mit dieser Blickverschiebung gelänge es nicht zuletzt, mehr die spezifischen Kontextbedingungen, biographischen Hintergründe, persönlichen Erfahrungen oder kollektivierten Bestände impliziten Wissens in den Fokus zu rücken, welche zusammen die Spurenlese – in vor allem geographischer Blickrichtung – einmal (ungewusst) angestoßen haben und nachfolgend intuitiv begleiteten. Hierbei bliebe also nicht nur danach zu fragen, wie entlang von Spurenlektüren nicht nur Vergangenes sichtbar gemacht wird, indem man die Spur speziell als ein Geschichtsdokument liest, vergangenes Geschehen aus ihr herauszupräparieren versucht und bei alledem – wie dies RICŒUR vorschlug – mit der Zeit rechnet (RICŒUR 2009:134). Insofern die Spur nicht ausschließlich als etwas zeitlich zu Bemessendes als vielmehr noch als etwas räumlich zu vermessendes Phänomen in Betracht kommt, sollte der Blick dafür frei werden, um über das Spurensuchen, -finden und -lesen eine ganze Reihe spezifischer Formen spurenbasierender Sicht- und Aneignungsweisen nicht nur von Geschichte, sondern eben auch von Welt in deren räumlich-geographischen Dimensionierungen erfassen zu können. Spurenlesen als »Geographie-Machen«: vom sprachlichen, performativen und erinnernden Geographisieren von Spuren Die spurenbasierenden Weltbindungsprozesse, wie sie zuvor grundlegend hergeleitet wurden, sind genau genommen allesamt Phänomene, die von einem ganz eigenen bzw. eigenwilligen Geographie-Machen (HARTKE 1962:115; WERLEN 2000: 143, 2007:33f.) zeugen. Ein Geographie-Machen, was im etymologischen Wortsinn von Geographie nicht nur einen stummen Zeugen eines ehemals beiläufigen, unwissentlichen Versuches eines Spurenlegers darstellt, sich in die Erde (Geo) einzuschreiben (graphein). Vielmehr gibt ein Geographie-Machen in gleicher bzw. besonderer Weise einen Beleg dafür ab, wie sich ein Spurenleser post festum darangemacht hat, sich der originären Erdspur durch seine Erschließungsarbeit nochmal aufs Neue, aber eben ganz anders einzuschreiben. So werden im Verlauf des Spurenerkundens in vielfältiger Weise keineswegs nur Geschichten präsent, welche einzig und allein wert wären, sie, im Sinne historischer Narrativierung, rückblickend zu erzählen oder niederzuschrieben (vgl. GINZBURG 1988c:88; KRÄMER 2007a:17, 2007b:160). Beim Lesen und Ausdeuten von Spuren kommt denn immer auch etwas genuin Geographisches hinzu. Treten doch an der und mit der Spur zuallererst Geographien zutage, genauer gesagt, Handlungsgeographien (DE CERTEAU 1988:216), welche sich an der Kontaktstelle zwischen dem ursprünglich die Spur 124 Der Methodologie und Operationalisierung des geohistorischen Spurenlesens in eine angewandte Forschungspraxis wird sich der nächstgrößere Teilbereich noch zuwenden.

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verursachenden unwissentlichen Geographie-Machen (spurende Erdeinschreibung) und dem nachträglich interpretativ-verstehenden Geographie-Machen (spürende Erdlesung) herauskristallisieren. Diese geographisch-manifesten Kristallisationspunkte können nun sozialgeographisch besehen entweder vermittels raumbezogener Narrationen sichtbar werden, indem sie ihre vornehmlich räumlich-imprägnierte Erzählung erfahren (vgl. HARENDT 2019; KASPAR 2013; NEUMANN 2015; REUBER 2005; SCHARVOGEL 2007; WINTZER 2015), oder hierauf vielleicht auch in Form von spatial stories/histories (PILTZ 2008; RAU 2013a:178f.; WERLEN 2008:371) ihre Niederschrift erfahren – in jedem Falle sind sie dem Ziel hin ausgerichtet: die erd-räumlich erscheinende Unerklärlichkeit in Form einer Spur geographie-sprachlich greif- und erklärbar zu machen. 125 In diesem Zusammenhang wies bereits DE CERTEAU auf die besondere Verbindung von Orten und Narrationen hin, indem er meinte, dass: Die Erzählungen über Orte […] Basteleien, Improvisationen [sind], die aus den Trümmern der Welt gebildet werden (DE CERTEAU 1988:203). Hiernach verhelfen uns die aus der Verborgenheit ans Licht geholten Trümmer letztlich insoweit Geographie zu machen, als sie einerseits der Spur ihren erzählten Ort (KRÄMER 2007a:17) (zurück-)geben. Andererseits animieren sie uns durch ihr anhaftendes Änigma ferner erst zum Erzählen resp. Schreiben geographisch-gehaltvoller Geschichten, worunter neben Alltagserzählungen, literarischen Erzählungen 126 auch jedwede Art von Wissenschaftsabhandlungen 127 zu zählen sind. Gemäß einer sich bereits formierten sprachorientierten Geographie (vgl. GLASZE & PÜTZ 2007) wäre im Anschluss daran lohnend zu sehen, wie eine einmal gefundene Spur im Spiegel der Sprache (DEUTSCHER 2014) nicht nur das Erzählen von Welt(en) befördert, mit all den darin eingelagerten geographischen Sprechweisen, Vokabularien (Metaphern, Begriffe, etc.) oder verwandter sprachbezogener Äußerungsformen. In letzterem Falle wäre es z. B. angezeigt, die sich aus Spurenfunden möglicherweisen entspinnenden Argumentationen 128 und Argumentati125 Hiermit ist natürlicherweise nicht nur ein sozial- und kulturgeographisches, sondern auch physiogeographisches Spurenerzählen adressiert, wie es Geomorphologen, Pedologen, Hydrologen oder Klimatologen immer schon vorzutragen wussten und nach wie vor auch noch vorzutragen wissen, um Spuren in Reliefen, Böden, Gewässern oder in der Atmosphäre evident erscheinen zu lassen; vgl. hierzu u. a. die Ausführungen von ZAHNEN (2007, 2008). 126 Dazu tiefgründiger KESSLER (2012a:154−184) und deren literaturwissenschaftliche Analyse von Winnetou-Geschichten. Sie hat mit ihrer Arbeit deutlich gemacht, dass die Bedeutung der Spur über ein Zuschreiben mehr noch und vor allem in ein Schreiben von Spurenbedeutungen mündet. Siehe in diesem Zusammenhang ferner auch die Veröffentlichung von DÜNNE et al. (2004), wo Spuren ebenso unter einer literarischen Brille zum Thema gemacht wurden; wenngleich dies weniger terminologisch-konzeptionell streng an der Spur geschah. Hinzuzählen lässt sich hier schließlich auch BACHTINs Arbeit zum Chronotopos (2008) und einer raumzeitlichen Spurenlektüre in unterschiedlichen Romanen und Romangattungen. 127 Vgl. HARD (1995) und RHEINBERGER (2007). 128 Siehe zum Feld geographischer Argumentationen speziell FELGENHAUER, der die Sichtweise des raumbezogenen Arguments in seiner Arbeit über die Geographie als Argument (2007) bereits für eine konstruktivistische und sprachorientierte Sozialgeographie fruchtbar gemacht

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onsmuster genauer unter die Lupe zu nehmen, welche gleichsam immer auch eine RaumSprache (SCHLOTTMANN 2005a), d. h. geographische Sprachgehalte/-logiken mit sich führen oder zu finden suchen, um Spuren interpretativ-verstehend und im wahrsten Sinne des Wortes erst zu begreifen. Man denke bspw. nur an eine Gerichtsverhandlung, während der immer wieder auch auf einen Tatort und auf die ortsbezogene Sach- bzw. Spurenlage Bezug genommen wird. Bezüge, die durch die Zeugenaussagen nicht nur narrativ, sondern durch die anwesenden Juristen eben auch und vor allem rhetorisch gekonnt argumentativ stattfinden – mit dem Ziel: den Fall letztlich argumentum a loco verhandeln bzw. klären zu können. Über diesen Ansatz hinaus wäre ferner denkbar, Spuren nicht nur als narrativen Impuls oder argumentativen Platzhalter (WERLEN 2007:301) für Geographisches zu betrachten. Darüber hinaus wäre es ebenso möglich, Spuren als diskursive Ereignisse anzusehen, die, insofern sie entdeckt wurden, für unterschiedlichste sozial-kulturelle oder machtpolitische Aushandlungsprozesse um räumliche Phänomene in Betracht kämen (vgl. REICHERTZ 2007:326ff.); d. h. Spuren würden in dieser Hinsicht mehr auf die von ihnen ausgehenden raumbezogenen Diskurse dezidierter in den Blick kommen (vgl. BAURIEDL 2007; GLASZE & MATTISSEK 2009). Dass die spurengeleitete Suche im Diskursspektrum dessen, was gesagt und nicht gesagt werden darf, solcherart schon vereinzelt disziplinäre Anstöße wie auch Anklänge gefunden hat, zeigen insbesondere die Ansätze und Konzepte der neueren (kritischen) Kriminalgeographie, welche kriminalitätsanzeigende Spuren (broken windows) im Hinblick auf die sie umgebenden Diskurslagen mithilfe diskursanalytischer Zugänge bereits zur Untersuchung vorgeschlagen haben (vgl. ROLFES 2015:43−47). In Bezug auf forschungsrelevante Diskurslagen wäre indes noch grundsätzlicher, über die bisherigen thematischen Inwertsetzungen hinausgehend, danach zu fragen, aus welchen Tiefenschichten einer Archäologie des Wissens (FOUCAULT 1981) Spuren selbst immer wieder hervortreten und aufscheinen, worauf sie letztlich als (verborgener) Wissens- und Kommunikationsbestandteil (wenngleich nicht immer wissentlich) zum Diskurs gereichen. Inwieweit werden in allen diesen Berichten über Räume (DE CERTEAU 1988: 215), die neben geographisch-narrativen gewiss immer auch argumentative und diskursive Raum-Elemente mit sich führen, nicht zuletzt – rückbesinnend auf die Selbstreflexivität des Spurenlesens – stets auch Identitätsvorstellungen im Sinne von raumbezogenen Identitäten virulent (vgl. MARXHAUSEN 2010; POTT 2007; WEICHHART 1990; WEICHHART et al. 2006; WERLEN 1993b)? Was ist z. B., wenn die am Spurenort sich offenbarende Leere als ein Anlass dafür genommen wird, sich seiner selbst, also seiner kulturellen oder sozialen Identitätszugehörigkeit wie Heimatverbundenheiten129 oder anderer identitätsstiftenden Ortsbezogenheiten spurengeleitet rückzuvergewissern? Versetzt einen doch gerade eine situative Störung hat. Anhand der Untersuchung des sprachlichen Gebrauchs von Mitteldeutschland hat er schließlich den (empirischen) Nachweis erbracht, inwieweit der argumentative Bezug auf die Geographie in vielerlei Hinsicht zur Begründung medialer (historischer) Darstellungen (hier der MDR-Produktion Geschichte Mitteldeutschlands) seine Anwendung findet. 129 Vgl. hierzu genauer GEBHARD et al. (2007) oder auch COSTADURA & RIES (2016).

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des sonst Geordneten, die Plötzlichkeit des Unbekannten, Andersartigen oder Fremden in Gestalt einer Spur, je nachdem, wie man es sieht, in die missliche oder günstige Lage, sich seiner vor allem auch geographischen Situiertheit in der Welt selbstbezogen und reflexiv bewusst(er) zu werden. Dergestalt ist die geographische Lesung von Spuren im Hinblick auf die seit einiger Zeit um sich greifende Diskussion über einen postcolonial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften und daraus in Gang gesetzter postkolonialer Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskurse immer auch ein Weg, der – wie er von LÉVINAS (1987) vorgezeichnet wurde – zu der Spur des Anderen unter Rückspiegelung des Eigenen, der eigenen Spur führen kann. Geographisch gewendet läge mit dieser Denkrichtung von Spuren in Anlehnung an Julia LOSSAU (2002) der Startpunkt für eine postkoloniale Reise zu einer ANDEREN Geographie der Welt in greifbarer Nähe, mit Hilfe derer zentristische und für einzig wahr gehaltene Blickobsessionen auf die Welt (s. Ethnozentrismus, Kolonialismus), 130 wie sie in westlichen Gesellschaften weithin als normal, gültig und eingeübt erscheinen, hinterfragbar würden, um hiermit das weniger Gesehene, Verschüttete und gemeinhin Nicht-Sichtbare der Welt, und dazu zählen Spuren wie sie dazu auch Anlass geben, wissenschaftlich besser sehen zu können. Das geographisch motivierte Lesen von Spuren erlaubt es in diesem Fall ferner, und das mehr auf den Spurenleser und seiner raumbezogenen Identifikationen selbst bezogen, den Weg zu einer Denkfigur zu ebnen, die raumbezogene Spuren von Subjekten bereits implizit zum Thema gemacht hat: die Rede ist von den Geographien des eigenen Lebens (DAUM 1993; WERLEN & DAUM 2002); 131 sogenannte Lebensgeographien, die über die Chronologie des eigenen Lebens hinaus mehr den Verweis darauf suchen, wie wir die Welt […] in einer endlos autobiographischen Tätigkeit wahrnehmen (DAUM 1993:67; eig. Herv.). Jene spezifisch geographischen Wahrnehmungsweisen verweisen indes wiederum selbst auf spezifische Selbstverortungen und Lebenswege im Sinne von Fragen wie: Wo ist mein Platz?, Wo bin ich zu Hause und wo will ich noch hin?, Was weiß ich von der Welt? oder Welche Welt-Bezüge habe ich persönlich?. Auf Grundlage dieser Fragen geraten eben auch, wenngleich verdeckt, ganz persönliche Lebensspuren und -spurungen von Subjekten in den Blick. Bei alledem drängt sich schließlich die Frage auf, welche vielleicht lange für ganz selbstverständlich gehaltenen Weltbilder (im Sinne raumbezogener Selbst- und Fremdbilder) und dynamisch-wechselnden Sichtweisen auf 130 Siehe hierzu weitergehend die Überlegungen von RICHTER zu Form und Funktion von Spuren in postkolonialen Geschichtsnarrationen (2016). 131 Mit der Denkfigur der Geographien des eigenen Lebens wurde ursprünglich eine Perspektive auf die spätmodernen Lebensverhältnisse, mit denen insbesondere Heranwachsende tagtäglich konfrontiert sind, in fachdidaktischer Blickrichtung entwickelt. Mit dieser Denkfigur sollten Schüler als Gestalter wie Nutzer der sie umgebenden Welt ernster genommen werden. Im Sinne einer neuen Lernkultur ging es hierbei schließlich darum, den persönlichen Geographien bzw. den Weltbezügen der Schüler – als Konstrukteure ihrer Wirklichkeit (DAUM & WERLEN 2002:8) und nicht einfach nur als reine Rezipienten von Welt – verschieden und vor allem stärker Gehör zu verschaffen; sei es bei der Thematisierung des eigenen Konsumverhaltens, der Freizeitgestaltung (Spielen, Reisen) oder der Ausgestaltung des eigenen Lebenslaufs (in insb. auch räumlicher Hinsicht).

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die Welt (Weltsichten), werden mit dem plötzlichen Spurenauffinden und -ausdeuten seitens eines Weltentdeckers verknüpft, bestätigt oder in Negation dazu, überdacht oder ganz und gar verworfen. Für die Konzeption eines stärker raumsensibleren Spurenlesens böte es sich hierbei an, nicht nur die Bestände geographischen Wissens (WERLEN 2009:142), die beim Spurenlesen im- oder explizit zum Tragen kommen, genauer unter die Lupe zu nehmen. Neben dem spurenbezogenen Einbringen von z. B. physio-, sozial-, wirtschafts- oder kulturgeographischen Wissensinhalten in die Spur wie auch kartographischen Vorstellungen und Sujets, scheint es im Anschluss an die Geographien des eigenen Lebens indes überaus lohnend zu sein, und darauf hat es diese Arbeit denn auch abgesehen, das subjektbezogene Gut an Ortserinnerungen und spatialisierten wie spatialisierenden Erinnerungsspuren zu sichten und einer genaueren Spuren-Analyse zuzuführen. Jene subjektiven Spurungen könnten u. a. Aufschluss darüber geben, wie es um den subjektiven Erfahrungshaushalt eines Spurenlesers bestellt ist und welche Bedeutung den von einem gefundenen Gegenständen und Orten im Hinblick auf die Beschaffenheit und Wandelbarkeit persönlicher oder gruppenspezifischer Gedächtnisbestände zukommt. Einsehbar wäre dann zudem, wie, wozu und mit welchen genuinen Raumerfahrungen und geographisch imprägnierten Erinnerungen Spuren im Alltag immer wieder gesucht, gefunden und gelesen werden. Insofern könnte man auf Grundlage von weithin unberücksichtigten Orten und Gegenständen (und deren anhaftenden Spuren) zu raumbezogenen Auto-Biographien gelangen; verstanden als geohistorische Selbstzeugnisse des eigenen Lebens sowie kollektivierter Erinnerungs- und Erzählmuster einer sozialen Gemeinschaft (vgl. JUREIT 1999a), welche selbst noch im Verborgenen schlummern und erst infolge des An-ihnen-Lesens zutage treten. Damit könnte man nicht nur den Bestand an verborgenem Raum-Wissen, sondern auch das gesamten Gut an ortsbezogenen Erinnerungsspuren all derer freilegen, die sich selbst am tätigen Spurenlesen am Ort üben (wollen) und damit am selbstreflexiven wie findigen Herstellen von lebensbedeutsamen Spuren. Im Hinblick auf eine sich in den letzten Jahren im Anschluss an die memory studies stärker ausbildenden Geographie der Erinnerung (LEIPOLD 2019; MAUS 2015; MEUSBURGER et al. 2011; JONES & GRADE-HANSEN 2012; TILL & KUUSISTO-ARPONEN 2015) ließe sich das Spurenlesen letztlich als eine besondere, weil tiefgründige Form raumbezogener Erinnerungspraxis (LEIPOLD 2014:7) bzw. ortsbezogener Erinnerungsarbeit (TILL 2008, 2012; YOUNG 1997:12) begreifen, bei der der Spurenleser selbst im Hinblick auf den Spurengegenstand über seine Rolle als in die Vergangenheit blickender Zeitzeuge hinaus mehr noch in die Rolle des sich-erinnernden Ortszeugens schlüpft. 132 Da der Akt des Spurenlesens von gewissen Dynamiken und Unvorhersehbarkeiten lebt, müssten neben dem Geographie-machenden und die eigenen (oder andere) Lebens- und Erinnerungsgeographien betreffenden Hervorbringungen von Spuren vermittels sprachlicher und vergleichbarer repräsentionaler Sichtbarmach132 Wie dieses hier vorerst rein theoretisch wie hypothetisch formulierte Vorhaben einer spurensensiblen Erinnerungsgeographie seine Übersetzung in die Forschungspraxis erfahren kann, wird noch in den Kapiteln 5 und 7 genauer zu zeigen sein.

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ungen, wie Spurenvisualisierungen 133, aber zudem auch performative, mithin verkörperte Geographien vom Spurenleser der Spurenleser stärker in den Analysefokus gerückt werden. Dies würde dann auch die derzeit stark diskutierte und in Aussicht gestellte Verknüpfung der lange als unvereinbar geltenden semiologischrepräsentionalen Diskursstränge mit den durch Re-Materialisierungsbestrebungen (material/performative turns) neuerdings an Bedeutung gewonnenen non-repräsentionalen Diskurssträngen zuwege bringen (vgl. KRÄMER 2007a:13). Dergestalt käme, ganz im Sinne einer Geographie des Performativen (vgl. BOECKLER et al. 2014; DIRKSMEIER 2009; STRAUß 2018; THRIFT 2008), sodann eine Blickverschiebung auf eben jene (er)spürbaren Verkörperungspraktiken (KRÄMER 2005:157) und deren ortsbezogenen Affekte wie Effekte in Betracht, welche sowohl eine Zurücklassung als auch eine nachträgliche Erschließung von Spureneinträgen gleichermaßen begünstigen wie auch begleiten. Damit würde sich neben einer sprechakttheoretischen Blickeröffnung auf die die sprachlichen Spuren-Äußerungen (Narrative, Argumentationen, Diskurse) begleitenden Handlungen, die das Gesprochene nicht nur begleiten, sondern gleichsam unterstreichen, zudem die Möglichkeit ergeben, das eigentliche Auftreten und Agieren des Spurenlesers in Gänze – theoriesprachlich begründet – erforschen zu können. Ungeachtet der vielen Unschärfen eines performativ turn und einer sich daraus bis heute entwickelnden Diskussion um das Performative – nicht nur in der Geographie, sondern auch andernorts (vgl. BOECKLER et al. 2014:130; FISCHER-LICHTE 2012a; KRÄMER 2004; STRÜVER & WUCHERPFENNIG 2009) –, vermag das Inblicknehmen von Performanzen und Performativitäten 134 gleichwohl den Blick dafür zu schärfen, inwieweit eine Praxis, wie das Spurenlesen, nicht in vielen Momenten auch ohne Sprache auskommt bzw. stattfindet. Da Spurenleser manchmal weniger Worte, als vielmehr Taten sprechen lassen (vgl. Kap. 3.1), mündet das Spurenlesen 133 Wortwörtlich genommen könnten damit in medien- und kunstwissenschaftlicher Manier ebenso bebilderte Spurenansichten, also z. B. Fotografien, Karten oder filmische Aufzeichnungen von Spuren in den analytischen Blick geraten (vgl. DIDI-HUBERMAN 1999; GRAMPP 2009:35; GRUBE 2007:238; HOFFMANN 2007; HOLLENDONNER 2009; METKEN 1977). In diesem Kontext kämen dann geographisch besehen medial erzeugte Geographien in Form von u. a. visuellen Geographien (SCHLOTTMANN & MIGGELBRINK 2009, 2015) in den Fokus, und das konkret entlang und anhand von Spuren. Dass Spuren bereits zum Aufhänger eines solchen Projekts wurden, zeigt der Dokumentarfilm Shoah von Claude LANZMANN, der über mehrere Jahre im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre entstand. Mit seinem Film hat der französische Regisseur eindrucksvoll dargelegt, mit welch, nicht nur geringen technischen Mitteln und wenig gesprochenen Worten, sondern auch basierend auf einem überaus dünnen Spurenmaterial profund Geschichte dargestellt und erzählt werden kann; um in diesem Fall orts- und personenbezogene Geschichte(n) des Holocaust resp. der Shoah, die seinerzeit gesellschaftlich noch weithin tabuisiert war(en), audiovisuell und ortsbezogen erzählen zu lassen. Zu diesem seinerzeit ganz neuem und gewiss schwierigen Unterfangen äußerte sich LANZMANN späterhin rückblickend folgendermaßen: Es bleibt ja gar nichts mehr, es gibt nur das Nichts [an Spuren; R. L.], und es ging darum, von diesem Nichts aus einen Film zu machen (LANZMANN [1985]2000:105); vgl. dazu auch GEISLER (2009:58ff.). 134 Zur Unterscheidung beider Begriffe siehe BOECKLER & STRÜVER: Während Performativität auf den wirklichkeitskonstituierenden Aspekt sozialer Praktiken zielt, nimmt Performanz stärker den Auf- und Ausführungscharakter dieser Praktiken in den empirischen Blick (2011:665).

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wohl keineswegs nur in Erzählungen oder anderen Sprachfiguren, wie Argumentationen oder Diskursen (vgl. KRÄMER 2005:158, 2008b:296f.; WINKLER 2010:41). Das erkennende Suchen und Lesen von Spuren gründet ferner in körperlich-leiblich vermittelten Ausdruckformen wie es auch daran geknüpfte Erkenntnisprozesse sind, die Spuren nicht weniger zu einem Bestandteil gewusster Welt werden lassen: Das leiblich-spürende In-der-Welt-Sein gilt in dieser Sicht als eine primordiale Quelle des Wissenserwerbs (ALKEMEYER 2010:300; eig. Herv.). Folglich ist es über das deiktische Sprechen und Besprechen der Spur, über die räumlich-relationale Artikulation eines Hier und Dorts ferner eben auch ein deiktisches Zeigen und Verweisen derselben durch mimische und gestische Äußerungsformen, welche beim Spurenlesen des Spurenlesers nicht nur zur Anwendung, sondern damit gewissermaßen zuerst in fruchtbar erweiterter Perspektive forschungspraktisch in Betracht kommen können. An dieser Stelle sei nur an das Fährtenlesen, der Idealvorstellung vom Spurenlesen, als einem protosprachlichen Interpretationsgeschehen (HENGST 2016:79f.) erinnert, welches sich in vielen Teilen, das gibt das Verbum (er)spüren unmissverständlich zu verstehen, auch und vor allem als eine performative Praxis offenbart. Man denke ferner zudem nur an solche non-verbalen bzw. non-repräsentionalen Äußerungsformen, wie sie z. B. als kulturelle Praktiken in Form von Ritualen bestehen, die sowohl zum Erspüren befähigen als auch gespurt sein können, insofern ihnen selbst Spuren anhängen (vgl. GEERTZ 1997; SCHÄFER 2016:12f.). Jene kulturellen Ausdrücke lassen in gleicher, wenn nicht in ganz spezieller Weise besonders bedeutungsgeladene Räume (PETERMANN 2009:29) entstehen, indem rituelle Handlungen, denen gewissermaßen selbst Kulturspuren eingeschrieben sind, fernab des Gesagten vermittels des Dargestellten spurenbehaftete Orte und Artefakte ganz eigen mit Bedeutung belegen. 135 So gesehen tragen viele sozial-kulturelle Praktiken stets auch Spuren der Akteur-Innen in sich, Spuren des Moments der Handlung (ANKELE 2009:166). In diesem Zusammenhang ist nur an affektive Ergriffenheiten (Schock, Hysterie, etc.) resp. anderer ortsbezogener Emotionalitäten (Freude, Trauer, etc.) zu denken, 136 oder an das ganze inszenatorische

135 Siehe zum Phänomen raumbezogener Rituale ferner auch BOSCHUNG et al. (2015), PETERMANN (2007) oder auch REDEPENNING (2012). 136 Vgl. hierzu u. a. PILE (2009), THRIFT (2008), SCHURR (2014), HASSE (1999) oder insbesondere für die eigene Arbeit von besonderem Interesse TILL (2012). Letztere Autorin, die sich in der Tradition der Humanistic Geography (vgl. TUAN 1977) sieht, hat mit zahlreichen erinnerungsgeographischen Arbeiten (vgl. TILL 2003, 2005, 2008) indes dargelegt, inwieweit durch das Aufund Durchsuchen von gelebten Orten nicht nur ortsbezogene Erinnerungsarbeit (place-based memory-work) stattfindet. Dadurch treten stets auch emotionale Ortsverwurzelungen und damit auch Ortsspuren zutage, die im Fall von entwurzelten Stadtbewohnern (displaced persons) genauer besehen ortsbezogene Erinnerungswunden, oder in Anlehnung an FREUD gesprochen, ortstraumatische Erinnerungsspuren aufreißen, was sie für eine geographische Analyse besonders interessant macht. Jene memorierten Ortswunden/-spuren führt TILL mit dem Topos der wounded cities/places speziell in eine politisch-geographisch ausgerichtete Diskussion ein: I define wounded cities as densely settled locales that have been harmed and structured by particular histories of physical destruction, displacement, and individual and social trauma resulting from state-perpetrated violence (TILL 2012:6).

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Drumherum eines Spurenlesens, 137 was nicht zuletzt auch eine jede spurenbasierende Praxis ausmacht, wonach es in gleicher Weise einer besonderen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und Inwertsetzung bedürfte. Neben den zuvor aufgeführten non-repräsentionalen Spurenpraktiken wäre es überdies denkbar und zugleich erkenntnisfördernder, genauer nach all den Verkörperungen Ausschau zu halten, entlang und vermittels derer Spuren nicht nur gelegt und gelesen werden, sondern post festum durch die Arbeit am Objekt auch materialisiert werden, indem sie u. a. physiognomisch aufgedeckt, feinsäuberlich herauspräpariert oder ihr Dasein dauerhaft bewahrend, konserviert und archiviert werden. Bei alledem käme man schließlich nicht mehr umhin, mehr auf die zuvor an vielen Stellen betonte Verbindung von subjektgebundener Körperlichkeit/Leiblichkeit einerseits und weltgebundener Räumlichkeit/Materialität andererseits einzugehen, welche einer Re-Materialisierung der lange einseitig dominierenden sprach-, text- und zeichentheoretischen Wissenschafts- und Weltansichten gewiss nicht nur kreativ Abhilfe, sondern auch begünstigend Beihilfe leisten könnte. Bei all dem Zugewinn durch non-repräsentionale Blickschärfungen mag gewiss nur im Zusammenschluss beider Bezugnahmen – d. h. der Spur als Text und der Spur als Verkörperung/Performanz – ein fruchtbarer Forschungszugang liegen, der dem vielgestaltigen Untersuchungsgegenstand Spur wissenschaftlich angemessen wie erkenntnisfördernd Rechnung zu tragen vermag. Ungeachtet dessen läge mit Blick auf das eigentliche Verstehen der Spur und des Spurenlesers logischerweise im Zugang über die Kommunikativität bzw. Narrativität natürlich ein gewichtigerer, weil nicht zuletzt offenerer, weil frei zugänglicherer Forschungszugang. Letzten Endes ist die Praxis des Spurenlesens denn immer aufs Engste mit sprachlichen Praktiken im Allgemeinen, wie im Besonderen mit narrativen Praktiken verwoben, aus deren Verwobenheit denn erst die Spurenbedeutung (im eigentlichen Sinne) erwächst. Und dennoch: Die zuvor konzeptionell erfasste geographische Gesamtdimension der Spur, die Räumlichkeit der Spur (Spuren-Topologien, spurenanzeigende Gesellschafts-Raum-Verhältnisse, spurenbedeutende Welt-Bindungsprozesse) erschließt sich gleichwohl nur über die wechselseitige Verwiesenheit und Inblicknahme von

137 Dazu speziell HOLTORF, der dahingehend kritisch-reflexiv mit Blick auf den besonderen Habitus eines archäologischen Spurensuchens anmerkt: Ganz generell gilt, dass erst das Finden und Befinden, die Funde und Befunde den Ausgräber zum Archäologen machen. Ohne die materielle Auseinandersetzung mit dem, was in Ausgrabungen zutage tritt, würden ausgrabende Menschen gar nicht erst dazu gebracht werden, überhaupt archäologisch zu denken und zu handeln. Ähnliches gilt auch für eine andere Klasse materieller Kultur, die ebenfalls den Archäologen zu einem wesentlichen Teil konstituiert und Spuren seiner Arbeit in sich trägt, nämlich die archäologischer Werkzeuge. Ein Archäologe zu sein, heißt archäologische Werkzeuge – vor allem die Kelle – richtig verwenden zu können (HOLTORF 2007:349). Gleiches könnte man an dieser Stelle sicher auch für andere Spurenwissenschaften anmerken, so auch für die Geographie und einer Geographenschaft, die, wenngleich differenzierter, auch bestimmte Arbeitshaltungen, -techniken und -verständnisse nicht nur innerfachlich, sondern auch öffentlichkeitswirksam nach außen immer wieder zu reproduzieren weiß (bspw. der Geograph als Kartograph; vgl. HARD 1990a, 1995). Siehe zum Aspekt der Inszenierung des Spurenlesens ebenso KESSLER (2012b:10).

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material-körperlicher wie auch symbolisch-sprachlicher Äußerungsformen einer jeden nur denkbaren raumbezogenen Spurenpraxis. 4.3.2

Zeitlich-historische Dimension des Spurenlesens

Geht man nun daran, die Spur und ihr zugehöriger Spurenpraktiken durch eine dezidiert historische Brille zu besehen, dann führt einen dies unweigerlich und nochmal aufs Neue zur zentralen Frage nach der Temporalität von Spuren. Den Blick auf das Zeitliche gerichtet, lassen sich über das bisher Gesagte ferner auch weitere bzw. erweiterte Aspekte ausfindig machen und benennen, welche die Spur in ihrer besonderen Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit 138 wissenschaftlich zu begreifen helfen. Geschichtlichkeit von Spuren Wie wir bereits wissen, sind Spuren nicht ohne Weiteres einfach zu verzeitlichen. Das fängt allein schon damit an, dass die Bestimmung, wann eine Spur hinterlassen wurde, meist nur vage bis gar nicht beantwortet werden kann. Bleibt doch der Entstehungskontext der Spur dem Finder ebenderselben, selbst wenn er für deren Zurücklassung ursächlich war, weithin entzogen, weil sie ohne jede Kenntnisnahme an ihm oder an anderen vorüberging (vgl. RICŒUR 2009:129). So scheint es zwar unstrittig, dass das, was Spuren zeigen, […] sich auf ein vergangenes Geschehen [bezieht] (KRÄMER 2008b:277). Dieses Zeitgeschehen ist aber, und das benennt den strittigen Punkt, weder im Sinne einer Chronologie der Ereignisse immer klar datierbar 139 noch als solches rekonstruierbar, schon gar nicht in toto wiederherstellbar. Ganz zu schweigen davon, dass einem mit dieser Feststellung der einzige Bezug, der zur Temporalität der Spur etwas zu besagen hätte, aufschiene. Entsprechend äußert sich diesbezüglich auch HARD kritisch, als er unter Rekurs auf D'HAENENS (1984) von geographischer Seite zu bedenken gibt, dass man es im Zuge einer Spurenverfolgung zwar gewiss mit einer historischen Praxis zu tun hat, die eine Zurückprojektion von Sinn umfasst (HARD 1995:81). Jene Geschichtspraxis stellt 138 Geschichtlichkeit soll hier in Anlehnung an KOSELLECK als die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichten (KOSELLECK 2000c:300) begriffen werden. Demgemäß meint dann auch der mit dem gleichen Suffix ausgestattete Term der Zeitlichkeit die bedingenden Umstände, Besonderheiten und Wesenhaftigkeiten bestimmter zeithistorischer Verhältnisse. 139 An diesem Punkt mögen professionalisierte Spurensucher (Detektive, Naturkundler, Fährtenleser, etc.) sogleich einwenden, dass Spuren gleichwohl durch einen geschulten Blick oder mittels neuester Technik (u. a. Radiokarbonmethode, Dendrochronologie) sicher zu datieren seien. Hierbei wird aber zumeist übersehen, dass es sich dabei meist um vergleichende (Be-)Funde handelt, die mit anderen (bereits gefundenen) abgeglichen werden müssen, was das Spurenlesen mehr zum Zeichenlesen werden lässt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich (gerade bei Erstfunden) zumeist nur um wage Vermutungen und nicht um objektive Letztwahrheiten handelt, welche nicht immer auch widerlegbar wären, wie dies diesbezügliche Wissenschaftskontroversen und das Revidieren von spurenbezogenen Zeitmessungen immer wieder deutlich machen (vgl. ECO 1985:296; HOFFMANN 1998b:109; HOFMANN 2016:289).

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aber genau genommen und zuvorderst eher eine Zurückprojektion eines gegenwärtigen Sinns dar (ebd.; eig. Herv.). In geschichtswissenschaftlich gebräuchlicheres Vokabular überführt, wäre die Spur in ersterem Falle als res gestae, d. h. als (Tat)Sache eines vergangenen Geschehnisses anzusehen, in letzterem Falle wäre sie als res historiae, d. h. als Sachverhalt einer gegenwartsaktuellen Geschichtskunde anzusehen (vgl. KOSELLECK 2000d:31). Oder nur mehr noch in einem anderen Geschichtsdualismus ausgedrückt: Die Spur ist aufgrund ihrer besonderen Geschichtlichkeit sowohl ein Denkmal aus der wie zugleich auch an die Zeit (KNIGGE 2005:178).140 Ein Denkmal aus der Zeit, weil eine Spur natürlich einen historischen Ursprung hat, von dem aus die Spur (unbesehen) in die Welt gelangte, und welcher von da an über den historischen Verlauf hinweg mal mehr oder weniger fest an ihr heften blieb. Ein Denkmal an die Zeit, weil eine Spur logischerweise erst durch eine Nachträglichkeit, mithin einen nachträglichen Fund sowie Befund eine Rückbindung an jene Zeit erfährt, aus der sie einstmals hervorging. Die besondere Schwierigkeit im Rechnen mit der Zeit (RICŒUR 2009:134) besteht nun darin, dass Spuren zwar aus der Zeit (der Vergangenheit) stammen, dennoch erwiesenermaßen erst aus dem Jetzt (der Gegenwart) heraus an die (vergangenen) Zeiten zurückprojizierbar werden. Werden doch Spuren zumeist erst in einem gewissen zeitlichen Abstand gefunden und sichtbar gemacht, wohingegen der ursprüngliche Quell einer spureninduzierenden Hinterlassenschaft zunächst und bis zu diesem Zeitpunkt, d. h. bis zu dessen Entdeckung in Absenz weilt. Obzwar sich gerade wegen der Fest- und Dinghaftigkeit von Spuren nicht selten eine nostalgische Sehnsucht (HOLLENDONNER 2009:148) an und mit ihnen einstellt, in der Form, dass man meint, irgendwie zu der wahren (historisch-ansprechenden) Vergangenheit an sich zurückzugelangen, kann die spurenbezogene Projektion von Geschichte aus den zuvor geschilderten Gründen gleichwohl nur einen Ausgangspunkt haben: von der Gegenwart aus in (noch unbestimmte) Zeiten hinein. Radikaler auf den Punkt gebracht: Da Spuren immer nur aus der Jetztzeit heraus gesehen und ersehen werden, ist es wohl nur zu konsequent, sie als je gegenwärtige Phänomene, sozusagen als Erscheinungen der Gegenwart anzusehen, womit sie als solche auch forschungslogisch anzupacken wären. Dies soll mitnichten bedeuten, dass Spuren nicht auch in anderen Zeitdimensionen, als der Gegenwart stattfinden oder nur in dieser zu denken und zu erforschen möglich wären. Würde man dies indes behaupten, wäre nicht nur dem Phänomen Spur Unrecht getan. Damit wäre vielmehr noch die wissenschaftliche Idee der Spur wie auch die wissenschaftliche Kunst des Spurenlesens selbst ad absurdum geführt. Mit der bereits besprochenen Formel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (KOSELLECK 2000c:307) käme man dem Phänomen indes schon näher. Jener 140 Wenngleich der Denkmalsbegriff hier sicher irreführend scheint, zumal eine Spur ursprünglich keiner bewussten Denkmalssetzung entsprang, sondern einer unwillentlich wie unwissentlichen Handlung. Genauso wenig wird der Spur beim tätigen Spurenerlesen gleich ein Denkmal gesetzt, obgleich dies infolge einer erfolgreichen Semiotisierung und einer nachträglichen Symbolisierung der Spur – durch die Setzung eines Denkmals – gewiss geschehen kann (vgl. HOFFMANN 1998b:107); dann ist die Spur aber auch schon mehr gedeutetes (Erinnerungs-)Zeichen denn unverstandene (Geschichts-)Spur (vgl. HIRTE 2000).

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Formel folgend, tritt beim Spurenlesen die aufgefundene Spur nicht nur als monokausales und damit determinierendes Gegenwärtiges oder auch nur Vergangenes zu tage. Ferner ließe sich damit immer auch die gleichzeitige Anwesenheit ungleichzeitiger Zeithorizonte erkennen und so in den spurenwissenschaftlichen Forschungsblick rücken. Damit wäre man imstande zu erkennen, dass an der Spur gewissermaßen die Zeit bricht bzw. springt (vgl. KRÄMER 2007a:17; REICHERTZ 2007:313), als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft je nach situativer Sach- und Interessenslage in eine mehr oder minder eng oder los verstrickte anachronische Beziehung zueinander geraten können. Damit ist keineswegs der Idee von Geschichte an sich eine Absage erteilt, als vielmehr nur der Blick für Folgendes geschärft: die Pluralität und Dynamik von Zeit (vgl. ARNOLD 2009:97). Denn erst auf Grundlage jener Blickschärfung vermag man die temporären Verschiebungen, Brüche und Verflechtungen sehen, die parallel zueinander liegend, verschränkt miteinander oder asynchron gegeneinander arbeitend, erst die Geschichtlichkeit der Spur und damit verschiedene Spurenzeiten konstituieren. Spuren als Ein- und Ausdruck gesellschaftlicher Zeitverhältnisse Reinhart KOSELLECKs Topos der Zeitschichten (2000e) verweist in Teilen bereits in genau jene Richtung einer genuinen Spurenzeit, zumal er die enge Verschränkung von verschiedenen Zeiten bzw. Zeitlogiken (u. a. Synchronie/Diachronie, Beschleunigung/Verlangsamung, Wiederholung/Einmaligkeit) und damit auch die Möglichkeit historisch mehrschichtige Aussagen (KOSELLECK 2000c:313) zu ein und demselben Geschichtsgegenstand treffen zu können, zum zentralen Fundament seiner Historik erklärte. 141 Hiernach wäre auch im Falle von Spuren, als unbeabsichtigten Geschichtszeichen, nicht von einer geschichtlichen Zeit […], sondern von vielen, sich einander überlagernden Zeiten auszugehen (KOSELLECK 1989:10). So kann eine Spur von einem Spurenleser freilich nicht nur aus der Gegenwart heraus in eine unbestimmte Vergangenheit hinein durch eine Retrospektive (vielschichtig) rückbesehen werden. An ein und derselben Spur kann ein Spurenleser gleichermaßen auch mit Blick auf eine vergangene Zukunft (KOSELLECK 1989) etwas Künftiges, etwas noch Einzutreffendes prospektiv voraussehen bzw. vorausdeuten (s. Abb. 3/Kap. 3.3.8). Wie es seinerseits HARD äußerte, vermag die Spur auf Grundlage einer dreizeitigen Semiose über die zuvor beschriebenen Funktionen eines historischen oder futurologischen (An-)Zeichens, obendrein vor allem aber auch als diagnostisches Anzeichen fungieren. Was Spuren zu historischen Anzeichen macht, ist, wie bereits dargelegt, ihre weithin verborgene Ge141 Aus der Verwendung der Wörter -schicht oder -schichtig mag man erahnen, dass KOSELLECK bei den Überlegungen zu seiner Theorie geschichtlicher Zeitschichten von einer spezifischen Vorstellung von Geologie geleitet war. Im Gegensatz zu Geologen, die die Gegenständlichkeit (geologischer) Schichten und Aufschichtungen betonen würden, benutzte er den Topos der Zeitschichten hingegen als Metapher, der allein im übertragenen (bildlichen) Sinne auf geologische Formationen [verweist], die verschieden weit und verschieden tief zurückreichen und die sich im Laufe der sogenannten Erdgeschichte mit verschiedenen Geschwindigkeiten verändert und voneinander abgehoben haben (KOSELLECK 2000e:19).

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schichte, die ein Spurenleser der Spur durch seine Rekonstruktionsarbeit (zeitschichtenübergreifend) wieder zurückzugeben versucht (vgl. HARD 1995:84; REICHERT 2009:174). Was sie zu einem futurologischen Anzeichen macht, ist die sie stets umgebende Potentialität, an ihr eine Prognostik (Vorausschauen, mantisches Wahrsagen) anwenden wie auch eine ausblickende Zukunftsgeschichte schreiben zu können. Was die Spur letztlich zu einem diagnostischen Anzeichen macht, sind, wie zuvor bereits angedeutet, die stetig wechselnden Gegenwarten, in die sie hineinreicht oder aus der sie emporsteigt und aus der sie schließlich immer wieder erst gegenwärtig, also vergegenwärtigt wird, indem sie aus der Jetztzeit heraus entdeckt und sodann aufgedeckt wird. In diesem Verständnis meint diagnostisch zunächst, dass sich die Erscheinung der Spur und die Praxis der Spurenlese ungefähr auf der gleichen zeitlichen Ebene ansiedel[n] (HARD 1995:96). 142 Dergestalt fallen Spur und Spurenpraxis zeitlich gesehen nicht immer nur in eins. Im Rahmen einer jeden Spurenpraxis kristallisieren und manifestieren sich mehr noch Diagnostiken in Form von rückwärts formulierten Gegenwartsdiagnosen heraus, innerhalb derer die Spur als ein spezifischer Ausdruck zeitaktueller, sich verändernder Verhältnisse aufscheint. 143 Eine spurengeleitete Diagnostik kann in dieser Hinsicht u. a. die zeithistorischen Unterschiede zum Gegenstand haben, mit der Spuren zahlenmäßig und verschieden dicht irgendwann einmal zurückgelassen wurden, wonach man hypothetisch gesprochen sehen könnte, dass jede Zeit anders bzw. mit anderer Intensität Spuren hinterließ. 144 HARTKE wusste auf diesen Umstand mit Blick auf die historischen Verwerfungen der Moderne und die noch nachwirkenden Folgen des Zweiten Weltkrieges mit seiner zeitdiagnostischen Lesart von Sozialbrachen (HARTKE 1956) bereits ausdrücklich hinzuweisen. Auch HARD sollte späterhin nicht ohne Bezug zur Zeit bleiben, insoweit er die von ihm gesuchten städtischen Graffiti als Spuren der Zeitgeschichte (HARD 1993:80) inventarisierte, auf Latenzen hin auslies und zu guter Letzt geographisch sowie eben auch (zeit)historisch semio142 Dies findet bei HARD auch als aktive Spur seine Übersetzung. Damit sind im Allgemeinen solche Spuren gemeint, die vor allem Teil einer gegenwärtigen Praxis sind; hier liegen Herstellung und Lesen der Spur auf der gleichen historischen Ebene (HARD 1990a:29). Als Beispiel hierfür führt HARD u. a. einen Trampelpfad an, der von Bewohnern einer Stadt nicht nur in der Vegetation als Spur hinterlassen wurde und so irgendwann einmal auch als solcher wahrgenommen wurde, sondern der fortlaufend auch seine Nutzung, Umnutzung und seine immerwährende Einspurung erfährt, womit er stets unzählige (neue) Spurenhinterlassenschaften an sich weiß; siehe hierzu auch die unter Bezugnahme auf DE CERTEAU (1988) angestellten Gedanken in Kapitel 4.2.1. 143 Diagnostisch in dem von HARD vorgeschlagenen Sinne meint dann aber auch, dass die Diagnose zu Teilen auf bereits bekannten Semiosen und Kodierungen beruht; siehe speziell dazu das von ihm ausgebreitete Beispiel des Lesens von Mäusegerste-Rasen (vgl. HARD 1995:95ff.). 144 Mit diagnostischem Blick auf die gegenwärtige Gegenwart könnte man z. B. für Angehörige westlich-modernisierter Staaten attestieren, so derzeitige Zukunftsnarrationen (vgl. LEGGEWIE & WELZER 2010), dass sie wohl irgendwann einmal als diejenigen in die Geschichte eingehen werden, die insbesondere in ökologischer Hinsicht eindrücklicher und nachhaltiger denn je Spuren auf dieser Erde hinterlassen haben. Mit dem seit geraumer Zeit kursierenden Topos des Anthropozäns (CRUTZEN & STOERMER 2000) ist jener Geschichtsdeutung schließlich schon der Boden in terminologischer Hinsicht bereitet worden.

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logisierte. In reflexiver Manier verstand es vor allem HARD, eine stärkere Sensibilität dafür zu schaffen, dass gerade beim Finden und Lesen von Spuren selbst, d. h. beim selbstreferentiellen Bewusstmachen einer Spur und ihr zugewandter Spurenpraktiken immer zeitgebundene Diagnose-Unterschiede auftreten. Denn, so HARD pointiert feststellend: Jede Zeit übersieht andere Spurenarten (HARD 1995:82). Demgemäß weiß also jede Zeit nur um ihre Spuren, aber nicht nur darum, sondern auch darum, wie sie diesen Spuren zu folgen gedenkt. Zu unterschiedlichen Zeiten können insofern stets auch unterschiedliche modi des Lesens (Lesarten) greifen, wonach bei jeder historischen Spurenarbeit immer wieder auch andere zeitbezogene semiotische Mechanismen (ECO 1985:305) zum Einsatz kommen können. Die Dynamik von Denken und Kultur ist von der Physik der Spur nicht ablösbar (KRÄMER 2008a:81). In diesem Sinne lassen sich – geschichtlich gesehen – divers legitimierte Formen von Spurenlesungen ausfindig machen, die je eigene Lektüreformen und Spurengegenstände favorisiert oder verdrängt haben, dem Vergessen anheim fallen lassen haben oder, nichts von alledem zutreffend, gar nicht erst in Betracht gezogen haben (vgl. GEISLER 2009). Umso mehr gilt dann wohl auch hier die Devise, dass [n]icht […] die Entstehung einer Spur, sondern der ihrer Genese nachträgliche Gebrauch […] die zur Spur scheinbar passende Tätigkeitsform [ist] (KRÄMER 2007a:13; Herv. i. Orig.). Denn genau genommen kann selbst ein bereits über die Zeit einmal semantisch fixiertes Zeichen, sofern es nicht weiter gebraucht, erkannt und in seinem Bedeutungsgehalt verstanden wird, sich wieder zu einem unverstandenen An-Zeichen, d. h. einer Spur zurückbilden, was wieder eine interpretative Erschließungsarbeit von Neuem notwendig machen würde. ZeitlichbeA2/A Abb. 3) im historischen Vertrachtet kann also eine schon mal bedeutete Spur (A lauf wieder zu einer unbedeuteten und somit unsichtbaren Spur (A A1/A Abb. 3) verkommen, womit alle Spurenarbeit (spurenbezogenes Suchen, Lesen, Interpretieren, Erzählen/Schreiben) wieder von vorne begänne. Die HARDsche Spurenkonzeption hat diesem Sachverhalt durch die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Spuren bereits Rechnung getragen (HARD 1995:81f., 119). In zeitdiagnostischer Hinsicht wären dann solche Spuren, die als lebendiger Bestandteil einer gegenwärtigen sozialen Praxis und Realität an bspw. Orten bevorzugter Spurenerhaltung zu finden [sind] (HARD 1995:81), als aktive Spuren zu bezeichnen. Demgegenüber wären all solche Spuren, die keine Relevanz mehr für die Gesellschaft und deren Gegenwärtigkeit spielen (oder nie gespielt haben), weil sie weitestgehend übersehen oder verkannt wurden (bspw. Spuren unbedeutender Geschichtsfiguren, Zeitepochen), terminologisch als passive Spuren zu kennzeichnen. 145 Alles zusammengenommen, geben uns die zuvor präsentierten zeitbezogenen Spurenansichten noch mal, aber auf andere Art und Weise, zu verstehen, dass die Ablegung, Offenlegung, mehr aber noch die Auslegung von Spuren immer eng an

145 Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass alle Spuren einstweilig von einer Passivität gekennzeichnet sind, wenn sie als solche bezeichnet werden wollen (vgl. Kap. 3.3.10).

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die Spurenhandelnden und ihre gelebten wie erlebten Zeitverhältnisse 146 rückgebunden bleibt. Dass die Idee, Geschichte in Spuren zu lesen, und der Auftrag zur Raumlektüre nicht zuletzt im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Vergegenwärtigung der Shoah Konjunktur [bekommen hat] (GEISLER 2009:52), ist letztlich nur als ein stellvertretender Ausdruck des zuvor Dargelegten anzusehen. Im Sinne kontingenzsensibler Interpretationen (KNÖBL 2007:315) wäre damit zu der Einsicht zu gelangen, dass jede Gegenwart nicht nur Spuren überhöht und sodann auch übersieht. Es gibt darüber hinaus ebenso je gegenwärtige Zeiten wie auch Arten und Weisen spurenbasiert Geschichten zu erzählen, welche in jeweiliger Manier dazu führen können, dass Spurenerscheinungen in mitunter ganz andere Erzähl- und Zeitzusammenhänge geraten. Aus welchen zeitlichen Schattierungen bzw. Zeitschichten (KOSELLECK 2000e) eine Spur schlussendlich hervortritt bzw. herauspräpariert wird, ans Licht kommt und sodann erzählt wird, ist dann in Anbetracht des zuvor Verhandelten logischerweise weder einer reinen Zufälligkeit geschuldet noch einer konkreten Kausalität zuzuschreiben. Dies ist in höherem Maße bestimmt und abhängig davon, aus welchem kontext- und praxisgebundenen Eigen- und Geschichtsinteressen heraus ein Spurenleser gedenkt, einer Spur in vor allem zeitlicher Lesrichtung zu folgen. Zwischenfazit: Historizität von Spuren Im Gesamten betrachtet kann man der Spur – ganz ähnlich zu ihrer besonderen Geographizität (vgl. Kapitel zuvor) – eine besondere Historizität 147 attestieren. Der 146 Anders als bei WERLEN (2010c:333f.), der neben der Untersuchung gesellschaftlicher Raumverhältnisse zugleich und hierin verwoben die der gesellschaftlichen Zeitverhältnisse vorschlägt, sind jene Zeitverhältnisse hier nicht – wie bei WERLEN – in zeitgeographischer Lesart (vgl. HÄGERSTRAND 1970) als diejenigen Verhältnisse anzusehen, die dem räumlich ausgreifenden Handeln stets einen zeitlich bemessbaren Rahmen vorgeben. In dieser Perspektivierung wäre u. a. danach zu fragen, welche Handlungen ein Subjekt – relational-metrisch gedacht – innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit (in Analogie zu einer Raumeinheit) zu realisieren in der Lage ist, indem es bspw. in spätmodern technologisch-beschleunigten Verhältnissen lebend, im Gegensatz zu prämodernen Verhältnissen, zugleich höher, schneller und weiter handeln kann (vgl. ROSA 2005, 2012). Zeitverhältnisse im hier gemeinten Sinne sind nicht als die sich über eine historische Zeit beschleunigenden Steigerungsraten von Handlungen und Handlungsentscheidungen zu definieren, sondern eher allgemeiner formuliert: als die Gesamtheit der Verhältnisse und Bedingungen, unter denen Spurenpraktiken zeitaktuell stattfinden und solcherart ihre gesellschaftliche Zeit-Rahmung erfahren. Damit soll mitnichten einem wie auch immer gearteten Zeitgeist das Wort geredet werden. Der Topos der spurenbedingenden Zeitverhältnisse benennt demgegenüber hingegen eher den je gegenwärtigen Rahmen möglicher Geschichte (KOSELLECK 2000c:311) und die damit korrespondierenden zeitlichen Kontingenzen, innerhalb derer Spuren und Spurenpraktiken divers, d. h. immer auch anders, historisch in Erscheinung treten können. 147 Siehe hierzu von geschichtswissenschaftlicher Seite her HARTMANN et al. (2007) oder auch RÜSEN (2003:12). HARTMANN et al. verstehen unter Historizität nicht bloß die Realpräsenz von Geschichte in einer Gegenwartskultur, der Blick richtet sich vor allem auf die Formen und Motive ihrer Bearbeitung, Umprägung, Inszenierung oder Erfindung (2007:9). Ergänzend dazu

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Spur ist eine besondere Historizität eigen, weil mit ihr und ihr naheliegender Tätigkeitsformen, um mit dem Geschichtstheoretiker Jörn RÜSEN zu sprechen, eine besondere geschichtsträchtige Zeitlichkeit menschlicher Lebensverhältnisse (RÜSEN 2003:13) korrespondiert. Dafür steht zum einen die historische Eigensinnigkeit, mit der an unterschiedlichen Punkten der Menschheitsgeschichte Spuren hinterlassen wurden und werden. Der Eigen-Sinn 148 zeitbezogener Spurenverhältnisse besteht zum anderen wohl aber vornehmlich darin, dass sich geschichtsinteressierte Akteure (u. a. Historiker, Laien-Historiker, Geschichtsakteure) der Geschichtlichkeit von Spuren, egal ob in gleichen oder verschiedenen Zeitepochen lebend, stets unterschiedlich, d. h. ganz eigensinnig bzw. eigenzeitlich bemächtigt haben. Ein Blick in die Wissenschafts- und Paradigmengeschichte verschiedenster Disziplinen genügt, um sich vor Augen zu führen, dass wann und wie Spuren überhaupt gesichtet und untersucht wurden, mitunter stark divergierte und damit auch, was zu guter Letzt als wissenschaftliche Spur seine Propagierung erfuhr und was nicht. 149 Dass dies im Speziellen für die Paradigmengeschichte der Geographie von Belang scheint, ist zuvor bereits mit HARTKE, HARD und ihr nachfolgenden neueren Spurenunternehmungen (kritische Kriminalgeographie, Geographiedidaktik) dargelegt und besprochen worden. In Entsprechung dazu ließe sich aber auch anhand von historischen Spurenerkundungen aufzeigen und sehen, dass die Historiographie über ihre eigene Geschichte Spuren mit unterschiedlicher Sensibilität und Intensität, aber vor allem auch mit unterschiedlicher Zielsetzung und Methodik verfolgte, was sich im Besonderen an den Erträgen jener Geschichtsarbeit – an bspw. Historien, Historiken oder Annalen – erkennen lässt. Spätestens seit GINZBURGs wird an anderer Stelle bei RAU (2013a:67f.) die Andersartigkeit, Wandelbarkeit und breite Varietät historischen Zeitlichkeiten betont; dazu in gleicher Weise auch GIDDENS: Man könnte die Historizität als den Gebrauch der Vergangenheit zur Mitgestaltung der Gegenwart definieren, doch sie beruht nicht auf dem Respekt vor der Vergangenheit. Im Gegenteil, Historizität bedeutet die Verwendung des Wissens über die Vergangenheit als Mittel, mit ebendieser Vergangenheit zu brechen (GIDDENS 1995:69; eig. Herv.). 148 Siehe zum historischen Eigen-Sinn die alltagsgeschichtliche Konzeption von LÜTDKE (1993, 2015). LÜDTKE beschreibt das Grundidee seines Konzepts folgendermaßen: Eigensinn nimmt die Fährte in die Unübersichtlichkeiten der Verhaltensweisen der einzelnen [sic!] auf […]. Es ist eine Perspektive, die versucht, dicht an den Praktiken und (Selbst-)Deutungen der Einzelnen zu bleiben (1993:146; Herv. i. Orig.). Programmatisches Ziel ist es, die Vielschichtigkeit von historisch bezeugten eigensinnigen Verhaltensmodi geschichtswissenschaftlich aufzudecken und zu erforschen. Dazu werden im Gegensatz zu den strukturgeschichtlich gekannten oder erwartbaren Geschichtshandlungen eher jene historischen Verhaltensmuster in den Fokus gerückt, die gleichsam von einem historischen Handeln zeugen, welches sich selbst als von den Strukturen abweichend zeigt, mithin eigensinnig ist (bspw. Widerstand, Emanzipation). 149 Vgl. HARD (1995:82). Das gilt gleichsam auch für die Spurenlegungen, die von Wissenschaften und Wissenschaftlern selbst ausgingen (vgl. RHEINBERGER et al. 1997:19). So hinterlässt eine Wissenschaftlergeneration denn zumeist einer anderen immer auch eine unüberschaubare Menge von (unverstandenen) Spuren, die eine nachfolgende Generation erst erspüren und sodann verstehen muss, um sie möglicherweise weiterauslegen zu können. Für den Autor dieser Arbeit gab es genau einen solchen Punkt, an dem er auf die Spur verschiedener Wissenschaftler, Spurenleser und -theoretiker stieß, an deren Fährten er sich heftete, um schlussendlich auf die eigene (geohistorische) Spur zu kommen (siehe Kap. 2, 3).

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bahnbrechender Entdeckung eines Indizienparadigmas und einer ihr entwachsenden Mikrogeschichte ist die Geschichtswissenschaft aber gewissermaßen erst dazu übergegangen, sich ihrer eigenen Spuren und ihrer Rolle als Spurenwissenschaft bewusster zu werden. Im Einklang mit der Erkenntnis, dass alle Geschichte nicht nur bewusst überlieferte Quellen, sondern überdies auch nicht-offizielle Geschichtsprodukte hinterlässt, wurde vor allem auf jene Spuren und Geschichtssphären aufmerksam gemacht, die bis dahin innerhalb der Geschichtswissenschaft relativ unbeachtet und unbedeutend geblieben sind. Die Rede ist von den Spuren, die quasi von unten, d. h. von eher unbedeutenden Geschichtsakteuren im Kleinen zurückgelassen wurde, also letztlich von den Menschen, die nicht in den Geschichtsbüchern vorkommen (DANIEL 2001:287) – von den kleinen Leuten, den Akteuren des Alltags: von z. B. Arbeitern, Geknechteten oder Frauen. Die Mikrogeschichte gab neben einer sich für die Geschichte von unten interessierenden Alltagsgeschichte (vgl. LÜDTKE 2007:636; VAN LAAK 2003:42) darüber hinaus ferner auch einer sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker ausbildenden Frauen- und Geschlechtergeschichte auftrieb (vgl. HAGEMANN 1990; OPITZ 2005:44ff.). Durch mikrogeschichtliche Spurenerkundungen erfuhr in Teilen sicher auch eine seit den 1980er-Jahren in (West-)Deutschland in zunehmendem Maße sich institutionalisierenden Oral History eine entsprechende Bestärkung (vgl. NIETHAMMER 1978, 1985a/b/c; OBERTREIS 2012:12). Neben unbeachteten Geschichtssubjekten rückten bei alledem ferner zugleich alltagsgeschichtliche Dinge, Orte und Räume, entlang derer sich Spuren finden ließen, dezidierter ins Blickfeld historiographischer Forschungsarbeit. Wenngleich nicht immer unter dem Topos des Spurenlesens verortet bzw. verortbar, sollte diese Trendwende späterhin durch eine immer stärker an Raumfragen orientierteren Geschichtswissenschaft (vgl. RAU 2011:159f., 2013a:116; SCHLÖGEL 2006a; SCHRÖDER & HÖHLER 2005:19) sowie durch eine Objekt- und Dinggeschichte (DERIX et al. 2016; KORFF 2002; LUDWIG 2011a; PFAFFENTHALER et al. 2014) noch eine entsprechende Erweiterung bzw. Zuspitzung erfahren. GINZBURG hat für all dies ein wichtiges Fundament gelegt, um, entgegen groß angelegter Geschichtsauslegungen – wie sie der Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts hervorbrachte und sie Hayden WHITE als Metahistorien (1991) entschleierte –, umgekehrt eher die kleinsten Elemente und Facetten derjenigen historischen Aneignungsformen und Aneignungspraxen (LÜDTKE 1997:87) anzuvisieren, die am Ende dann auch auf das Machen, Bedeuten, Auslegen und Schreiben von Geschichte rekurrieren und damit auch auf etwas Großes hinzuweisen imstande sind; eben nur anders gelagert, und zwar: über den kleinsten nur denkbaren Geschichtszugang, über die alltagsgeschichtliche Praxis der Vielen 150 (LÜDTKE 1994:72) und den daraus hervorgehenden mikroskopisch kleinen Vergangenheitsrückstände. In diesem Zusammenhang wurde nicht zuletzt auch offenkundig, dass 150 Damit meinte LÜDTKE seinerzeit die grundlegende Annahme von Alltagsgeschichte, dass ein jeder von uns, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder welcher Klassenzugehörigkeit, potentiell Geschichte machen kann; folglich auch Frauen oder andere von der Macht (Geschichte zu machen) lange fern Gehaltene, welche bis dahin aus der Geschichtsschreibung weithin ausgeschlossen wurden oder nur in Fußnoten eben derselben ihren Platz fanden.

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alle Geschichtsarbeit [und damit auch die der kleinen Leute; R. L.] […] Rekonstruktion aus Spurenlesen [ist] (NIETHAMMER 1994b:198). In gleichem Zuge rückte mit der mikrohistorischen Blickerweiterung auf Vergangenes ein Perspektivwechsel auf die lebensweltliche Dimension, die Subjektivität und (kontingente) Standortabhängigkeit von Geschichte ganz im Sinne einer Alltagsgeschichte in unmittelbare Nähe, deren oberstes, selbst erklärtes Ziel darin besteht, zu ergründen: wie Menschen in ihrer sozialen und kulturellen Praxis gleichermaßen Objekt und Subjekt von Welt und Geschichte sind, oder: wie sie ihre Wirklichkeit erfahren und immer auch produzieren (LÜDTKE 2007:632). Spurenlesen als besondere Form der »Zeit-Bindung« Die zuvor ausgebreitete zeitliche Dimensionierung von Spuren bringt uns auf einen bereits beschrittenen Weg zurück. Während Menschen immerwährend die Alltäglichkeit des Lebens leben und erleben, wie von Mikro- und Alltagsgeschichte betont, spuren und spüren sie gleichermaßen in ihre unmittelbare Umwelt hinein, indem sie sich alltäglich in die Welt durch Spuren vermitteln. Wie im Abschnitt zur geographischen Dimensionierung des Spurenlesens darlegt, vermögen Subjekte damit insofern diverse Welt-Bindungen (WERLEN 2007) an und vermittels von Spuren einzugehen, indem sie spurengeleitet und nicht immer wissentlich Geographie machen. D. h., indem Menschen räumlichkeitsmeisternd Spuren legen, auffinden, ausgraben und translozieren und indem sie Spuren geographisch imaginieren, memorieren oder narrativierend verorten oder einfach nur performieren, mithin körperlich-leiblich an sich binden, bringen sie in vielerlei Hinsicht Welt-Bindungen und vielfältige spureninduzierende Alltagsgeographien (WERLEN 2000:336−335), Lebensgeographien (WERLEN & DAUM 2002) und Erinnerungsgeographien (LEIPOLD 2014) hervor. Während des räumlichen und spurengeleiteten In-BeziehungSetzens von Subjekten mit der Welt, gehen sie aber zudem und stets auch solche Bindungen ein, die die Möglichkeit verschiedener Bindungen an die Zeit in sich tragen, und somit auch die Möglichkeit in unterschiedlicher Art und Weise Geschichte zu machen – u. a. in Gestalt vergleichbarer Alltagsgeschichten (LÜDTKE 1997), Lebensgeschichten (NIETHAMMER 1985a) oder eben auch Erinnerungsgeschichten (JUREIT 1999a). Jene hier bezeichneten Zeit-Bindungen sollen innerhalb des Konzepts geohistorischen Spurenlesens im Wesentlichen zwei Dinge ermöglichen. Zum einen sollen sie begrifflich dazu dienen, um diejenigen Bindungen zum Thema werden zu lassen, die Subjekte in zeitlicher Hinsicht mit der Welt eingehen, um verschiedene vor allem spurengeleitete Zeitbezüge herzustellen. Zum anderen wird der Begriff der Zeit-Bindung aber auch dazu gebraucht, um zu sehen, wie Subjekte anhand von Spuren mit verschiedenen Ausprägungen von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit selbst umgehen. Mit dem Topos der Zeit-Bindung wird letztendlich ein Begriff in Anschlag gebracht, der als übergeordneter Ausdruck für all diejenigen zeitbezogenen Praktiken verwandt werden soll, welche allesamt bei der Spurenarbeit eine Rolle spielen, sprich Empfindungen, Erfahrungen, Vorstellungen, Repräsentationen und Verkörperungen von Zeit.

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Ganz im Sinne einer Phänomenologie subjektiver Zeit-Erfahrung (LÜBBE 2003:366) soll der Topos der Zeit-Bindung begrifflich zunächst dafür genutzt werden, um terminologisch begründet darauf hinauszuweisen, dass Spuren ein Ausdruck des zeitlich einmal Gelebten und Erlebten sind, wie sie in der Folge des sich einst Zugetragenen, d. h. post festum wiederum auch erst zum Ausdruck zeitlichmehrdimensionaler Erfahrung werden können – mit all ihren alltags-, lebens- oder erinnerungsgeschichtlichen Imprägnierungen. Mit Blick auf die Zeitlichkeit der Spur ist auch hier mindestens von zwei modi der Subjekt-Bindung auszugehen: von einer primären Zeit-Bindung (vergangene Spurenhinterlassung) und von einer sekundären Zeit-Bindung (gegenwärtige Spurensuche). Im Hinblick auf die primäre Zeit-Bindung sind zunächst all die zeithistorischen Umstände von Interesse, unter denen Spuren ihre ursprüngliche und fortlaufende Zeitigung erfuhren – die Spur als genuin historisches Anzeichen. In Bezug auf die sekundäre Zeit-Bindung interessieren darüber hinaus und im Unterschied zur primären Lesart mehr die zeitspezifischen Umstände, unter denen Spuren selbst erst erblickt und geblickt wurden – die Spur als gleichzeitiges historisches, futurologisches und diagnostisches Anzeichen. In letzterer Lesart wäre gemäß der zuvor stark gemachten Forschungsperspektive – dem Spurenleser auf der Spur – abermals die Tür zur Welt des Spurenlesers aufgestoßen; diesmal weniger über die Kategorie des Raumes als vielmehr über die Kategorie der Zeit. In diesem Kontext müsste die Frage folglich danach gestellt werden, wie Spuren denn zeitlich angeeignet wurden und werden, und welche Rolle am Ende verschiedene Zeitlichkeiten und Zeitlogiken bei der geschichtsbezogenen Aneignung151 der Spur (in gleichzeitig ungleichzeitiger Hinsicht) gespielt haben oder noch spielen. Hiermit wäre dann auch ein Ausgangspunkt dafür gelegt, um zur Frage zu gelangen, inwiefern einmal gelesene Spuren am Ende aller Spurenarbeit zu gewissen Orientierungen mit Blick auf die Zeit führen, welche das Spurensubjekt dann erst in ein Verhältnis und in eine direkte Ver-Bindung zu den präsenten und/oder absenten Zeitdimensionen versetzt – durch z. B. eine periodisierend-ordnende Einteilung in ein Vorher und Nachher. Konkreter hin gefragt: Welche Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft birgt die Spurenlese in sich oder bringt sie basierend auf zeitspezifischen Vorstellungen von Welt hervor, indem beim Auflesen und finalen Erlesen von Spuren gefestigte oder latente Vorstellungen von Zeit und Geschichte im Sinne von manifesten Geschichtsbildern152 oder, dynamisierend betrachtet, von kontingenten Zeitansichten zutage 151 In Anlehnung an den Alltagshistoriker LÜDTKE meint Aneignung hier die Gleichzeitigkeit des Sich-Einfindens in Vorgefundenes, das dabei immer schon verändert und je Eigenes wird (LÜDTKE 2007:632). 152 Geschichtsbilder sind nicht Abbildungen des Vergangenen, sondern Ein-Bildungen der Vorstellungs- und Urteilskraft, wie JEISMANN (2002:13) konzis bemerkt. Damit ist dann auch gesagt, dass Vorstellungen und Bilder von Geschichte neben stabilisierenden Kontinuitätslinien immer auch kulturelle und transformierende Dynamiken durchlaufen können. Darauf verweist dann auch der von RÜSEN geprägte Begriff des Geschichtsbewußtseins, der den intersubjektiven Umgang mit Geschichte hervorhebt und damit auch die dynamisch-komplexen Sinnbildungen von Geschichte, die sich in dem schon beleuchteten Wechselspiel zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung bewegen (vgl. RÜSEN 2001).

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treten? Zeugt es von Zufall oder warum drängen sich gerade jetzt (infolge der Jahrtausendwende), da eindimensionale Geschichtsbilder zugunsten pluralistischer Zeitansichten in großen Teilen an Gültigkeit verloren haben und nachdem vermehrt über Posthistorie (NIETHAMMER 1994a) oder gar über das Ende der Geschichte (FUKUYAMA 1992) gestritten wurde, Spuren ins Zentrum der Aufmerksamkeit? Hat das vielleicht damit zu tun, dass wir uns momentan, da wo alles zu enden scheint und zugleich unübersichtlich wird, nach materiell beglaubigten Resten einer vergangenen Vergangenheit sehnen? Ist mit dem (scheinbaren) Zusammenbruch einer (vorrangig westlichen) Geschichte nicht ein neues Zeitalter, ein Zeitalter des Gedenkens (NORA 2005) beschritten, was sich nicht zuletzt und vor allem an all jene Spuren klammert, die die Vergangenheit – trotz allen Verlustes für die Gegenwart – für die Erinnerung noch verfügbar hält? Spurenlesen als »Geschichte-Machen«: vom sprachlichen, performativen und erinnernden Historisieren von Spuren Um die zuvor aufgeworfenen Fragen gleichsam beantworten zu können, bedarf es zunächst grundlegender und weitgehender Überlegungen dazu, über welche Forschungsfelder und -zugänge denn Spuren in ihrer historischen Dimensionierung forschungspraktisch angegangen werden können. Ein Zugang zur Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit der Spur kann und das wurde – gedenkt man GINZBURG und anderen Spuren-Historikern (vgl. ANKELE 2009; RUPNOW 2005; SAUPE 2009) – so bereits schon getan, über den Kanon klassischer Geschichtsquellen (Protokolle, Urkunden, Chroniken, Tagebücher, etc.) gesucht. Dabei wurde im Wesentlichen eine Geschichtsschreibung durch Spuren (HARD 1995:82; Herv. i. Orig.) betrieben, wonach bisher unbesehene Quellen als Spuren und Spuren in Quellen zum Aufhänger von Mikro- und Alltagshistoriographien erklärt wurden. Doch welche Geschichtsquellen und -zugänge kämen überdies alles noch in Betracht? Als ganz naheliegende Geschichtsquelle ist sicher die physische Spur als historisches Substrat selbst in Betracht zu ziehen, denn: ohne Spuren keine Geschichte (HARD 1995:80; in Anlehnung an D'HAENENS 1984). Da eine Spur sui generis aber meist nur wenig bis keine historischen Aussagen selber tätigt, insofern sie keine historische Botschaft außer ihrer materialen mit sich führt, und man bei anderslautenden Spurenansichten nur unweigerlich in eine ontologische Falle (HARD 2008:268) tappt, scheint es nur zu angezeigt, den Spurenkundler und seine Spurenkunde ins Zentrum quellenbeschauender Aufmerksamkeit zu rücken. Da Spuren noch nicht verschriftlichte Beweise (HOFFMANN 1998b:180) sind, wird doch für gewöhnlich dem Spurenkundler, nachdem er sich die Spur zu eigen gemacht hat, als erstem die Aufgabe, sie in eine historische Erzählung oder periodisierende Geschichtsreihung zu bringen. In dieser Hinsicht produziert also der Spurenleser die erste aussagekräftige Quelle in Eigenregie, zu deren Quell er gewissermaßen selbst avanciert. Nicht zuletzt deswegen sollte sich eine historische Beschäftigung mit Spuren – in Analogie zu der in dieser Arbeit unterbreiteten Forschungslogik – gerade als eine reflexive Geschichtsschreibung über Spuren, Spurenlesen und Spurenleser (HARD 1995: 82; Herv. i. Orig.) verstehen. Ist doch gerade derjenige, der willentlich oder über-

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raschend auf Spuren stößt, meist als erster so nah an der Spur dran, dass er Zeugnis über sie und ihre Geschichte ablegen kann (vgl. REICHERTZ 2007:328ff.). Jene Zeugenschaft, jenes Zeugnisablegen ist dann allerdings immer etwas anderes als die Art von historischen (Be-)Zeugnissen, die man normalerweise hierunter zu fassen versteht: Denn das Bote-Sein des Zeugen kann – und muss vielleicht – nach Art des unfreiwilligen Botentums der Spur gedacht werden (KRÄMER 2011:127; Herv. i. Orig.). Bevor der Spurenleser schließlich zum Zeit-Zeugen resp. Spuren-Zeugnis werden kann, ist er aufgrund von defizitären Quellenlagen oder mangelnden Quellenauskünften, und das gibt das KRÄMER-Zitat zu verstehen, nolens volens dazu angehalten, sich erst einmal selbst Gedanken über die Spur zu machen und damit zusammenhängend, auch über seinen unmittelbaren Bezug zu ihr, sozusagen zu seinem Verstricktsein (SCHAPP 1953:121ff.; HOFMANN 2015:109) in sie sowie seine Rolle als Überbringer historischer Spuren-Botschaften. Ob diachron, simultan, chronologisch oder teleologisch angelegt, die Historisierung der Spur durch den Spurenleser mündet letztlich zumeist in ein geschichtliches Erzählen, was wiederum meist auch in ein geschichtliches Schreiben – auch Auf-, Um- oder Fortschreiben – von Spurenhistoriographien umschlagen kann (vgl. GINZBURG 1990, 1993a, 2011; SAUPE 2009). Natürlich vermag der Spurenleser aber zugleich vor oder begleitend zur Spurensuche und eigener Quellenproduktionen auch sekundäre, mithin offizielle, bereits verfasste oder zufällig gefundene Geschichtsquellen zurate ziehen, die am Rande ihres beabsichtigten Hinterlassens vielleicht auch diverse Erkenntnisse über die Geschichtlichkeit der Spur parat halten können. Diesbezüglich hat bereits RICŒUR darauf aufmerksam gemacht: daß jede beliebige Spur, die die Vergangenheit zurückgelassen hat, für den Historiker zu einem Dokument wird, sobald er diese Überreste aus einer Sachproblematik heraus zu befragen weiß. Am wertvollsten sind dabei diejenigen Spuren, die nicht ausdrücklich hinterlassen wurden, um uns zu informieren. (RICŒUR 2009:125)

In dieser Blickrichtung können Geschichtsquellen als dokumentarische Spuren (RICŒUR 2002:25) einerseits selbst Auslöser für historiographische Spurensuchen sein, indem sie als in Archiven lagernde Schriftstücke auf Dinge, Personen oder Orte verweisen, die entweder noch nicht entdeckt wurden, geschichtswissenschaftlich lange verkannt wurden oder einfach nur verschwunden gegangen sind (vgl. GINZBURG 1990, 1993a, 2011). Andererseits können wissenschaftliche, aber zudem auch fiktionale Geschichtsquellen, durch ein Lesen zwischen den Zeilen, durch das Herausfiltern und Dekonstruieren unbeachteter Randinformationen ebenso zu Spurensuchen anstoßen, welche wiederum selbst Aufschluss darüber geben können, mit welchen Motiven und Motivationen eine textbezogene wie auch eine an realen Gegenständen orientierten Spurensuche in Angriff genommen wurde (vgl. ECO 1985:298f.; KESSLER 2012a:151f.; SAUPE 2009; WETZEL 2005:86).153 Dazu wären 153 Bei HARD findet sich ein ähnlicher Vorschlag, der, um Spuren zu (er)finden, zu einem konstruierenden wie dekonstruierenden Lesen von Gegen-Texten, d. h. einem Gegen-den-Strichlesen offizieller Texte und Verlautbarungen im Rahmen seiner Spurenkonzeption aufruft (HARD 1993:71, 1995:66). Darüber hinaus besteht laut ANKELE (2009:161f.) die Möglichkeit,

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dann zu guter Letzt auch mündlich vorgetragene und aufgezeichnete Geschichtserzählungen zu zählen, innerhalb derer nicht weniger gewinnbringend auf die Suche nach verdeckten Vergangenheitsspuren gegangen werden könnte, wie sie sich u. a. entlang und innerhalb von offiziellen Erinnerungsnarrativen verbergen und so gesehen auch offenbaren können (vgl. KABALEK 2009). Spuren geben vielfältig Anlass zu narrativen Deutungen, Darstellungen (Geschichtsschreibungen) und Erinnerungsprozessen, wie sie natürlich auch durchaus den Stoff dafür abgeben können, historische Diskurse in und außerhalb einer geschichtswissenschaftlichen Öffentlichkeit in Gang zu bringen (vgl. ANKELE 2009: 157; LANDWEHR 2001; SAUPE 2009). Obendrein, und hier noch gar nicht erwähnt, können sie auch den Ausgangspunkt für die Schaffung von Wort(neu) schöpfungen darstellen, welche eine im wahrsten Sinne des Wortes begriffene Spur und damit zugleich auch eine anhand von Spuren begriffene Geschichte (KOSELLECK 1998) zum Ausgang hätte. Einmal so begriffene Spuren können insofern Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte werden, da die Mannigfaltigkeit geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtlicher Erfahrung in die Mehrdeutigkeit eines Wortes so eingeht, daß sie nur in dem einen Wort ihren Sinn erhält (KOSELLECK 1989:120).154 Einmal gefundene Spuren geben also insofern nicht immer nur Probleme auf, sie auf Grundlage allein materialer Auskünfte zu verstehen bzw. verstehbar zu machen, sondern auch deswegen, weil es zumeist keine Sprache, mithin noch keine Worte für sie gibt, die sie denn allumfassend in ihrer Erscheinung sowie konkret auf ihre Semantik hin bedeuten könnten (vgl. ASSMANN 1988:247). Erschwerend kommt hinzu, dass kein Ereignis […] sich erzählen, keine Struktur darstellen, kein Prozeß beschreiben [läßt], ohne daß geschichtliche Begriffe verwendet würden, die Vergangenheit begreifen lassen (KOSELLECK 1989:153). So kommen denn auch überall dort neue Worte und Bindestrichbildungen empor und zugleich zum Einsatz, wo neue Erfahrungen oder Hoffnungen formuliert sein wollen (KOSELLECK 1972:XXIII). Aus einer Spurenlese resultiert insoweit mitunter das Bedürfnis, der Spur einem Namen zu geben, um überhaupt Spurengeschichten terminologisch legitimiert erzählen oder diskursiv anschlussfähig verhandeln zu können. Dass dies so ist, bezeugen nicht zuletzt zahlreiche Wortneuschöpfungen bzw. Neologismen der Geschichte und Geschichtsschreibung, die ursprünglich allesamt etwas ehemals Unbekanntes, Unverstandenes, weil Prädiskursives zum Ausgang hatten. 155 ein Spurenlesen in Gestalt eines spezifischen Lesens von Handschriften zu forcieren, wie es bspw. psychopathologische Arbeiten tun oder auch Graphologen dies qua Profession als ihre Arbeit ansehen, aus den Schriftführungen von Subjekten personaliserende Typ-Spuren herauszulesen (vgl. GAWOLL 1989:280). 154 Siehe hierzu die zu Anfang des großen Spurenkapitels (Kap. 3.1) aufgezeigten Wortvariationen rund um den Topos der Spur. 155 So gibt es bspw. viele Geschichtsphänomene, ungeachtet welcher Epochenherkunft, die lange Zeit keinerlei Bezeichnung fanden, womit sie zwar quasi-existent waren, aber bis zu deren Benennung nicht im Sinne sprachlich-vermittelter Vorstellung existent bzw. evident wurden (vgl. LATOUR 2000b). Dies lässt sich u. a. am Beispiel von Hieroglyphen nachvollziehen, wonach ein einst kulturell verstandenes, hierauf lange unverstandenes Zeichen nicht nur eine Benennung

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Gleichwohl spielen mehr als nur sprachlich-diskursiv verfertigte, begriffene, archivisch verwahrte oder memorial abgespeicherte Geschichten bei der historisch motivierten Suche nach Spuren eine Rolle. Genauso wenig sind sie nur der alleinige Gegenstand bzw. Ertrag, auf den letztlich alles bei der Spurenlese hinausläuft. Das Phänomen der Spur hat uns doch nicht zuletzt unmissverständlich daran erinnert, dass es Dinge außerhalb der sprachlichen Bedeutung gibt und dass sich Geschichte zwar nie ohne Sprache [vollzieht] […] aber zugleich immer [auch] anderes [ist] (KOSELLECK 2010:89). Im ursprünglich gemeinten Sinne implizierte diese KOSELLECKsche Äußerung die offensichtliche Trennung zwischen historischer Wirklichkeit einerseits und historischer Fiktion andererseits. Im auf Spuren bezogenen Sinne liefert KOSELLECK mehr aber noch den Hinweis auf die Trennung zwischen dem auf Grundlage von Spuren historisch Gesagten resp. Sagbaren und dem historisch Dargestellten resp. Darstellbaren. Als vor- bzw. außersprachliches Phänomen fungieren Spuren auch als Anreize dazu, dass zeitlich Entrückte oder Versteckte anders (als über die Sprache) zurückholen zu können, indem man die Spur in ihrer Ursprünglichkeit oder ihrem historischen Verlauf bzw. Formenwandel gewissermaßen non-verbal rekonstruiert, mithin nachzuerleben oder nachzustellen versucht. An dieser Stelle mag einem sogleich die historische Spuren-Wissenschaft, die Archäologie in den Sinn kommen, die dies aufgrund zumeist sprachloser Forschungsgegenstände gezwungenermaßen immer schon tat; die aber neuerdings mehr noch dazu übergeht, dies vermehrt zum Repertoire reflexiven und methodologischen Nachdenkens über die eigene Forschungsarbeit zu erklären (vgl. HOLTORF 2003:356, 2007:342−349; HOFMANN 2015: 88ff.; HOFMANN & SCHREIBER 2011). Demgegenüber gibt es aber auch andere Bestrebungen, vornehmlich aus der Geschichtswissenschaft stammend, die sich dies neuerdings nicht minder zum Ziel gesetzt haben. Im Zuge eines performative turn haben sich denn inzwischen auch in der Geschichtswissenschaft Forschungszweige herausgeschält, die entgegen der strengen Text- und Objektivitätsgläubigkeit konventioneller Geschichtsauslegungen dezidiert auf das Gelebte, Gefühlte, Verkörperte und auch Inszenatorische aller nur denkbaren Formen von Geschichte(n) abheben (vgl. FISCHER-LICHTE 2012a/b; FREVERT 2009; MARTSCHUKAT & PATZHOLD 2003). Dabei wird im Tenor transdisziplinär angelegter performative studies grundals Hieroglyphe erfuhr. Mit der sprachlichen Übersetzung wurde mehr noch eine spezielle Benennung als Wort (oder Wortsilbe) mitsamt der ihr inhärenten Bedeutung möglich. Dass das stetige Begreifen des zuvor Nicht-Begriffenen bis heute eine lange Reihe von Geschichtsbegriffen gezeitigt hat, ist mit KOSELLECK und seinem Projekt der Begriffsgeschichte (KOSELLECK 2006) bereits unter Beweis gestellt worden. Geschichte wäre dann nur insoweit Geschichte, wie sie je schon begriffen worden ist. Erkenntnistheoretisch hätte sich dann geschichtlich nichts ereignet, was nicht auch begrifflich erfaßt worden wäre (KOSELLECK 1989:121). KOSELLECK hat mit seinem in Ko-Autorenschaft mit Otto BRUNNER und Werner CONZE herausgegebenen Mammutwerk der Geschichtlichen Grundbegriffe die Historikerschaft mehr noch dafür sensibilieren können, sich dem in alltäglicher Forschungsarbeit verwendeten Vokabularium vor dem Hintergrund disziplineigener Begriffstraditionen bewusster zu werden (vgl. KOSELLECK 1972). Den Wandel von begriffener Geschichte vorantreibend, hat KOSELLECK mit dem von ihm prominent geprägten Begriff der Sattelzeit (1750−1850) dazu selbst nicht zuletzt vielerlei Anlass gegeben (vgl. KOSELLECK 1998:195, 2000c:303).

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sätzlich davon ausgegangen, dass neben Sprachhandlungen und deren (textlichen) Niederschlägen genauso all jene kulturellen Handlungen, die vorrangig auf der Körperlichkeit und Leiblichkeit von (Geschichts-) Subjekten basieren, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend [sind] (FISCHER-LICHTE 2012a:216f.). Bezogen auf die historische Seite der Spur bedeutet das, dass sich Spurenpraktiken letztlich keineswegs nur in geschichtlichen Lektüren, also Sprach- oder Textprodukten (wie Historien oder Narrativen) ergießen. Vor, während und nachdem Spuren als Text gelesen, erzählt oder geschrieben werden, werden sie immer auch durch performative Handlungsvollzüge, somatische Einverleibungen oder durch szenische Verkörperungen erspürt und solcherart zur Spur als Performanz. Vieles von dem, was innerhalb der Spurenlese passiert, bleibt grosso modo unausgesprochen, weil es ungeplant, ohne Worte und ohne Wissen wohin es führt, einfach vonstattengeht, indem sich ein Spurenleser immer auch körperlich-leiblich, von Erfahrung, impliziten Gedächtnisinhalten und auch von seiner Intuition gespeist, entlang der Spur zu vergangenen oder zukünftigen Zeiten leiten lässt – oder: indem er sich dorthin, zu jenen Zeiten, selber aufmacht. Wie dies aussehen kann, hat eine in den 1980er-Jahren aufgekommene Geschichtsbewegung, im Speziellen eine Grabe-wo-du-stehst-Bewegung (vgl. LINDQVIST 1989), bereits zuteilen erkennen lassen. Ihrer Eigenbezeichnung entsprechend, hat es vor allem letztere Geschichtsbewegung nicht nur im metaphorisch gemeinten Sinne verstanden, nach und entlang von Geschichtsspuren zu graben. Sie hat dies eben auch zur grundständigen Voraussetzung ihrer (zivilgesellschaftlichen) Geschichtsarbeit an sich proklamiert (vgl. VAN LAAK 2003:39; LUDWIG 1983:5−8). In dieser Form der Spurenlese performt der Spurenleser mehr die Spur – mehr als er sie nur erzählt oder schreibt. Dies nicht allein nur deswegen, weil er raumbezogen tätig wird, insofern er der geschichtlichen Spur und seiner eigenen spurengeleiteten Arbeit einen Ort bzw. eine Bühne gibt. Er performt die Spur vielmehr auch aus dem Grund, weil er die materialisierte Zeitlichkeit der Spur leiblich an sich bindet, indem er sie historisch nachzuvollziehen und letztlich selbst historisierend zu verkörpern versucht. Unter der Sammelbezeichnung Living-History oder Doing History formiert, hat sich parallel zur Geschichtsbewegung der 1980er-Jahre inzwischen ein Geschichtsfeld herauskristallisiert, das nicht nur von gelernten Historiker als interessantes (neues) Forschungsfeld, sondern in erster Linie auch von passionierten Laien-Historikern als interessantes Arbeitsfeld angesehen wird, welches immer auch mit Spuren der Geschichte und deren sinnlich-körperlichen Erleben resp. Nacherleben zu tun hat (vgl. WILLNER et al. 2016). Neben zur Schau gestellter Geschichte auf Mittelaltermärkten oder historischen Flohmärkten stellt gewiss das reenactment dabei eine besondere Form und damit einen besonderen Forschungsgegenstand jener gelebten Geschichte dar (vgl. CARLSON 1999; FISCHER-LICHTE 2012b; HOCHBRUCK 2012; JUREIT 2020). Ein reenactment beinhaltet im Allgemeinen die Wiederholung bzw. Re-Animierung (auch Re-Inszenierung) eines Geschehnisses, einer historischen Handlungsfolge, wie sie sich irgendwann einmal – bspw. als Kriegsereignis – zugetragen hat. Spuren der Vergangenheit, wie sie sich vor allem an Orten, an historischen Gebäuden oder Gebrauchsgegenständen niedergeschlagen haben, dienen in diesem Zusammenhang meist als Aufhänger, entlang derer

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man (möglichst) den authentischen Brückenschlag zu der Zeit und zu dem Handlungsereignis zu schlagen versucht, aus der die Spur über den historischen Verlauf bis ins Hier und Heute überdauerte. Bei allen diesen Versuchen, Spuren historisch anzuverwandeln, sind nicht nur die gesellschaftlichen Zeitverhältnisse zentral, welche den Rahmen des Möglichen, des anhand von Spuren möglich-Lesbaren und -Erlebbaren setzen und immer wieder auch versetzen. 156 Das (zeit-)historische Erfahren, Lesen und Erleben von Spuren ist darüber hinaus aber ebenso manifester Ausdruck dessen, wie eine Spur zu einem Spurenleser kommt resp. wie ein Spurenleser zu einer Spur kommt. Hieran knüpft sich sogleich die schon mehrmals dargelegte Grundansicht, dass die Spur und die Praxis des Spurenlesens in direkter Verbindung zu demjenigen gesehen werden muss, der sich auf die Spurensuche begeben hat. Derart bliebe hier mehr nur noch danach zu fragen, was die Spur zu guter Letzt allen voran mit der eigenen Person, genauer mit der selbst erlebten Geschichte, mithin der Geschichte des eigenen Lebens (Lebensgeschichte) als solcher zu tun hat. Es braucht also auch in diesem Fall den unmittelbaren Bezug zum Spurenleser, d. h. den Bezug auf die semantische und soziale Welt, in der der Spurenleser lebt und Spuren sucht und interpretiert (HARD 1995:92). Denn an die Geschichte der Spuren ist letztlich nur zu kommen, so die bisher entwickelte Denklogik, wenn man dem Spurenleser und seiner Lesung folgt, was dann am Ende wiederum nur zu bekommen ist, wenn man der Rolle des vom Spurenleser erspürten und betrachteten Spurengegenstandes mit Blick auf die eigene Biographie und [die] Biographie nahestehender nachkommt (HARD 1995:91/Anm. 44). Mit einer (sozial-)historisch ausgerichteten Biographieforschung (vgl. ROSENTHAL 1995, [1995]2012; SCHÜTZE [1983]2012; WEIDENHAUS 2008) und einer eng damit verknüpften Oral History (vgl. JUREIT 1999a/b; NIETHAMMER 1985a/b/c; OBERTREIS 2012; VON PLATO [1991]2012; WIERLING 2003) stünde für die Beantwortung der zuvor formulierten Frage schließlich schon ein erprobtes Begriffs- und Handwerkszeug zur Verfügung, um eben zu ergründen, inwieweit und in welcher Form ein Spurenlesen nicht immer auch dazu neigt bzw. dazu bestimmt ist, biographische Selbstpräsentation (ROSENTHAL 1995:13/Anm. 5) zu sein. 157 Hierüber 156 In dem geschilderten Fall der Living History muss man sich schließlich nur eine Gesellschaftsdiagnose unserer Zeit vor Augen führen. Dieser Gesellschaftsdiagnose folgend, wird gerade auch Geschichte zunehmend mehr zum Erlebnis(gut) gemacht und derentwegen sich eben auch Zeithistoriker mit jenem Phänomen überhaupt erst auseinanderzusetzen begannen – die Rede ist von der sogenannten Erlebnisgesellschaft (SCHULZE 1995). Dass das Verfolgen und Lesen von Spuren in vielen anderen Bereichen zum Erlebnisgut bzw. zu einem erlebnisgesellschaftlichen Sujet geworden ist, zeigen nebstdem Phänomene wie das sogenannte geocaching wie auch die zahlreichen Angebote und Möglichkeiten, das historische Spurenlesen in der Natur oder andernorts richtig erlernen zu können (vgl. LIEBENBERG 2001). 157 Damit würde man schließlich auch HARD, der das eigene (vegetationsgeographische) Spurenlesen immer auf eine stärker sozialwissenschaftlichere Methodologie hin ausformuliert wissen wollte, nun über Umwege explizit Rechnung tragen (vgl. HARD 1995:58ff., 1993a:82, 96). Dass dies an anderer Stelle bereits getan wurde, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden; siehe hierzu die polizeisoziologischen Arbeiten von REICHERTZ (1991, 2007), in welchen das

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würden sich dann auch grundlegende Einsichten und Chancen für eine selbstreferentielle Erforschung des Spurenlesens und des Spurenlesers gemäß der dieser Arbeit zugrunde gelegten Forschungsmaxime – dem Spurenlesen/r auf der Spur – in historischer Hinsicht eröffnen. Aufgrund der zuvor aufgeworfenen Zeit-Ansichten auf Spuren kämen selbige hiernach jedoch nicht ausschließlich nur als Zeit- bzw. Geschichtszeugnisse im Allgemeinen in den analytischen Blick, sondern im Speziellen als Zeugnisse des Selbst. Selbstzeugnisse, wie sie an einer Spur situativ und abrupt ihre Präsentation und Formulierung erfahren können, und welche sodann weniger in Bezug auf die materielle Beschaffenheit bzw. historische Aufschichtung des Spurengegenstandes als vielmehr im Einklang mit der Erfahrungsaufschichtung (Biographie) des die Spur lesenden Subjekts zu sehen wären. Obgleich dies Spurenlesern nicht jederzeit bewusst sein dürfte, weil sie auf teils unbewussten, verdrängten oder stummen Wissens- und Gedächtnisbeständen gründen, tragen jene Zeugnisse des Selbst neben Tendenzen der Biographisierung 158, also der autobiographischen Selbstbespiegelung und der lebensgeschichtlichen Selbsteinspurung in die Spur, ferner zugleich aber auch Spuren der Sozialisierung und Enkulturalisierung des Spurensubjekts in sich, was die Spur letztlich nicht nur zur Spur des Spurenlesers, sondern zugleich auch zur Spur des sozialen und kulturellen Umfeldes macht, innerhalb derer der Spurenleser sein Leben lebt bzw. gelebt hat. Denn auch wenn Lesen [hier: das Lesen von Spuren; R. L.] ein monologisches Verhalten in Einsamkeit und damit auf den ersten Blick gar nicht sozial ist, lässt es sich nun als eine kollektiv geformte […] Aktivität rekonstruieren (RECKWITZ 2003:286; eig. Herv.). In diesem Zusammenhang ließe sich schließlich auch, im Gleichklang mit den zuvor schon einmal angesprochenen individuellen Resonanzen nach den gesamtgesellschaftlichen Resonanzverhältnissen (ROSA 2016) fragen und Ausschau halten, die sich bei der Spurenlese einstellen und offenbaren, und die den Spurenleser im schwingenden Widerhall mit dem Spurenobjekt immer wieder auf sich selbst, seine Lebensgeschichte und seine sozial-kulturelle Umwelt zurückschwingen lassen. Derart kann über die biographisch und lebensgeschichtlich resonante Inblicknahme der Spur die Fährte sowohl zu den eigenen, ganz persönlichen Spuren einer vergangenen (oder auch zukünftigen) Geschichte gelegt werden, als auch zu eben jenen Spuren, die speziell aus der Teilnahme und Teilhabe an jedweder Form von Gemeinschaft oder Gesellschaft erwachsen sind. Im Zusammenspiel zwischen der individuellen und der sozial-kulturell geteilten Erfahrungsgeschichte ließen sich die Spuren u. a. an der abgelaufenen Lebens- und Geschichtszeit rückbeschauen, die sich selbst nicht nur im eigenen Lebenslauf, sondern auch in den mit anderen geteilten Lebensgeschichten und schicksalhaft gespurten Lebenslinien (WEIDENSpurenlesen bereits sozialwissenschaftlich begründet, vorbereitet wie auch forschungspraktisch durchgeführt wurde. 158 Der Begriff der Biographisierung ist an dieser Stelle der soziologischen Arbeit von WEIDENHAUS (2008) entlehnt. Er fasst darunter verschiedene Modi des stetigen Arrangierens von gelebter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; dazu WEIDENHAUS selbst: Im Prozess der Biographisierung werden Erfahrungen und Ereignisse in eine Struktur lebensgeschichtlicher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingelagert. Diese Struktur ist aber nicht vorgegeben, sondern wird erst zusammen mit der Biographie konstituiert (WEIDENHAUS 2008:252).

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FELS 2009:101) manifestiert und inkorporiert haben. Dass die Zeit auf diese Art und

Weise Spuren hinterlässt, ist nicht nur eine Alltagsweisheit. Dies lässt sich nicht zuletzt auch mit Blick auf das äußerlich sichtbare Altern von Menschen, bspw. anhand von Alterungsspuren wie Falten oder aber auch anhand von körperlich-physischen Einschneidung wie Narben, die sich einem als lebenslange Körperspur eingeschrieben haben, nachvollziehen (vgl. BETTE 2005; SCHMIDT 2016:124ff.; WALDENFELS 2009:101).159 Das ist jedoch nur die eine, rein oberflächliche Seite persönlicher Lebensspuren. Die andere führt uns mehr ins Innere des Spuren-Subjekts, wo uns Spuren – FREUDS Psychoanalyse und zeitgenössischer Gedächtnisforschung folgend – in Form von unterschiedlich tief eingeschriebenen Gedächtnisspuren (Engramme) begegnen können. Was wir unseren Charakter nennen, beruht ja auf den Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns gewirkt hatten, […] solche, die fast nie bewußt werden (FREUD 1982: 516, zit. nach NITSCHE 2009:78; eig. Herv.). Mit FREUD wäre damit die Brücke von den handfesten an Körper und Dingen ersichtlichen und eindrücklichen Spuren zu den (ontologisch) weniger festen bzw. manifesten Erinnerungsspuren geschlagen, die neben dem Charakter, so würde eine aktuelle Gedächtnisforschung einlenken, allen voran die Biographie, die Lebensgeschichte und -erfahrung eines Subjekts konstituieren und formen. Da Spurenleser im Zuge des Zusammentreffens mit einer Spur immer wieder mit den durch und durch eigenen Lebensspuren, d. h. der eigenen Erfahrung, der eigenen Sicht der Dinge, aber eben vor allem auch mit den eigens erlebten Vergangenheiten (und möglicherweise auch mit der anderer) konfrontiert werden, vermag all dies dann auch beim Spurenlesen mal mehr oder weniger direkt und offenkundig zum Tragen kommen. Die Spur ermöglicht damit die Auseinandersetzung mit der Zeit im Sinne einer Meisterung von Zeitlichkeit, wie sie allen voran für den Spurenleser in Bezug auf die eigene Lebenszeit eine besondere Relevanz bekommt. Denn die Spur versetzt den Spurenleser gleichsam erst in die Situation auf aktuell gelebte, nicht mehr gelebte oder noch zu erlebenden Zeiten selbstbewusst wie biographisch einzugehen. Mehr noch ermöglicht sie ihm, sich durch das Dickicht gleichzeitiger Ungleichzeitigkeiten zu schlagen, indem sie ihm etwas an die Hand gibt, das sich gegen die spekulativen Aporien der Zeit (RICŒUR 2009:123) in Stellung bringen lässt, um z. B. begründete Zeit-Bindungen in Form von erinnerten Geschichts- bzw. Vergangenheitsaufarbeitungen leisten zu können.160 Aufschluss hierüber, d. h. über die spurenbedingenden Zeitaneignungen, könnten u. a. die inneren Drehbücher (WIERLING 2009:324) geben, welche eine Spurenlese innerlich 159 KRÄMER (2011:135ff.) bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel des sogenannten Muselmannes. Ein Muselmann bezeichnete in der NS-Lagersprache im Speziellen Menschen, die aufgrund ihrer physiologischen Mangelerscheinungen (Abmagerungen, etc.) als wandelnde Gestalten zwischen Leben und Tod angesehen wurden. 160 Siehe hierzu u. a. die immer wieder in der Tagepresse zu vernehmenden Berichte über die Offenlegung von Massengräbern (bspw. in Osteuropa, Spanien oder Ruanda), die nicht nur neuerlich an das Zeitalter der Extreme (HOBSBAWM 1995) und den zahlreichen genozidalen Säuberungen ortsbezogen erinnern lassen, sondern auch an die blinden Flecken, die eine (vermeintlich) schon aufgearbeitete Geschichte immerwährend parat hält.

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und im Hintergrund laufend sowie aus dem Palimpsest der Erinnerung (NIETHAMMER 1985c:393) schöpfend, gleichsam lebensgeschichtlich und sozial rahmen bzw. bedingen. In Bezug zu Letzterem sind Spurenlesungen nicht nur nach den individuellen Erfahrungs- und Erinnerungseinsprengseln zu besehen und zu befragen, wie dies FREUD einst vorschlug und selbst praktizierte, sondern auch hinsichtlich ihrer sozial-kollektiven Gedächtnis-Rahmungen. In Abkehr zu FREUD hat der französische Soziologe Maurice HALBWACHS Anfang des 20. Jahrhunderts bekanntlich die sozialen Gedächtnis-Rahmen (cadres sociaux) ausfindig gemacht, innerhalb derer sich Gemeinschaften (z. B. Familien oder religiöse Gemeinschaften) vermittels sozial geteilter Erinnerung an Vergangenes immer wieder ihrer selbst, d. h. ihrer kollektivierten Gedächtnisse (mémoire collective) rückvergewissern (HALBWACHS [1925]1985, [1950]1985). Im Einklang mit der damit herausgestellten sozialen Bedingt-, Geformt- und Konstruiertheit von individuellen Erinnerungsprozessen, wie sie heute gemeinhin zum konsensualen Gut einer interdisziplinären Gedächtnisforschung geworden sind (vgl. ERLL 2012; ERLL & NÜNNING 2008; GUDEHUS et al. 2010), wäre dann auch selbst bei der subjektiven und auf Biographisches hinauslaufenden Spurenlese davon auszugehen, dass die an Spuren präsentierten Erinnerungsgeschichten stets auf einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen (HALBWACHS [1925]1985:23), und damit auf einen gesamtmemorialen Gedächtniskanon rekurrieren. Ein sozial getragener Gedächtniskanon, der wiederum selbst von bestimmten erinnerungskollektiv gefestigten Deutungsschemata, Erzähl-, Vergessens- oder Erinnerungsmustern durchzogen ist (vgl. ASSMANN 2012:63; JUREIT 1997:98). Während der Spurenlese können solche sozial-gerahmten Erinnerungs-, Vergessens- und Erzählmuster aufgrund des störerischen und plötzlichen Auftauchens einer Spur immer wieder zutage treten wie sie zugleich aber auch durch plötzliche spureninduzierte Erinnerungsdurchbrüche (NIETHAMMER 1985c:402) durcheinandergeraten können und somit auch an Gültigkeit verlieren können. In letzterem Falle sähe sich der Spurenleser neuerlich dazu herausgefordert, die eigene Sicht der Dinge am Objekt haftend, zu reflektieren, zu re-justieren und möglicherweise auch zu revidieren, indem er eine plausible, für die Spurenerscheinung passendere (Erinnerungs-)Geschichte zu finden versucht, welche womöglich Anderes hervorhebt oder wiederum Anderes verdrängt oder vergisst (vgl. ASSMANN 2012:43ff.). In diesem Sinne meint dann auch JUREIT, obgleich ohne direkten Bezug zur Spurenthematik, dass ein Neuarrangement eingeübter Erzählungen und Erinnerungen von (Lebens-)Geschichten immer in dem Moment passiert, wenn offenbar neue Erfahrungen [auftreten], die bisherige Deutungen in Frage stellen oder nach anderen Darstellungsformen verlangen (JUREIT 2012b: 150). Die Erfahrung der Spur, das hat die bisherige Abhandlung gezeigt, kann gewiss als eine solche neue Erfahrung angesehen werden, welche zum Akt stetiger identitätsstiftender Rückversicherung sowohl zur eigenen biographischen Geschichte als auch zu der Geschichte einer Gesamtgesellschaft, oder Teilen hiervon (bspw. von Generationen) aufruft. Über den Zugang zur Biographie, Lebensgeschichte und Erinnerung kann wohl nicht zuletzt am Ende ein ganz vielversprechender Zugang liegen, mithilfe derer man der zuvor ausgebreiteten Zeitlichkeit der Spur, insbesondere der Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen, vielversprechend

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selbst wie selbstbezogen auf die Spur kommen kann – und das auf einer mehr historischen Forschungslogik gründend: dem Spurenleser beim alltags-, lebens- und erinnerungsgeschichtlichen Spurenlesen lesend auf der Spur. 4.4

Zur raumzeitlichen Dialektik des geohistorischen Spurenlesens »Der Temporalität muss die Spatialität zur Seite gestellt werden.« (SCHLÖGEL 2004:276)

Im Zuge einer seit geraumer Zeit zu vernehmenden Renaissance des Raumes in weiten Wissenschaftsteilen und einer hierbei neuerdings entfachten Auseinandersetzung zwischen Geographie und Geschichte, wie sie in Kapitel 2 skizziert wurde, ist unlängst auch die kantianische Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit aufs Neue lanciert worden (vgl. REUBER 2005:6ff.). Im Lichte FOUCAULTscher Voraussicht, die Epoche des Raumes (FOUCAULT [1967]1998:34) betreten zu haben, wurde und wird in diesem Zusammenhang indes deutlich, inwieweit die wissenschaftliche Vorherrschaft der Zeit über den Raum, wie sie u. a. KANT (1839:427) einst formulierte und wie sie sodann über die Moderne und dem Historismus Allgemeingültigkeit erlangte, gegenwärtig peu à peu ihr legitimatorisches Fundament verliert. Wird doch zusehends weniger verkannt denn erkannt, dass die conditio humana nicht ausschließlich nur in zeitlich-linearer oder entwicklungshistorischer Hinsicht gedacht und gefasst werden kann. Derart gelangt die Ansicht zu immer größerer Akzeptanz, dass Raum und Räumlichkeit als Erfahrungs- und Wissenschaftsgrößen eine nicht zu unterschätzende Relevanz besitzen, allzumal das menschliche In-der-Welt-Sein (HEIDEGGER 1953) neben zeitlichen Bedingungen in vielerlei Hinsicht und selbstredend in räumlichen Beziehungen ihren (vielleicht sogar deutlicheren) Ausdruck findet (vgl. SOJA 2003:270f.). Wenn auch die aktuelle Neuverhandlung des Raum-Zeit-Verhältnisses solcherart wiederum in neue asymmetrische Ungleichgewichtungen zu verfallen droht, verschreiben sich gegenwärtig immer mehr Autoren dem expliziten und gleichberechtigten Zusammendenken von Raum und Zeit mitsamt den damit korrespondierenden Terminologien und Subkategorien (vgl. BACHTIN 2008; CRANG 2008; DORSCH & RAU 2013; GROßKLAUS 1995; LEFEBVRE 2004; MAY & THRIFT 2001; RAU 2013a; SCHATZKI 2010, 2011; SOJA 2008; VON HIRSCHHAUSEN et al. 2015; WALDENFELS 2009; WEIDENHAUS 2015; WERLEN 2010C). In der Dialektik von Raum/Zeit sowie darunterliegend, von z. B. Räumlichkeit/Zeitlichkeit, Regionalisierung/Periodisierung oder Ort/Ereignis, mag dann nicht zuletzt auch der zentrale, archimedische Punkt und zugleich programmatische Rahmen dafür liegen (s. Abb. 3), wie mit der Spur gewinnbringender und tiefgründiger als bisher forschungslogisch verfahren werden kann. Ohne hierbei einer falschen Symmetrie (fausse symétrie; LÉVY 1998) das Wort zu reden und ohne der Überzeugung zu widersprechen, dass am empirischen Fall gewisse Asymmetrien natürlicherweise auftreten können, sind denn Spuren, idealtypisch gedacht, sowohl im Spatialen wie auch im Temporalen aufgehoben, genauso wie sich auch ein Spurenfeld als Forschungsfeld erst hierüber

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Geographie, Geschichte und Spurenlesen

aufzuspannen beginnt. Konsequenterweise bedurfte und bedarf es bei der konzeptionellen Rahmung des Spurenlesens sowohl zeitlicher wie auch räumlicher Perspektiven und Perspektivierungen (s. die beiden Kapitel zuvor), welche sich grundsätzlich weniger im Wege als vielmehr gegenseitig ergänzend zur Seite stehen sollten. Denn weiterhin von der Spur als einem ahistorischen Ort (GAWOLL 1989: 281) oder gar von einem Nicht-Ort (LÉVINAS 1987:285) zu sprechen, hätte logischerweise zur Folge, eine Seite der Spur gänzlich unberücksichtigt zu lassen. In Übereinstimmung zu SCHLÖGELs eingangs zitierter Forderung, der Temporalität eine Spatialität zur Seite zu stellen, erfordert gerade die vielgestaltige Figur der Spur und die komplexe Kunst des Spurenlesens eine solche zweiseitige, komplementäre Herangehensweise. Im Hinblick auf Spuren und Spurendiskurse hat dies freilich wenngleich zu aller Anfang die Stärkung und stärkere Konturierung des räumlichen Blicks notwendig gemacht (s. Kap. 4.3.1), um die lang vernachlässigte, weggeredete oder einfach nur oberflächlich-gegenständlich geblickte Geographizität der Spur eingehender (sozialgeographisch) theoretisieren zu können. Auf Grundlage der vorangegangenen Darstellung soll es in diesem finalen theoriegeleiteten Spuren-Abschnitt abschließend aber nicht darum gehen, nun gleich wieder in eine ungleichgewichtete Perspektivierung – diesmal des Raumes – zu verfallen. Es soll vielmehr, dem Anliegen dieser Arbeit Rechnung tragend, darum gehen, das Geographisch-Räumliche wie auch das Historisch-Zeitliche der Spur und des Spurenlesens gesamtresümierend stärker in Verbindung zueinander – d. h. als Geohistorisches – zu perspektivieren, als es gegeneinander auszuspielen, um zu guter Letzt der anfangs in Aussicht gestellten RaumZeitlichkeit von Spuren und Spurenlesen nachkommen zu können. Mit Blick auf die Spur und die Praxis des Spurenlesens ist die Idee einer auf Komplementarität hin angelegten RaumZeitlichkeit, die Geographizität und Historizität terminologisch in sich vereint, indes nicht so weit hergeholt, insofern sich beide Phänomenbereiche (Spur, Spurenpraxis) erst in ihrer raumzeitlichen Verwiesenheit aufeinander immer wieder formieren und transformieren. Dies hängt grundsätzlich damit zusammen, dass sich an unterschiedlichen (Handlungs-)Spuren sowohl geographische Praktiken, im Sinne eines spurengeleiteten GeographieMachens und Sich-Bindens-an-Welt, als auch und zudem spezifische historische Praktiken, im Sinne eines Geschichte-Machens und Sich-Bindens-an-Zeit, gleichsam die Hand reichen. Alltags- wie lebensweltlich betrachtet, lässt sich dies so bereits in dem Moment des unbeabsichtigten Hinterlassens bzw. Legens von Spuren beobachten, bei dem das Wann und Wo einer Spurenzurücklassung gemäß eines konkreten Zeit- und Ortspunktes wie auch in Verknüpfung mit anderen: eines ganzen Raum-Zeit-Pfades, und da käme unversehens die Zeitgeographie ins Spiel (vgl. HÄGERSTRAND 1970), grundsätzlich eine Rolle spielen, wenngleich hier zunächst nur eine absent-verborgene. Im Bereich des Verborgenen und Unwirklichen gründend, sind es denn – in Weiterführung WERLENs (1997) – zunächst und zu aller Anfang handlungs- und praxisseitige Welt- und Zeit-Bindungen, welche die Spur in erster Instanz, und in abwesender Anwesenheit zum Spurenleger, zu induzieren helfen. Hier (an der Spur) geht mikro-geographisch wie -historisch besehen gleichsam etwas zu Ende, fällt etwas infolge eines beiläufigen Tätigseins (bspw.

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

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einer Bewegungshandlung) ab, was dann so nicht nur einen Bruch mit dem Geschehenem, sondern auch einen Bruch mit dem Ort, der ortsbezogenen Räumlichkeit und dem vor Ort und zu einer bestimmten Zeit körperlich handelnden Akteur evoziert. Trotz der in dieser Art und Weise an der Spur zutage tretenden Irreversibilität der ursprünglichen Ortsgegebenheiten wie Zeitbegebenheiten führen Spuren letztlich dennoch wohin, und zwar in geographischer wie historischer Hinsicht zu den Spurenwelten und den Spurenlesern, die die Spur gewissermaßen erst in zweiter Instanz wirklich zu zeitigen und zu verorten wissen. An diesem späteren Zeit- und Ortspunkt, von dem aus ein unbeachteter Handlungsrückstand nachträglich und situativ seine Lesung erfährt, indem ein Spurenleser an den Ort des Geschehens (zurück-)geht, fängt selbstredend erst die Evidenz und damit auch die geographische und historische Wirklichkeit der Spur an. Die Spur wird sozusagen präsent und das im wahrsten Sinne des Wortes: in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht. Die geohistorische Präsenz der Spur macht sich nicht zuletzt darin sichtbar, dass die originäre Spur als Erdeinschreibung und zugleich Geschichtseinschreibung erst post festum durch eine Spurenlesung, mehr aber noch durch eine Spurenerzählung in ihrer vergangenen oder zukünftigen RaumZeitlichkeit bedeutsam (gemacht) wird. Durch jene Erd- und Geschichtseinschreibung gerinnt die Spur in dieser Hinsicht zu einer Art Infrastruktur (s. Wortvariationen: Spurrille, etc.), die nicht nur irgendwann einmal einer Handlungsfolge unterschwellig, unstrukturiert und ubiquitär – quasi als Unterbau einer sozialen Praxis – entwachsen ist. Erwachsen kann daraus, d. h. aus der einmal gespurten Spur aber erst im Nachgang an diese einmal stattgefundenen Akte und gezeitigten Praktiken, ein bewusst wahrgenommener Gegenstand und damit eine Handlungsleitung zur (strukturierten) Aneignung von Geschichte und/oder Welt. Der Spurenleser fungiert bei alledem als Vermittler und Übersetzer, quasi als Brückenbauer, der von der einmal gespurten Infrastruktur (ehemalige Spurenzurücklassung) eine Verbindung zu der überdauerten und von ihm erspürten Infrastruktur (Spurenfindung) zu schlagen versucht, und damit auch zwischen den vielschichtigen und disparaten Orts- und Zeitpunkten einer Spurenerscheinung (vgl. KRÄMER 2011:127). Der Spurenleser macht sich durch seine so getätigte Rekonstruktionsarbeit, die gewiss mehr eine Konstruktionsarbeit ist (vgl. GINZBURG 1988c), zu einem Orts- und zugleich auch Zeit-Zeugen, der zumeist als Erster am Tatort über die geographische und historische Bedeutung der Spur, mithin über den Hergang, die Genese und die Gestalt der Spur wissenschaftlich, gesellschaftlich, alltagsbezogen oder ganz persönlich-biographisch nachsinnt. Da Spuren qua Entstehungsgeschichte Zeiten brechen und durchbrechen, können sie gewissermaßen auch als der Ort angesehen werden, an den Ungleichzeitigkeiten in Gestalt ortsbezogener neben- und übereinander gelagerter Zeitschichten (KOSELLECK 2000e) in Erscheinung treten können. Anstatt jedoch in der Manier einer Schlögelschen Landschaftshermeneutik (HARD 2008:287), die durch objektive Augenarbeit im Raume die Zeit zu (er)lesen sucht (SCHLÖGEL 2002, 2004, 2006a, 2007), zum materiellen Spurenkern – und damit auch zum sinnhaften Orts- und Ereigniskern – zu gelangen, scheint es nicht anders als geboten, gedenkt man essentialistischen Fehlschlüssen zu entgehen, einen (reflexiven) Schritt zurückzugehen und die Welt- und Zeit-Bindungen desjenigen dezidierter zu ver-

156

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

folgen und zu hinterfragen, der sich schlussendlich erst ans Spurenentdecken/-lesen macht bzw. gemacht hat. Ähnlich dem SCHLÖGELschen Bestreben spurenbasiert im Raume die Zeit lesen zu wollen, kann es ferner auch nicht gemäß NORA (1990, 2005) und ihm nachfolgender Hinwendungen zu Gedächtnis-Orten (lieux de mémoire) hilfreich sein, sich weiterhin nur einseitig und wenig differenziert wie unzureichend theoretisch-reflektiert mit der Räumlichkeit von (direkt oder indirekt gespurter) Geschichts- und Erinnerungskultur auseinanderzusetzen (vgl. SIEBECK 2011:88f.). Jenem Wissenschafts- und Wirklichkeitsverständnis verhaftet, sehen denn beide Historiker historische Räume und Orte samt Spureninventar noch zu stark, einer Natürlichkeit und Authentizität das Wort redend, als naturaliter gegebene Realitäten an, in resp. an die man – metaphorisch oder tatsächlich gemeint – nur noch zu gehen braucht, um spurlich bezeugt und hermetisch abgeriegelt, nachschauen zu können: wie es einst war (SCHLÖGEL) bzw. welche Zeit- und Erinnerungsspuren Orten sui generis innewohnen (NORA). Dass dies nur zu fragwürdigen Reduktionismen wie Essentialismen führt, und folglich wenig erkenntnistheoretisches Potential für eine hier formulierte geohistorische Spurenforschung in sich birgt, mag man, nach den langen Ausführungen zum Spurenlesen, aber auch ohne an jenem Spurendiskurs partizipiert zu haben, erkennen. Denn was beide Autoren an Orten und Räumen meinen lesen zu wollen, so lässt sich nun an dieser Stelle in überspitzter Weise konstatieren, sind weniger spurenimmanente Vergangenheiten bzw. Erinnerungsgeschichten an sich, als vielmehr Spiegelbilder ihrer eigenen Raum- und Geschichtsphantasien (vgl. HARD 2008:302f.; JUREIT 2012a:12). Eine geohistorische Spurenlese sollte also weniger nur als eine morphologische oder ontologisch-dinghafte Unternehmung betrachtet und angegangen werden, die ohne Umwege zu gehen, direkt zu den gleichzeitig anwesenden Zeit- und Ortsschichten einer Spur zu führen vermag. Die Spurenlese sollte vielmehr, und das hat die vorhergehende Abhandlung zu zeigen versucht, als eine autologische, selbstreflexive wie durch und durch eigensinnige Lesung eines Spurensubjekts angesehen werden, mit all den damit verbundenen Implikationen in Bezug auf das (mögliche) Erzählen und Schreiben von Spurengeographien und -historiographien. In diesem Sinne entdecken wir beim geohistorischen Spurenlesen nicht allein nur materialisierte Überbleibsel vergangener Welten, als wir beim Spurenlesen vielmehr zu uns, unserem sozialen Eingebettetsein, zu den kulturellen Kontext- und Semioseab-hängigkeiten und schließlich zu dem Zurückgeworfensein auf die selbst erlebten und gelebten RaumZeitlichkeiten des eigenen Daseins finden – Spurenlegen/-lesen verstanden als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und Bedingungen (vgl. HALBWACHS [1925]1985; HOLTORF 2007; WERLEN 2010c, 2013a/b). In letzterem Punkt kann nicht zuletzt ein anderes Verständnis bzw. Selbstverständnis des Spurenerforschens und -erforschers erkenntnistheoretisch hilfreich sein, insofern man als (wissenschaftlicher) Spurenleser nur zu verstehen lernt, dem Spurenlesen und dem Spurenleser in deren jeweiligen Eigen-Logiken auf der Spur zu sein – und nicht allzu sehr der Spur selbst. Denn Spuren werden nicht einfach, und dies verkennen raumzeitmorphologischen Ansichten (vgl. SCHLÖGEL 2006a) zumeist, oberflächlich aufund vorgefunden und zum Sprecher ihrer selbst. Ihnen ist nicht schon etwas vorgängig bzw. eigen. Spuren werden erst im Akt des geohistorischen Spurenlesens,

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

157

d. h. aus der Innenperspektive, aus dem Handlungsmovens des die Spur suchenden Subjekts heraus in ihrer RaumZeitlichkeit geschaffen und so auch immer wieder erschaffen. Mit Spuren und Spurenlektüren gehen demzufolge stets auch raumzeitliche Verschiebungen, Brüche und Kontingenzen einher, in der Hinsicht, dass Spur wie Spurenlektüre vor dem Hintergrund aktueller Raum- und Zeit-Verhältnisse immer auch je anders mögliche geographische wie historische Zu-, Um- und Einschreibungen in Form von narrativierten, inskribierten oder auch performierten Raum-, Orts- oder Zeitgeschichten erfahren können. Angesichts der besonderen Geographizität und Historizität der Spur, mehr aber noch des Spurenlesens ist die Bemerkung REICHERTZ' hier nicht hoch genug zu hängen: dass für die einmal an Ort und Stelle zurückgelassene Spuren sich später immer nur die [interessieren], für deren zukünftige Handlungspraxis die Spur bedeutsam gemacht werden kann (REICHERTZ 2007:331). So ist nicht nur das retrospektive Zurückweisen, sondern auch das prospektive Vorausweisen auf die Geographie und Geschichte einer Spur dann nicht per se in ihr angelegt und damit nur in ihr zu suchen, als sie hochgradig vom Spurenleser und seiner geohistorisch orientierten und sozial-kulturell gerahmten Spurenlesung abhängig erscheint. Spurengeleitete Historiographien und Geographien müssen so gesehen geradezu als kontextuelle, wandelbare Narrative über territoriale und zeitliche Ordnungen der Welt verstanden werden (REUBER 2005:8). Macht sich doch schlussendlich allein der geo- resp. historiographisch interessierte Spurenleser, durch sein wissens- oder auch erinnerungsbasiertes Erschließen, gleichsam durch sein implizites Wissen über und sein Erinnern (auch Vergessen) von ZeitRäumen 161 zum Generator eben dieser von ihm betrachteten Spuren. Dabei sind die spureninduzierenden Semiotisierungen und Memoralisierungen seitens des Spurenlesers letztlich von besonderer Bedeutung, da sie, wie in der Folge noch anhand der eigenen empirischen Spurenlese exemplarisch zu zeigen sein wird, die Spur und deren Räumlichkeit wie auch Zeitlichkeit, ungeachtet all der damit einhergehenden blinden Flecken, Verzerrungen und Entzugserscheinungen (vgl. LÉVINAS 1987), erst zu bedeuten und damit schließlich auch erst zu wissen oder zu gedenken erlauben. Pointiert auf einen Schlusspunkt gebracht: Eine aufgefundene Spur ist immer die Spur eines Spurenlesers. Damit erscheint es schlussendlich auch überaus wichtig, zu ergründen, mit welchen geographisch, biographisch und historisch impliziten Wissens- und Gedächtnisvorräten und im Rahmen welcher gesellschaftlichen Verhältnisse sowie (wissenschafts-)kultureller oder auch religiöser Überzeugungen sich ein Spurensucher an die Auslegung einer vorgefunden Spurenlage macht, oder (in Negation dazu) auch nicht. So wird denn nicht gleich ein jeder Ort, an dem Spuren zu finden sind, auch zu einem geschichtsträchtigen, wissenswerten oder erinnerungswürdigen Spuren-Ort (vgl. HOFFMANN 1998b:108). Angesichts der Unmengen von Spureneinträgen auf unserer Erde und in Anbetracht der kapazitiven Begrenztheit sozial-gerahmter Erinnerungen (vgl. ASSMANN 2012:39; HALBWACHS

161 Raum und Zeit in ihrer sich fortwährenden dialektisch verstrickten Verschiebung: als vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Zeit-Raum-Verhältnisse (s. Abb. 3).

158

Geographie, Geschichte und Spurenlesen

[1925]1985), sind denn spurendurchzogene Orte des Vergessens – im Gegensatz zu denen des Erinnerns – wohl weniger der Sonder-, als vielmehr der Normalfall. Nähme man trotz aller wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten, die sich mit einer raumobsessiven Geschichtswissenschaft bis heute eingestellt haben, an, dass der Raum als eine Art symbolisches Lesebuch der historischen Transformationen gesellschaftlicher Prozesse (REUBER 2005:5) fungieren könne, dann müsste in diesem Kontext zunächst wiederum danach gefragt werden, wie und unter welchen Gesichtspunkten man selbst oder andere dieses symbolische Lesebuch aufzuschlagen und zu lesen gedenke(n). Eine solche spurengeleitete Suche nach der verloren gegangenen Zeit würde sich dann nicht als eine rein objektive Suche nach rauminhärenten Vergangenheiten oder zeitimmanenten Räumen gestalten, wie man unter nochmaligem Verweis auf die Raum-Zeit-Leser SCHLÖGEL und NORA sowie altgeographische Sichtweisen (Landschaftsgeographie) geneigt wäre zu glauben. Der Spur folgen, sie zurückverfolgen heißt sodann, am Raum die Erstreckung der Zeit abzulesen (RICŒUR 2009:134), aber eben nur in der Weise, wie die intersubjektiven und erzählten Erfahrungen von Raum und Zeit aufs Tableau kämen, die die Spur alltags-, lebens-, oder erinnerungsgeographisch wie -geschichtlich rahmen und erst zu deuten resp. zu bedeuten erlauben. Das Spurenlesen ließe sich hiernach nicht mehr nur auf das Auf- und Erlesene, also auf die Spur und deren Ontologie reduzieren. Mit dem Spurenlesen wäre dann mehr auf die spurenlesenden Subjekte und deren Lektürepraktiken geblickt, innerhalb derer sich biographische wie wissens- und erinnerungsbasierte Sichten auf die orts- und zeitgeblickte Spur herausschälen ließen. Letzten Endes würde sich der Fokus so, und das wäre zusammengenommen als der Konvergenzpunkt im Widerstreit zwischen Geographie und Geschichte zu sehen, dezidierter auf die Konstruktionen des Selbst (HAHN 2000) im Rahmen eines der Welt und der Geschichte zugewandten Spurenlesens ausrichten, als auf die (Re-)Konstruktion der Spur selbst. Was dies nun forschungslogisch übersetzt, zu bedeuten hat und welche Methodik und methodologische Untersuchungsrichtung für das geohistorische Spurenlesen geeignet scheint, das und vieles mehr wird in den nachfolgenden Abschnitten zu erörtern sein. Bevor es dann schließlich darum gehen soll, dass geohistorische Spurenlesen an einem konkreten Forschungsfall und auf ein konkretes Forschungsfeld hin in eine praktische Anwendung zu bringen.

5

Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?

5.1

Spurenlesen als abduktives Erschließen

Wenn bisher des Öfteren davon die Rede war, Spurenphänomene vermittels bestimmter Verfahrensweisen, u. a. durch das Suchen, Lesen, Interpretieren, Erzählen oder Performieren erschließen zu wollen, dann lag dem Ganzen bereits eine besondere Denklogik, mehr aber noch eine besondere Arbeitslogik (REICHERTZ 2007: 321) zugrunde. Mit gewissem Abstand zum bisher Referierten dürfte indes deutlich geworden sein, dass es nicht die eine verbindliche Art und Weise gibt, welche Spuren und das Spurenlesen richtig, d. h. zielgerichtet wie passgenau in Forschung und damit in Anwendung zu bringen erlaubt. Das liegt neben der Omnipräsenz und Ubiquität von Spuren(leser)typen (vgl. Kap. 4.2.2) wohl nicht zuletzt vor allem daran, dass das Spurenlesen […] kaum objektivierbar zu sein [scheint] (KESSLER 2012a:13). Insofern gibt es keine verbindliche Handhabung oder standardisierte Forschungstechnik, mit der man es regelgeleitet tun könnte. Und trotzdem spricht, und das nicht erst seit der Ausrufung eines Indizienparadigmas, vieles dafür, das Lesen von Spuren als einen Grundzug unseres Erkenntnisvermögens zu betrachten (GRUBE 2007:249). Ungeachtet der Tatsache, dass das Lesen von Spuren einem ungeregelten und größtenteils wilden Schließen gleichkommt, gibt es denn gleichwohl ein Erkenntnisvermögen bzw. eine Forschungslogik, die das Ungeregelte geregelt und das (methodologisch) kaum Fassbare zu fassen bekommt. Das Zauberwort lautet: Abduktion. Unter dem Begriff der Abduktion wird heute gemeinhin eine Verfahrensweise verstanden, mit der die Technik des Erschließens dezidiert ins Zentrum wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung rückt. Auf Charles S. PEIRCE (1976) zurückgehend, bezeichnet die Abduktion genau genommen eine Erkenntnislogik (s. Abb. 4), entlang derer man grundsätzlich zur Möglichkeit gelangt: vom Besonderen aufs Besondere zu schließen (vgl. HARD 1995:76). 162 Auf Grundlage abduktiven Schließens wird etwas Besonderes, d. h. etwas, das einem plötzlich und überraschend, also 162 Siehe zur wissenschaftshistorischen Gesamteinordnung der Abduktion weiterführend die Darstellungen von REICHERTZ (1991:71−129, 2012:276ff.) und ECO (1985:288ff.), oder spezieller auf das Spurenthema hin gesehen die Darstellung von KJØRUP (2012:57ff.).

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Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?

besonders ins Auge fällt wiederum zum Anlass dafür (hergenommen), etwas ferner Besonderes, was das augenfällig Besondere auszumachen scheint, zu finden, indem man ganz einfach gesagt, eine Erklärung (Explanans) für das (noch) zu Erklärende (Explanandum) sucht (vgl. FRINGS 2012:23).Als das einzig wirklich kenntniserweiternde Schlussverfahren, so die zugespitzte Feststellung REICHERTZ' (2012:276; Herv. i. Orig.), steht die Abduktion damit in gewisser Opposition zu anderen, nicht zuletzt von PEIRCE selbst herausgestellten und heute weitaus gebräuchlicheren Erkenntnisverfahren: gemeint sind Formen deduktiver und induktiver Wissensproduktion (s. Abb. 4). Während bei der Deduktion ein betrachtetes Phänomen meist unter eine bereits bekannte Regel oder Ordnung subsumiert wird, wird bei der Induktion einem Einzelfall folgend, zu einer Regel oder Ordnung hinter dem Fall zu kommen versucht, was jeweils entweder die produktive Anwendung oder die produktive Erweiterung bereits bestehenden Wissens zur Folge hat (vgl. REICHERTZ 2012:279f.). Die Abduktion verfährt demgegenüber ganz anders. Im Gegensatz zu deduzierenden und induzierenden Schließungsverfahren, die theorie- oder hypothesengeleitet auf etwas bzw. von etwas schließen, setzt das Abduzieren einzig und allein bei dem sich zeigenden Phänomen an, ohne jedoch einen vergleichbaren Fall, eine Hypothese oder eine anwendbare (Decodier-)Regel oder gar eine Theorie als Kontrastierfolie zur Verfügung zu haben. Bei der Abduktion gibt es also keine Entsprechung zu Fällen, Codes oder Regeln, vielmehr machen sich neue notwendig (vgl. REICHERTZ 2007:322). Ver f a h r en

A bdu k tio n

D edu k tio n

I ndu k tio n

Ergebn is: Diese Spuren sind alt

Regel: Alle Spuren an diesem Ort sind alt

Fall: Diese Spuren sind von diesem Ort

Regel: Alle Spuren an diesem Ort sind alt

Fall: Diese Spuren sind von diesem Ort

Ergebn is: Diese Spuren sind alt

Fall: Diese Spuren sind von diesem Ort

Ergebn is: Diese Spuren sind alt

Regel: Alle Spuren an diesem Ort sind alt

Erkenntnislogik

Schluss vom Besonderen aufs Besondere

Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen

Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen

Anlass

Wissens- und Theorie(er)findung

Wissens- und Theorieanwendung

Wissens- und Theorieerweiterung

Verfahrensweise

Abb. 4: Vergleichende Darstellung von Schlussverfahren im Anschluss an PEIRCE

Im Hinblick auf die Spurenthematik und dem formulierten Ziel, Spuren(-Lesern) forschungspraktisch habhaft zu werden, ist das leitende methodologische Moment

Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?

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folglich nicht im einfachen Ableiten (Deduzieren) oder Herleiten (Induzieren) eines Phänomens zu suchen. Es ist eher im komplexen Schließen und Folgern (Abduzieren) auf ein besonderes Phänomen und dessen Besonderheit zu sehen (KOGGE 2007:188).163 Gemäß dieser forschungslogischen Grundpositionierung scheint der Erkenntnisweg klar umrissen: Der abduktive Denker liest keine Spuren, sondern erschafft sie sich erst (REICHERTZ 2013:30). Will ein Spurenlesen kein einfaches Ablesen oder Erlesen von etwas bereits Bekanntem sein, dann muss es sich vielmehr als ein sich (er)spürendes Erschließen, d. h. als genuines Erschaffen der Spur verstehen, und weniger als ein von irgendeiner logischen Struktur oder Strukturierung geleitetes (Zeichen-)Lesen. So gesehen zielt das Spurenlesen als Abduktion eben nicht darauf ab, am Ende der getanen Arbeit irgendwelche logischen Ansprüche (GRUBE 2007:250) von sich aus zu stellen. Das logische Schließen auf etwas und von etwas, im Sinne schlüssiger Allgemeinsätze und Letztbegründungen, ist – wie bereits erwähnt – eher das Anliegen und Geschäft strukturierter, regelgeleiteter Forschungsverfahren. Das abduktive Erschließen von Spuren stellt den auf Logik im eigentlichen Sinne und empirischer Schlüssigkeit fußenden Deduktionen und Induktionen denn gleichsam etwas weitaus weniger Logisches wie Schlüssiges entgegen. Als genuin qualitative und konjekturale Verfahrensweise 164 (ECO 1985:298) setzt die Abduktion eher auf das, was bei anderen Forschungsverfahren meist wissentlich oder unwissentlich außer Acht gelassen oder beiseitegeschoben wird. Sie setzt bewusst auf Assoziationen, Spekulationen und von Intuitionen getriebene (Re-)Konstruktionsleistungen, und das aus einem ganz bestimmten, zuvor schon beschriebenen Grund. Da sich im Falle des abduktiven Schließens für das Entdeckte, das unbekannte Anzeichen, mithin die Spur im bereits existierenden Wissensvorratslager keine entsprechende Erklärung oder Regel finden [lässt] (REICHERTZ 2012:281; Herv. i. Orig.) sind Spuren-Forscher schließlich nolens volens selbst(reflexiv) dazu angehalten, qua intuitivem und spekulativem Herantasten eine 163 An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es, ungeachtet der gezogenen Trennschärfen zwischen den drei Schlussverfahren, oftmals dazu kommt, dass insbesondere die (qualitative) Induktion mit der Abduktion gleichgestellt wird. Ein Grund mag sicher eine mitunter falsche Rezeption und Weiterführung der PEIRCEschen Erkenntnislogik sein; siehe hierzu kritisch REICHERTZ (2013:28/Anm. 10). Ein anderer Grund ist aber auch darin zu sehen, dass beide Verfahrensweisen den Startpunkt ihrer forschenden Suchbewegung quasi von unten, vom einzelnen Phänomen ausgehend veranschlagen, was die Grenze zwischen beiden Forschungslogiken in Teilen verschwimmen lässt. Ungeachtet dessen kann eine Abduktion gleichwohl immer auch im Zusammenspiel mit Induktionen wie auch mit Deduktionen vonstattengehen; bspw., wenn die Anwendung oder Überprüfung des abduktiv gewonnenen (neuen) Wissens im Nachhinein vom Spurenleser ins Auge gefasst wird (vgl. GRUBE 2007:251). 164 Zu den mit Abduktionen zusammengehenden Konjekturen äußert sich ECO eingehender an anderer Stelle: Wissenschaftliche Entdeckungen, medizinische und kriminalistische Untersuchungen, historische Rekonstruktionen sowie philologische Interpretationen literarischer Texte […] sind allesamt Fälle von konjekturalem Denken (ECO 1985:298f.). In die Nähe von konjekturaler Erschließungsarbeit rückt ECO ferner ein sogenanntes guessing (ECO 1981), ein gekonntes Vermuten, Erraten, was ECO selbst (ähnlich zu GINZBURG) anhand verschiedener Denker und Spurenleser der Geschichte einerseits herausgestellt hat und andererseits selbst praktiziert hat.

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erklärbare Regel o. ä. zu finden resp. zu erfinden, die das Unbekannte (die Spur) letztlich erst zu durchdringen und am Ende zu wissen hilft. Nicht das Finden, Wiederfinden, sondern das Erfinden ist infolgedessen der Modus des Abduzierens und damit auch des Spurenlesens (vgl. Kap. 3.3.6). Um an den weithin verborgenen Spurensinn und dessen im Verborgenen schlummernden Wissensstrukturen zu gelangen, ist es folglich unerlässlich, erst einmal alle bestehenden Regeln und Wissensbestände für kurze Zeit auszuklammern und alle zur Verfügung stehenden Spürsinne zu bemühen, um wirklich Neues, d. h. neue Erkenntnis auf den Weg zu bringen: Hier hat man sich […] entschlossen, der bewährten Sicht der Dinge nicht mehr zu folgen, also das Alte zugunsten eines Neuen aufzugeben oder dem Alten etwas Neues hinzuzufügen (REICHERTZ 2007:323). Oder anders auf den Punkt gebracht: Die Abduktion (als Spurenlesen) ist ein kreativer Schluss, der eine neue Idee in die Welt bringt (REICHERTZ 2007:323). Trotz des hohen heuristischen Werts (FRINGS 2012:22), der sich mit der Abduktion verknüpft, bleibt gleichwohl die Frage zu klären, wie über das abduktive Erschließen von Spurengegenständen, mehr oder weniger gezielt zum Schließen auf neue Wissensinhalte gelangt werden kann. Wie wir bisher erfahren haben, lassen sich Abduktionen weder herbeizwingen noch lassen sie sich arrangieren. Trotzdem gibt es Möglichkeiten und Anlässe, innerhalb derer sie sich gleichwohl einstellen können (REICHERTZ 1991:69). REICHERTZ zufolge kann dies z. B. immer dann passieren, wenn besondere Situationen entstehen oder geschaffen werden, in denen man z. B. in Gedanken versunken, in Zweifeln verstrickt und von Intuition angetrieben, ob des Eintretens eines abduktiven Blitzes 165 (REICHERTZ 2012:283) harrt, der einen sodann plötzlich auf etwas noch Unbekanntes stoßen und – nach getaner Arbeit – möglicherweise auch auf deren Bedeutung schlussfolgern lässt. In dieser Hinsicht entspringen Abduktionen in erster Linie mentalen Bewusstseinsleistungen. Mit Blick auf eine qualitativ verfahrende Sozialforschung kann zudem aber auch noch ein anderer, erweiternden Aspekt hinzukommen: kommunikatives Handeln (REICHERTZ 2013:30). Kommunikatives Handeln kann den Austausch und den Dialog mit anderen befördern und insofern auch zu einem ermöglichenden Faktor für abduktive Erschließungsprozesse werden, an deren Ende situativ Neues entstehen kann. 166 Folgt man an dieser Stelle noch einmal ECO (1985:299ff.) oder – sich ihm anschließend – auch HARD (1995:77), dann existieren eben nicht nur die Größen Zufall, Muse oder (kommunizierter) Zweifel, sondern zudem auch ganz bestimmte Wege, Herangehensweisen und auch spezielle Handlungssituationen, vermittels derer sich im Rahmen wissenschaftlicher Auseinandersetzung Abduktionen bzw. abduktive Blitze einstellen können. Da wären zum einen die sogenannten übercodierten oder untercodierten Abduktionen. Beide Spielformen abduktiven Forschens operieren innerhalb des Untersuchungsgangs unterschiedlich stark mit Vorannahmen wie Hypothesen oder Gesetzen, um den betrachteten Gegenstand zu erschließen, weswegen sie folglich als abgeschwächt 165 Man könnte hier gewissermaßen auch von einem Geistesblitz sprechen (REICHERTZ 2013:28). 166 Ein Punkt, der so bereits schon von den science studies und den Fabriken der Wissensproduktion herausgestellt wurde (vgl. KNORR CETINA 1991; RHEINBERGER et al. 1997).

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abduktiv bezeichnet werden müssen. Zum anderen, und mehr abduktiv (im eigentlichen Sinne), verfahren hingegen sogenannte kreative Abduktionen bzw. Meta-Abduktionen. Hier wird entweder davon ausgegangen, dass die Erklärung für einen noch unbekannten Fall ex novo erfunden werden [muss] (kreative Abduktion), oder, dass der das Rätsel lösende Schlüssel in unserer eigenen Welterfahrung lagert und ebendort auch nur zu finden ist (Meta-Abduktion) (ECO 1985: 301). In letzteren beiden Varianten liegt die grundlegende Verbindung, der Schlüssel zum Spurenlesen selbst, insofern hier das unvoreingenommene wie tiefschürfende Suchen nach Erklärungen für das noch Unerklärliche explizit, d. h. expliziter als bei den ersteren beiden Varianten seine Anwendung findet. Überträgt man jene zuvor dargelegte abduktive Forschungslogik nun auf die in dieser Arbeit zuvor entwickelte Forschungslogik, dann wird die Abduktion im Vergleich zu den geschilderten Variationen mehr noch in eine ganz andere Richtung gedreht. Entgegen normaler Verwendungsweisen, soll die Abduktion im eigenen Falle nicht per se, d. h. wie üblicherweise zum wissenschaftlich-detektivischen Suchen nach unbekannten epistemischen Dingen oder neuartigen Ansichten hierüber führen, als es vielmehr und vorrangig darum gehen soll, subjektiv-reflexiv gewendet: Spuren lesen zu lassen. Nicht selbst abduzieren, sondern abduzieren lassen, lautet entsprechend die diesbezügliche Forschungsmaxime. Mit dieser methodologischen Wendung verbinden sich primär zwei Implikationen. Einerseits impliziert diese Wende die (temporäre) Abtretung der eigenen akademisch-gelehrten Lesekompetenz im Hinblick auf geohistorisch eingeschriebene Spurenlagen (ortsbezogene Zeitschichtungen). Andererseits und damit aufs Engste verbunden, knüpft sich hieran dann zugleich auch ein durchaus anderer Forschungsauftrag für den wissenschaftlichen Spurenleser. Es geht nun nicht nur in erster Linie um ihn und sein den Dingen entgegengebrachtes Spureninteresse, als vielmehr um die metageleitete Verfolgung des Spurenlesers und seiner praktizierten Spurenlektüren. Um die Anfangs getroffene Einschätzung zur methodologischen Beschaffenheit von (Spuren-)Abduktionen hier und in Bezug auf das zuvor Gesagte nochmals aufzugreifen: Wenn es keine regelgeleiteten, allenfalls unstrukturierte und intuitive Spurenlesungen, verstanden als Abduktionen, geben kann, gäbe es dann nicht doch auch eine Methodik oder eine Forschungsorientierung, die das Ungeregelte geregelt, d. h. methodisch greifbar und erforschbar machen kann? Gibt es also nicht doch eine geeignete Form, wie man – nun den Perspektivwechsel forschungspraktisch vollziehend – dem Spurenleser und seiner Spurenlesungen auf die Spur zu kommen vermag? Darauf abschließend, wenngleich hier nur vorläufig eine Antwort gebend: gewiss. Dafür bedarf es nur einer ausgeklügelten Methodik, um es schließlich auch tun zu können. Wie eine solche Methodik aussehen kann, d. h. wie ein Spurenlesen methodisiert (REICHERTZ 1991:5) und hieraus wiederum ein (mögliches) Forschungsdesign erwachsen kann, das und mehr gilt es nun in den nächstfolgenden Schritten genauer zu erörtern.

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5.2

Spurenlesen als Lesen und Lesen-Lassen

Um das Spurenlesen am Ende forschungspraktisch angehen zu können, bedarf es zunächst eines durchdachten Übersetzungsschrittes. Folgt man HARD, dann braucht es genau genommen zu aller Anfang eine Operationalisierungsphantasie (HARD 1995:62) sowie damit einhergehend, eine methodenfindende Phantasie (HARD 1995:35), um das Spurenlesen in eine konkrete Forschungspraxis überführen zu können. Angesichts der besonderen Eigenart(en) der Spur und des Spurenlesens, scheint es also, HARD in diesem Punkt weiter folgend, nicht anders als angezeigt, mit breitem Blick Forschungsperspektiven und -methodiken zu sichten und auf deren Tauglichkeit für das (eigene) Spurenlesen hin zu prüfen (HARD 1995:62). Dass diesem Ansinnen eine besondere Relevanz zukommt, ist auf einen schon erwähnten Umstand zurückzuführen. Das Lesen von Spuren, insbesondere das zuvor entworfene geohistorische Spurenlesen, erstreckt sich über zwei normalerweise voneinander abgetrennte Forschungs- und Wirklichkeitsbereiche: Durch ihren Fokus auf Spuren-Objekte (Spurengegenstände) einerseits wie auch Spuren-Subjekte (Spurenleser) andererseits, aber auch durch die unterschiedlichen ontologischen Verfasstheiten von Spurenphänomenen selbst, ist die Spurenforschung nicht nur Objekt-, Ding- oder Artefaktforschung, sondern ebenso und vor allem – von der Seite des Spurenlesers her gedacht – Sozial-, Praxis-, Biographie- wie auch Erinnerungsforschung. Geht man hiermit, den Operationalisierungsschritt vollziehend, nun davon aus, dass Spuren materialisierte Handlungsrückstände sind, die eine raumzeitlich gewesene Vergangenheit physisch präsent-absent halten (können), allerdings erst durch das interessengeleitete Aufmerken und Tun eines Spurenlesers, d. h. durch dessen spurenbasierenden Lektüren im Hier und Jetzt wirklich werden, dann ergeben sich daraus automatisch auch konkretere Maßgaben für die methodische Erforschung bzw. Erforschbarkeit geohistorischer Spurenphänomene. Eine erste und unmittelbar daran anschließende Maßgabe ist zuvor mit der Fokussierung auf das Schlussverfahren der Abduktion, als der grundlegenden Forschungslogik, bereits dargelegt worden: es geht vom einzelnen Phänomen aus, zu den Besonderheiten hinter diesem Phänomen. Weil Spurenlektüren qua abduktiver Arbeitslogik ein (kreatives) Sinngenerieren (KESSLER 2012a:15) zum Gegenstand haben, weisen sie – als eine weitere, zweite hieraus folgende Konsequenz – eine überaus große Anschlussfähigkeit zu einer qualitativ ausgerichteten Forschungsorientierung auf. Hierauf wusste bereits GINZBURG mit seinem Paradigmenfund und mit Blick auf eine spurenverfahrende microhistoria hinzuweisen. Denn GINZBURG zufolge ist es die Eigenheit einer jeden Indizienwissenschaft, eine in hohem Grade qualitative Wissenschaft (GINZBURG 1988c:93) zu sein, deren Augenmerk sich am Einzelfall, am Unbekannten und Unbesehenen ausrichtet, um aus individuellen und scheinbar nebensächlichen Eigenschaften tiefgründige Phänomene von großer Bedeutung enthüllen [zu können] (GINZBURG 1988c:115). 167 Die er167 Was im Umkehrschluss allerdings nicht bedeuten soll, dass Spuren im Rahmen einer (geohistorischen) Spurenuntersuchung nicht auch wegen deren zahlenmäßiger Erscheinungshäufig-

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höhte Schnittmenge zu einem qualitativen Forschungsparadigma, wie sie GINZBURG am Anfang seiner eigenen paradigmatischen Überlegungen bereits herausstellte, hat schließlich mehrere, hier im Folgenden genauer darzulegende Gründe. Ein erster wesentlicher Grund mag darin zu sehen sein, dass eine Qualitative Forschung im Gegensatz zu konkurrierenden, quantitativen Forschungsparadigmen meist näher am betrachteten Untersuchungsgegenstand dran ist (FLICK et al. 2012:17), was nicht nur zur Erforschung einer – allgemein gesprochen – sich zunehmend pluralisierenden und diversifizierenden Lebenswelt, sondern auch speziell auf eine im Nahbereich stattfindende Spurenpraxis und ihrer Kleinstgegenstände bezogen, eine grundständige Voraussetzung darstellt. 168 Für einen Brückenschlag zur qualitativen Forschung spricht aber auch noch ein anderer, nicht unwesentlicher Grund: die Orientierung am Einzelfall und Alltagshandeln von Subjekten. Von der Devise geleitet, dass aller Wirklichkeit nur dann beizukommen ist, wenn man die Lebenswelt von innen heraus aus der Sicht der handelnden Menschen betrachtet (FLICK et al. 2012:14), versucht qualitative Forschung die Lebens- und Alltagswelten einzelner Akteure mikroperspektivisch dicht zu erschließen, zu beschreiben und hiervon ausgehend auch zu (re-)konstruieren, indem sie Berichte aus erster Hand [liefert] (GIRTLER 2001:144). All dies sind ebenfalls grundlegende Prämissen und Bestandteile einer spurenbasierenden Forschungspraxis. Eine Konformität zwischen qualitativer und spurenbezogener Forschung scheint darüber hinaus zudem darin zu bestehen, dass qualitativ denkende Forscher (vgl. MAYRING 1999) ähnlich zur Grundüberzeugung vieler Spurenwissenschaftler nicht davon ausgehen, als gäbe es so etwas wie die Wirklichkeit, einer Wirklichkeit die uns einfach umgibt und zu der man ohne Weiteres empirischen Zugang bekäme. Für beide gleichermaßen gesprochen, ist es eher Konsens, dass Wirklichkeiten (im Plural) etwas hochgradig Undurchsichtiges wie Unübersichtliches abgeben, was erst infolge alltäglicher Rahmungen (GOFFMAN 1977) bzw. gesellschaftlicher Konstruktionen (BERGER & LUCKMANN [1966]2010),169 d. h. durch Alltagsroutinen, symbolische Interaktionen oder durch Sinnzuschreibungen selbst – im wahrsten Sinne des Wortes – wirklich und damit auch erst wirklich verständlich werden kann. Basierend auf einem konstruktivistischen Blick auf die Wirklichkeit, gibt eine qualitative Forschungshaltung einem so gesehen die notwendige Offenheit gegenüber dem beobachteten Phänomen, hier der Spur und des Spurenlesers, um im Forschungsprozess immer empfänglich für Neues und Überraschendes zu keit in den Mittelpunkt einer vorrangig quantitativ-empirisch orientierten Betrachtung rücken können; dazu GINZBURG (2007:257) selbst, wie stärker für diese Ausrichtung argumentierend, auch WINKLER (2010:42f.). 168 Damit rückt das Spurenlesen nicht zuletzt auch in die Nähe einer gegenstandsbezogenen Grounded Theory (vgl. BREUER 2010), welche von Grund auf an einer Theorie- und Erkenntnisbildung interessiert ist. 169 Dem Konstruktivismus (in seinen unterschiedlichen Spielformen), wie er hier, aber auch schon zuvor, zur Forschungsmaxime erklärt wurde, geht es um das (gesellschaftliche) Gemachtsein solcher Tatbestände [hier: Realität, Tatsache, Wirklichkeit; R. L.] im Gegensatz zu ihrem Gegebensein. Der Glaube an das Gegebensein bestimmter, insbesondere gesellschaftlicher Verhältnisse wird damit gleichzeitig als Unterstellung entlarvt (KNORR-CETINA 1989:87).

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sein (FLICK et al. 2012:17, 23; KROMREY 2002:30); jedwedes Spurenlesen, egal auf welcher Beobachtungsebene angesiedelt (Spuren lesen/Spurenleser lesen), braucht eine solche Offenheit gegenüber Neuem, wenn es schlussendlich auf unbekannte Spuren des Selbst und des Anderen (und nicht nur auf bereits Bekanntes) stoßen will. Dem Spurenlesen zuträglich ist darüber hinaus die entdeckende Forschungslogik (BRÜSEMEISTER 2008:19) und das daran gekoppelte Erkenntnisprinzip des (Fremd-)Verstehens bzw. Verstehen-Wollens, was qualitativem Denken und spurenlesender Wissenschaftspraxis, verstanden als einem abduktiven (Fremd-)Erschließen, sowohl als auch sehr nahesteht. Aus der Explorationsabsicht ergibt sich mehr noch ein anderer Gleichklang, und zwar in der Hinsicht, wenig oder noch gar nicht untersuchte Forschungsfelder und damit auch Spurenfelder konturieren, erschließen und letztlich decouvrieren zu können. Um dieses gesteckte Ziel selbst einlösen zu können, plädiert speziell eine qualitative Forschung für eine Pluralität der Methoden (vgl. REUBER & PFAFFENBACH 2005:15ff.) und gegen eine Einheitsmethodik, dem Ziel hin ausgerichtet: eine je nach Forschungsvorhaben spezifische Passfähigkeit und Gegenstandsangemessenheit zwischen Fragestellung und dem Beforschten methodisch herstellen und gewährleisten zu können (vgl. MAYRING 1999:48). Reflexives Abwägen der geeigneten Methode(n) und des geeigneten Vorgehens (auch während des Forschungsprozesses) ist so gesehen eine nicht weniger bedeutsame Grundlage, um ein – in vielen Teilen unvorhersehbares Spurenlesen – forschungspraktisch angehen und sukzessive anpassen zu können. In Bezug darauf stellt eine qualitative Forschung selbst ein breites Spektrum an Forschungsperspektiven und Methoden zur Verfügung (vgl. FLICK et al. 2012:19), um, von den Spuren-Axiomen (vgl. Kap. 3.3) und dem eigenen Konzept (vgl. Kap. 4.2, 4.3) ausgehend, über eine durchdachte Perspektiven- und Methoden-Triangulation (vgl. FLICK 2012) zum richtigen Handwerkszeug zu finden, das es einem letztlich erst möglich macht, Spuren und Spurenlesern in praxi auf die Spur zu kommen. Aus der Palette qualitativer Forschungserfahrung schöpfend: Was wäre, nach der methodologischen Herleitung und forschungsparadigmatischen Einordnung, letztlich eine angemessene Methodik für ein geohistorisches Spurenlesen und damit für die Erforschung spurengeleiteter Welt- und Zeitbindungen? Zur Beantwortung dieser Frage lassen wir nun jener von HARD formulierten methodenfindenden Phantasie (1995:35) ihren Raum, um ein mögliches Forschungsdesign für das geohistorische Spurenlesen zu finden. 5.3

Spurenerkundungen in materieller und sinnhafter Leserichtung

Aus den zuvor ausgeführten Spurengrundsätzen und der damit vorgenommenen Forschungsrahmung können nun zwei spezifische Richtungen für die Erforschung von Spurenphänomenen abgeleitet werden. Spurenforschung ist, wie sie zuvor dargelegt wurde, sowohl Objekt- als auch und vor allem Subjektforschung. Aus diesem Grund lassen sich, ähnlich einer kriminalistisch gelagerten Spurensuche, die sowohl mit Objektbefunden (Tatspuren) als auch mit Subjektbefunden (Zeugenaussagen) hantiert, auch hier zwei Spurenfelder bzw. Untersuchungsbereiche genauer her-

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ausstellen und benennen, die der geohistorischen Spurenlese in angewandter Forschung eine Basis liefern sollen. 5.3.1

Körperlich-materieller Nachvollzug von Spuren und Spurenlesern

Richtet sich das Forschungsinteresse zu aller Anfang mehr auf die Spur, dann rücken damit zunächst all die Sachzusammenhänge (HARD 1995:64) in den Untersuchungsfokus, innerhalb derer die Spur als Objekt- und Ortsspur und die Spurenlese als etwas Objekt- und Körperhaftes sowie Ortsbezogenes aufscheint (s. Abb. 5). Hiermit ist gewissermaßen das Suchfeld (HARD 1995:182) abgesteckt, wo Spuren als hardware (HOLTORF 2007:335) und im Hinblick auf ihr räumlich-materielles Setting 170 und die an ihr wirkenden körperlich-performativen Praktiken in den Blick geraten. Obwohl eine Spur und ein Spurenlesen nur über den Weg des Subjekts und der dem Subjekt eigenen Sensitivität sowie Sprachfähigkeit zur Wirklichkeit gelangt und damit wiederum auch erst wirklich verstanden werden kann, gibt es gleichwohl keine Spurensuche ohne einen materialen Aufhänger bzw. physischen Anknüpfungspunkt. 171 Braucht es doch anfänglich einen noch unverstandenen Gegenstand und einen Objektbereich (KESSLER 2012a:153), an dem man sich als Spurensucher spurenlesend wie abduktiv verfahrend, abarbeiten kann. Im Sinne der Materialität von Spuren gebiert sich dieses Abarbeiten am Objekt konsequenterweise als ein vornehmlich körperbezogenes Spurenlesen von vergegenständlichten Spureneinträgen – und damit weniger nur als ein sprachliches bzw. textualistisches Weltlesen/-verstehen (vgl. BLUMENBERG 1983; GEERTZ 1997). Mit der gezielten Referenz auf die Spur und die Objektseite der Spur ist in dieser Form gewissermaßen das Fundament des geohistorischen Spurenlesens gelegt (HARD & KRUCKEMEYER 1991:119). Um ein diesbezügliches Missverständnis jedoch gleich an dieser Stelle zu entkräften. Mit der objektorientierten Hinwendung zu Spuren ist keinesfalls eine Artefaktanalyse in ihrer Reinform adressiert, welche etwaige Artefakte von vornherein als Produkte von sinngebenden Tätigkeiten und […] gleichzeitig als sinngenerierende Mitteilungen (FROSCHAUER 2005:344) in Betracht ziehen würde. Vielmehr wird nachfolgend eine etwas andere Sichtweise auf Artefakte als genuine Spurenträger in Anschlag gebracht, die davon geleitet ist, dass 170 Siehe zum Begriff des Settings die bereits für die Humanökologie angestellten Überlegungen von WEICHHART zu einer Action-Setting-Theory (2003) oder die für eine handlungstheoretische Sozialgeographie fruchtbar gemachten Gedanken von WERLEN (2010h:77) im Anschluss an GIDDENS. 171 Demgemäß ist auch hier nochmal daran zu erinnern, dass sich die harte und weiche Seite der Spur (Materialität, Semiose) nicht ohne Weiteres voneinander trennen lassen, insofern idealtypischerweise das eine nicht ohne das andere sein kann. Dass diese Trennung im Forschungsdesign dennoch vorgenommen wurde, ist allein der Tatsache geschuldet, dem komplexen und vielgestaltigen Phänomen der Spur differenziert methodologisch wie forschungstechnisch Rechnung tragen zu wollen. In der empirischen Auswertung der eigenen Spurensuche (vgl. Kap. 8) finden beide Forschungsbereiche, in Entsprechung zu den dargebotenen Spurengrundsätzen (vgl. Kap. 3.3, 4.2, 4.3), schließlich im Rahmen spurengeleiteter Analyse- und Interpretationsarbeit wieder zusammen.

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Artefakte […] stumm [sind], insofern sie […] nichts aus sich heraus [sagen], sondern […] der menschlichen Vorstellungskraft [bedürfen], die angibt, was ein relevantes Artefakt ist und wofür es steht (LUEGER 2000:146).

Abb. 5: Forschungszugänge/-felder des geohistorischen Spurenlesens

Will man es in der systemtheoretischen Terminologie LUHMANNs ausdrücken, dann braucht es bei einer Spurenanalyse als Artefaktanalyse neben der 1. auf jeden Fall noch eine 2. Beobachtungsebene. Dies insbesondere deswegen, weil sich eine Spurensuche entlang der 1. Beobachtungsebene allein als eine physisch wie physiologisch eingeschriebene Spurenpraxis, als ein rein körperhaftes und oberflächliches Erspüren offenbart. Erst die 2. Beobachtungsebene führt, über die subjektive Beobachtung der Spur und insbesondere über die (selbstreflexive) Beobachtung dieser Beobachtung, zum eigentlichen hier ins Auge gefassten Erkenntnisziel: dem verstehenden Nachvollzug des Spurenlesens/-lesers und dem Schließen bzw. Schlussfolgern auf den (besonderen) Fall. Denn: Erst der Beobachter 2. Grades hat die Chance zu sehen, was der […] Beobachter 1. Grades nicht sieht (HARD 1990a:51). Alles zusammengenommen bedeutet das, dass der materiale Spurenaufhänger, mithin die Spur als Artefakt nur mit den inkorporierten Erfahrungs- und Erinnerungsspuren desjenigen gedacht werden kann, der beide Bereiche nicht zuletzt erst im Zuge des tätigen Spurenlesens ins Verhältnis zueinander setzt (vgl. HOLLENDONNER 2009:143). Folglich rücken also mehr die Prozesse und Praktiken körperbezogener Aneignung und Lesbarmachung von Spuren und damit der leibhaftige Akteur (BOURDIEU 1992:28) als solcher in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, auf Grundlage dessen ein Objekt schließlich erst in den Status einer Spur [erhoben wird] (HOLLENDONNER 2009:148). Ob dies eine bewegende bzw. bewegte Handlung des Nachgehens, ein Spurenfeld abgrenzendes Herstellen deiktischer Bezüge

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im Sinne eines Zeigens von oder Verweisens auf Spuren an Ort und Stelle ist, oder ob hiermit die Performanz des Ausgrabens, Aufgreifens oder konservierenden Aufbewahrens des Gefundenen umfasst – in jedem Falle ist ein primär körperlich-materieller Nachvollzug von Spuren und Spurenlesungen durch das Spurensubjekt herausgestellt und einer Forschung zugänglich gemacht. Bei alledem, d. h. beim Suchen-, Lesen- und Erschließen-Lassen von objektivierten Spuren und dessen wissenschaftlichen Nachvollzug bietet sich ein ethnologischer Feldzugang an (vgl. BOURDIEU 1979; GEERTZ 1983; GIRTLER 2001; LATOUR 2000a). Erst vermittels einer praktischen Feldforschungsarbeit und erst über den Einstieg ins Feld 172 und einer hier angewandten dichten Beschreibung (GEERTZ 1983) des tätigen Spurenlesens und seiner situativen Kennzeichnungen, scheint es schließlich möglich, zu sehen und zu ergründen, wie sich selbiges über körperlichleibliche, performative und teils habitualisierte Handlungsweisen praktisch vollzieht und gestaltet, und zu welcher Konsequenz, d. h. zu welchem signifikanten Ertrag an und signifikativen Gehalt von Spuren. Zur praktischen Realisierung all dessen eignet sich speziell der Einsatz von beobachtenden Verfahren, wie sie in der Ethnologie aber mittlerweile auch in der Sozialforschung ein etabliertes Methodeninstrument darstellen (vgl. FLICK 2010:281ff.; GIRTLER 2001:65; LÜDERS 2012).173 Im Laufe dieser eher oberflächlichen bzw. an den Dinge interessierenden Phase der Spuren-/Feldforschung soll sich im Sinne einer wissenschaftlich geleiteten Beobachtung selbstredend alles darum drehen, den Spurenleser beim dinghaften Spurenlesen zu beobachten. Entsprechend LATOURs Maxime follow the actor (LATOUR 2005:68) geht es hierbei darum, dem Spurenleser und seiner raumzeitlichen verfassten Spur(ung)en zu folgen. 174 Gemäß der unterbreiteten abduktiven For172 Das Feld kann, FLICK (2010:143) in diesem Punkt folgend, als ein allgemeiner Ausdruck für eine bestimmte Institution, eine Subkultur, eine Familie, eine spezifische Gruppe von Biographieträgern […] oder Entscheidungsträger verstanden werden. Für die eigene Feldforschung sind denn, wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird, die biographisch adressierten Einzelpersonen als Spurenleser ihrer selbst als zu beforschendes Feld von besonderem Interesse. Um das Feld als Forschungsfeld solcherart nutzen zu können, ist es letztlich notwendig, dass im Feld Dargebotene in seiner kulturellen Verfaßtheit zu erkennen und als deren Innenansichten festzuhalten (JUREIT 1999a:81). 173 Im Zuge der stärkeren Einbindung in kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben ist die Methode der Beobachtung hinsichtlich ihrer Charakteristika in den letzten Jahrzehnten immer stärker auch ausdifferenziert worden. So wird eine Beobachtung inzwischen in Bezug auf ihren Partizipationsgrad, ihre Erkenntlichkeit, ihre Erhebungsart, ihre Ausrichtung, ihr Zustandekommen und schließlich auch ihren Erkenntnisnutzen differenziert; daraus ergaben sich bisher folgende unterscheidbare Kriterien: teilnehmend/nicht-teilnehmend, verdeckt/offen, strukturiert/unstrukturiert, Fremdbeobachtung/Selbstbeobachtung, natürliche/künstliche Situation und quantitative/qualitative Beobachtung (vgl. FLICK 2010:282). 174 LATOUR selbst hat eine solche Verfolgung des Akteurs durch eine teilnehmende Beobachtung bereits selbst praktiziert, konkret, um Naturwissenschaftler bei ihrer Feldarbeit im Amazonas zu begleiten; festgehalten und nachzulesen in einem illustren foto-philosophischen Essay (LATOUR 2000a:38). Im Unterschied zu LATOUR geht es hier vornehmlich um menschliche Akteure, denen gefolgt wird, weniger jedoch um nicht-menschliche Akteure, denen LATOUR wiederum eine Handlungsmacht, also eine gleichberechtigte Stellung in Bezug auf die agency einräumt (vgl. BELLIGER & KRIEGER 2006:15f.).

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schungslogik richtet sich der genauere Beobachtungsfokus im eigenen Fall auf das Suchen-, Schließen- und Lesen-Lassen von körperlich-materialen Spurenresten. Spurenreste, welche allesamt eine Spurensicherung (GINZBURG 1988c) nicht nur bedingen, sondern vielmehr erst – in performativer Hinsicht – konstituieren. Dem Spurenforscher kommt während der vom Subjekt geleisteten Spurenarbeit indes die Rolle des begleitenden Beobachters zu, der am ganzen Geschehen – mehr oder weniger aktiv – teilnimmt (vgl. REICHERTZ 1991:172ff., 2007:312). Derart ist der Spurenforscher nicht nur beobachtender Teilnehmer der Spurenlese und damit direkt oder weniger direkt involviert in das, was geschieht (vgl. KOGGE 2007:193). Er hat unter Umständen bereits zuvor, d. h. vor dem Forschungsgang wesentlichen Einfluss darauf genommen, welchem Sujet das Spurengeschehen folgt, indem er selbiges thematisch vorstrukturiert hat und damit überhaupt erst Anlass zum Suchen, Sichern, Lesen und Interpretieren von Spuren gegeben hat. In jedem Falle ist der Spurenforscher während der ganzen Spurenarbeit mit dabei sowie nah dran am Geschehen, indem er das Tun des Spurenlesers fremdbeobachtend beäugt. Ohne das beforschte Subjekt allzu stark im Laufe der Spurenlese zu beeinflussen oder gar zu stören, scheint es für den Spurenforscher geboten, dem Spurenleser möglichst große Handlungsspielräume (Stichwort: Offenheit) beim Erschließen von Spuren, mithin bei der ich-nahen Selektion der Spuren (HARD & KRUCKEMEYER 1991:118) zu geben.175 Das kann dadurch geschehen, indem er ihn in seiner Umgebung einfach und natürlich gewähren lässt. Mit dem Motiv des to go along, das von Magarethe KUSENBACH (2003)176 entwickelt wurde, wäre die Haltung des Forschers letztlich wohl ganz treffend umschrieben: er geht mit, läuft mit, sieht mit und macht ggf. auch mit. In dem zuvor abgesteckten empirischen Feld der geohistorischen Spurenforschung geht es hiernach also darum, in mitgehender Forschung zu ergründen, wie ein Spurenleser versucht, die Sprache der Dinge (ASSMANN 1988) im Einklang mit seiner Sicht der Dinge verstehen zu lernen, indem er zuerst der Sache auf den Grund geht – bevor er sich an das eigentliche Auslesen und (verbalisierte) Interpretieren oder Vorausdeuten selbiger macht. Denn, so bringt es Aleida ASSMANN überspitzt auf den Punkt: Die Sprache der Dinge fängt an, wo die Sprache der Menschen aufhört (1988:247). Insofern geht es also forschungslogisch betrachtet zunächst um etwaige Dennotationen (vgl. HARD 1991:141f.), welche der Spurenleser zum Gesuchten und Gefundenen in actu herstellt, sofern er zuallererst 175 Wie schwer es ist, eine ausreichende Balance in der Dialektik zwischen Nähe und Distanz herzustellen, hat die eigens durchgeführte Feldforschungsarbeit erkennen lassen, bei der zwischen einem Nah-dran-sein am Beobachteten und einem Nicht-Stören des Geschehens einige Schwierigkeiten auftraten. Die Reflexionen zu diesem Problem sowie anderen Problemen im Forschungsprozess werden in Kapitel 9 noch genauer besprochen. 176 KUSENBACH entwickelte ihre Methode des to go along vor dem Hintergrund einer sogenannten Street phenomenology. Ziel ihrer Unternehmung war es, Stadtbewohnern auf ihren natürlichen, alltäglichen Pfaden zu folgen, um bspw. persönliche Wahrnehmungen, räumliche Praktiken oder verborgene soziale Raumstrukturen methodisch begründet ausfindig machen zu können. Dazu KUSENBACH selbst: When conducting go-alongs, fieldworkers accompany individual informants on their natural outings, and – through asking questions, listening and observing – actively explore their subjects' stream of experiences and practices as they move through, and interact with, their physical and social environment (KUSENBACH 2003:463).

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Taten und erst hierauf Worte sprechen lässt, um die Spur in ihrer Bedeutung als Sache, als Gegenstand zu (be)greifen. Der Spurenforscher versucht dem ganzen Geschehen, wie bereits zuvor dargelegt, entlang der körperbezogenen Erschließung des Spurenlesers in meta-abduktiver, fremd-referentieller und – methodisch gesehen – beobachtender Manier zu folgen. Zur Dokumentation derartiger primär performierter Spurungen und dem begleitenden Mitverfolgen dieser sind Feldnotizen, Memos oder Beobachtungsprotokolle als Datengrundlage überaus nützlich und auch gangbar, ebenso wie fotographische oder audio-visuelle Aufnahmen der praktizierten Spurenarbeit (vgl. BRÜSEMEISTER 2008:81ff.; FLICK 2010:283ff.; GIRTLER 2001:133−147; KUSENBACH 2003: 464f.; REICHERTZ 1991:142). Wenngleich in unterschiedlicher Weise und Qualität, geben sie dem Forscher die Möglichkeit, dass über die Spurensuche in Erfahrung Gebrachte festzuhalten und für nachfolgende Analysen verfügbar zu machen. Die Spanne, innerhalb derer das Gesehene oder Gehörte dokumentarisch niedergelegt und als Datenmaterial greifbar wird, kann von strukturierten Protokollen und sequenzierten Filmmitschnitten bis hin zu weniger strukturierten, offenen oder länger gehaltenen Aufzeichnungen des Erfahrenen reichen; genauso, wie es das Dokumentieren in situ (Beobachtungsprotokolle, Fotos) oder Dokumentieren ex post (Gedächtnisprotokolle, Feldtagebuch) umfassen kann (vgl. LÜDERS 2012:396; REICHERTZ 1991:164ff.; REUBER & PFAFFENBACH 2005:158ff.). Am Ende ist in Entsprechung zum qualitativen Kriterium der Gegenstandsangemessenheit sowie hinsichtlich der Praktikabilität der eingesetzten Methodik auch hier zu überlegen, welche Erhebungsmedien und -möglichkeiten und der daraus resultierenden Datensätze zur Beantwortung der eigenen Forschungsfrage(n) von Nutzen sind, und welche eher nicht (vgl. REICHERTZ 1991:129). Schließlich muss man sich die Frage stellen, ob es am Ende eines umfassenden ethnographischen Berichts (Feldtagebuch) und langer Foto- oder Videosequenzen bedarf oder ob stichpunktartige, protokollarische Notizen reichen, um fundierte empirische Aussagen über die gemachte Spurensuche machen zu können. Egal wie umfangreich und vielschichtig das Erhobene festgehalten wurde, erst hierüber wird es letztlich möglich, das den Spuren-Fall auszeichnende Typische (GIRTLER 2001:137, 146) qua erhobener Datenbasis analysieren und herausstellen zu können. Die eigentliche Auswertung und Analyse des aus den Beobachtungen gewonnenen Datenmaterials stellt bisher gewiss die größte Herausforderung für Sozialund Kulturforscher dar (LÜDERS 2012:399ff.). Das hängt keineswegs nur mit der Krise der Repräsentation zusammen, die sowohl beim erforschenden als auch beforschten Subjekt mitschwingt (DENZIN & LINCOLN 2005:3f.). Es hat vor allem damit zu tun, dass derartige Forschungsprodukte hochgradig vom Forscher und Forschungsprozess abhängig sind und zudem bei der Erhebung selbst bereits interpretiertes bzw. teilausgewertetes Material darstellen (LÜDERS 2012:399ff.). Desgleichen ist, im hier betrachteten Fall, eine Spurenlese selbst gewissermaßen voller unvorsehbarer Überraschungen, welche eine kontinuierliche strukturierte Beobachtung mitsamt anschließender Auswertung nicht unbedingt einfacher macht (vgl. REICHERTZ 1991:7). Gleichwohl gibt es hierzu bereits analytische Mittel und Verfahrensweisen, die unter Beweis gestellt haben, wie mit derlei niedergelegten Beobach-

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tungsdaten, vor allem auch im Verbund mit anderen Datensätzen, z. B. mit Interviewmitschnitten, umgegangen werden kann. Da es sich hier, entsprechend einer qualitativen Forschungshaltung, alles in allem um den Einzelfall und das Typische dieses Falls, mithin um das Schließen auf den Spurenleser und deren typischen Spurenhandlungen dreht, bieten sich für die finale Verarbeitung der Daten insbesondere Analysemodi an, welche den spezifischen Content und zugleich auch Kontext des Untersuchten interpretativ auszuwerten erlauben: hierzu eignen sich vor allem inhaltsanalytische, rekonstruktive und hermeneutische Auswertungsverfahren (vgl. BOHNSACK 2010:20ff.; MAYRING 1999:91ff.; REICHERTZ 1991:164). Unter Verwendung dieser Auswertungsverfahren kann man anhand der im Feld gewonnen Forschungsdaten und deren Zusammenschau zu einer Typisierung gelangen, die das Beobachtete empirisch nicht nur selbst zu bündeln und systematisieren, sondern zugleich auch in Bezug zu anderen Daten(ergebnissen) – wie z. B. Interviews – zu setzen erlaubt (vgl. REICHERTZ 1991:159). In diesem Zusammenhang sind im Anschluss an abduktive Schließungsprozesse gleichermaßen Induktionen von Bedeutung, da sie vom Material (protokollarische Mitschriften) ausgehend, bestimmte Merkmalskategorien herauszupräparieren ermöglichen, welche den Fall (nach innen und außen vergleichend) in seiner ihm eigenen (Spurenleser-)Typik aber auch in erweiterter Perspektivierung zu verstehen und zu erklären helfen (ebd.). Um sich jedoch am Ende nicht der Kritik ausgesetzt zu sehen, nur Anekdoten und Illustres präsentiert zu haben, sollte es dabei, im Sinne der Nachvollziehbarkeit der eigenen Forschungsergebnisse, insbesondere darum gehen, dem Leser der Forschungsarbeit schrittweise mitzunehmen, mitzunehmen an den Ort des Geschehens und der Erhebung (sprich der Spurenlese) sowie der ihr nachfolgenden Aufbereitungs- und Analyseschritte (vgl. GIRTLER 2001:144ff.; LÜDERS 2012:400f.). Eine dichte Beschreibung der die Spurenlesung der Spurenlese des Spurenlesers begleitende Feldforschung in Form eines (nach)erzählenden ethnologischen Berichts, der über das Erfahrene, das Gesehene, das Getane, aber auch über das teils Gesagte und deren Reflexion Auskunft gibt, bietet sich so gesehen als eine geeignete, weil profunde und kompakte Form der Ergebnisdarstellung an. Um dem betrachteten Phänomen allerdings insgesamt und allumfänglicher gerecht zu werden, bedarf es für die eigene Forschungspraxis, über das zuvor dargelegte Untersuchungsfeld hinaus, noch eines anderen, gleichwohl hiermit eng verwobenen Forschungszugangs.

5.3.2 Sinnhafter Nachvollzug von Spuren und Spurenlesern Wenn man einer Spurenpraxis in ihrer Gesamtheit, d. h. in ihrer ganzen Komplexität nachkommen will, dann muss man neben der Tatsache, dass sich eine Spurensuche zumeist am Spurenobjekt entspinnt, mehr noch eine andere ins Kalkül mit einbeziehen, und zwar die: dass sich die Spur zu keiner Zeit ohne den Spurenleser und die Sinnhaftigkeit seiner Spurenlektüren denken und erforschen lässt. Mit dieser Einsicht ist gleichsam zum Ausdruck gebracht, dass eine jede Spurenerscheinung stets und vor allem einer subjektiven und signifikativen Dimensionierung und

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daher auch einer entsprechenden Methodologisierung bedarf, infolge derer die Spur von ihrer Materialität ausgehend, mehr in den Bereich der Semiose, des Sinnund Zeichenhaften gelangt (s. Abb. 5). Forschungspraktisch betrachtet ist damit das Deutungsfeld (HARD 1993:92, 1995:182) der Spurenlese abgesteckt und zugänglich gemacht. Ein Feld, das den Interpretationsbereich (KESSLER 2012a:153) tätiger Spurenarbeit eröffnet und den Blick dafür frei macht, wie Spuren erst wirklich, d. h. wahrhaftig gesichtet, gelesen und gedeutet werden. In diesem Punkt der Spuren- und Forschungspraxis wird die Spur nun mehr und im Besonderen als software (HARD 1993:23) in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Hierdurch gerinnt die Spur zum weichen subjektbezogenen und bedeutungsumwobenen Signifikat, das in erster Linie aufgrund etwaiger semantischer bzw. semantisierender Einschreibungen von Forschungsinteresse ist. Im Gegensatz zum zuvor ausgebreiteten Forschungsbereich liegt die Referenz hier jedoch nicht so sehr auf dem Spurengegenstand, sondern auf dem Spurenleser und auf der Subjektseite der Spur (HARD & KRUCKEMEYER 1991:119, 120). Oder neuerlich in LUHMANNscher Manier ausgedrückt: damit ist neben der Tür zur 2., zugleich auch die zur 3. Beobachtungsebene aufgestoßen. Anhand dieses Ebenenwechsels lässt sich nun auch ein erweiterter Erkenntnisnutzen herbeiführen, und zwar in der Hinsicht, dass über die erhöhte Subjektebene die darunterliegende Objektebene an Luzidität gewinnt und damit besser verstehbar erscheint. In diesem Sinne liegt das konstitutive SpurenMoment – in methodischer Hinsicht – speziell im sinnhaften Folgen des den Gegenstand lesenden Subjekts begründet, und nicht im Gegenstand selbst. In Entsprechung zur zuvor unterbreiteten abduktiven Forschungslogik ist damit letztendlich das erreicht, worauf es am Ende des Forschungsprozesses ankommt: die Metaebene der Spurenlese, welche danach Ausschau hält und Reflexionen darüber anstellt bzw. anstellen lässt, wie Spuren von Grund auf (inter)subjektiv bedeutet werden (vgl. ECO 1985:301). Geht es doch insbesondere darum, zu sehen, auf welche Art und Weise und mit welchem signifikativen Output der Einzelne, also ein Spurensucher (ggf. im Zusammenspiel mit anderen) eine Spur aufdeckt und solcherart erst zum Vorschein, zum Sprechen bringt. Über die Materialität von Spuren hinausgehend, wird so gesehen mehr die Sozialität und Kulturalität von Spuren forschungslogisch hervorgekehrt, wonach die einzelne Spur mehr als soziale Tatsache (HOLTORF 2007:348) wie auch speziell das Verfolgen der Spur als eine der Welt und Geschichte zugewandte sozial-kulturelle Erschließungspraxis im Forschungsdesign ihren Niederschlag finden. Folgerichtig vermag sich der forschungspraktische Zugriff auf Spuren also nur über einen genuinen sprach- und subjektorientierten Zugang zu gestalten, indem er den Weg zielgerichtet über die an den Spurenleser gebundene Fähigkeit, Dinge zum Sprechen zu bringen, geht. Obgleich mit dem aktuellen Spurendiskurs auf den ersten Blick eine Abkehr von einem einseitig gestrickten Text-/Phonozentrismus und damit schließlich auch eine Abkehr vom Erzählparadigma (ARNOLD 2009:86) verbunden scheint, als nun wieder verstärkt die materielle Welt und die Erfahrung der sprachlichen Vorstrukturiertheit jeglichen Erlebens zentral [wird] (ebd.), kommt es dabei aber zugleich wieder auch zu einem Schulterschluss mit eben jenen einst durch einen linguistic turn emporgekommenen sprachorientierten Zugängen, Ansätzen und Forschungsparadigmen. Dies gilt vor allen Dingen

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für das Narrativ und das Narrativieren, welche zusammengenommen inzwischen zu axiomatischen Dreh- und Angelpunkten spurengeleiteter Forschung erklärt wurden (vgl. Kap. 3.3.7). Obwohl Spuren zwar in erster Linie durch deren Dinghaftigkeit gekennzeichnet sind, können sie als Ding aber erst durch ein nachträgliches und sinnhaftes an ihr Handeln, sprich Anverwandeln in Form eines narrativierenden Besprechens Bedeutung erlangen, mithin zu einem Kristallisationspunkt von – historischer und/oder geographischer – Signifikanz werden. Erzählungen (Narrationen) geben zu alledem Anlass wie zugleich Stoff, da sie auf besondere Art und Weise Welt und Geschichte erzeugen (vgl. NÜNNING 2013). Das gelingt ihnen vor allem dadurch, indem sie eine relativ abgeschlossene und stringente Herleitung eines Gewesenen in Bezug auf sein gegenwärtiges Sein zu leisten vermögen (NEUMANN 2013:553). So führt das Spurenlesen im Ergebnis dazu, dass ein Geschehen in narrativer Form erfahrbar wird (KESSLER 2012a:104), was sowohl für den zu beforschenden Spurenleser als auch für den wissenschaftlich-motivierten Spurenleser der Spurenleser eine besondere Relevanz besitzt. Der Ort der Spur ist folglich keineswegs nur in dem physisch manifesten Spuren-Ort/-Artefakt und dem körperlichen Spuren-Akt allein zu suchen und dort zu veranschlagen, sondern vielmehr in dem Ort der Kommunikation: der Kommunikation über die objekthafte Spur und deren kontextspezifischen Spurenlage. Damit ist neuerlich ein Berührungspunkt zur qualitativen Forschung hergestellt, in der hinsichtlich der (Re-)Konstruktion von Wirklichkeit gerade der Kommunikation […] eine herausragende Rolle zu[kommt] (FLICK et al. 2012:21). Der solcherart herausgestellte und zugleich betonte kommunikativer Charakter sozialer Wirklichkeit (vgl. BERGER & LUCKMANN [1966]2010:39ff.) lässt die sprachliche Rekonstruktion von sozial-kommunizierter Wirklichkeit zum zentralen Ansatzpunkt der Spuren-Forschung werden. Die Verbindung zur Spur besteht hiernach darin, dass man das Ausgesprochene, die Erzählung nach Unausgesprochenem, also nach etwaigen Überbleibseln vergangener Erfahrungen absucht, um an die verborgenen Spuren in der Kommunikation, also Sprach-Spuren (HARD 1993:104) zu gelangen. Die Maxime, dass auch das Sichern von Sprach-Spuren (und überhaupt von immateriellen Spuren) […] Spurenlesen [ist] (HARD 1995:180), wird somit zum bestimmenden Kriterium einer geohistorischen Spuren-Forschung erhoben, welche sich vorrangig für die erzählte Spur sowie die Spuren im Erzählten interessiert. In letzterem Fall würden schließlich all die ungewussten Spuren in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, die es durch den Austausch mit anderen oder der bewussten bzw. unbewussten Teilhabe an Vergangenheitsdiskursen unbesehen in unsere Sprache geschafft haben. Während das Spurenobjekt meist in seiner materiellen Erscheinung relativ stabil und unverändert bleibt, diverse Formenwandlungen sowie den körperlichen Akt der Spurenhebung einmal ausgenommen, ist die immaterielle, sinnhafte Seite der Spur durch die Mannigfaltigkeit subjektiver Bezüge und Bezugnahmen (Stichwort: Polysemie) von vornherein durch eine noch stärkere Fluidität und kontingente Veränderbarkeit betroffen als dies gemeinhin für andere (An-)Zeichen der Fall ist. Ausdruck dieser Vielgestaltigkeit der Spur ist nicht zuletzt die Art , wie Spuren bedeutet werden: in ganz unterschiedlichen Sprech- und allen voran Erzähl-

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weisen seitens derjenigen, die sich mit ihrem (impliziten) Wissen gezielt an ihre Auslesung machen oder bereits gemacht haben. Wenn vor dem Hintergrund des zuvor Geschilderten Spuren erst infolge eines sinnhaften Spurenlesens in den empirischen Blick geraten können und insoweit alle Spurenleserei selbst – in Form von subjektiven Sprach-Spuren – an eine verbalisierte Interpretation geknüpft ist, dann ergeben sich daraus für das Forschungsprogramm geohistorischen Spurenlesens auch konkretere methodische Folgerungen. Eine zentrale Schlussfolgerung läge in der bereits angesprochenen Kernfokussierung auf Erzählungen. Erzählungen, die der dinghaften Spur und Spurenlese am Ort etwas eigenes, mitunter sehr Persönliches in Form von evozierten Erzähl-Spuren zur Seite stellen (s. Abb. 5). Nicht nur durch die polyseme Verfasstheit von Spuren, sondern vor allem durch die narrative Schlagrichtung des Spurenlesens ergibt sich für das eigene Forschungsunternehmen nun zwangsläufig auch eine methodische. Um das Spurenlesen gemäß Forschungsziel, dem sinnhaften Nachvollzug von Spuren und Spurenlesern, als ein Spurenlesen in der Sprache (HARD 1995:180) angehen zu können, ist eine Methode und eine instrumentelle Rahmung zu suchen, die subjektbezogene Erzählungen evoziert und zugleich auch Mittel zu deren Analyse bereithält. Mit dem narrativen Interview (vgl. ROSENTHAL 1995; SCHÜTZ 1983[2012]), so der hier gemachte Vorschlag, gibt es eine bereits erprobte Methode, die dies in vielerlei Hinsicht zu leisten vermag. Die Schwerpunktsetzung auf das narrative Interview resultiert aus der theoriegeleiteten Einsicht, dass man eine gefundene Spur nicht nur als eine Spur des Lebens und der Geschichte anderer lesen [sollte], sondern immer auch auf denjenigen beziehen [sollte], der sie liest und findet (HARD 1995:164). Idealtypischerweise stößt der Spurensucher mit seiner Suche immer mehr die Tür zu sich und seiner Spurenwelt auf, als zu der (material) vor ihm liegenden (Fremd-)Spur (vgl. LÉVINAS 1987). Zudem gibt der Spurenleser vermittels der Spur stets auch etwas preis, was einen durch und durch erzählenden Charakter aufweist und was sich aus den eigenen Erfahrungen erlebter RaumZeitlichkeit bzw. eigensinniger Welt- und Zeitbindungen speist (vgl. Kap. 4.4). Wenngleich dies für den Spurenleser und teilnehmenden Beobachter situativ nicht immer gleich ersichtlich sein sollte, ist es eben genau das, was der Spurenleser, gleichwohl in unterschiedlicher Breite und Tiefe, in die Spur bzw. Spurensuche einbringt und zugleich auch wieder aus ihr herausholt. Derart bricht mit der Spur nicht nur materialiter etwas Unbekanntes, Vergangenes auf, sondern es tritt zugleich auch etwas durchaus Bekanntes in Form persönlich gemachter Lebenserfahrungen und verinnerlichter Erinnerungen zutage, denen man vor allem über narrative Befragung habhaft werden kann. Die Voraussetzung dafür: Man lässt die Spurenlektüre, vom Behandeln und Besprechen des Betrachtungsgegenstandes aus, mehr zum Behandeln und Besprechen des Subjekts werden, in der Hinsicht, dass man die Spurenlektüre zur genuinen Lektüre des Spurenlesers und seiner zu erzählenden Geschichte erklärt. Mit JUREIT gesprochen, käme damit die Spurensuche einer Art Choreographie des eigenen Lebens (2012b:151) gleich, die – JUREIT an dieser Stelle weiterdenkend – neben zeitlich-historischen ebenso

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räumlich-geographische Aspekte offenkundig werden lassen könnte. 177 Mit dem narrativen Interview, wie es inzwischen breite Anwendung in der Biographie-, Lebenslauf-, Sozialforschung und insbesondere im geschichtswissenschaftlichen Forschungsbereich der Oral History gefunden hat (vgl. HOPF 2012:355), ist nicht zuletzt ein geeigneter Ausgangspunkt ausfindig gemacht, um jenen Choreographien des eigenen Lebens methodisch-empirisch ausgerichtet auf die Spur zu kommen. Durch die autologische Schlagrichtung des Spurenlesens gibt das Erzählen mündlich vermittelter Sichtweisen in Form eines narrativen Interviews die Chance darauf, dass der Spurenleser im Zuge der Spurenlese immer auch Wissen über sich selbst [gewinnt] (HARD 1995:128), indem er lange beschwiegenes Wissen (WIERLING 2008:108) oder verdrängte bzw. vergessene Erinnerungen anhand und vermittels der Spur hervorzuheben und zu evozieren beginnt. Die entdeckten (Spuren-) Objekte fungieren dabei insofern allesamt als Katalysatoren für biographische Berichte und Rekonstruktionen von Biographien (HENNIG 2014:234), als sie subjektiv bedeutsame Erinnerungs- und Narrationsprozesse anstoßen, begleiten, filtern oder einfach nur physisch-materiell beglaubigen. Neben den dadurch spurenbasiert zu gewinnenden Auto-Biographien, also den Lebensgeschichten des Einzelnen und der Verzeitlichung des Selbst, könnten hiermit ebenso jene damit verbundenen Auto-Geographien – im Sinne von beschrittenen Lebenswegen und Verortungen des Selbst – aufgedeckt und wiederum als Selbstzeugnis zu einem relevanten Datenmaterial der Spurensuche erhoben werden. 178 Geben doch erst Auto-Biographien und, erweiternd dazu, auch Auto-Geographien dem Erzähler etwas an die Hand, sich selbst in seiner historisch-sozialen Umgebung zu verorten, sie dienen aber zugleich auch dazu, diesen historisch-sozialen Bezugsrahmen seinerseits erst näher zu definieren (LAHUSEN 2013:10). Aber was historisch-geographisch definierte Autobiographien so wertvoll und gleichermaßen interessant macht: ist nicht ihr Wert als Abbild der äußeren Welt, sondern als Abbild der inneren Welt des rückblickenden Betrachters. Was Autobiographien unverfälscht dokumentieren, ist nicht die tatsächliche Wirklichkeit eines Lebens, sondern die verschiedenen Verfahren zur Sinngebung dieser Wirklichkeit. (SABROW 2012a:10)

In direkter Anlehnung an das zuvor Gesagte soll es der hier dargelegte Forschungsstrang des geohistorischen Spurenlesens möglich machen, verdeckten Spuren in lebensbiographischen Erzählungen der im Forschungsfokus stehenden Subjekte genauer nachzuspüren (vgl. KABALEK 2009:121f.). Wegen einer grundinteressierten Offenheit (ROSENTHAL [1995]2012:113) gegenüber der Geschichte des Befragten scheint das narrative Interview überaus nützlich dafür zu sein, eine sinnhafte und selbstreflexive Spurenlese (in) der Spurenlese in Gang zu bringen. Die Frage da177 Bei JUREIT steht dieser Topos stellvertretend für Autobiographien. An dieser Stelle ist mit Blick auf die Konzeptrahmung des geohistorischen Spurenlesens zugleich die unmittelbare und synthetische Verbindung der Geographien des eigenen Lebens (WERLEN & DAUM 2002) mit den Geschichten des eigenen Lebens (vgl. Kap. 4.3.2) anvisiert. 178 Der hier erweiternd zur Auto-Biographie hinzugefügte Topos der Auto-Geographie ist eine begriffliche Eigensetzung, die sich gleichwohl bereits in der Arbeit von CRAMER (1998) finden lässt, die hiermit – literaturwissenschaftlich interessiert – dem Wechselverhältnis zwischen Reisen und Identität nachzukommen versuchte.

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nach, welche geohistorischen Spuren sich dem einzelnen Spurenleser im Laufe seines Lebens, in ihm Selbst, in seinem Gedächtnis, als Eindrücke von Welt eingeschrieben haben, wird insofern zum Aufhänger der wissenschaftlichen Spurenlese, indem aus den individuell mitgeteilten Berichten nicht nur die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers (SCHÜTZE [1983]2012:102) zum Vorschein kommt. Damit können vielmehr noch die biographischen Orts-Erfahrungen und kollektiven Orts-Geschichten und deren sozialgeographischen Bedeutungsgehalte entlang und in Form von Erzählspuren herauspräpariert werden (NIETHAMMER 1985c:407). Hierfür muss man sich nur auf das Gegenüber, auf den Spurenleser einlassen, um an dessen verdeckte und ansonsten nicht ohne Weiteres zugänglichen Einspurungen persönlich erlebter Lebens- und Geschichtserfahrung zu gelangen. Eine erzählgenerierende Befragung verschafft dem Spurenleser selbst nicht zuletzt die nötigen Freiheiten, den Raum zur Gestaltentwicklung (ROSENTHAL 1995: 193), um seine ganz eigene gegenstands- bzw. ortsbezogene Spurenlese zum einen überhaupt erst in Worte zu kleiden und zum anderen selbst erst in einen spurengeleiteten Erinnerungsfluß (BRECKNER [1994]2012:132) zu bringen. Dies ist insofern als nicht bedeutsam genug zu erachten, denn wie der Befragte seine Präsentation gestaltet, worüber er erzählt, was er ausläßt und in welche thematischen Felder er welche biographischen Erlebnisse einbettet, gibt uns Aufschluß über die Struktur seiner biographischen Selbstwahrnehmung und die Bedeutung seiner Lebenserfahrung. (ROSENTHAL 1995:193)

Im Hinblick auf die hierin persönlich und geohistorisch imprägnierten Spureneinlagerungen, scheinen dabei die weithin verdeckten Erinnerungsmuster (JUREIT 1999a) von besonderem Interesse, welche sich im Zuge der subjektbezogenen Spurensuche in mündlich erfragten Narrationen als oral histories (NIETHAMMER 1985a) und/oder oral geographies (RILEY & HARVEY 2007), d. h. als mündlich vermittelte spatial stories (RAU 2013a:178f.) entlang von raumzeitlich gestrickten Gedächtnisspuren offenbaren. Um dem beforschten Spurensucher die Möglichkeit zu geben, seine eigenen oral-verfassten Spurenerzählungen (selbstreflexiv) entwickeln zu können und im gleichen Zuge deren eigenen geohistorischen Einsprengsel zu heben, ist es zu Beginn der Erhebungsphase geboten, eine möglichst offene Situation zum Erzählen und Erinnern von Subjekt-Spuren zu geben (vgl. ROSENTHAL 1995:193). Narrative Interviews offerieren einen solchen Spielraum, da hier zumeist mit sehr offenen Erzählaufforderungen, mit einfachen narrativen Impulsen gearbeitet wird, welche subjektive und ad hoc-evozierte Erzählungen resp. Erinnerungsprozesse befördern (vgl. NIETHAMMER 1985c:401; ROSENTHAL 1995:195). Am Ende, so die hier methodisch formulierte Hoffnung, ist durch sensible und erzählgenerierende Fragen und aufmerksames Zuhören (ROSENTHAL 1995:186) gewissermaßen der empirisch-methodische Rahmen dafür geschaffen, um an die persönlichen Spuren und Spurenlektüren derjenigen zu kommen, die mit ihrer Spur im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen und die mit ihrer Spurengeschichte etwas von großer Bedeutung (GINZBURG 1988c:115) preiszugeben haben. Um jedoch nicht nur darauf zu warten, dass der einmal ins Erzählen gebrachte Spuren-

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sucher auch etwas an verborgenen Eigen-Spuren preisgibt, sollte der begleitende Spurenforscher, ohne seine zurückhaltende Verfolgungs-Haltung aufzugeben, ebenso darauf bedacht sein bzw. sensibilisiert dafür sein, durch etwaiges Nachfragen, Dialogisieren oder nochmaliges Stimulieren Spurengeschichten fernab standardisierter wie habitualisierter Erzählpraxis immer wieder anzustoßen (vgl. JUREIT [1999]2012: 241; ROSENTHAL 1995:202f.; WIERLING 2003:115). Im Prozeß immanenter Rückkopplung (NIETHAMMER 1985c:402) gilt es insofern, bereits Gesagtes oder noch Ausgelassenes der Spurensuche in selbige immer wieder zurückzuholen und vertiefend zur Sprache zu bringen – ohne jedoch dabei durch Frage-AntwortSequenzen den Erzählfluss ins Stocken zu bringen. Denn: Je mehr Fragen gestellt werden, desto eher verlieren die Interviewpartner ihren Erinnerungsfaden. Die Antworten werden immer kürzer und unterliegen immer mehr der Suggestion, oder aber das Gespräch versiegt, wenn keine Übereinstimmung zwischen Fragen und passenden Antworten hergestellt werden kann. Setzen sich dagegen die Interviewpartner mit ihrem Bedürfnis durch, ihre Erinnerungen darzustellen, erfährt man neue Aspekte, die nicht schon in den Fragen vorformuliert sind und lediglich nach Bestätigung suchen. (BRECKNER [1994] 2012:132; Herv. i. Orig.)

Insofern müssen im Forschungsprozess stets auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, um Erinnerungsdurchbrüche (NIETHAMMER 1985c:402) zu verborgenen, heiklen oder teils schmerzhaften Erinnerungsspuren zu ermöglichen. Bei aller sinnhaften Arbeit an der subjektivierten Spur gilt es also sukzessive einen Erinnerungsrahmen zu kreieren, der ihm [dem Spurenerzähler; R. L.] immer mehr Bestände aus dem Gedächtnis vorstellig werden läßt (ROSENTHAL 1995:195). In diesem Zusammenhang sind natürlich insbesondere der Interviewkontext und die seitens des Erzählers geschürten Erwartungen an den Zuhörer bei der Planung und Durchführung der Erhebungsphase stets mitzubedenken und zum Gegenstand eigenständiger Reflexion zu machen (vgl. OBERTREIS & STEPHAN 2009b:31); bspw. die Diskrepanz zwischen dem, was der Forscher meint vom Befragten erzählt zu bekommen und was er am Ende letztlich als Erzählung präsentiert bekam. Die Dokumentation der ganzen sinnhaft-narrativ gerahmten Spurensuche kann, wie derart in der Interviewforschung häufig praktiziert, über Diktiergeräte auditiv, oder auch per Videoaufnahme audiovisuell geschehen. Der Einsatz von Aufzeichnungstechnik ist für sich genommen ein nicht unwesentlicher Punkt, der bei der Operationalisierung eigener Forschung eigentlich mehr Beachtung finden sollte, zumal die Technik-Frage in der späteren Erhebungsphase mitunter zu unvorhergesehenen Dynamiken und auch Brüchen im Interviewgeschehen führen kann (z. B. zum Verstummen bis hin zum Abbruch des Gesprächs) (vgl. HERMANNS 2012:362f.). Fernab des Technikgebrauchs ist es möglich, protokollarische Mitschriften während oder nach der Erhebungssituation zu machen. Insbesondere anschließend an das Interview scheint es angezeigt, ein Gesprächsprotokoll über den Verlauf der Erhebungsphase und die spezifische Interviewdynamik (WIERLING 2009:326) anzufertigen, um neben dem Erzählten, dem gesprochenen Wort auch all jene Begleitumstände (Gesprächsatmosphäre/-setting/-verlauf, etc.) und nonverbale Äußerungen (Performances, Auftreten, Emotionslagen, Rolleneinnahmen, etc.) zu dokumentieren, die in gleicher Weise zu dieser oder jener Spurenerzählung

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geführt haben (vgl. JUREIT 1999a:31; WIERLING 2003:124f.).179 Über die Gesprächsprotokolle hinaus können erinnerte Spuren nachträglich ebenso in diversen Materialien gesucht und gefunden werden, die im Interviewgeschehen ihren Platz gefunden haben und so in direkter Verbindung zu dem Gesagten stehen, womit sie einer Nachbetrachtung ebenso zugrunde liegen sollten: die Rede ist von Fotos, Tagebucheinträgen, Korrespondenzen, Zeitungsartikeln oder ähnlichen Selbstzeugnissen, welche eine Spurensuche begleiten oder in Teilen auch mitbestimmen können (vgl. VON PLATO 2009:80). Die eigentliche Aufbereitung der sinnhaft-narrativ gestrickten Spurensuche geschieht wiederum durch die nachträgliche Aufbereitung des Gesagten, d. h. durch die Transkription der Interviewmitschnitte. Transkripte sind sowohl eine Grundlage für die Analyse als auch und zugleich eine Vorstufe zur Interpretation (WIERLING 2003:125), wonach schon jegliche Transformation des Gesprochenen [durch ein Transkribieren; R. L.] bereits eine Interpretationsleistung des erhobenen Quellenmaterials bedeutet (BAUER 2006:45). Umso mehr muss man sich entsprechend Gedanken darüber machen, wie und in welchem Umfang das aufgezeichnete Gespräch mitsamt der darin befindlichen Erzählspuren schriftlich niedergelegt werden sollen. Je nachdem, wie detailliert die Verschriftlichung ausfallen soll, ist die grundlegende Frage danach zu stellen, ob und inwieweit z. B. die Notation von parasprachlichen Äußerungen wie Gestiken, Mimiken, Sprechpausen oder vereinzelte die Erzählung begleitende (nonverbale) Gefühlsäußerungen ins Transkript Eingang finden müssen oder nicht (vgl. BRECKNER [1994]2012:143f.; VORLÄNDER 1990:24f.). Wenn es nur auf das gesprochene Wort und deren Sinngehalte ankommt, so wären körpersprachliche Ausdrücke sicher unter Umständen vernachlässigbar, obgleich mit deren Aufnahme in die Verschriftlichung des Interviews das Gesagte gewiss immer auch anders unterstrichen wäre – Stichwort: Performanz der Spur. Ob linguistisch feine Notationen, bei allem Aufwand ihrer Erstellung, denn dabei im Hinblick auf eine Spuren-Methodik notwendig sind oder ob am Ende nicht eher das Argument der besseren Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Textes inklusive ihrer versprachlichten Spuren im Vordergrund stehen sollte, ist von Untersuchungsfall zu Untersuchungsfall und korrespondierender Fragestellungen abzuklären. Zur inhaltsbezogenen Suche nach Erzählspuren ist in jedem Fall eine wortgetreue Verschriftlichung des Gesagten, mit allen grammatikalischen, dialektalen oder anderen sprachlichen Einfärbungen, von Vorteil (vgl. WIERLING 2003:125). Mit Blick auf das analytische Durchdringen der ge- bzw. erhobenen ErzählSpuren bietet sich sowohl der Ansatz interpretativ-hermeneutischen Verstehens als auch der in der lebensbiographischen Forschung üblichen rekonstruktiven Fallanalyse an (vgl. BOHNSACK 2010:94ff.; NIETHAMMER 1985c:412ff.; ROSENTHAL 1995: 208ff.; WIERLING 2003:129). Entsprechend dieses Analyserahmens tritt man weni179 Das nicht zuletzt mit dem Wissen darum, dass eine Interviewsituation durch eine asymmetrische Relation (VORLÄNDER 1990:16) gekennzeichnet ist, wonach ungleichgewichtete Wissensstände, Frage- und Antwortstrategien, aber auch subtile Machtrelationen eine nicht unwichtige Rolle spielen. In letzterem Fall ist vor allem das grundlegende Verhältnis zwischen dem Fragen und Ausgefragtwerden zu sehen; vgl. dazu WIERLING (2003:114).

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ger kategoriell-festgelegt an die Interviewdaten heran. Vielmehr geht man daran, den gewonnenen Text in seinen Einzelfallstrukturen, in seinem Eigensinn und eben auch eigensinnigen Spurungen zu greifen und zu begreifen (vgl. ROSENTHAL [1995]2012:113). Der verstehende Rekonstruktionsprozess folgt hierbei der zuvor darlegten abduktiven Forschungslogik, die in diesem Fall von dem im Text Besonderen auf das Besondere hinter dem Text zu kommen versucht (vgl. ROSENTHAL 1995:211). Für das Schließen auf den besonderen Fall werden insofern keine vorgefertigten Codes, Regeln oder Kategorien benutzt, als vielmehr ganze neue gesucht und infolgedessen überhaupt erst generiert. 180 Bei der abduktiv-erschließenden Analyse der Spuren-Narrationen und deren Textresultaten (Transkriptionen) ist insofern eines besonders entscheidend: Bei einer genauen Untersuchung des Textes lassen sich häufig im Interview Spuren finden, mit denen man dieses vielschichtige Gefüge aus Erlebnisüberresten, Erfahrungsüberlieferung und aktueller Zurichtung in Zeitschichten zerlegen kann (NIETHAMMER 1985c:431). Zur Zerlegung und spurengeleiteten Durchdringung des Textes ist es vor der eigentlichen Tiefenanalyse angebracht, im Zuge einer Indexierung thematische Untergliederungen in Form von sinnverschiedenen Texteinheiten vorzunehmen (WIERLING 2003:125). Denn erst im Anschluss daran ist es möglich, hermeneutisch-rekonstruierend von den sich offenbarenden Teilspuren der Erzählung zur übergeordneten Gesamtspurenlage zu kommen, innerhalb derer einzelne Abschnitte beispielhaft für die Typik eines Falls in Betracht kommen (ROSENTHAL 1995:210). Die rekonstruktive Fallanalyse vollzieht sich hierbei entlang einer Sequenz- und Feinanalyse (JUREIT 1999a:67), mit der einzelne relevante Darstellungs- und Erzählmuster im Text (JUREIT 1999a:391) identifiziert und in ihrer zirkulären Verweisstruktur untereinander, also auf Binnenverweise hin untersucht und überprüft werden können. Dies macht es schlussendlich möglich, jene textimmanenten und/oder szenischen Konstruktionen der Erzählungen an diesen selbst herauszuarbeiten (JUREIT 1999a: 396). Wie bereits angemerkt, geht es dabei nicht darum, irgendwelche Kategorien auf den Fall, den Text (deduktiv) zu stülpen oder (induktiv) einfach zu entnehmen, sondern den einzelnen Fall (abduktiv) für sich sprechen zu lassen. Auch ist es keineswegs das Anliegen der hier entwickelten Verfahrensweise, den sich im Gespräch zeigenden Gedächtnisspuren tiefenpsychologisch nachzugehen (vgl. FREUD 1924, 1982), insoweit ihnen eben nur und in erster Linie als sprachlich geformte Erinnerungsfigurationen gefolgt wird. Im Sinne einer deutenden Nacherzählung des Interviews (WIERLING 2003:145) gilt es vornehmlich hermeneutisch-verstehend wie inhaltsanalytisch an den Interview-Text heranzutreten, von dem Ziel geleitet: die Mini-Erzählungen, in die der Erzähler eingeschlossen ist (GEERTZ 2007:78) in einzelne Sequenzen zu segmentieren und hieraus ausgewählte Fallaspekte genauer zu erschließen. Dabei ist das analytische Interesse nicht nur den präsentierten Geschichten und Erinnerungsthemen zu widmen, sondern ebenso all den Dethematisierungen (ROSENTHAL 1995:199), welche denn im Grunde genommen und im 180 Was eine Nähe zu kodierenden Verfahren, wie dem thematischen Kodieren nach FLICK (2010: 402−408) oder dem inhaltsanalytischen Auswertungsschema nach MAYRING (1999) in Teilen ersichtlich werden lässt.

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eigentlichen Sinne mehr offene Spuren zurücklassen, ohne sie genauer erzählt oder bedeutet zu haben. Betrachtenswert sind hierbei nicht zuletzt all jene der narrativen Darstellung inhärenten Verweisungen (ROSENTHAL 1995:199), die Teile oder das Ganze der Erzählung ex- oder implizit ausmachen und gestalten. In Bezug darauf sind dann eben auch diskursive Lesarten des Erinnerten zu berücksichtigen, insofern narrative Interviews doch meist auch selbst in herrschende Diskurse eingebunden [sind] (JUREIT 1999a:79), was wiederum die Chance bietet, lebensgeschichtliches Erzählen [an und mit der Spur; R. L.] in seiner historischen und gesellschaftlichen Kontextgebundenheit zu begreifen (JUREIT 1999a:80). So kann das Erzählen in seinem Nachvollzug immer auch Belege sozialdiskursiver Vorstrukturierungen zutage fördern, welche die persönliche Erzählspur zusammen mit gesellschaftlich anerkannten Erzählmustern analytisch verknüpfen lässt; genauso wie Anleihen hieraus in Form kollektivierter Anekdoten oder Gedenkdiskursen (vgl. KABELEK 2009:122), mitsamt all der darin auffindbaren (latenten) Zeitstrukturen und Raumordnungen, solcherart aufgedeckt werden können. 181 Um am Ende keinen größeren interpretativen Fehlschlüssen (ROSENTHAL 1995:226) zu erliegen, bedarf es entsprechend einer analytischen Sensibilität dafür, wie das einst Erlebte von dem je gegenwärtigen Erzählten kategoriell unterschieden werden kann. 182 Dies scheint notwendig, ehe beide Sphären im Zuge einer rekonstruktiven Gesamtanalyse im Kristallisationspunkt der Erfahrung 183 auch wieder zusammen in Augenschein genommen werden können (vgl. JUREIT 1999a:34), wodurch die Lebensgeschichte nicht zuletzt erst als Erlebnis-, Ereignis- und Erzählzusammenhang (BRECKNER 1994:134) erforschbar wird. Der befragte Zeitund Ortszeuge vermag mit seiner Erzählung bei alledem allerdings keinen direkten Zugang zur vergangenen Wirklichkeit zu eröffnen, zumal weder das Bezeugen noch deren Zeugnisse als eine authentische, unverfälscht wahre Wiedergabe oder gar als Abbild von Etwas in der Vergangenheit (BRECKNER [1994]2012:132; Herv. i. Orig.) anzusehen sind. Die narrativen Äußerungen des Befragten können lediglich 181 Gleiches ist auch im Hinblick auf argumentative sowie dialogische Sprechmuster zu sehen. 182 Laut ROSENTHAL (1995:14) muss zwischen einer erlebten und erzählten Lebensgeschichte grundlegend unterschieden werden. Erlebt meint die subjektive Eindrücklichkeit einer vergangenen Handlungssituation, d. h. wie sie sich einstmals zugetragen hat und wie sie als Erlebnis erlebt wurde. Erzählt meint hingegen das thematisch-situative Neu-Arrangement einer Lebensgeschichte, einer erlebten Geschichte, wie sie aus einer je gegenwärtigen Gegenwart heraus immer wieder konstruiert und solcherart aufs Neue gelebt wird. Dagegen plädiert JUREIT mehr dafür, einen narrativierten Lebensrückblick als konstruierte Erfahrungssynthese (1999a:34), mithin als eine Erfahrung zu verstehen, die eine historisch erlebte und aktuell gelebte Geschichte stets in Verbindung zueinander sieht. JUREIT gibt damit zu bedenken, inwieweit bei Interviews die erlebte und erzählte Lebensgeschichte nicht immer schon zusammenkommen. Ist doch in der Interviewsituation nur die erzählte Geschichte und die Kommunikation hierüber für den Interviewer (empirisch) greifbar, aber eben weniger die erlebte Lebensgeschichte an sich (JUREIT 1999a:64f.). So gesehen ist das mündlich oder schriftlich Erinnerte, als Erfahrungssynthese zu verstehen, die sich zum einen durch eine zeitliche Aufschichtung, zum anderen durch die Gegenwartsperspektive des Erzählenden konstituiert (JUREIT 2012b:156). 183 Siehe zum Erfahrungsbegriff die Ausführungen in Kap. 3.3.2/Anm. 46.

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als Spur aufgenommen und als solche gelesen werden, indem der Bezug auf die unwiederbringlich verschwundenen, vergangenen Wirklichkeiten im Kontext der Lebensgeschichte erst rekonstruiert werden muß (BRECKNER [1994] 2012:134). In diesem Sinne geht es bei aller sinnhaften Spurensuche also eher um eine (mögliche) Lesart einer Spur der Spur eines Spurenlesers, die fallanalytisch und selbstredend auf das Typische einer spurengeleiteten Erzählungen allein aus dem Hier und Jetzt hinauszuweisen vermag (vgl. BAUER 2006:49f.). 184 Dies ist dann folglich immer nur eine mögliche Lesart bzw. ein Vorschlag zur Deutung einer gespurten Erzählung, welche wegen ihrer Singularität erst durch eine nachvollziehbare Darstellung und Kontrastierung zu anderen Fällen ihre Plausibilität erlangt (vgl. WIERLING 2003: 129). Am Ende der Analyse stehen unter dem Strich Typisierungen bzw. Typenbildungen. Typen, die sich im Material durch das feingliedrige Analysieren von Erzähl- und Erinnerungsmustern haben finden lassen und welche zur Abgrenzung und zugleich kontrastierenden Zusammenstellung von bestimmten, subjektbezogenen Erfahrungsmustern führen (vgl. BAUER 2006:49f.; JUREIT 1999a:396).185 Diese subjektbezogenen Erfahrungsmuster zeugen einerseits von einer eingeübten Erzählpraxis, die wiederum selbst stets auch von Erzählzwängen 186 (Detaillierungszwang, Relevanzzwang, Kondensierungszwang, Gestaltschließungszwang) gekennzeichnet ist; die aber andererseits auch, so ist die fruchtbare Erweiterung in Richtung Spur zu sehen, auf das noch ungewusst Erzählte, noch zu Erzählende bzw. noch nicht Sagbare hinausführt, was wiederum erst jene verborgenen Erzählstränge aufzudecken hilft, die auf die Erfahrung der Spur bzw. auf die Spur als Erfahrung verweisen. So gesehen verhilft eben auch das Nicht-Erzählen einer Spur selbiger zur Bedeutung. Denn: Möglicherweise sind wir dem Erlebten dort am nächsten, wo die sprachliche Harmonisierung nicht gelingt (JUREIT 2009:89). Zusammengefasst gesprochen, geht es bei der sinnhaften Beschäftigung mit Spuren darum, Erinnerungs- und Erzählmuster spurengeleitet zu identifizieren und zu interpretieren. Erzähltes und Erinnertes an und vermittels der Spur zu betrachten, heißt dann im Falle eines geohistorisch imprägnierten Spurenlesens einem thematisch-temporalen Entwurf der Lebensgeschichte eines Einzelnen aus der Gegenwart heraus interpretativ-verstehend nachzugehen (vgl. ROSENTHAL [1995] 2012:119). Im Sinne einer temporalen Mehrschichtigkeit des Phänomens ist hier184 Das kann am Ende auch zu einem, wie es NIETHAMMER (1985c:410, 1994b:207) genannt hat, Enttypisierungsschock für den Forscher führen, insofern er etwas Anderes als die erwartbaren oder gewussten Dinge aufgezeigt bekommt, was keine generelle Einordnung in bereits bekannte Fälle oder Typen kennt. 185 Die so ausfindig gemachten Typen beanspruchen daher auch keine Repräsentativität, sondern sind, einem Einzelfall entsprechend, singulär und so für sich alleinstehend zu betrachten. 186 Diese einst von SCHÜTZE (1976:224f.) benannten Erzählzwänge machen allesamt darauf aufmerksam, dass ein Erzähler mitnichten einfach so loserzählt, ohne einem (tieferen) Sinn oder irgendeiner Struktur zu folgen. So vollführt er seine Erzählung denn immer unter bestimmten Prämissen und Zugzwängen, sodass einem die dargebotene Geschichte immer stringent und dramaturgisch gesehen logisch erscheinen muss; ungeachtet der Tatsache, dass sie immer auch verdichtet, verkürzt und Wichtiges von Unwichtigem scheidet; genauso, wie sie stets auch eine Auswahl an Details liefert, die den gesamten Erzählstrang erst zu plausibilisieren hilft (vgl. WIERLING 2003:119ff.).

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mit die gleichzeitige Anwesenheit ungleichzeitiger Zeithorizonte bei der Analyse des spurengenerierenden Erzählens stets mitzubeachten, genauso wie die Pluralität und Kontingenz etwaiger Orts- und Raumbezüge, welche ebenso in die Spurensuche eingelassen sind. Beachtenswert sind dabei die Erzählspuren, die sich in den Narrativen finden lassen und die zum einen von ritualisierten Erzählungen (JUREIT [1999]2012:241) oder bestimmten scripts bzw. Drehbüchern (WIERLING 2008:113, 2009:326), mithin festen Abläufen im Erzählen zeugen, wie sie zum anderen aber auch von der situativ, durch die Spurensuche abrupten Hervorbringung neu- oder andersartiger Erzählung oder der Zerstörung alter Erzählmuster Zeugnis ablegen. In letzterem Falle sind die spezifischen Erfahrungsaufschichtungen, nachträglichen Umarbeitungsprozesse und schließlich die aktuellen Selbstentwürfe (JUREIT [1999]2012:242) zu beachten, welche innerhalb der Spurenlese stattfinden und selbige immer wieder rahmen und bestimmen. Welche Erfahrungssynthese (JUREIT 1997:91) sich entlang der Subjekt-Spur nun genau einstellt, die zur je gegenwärtigen geohistorischen Auf- und Umschichtung oder Neuordnung von Erfahrungsinhalten und Erlebten führt, ist an der sprachlich bedeuteten Spur insgesamt gesehen, aber speziell an den spezifischen Kontinuitäten, Brüchen und Kontingenzen der situativen dargebotenen Erzählung zu analysieren und entsprechend empirisch darzulegen. 5.3.3

Geohistorisches Spurenlesen als materielles wie sinnbezogenes Lesen(-Lassen)

Wie zuvor dargelegt, vereinen sich im Akt des Spurenlesens und dessen forschungslogischem Nachvollzug die Materialität und Immaterialität eines Phänomens, ohne dass deren Bezug zueinander von vornherein geklärt wäre. Auf dem Fundament eines qualitativen Forschungsparadigmas gründend, besteht in der methodologischen Orchestrierung beider Bereiche indes ein ganz eigener erkenntnistheoretischer Zugewinn: Durch ein solches Interesse am Subjektiven im objektiven Spurenlesen entsteht dann im glücklichen Fall eine Art objektiver Erkenntnis des Subjektiven (HARD 1995:128). Im Tenor der HARDschen Formulierung verbleibend, dürfte eines infolge des zurückliegenden Abschnitts klar geworden sein, und zwar, dass sich die methodisch zu verfolgende Spur weder im Gegenstand konstituiert noch dort allein zu (unter)suchen ist. Vielmehr manifestiert sich die Spur und die Spurenlese als ein sowohl sinn- wie auch körperhaftes Sich-Auseinandersetzen mit einem situativ unverstandenen Gegenstand seitens eines Spurenlesers. Demnach wird die Spur erst im praktischen Vollzug der Spurenlese sichtbar und erst mit Hilfe des Spuren-Subjekts erforschbar. Erst über die Subjektebene kann die darunterliegende Objektebene wirklich verstanden werden. Eine auf Spuren sensibilisierte Forschung sollte dementsprechend immer gefasst darauf sein, dass physisch gleiche Spuren […] vieles bis ganz Unterschiedliches bedeuten, und in materieller Hinsicht sehr unterschiedliche Spuren […] das gleiche [sic!] oder Ähnliches bedeuten (HARD 1989:7). Mit dem komplettierenden Blick auf die Subjektivität und Reflexivität jedweder Spurenpraxis kann schließlich der Objektivitätswahn vieler wissen-

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Methodologie und Methodik: Wie Spuren und Spurenleser lesen?

schaftlicher Spurenlektüren gewinnbringend aufgelöst werden, in der Hinsicht, dass die subjektive Einfärbung des vermeintlich objektiven Blicks thematisierbar und reflektierbar scheint (HARD 1995:128). Dies kann letztlich nicht nur dazu dienen, die in der Wissenschaft lang hochgehaltenen Objektivitätsideale in Teilen zu entkräften – ein Zugewinn, der allen voran über die Reflexion wissenschaftlich-gelehrten Spurenlesens erzielt werden könnte. Der andere, hier stärker forcierte Zugewinn ist ferner darin zu sehen, dass das Spurenlesen sich in seiner Kombination aus materieller und immaterieller Leseausrichtung sich besonders dafür auszeichnet, das Subjekt zu beforschen, indem man es auf sich selbst (rück)blicken lässt, auf deren biographische und erfahrungsbasierte Selbst-Sicht sowie auf darin eingelagerten kollektiv vermittelten Welt- und Geschichts(an)sichten. Letztlich ist, so lässt sich hier unter Rekurs auf D'HAENENS (1984) abschließend konstatieren, eines bei alledem unabdingbar: wo keine Spuren, da keine Geschichte(n), und wo keine Geschichte(n), da keine Spuren (zit. nach HARD 1995: 180). Ergänzend hierzu ließe sich, die Brücke zur Geographie schlagend, ebenso anmerken: wo keine Spuren, da keine Geographie(n), und wo keine Geographie(n), da keine Spuren. Diesen beiden Leitsätzen folgend, soll es nun der empirischen Feldforschung obliegen, mit Hilfe des zuvor methodisierten Spurenlesens zu ergründen, welche spurenhaften Geographien und Geschichten gehoben werden können, die ein jüngerer Geschichtsgegenstand bei noch lebenden Gedächtnissubjekten in ihrer Erinnerung hinterlassen hat: die Rede ist von der DDR/Grenze und ihr verbundener memorialer Sujets. Bevor jene subjektiv erinnerten Geographien und Geschichten DDR-bezogener Vergangenheiten einzelner Gedächtnissubjekte genauer in den Blick geraten (Kap. 8), gilt es vordem noch das diesbezügliche Forschungsfeld (Kap. 6) wie auch die spezifisch gewählten Zugänge zum untersuchten Feld (Kap. 7) genauer darzustellen.

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DDR-Erinnerung: Figurationen eines Gedächtnisgegenstandes

Schwarzes Gold aus Warnemünde – so der Titel eines Romans, der von Harald MARTENSTEIN und Tom PEUCKERT 2015 veröffentlicht wurde. Das Buch trägt nicht nur Irritierendes im Titel. Es trägt vielmehr auch etwas durchaus Besonderes wie Komisches in sich, insofern es die DDR in einem noch nicht gesehenen Lichte auferstehen und ein kaum vorstellbares Revival erfahren lässt. Den Inhalt des Buches kurz zusammengefasst: Im Herbst 1989 tritt Günter Schabowski vor die Presse, um zu verkünden, nicht, dass die Grenzen offen sind und Reisefreiheit gewährt wird, sondern, dass an der Ostseeküste, vor Warnemünde riesige Ölvorkommen entdeckt wurden. Den Systemzusammenbruch gerade noch abwendend, liest sich die romanhafte Geschichte als eine rückwärtsgewandte Erfolgsstory, in der die DDR nicht untergeht, sondern neben OPEC-Staaten wie Saudi-Arabien zu einer der reichsten und wohlhabendsten Gegenden der Erde emporsteigt. Mit dieser literarischen Geschichtsumschreibung wurde nicht nur gewissermaßen der Weltmarkt neu geordnet, sondern in gewisser Weise auch das historische Verhältnis zwischen Ost und West ganz neu justiert, mehr noch vollends ins Gegenteil verkehrt, als eben nicht die BRD, sondern die DDR als Sieger aus der Geschichte hervorgehen sollte. Wenn auch die gesellschaftlichen Probleme im Kleinen die gleichen blieben, feierte die sozialistische Idee solcherart ihren Fortbestand – fast so wie es Erich Honecker und anderen SED-Funktionären zum 40-jährigen Bestehen der DDR noch selbst vorschwebte. Obwohl jene utopistische Vergangenheitssicht jedweder historischen wie vor allem geologisch gesicherten Wirklichkeitsgrundlage entbehrt, steht die Geschichtsneuschreibung von MARTENSTEIN & PEUKERT (2015) als ein Sinnbild dafür, in welcher Art und Weise und vor allem Vielgestaltigkeit es bis zum heutigen Tage an möglich erscheint, die vor mehr als 30 Jahren untergegangene DDR zu erzählen, zu imaginieren und auch zu memorialisieren. Insofern wurden und werden seit der Wende unterschiedlichste Bilder von der DDR entworfen, gezeichnet und immer wieder zu verschiedenen Zeiten verändert und solcherart umkoloriert, mit dem Resultat: bis heute nicht genau zu wissen, welches Bild denn nun das richtige, historisch beglaubigte und vor allem gesellschaftlich legitimierte sei.

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DDR-Erinnerung: Figurationen eines Gedächtnisgegenstandes

DDR-Erinnerung als sozial-kultureller Gedächtnisgegenstand Geht man dezidierter der Frage nach, welche Spuren die DDR-Vergangenheit im realen, d. h. nicht-romanhaften, nicht-fiktiven Leben hinterlassen hat und welchen Stellenwert ihr aktuell in Wissenschaft wie Gesellschaft zukommt, dann zeigt sich ein noch vielfach ambivalenteres Bild. Richtet sich der Blick zunächst aufs Gesellschaftliche, dann kann man mit dem Potsdamer Zeithistoriker Martin SABROW zur Einschätzung gelangen, dass das Bild von der DDR, das aus […] gespeicherten Überresten und Erfahrungen hervortritt, […] nicht geschlossen [ist]; es ist vielmehr denkbar zerklüftet (SABROW 2010c:12). Diese Aussage mag insofern überraschen, als man sich gesamtgesellschaftlich doch bereits früh, d. h. postwendend zum Fall der Mauer darangemacht hat, ein klares Bild von dem zu zeichnen, was vor 1989 im abgetrennten Teil Deutschlands geschah, um wiederum einen klaren Eindruck davon zu bekommen, was die DDR war und welche historische Rolle ihr in Gegenwart und Zukunft zugeschrieben werden solle (vgl. KLEßMANN 2009:87). So hat sich schon in den ersten Jahren nach der epochenmachenden Wende 89/90 eine Aufarbeitungskultur (SABROW 2010b:7) entwickelt, die derlei historische Einordnungen nicht zuletzt zu leisten versprach. 187 Die geführten Diskurse um die Aufarbeitung der DDR und deren bisherigen Ergebnissen scheinen jedoch alles in allem nicht darüber hinwegtäuschen zu können, dass – trotz aller Aufarbeitungsbestrebungen – bisher kein vollständiger Konsens zur jüngeren Vergangenheit erzielt werden konnte (vgl. LAHUSEN 2013:21/Anm. 41; RUDNICK 2011:18; SABROW 2010c: 14). Gewiss sind mit den Bezeichnungen Unrechtsstaat, SED-Diktatur oder Stasi-Herrschaft historische Formeln und Erzählfiguren gefunden worden, die das Ganze auf einen konzisen Begriff zu bringen scheinen. Und obwohl der öffentliche Umgang mit der DDR-Vergangenheit durch diese Begriffsformeln weithin eingeübt scheint – man denke nur an die zahlreichen Gedenkjahresfeiern, bei denen sie immerwährend zur Sprache kommen –, lässt sich jedoch nicht übersehen, dass die ostdeutsche Geschichte fernab totalitarismustheoretischer Deutungsmuster gegenwärtig eine geradezu noch umkämpfte Vergangenheit (BOCK & WOLFRUM 1999) darstellt. Insofern wird noch in vielen Teilen der wiedervereinten Gesellschaft darüber gerungen, welches zum einen das angemessene Vokabular wie auch zum anderen das richtige DDR-Narrativ sei (vgl. LAHUSEN 2013:11; RUDNICK 2013:61). So lassen sich zwar, wie zuvor bereits angerissen, prominente und auch zuteilen etablierte Erzählmuster ausfindig machen, mit denen bisher insbesondere die gemachten Unrechts- und Repressionserfahrungen innerhalb eines Opfer- und Täter-Gedenkens und begleitender Vergangenheitsaufarbeitungen zum 187 Was nicht nur jene Aufarbeitung meint, welche durch die Einsicht in die eigene Stasi-Akte von jedem Einzelnen persönlich geleistet werden konnte. Vielmehr sind hier die umfangreichen Tätigkeiten und Veröffentlichungen zu sehen, die aus der 1. Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (1992−1994) sowie aus der ihr nachfolgenden Kommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit (1995−1998) hervorgingen. Komplettiert wurden diese Initiativen von der 2005 einberufenen Kommission zur Schaffung eines Geschichtsverbunds Aufarbeitung der SED-Diktatur (vgl. SABROW et al. 2007).

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Thema wurden (vgl. LAHUSEN 2013:4). Bei alledem bleibt jedoch kritisch zu fragen, inwieweit diese Geschichtsauslegungen nicht […] mehr […] über die Aufarbeitung selbst [aussagen] als über die Vergangenheit (RUDNICK 2013:61), die sie aufzuarbeiten versprechen. Angesichts der zuvor dargelegten Entwicklungen kann also keinesfalls von einer kollektiv getragenen bzw. klar konturierten DDR-Erinnerung die Rede sein. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass all die Vergangenheitsrückschauen zur DDR von einer fluiden und noch weitaus diffusen Erinnerungspraxis zeugen, als von einer konsensual-fixierten und etablierten Erinnerungskultur. Hebt man den Beobachtungsgegenstand an dieser Stelle bereits von einer eher alltagsweltlichen Beobachtungsebene auf eine konzeptionelle Betrachtungsebene, dann deutet vieles von dem, was die Erinnerung an die DDR derzeitig ausmacht, auf ein Phänomen hin, das von Jan ASSMANN (2007:48) im Anschluss an Jan VANSINA (1985:23) als floating gap bezeichnet wurde (s. Abb. 6). Hiernach ist das, was die DDR nach- bzw. rückbetrachtend gewesen sein soll, noch wesentlich in einer fließenden bzw. sich verschiebende Lücke gefangen, was nichts anderes bedeutet, als dass die sich ausbildende DDR-Erinnerung noch wesentlich in einem Übergang, in einem Aushandlungs- und Übersetzungsprozess begriffen ist.

Abb. 6: DDR-Erinnerung im floating gap zwischen den Gedächtnisdimensionen (eigene Darstellung nach ASSMANN 2007:56)

Ein Aushandlungs- und Übersetzungsprozess, welcher im Grenzbereich zwischen einer lebendig und fluid im Alltag kommunizierten Erinnerung (kommunikatives Gedächtnis) einerseits und einem fixen, gesellschaftlich-verbindlichen Erinnern

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(kulturelles Gedächtnis) andererseits verläuft (ASSMANN 2007:48−56). 188 Im Gegensatz zur mittlerweile gesellschaftlich weithin anerkannten wie politisch-institutionell gestützten NS-Vergangenheit, die ihren Platz im kulturellen Gedächtniskanon eines nationalen wie transnationalen kollektiven Gedächtnis (HALBWACHS [1950]1985, [1925]1985) bereits gefunden hat, ist der Platz, den die DDR in der Erinnerung einzunehmen hat, noch wesentlich un- bzw. unterbestimmt. 189 In Analogie zu ASSMANN bringt es desgleichen auch SABROW auf den Punkt: Er spricht von einem fluiden DDR-Gedächtnis (SABROW 2010c:24), das sich – metaphorisch gesprochen – diffus zwischen verschiedenen Eckpfeilern gesellschaftlicher Erinnerung hin- und herbewegt, ohne jedoch einen festen Rahmen oder normativen Haltepunkt zu haben. Ein Grund für jene Fluidität und Diffusität im Erinnern an die DDR mag wohl nicht zuletzt darin zu sehen sein, dass sich trotz der langen Zeit des Aufarbeitens und Gedenkens bisher unterschiedliche, teils divergierende Erinnerungsbilder herauskristallisiert haben, die nicht für eine bestimmte Setzung, Kohärenz oder Einheit in der erinnernden Rückbetrachtung sprechen. Diese Bilder zeugen eher von einer noch größtenteils zerstreuten Erinnerungsgemeinschaft (MÜHLBERG 2002:217) bzw. einer noch nicht fest geformten Erinnerungslandschaft (SABROW 2010c:24). Im Hinblick darauf besteht nach mehr als zwei Dekaden immer noch eine allzu große Diskrepanz zwischen einer öffentlichen, medialen und auch wissenschaftlich begleiteten Aufarbeitung auf der einen Seite und einer Aufarbeitung bzw. Darstellung seiner ganz persönlichen DDR im Kleinen, im Alltag, im Privaten auf der anderen Seite (vgl. GOUDIN-STEINMANN & HÄHNELMESNARD 2013:14; LEO 2004:67; SABROW 2012a:15, 2012b:o. S.; ZÜNDORF 2013:85). Als Resultat dessen lässt sich ein unverbundenes, teils auch unvereinbares Nebeneinander einer professionalisierten, staatlich-institutionalisierten Aufarbeitungsarbeit zum einen und einer – hierin als Eisberg (AHBE 2013:49ff.) treibender – individuellen, bürgerschaftlich-engagierten Arbeit an der Erinnerung zum anderen 188 Zur konzeptionellen Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis siehe ferner die umfassenden Arbeiten von Aleida ASSMANN, die jener Gedächtnislogik genauso viele Überlegungen und Inhalte beigesteuert hat; komprimiert zusammengefasst in ASSMANN (2009). In diesem Zusammenhang ist ferner auf die Arbeit von WELZER (2002) zu verweisen, der sich spezieller der Kommunikativität und Narrativität von sozialen Gedächtnis(aus)bildungen zugewandt hat. 189 Vgl. hierzu KLEßMANN (2009:88), LAHUSEN (2013:24) oder auch SABROW (2010c:14). Hierfür muss man sich schließlich nur die ungleiche Fördermittelverteilung und institutionelle Ausstattung beider Erinnerungslandschaften anschauen (vgl. GARBE 2016; RUDNICK 2013:82ff.). Sicher mag jener Vergleich zwischen einer NS-Erinnerung und einer DDR-Erinnerung in vielerlei Hinsicht hinken, vor allem dann, wenn die doppelte Diktaturerfahrung im Tenor gleichmacherischer Diskurse wenig differenziert in eins gesetzt wird (vgl. KNIGGE 2006:176f.; WIPPERMANN 2009). Der Vergleich ist aber allen voran auch deswegen schwierig, da die gesellschaftlichen und geopolitischen Konstellationen, aus denen sich beide heraus entwickelten und fortentwickelten, gewiss andere waren. Ferner steht der Zivilisationsbruch (Völkermord), den ein NS-Staat zu verantworten hatte und den es seither zu erinnern gilt, in keiner Relation zu der diktatorischen Bilanz eines SED-Staates (vgl. SABROW 2010c:13). Letztlich ist zudem die zeitliche Distanz beider Erinnerungsstränge zu ihrem Erinnerungsgegenstand zu berücksichtigen, wonach beide bisher unterschiedliche Stadien der gesellschaftlichen Aufarbeitung durchlaufen haben bzw. immer noch durchlaufen.

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verzeichnen. Dabei sehen sich vor allem letztere Akteure, mithin Menschen, die die DDR selbst er- und durchlebt haben, mit ihrem Erfahrungshaushalt und ihren Erinnerungsgeschichten nicht immer in erstere Auseinandersetzungen und Aufarbeitungsprozesse eingebunden, geschweige denn darin genügend wiedergegeben. Eher hat es den Anschein, dass der Einzelne mit seinen Erfahrungen in den gesellschaftlichen Debatten, medialen Darstellungen und wissenschaftlichen Geschichtsdiskursen nicht immer dazu kommt, sich seiner Selbst und seiner eigenen Geschichtserfahrung rückvergewissern zu können (vgl. LEO 2004:67f.; MEYEN 2013:13; MÜHLENBERG 2002:223; RUDNICK 2013:61). Aus diesem Grund sei an dieser Stelle die kritische Frage zugelassen, inwieweit die DDR in ihrer memorialen Vielschichtigkeit, allen voran im Alltag einer ostdeutschen Erinnerungsgemeinschaft, noch etwas mit den offiziellen Deutungs- und Erinnerungsangeboten gemein hat, die seitens politischer, institutionell-organisierter oder wissenschaftlich gestützter Aufarbeitungsarbeit quasi (vor)formuliert wurden. So konstatierte bspw. MÜHLENBERG – basierend auf verschiedenen Forschungsbefunden – bereits um die Jahrtausendwende, dass die in den Nachwendejahren formulierten offiziellen Deutungsangebote an die ostdeutsche Bevölkerung relativ einflußschwach [blieben], da sie einfach zu wenige Ansatzpunkte [boten], eigene Lebenserfahrungen damit zu verknüpfen (MÜHLBERG 2002:230). Fast im Gleichklang und zeitgleich dazu meinte auch LINDENBERGER, generalisierend auf eine gesamtdeutsche Erinnerungsgemeinschaft bezogen, dass: in den persönlichen Erinnerungen vieler […] Erfahrungen aufgehoben [sind], die mehr bedeuten. Diese Gefühle und Wissensbestände übersteigen die Integrationsfähigkeit rein politikwissenschaftlicher Interpretationen der DDR als Diktatur. Wohl war sie als Staat eine Diktatur, aber nicht alles, was sich auf ihrem Territorium ereignete und für diejenigen, die es erlebt haben, noch immer bedeutsam ist, war diktatorisch. (LINDENBERGER 2000:5)

Und dennoch, so lässt sich auch mit Blick auf gegenwärtige Debatten anmerken, scheint im Diskurs um die jüngere Vergangenheit neben der DDR als Diktatur […] nicht viel Platz [zu sein] (MEYEN 2013:13). Solche einfach machenden Einschätzungen verkennen natürlich, dass sich bei genauerem Hinsehen, d. h. fernab der großen Diskursstränge durchaus eine breitere Palette von Erinnerungen und Erinnerungsakteuren ausfindig machen lässt, welche das Vergangenheitsbild der DDR dann gleichwohl facettenreicher erscheinen lassen. Denn sieht man die geringe Gedächtnisbildung, wie auch die fehlende Platzierung und Kanonisierung der DDR-Erinnerung nicht als Manko einer bisher ausgebliebenen Kulturalisierung (Erinnerungskultur) an, sondern eher als Ausdruck einer Pluralität und Vieldeutigkeit im Diskurs, dann wird der Blick frei, um zu erkennen, in welcher Bandbreite, Vielgestaltigkeit und disparaten Teilhabe über die jüngere Vergangenheit derzeit in vielen Bereichen der Gesellschaft nachgedacht, befunden und schließlich auch immer wieder gestritten wird (s. kommunikatives Gedächtnis). So lassen sich – im Sinne eines floating gap bzw. fluiden Gedächtnisses – aktuell verschiedene Retrospektiven und dynamische Memorialisierungen finden, innerhalb derer nicht nur negative, sondern zunehmend mehr auch andere, teils divers konnotierte Erinnerungsmomente ihren Platz finden konnten. Die starke Dynamik, die der innergesellschaftlichen Erinnerung bisweilen inhärent war und ist, hat neben der offi-

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ziellen Erinnerungs- und Aufarbeitungsarbeit ein zuweilen informelles, teils wildes Gedenken zutage gefördert, mit dem in den letzten Jahren in zunehmendem Maße auch ganz verschiedene Dinge, teils quer zum gängigen Diskurs liegend, zur Sprache kommen konnten (vgl. BERDAHL 1999:225; DETJEN 2010:266). Neben negativen Schlaglichtern, welche die DDR im Lichte der Diktatur, diesbezüglicher Unrechtserfahrungen und eines menschenverachtenden Grenzregimes beleuchteten, wurden hiermit auch vielerlei positiv gewendete Erinnerungsmomente ans Tageslicht befördert, mit Hilfe derer neben den bereits positiv gesetzten Themen wie dem Mauerfall, der Friedlichen Revolution (vgl. THER 2010), immer mehr auch das, was heute gemeinhin als ostalgisches Gedenken bezeichnet wird, zum Vorschein kam. Ungeachtet der nach wie vor diskursstarken Position einer negativierenden Inblicknahme der jüngeren Geschichte, rückten damit folglich auch andere Rückerinnerungen in den Fokus, welche sich so vor allem aus den unterschiedlichsten Erlebnissen des DDR-Alltags speisten. In diesem Kontext sind speziell die Aktionen und Diskussionen rund um das Thema Ostalgie (AHBE 2005; NELLER 2006) zu sehen, welche bisher zu mehr oder weniger großen Wendungen im Diskurs um die DDR geführt haben. Entgegen anderer Diskurspositionen kamen dabei situativ immer wieder auch Partialnostalgien (FAULENBACH 2004:40) zum Tragen, die die Zeit vor 1989 auf einmal als eine gute Zeit zu erzählen wussten, woraus zugleich auch der Wunsch einer partiellen oder totalen Wiederherstellung jener Zeiten und Zeitverhältnisse resultierte. Infolgedessen wurde der Blick häufig auf Alltagsgeschehnisse und Ereignisse des gemeinschaftlichen Zusammenlebens gerichtet, so allen voran auf Dinge des alltäglichen Gebrauchs (bspw. Konsumartikel) oder auf Orte des sozialen Miteinanders, z. B. der Arbeit, der Freizeit, der Nachbarschaft, welche hierdurch zu ganz eigenen Erinnerungsvehikel stilisiert, an Bedeutung gewinnen konnten (vgl. AHBE 2005:56; LUDWIG 2011a:16; ZÜNDORF 2013). Trotz der mitschwingenden Gefahr nostalgischer Verklärungen von 40 Jahren DDR – im Sinne von: nicht alles war schlecht oder es gab auch Gutes – haben derlei Diskussionen gleichwohl dazu geführt, dass fernab der gängigen Erzählungen und teils einseitigen Geschichtsauslegungen Gleiches anders und Anderes gleichermaßen ins Gedächtnis gerufen werden konnte. Die geschichtspolitische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat zwar im Hinblick auf eine öffentliche Rückbesinnung vermeintlich einen Scheitelpunkt erreicht; dagegen sprechen jedoch die zuvor beschriebenen Entwicklungen, wonach insbesondere bisher noch nicht oder nur kaum gehörte Retrospektiven und Aushandlungen von Erinnerungen innerhalb gesellschaftlicher Verständigungen auf kleinerer Maßstabsebene erst über die letzten Jahre in Gang gekommen sind. Derart lässt sich nicht nur ein vermehrter Anstieg von neuen Erinnerungsthemen verzeichnen, sondern auch ein sukzessiver Anstieg von Erinnerungsakteuren, die eine Stimme im Diskurs ergreifen und welche sich mit ihren teils andersartigen Erfahrungen dann auch zunehmend Gehör verschaffen (vgl. KLINGE 2015:25). Aus diesem Trend heraus, haben nicht nur allerlei Zwischentöne (KLEßMANN 2014:o. S.) in den lange nur zwischen gut und böse bzw. schwarz und weiß changierenden DDR-Diskurs gefunden. Es wurde überhaupt erst die Frage nach dem Leben und dem Alltag in der DDR, welche lange ausgespart blieb (SABROW 2010c:11),

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oder nur einseitig als durchherrschter Alltag (vgl. KOCKA 1994) abgetan wurde, mehr und mehr in den Fokus gerückt. Entsprechend eröffnete sich damit auch ein breiterer Rahmen für Erzählungen, wonach es im Fall der DDR ein öffentlich wie privat verteidigungsfähiges richtiges Leben im falschen gegeben haben [konnte] (SABROW 2012a:15). Hieraus ergab sich denn überhaupt erst Anlass und Motivation dazu, die eigene Lebensgeschichte fernab der groß angelegten und für viele wenig identifikativ wirkenden Geschichtsdarstellungen zu erzählen. Des Weiteren ermöglichte dies dem einzelnen Erinnerungsakteur, den eigenen Gefühls-, Kommunikations- und Erinnerungsstau in gewisser Weise abzuarbeiten (vgl. AHBE 2005:43), welcher sich über die Jahre großer Erzählungen angesammelt hatte, insofern dem eigenen Leben und Erleben und damit korrespondierend, dem Osten als Gefühl (vgl. GOERZ 2014; DER SPIEGEL 1995) gewissermaßen erst ein Ventil zur Öffnung gegeben wurde. Dabei keimte nicht nur eine mitunter sehr persönliche Diskussion im Erinnerungsdiskurs auf, sondern im gleichen Zuge auch die verstärkte Frage nach der Generationszugehörigkeit und den teils disparaten Geschichtserfahrungen, die einzelne Generationen mit der DDR gemacht haben (vgl. SCHÜLE et al. 2006). Das Was und Wie des Erinnerns wurde dabei in Abhängigkeit dazu gesetzt, inwieweit man die DDR-Verhältnisse vor 1989 als Aufbaugeneration selbst von Anfang an miterlebt und durchlebt hatte, als integrierte Generation in diese quasi hineinsozialisiert wurde, oder ob man all dies als Wende- oder Nachwendegeneration durchweg nur von den familiären Erzählungen oder medialen Berichterstattung her kannte. Um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Schwierigkeiten sich bei der intergenerationellen Narrativierung und Erinnerung der DDR bzw. des Ostens eingestellt haben, sei hier auszugsweise die Aussage einer ZEITAutorin angeführt: Ich […] habe die Rolle der Zeitzeugin zugewiesen bekommen, ich soll erzählen, wie der Osten denn nun wirklich war. […] Welches Bild aber will und darf ich meinen Kindern überhaupt vermitteln? Sind ihnen meine Erinnerungen überhaupt zumutbar? (OTTO 2014:8). 190

Über die Zumutbarkeit eigener Erfahrungen und deren kommunikativen Vermittlung als Erinnerung hat sich mittlerweile auch eine mehr oder weniger große Generationendebatte entwickelt. Federführend hierbei ist die sogenannte Dritte Generation Ost, ein loser Zusammenschluss von Wendekindern, größtenteils aus Ostdeutschland stammend, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die eigene Lebens- und Umbruchserfahrungen zu erzählen sowie das Tun der Elterngeneration (zweite Generation) und Großelterngeneration (erste Generation) zu erfragen, aber auch zu hinterfragen. So lesen sich dann auch die Forderungen, die Spuren der DDR in den Familien und Erinnerungen (HACKER et al. 2013:11) zu suchen und zu heben, in Teilen ganz ähnlich zur 68er-Generation, die selbiges Jahrzehnte zuvor mit kritischem Blick auf die Rolle der Eltern innerhalb des Nationalsozialismus 190 Der Textauszug stammt aus der Rubrik ZEIT im Osten, in der auf mehreren Seiten wöchentlich über und für den Osten berichtet wird. Dass dieses Angebot seit 2013 exklusiv nur für ZEIT-Leser in den neuen Bundesländern entwickelt wurde und auch nur dort verfügbar ist, scheint ein weiteres Stück eigenwilliger Aufarbeitung der DDR und ihren postwendenden Thematisierungen zu sein.

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taten; so heißt es dann in einem programmatischen Text entsprechend: Wir fordern die Eltern auf, sich mit ihren Erinnerungen zu befassen und ihre Kinder dabei einzubeziehen (ebd.:13). Letztlich sind solche Initiativen und die zuvor dargelegten Entwicklungen und Ambivalenzen in der Memorialisierung der DDR in gesellschaftlicher Hinsicht allesamt, wenngleich nur einzelne Belege dafür, nicht wie die Erinnerung durch eine (vermeintlich) abgeschlossene geschichts- und gesellschaftspolitische Aufarbeitung an ein Ende gelangt ist. Sie sind vielmehr ein Ausdruck dessen, wie zunehmend dynamisch, plural, vielschichtig und teils auch vieldeutig sich die Erinnerung an die Zeit vor 1989 gestaltet und inwieweit viele Erfahrungen und Erlebnisse noch immer ihrer inter- und intragenerationellen Erzählung harren. So bleibt denn die von SABROW et al. (2007) aufgeworfene Frage, wohin […] die DDR-Erinnerung [treibt], aktueller denn je und so gesehen nicht nur immer wieder aufs Neue zu stellen, sondern auch nach deren (möglichen) Antwortbereichen hin in Augenschein zu nehmen. DDR-Erinnerung als Forschungsgegenstand Blickt man den zuvor beschriebenen Erinnerungsgegenstand nun mehr vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, mithin als genuinen Forschungsgegenstand, dann zeigt sich im Gegensatz zur vorhergehenden Darstellung der gesellschaftlichen und persönlichen Vergangenheitsaufarbeitungen in Teilen ein etwas anderes Bild. 191 Während dem gesellschaftlichen Erinnern bisher allenfalls ein fluider Rahmen gesetzt wurde, fügen sich die Bilddetails, welche sich aus einem wissenschaftlich geführten Diskurs entnehmen lassen, indes nahtloser aneinander. LINDENBERGER zufolge gehört die DDR zu einer, wenn nicht der am dichtesten und gründlichsten erforschten Regionen der Weltgeschichte nach 1945 (LINDENBERGER 2014:27). Angesichts dieser Einschätzung könnte man sogleich zu der Überzeugung gelangen, dass die DDR ausgeforscht (LINDENBERGER 2014:27), gar überforscht (KLEßMANN 2009:87) sei und – entgegen ihrer gesellschaftlichen und persönlichen Aufarbeitungsarbeit – an ein Ende gekommen ist, was weitere Forschungsbemühungen überflüssig, wenn nicht bedeutungslos macht (vgl. BISPINCK et al. 2005:547). Es mag daher auch nicht verwundern, dass in einigen Wissenschaftsbereichen von einem gewissen Sättigungsgrad, gar von einem Overkill (KLEßMANN 2014:o. S.) in Bezug auf die DDR-Forschung die Rede ist. Gerade in der Geschichtswissenschaft und historiographischen Beschäftigungen mit dem Thema finden solche Äußerungen vermehrt Anklang, allzumal das Forschungsfeld für viele Historiker nach langer und eingängiger Archivarbeit gleichsam vermessen scheint 191 Wenngleich zwischen beiden hier getrennt voneinander besprochenen Bereichen, mithin zwischen der gesellschaftlichen Diskussion um die DDR und einer DDR-Forschung starke Wechselbeziehungen bestehen. Das nicht nur allein deswegen, weil Forschungsthemen von gesellschaftlicher Seite mitbestimmt werden, sondern auch, weil Befunde der Forschung zurück in die Gesellschaft gelangen, wonach sie zu etwaigen Kurswechseln im Gesellschaftsdiskurs führen können (vgl. LAHUSEN 2013:23); siehe in diesem Fall beispielhaft das Ostalgie-Phänomen.

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und nur noch wenig Attraktivität und Innovativität versprüht. Geht man denn von einer DDR-Geschichtsschreibung aus, die sich dem gesamten Zeitraum der Jahre 1949 bis 1989 qua historischem Quellenbestand vom großen Ganzen, d. h. strukturund politikgeschichtlich her zugewandt hat, dann mag man zu jener Überzeugung gewiss gelangen (vgl. EHLERT & ROGG 2004; EPPELMANN et al. 2003; SCHROEDER 2011; TIMMERMANN 2004). Besieht man es hingegen mit dem Sozialhistoriker Jürgen KOCKA, dann ist die Lage gleichwohl vertrackter als sie vordergründig erscheint. KOCKA warnt angesichts einer (vermeintlichen) Abgeschlossenheit geschichtswissenschaftlichen Abarbeitens an der DDR und deren Forschungsergebnissen davor, zu einer Selbstgenügsamkeit, mithin Verinselung (KOCKA 2003) innerhalb des Wissenschaftsdiskurses zu gelangen. Spräche das doch der Tatsache entgegen, dass fernab des Erreichten und des von vielen schon abgeschlossenen Geschichtscontainers DDR noch einige Forschungstüren und -perspektiven in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bisher ungenutzt blieben. Dieser Eindruck mag sich vor allem dann einstellen, wenn man sich das weitgehende Fehlen alltags-, kultur-, regional-, global- oder geschlechtergeschichtlicher Arbeiten und ihrer komparatistischen Gegenüberstellung vergegenwärtigt (vgl. BISPINCK et al. 2005:554ff.). So verkennt die Einschätzung, dass die DDR aus- bzw. überforscht sei, folglich vielerlei Forschungspotential, was so bereits von Alltags-, Kultur- und Sozialhistorikern, aber auch von anderen historisch interessierten Wissenschaftskreisen bereits früh erkannt, kritisch angemerkt und empirisch umgesetzt wurde (vgl. KAELBLE 1994; LINDENBERGER 1999; SCHÜLE et al. 2006; WOLLE 1998).192 Trotz eines sich anbahnenden Schlusspunkts DDR-bezogener Forschungen wurden so gesehen zeitgleich also auch neue Punkte gesucht, gefunden oder selber gesetzt, mit denen bisher unbeachtete Nischen der DDR-Geschichte, d. h. Kleinteiligeres, (vermeintlich) Banales und Randständiges zum Thema gemacht wurde. Bleibt man denn nicht so sehr der eigentlichen, primären Geschichte bzw. Geschichtsschreibung und deren Meistererzählungen (JARAUSCH & SABROW 2011) verhaftet, welche nach Meinung vieler umfänglich erforscht bzw. erzählt wurden, sondern versucht mehr andere, eher abseitig befindliche Geschichts- und Forschungsfelder zu erschließen, wie den DDR-Alltag im Allgemeinen wie Speziellen, dann, so das hier zu ziehende Zwischenfazit, bleibt also folglich noch einiges an Arbeit zu tun. Im Vergleich zu unzähligen historiographischen Untersuchungen zu den großen Linien, Topoi, Strukturen, Personen und Politiken der DDR-Geschichte gibt es z. B. noch weitaus weniger Arbeiten, die sich explizit der Erfahrungs- und vor allem Erinnerungsgeschichte der DDR in all ihren Ausprägungen angenommen haben (vgl. KLINGE 2015; WIERLING 2015). Wenn die DDR-Geschichtsschreibung an ein vorzeitiges Ende gekommen ist, dann befindet sich gerade die Erforschung der 192 Dass dieses Forschungspotential auch seitens der Geographie im Hinblick auf regionalgeschichtliche Leerstellen erkannt wurde, zeigt die historisch-geographische Arbeit von DIX (2002), die sich mit der Siedlungsplanung im ländlichen Raum der SBZ und frühen DDR 1945−1955 auseinandergesetzt hat, womit der üblichen politikgeschichtlichen Betrachtung der Bodenreform und Kollektivierung eine kleinteiligere agrar- und siedlungsgeographische zur Seite gestellt wurde.

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Nachgeschichte, wenn man so will die zweite Geschichte der DDR193, gewiss erst in ihren Anfängen. Sofern mag man zwar zu der Überzeugung gelangen, dass die Aufarbeitung der DDR in gesellschaftspolitischer (Stiftung Aufarbeitung, EnqueteKommission) wie auch (geschichts-)wissenschaftlicher Hinsicht (historische Meistererzählungen) in großen Teilen erledigt sei. Dagegen spricht jedoch die offenkundige Tatsache, dass allen voran in der erfahrungsgeschichtlichen und kleinteiligeren Aufarbeitung vielerlei (Forschungs-)Lücken zurückgeblieben sind: Dem Festhalten an gemeinsamen DDR-Zeiten und einer spezifischen DDR-Erfahrung einerseits, steht andererseits die Entdeckung von DDR-Vergangenheiten und Erfahrungen im Plural gegenüber (WIERLING 2008:107; eig. Herv.). Entgegen zumeist global formulierter Forschungsinteressen zum politischen System DDR, dem Regime der Mauer, dessen Zusammenbruch und postsozialistischer Gesellschaftstransformationen (vgl. ALHEIT 1995; BEST & HOLTMANN 2012; FAULENBACH & JELICH 2006; FREIS & JOPP 2001), gibt es bisher nur einige wenige Mikrostudien, die vom großen Ganzen ins Kleine kommend, beim erinnerungsfähigen Subjekt, bei alltagsbezogenen Kleinstphänomenen sowie bei intersubjektiven und, wie es WIERLING zuvor betont hat, pluralen Erfahrungsspuren ansetzen (vgl. RUDNICK 2013:62). Es verwundert daher auch nicht, dass unzählige memory boxes 194 ehemaliger DDR-Bürger bisher weithin ungenutzt, weil ungeöffnet geblieben sind, obgleich sie paradoxerweise überall und zuhauf für Forschungsunternehmungen jedweder Art und Provenienz offen stünden. Zurückgeführt werden kann dieser Umstand wohl nicht zuletzt darauf, dass sich sowohl eine kultur- und sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung mit ihren über die Jahre entwickelten Theoremen, Heuristiken sowie Methodiken als auch die sich hieraus unlängst formierten memory studies der DDR als Forschungsgegenstand noch nicht richtig annehmen konnten (vgl. ERLL 2012:271; RUDNICK 2011:23). 195 So steht eine Überfülle an Forschungsarbeiten zur NS-Erinnerung einer doch überschaubaren Anzahl an Einzelstudien gegenüber, die sich gezielt Gedächtnisfragen in Bezug auf die alltäglichen und weniger alltäglichen Erfahrungen mit der DDR und deren Nachgeschichte beschäftigen (vgl. BAUER 2006; BENNEWITZ & POTRATZ 2002; HAAG et al. 2017; KLINGE 2015; MEYEN 2013; OBERTREIS & STEPHAN 2009a; SCHÜLE 2001).196 Nicht nur einer geschichtskulturellen, sondern gleichermaßen auch einer geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der DDR von unten, im Sinne einer 193 In Anlehnung an REICHEL et al. (2009), die diese Formulierung mit Blick auf die Nachgeschichte bzw. Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus entwickelt haben. 194 Memory boxes mit AALI et al. (2014) nicht nur verstanden als: artefactual expressions of the self, as vehicles of memory as well as transmitters of material reminiscences of the past to the future (2014:11), sondern eben auch als potentiell zu hebende (orale) Erinnerungsgeschichten einzelner Gedächtnisträger. 195 Dieser Eindruck findet dann auch seine Bestätigung, wenn man die seit 2008 erscheinende Online-Zeitschrift memory studies (http://mss.sagepub.com/) durchsieht, in der nur ganz vereinzelt thematische Beiträge zu finden sind, die sich explizit mit der DDR und ihrer erinnerungskulturellen Dimensionierung auseinandersetzen. 196 In diesem Fall scheint das Interesse andernorts, vor allem im angloamerikanischen Wissenschaftsdiskurs, bereits auf einem breiteren Fundament zu fußen; siehe hierzu BERDAHL (1999), HODGIN & PEARCE (2011), RECHTIEN & TATE (2011) oder auch SAUNDERS & PINFOLD (2012).

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Oral History (vgl. NIETHAMMER 1985a), ist daher bis heute noch viel Raum zur Entfaltung gegeben (vgl. KLEEMANN 2004:45; LEO & ARP 2009:7; OBERTREIS & STEPHAN 2009b:22; SIEBECK et al. 2010:8; VON PLATO 2009:79ff.). 197 Entsprechend mag die schon ein paar Jahre zurückliegende Bemerkung von BEHRENS & WAGNER auch noch heute größtenteils Gültigkeit erlangen, wonach der Schatz des Erfahrungswissens verschiedener in der DDR sozialisierter Generationen noch längst nicht gehoben [ist] (BEHRENS & WAGNER 2004:24). Dies gilt insbesondere für biographische Erfahrungsgeschichten (KLEßMANN 2014:o. S.), zu denen man sich bisher allenfalls über Eliten- oder Opferbiographien Zugang verschaffte (vgl. LAHUSEN 2013; SABROW 2012a/b). Über die Innenwelten ehemaliger SED-Funktionäre, Intellektueller oder politisch Verfolgter hinaus gibt es aber erst seit einiger Zeit Arbeiten, die sich vermehrt mit den Biographien und Erfahrungen anderer (weniger prominenter) Akteure und Akteursgruppen der DDR-Gesellschaft beschäftigt haben (vgl. LEO & ARP 2009; SIEBECK et al. 2010). Denn: Was ist mit all den Erinnerungen, die sich nicht ohne Weiteres in den bestehenden Gedächtniskanon und Erinnerungsdiskurs einfügen lassen, weil sie diesem mit ihren memorialen Gehalten und Erinnerungslogiken gewissermaßen zuwiderlaufen?198 Was ist bspw. mit sogenannten Volkserlebnissen (LINDENBERGER 2000:9), die ein soziales Miteinander fernab der Kontrolle durch den Staat bzw. die SED ermöglichten und folglich zu sozialen Banden führten, die soziale Energie an begrenzte Räume [band] und […] einer auf übergreifende Dissidenz ausgerichteten Politisierung entgegen[stand] (LINDENBERGER 2000:11) – daraus müssen doch logischerweise andere Erinnerungen, als die gemeinhin bekannten, resultieren und solcherart auch Eingang in die Forschung finden. Kurzum: Was ist mit all den Erlebnissen und Lebensgeschichten einfacher Leute, die weder Opfer noch Täter waren, die die DDR aber ebenso erund durchlebt haben, indem sie den staatssozialistischen Alltag auf ihre Art und Weise eigen-sinnig meisterten (LINDENBERGER 2000:12)? Was ist also mit den Erfahrungsschätzen und Biographien jener Leute, die infolge von 1989 gleichermaßen eine Wende bzw. einen Bruch im Leben erfuhren, woraus letztlich ganz eigene Lebenswege, eigensinnige Erzählungen und memorial imprägnierte Strategien der Zäsurbewältigung (SABROW 2012a:10) resultierten (vgl. LEO 2004:60; OBERTREIS & STEPHAN 2009b:33f.)? Sowenig wie hierzu schon alles allumfänglich gesagt denn untersucht wurde, sowenig sind jene offenen Erinnerungsstellen einzelner bisher im Gedächtnis- und Wissenschaftsdiskurs unberücksichtigt gebliebener Akteure oder Akteursgruppen raumbezogen bzw. örtlich rückbefragt worden. Zwar ist das Thema Erinnerungsorte der DDR (SABROW 2010a) seit ein paar Jahren mit steigendem Interesse versehen. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es erst seit kurzem zu einem Gegenstand bewusster wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden 197 Dabei hatten es doch NIETHAMMER et al. (1991) mit ihrer Arbeit über Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR noch Ende der 1980erJahre selbst vorgemacht, wie eine solche Forschung aufzuziehen sei und vor allem, mit welchen fruchtbaren Ergebnissen, insofern ein exklusiver und interessanter Einblick in die (bis dahin) ganz und gar unerforschten Erfahrungs- und Alltagswelten von DDR-Bürgern eröffnet wurde. 198 Vgl. WOLFRUM (2013:37).

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ist. 199 Denn ungeachtet dessen, dass bis heute eine fast lückenlose Inventarisierung und Zusammenstellung von DDR-Erinnerungsorten im Buchformat vorliegt, sind die memorial bedeutsamen Orte selbst immer noch, anders als es das Format dem Leser suggeriert, als Manifestationspunkte eines andauernden, unabgeschlossenen Erinnerungsdiskurses (RUDNICK 2011:20) anzusehen. Nähert man sich dem Forschungs- und Erinnerungsgegenstand von dem zumeist global bemühten Draufblick in kleinere räumliche Maßstabsebenen hinein, dann erscheint es auf den ersten (gegenständlichen) Blick zunächst paradox, nach etwas Ausschau zu halten, das größtenteils abhandengekommen ist (vgl. SABROW 2010b:7; SCHEURMANN 2010:6ff.). Obwohl die DDR freilich in vielen Bereichen des Alltags entsorgt wurde (ZÜNDORF 2013:82) und demzufolge ein weitgehender Verlust lebensweltlicher Erinnerungszeichen (MÜHLBERG 2002:225) in öffentlichen wie auch privaten Räumen Einzug gehalten hat, haben dann dennoch selbst an den Orten der absoluten Machtdemonstration der SED – der Mauer und der innerdeutschen Grenze – Orte und Dinge überdauert, die dem Gedenken an das Gewesene auch noch gegenwärtig Präsenz verleihen (vgl. LEO & KLAUSMEIER 2004). Im Gegensatz zu den mehrheitlich befürworteten Bestrebungen der Nachwendejahre, jedwedes Überbleibsel, jedes widerständige Ding zu beseitigen, was die totalitäre Macht der SED weiter hätte zementieren oder in Erinnerung rufen können und somit einem Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten im Wege gestanden hätte, gab es dennoch früh auch Überlegungen wie Bemühungen einzelne erinnerungswürdige Plätze und Relikte im topographischen Gedächtnis der wiedervereinten Deutschen zu bewahren (vgl. BEHRENS & WAGNER 2004:11). Neben den historisch gewachsenen Schauplätzen der Geschichte lassen sich in diesem Zusammenhang auch viele neue, hergestellte Orte des Erinnerns und Gedenkens (wie insb. Denkmäler oder Museen) verzeichnen, welche über die letzten Jahre zunehmend an Sichtbarkeit sowie Bedeutsamkeit gewonnen haben. Dies ist allen voran auf einen gewissen Professionalisierungsschub (KAMINSKY 2004:10) zurückzuführen, den DDR-Erinnerungsorte über die Jahre bis heute erfuhren und der eine lange teils von Laienhand lokal betriebene Erinnerungsarbeit durch eine institutionalisiertere und zunehmend wissenschaftlich begleitete Memorialisierung und

199 Der hier zitierte Band von SABROW, hat sich, ähnlich zu anderen Buchprojekten zu Erinnerungsorten (vgl. DEN BOER et al. 2012; FRANÇOIS & SCHULZE 2001; NORA 2005) allein an einer Zusammenstellung einschlägiger DDR-Erinnerungsorte geübt, ohne jedoch genauer danach zu fragen, wie jene ortsspezifische Auswahl und die Orte als solche eigentlich zustande kamen (vgl. LEIPOLD 2014:21). Ein ähnliches Manko weist dann auch die Veröffentlichung von KAMINSKY (2007) auf, welche noch mehr bei einer Inventarisierung von Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR stehen bleibt. Weiter ausgereift und reflektierter wirken hier dagegen die Sammelbände von BEHRENS & WAGNER (2004) wie auch der von APELT et al. (2016), welche mitunter auch ganz persönliche bzw. private Erinnerungsorte thematisieren sowie deren Zustandekommen bzw. Konstruktion; wenngleich hierbei in beiden Fällen, ähnlich der genannten Publikationen zuvor, der Ortsbegriff eine doch sehr weite semantische wie ontologische Dehnung erfährt.

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Musealisierung in Teilen ablöste (vgl. GARBE 2016; LUDWIG 2011b). 200 Dies alles steht jedoch in keinem Verhältnis dazu, wie wenig der gesellschaftliche Umgang mit diesen historischen oder postwendend geschaffenen Erinnerungsorten selbst bisher zum wissenschaftlichen Thema gemacht wurde (vgl. RUDNICK 2011:24). Exemplarisch hierfür sind solche Forschungsprojekte zu sehen, die sich bisher vornehmlich damit beschäftigt haben, wie zuvor dargelegt, die historischen Überbleibsel und Orte zu inventarisieren und räumlich-topologisch zu beschauen, ohne allerdings grundlegend(er) nach deren zeitaktuellen erinnerungs- und sozialräumlichen Produktions- und Konsumtionsweisen zu fragen. So hat sich bspw. Maren ULLRICH in ihrer kunsthistorisch angelegten Arbeit zwar der Vielfalt vergegenständlichter Erinnerung im ehemaligen Grenzraum (2006:15) zugewandt, was eine umfangreiche Bestandsaufnahme von bisher weithin unbesehenen Erinnerungsorten und -dingen möglich machte. Was dabei jedoch größtenteils unterbelichtet blieb, ist die Frage, auf welche Art und Weise die Erinnerung an ihren Ort kam und welche Motive, Wünsche oder konfligierenden Sichtweisen und Symbolisierungen sich hiermit transportierten und letztendlich zementierten. In einer Fotodokumentation festgehalten, wurden solcherart zwar geteilte Ansichten (ULLRICH 2006) geliefert, die eigentlichen ortsbezogenen Ansichten selbst wurden dabei aber meist weniger an den subjektiven als vielmehr an den materiellen Erinnerungsträgern festgemacht. In ähnlicher Weise hatten es bisher auch andere Projekte allein darauf abgesehen, eine breite Zusammenstellung, hier im Speziellen der überdauerten Orte und Relikte der Berliner Mauer, anzufertigen. Daraus entstand nicht nur ein kommentierter Fotoband über Die Berliner Mauer in der Welt (KAMINSKY 2009), sondern ebenso ein ganzes Geoinformationssystem Denkmallandschaft Berliner Mauer (LEO 2012; MUES 2010), dass Internetnutzern auf Spurensuche an die authentischen Orte der Geschichte via digitalem Überflug mitnehmen soll. Weitaus differenzierter und reflektierter wirkt dagegen die erinnerungsgeographische Arbeit von Gunnar MAUS (2015). Über den Aspekt räumlich-materieller Beschaffenheit von Ortserinnerung hinausgehend, geht es ihm speziell um den Aspekt der gestalterischen Ortspraxis, insbesondere um denkmalpflegerische und museale Praktiken, die er in Bezug auf Erinnerungslandschaften des Kalten Krieges ins Zentrum seiner analytischen Betrachtung rückt. Fernab der sich jedoch rein für die Vergegenständlichung und dokumentarischen bzw. konservierenden Bewahrung von Erinnerung und Geschichte interessierenden Arbeiten, bleibt jedoch auch hier eine zentrale Frage größtenteils unberührt: Was ist vom Gedächtnisraum DDR geblieben, das sich nicht vordergründig materiell manifestiert, sondern nebulös dem Schleier der Erinnerung (FRIED 2004) anhängt? Oder pointierter auf den Punkt gebracht: Was ist mit den unzähligen Orts- und Grenzerfahrungen ehema200 Für den neueren Typus Erinnerungsort siehe hier stellvertretend das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig oder das DDR-Museum in Berlin; zum Typus laienhistorisch betriebener DDR-Erinnerungsort siehe beispielhaft einzelne Einträge in KAMINSKY (2007), ULLRICH (2006) oder ZÜNDORF (2013:87ff.). Wie schwierig sich orts- und erinnerungsbezogene Zeichensetzungen zur DDR-Vergangenheit ganz aktuell gestalten, dies ließ sich vor Kurzem am (mittlerweile beschlossenen) Freiheits- und Einheitsdenkmal und dem jahrelangen kontrovers geführten Diskurs um seine Platzierung, Widmung und Gestaltung beobachten (vgl. ENDLICH 2015).

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liger DDR-Bewohner, die bisher eher selten wissenschaftlich thematisiert denn empirischer Forschung zugeführt wurden? Kommt doch keineswegs nur an den einst geschliffenen Orten und Grenzen des SED-Staates eine ungeahnte Diversität an Objektspuren (vgl. KUHN & LUDWIG 1997) oder, mit speziellem Blick auf das Projekt Grünes Band (HARTEISEN 2010; JESCHKE 2015), eine Diversität an Spuren in der Vegetation (vgl. HARD 1995) zum Vorschein. Mehr noch gibt es, wenn man so will, eine – bisher noch weithin unbeachtet gebliebene – Diversität an ortsbezogenen Gedächtnisspuren unterschiedlichster Zeitzeugen zu entdecken (vgl. MOLLER 2011: 9ff., 50f.; MÖBIUS 2013:178; SCHWARK et al. 2011; STEININGER 2004:145). Derart sind trotz oder gerade wegen des plötzlichen Verschwundengehens unzähliger Geschichts-Objekte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs doch auch noch heute einige Minen in der Erde (WEISBROD 1993:8), die obgleich der langen Aufarbeitungszeit nach wie vor auf ihre Ausgrabung seitens der Erinnerungssubjekte sowie begleitender Forschungen warten (vgl. LAHUSEN & SCHAHADAT 2020:7f.). Wenn es bisher überhaupt Bestrebungen gab, das verborgene Geschichts- und Erinnerungsgut zu bergen und sichtbar zu machen, dann konzentrierte sich dies bisher vor allem auf die zentralen Orte des Gedenkens – allen voran Berlin – und deren eher objekt- denn subjekthaften Spuren der Teilung (vgl. HENKE 2011). 201 Die Diktatur der Grenzen (LINDENBERGER 2000:8) hat sich aber gewiss nicht nur an den formellen Grenzen zum Anderen, zum Westen, zum Klassenfeind entlang gezogen und in gängigen Ost-West-Differenzierungen verstetigt. Es haben sich in informelleren Bereichen des gesellschaftlichen und alltäglichen Zusammenlebens in der DDR viel subtilere Grenzen gezogen und im Verborgenen als Phantomgrenzen202 (VON HIRSCHHAUSEN et al. 2015) über die Zeit gehalten, die weit mehr zum Ausdruck bringen, als es die Formel von der Mauer in den Köpfen je zum Ausdruck bringen konnte (vgl. SCHLOTTMANN 2005a:30f., 130ff.). Insofern gilt es also gemäß dem Diktum von Hans MEDICK, von den Rändern der Geschichte aus (1993:196) die Geschichte selbst in den Blick zu nehmen, stärker als bisher ernst zu nehmen, als man die Grenze des zu Beforschenden, der DDR, analog zur Forschungsrichtung der border studies (vgl. PAASI & PROKKOLA 2008; RUMFORD 2006; VON LÖWIS 2015), nur mehr stärker auch von deren Grenzbereichen, den Periphe201 Das zeigt dann auch eindrücklich eine erst seit geraumer Zeit eingerichtete Ausstellung am Bahnhof Friedrichstraße (im sogenannten Tränenpalast) mit dem Titel GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung, die von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betreut wird und die interessante Einblicke in den Grenzalltag am Beispiel Berlins liefert (https://www.hdg.de/berlin/traenenpalast/ausstellung/) [Zugriff: 2015-09-23]. Als Beleg für jene Zentralität im Gedenken sind ferner die unzähligen auf dem Büchermarkt befindlichen Mauererzählungen zu sehen; siehe hierzu u. a. KLEINDIENST (2009). 202 Phantomgrenzen verstanden als Grenzen, die in der Alltagswirklichkeit weithin verschwunden sind, aber dennoch überdauert haben und somit ihre unterschwellige Präsenz und Wirkmächtigkeit besitzen. Die Metapher der Phantomgrenze wurde im Rahmen eines am Centre Marc Bloch (Berlin) durchgeführten und vom BMBF geförderten Forschungsprojektes entwickelt, in dem interdisziplinär an verschiedenen phantomartigen Remanenzen und Persistenzen historisch-territorialer Raumgliederungen in Ostmittel- und Südeuropa gearbeitet wurde; vgl. VON HIRSCHHAUSEN et al. (2015) bzw. hierin spezieller auf die Erinnerungsthematik rekurrierend, SERRIER (2015).

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rien und darüber hinaus den kleinsten bestimmbaren Forschungseinheiten her in Angriff nimmt. In diesem Fall muss man schließlich nur mehr dazu übergehen, die verborgenen DDR-Erinnerungen einzelner Zeitzeugen und ihrer zugrunde liegenden Orts- und Grenzerfahrungen spurengeleitet in den wissenschaftlichen Blick zu nehmen. Insofern lassen sich jene offenen Erinnerungsstellen, oder drastischer formuliert: jene aufklaffenden Erinnerungswunden (DETJEN 2010:258; TILL 2008, 2012) ehemaliger DDR-Bürger aus ihrer Marginalisierung und Verborgenheit heraus ans Tageslicht holen und einer tiefergehenden Spuren-Analyse zuführen. Der Charme der Entdeckerfreude […] unbekanntes Terrain im eigenen Land zu erschließen (LINDENBERGER 2014:32) ist also keineswegs versiegt. Der Charme des Neuen liegt nur woanders. Der letzte, anwendungsbezogene Teil des Buches schickt sich nun an, diesem Woanders nachzugehen. Hierfür wird das eigene Spuren-Konzept im Verbund mit dem Forschungs- und Erinnerungsgegenstand DDR/Grenze zum Aufhänger der eigenen, empirischen Spurenlese gemacht. Je nachdem, wie man es besehen möchte, wird damit der Versuch unternommen, der erstarrenden oder sich öffnenden DDR-Erforschung, etwas Neues hinzuzufügen. Das geohistorische Spurenlesen verspricht dazu sowohl eine neue konzeptionelle Sichtweise in den Wissenschaftsdiskurs einzubringen, indem es raum-, gedächtnis- und spurentheoretischen Forschungsansichten in sich vereinend, einen andersartigen Zugang zum Untersuchungsgegenstand offeriert. Darüber hinaus verspricht das spurengeleitete Absuchen und Lesen von Erinnerung explorativ wie fallbeispielhaft aufzuzeigen, wie man verborgenen bzw. unbesehenen raumzeitbezogenen Gedächtnisspuren in Form erinnerter DDR-Grenzbio-/geographien empirisch auf die Spur zu kommen vermag – alles dem Ziel hin ausgerichtet, dem zuvor identifizierten Desideratum in Teilen entgegenzuarbeiten und selbst einen kleinen Teil dieses bisher verborgenen aber noch lebendig getragenen Erinnerungsschatzes zu heben.

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»Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.« (BENJAMIN [1932]2004:44) »Die Tätigkeit des ethnologischen Feldforschers besteht von Anbeginn darin, das Soziale zu vermessen, Größenordnungen abzuwägen und kleinteilige Vergleiche anzustellen; er bastelt sich eine bedeutungstragende Welt zusammen, erkundet bei Bedarf in raschen Untersuchungen Zwischenwelten oder zieht als Historiker die einschlägigen Dokumente zu Rate. Er versucht, für sich und die anderen herauszufinden, von wem zu sprechen er beanspruchen darf, wenn er von denen spricht, mit denen er gesprochen hat.« (AUGÉ 2010:23f.) Ohne es genau gewusst zu haben, standen gleichsam sowohl Walter BENJAMIN als auch Marc Augé der empirischen Anwendung des Konzepts geohistorischen Spurenlesens von Anfang an Pate. Ging es doch – ganz im Sinne BENJAMINs – zum einen von vornherein darum, nach Vergangenem zu graben, mehr noch andere dazu zu bringen, nach deren verschütteten Vergangenheit(en) zu graben. Zum anderen verstand sich die eigene Forschungsunternehmung seit Anbeginn als eine, die dieser Ausgrabebewegung mittels ethnologischen Gespürs (AUGÉ) sowie mithilfe geohistorischer Messinstrumentarien (vgl. Kap. 5) nachzukommen suchte. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf den eigenen Forschungsgegenstand (subjektbezogene DDR-Grenzerinnerungen) lassen sich dann auch die nachfolgenden forschungsleitenden Fragestellungen sehen, die der eigenen Untersuchung von Anfang an zugrunde lagen: •



Was ist mit den Gedächtnissubjekten, welche innerhalb der DDR-Erinnerung (räumlich besehen) wohl die einschneidendsten Erfahrungen gemacht haben, die man vor 1989 machen konnte? Was ist mit den (verschüttet gegangenen) Erinnerungen ehemaliger Grenzbewohner, die die Teilung Deutschlands alltäglich und unmittelbar erlebt und durchlebt haben?

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Welche Spuren hat die Grenze nach ihrem Zerfall bei diesen Menschen und ihren ganz persönlichen Praktiken des Erinnerns und Aufarbeitens hinterlassen?



Welche Mikrogeographien und -geschichten des Erinnerns (resp. Vergessens) werden im Zuge dessen im Alltag an und vermittels von Spuren immer wieder evoziert und reproduziert?

Anregung und Anstoß für die eigene Feldforschung hat der Autor neben der wissenschaftlichen Lektüre und den nicht immer bewusst wahrgenommenen Impulsen eines BENJAMIN und AUGÉ, über die Sondierung des Forschungsfeldes DDR-Erinnerung (vgl. Kap. 6) und dem dort ausfindig gemachten desiderablen Forschungsgut ferner durch eine ganz andere Sache bekommen. Eine besondere Inspiration hat die eigene Empirie, die geohistorische Spurensuche nach erinnerten DDR-Grenzgeographien, in gleicher Weise durch das Werk Landolf SCHERZERs erfahren, der sich bis heute wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller der literarischen Reportage verschrieben hat. In einer seiner Langzeitreportagen mit dem Titel Der Grenz-Gänger (SCHERZER 2005), für die er über 440 km die Thüringische Grenzlinie entlang ging und dabei einzelne Lebensgeschichten ost- und westseitig der Grenze über mehrere Monate hinweg einfing, hat er aufgezeigt, welche Spuren die Grenze/DDR im Gedächtnis und Alltag einzelner Grenzbewohner bis heute hinterlassen hat. 203 Wenngleich keineswegs wissenschaftlich motiviert, hat Scherzer mit seiner Arbeit gleichwohl eine reichhaltige Dokumentation vorgelegt, die der eigenen Arbeit schließlich Inspiration und Anlass war, sich dem Erinnerungsgegenstand Mauer- und Grenzerfahrungen am Beispiel des ehemaligen Thüringischen Grenzstreifens eingehender zuzuwenden. Um die eigene Forschung und damit das wissenschaftliche Motiv der Spur und des Spurenlesens über jene vorgelagerten Leseerfahrungen in die (empirische) Tat umsetzen zu können, wurden in einem ersten Schritt Zugänge und Forschungswege zum Untersuchungsfeld gesichtet und sondiert. Wie in Abbildung 7 zu sehen, wurde dabei gemäß der zuvor entwickelten triangulativen Methodologie indes Wert darauf gelegt, das Phänomen der Spur in ihrer Ganzheit, d. h. in ihrer Subjektund Objektbezogenheit, auf das Phänomen der Erinnerung hin zu übertragen und zusammengenommen als Erinnerungsspur zu begreifen.

203 Die einzelnen Eindrücke, die SCHERZER hierbei gewann, wurden zunächst in regelmäßig erscheinenden Zeitungsbeiträgen veröffentlicht, bevor es ausgewählte Geschichten ins benannte Buch schafften. Ein Teil der Zeitungsbeiträge ist obendrein in einem anderen Buchformat publiziert worden; siehe hierzu REICHEL et al. (2005). In einem Interview, das der Autor dieser Arbeit mit SCHERZER persönlich führen durfte, wurden indes nützliche Informationen zur Planung, Gestaltung und zum Ertrag eines solchen Projekts für das eigene Vorhaben gewonnen (vgl. SCHERZER 2014).

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Abb. 7: Zugänge zum Spuren- und Forschungsfeld

Bevor die Unternehmung dahingehend beginnen konnte, nach Erinnerungsspuren einzelner Gedächtnisakteure zu graben bzw. zu fragen, galt es jedoch zunächst die grundlegende Frage zu klären, wer für die zu realisierende Feldforschungsphase als Spurensucher resp. Zeitzeuge in Frage kommt. Die Suche nach potentiellen DDRZeitzeugen machte also eine vorhergehende Samples-Bildung erforderlich. Bei der Zusammenstellung etwaiger Erinnerungsakteure wurde grundlegend der Logik des Theorectical Sampling gefolgt, wie es von GLASER & STRAUSS (1967) entwickelt und bis heute allen voran für die Grounded Theory fruchtbar gemacht geworden ist (vgl. BREUER 2010). Hiernach fanden bei der Auswahl möglicher Probanden übliche Kriterien wie Repräsentativität oder die apriori-gebildete Hypothesenüberprüfbarkeit ebenso wenig ihre Berücksichtigung wie das der stichprobenartigen Auslese. Es ging allein darum, für die eigene Untersuchung abzuklären, ob der ausgewählte Akteur für die Beantwortung der eigenen Forschungsfragen besondere Relevanz besitzt oder nicht (vgl. BREUER 2010:58; FLICK 2010:163). Um das Feld jedoch in seiner Breite erschließen und die eigene Empirie auf ein möglichst breites Sample von Erzählungen stützen [zu können] (JUREIT 1999a:396), galt es bei alledem gleichwohl darauf zu achten, eine größtmögliche Variation und Kontrastierung unterschiedlicher Grenzerfahrungen bei der Auswahl potentieller Interviewpartner zu befördern. Herauskristallisiert hat sich hierbei – als Resultat dieses Selektionsprozesses – ein Spektrum an Zeitzeugen, welches sich angefangen von ehemaligen Grenz(land)bewohnern über Grenzschützer/-soldaten bis hin zu Flücht-

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lingen, Zwangsumgesiedelten und heutigen Erinnerungsarbeitern erstrecken sollte. Jeder einzelne Typ, so die Vorannahme, steht indes für einen bestimmten Erfahrungsgehalt, welcher, so die damit verbundene Hoffnung, an und vermittels von Erinnerungsspuren genauer ergründet werden kann. Dies erklärt jedoch zunächst nur die thematische Auswahl der Gesprächspartner. Was ist aber mit der räumlichen Setzung, die die Auswahl ebenso bedingt hat? Die geographische Schwerpunktsetzung auf Thüringen und biographisch bedeutsame Orte entlang des ehemaligen Thüringischen Grenzstreifens lässt sich einerseits mit der besonderen lokalen Grenzsituation, mithin im Kontext vergangener Raumverhältnisse (abgegrenzte Dorfgemeinschaften, verdichtete Grenzschutzgebiete) erklären, die, empirisch noch weithin unerforscht, zur mikroperspektivischen Beforschung offenstehen (vgl. BERDAHL 1999:14). Andererseits lässt sich die Verortung des Forschungsgegenstandes aber auch mit dem schon erwähnten Umstand begründen, dass bisher zumeist nur der Zentralität des Erinnerns und Gedenkens inklusive seiner Räumlichkeit (Mauer) wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde, weniger jedoch den Peripherien jenes (Grenz-)Gedenkens in all seinen lokal- wie regionalspezifischen Erscheinungs- und Ausdrucksformen. In dieser zuvor beschriebenen Art und Weise begann die Suche nach potentiellen Gesprächspartnern, nach Menschen, die über ihre persönlichen Grenzerfahrungen, speziell zur Thüringischen Grenze, berichten konnten und auch berichten wollten. Den Türöffner (gatekeeper) zu möglichen gesprächsbereiten Zeitzeugen erhielt ich hierbei über Institutionen, die mit ihrer Arbeit schon Berührungspunkte zu derlei Zeitzeugen hatten oder diese bestenfalls herstellen konnten. In diesem Zusammenhang wurden insbesondere Grenzlandmuseen 204, aber auch diverse Ortsämter angeschrieben, um an die benötigten Kontakte zum oben genannten Personenkreis zu kommen. Zeitgleich dazu wurden im Internet Zeitzeugenportale hinsichtlich passender Gesprächspartner durchsucht und, wenn es angezeigt schien, der direkte Kontakt zu jeweiligen Zeitzeugen hierüber hergestellt. 205 Über diese beiden Wege konnten insgesamt sieben (geeignete) Interviewpartner ausfindig gemacht werden, welche mit ihrer jeweiligen Lebensgeschichte und ihrer speziellen Grenzerfahrung besondere Relevanz für das eigene Forschungsvorhaben besaßen. Vor dem eigentlichen Einstieg ins Feld wurden die gewonnenen Gesprächspartner durch ein kurzes Anschreiben (briefing) genauer über den Hintergrund und das Ziel der Untersuchung sowie ihrer Rolle hierin informiert und solcherart auf die anstehende Erhebungsphase vorbereitet. 206 Im gleichen Zuge wurde ebenso die 204 Kontaktiert wurden diesbezüglich: die Gedenkstätte Point Alpha, das Grenz- und Heimatmuseum Gräfenthal, das Grenzlandmuseum Schifflersgrund, das Grenzlandmuseum Eichsfeld und das Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth. 205 In diesem Fall wurde insbesondere das Zeitzeugenbüro der Stiftung Aufarbeitung konsultiert, wo viele Kontakte zu Gesprächspartnern zu unterschiedlichsten DDR-Erfahrungen auflistet und abgespeichert sind (http://www.zeitzeugenbuero.de/) [Zugriff: 2014-02-13]. 206 Zur genaueren Absprache wurden des Weiteren – je nach Wunsch – auch Telefonate mit den sich bereiterklärten Gesprächspartnern geführt. Dabei kamen neben Rückfragen zum Forschungsprojekt und deren Unterschungsinhalten ebenso organisatorische Dinge zur Sprache (Interviewrahmen, Terminabsprachen, etc.).

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Erhebungsphase selbst vorbereitet, indem ein möglicher Ablauf der Spurensuche vorgedacht und in Form eines Forschungsplans niedergeschrieben wurde. Hiernach sollten während der Feldforschung im Wesentlichen zwei Erhebungsphasen stattfinden (s. Abb. 7). In einer ersten Erhebungsphase war ein qualitatives Interview vorgesehen, womit sich zunächst den immateriellen Erinnerungsspuren über den Weg narrativ gespurter Lebensgeschichten (Erzähl-Spuren) genähert werden sollte. Dies erlaubte es insofern, die Leserschaft der Spur DDR/Grenze in direkte Verbindung zu ihrer eigenen Zeugenschaft zu stellen (vgl. KRÄMER 2011:126ff., 2017; SCHMIDT 2016). Damit wurde jeder untersuchte Spurenleser sowohl zum Zeugnis seiner selbst als auch zum Zeugnis seiner ganz persönlich erlebten DDRbezogenen Raum- und Zeitverhältnisse (WERLEN 2010c:333f.). Um den memorialen Einträgen der DDR/Grenze in den lebensgeschichtlichen Erzählungen ehemaliger DDR-Bürger nachspüren zu können, fand folglich im Speziellen das narrative Erinnerungsinterview seinen methodischen Einsatz (vgl. JUREIT 1999a:13ff.; NIETHAMMER 1985c:393ff; OBERTREIS 2012:7; WIERLING 2003:81). Begründet wurde dies damit, die Gesprächspartner nicht nur als Biographen ihrer selbst auftreten zu lassen, sondern auch als Experten des Alltags (BRÜGGEMEIER 1987:157), indem sie dazu ermuntert wurden, frei und ungezwungen über ihre alltäglichen und weniger alltäglichen Erfahrungen im und mit dem Grenzland zu berichten. Der Fokus richtete sich so gesehen zunächst darauf aus, die jeweiligen subjektiven Grenzerfahrungen zu erfassen, welche über mündlich erfragte Erinnerungs- und Erzählspuren, verstanden als oral geographies/histories, hervorgekehrt werden sollten. Das zu realisierende Erinnerungsinterview selbst fand im gewohnten Umfeld, d. h. bei den Befragten zu Hause statt. Durch die Vertrautheit mit dem Ort sollte der vielleicht weniger vertrauten Situation des Interviewtwerdens bewusst entgegengesteuert werden. Denn das Wichtigste für ein Gelingen des Interviews ist, daß der Gesprächspartner sich wohl und sicher fühlt (WIERLING 2003:112f.). Der Ablauf des ersten Gesprächs vollzog sich klassischerweise bei jedem der geführten Interviews entlang drei aufeinander folgender Phasen:207 (1) lebensgeschichtliches Erzählen initiiert durch erzählgenerierenden Impuls (2) erzählaufforderndes Nachfragen (3) Dialog im Rahmen der mitgebrachten Leitfragen Hiernach ging es zunächst darum, dem Gegenüber durch einen narrativen Impuls ins Erzählen über sich selbst und sein Leben zu bringen, was folglich das Stimulieren einer Stehgreiferzählung (SCHÜTZE [1983]2012:101) notwendig machte. Um einen möglichst großen Spielraum zur Ausbreitung der eigenen Lebensgeschichte, sozusagen aus dem Stehgreif heraus, zu ermöglichen, wurde zu Anfang eine offene 207 Vgl. BRECKNER ([1994]2012:137ff.), ROSENTHAL (1995:187), SCHÜTZE ([1983]2012:101). Um den Interviewablauf einzuüben und auf etwaige Brüche in der Interviewsituation vorbereitet zu sein, wurden im Vorab einzelne Pre-Tests durchgeführt und die Erkenntnisse hieraus in die laufende Planung eingespeist.

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Erzählaufforderung gegeben: Ich möchte Sie bitten, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen.... Während der dadurch in Gang gebrachten Erzählung, die bei jedem Befragten unterschiedliche Eigendynamiken (BRECKNER [1994]2012:134), d. h. verschiedene Gewichtungen, Dramaturgien sowie Zeitlängen besaß, zog sich der Interviewer auf die Position des geduldigen und verstehenden Zuhörers zurück, was gleichwohl sowohl ein mimisch-gestisches Resonieren auf das Gehörte als auch ein aufmerksames Mitnotieren relevanter bzw. interessanter Erzählbausteine mit einschloss. Bei alledem wurde stets versucht, eine vertrauensvolle, konzentrierte wie auch interessierte Gesprächsatmosphäre zwischen allen Anwesenden zu schaffen (vgl. HERMANNS 2012:363; WIERLING 2003:113). Nach dem Auslaufen der ersten (großen) Erzählstränge zum eigenen Leben, bei der die Regie […] der Gestaltung der Erzählung (ROSENTHAL 1995:189) und deren Schlusspunkt 208 beim Interviewten selbst lag, schloss sich ein Frageteil an, der auf Grundlage der Anfangserzählung einzelne gezielte Nachfragen vorsah, mit der etwaige begonnene, missverständliche, nicht beendete oder noch gar nicht erzählte Facetten des eigenen Lebens, insbesondere auch im Hinblick auf das Leben an und mit der Grenze, erfragt werden sollten (vgl. SCHÜTZE [1983]2012:101). In der dritten und letzten Phase des Gesprächs bestand die Kunst des Interviewens indes darin, leitfadengestützt neben bis dahin verdeckten oder unbeabsichtigten Erzählsträngen (WIERLING 2003:120), Sensibilität für mehr problem- bzw. themenorientierte Fragekomplexe zu schaffen. Hiermit sollte Gelegenheit dazu gegeben werden, auf Grundlage von vorformulierten Leitfragen persönliche Begründungen und Meinungen zu geben oder heikle Erinnerungsthemen, die in der Erzählung selbst nicht oder nur teilweise vorkamen, zur Sprache zu bringen. Gerahmt wurde die gesamte Interviewerhebung durch eher informellere Gespräche, die einerseits dem Warm-Werden aller Beteiligten mit der (künstlich) geschaffenen Gesprächssituation zu Anfang dienten und andererseits den Ausstieg aus dem Interview und dem Feld zum Ende hin zu meistern halfen. Zum Abschluss der ersten Erhebung (lebensgeschichtliches Erinnerungsinterview zu Hause) wurde in Überleitung zur zweiten Erhebungsphase die Frage danach gestellt, ob es für die Befragten einen Ort gibt, der in der Rückerinnerung an die Verhältnisse vor 1989, speziell mit Blick auf die Grenze für sie besonders wichtig sei und ob sie mir von diesem Ort erzählen könnten. Zu guter Letzt wurde danach gefragt, ob es möglich wäre, diesen Ort zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam zu besuchen. So kam es bei drei der sieben interviewten Personen zu einem weiteren, zweiten Interviewtermin. 209 Bei diesem Ortstermin sollten nun, ausgehend von der anfänglich gebrachten lebensgeschichtlichen Erzählung über die Grenze, die erzählten Orte der Grenzerinnerung selbst zum Aufhänger einer Spurensuche entlang materieller Erinnerungsspuren gemacht werden (s. Abb. 7). Dieser Zugang 208 Der Abschluss der anfänglichen (großen) Erzählungen findet zumeist seinen symbolischen Schlusspunkt durch Erzählkoda wie so das war's (SCHÜTZE [1983]2012:101). 209 Diese drei Fälle wurden speziell ausgewählt, da sie aufgrund der in der 1. Phase präsentierten Grenzbiographien von besonderem Interesse für eine weitergehende Spurensuche erschienen. In die finale Auswertung schafften es am Ende zwei Fälle (vgl. Kap. 8).

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fasste im Vergleich zum zuvor dargestellten, wenngleich mit diesem ganz eng verwoben, eher eine andere geohistorische Spurenlese ins Auge, als sich der Spurenzugang nun in erster Linie über einen objektorientierten Zugriff auf den Forschungsgegenstand definieren sollte. Die Spurensuche/-lese wurde hier im wortwörtlichen Sinne als konkret-dinglich wie körperhaft-leiblich angenommen und solcherart in die Forschungspraxis übersetzt, worauf sich alles auf die Frage hin konzentrierte, wie und woran sich je nach Fall nun genau die Erinnerung spurhaft verortet, vergegenständlicht oder verkörpert (vgl. HOFMANN 1998a:10, 21). In Entsprechung zur leitenden Forschungsfrage machte sich das Forschungsinteresse diesbezüglich jedoch keinesfalls nur an einer wie auch immer gearteten materiality of memory (BERDAHL 1999:220), mithin an materiell-verfestigten Grenzspuren und deren Örtlichkeiten allein fest. Eher ging es darum, zu sehen, wie geohistorische Spuren über körperlich-leibliche, performative, habitualisierte wie semantisierende Erinnerungspraktiken seitens der Probanden gesichtet und aufgeschlossen wurden. In diesem Sinne waren die befragten Zeitzeugen innerhalb der objektorientierten Spurenlese dazu angehalten, sich an einem Ort oder an mehreren Orten ihrer Wahl selbst an das Suchen, Offenlegen und Ausdeuten physisch-eingeschriebener bzw. inkorporierter Erinnerungsspuren zu machen. Die dabei auserkorenen Orte dienten dabei weniger als Setting einer materiellen Spurensuche und somit ausschließlich zur Bestandsaufnahme von persönlichen Grenz- und Erinnerungsrelikten (vgl. ULLRICH 2006). Die ausgewählten und aufgesuchten Erinnerungssettings wurden eher (im wahrsten Sinne des Wortes) als Kulisse dafür eingesetzt, die einmal begonnenen Erinnerungsinterviews an den Ort der Geschichte zurückzubringen bzw. an Ort und Stelle der Erzählung weiterzuführen. Durch das spurenbezogene Erschließen erinnerungsbedeutsamer Orte sollte schließlich mehr noch Anlass dazu gegeben werden, sich mit der Räumlichkeit wie auch Zeitlichkeit vergangener Lebensund Gesellschaftsverhältnisse über den tätigen Vollzug des sich Erinnerns nicht nur weitergehend, sondern vor allem tiefergehend auseinanderzusetzen (Stichwort: subjektbezogene Welt- und Zeitbindungen; vgl. Kap. 4.3.1 und 4.3.2). Um die Interviewsituation als den [eigentlichen] Ort der Erinnerung (JUREIT 1999a:65; eig. Einschub) zu arrangieren, wurde der zweite Interviewtermin als ein Vor-Ort-Termin an der Grenze anberaumt. Mit diesem Vorgehen sollte sich die Möglichkeit eröffnen, die verbalisierten Erinnerungsgeschichten an die jeweiligen realen Orte der Erinnerung, welche gleichsam selbst Bestandteile der ersten (lebensgeschichtlichen) Erzählung waren, rückzubinden, d. h. die narrativ erzeugten Ortsbedeutungen mit dem bedeuteten Ort spurengeleitet zusammenzubringen. Obendrein sollte der Spurensucher in die Lage versetzt werden, die Objekt- und Ortsspuren seiner Erinnerung durch ein tätiges Begehen und Lesen der Örtlichkeiten selbst zum Sprechen zu bringen, indem er jene durch seine erinnernde und erfahrungsbezogene Narration decodiert, interpretiert und letztlich für sich und den anwesenden Forscher bio- wie geographisch kontextualisiert. Insofern galt es in der zweiten Phase der Erhebung, der Ortsbegehung, den Zeitzeugen als lebenden Erinnerungsort (SABROW 2012c:28) stärker in den Mittelpunkt zu rücken, und das anhand seiner selbst vollzogenen orts- und gegenstandsbezogenen lebensgeschichtlichen (Ein-)Spurungen. Dabei kam es jedoch weniger darauf an, in geoarchäo-

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logischer Kleinstarbeit Objektbiographien im Sinne einer biography of a site (TILL 2012:7) herauszupräparieren bzw. herauspräparieren zu lassen. Vielmehr kam es darauf an, eine Ortsbiographie zu finden, die mehr über den Spurensucher Auskunft gibt, und das dadurch, indem der Spurenleser die Geschichte nicht einfach nur dem Ort entnimmt, sondern seine ganze eigene Geschichte in ihn hineinlegt. Um dies zu erreichen, wurden die Spurenleser im Rahmen der Orts- bzw. Grenzbesichtigung zu einem memorierenden Schlendern (BENJAMIN 1984:277, zit. nach SCHLÖGEL 2006a:260) bzw. einem erinnernden Gehen (DROHSEL 2016) eingeladen, was dazu führen sollte, ein Erinnern im tätigen Vollzug von sich aus wie auch vom Ort ausgehend in Gang zu bringen. 210 In diesem Zusammenhang wurde mehr noch versucht, ein szenisches Erinnern (LORENZER 1986) in die Wege zu leiten, mit dem Ziel, die DDR- und grenzbezogenen Erinnerungen unmittelbar, d. h. unmittelbarer als noch beim ersten (teils ortsfernen) Gesprächstermin ins Gedächtnis der Erinnernden zu rufen (vgl. ROSENTHAL 1995:206ff.; JUREIT 1999a:272, 287f.). 211 Letzten Endes half dies nicht nur die Erinnerungserzählungen spurengeleitet an ihren Ort zu bringen. Es half zudem erst Anlass dazu zu geben, sich an Ort und Stelle zu erinnern. Ähnlich einer Theater- oder Filmszene konnte somit innerhalb dieser praktizierten Spurensuche das einst Geschehene und Erlebte im körperlich-leiblichen Nachvollzug rückerinnert bzw. rekonstruiert werden, mehr noch: direkt performativ in Szene gesetzt werden. Damit bekamen die Interviewten gleichsam etwas an die Hand, um die eigene erlebte Grenze und etwaige ortsbezogene Wunden in der Erinnerung (vgl. TILL 2008, 2012) mithilfe des Nach- und Abgehens des Ortes und damit verbundener emotionalisierender Gemütslagen wahrhaftiger schildern und damit zugleich auch – gewissermaßen als ihre selbst geschaffenen Erinnerungsorte oder auch selfscapes 212 (JONES & GARDEHANSEN 2012:13) – verkörpern zu können.

210 Siehe hier die sich offenbarende Nähe zu der bereits rezipierten Rhetorik des Gehens nach DE CERTEAU (vgl. Kap. 4.3.1). 211 Siehe hierzu nochmals das Filmprojekt Shoah von Claude LANZMANN ([1985]2000) oder auch den autobiographischen Roman Spurenleser von Imre KERTÉSZ (2002), wo genau mit diesem Motiv des szenischen Erinnerns gespielt wurde. Dazu speziell LANZMANN: Man mußte sie [die Gesprächspartner/Holocaustüberlebende; R. L.] nicht nur in einen gewissen seelischen, sondern auch körperlichen Zustand versetzen. Nicht um sie zum Reden zu bringen, sondern um zu ermöglichen, daß ihr Sprechen auf einmal zur Kommunikation wird und eine neue Dimension gewinnt. […] Die Stimme beginnt zusammen mit der Landschaft zu existieren, und Landschaft und Stimme verstärken sich gegenseitig. Die Landschaft verleiht den Sätzen eine ganz neue Dimension, und die Sätze erwecken die Landschaft wieder zum Leben (LANZMANN [1985]2000:113f.). 212 Selfscapes, wie sie von den zitierten Autoren in Anlehnung an die scapes-Figuren von APPADURAI (1996:48ff.) folgendermaßen gefasst werden: it is the perceiver who is moving through the moment as the near past and more distant past make us into an animated selfscape. We feel that geography can help begin to map parts of these animated selfscapes and open up the tracings of the spatial remains that make us. It can help trace out the legacies of the past we carry through memory as we practice the present and enter the future. Such tracings are not to tie us to any fixed past (JONES & GARDE-HANSEN 2012:13f.; eig. Herv.).

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Begleitet wurde diese, der ersten nachgegliederten, zweiten Spurenlese fortwährend durch eine teilnehmende bzw. mitgehenden Beobachtung von Seiten des Feldforschers (vgl. KUSENBACH 2003:463; LÜDERS 2012:385ff.). In der Tradition geoethnologischer Feldarbeit (vgl. AUGÉ 2010; GEERTZ 1983; DELYSER & STARRS 2001; TILL 2012) wurde dabei dem sich zeigenden Ortsgeschehen dicht und vor allem aus nächster Nähe gefolgt. Anstoß und Rahmung erfuhr die zweite (schlendernde) Spurensuche dabei wiederum durch Elemente und Einspeisungen narrativer Interviewführung, die mit einer Selbst- und Fremd-Beobachtung gepaart, die Erhebung letztlich (teil-)strukturierte. So wurde also auch bei der zweiten Felduntersuchung mit kurzen narrativen Fragenimpulsen gearbeitet, um neben dem beobachtbaren äußerlichen Erinnerungshandlungen auch etwas über deren Inneres zu erfahren (vgl. MAYRING 1999:49). In diesem Sinne galt es immer wieder dafür zu sorgen, mit gezielten (Zwischen-)Fragen – Wie war das damals?, Was empfinden sie gerade?, Was hat sich verändert?, Woran macht sich ihre Erinnerung fest? – die (geohistorische) Vorstellungskraft der Spurensucher zu befördern, um sich gemeinsam in die historische wie auch gewandelte Situation vor Ort hineinversetzen zu können. Die sich am, vom und über den Ort auf diese Art und Weise entsponnenen Gespräche wurden begleitend mit dem Diktiergerät aufgenommen und für spätere Auswertungen abgespeichert. Währenddessen wurde ebenso versucht, einzelne Erinnerungsszenen mit einer Fotokamera festzuhalten. Hierbei ging es in erster Linie um die Erfassung der Typik einer Situation, einer Abfolge von Handlungen (STÖCKLE 1990:140), wie sie sich dem Betrachter am jeweiligen Erinnerungsort offenbarte. Notizenhaft festgehalten wurden zudem einzelne Auffälligkeiten, die sich im Laufe der Ortsbegehung zeigten (wie z. B. O-Töne, Tätigkeiten, Überraschendes, etc.); dies erlaubte es, ggf. situativ im Forschungsprozess hierauf selbst noch eingehen zu können; jene Feldnotizen sollten darüber hinaus für die nachfolgenden Auswertungsphasen kontextspezifische (Beobachtungs-)Daten liefern. Vor der eigentlichen Verwendung und Auswertung der über die Feldaufenthalte gewonnenen Daten stand die Nach- und Aufbereitung der jeweiligen Erhebungsphasen an. Im Nachgang an die geführten Gespräche bzw. Spurensuchen wurden hierzu kurze Gedächtnisprotokolle (Memos) angefertigt, um mit kurzem Abstand zur Interviewsituation unmittelbar Bericht über die Interviewsituation und deren Besonderheiten (besondere Umgebung, Gesprächsatmosphäre, Eigentümlichkeiten, etc.) zu geben. Erst hierauf konnte es darum gehen, die Erzähl-Spuren der gesprochenen Zeitzeugen als Sprach-Spuren aus dem gewonnenen Interviewmaterial herauszufiltern, d. h. in eine Textform, ein Transkript zu bringen. Beim Transkribieren wurde indes darauf geachtet, zwischen dem Anspruch der möglichst getreuen Wiedergabe des Interviewgeschehens und der lesbaren Gestaltung des transkribierten Texts eine geeignete Balance zu schaffen (vgl. BAUER 2006:47). Denn am Ende ist der akustische Mitschnitt eines Erinnerungsinterviews nichts anderes als ein Rohmaterial, ein Geräuschprotokoll (NIETHAMMER 1985c: 405), was einer sinnvollen, angemessenen und nachvollziehbaren Übersetzung und vor allem einer geeigneten Form der Textpräsentation bedarf. Da durch eine Vertextlichung des Gesprächs zum einen eine starke Reduzierung einer hochgradig komplexen Interviewsituation geschieht und zum anderen bereits eine Vorstufe

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zur Interpretation (WIERLING 2003:125) erklommen ist, muss der Nachvollziehbarkeit des Übersetzungsschrittes vom gesprochenen zum geschriebenen Wort nicht zuletzt auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden (vgl. BRECKNER [1994]2012:143ff.; JUREIT 1999a:33). Im eigenen Falle wurde sich dafür entschieden, die Transkription ohne größere linguistische Ausdifferenzierungen anzulegen und die Verschriftlichung so gesehen wortgetreu (WIERLING 2003:125), mithin in Orientierung an der deutschen Schriftsprache vorzunehmen. Obwohl ohne phonetische Feinsignaturen gearbeitet wurde, sind dann doch auch einzelne Besonderheiten des jeweiligen Sprechers bzw. Gesprächs (z. B. dialektale Einfärbungen, grammatikalische Eigenheiten, etc.) bei der Übertragung ins Transkript mitberücksichtigt worden. Ferner fanden auch parasprachliche Äußerungen und Zwischen- wie Nebengeräusche (Gefühlsäußerungen, Gestiken, Störungen, Füllwörter, etc.) Eingang in die Verschriftlichung. Die Notationsregeln und -zeichen, die bei der Transkription ihre Verwendung fanden, sind im Großen und Ganzen den Arbeiten von JUREIT (1999a:426) und ROSENTHAL (1995:239) entnommen und können am Ende des Buches detailliert eingesehen werden. Im Anschluss an die zweispurige Erhebungsphase und deren Aufbereitung fanden beide Teiluntersuchungen in einer abschließenden Auswertungsphase zusammen. Ziel dieser Zusammenführung war es, den gewonnenen und übersetzten Text jeweils in seinen Eigen-Logiken und seiner Eigen-Struktur zu entschlüsseln (vgl. ROSENTHAL 1995:208). In dem finalen Analyseschritt ging es also darum: typische Erinnerungs- und Erzählmuster (WIERLING 2003:146) bzw. relevante Darstellungs- und Erzählmuster im Text zu erkennen (JUREIT 1999a:391), d. h. anhand der beobachteten bzw. gehörten Erinnerungsspuren zu identifizieren und herauszupräparieren. Dies sollte erst gewisse Einblicke und Aussagen zu dem ermöglichen, was vom einzelnen Spurenleserstandpunkt aus über den selbst erfahrenen Raum- und Zeitausschnitt DDR/Grenze auf Grundlage der performierten und vor allem verbalisierten Spurenlese jeweils zum Ausdruck gebracht wurde und was nicht – was dann ebenso die vielgestaltige Dialektik zwischen Erinnern und Vergessen zum Gegenstand der Betrachtung hat werden lassen (vgl. ASSMANN 2012). Zur Analyse der erinnerten Spurensuchen wurden neben den Interviewtranskripten und Gesprächs- und Beobachtungsprotokollen in einzelnen Fällen auch von anderen persönlichen Materialien Gebrauch gemacht (bspw. Zeitungsartikel, Reden, Fotos).213 All dies fand in der Folge in eine mehrschrittige Auswertungsphase Eingang. Die gesamte Auswertung der Erinnerungsinterviews erfolgte grundsätzlich je Fall(geschichte) und in inhaltlicher Reihenfolge sowie Dramaturgie der geführten (Feld-)Interviews, d. h. genau in der zeitlichen Reihung ihrer mehrschrittigen Erhebung. Obwohl auf diese Art und Weise immer nah am jeweiligen Fall gearbeitet 213 Zudem ist in die Auswertung eine Kurzbiographie mit eingeflossen, die die Befragten im Nachgang an die beiden Interviewtermine zugesandt bekommen haben und ergänzend ausfüllen sollten. Hier wurden nochmals zentrale lebensbiographische Daten, wie Familiensituation, beruflicher Werdegang, aber auch einzelne persönliche Grenzereignisse erfragt. Das sollte der Vollständigkeit der Datenerhebung dienen, wie auch einen Abgleich mit den bereits gewonnenen Daten möglich machen.

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wurde, wurde gleichwohl versucht, einen über die einzelnen Spuren-Fälle hinweggehenden vergleichenden Blick mit zu veranschlagen. Bei der ersten detektivischen Entschlüsselung (BRECKNER [1994]2012:142) der subjektiven Erinnerungstexte ging es indes darum, den lebensgeschichtlichen Hintergrund der befragten Fälle einzeln zu skizzieren, indem die wichtigsten Ereignisse im Leben der Befragten genealogisch wie chronologisch aufgedröselt und in Form einer biographischen Kurzzusammenfassung gebündelt wurden. Um allerdings nicht beim einfachen Nachskizzieren stehen zu bleiben, welches die Lebensgeschichte des Befragten einfach nur nachzuerzählen gewusst hätte, ging es nachfolgend mehr noch darum, die persönlich erlebte wie gelebte DDR-Grenzgeschichte entlang der dargebotenen Subjekt-Spuren als eine Bedeutungskonstruktion [zu] interpretieren (JUREIT [1999]2012:242). Mittels rekonstruktiv-interpretativer Analysemittel galt es demnach die narrativen Konstruktionen der spurenbasierenden Grenzgeschichten teilschrittig in Sinneinheiten zu zerlegen und hierauf wieder zusammenzulegen, also zu rekonstruieren, um die funktionale Bedeutsamkeit eines biographischen Erlebnisses [mit der Grenze; R. L.] für die Gesamtgestalt der erlebten Lebensgeschichte (ROSENTHAL 1995:220) herausarbeiten und deuten zu können. In diesem Zusammenhang kam es mehr noch darauf an, entlang der selbst entwickelten abduktiven Arbeits- und Forschungslogik verfahrend (vgl. Kap. 5.1), in die Gehalte und Erträge der eigenen Spurensuche Einblick zu nehmen sowie den Leser dieser Arbeit hierin mitzunehmen, wonach die analytische Durchdringung des an und vermittels von Spuren Gesagten und Gezeigten nachvollziehbar und transparent zu machen war. Dabei galt es im Rahmen eines interpretativen Verstehensansatzes weniger kategoriell-festgelegt an den Text heranzutreten, sondern ihn vielmehr in seinen ihm eigenen Bedeutungsstrukturen von Grund auf zu begreifen (vgl. ROSENTHAL [1995] 2012:113; WIERLING 2003:129) – und über dieses Begreifen galt es als Spurenforscher entsprechend empirisch Rechenschaft abzulegen. Um dies alles zu realisieren, wurde eine Sequenz- und Feinanalyse am Text (JUREIT 1999a:67) durchgeführt, welche das Ordnen und Bündeln des Textes hinsichtlich bedeutsamer Erinnerungsmuster in ersten Schritten ermöglichen sollte (vgl. SCHÜTZE [1983]2012:102). 214 Im Laufe der Sequenz- und Feinanalyse wurde der Text solcherart nicht nur formal in Sinn- und Themeneinheiten untergliedert, sondern schließlich immer wieder auch nach einzelnen Spuren einer erlebten und erzählten Lebensgeschichte abgesucht, um sie hierauf innerhalb einer vom Spurensubjekt biographisch konstruierten Erfahrungssynthese215 (JUREIT 1997:97) wieder als subjektivierte Erinnerungsspur insgesamt untersuchen zu können. Hiernach wurde weder eine Trennung zwischen einer gelebten und erinnerten Vergangenheit an sich angenommen noch inhaltsanalytisch vorgenommen, zumal das einst Gelebte wie auch das je gegenwärtig Erinnerte nie ohne Weiteres getrennt voneinander betrachtet werden können (vgl. 214 Was hier nochmals die Nähe zu induktiven Schließungsverfahren, wie der qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (1999:91ff.), dokumentiert. 215 Einer Erfahrungssynthese, in der die vielschichtigen Deutungen und Überarbeitungen des Erlebten nicht mehr im einzelnen [sic!] transparent, sondern im Rahmen einer gegenwärtigen Fokussierung miteinander verschmolzen sind (JUREIT 1997:97).

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NIETHAMMER 1985c:424). Hier schien eher in der gespurten Erinnerung – in Form der Narration – der eigentliche, weil direktere und unmittelbarste Weg zur Vergangenheit zu liegen. Denn, so bringt es JUREIT auf den Punkt: Die Sinn- und Bedeutungskonstruktion des Befragten läßt sich […] textimmanent nicht von seinem Erleben trennen, sondern Erinnerung und Deutung verschmelzen zu dem, was uns in den Interviewtexten als Erzählung begegnet (JUREIT [1999]2012:242). Dementsprechend wurden die Erzählungen nachfolgend analytisch feiner hinsichtlich prägnanter Textstellen durchgesehen, die über den Fall und die gefundene Erinnerungsspur etwas Besonderes 216 auszusagen versprachen. Dies machte es insofern möglich, die Besonderheiten der jeweils präsentierten Erzählungen anhand etwaiger Erfahrungsauf-/umschichtungen oder spurhaft zutage tretender Verwerfungen, Erinnerungswunden oder Kontingenzen in der selbst memorierten Grenzbiographie analytisch herauszuarbeiten. Aus der vollzogenen Interpretations- und Abduktionsarbeit konnten letztlich jedoch keinerlei Letztbegründungen oder absolute Gewissheiten über eine typische Grenzerfahrung einer bestimmten Akteursgruppe resultieren. Vielmehr ergaben sich hieraus begründete Vorschläge (WIERLING 2003:129), wie man über die deutende Nacherzählung (WIERLING 2003:145) eines Einzelfalls, einer Subjekt-Spur, zu den (verborgenen) Drehbüchern (WIERLING 2008:113, 2009:326) und latenten Sinngehalten gelangen kann, die den spezifischen Spurenfall und seine materiell wie immateriell gelagerte Spurenlage DDR/Grenze erst (in Ansätzen) zu verstehen helfen. Demgemäß wurden also auch szenische Deutungen des memorial Dargebotenen (Stichwort: szenisches Erinnern) in die Analyse der Erzählspuren mit eingepflegt, indem neben den Erzählungen und deren textlichen Niederschlägen (Transkripte) ebenso all die beobachtbaren und protokollarisch wie fotografisch festgehaltenen Erinnerungshandlungen an den Spuren der Vergangenheit analytisch mitbedacht wurden (vgl. JUREIT 1999a:396; WIERLING 2003:118). Mit Blick auf den Raum des Sagbaren und Nicht-Sagbaren (JUREIT 1999a:295) wurde das Augenmerk ferner darauf gerichtet, in welcher Verbindung die subjektiv erzählten Grenzerfahrungen zu zeitaktuellen, gesellschaftlich geführten Gedächtnisdiskursen stehen, welche die subjektive Erinnerungsspur solcherart in einer breiteren sozial-diskursiven Gedächtnis-Rahmung (HALBWACHS ([1925] 1985:361ff.) hat sichtbar wie erforschbar werden lassen. Am Ende wurden kleinere falltypische Erinnerungsmuster ehemaliger Grenzbewohner zutage gefördert, die die persönlich und in Gemeinschaft gewonnenen geographischen wie historischen Ortserfahrungen und deren raumzeitbezogenen Ansichten hierüber beispielhaft aufzudecken halfen. Wenn nachfolgend die Ergebnisse dieser eigens durchgeführten Empirie präsentiert werden, dann sollen damit nun, in Rückbezug auf die selbst entwickelte Spurenkonzeption, mehrere Dinge gezeigt werden. Grundsätzlich geht es darum, zu ergründen, welche Bedeutung im Speziellen erinnerungssubjektive Rückschauen und damit verbunden: geohistorisches Spurensuchen und -lesen sowohl bei der autobiographischen Aufarbeitung (SABROW 2012a), mithin bei der Bewältigung bzw. Meisterung der Zeitlichkeit, als auch bei der Meisterung der Räumlichkeit (WERLEN 2010c:326), der autogeo216 Besonderes im Sinne der zuvor unterbreiteten abduktiven Forschungslogik (vgl. Kap. 5.1).

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graphischen Aufarbeitung vergangener wie auch je gegenwärtiger Alltags- und Lebenswelten zukommt. Dafür werden letzten Endes die subjekt- und fallbezogenen modi memorandi der Welt- und Geschichtsaneignung einzelner Erinnerungsakteure im Sinne verwirklichter Welt- und Zeitbindungen (zur Grenze) an und vermittels von Spur(lesung)en empirisch aufgeschlüsselt und entschlüsselt. Wie bei einer jeden anderen Typik qualitativ-abduktiven Spurenlesens, kann dabei am Ende pro untersuchter Grenzerfahrung gleichwohl nur eine Lesart (REICHERTZ 2007: 324) bzw. ein plausibles Deutungsangebot (NIETHAMMER 1985c:412) zu Buche stehen. Im eigenen Fall: eine Lesart, die die Spurenlese von Spurenlesern, zu einem ganz besonderen Zeit- und zugleich auch Ortszeugnis über die ehemalige innerdeutsche Grenze hat werden lassen.

8

Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien

Nach der methodologischen Herleitung des geohistorischen Spurenlesens und der Eröffnung eines lohnenden Forschungsfeldes, soll es nun im Folgenden darum gehen, den empirischen Ertrag aus alledem zur Darstellung zu bringen. Wenn nachfolgend sowohl gespurte Erinnerungen als auch erinnerte Spuren in den Mittelpunkt der Betrachtung geraten, dann mit dem selbsterklärten Ziel, die einzelnen, explorativ gewonnenen Befunde aus der eigenen Spurensuche rekonstruktiv offenzulegen, also: all die narrativierten und (in)korporierten Gedächtnisspuren einzelner Zeitzeugen in Bezug auf ihre ganz eigenen DDR-Grenzerinnerungen. 8.1

Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Eva Apitz

Eva Apitz 217 wird 1948 als erstes von zwei Kindern eines Kaufmanns und einer Buchhalterin im nordthüringischen Eichsfeld geboren. Sie und ihre Familie wohnen und leben zu dieser Zeit in einem kleinen Dorf mit rund 2.000 Einwohnern, das in Folge des von NS-Deutschland verlorenen Zweiten Weltkrieges und der Potsdamer Konferenz in den Machtbereich der sowjetischen Militäradministration (SMAD) fiel. Eva Apitz macht gleich zu Anfang des Interviews auf die besonderen Umstände jener Zeit- und Raumverhältnisse, der Jahre 1948/49, die von Wahrungsunion und Gründung der beiden deutschen Staaten geprägt waren, aufmerksam, welche sie mit bestimmtem Abstand und geschichtlichem Wissen hierum ganz eigen einzuordnen weiß: Und ich bin also, kann ich ja ruhig noch sagen, 1948 geboren. Und bin geboren als Deutschland schon geteilt war. Aber es ist, wenn man dann jetzt nach der Wende, nach der Wiedervereinigung und nach der, alles, was jetzt mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte so zusammenhängt, ähm, ob das jetzt Stasi, ob das persönliche Dinge sind, ob das gleich die Teilung 217 Der Name der Interviewten wurde auf Bitten durch ein Pseudonym ersetzt. Entsprechend wurde ebenso darauf verzichtet, die während der Spurensuche entlang der Grenze gemachten Fotoaufnahmen mit in die Ergebnispräsentation zu integrieren. Die genannten Ortsnamen und Raumbezüge sind indes beibehalten worden, aus dem Grund, um der Auswertung nicht gänzlich ihre geohistorische Analyse-Grundlage zu entziehen.

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien Deutschlands war, die ich ja nich bewusst mitbekommen habe, aber dann macht man sich doch ganz anders Gedanken über das, was mal war und wie es mal war. (IA/1:1)

Dass sie die zeitlichen wie räumlichen Verhältnisse, in denen sie groß geworden ist, rückblickend anders einzuschätzen vermag, als zu der Zeit, in der sie sie noch durchlebte, zeigt sich schließlich an einer Aussage, die sie ihrer gesamten Erinnerungserzählung voranstellt und welche nicht nur von einer überaus selbstreflexiven, sondern auch speziellen, weil kontingenten Vergangenheitsansicht zeugt: hab dann nachher jetzt so gesagt: ja, wär ich in DEUTSCHLAND geboren, in der Bundesrepublik und nicht der sowjetischen Besatzungszone, dann hätte ich vielleicht auch eine ganz andere Entwicklung genommen (IA/1:1). Von dieser Einschätzung, die ein Schlaglicht auf den eigenen gelebten aber vielmehr nicht-gelebten Lebensweg wirft, kommt sie sogleich zu einer anderen, die der vorhergehenden gewissermaßen zur Seite steht. Beim Nachdenken darüber, wo sie denn tatsächlich herkommt und wie sich selbst geographisch wie historisch (rück)verorten würde, kommt Eva Apitz zu einer interessanten wie überaus reflektierten Einsicht: Als junger Mensch, als Schulkind, als Schüler, als ähm während der Ausbildung, dann hat man ja au immer gelesen, immer gehört, meine Heimat DDR, meine Heimat DDR, stand dann ja immer überall ganz groß hier bei uns. Und äh, wenn de dann irgendetwas ausfüllen musste, Nationalität, äh Staatsbürgerschaft, äh DDR kam dann dahin. Wenn ich jetzt heute (Pause) mir das überlege oder mich jetzt, nicht jetzt heute also schon einige Jahre, dann frag ich mich, ist eigentlich die DDR meine Heimat, ist Deutschland meine Heimat, wo bin ich eigentlich geboren. Geboren bin ich ja in der sowjetischen Besatzungszone. Das ist ja wieder eine ganz neue Erkenntnis eigentlich, ne. Ob die nun gut ist, ob ich mich da drüber freuen soll oder ob ich da drauf stolz bin, nen bisschen kann ich jetzt sagen, ich kann nich so ohne Weiteres sagen, meine Heimat DDR. Also ich muss schon sagen, das ist nicht unbedingt meine Heimat gewesen, die DDR. (IA/1:1)

Aus dieser Passage und den hierum gestrickten Begleiterzählungen spricht zunächst die Tatsache, dass sich Eva Apitz keineswegs damit einverstanden gibt, was Deutschland gemacht hat (IA/1:1), womit sie im Wesentlichen die negative Rolle Deutschlands in der jüngeren Geschichte meint, genauer die deutsche Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg und den sich hieraus ergebenden Folgen der deutschen Teilung. Die gebrachte Textstelle gibt darüber hinaus aber noch etwas viel Wichtigeres zu verstehen. Sie offenbart eine gewisse Orientierungslosigkeit der Interviewten, sich mit ihrer ganz persönlichen Biographie und der persönlich erlebten Geschichte in der großen (Welt-)Geschichte des 20. Jahrhunderts zurechtzufinden. Obwohl Eva Apitz mit ihrer gelieferten Aussage zu bedenken gibt, keine wirkliche Heimat zu haben und die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) oder die DDR in diesem Punkt mitnichten in Frage kommen, gibt sie hierauf gleichwohl einen impliziten Verweis darauf, was ihr bei aller rückbetrachteten Heimatlosigkeit dann doch stets eine Heimat war. Ihrer Meinung nach ist es denn trotzdem dann so, dass man ja in einer Familie groß wird […] in einer Familie, dass man dann geborgen ist, dass es dann eine gute Familie ist, dass das Elternhaus gut ist und das gleicht dann auch ganz ganz viel eigentlich aus (IA/1:1). In diesem frühen Punkt ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung bringt die Befragte bereits etwas Grundlegendes zum Ausdruck, was die nachfolgende Erzählung in ihrer Struktur immer

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wieder rahmen und leiten sollte: die besondere Stellung der Familie in ihrem Leben. Dass Eva Apitz weder die SBZ noch die DDR eine Heimat geben konnten, wiegt in Rückerinnerung nicht allzu schwer, als es eben nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse im Großen, als vielmehr die Familienverhältnisse im Kleinen waren, die ihrem Leben eine identitätsstiftende Bedeutung gaben. Die besondere Stellung der Familie im Leben Eva Apitz' ist zunächst mit der besonderen Stellung der Familie im System der DDR selbst verbunden, auf die die Interviewte gleich zu Anfang der Erzählsequenz eingeht. Wie die Interviewte noch in den Anfängen ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung ausführt, ist sie als Kind sonstiger Eltern (IA/1:3) aufgewachsen. Dieser der Familie auferlegter Status, der als distinktives Mittel in der Gesellschaftsorganisation der DDR fungierte, gibt ihr gewissermaßen erst den Anlass dazu, ihren gegangenen Lebensweg entsprechend anders (als gewöhnlich) rückzubesehen und gesamteinordnend darzustellen: Im Klassenbuch da stand dann der Name der Schüler, dann standen so die Angaben Familie, Eltern, Beruf der Eltern oder Stand oder Parteizugehörigkeit, SED oder parteilos, Genossenschaftsbauer, Arbeiter und bei mir, meinen Geschwistern stand dann immer ein S. Das S stand für Sonstige. Und Sonstige das war privates Handwerk, privater Einzelhandel, also alles was Privateigentum war. Das wollte man ja im Sozialismus nicht. […] Und als Sonstige hatte man als Kind auch nicht wirklich so große äh Chancen jetzt irgendwie ähm Abitur oder also irgendwas Größeres zu machen. Ist aber im Nachhinein nicht schlimm, mhm. Habe trotzdem (...). Bin trotzdem meinen Weg gegangen. Es ist in Ordnung. (IA/1:3)

Dass ihr gewisse Lebenswege (Ausbildung, beruflicher Werdegang) mit dem familiären Hintergrund und der damit verbundenen Statuszuschreibung als Sonstige verwehrt blieben, findet hier zwar seine Erwähnung wie Ausbuchstabierung, wird aber während des ganzen weiteren Gesprächs weder tiefergehend narrativiert denn problematisiert. War doch, dass zuvor Gesagte hier mitbedenkend, auch in diesem Fall, das Familienleben für die Befragte rückblickend bedeutsamer gewesen, als der soziale Platz oder der sozioökonomische Aufstieg im gesellschaftlichen Ganzen. Die offenkundige Trennung zwischen privatem und öffentlichem Leben, wie sie sich in der Erinnerungserzählung an diesen zuvor gebrachten Stellen bereits größtenteils offenbarte, lässt sich in der Folge noch genauer darin erkennen, wie und vor allem wo über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in Bezug auf den Wohnort oder auf die DDR als Ganzes bezogen, gesprochen wurde. So kann sich Eva Apitz z. B. daran erinnern, dass sie mit Blick auf den eigenen Familienstatus als Sonstige sensibilisiert darauf war, in der Schule nur das zu sagen, was man in der Schule hören [wollte], wogegen zu Hause […] das wieder anders [war] (IA/1:3). Hier ist das, [w]as in der Familie gesagt wurde, […] nicht in die Öffentlichkeit getragen [worden] (IA/1:3). In diesem Zusammenhang sind ihr die Worte ihrer Eltern in reger Erinnerung geblieben, die ihr und ihrem jüngeren Bruder immer wieder zu verstehen gaben, sich mit öffentlichen (Unmuts-)Äußerungen über die Situation im Grenzgebiet oder allgemeiner gesprochen über die DDR, wie sie mitunter im Familienkreis zur Sprache kamen, zurückzuhalten, um die eigene familiäre Situation nicht zu gefährden bzw. weiter zu erschweren: Aber wenn dann irgendetwas war und man hat mal geschimpft und man hat sich auch mal aufgeregt, wegen dem Sperrgebiet; die Freundin darf nicht reinkommen und des darf nicht sein

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien und das darf nicht sein und das darf nicht sein und mit dem Passierschein. Und äh immer den Mund halten. Dann hat der Papa immer gesagt: Kinder seid stille, die nehmen mir die Gewerbeerlaubnis weg und das ist unsere Existenz. Also immer ja nicht irgendwo unangenehm auffallen. Das könnte unangenehme Folgen für die Familie haben. (IA/1:3)

Aus dem geschilderten (Kommunikations-)Verhalten im Privaten wie Öffentlichen ergab sich – als quasi natürliche Konsequenz – für die Befragte und ihrem (unmittelbaren) sozialen Umfeld allein die Möglichkeit sich mit der ganzen Situation […] zu arrangieren (IA/1:3). Der Topos des sich-Arrangierens ist einer, der in der DDR-Erinnerung, trotz ihrer bisher fluiden Gedächtnisrahmung (Stichwort: floating gap; vgl. Kap. 6), bereits einen prominenten Platz eingenommen hat und der sich so schließlich auch in der Erzählung Eva Apitz' wiederfinden lässt. 218 Denn: Insofern man die eigene Situation und die Situation aufs große Ganze hin gesehen sowieso nicht ändern konnte, war das gut, dann ging das (IA/1:3). Das solcherart verbalisierte Arrangement mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit, die man entsprechend des Einlebens in vorgefundene (sozialräumliche) Gegebenheiten für sich im Kleinen so erträglich wie möglich zu meistern versuchte, macht sich im hier präsentierten Fall Eva Apitz' vor allem an der lange Zeit andauernden und in der Erinnerung fest verankerten Tatsache des persönlichen aber auch gemeinschaftlichen Eingesperrt- und Umgrenztseins und dessen Umgang hiermit deutlich. Zum einen zeigt sich dies am unabänderlichen Gebundensein an die Dorfgemeinschaft und zum anderen an den überschaubaren aktionsräumlichen Reichweiten des eigenen Handelns. In beiden Fällen gestaltete sich die Lebenswirklichkeit für die Interviewte so, dass sie als Grenzbewohnerin unausweichlich an diese dörfliche Gemeinschaft gebunden war (IA/1:3). Ausdruck dessen war nicht nur der Umstand, selbst kaum Veränderungen im Sozialgefüge des Ortes erfahren zu haben – mit Ausnahme der Stationierung von Grenzsoldaten, mit denen man aber aus guten Gründen keinen engeren Kontakt pflegte (IA/1:27). Viel einschneidender war wohl eher der Umstand, ein Gefühl der ohnmächtigen Umgrenztheit erlebt zu haben, indem man selbst keine oder nur kaum Bewegung oder Mobilität erfahren durfte: Man konnte sich nicht mehr so bewegen wie man wollte (IA/1:2). Richtig bewusst wird der Erzählerin die eigene Lebens-/Grenzsituation mit den damit korrespondierenden Bewegungseinschränkungen, in einem Alter, in dem sie von zu Hause weggeht, um – nach dem an der ortsansässigen Polytechnischen Oberschule (kurz: POS) erworbenen 10. Klasseschulabschluss – andernorts einen Beruf zu erlernen. Drei Tage in der Woche frühs nach Nordhausen gefahren und da kam ja dann auch die Schülerinnen, die Lehrlinge aus allen Kreisen, aus Nordhausen, aus Mühlhausen, Kreis Heiligen218 SABROW spricht in diesem Punkt gar von einem eigenständigen Gedächtnisfeld, das dem Phänomen des sich-Einfindes in die Gegebenheiten sowohl individualbiographisch als auch gesamtgesellschaftlich Rechnung trägt: die Rede ist vom Arrangementgedächtnis (SABROW 2010c:17). NIETHAMMER et al. (1991) haben ferner in dem sich-Abfindens mit den Dingen eine genuine volkseigene Erfahrung ausfindig gemacht, wie sie noch während dem Bestehen der Verhältnisse von DDR-Bürgern selbst artikuliert wurde. Damit wurde schließlich eine eigenartige Kopplung des formell im informell (und vice versa) gelebten Lebens in der DDR zum Ausdruck gebracht.

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stadt. Und da hat man dann natürlich, hat sich der Bekanntenkreis natürlich sehr erweitert. Und da war das dann schlimm mit dem Sperrgebiet, dass keine Freundin mehr mit reinkommen konnte. Wenn man dann in den Ferien sich mal sehen wollte, dann musste man entweder nach Heiligenstadt fahren, sich da treffen oder man hat sich in Worbis getroffen. Und das war dann auch meistens Sonntagmittag. Man musste ja wieder beizeiten am Bahnhof sein, weil ja dann abends nichts mehr fuhr. Da hat man dann schon manchmal gedacht, meine Güte, das ist doch wohl nicht möglich. (IA/1:4)

Wie idiotisch sich die (Grenz-)Lage für die Befragte rückblickend darstellt, schildert sie im Nachfolgenden konkret an einem Beispiel. Es handelt um eine Freundin, die sie über die kaufmännische Berufsschule kennenlernte und wo sie sich in der Gestaltung und Pflege des gewonnenen Freundschaftsverhältnisses insbesondere in räumlicher Hinsicht vor gewisse Probleme gestellt sah: Ich hatte ne Freundin ausm Sperrgebiet des Kreises Heiligenstadt dann. Und ich war Sperrgebiet Kreis Worbis. Hat man gesagt, dass is ja idiotisch. Es ist ein, eine Grenze, ein Sperrgebiet. Was da ist, ist auch bei uns. Warum darf die nicht mit zu uns. Das ging einfach nicht, das ging einfach nicht. (IA/1:4)

Das territorial geordnete System der Sperrgebiete 219, wie es sich entlang der innerdeutschen Grenze über fast 1.400 km entlang zog, bedeutete für die, damals jugendlich heranwachsende Eva Apitz, bei allem persönlichen oder familiären Bemühen sich mit der Grenze arrangieren zu wollen, doch auch einen drastischen Einschnitt. Dieser Einschnitt bedingte vor allem den, normalerweise im Jugendalter hinzugewonnenen Handlungsspielraum, frei darüber verfügen zu können, was man mit seiner Zeit anstellt und mit wem man sich wann und wo treffen möchte. In diesem Zusammenhang lässt die Befragte genauer auf die infrastrukturelle Lage im Sperrgebiet und deren spezifischen Problemlagen und Herausforderungen blicken. Hiernach war es nur unter logistisch gut geplanten Vorbereitungen möglich, sich vor allem über öffentliche Verkehrssysteme ein Mindestmaß an sozialräumlicher Mobilität zu verschaffen. Dass die Befragte sich mit den Einschränkungen letztlich zurechtfinden konnte und wiederum Routinen entwickelte, soziale Kontakte außerhalb des gewohnten Lebens- und Wohnumfeldes (Grenze) zu knüpfen, ist die eine, angepasste Seite, die sich in ihrer Erinnerungsnarration so schließlich auch vielfältig wiederfinden lässt. Die andere Seite ihrer dargebotenen Erzählung wirft hingegen ein etwas anderes Licht auf den gewohnten und routinehaft gemeisterten Alltag an der Grenze, wie er von der Interviewten im Gespräch rückblickend erinnert wird. Denn nach den narrativen Ausführungen zu den Unwegsamkeiten und deren Anpassung hieran, präsentiert die Erzählerin ein Erlebnis aus ihrer Berufsschulzeit, das nicht so richtig in das zuvor geschilderte Erinnerungsmuster des 219 Seit 1952 wurden in der DDR zunehmend mehr sogenannte Sperrgebiete (auch Sperrzonen) entlang der innerdeutschen Grenze eingerichtet. Die Sperrgebiete erstreckten sich parallel an der Grenze auf zeitweise 3 bis 5 km (vgl. ADAM et al. 2015; HARTMANN & KÜSTING 1993:24). Wie die Interviewte in ihrer Erzählung selbst noch ausführen wird, sahen sich Bewohner des Sperrgebiets bestimmten Auflagen und Restriktionen unterworfen, worunter nicht nur die alltäglichen Grenzkontrollen, die Passierscheinpflicht, sondern auch der begrenzte Empfang von Besuch zu Hause oder das eigene temporäre Ausreisen bzw. der Besuch anderer Leute außerhalb des Grenzgebiets fielen.

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sich-Einfindens an und mit der Grenze passen will, insofern es eine ganz andere Facette der Grenze und das Leben mit ihr zutage fördert. Eva Apitz schildert in diesem Kontext eine Zugfahrt, die sie mit ihrer zuvor bereits erwähnten Berufsschulfreundin unter den infrastrukturellen Gegebenheiten und in jeweils unterschiedlicher Zielrichtung (Sperrgebiete: Heiligenstadt, Worbis) normalerweise jeden Tag unternahm, welche jedoch einmal ganz anders als sonst ablief. Jene Zugfahrt ist für sie insofern erwähnenswert, als es hier im Vergleich zu dem sonst gewohnten eher zu einem abweichenden, mithin eigensinnigen 220 Verhalten kam, was gleich zu Anfang der betreffenden Erzählsequenz entsprechend auch seine Erwähnung findet: Und dann haben wir dann aber doch mal was gemacht. Ich bin nach (...) wir haben uns in Heiligenstadt oder in Leinefelde getroffen. Ich hab hier am Bahnhof eine Fahrkarte gelöst, Hinund Rückfahrt Leinefelde. Und hab dann in Leinefelde, als wir nach Hause gefahren sind, noch mal einmal Teistungen gelöst für meine Freundin, weil ja hinten auf der Fahrkarte, am Schalter musste man unaufgefordert den Personalausweis zeigen. Und dann wurde die Ausweisnummer hinten auf die Fahrkarte geschrieben. Wenn man dann im Zug saß, wurde kontrolliert, dann drehte der Schaffner auch immer die Fahrkarte rum, ob die Ausweisnummer draufstand. Und man hatte dann Glück, wenn nicht auch mal die Transportpolizei oder die Bahnpolizei mitkam, dass die auch den Ausweis dazu sehen wollten. Das Risiko ist man dann noch eingegangen und hat auch von Leinefelde bis Teistungen (...), das ist sicherlich nicht so schlimm. Und dann standen aber auch ganz oft am Bahnhof die Grenzsoldaten und ham auch die ankommenden Reisenden auch mal so stichprobeweise kontrolliert. Ging aber alles gut und ich hab meine Freundin mit nach Hause gebracht. (IA/1:4f.)

Wie riskant das eigene, abweichende Verhalten war, wurde ihr erst darauf wirklich offenbar, als sie zusammen mit ihrer Freundin zu Hause auf den Vater traf, der angesichts des Getanen, des unerlaubten Mitnehmens der Berufsschulfreundin ins Sperrgebiet, bald verrückt geworden [ist] (IA/1:5). Schließlich erinnert sie sich, nicht nur, wie ihr Vater sehr aufgebracht war, sondern auch, wie er sich schlaflos die Nacht um die Ohren schlug, weil er, wohl unter dem Eindruck der dieser Jahre (seit 1961) immer stärker vorangetriebenen Grenzsicherungsmaßnahmen, etwaige Sanktionen oder Repressionen seitens der Staatsmacht bzw. des Grenzschutzes befürchtete (u. a. Zwangsumsiedlungen). Obgleich die Interviewte jenes Vorkommnis rückblickend als jugendlichen Leichtsinn (IA/1:5) abtut und obwohl sie noch zuvor von bestimmten Angstgefühlen (IA/1:2) gesprochen hatte, die sie und ihre Eltern hatten, als es 1952 und 1961 im Grenzgebiet zu flächendeckenden Zwangsevakuierungen221 kam, ist es ihr in diesem Punkt ihrer Erzählung jedoch wichtig zu betonen, dass es ihr gleichermaßen ein besonderes Bedürfnis war, dies so und nicht anders getan zu haben. Denn: Man wollte auch mal was machen. Man wollte dann auch mal irgendwo sagen, (flüstert) eh weißt du, was ich gemacht habe, ne. Ich hab der ne Fahrkarte gekauft und hab die mit ins

220 Vgl. hierzu LÜDTKE (1993, 2015) sowie die in Kap. 4.3.1 und 4.3.2 angestellten Überlegungen zum Eigen-Sinn bzw. zu den Eigensinnigkeiten geohistorischen Spurenlesens. 221 Unter den bezeichnenden Namen Aktion Ungeziefer oder Aktion Kornblume in die Geschichte eingegangen; siehe zu diesem Aspekt von Grenzerfahrungen die im nächstfolgenden Abschnitt präsentierte Fallgeschichte.

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Sperrgebiet genommen. WAR STRENGSTENS VERBOTEN, WAR STENGSTENS VERBOTEN. (IA/1:5)

Etwas anderes machen, als das gemeinhin Gewohnte oder Erwünschte, war in jener Zeit der Versuch der Erzählerin, und so lässt sich jener Auszug aus der zurückblickenden Erinnerung insgesamt verstehen, aus der Anpassung und Normalität des Grenzalltags situativ ausbrechen zu können. Obwohl bei Eva Apitz im alltäglichen Grenzleben, wie sie meint, nie wirklich Langweile (IA/1:4) aufkam und den fehlenden Kulturangeboten durch selbst entwickelte Unterhaltungsmöglichkeiten (Film-, Tanz- und Musikabende) Abhilfe geleistet wurde, war dies, wenn auch nur ganz singulär, für sie eine Gelegenheit mal was zu machen, um der ganzen Idiotie des Grenzlebens einmal entrinnen zu können. In diesem Tenor schildert sie in einer hierauf anschließenden Passage schließlich noch ein weiteres eher außergewöhnliches Grenz-Erlebnis, was sonst nicht den gängigen alltäglichen Handlungsbzw. Erwartungsmustern entsprach oder einfach gesagt, nur beschränkt im Bereich des sonst gemeinhin Möglichen lag. So erzählt sie vom gemeinschaftlichen Singen von Schlagern aus dem Westen am ersten Schlagbaum (IA/1:5) vor der Grenze, was das zuvor geschilderte Ausbrechen aus den Alltags- und Verhaltensgewohnheiten sequentiell einrahmt und abschließt. Das Ausbrechen aus dem gewohnten Grenzalltag, wie es zuvor kurz skizziert wurde, war gleichwohl eher der Ausnahme- denn Normalzustand in der erzählten lebensweltlichen Wirklichkeit der Interviewten. Es verwundert daher auch nicht, dass Eva Apitz im Anschluss an jene Schilderungen sogleich auf den zu Anfang ausgebreiteten Strang ihrer Erzählung zurückkommt, welcher eher das weithin angepasste Verhalten ihrerseits und ihres sozialen Umfeldes belegt, als dass das eigenund widersinnige Verhalten weiterhin als gängiges Muster in Betracht käme. Vor diesem Hintergrund lässt sie nochmals die Eltern und deren Reaktion zu den eigenen außergewöhnlichen Grenzerlebnissen zu Wort kommen. Wie im Falle ihres Vaters eingehender dargelegt, gaben sich die Eltern denn eben nicht damit einverstanden, mehr noch verwiesen sie abermals auf das immer wieder eingegangene Risiko ihrer Tochter und ihre nicht abgeschätzten Folgen für sie und die Familie: Das gab immer Stress mit den Eltern, weil die ham gesagt: ihr wisst nicht, was ihr da riskiert, ihr habt das noch nicht erlebt, ihr habt das nicht erlebt, was die mit euch machen. Wie sagte mein Vater auch immer: der Russe. Er hat alles was hier Stasi, was Polizei war, das hieß immer nur der Russe, der Russe. (Hebt die Stimme) Ihr habt das nicht erlebt, was der Russe macht, ihr habt das nicht erlebt, ne. Ja wir haben aber nich an so was gedacht. Wir wollten EINFACH MAL WAS MACHEN. Gottseidank ist es, denke ich, immer gut gegangen […]. (IA/1:5)

Es wäre letztlich übertrieben zu behaupten, dass sich die Interviewte, ähnlich bekennender DDR-Oppositioneller/-Dissidenten, durch ihre einzelnen (normabweichenden) Taten am Widerstand gegen das System übte,222 das vom Vater personifiziert als der Russe immer wieder mahnend in Anschlag gebracht wurde. Den222 Vgl. BAUER (2006:433ff.). Das mag wohl dann auch der Grund dafür gewesen sein, warum Eva Apitz es nie für notwendig erachtete, wie sie nachfolgend anmerkt, dem Ganzen nochmal nachgegangen zu sein, sprich es nachgeforscht [zu haben] (IA/1:5), womit sie (unausgesprochen) den Blick in die eigene Stasi-Akte meint.

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noch schien sich Eva Apitz bei aller ansonsten gelebten Angepasstheit eine kleine Widerständigkeit über die Zeit bewahrt zu haben, was sich schließlich nicht nur an den hier gezeigten Interviewpassagen und ihren thematisierten nicht-alltäglichen Grenz-Erlebnissen offenbart. Es zeigt sich vielmehr noch vereinzelt in anderen Teilen ihrer lebensgeschichtlichen Narration. Die Basis für ihren Widerstand im Kleinen bildete neben der besonderen Stellung der Familie und eigener punktuell normabweichender Verhaltensweisen in gleicher Weise, und das führt die Interviewte erst zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Erzählung genauer aus, ihre besondere Verbindung zu Glaube und Religiosität. [D]as Eichsfeld ist nie wirklich DDR gewesen. Im Eichsfeld gingen die Uhren anders als in Sachsen (IA/1:22). Mit diesem regionalisierenden Vergleich zwischen ihrer und anderen Regionen der DDR ging es der Interviewten in erster Linie darum, darauf aufmerksam zu machen, dass sie in einer Gegend groß geworden ist, die überwiegend katholisch sowie sehr sehr traditionsbewusst war und ist (ebd.). Mit dem Verweis hierauf begründet sie schließlich mehr noch ihre spezielle, auf dem eigenen (katholischen) Glauben gründende Widerständigkeit, die für sie allen voran in kleinen Momenten des Alltags wichtig war. Ob dies der Moment war, auch mal den Mund aufzumachen (IA/1:23), wenn es angebracht schien, zu sagen bis hierhin und nicht weiter, wir machen das nicht (ebd.). Oder ob das der Stolz darauf war, weder selbst noch die eigenen Kinder dazu gebracht zu haben, an sozialistischen Pflichtveranstaltungen wie bspw. der Jugendweihe 223 teilzunehmen. Am Ende waren es sowohl das religiöse Leben als auch der Glaube an sich und seine Nächsten (ebd.), die entgegengesetzt zur offiziell propagierten sozialistischen Idee, ihr und ihrer eigenen Familie die notwendigen Nischen dafür boten, fernab des Selbstarrangements und der stückweiten Aufgabe eigener Selbstbestimmtheit, denn dann eben nicht einfach alles so hinnehmen zu müssen, wie es scheinbar und unausweichlich (vor)gegeben war. Gefragt nach ihrer eigentlich ersten wirklichen Bewusstwerdung bzw. direkt erinnerten Wahrnehmung der Grenze, die ihr Leben und das ihrer Familie über einen langen Zeitraum stark beeinflussen sollte, erzählt Eva Apitz die Geschichte ihres ersten Grenzerlebnisses Anfang der 1950er-Jahre, was ihr noch fest in Erinnerung geblieben ist: 223 Die Jugendweihe wurde seit 1954 als zentrales erziehungsideologisches Instrument auf Beschluss des Politbüros der SED in der DDR-Gesellschaft installiert. In Anknüpfung an ältere antiklerikale Traditionen der freireligiösen Bewegung und der Arbeiterparteien im 19. Jh. (NEUBERT 1997:428), diente die Jugendweihe vor allem dazu, die Rolle der Kirche und etwaig religiös motivierter reaktionärer Kräfte im Neuen Deutschland klein zu halten, worauf natürlich konkurrierende (kirchliche) Institutionen wie die Konfirmation sukzessive an Bedeutung verloren. Wer, wie die Interviewte, sich dem Ganzen widersetze, der musste unter Umständen mit Erschwernissen bei der Berufswahl und bei beruflichen Werdegängen rechnen, was für sie und ihre Familie insofern aushaltbar war, als sie zusammen einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachgingen und auch eines ihrer Kinder hierin Arbeit fand (vgl. IA/1:22f.). Dass ihre religiöse Widerständigkeit allerdings nicht so weit reichte, sich von allen gesellschaftlichen (Erziehungs-)Institutionen des Sozialismus loszumachen, zeigt sich sogleich in dem Punkt der Erzählung, als sie anmerkt, die zentrale Jugendinstitution, die FDJ (Freie Deutsche Jugend), nicht umgangen zu haben.

Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien

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Wir durften ja diesen Streifen nicht betreten. Und meine Tante hatte mir einen Puppenwagen gekauft. Und […] den sollten ich dann haben. Jetzt mussten wir den nun aber über den Zaun kriegen. Und meine Oma hat dann nen Stein genommen. Und dann hat sie nen langes Band drum, äh, gebunden, gewickelt. Und hat dann den Stein so über die Grenze geworfen. Und meine Tante hat dann den Strick rüber gezogen. Hat den, war so nen kleiner Stubenwagen, so nen Korbwagen, nur so nen kleiner (...). Hat den Puppenwagen da dran gebunden und hat den Stein wieder rüber geworfen; und dann haben wir, meine Oma hat dann den äh Puppenwagen über die Grenze geholt, ne. Und ich war SO STOLZ, ICH WAR SO STOLZ. Äh, ich hab (...); dass ich die Grenze, das war gar nicht so schlimm, ich hab ja den Puppenwagen gehabt und bin als kleines Mädchen dann mit diesem Puppenwagen durchs Dorf nach Hause gegangen, ne. Das war für mich ein ganz, ganz tolles Erlebnis. Das war ooh, ein Puppenwagen. Das war einfach super. Dass die Grenze dazwischen war, das hab ich einfach verdrängt, ne. Ich hatte ja den Puppenwagen. Das war ja viel besser. Das war ja, das war ja toll. Grenze, was? Ich hatte den Puppenwagen trotzdem gehabt. (IA/1:6)

Jene Erzählpassage zeigt die Interviewte als ca. 4-Jährige an der Grenze, wie sie einen Puppenwagen von der auf der anderen, westlichen Seite der Grenze wohnenden Tante (zugleich Patentante) auf umständlichem Wege in Empfang nimmt. Die Textstelle ist insofern bedeutsam, als sie nicht nur die noch fehlende Wahrnehmung und Bewusstheit der Grenze seitens der (damals im Kindesalter befindlichen) Befragten deutlich macht. Sie ist vielmehr ein subjektiv beglaubigtes Zeitzeugnis dafür, inwieweit die Grenze – hier: im Grenzbereich zwischen Thüringen und Niedersachsen – in jenen Tagen (1951/52) für den Grenzverkehr jedweder Art noch vielfältige Nischen und Anlässe bot. Für Eva Apitz schien die Begrenzung in jenem Alter noch nicht derart restriktiv zu wirken, als eben der Stolz darüber überwog, trotz Grenze, das Geschenk der Patentante letztlich doch bekommen zu haben, wodurch der Fakt des Begrenzt- und Abgegrenztseins von ihr einfach verdrängt [wurde] (IA/1:6). In den Jahren danach, in denen die Grenze für Grenzgänge zunehmend undurchlässiger wurde, reifte schließlich auch bei der heranwachsenden Eva Apitz immer mehr die Überzeugung, dass es eine Grenze gibt, und das als unausweichliches Faktum. In diesem Zusammenhang erinnert Sie sich an den alltäglichen Schulweg mit ihrem Bruder nach Hause, mit dem sie zusammen an der unmittelbar noch sicht- und greifbaren Grenze immer haltmachte, um u. a. bei der Bewirtschaftung der noch in Familienhand und in Grenznähe befindlichen Flurstücken zu helfen. Bei diesem alltäglichen Anlass kam sie immer wieder auch auf den Gedanken, wie es wohl wäre, die Grenze von Ost nach West einfach zu übertreten: Und am Feld, auf dem Feldweg stand damals so nen Holzgrenzturm, ne. Die waren ja damals, heute sind ja, kann man fast sagen wie so nen Jägerhochsitz, aber waren eben diese Holztürme, die Wachtürme oben. Und unmittelbar bei uns am Feld stand auf dem Feldweg so nen ähm, so nen Turm. Wenn wir dann dort hingegangen sind (...). Wir sind dann mittags dort hingegangen, von der, nach der Schule. Mein Bruder und ich. Damals kam dann von Hundeshagen der Eismann. Der hatte nen Motorrad und da war so nen Hänger hinten. Da waren so zwei große Eiskübel dran, ne. Und da ging man dann hin. Man hat Geld von Papa gekriegt. Und da haben wir uns dann drei Kugeln Eis gekauft und dann wenn wir hinten am Feld waren, war das Eis alle. Und Oma war dann da und dann musste man mit helfen Kartoffeln, mal ausmachen. Wir hatten dort unten auch Pflaumenbäume, und die Pflaumenbäume die standen eigentlich in so nem Graben. Hier war das Feld zu Ende dann kam so nen Graben und da am Hang waren diese Pflaumenbäume. Und da sagte Oma immer, wenn wir durch den Graben gehen würden, wären wir im Westen. Und hat man immer so gedacht, ob ich denn jetzt einfach mal durch den

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien Graben durchgehe. Und da hinten diese Heckenreihe, so Gebüsch, das nennt man den Köterbusch, das ist der Köterbusch, wenn man durch den Köterbusch geht (...). Da sind die Grenzgänger auch immer rüber gegangen. Dann kommt ja schon der Pferdeberg, der Pferdebergwald, ne, was jetzt äh, wenn se vielleicht das Museum gesehen haben, der Wald, der drüben im Westen, so nen Erholungsgebiet. Da hat man schon manchmal mit dem Gedanken gespielt, was würde wenn passieren, wenn ich jetzt einfach mal durch den Graben gehe, was würde dann passieren. Aber wir wussten ja auch schon, dass wir ganz ganz zeitig in Teistungen eine Baracke hatten. Und da waren ja die Grenzsoldaten untergebracht. Und die sind ja auch jeden Tag rausgegangen auf Streife, ne, entweder mit dem Hund und Gewehr sowieso und gingen ja auch immer so bei uns am Geschäft vorbei, dann die Straße runter und dann gingen die so Richtung Grenze. Man wusste ja, dass die da gehen und die saßen ja auch ganz oft da oben in dem Turm und haben uns beobachtet. Also es wäre schon ein sehr gefährliches Unternehmen gewesen, wenn man es denn probiert hätte. Aber mit so nem Gedanken gespielt, hat man dann doch immer. (IA/1:11)

Nach diesen Jahren, als sie solche Gedankenspiele nicht mehr unmittelbar vor Ort, d.h. an der Grenze anstellen konnte (die Familienländereien gingen inzwischen in genossenschaftliche Hand über), stellten sich zunehmend auch andere bzw. veränderte Wahrnehmungsmuster zur eigenen Grenzsituation und dem Umgang damit ein, womit sich zugleich auch das räumliche Distanzempfinden der Befragten erheblich verschob. So befand sich nun – nach den Verfestigungen des Grenzsystems – das westlich benachbarte Göttingen […] Gott weiß wo und das noch nähere Duderstadt war unerreichbar (IA/1:1). Aber nicht nur das westseitige Grenzland war quasi unerreichbar, auch die Grenze wurde, nach deren direkt-erinnerter Wahrnehmung in frühester Kindheit, zu einem präsent-absentem Objekt. Denn trotz der unwiderruflichen Tatsache, in dieser Zeit (Mitte der 1950er-Jahre) an der Grenze nach wie vor gelebt zu haben, wurde der Ort, der einen vom anderen trennte, von der Interviewten in der Folgezeit nie wirklich gesehen (IA/1:6), denn direkt wahrgenommen. Dass sie doch am Ende weiterhin eine Idee davon entwickeln konnte, was und wo die Grenze war, und von was man sich letztlich abgegrenzt sah, zeigen die nachfolgenden Aussagen der erzählten Lebensgeschichte Eva Apitz'. In diesen Aussagen kommt die westliche Orientierung im Leben der Interviewten sowie die ihrer Familie genauer zur Sprache. Bei aller Ortsverankerung im Osten, westlich orientiert gewesen zu sein, dies ergab sich für die Interviewte aus dem einfachen Grunde heraus, ein gewisses Privileg gehabt zu haben, und zwar Westkontakte (IA/1:1). Die Anlehnung am und Ausrichtung gen Westen hatte Eva Apitz zufolge neben den verwandtschaftlichen Beziehungen über die Grenze hinweg ferner noch einen anderen Grund, der einem das Ferne, Andere, erst nach Hause holen konnte: das West-Fernsehen. Aus den beiden Zugängen zum Westen, den Westkontakten und dem Westfernsehen, ergab sich wiederum erst die besondere Sichtweise auf den und das Wissen um den ganz nahen Westen, was sich im folgenden Textabschnitt nur zu deutlich zum Ausdruck bringt: Wir hatten Anfang '60 einen Fernseher bekommen und da haben wir auch nur ein Programm gehabt. Wir hatten guten Empfang von ARD, war hier super. Dadurch war man auch immer informiert, was im Westen los war. Man (...) Es gab damals ein tolles Werbefernsehen, tolle Werbespots. Und da kannte man auch die Produkte ganz viel. Hat dann auch mal wenn wirklich, dass man die Gelegenheit hatte ma nen Wunsch äußern zu können; hätte gern das und

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das, das und das vom Westen, dann war man natürlich auch ganz stolz, wenn man das dann bekommen hat, ne. Hat sich dann auch so nen bisschen damit gezeigt, ne. West (...) Westverwandtschaft, Westkontakte, da haben die anderen dann auch mal so nen bisschen neidisch geguckt, ne. (IA/1:4)

Bezüglich des Fernsehens in den Westen war es im Besonderen der Vater der Interviewten, der sich und die Familie dem ganzen, wie er selbst immer wieder meinte, Russendreck (IA/1:10) im DDR-Fernsehen, zunehmend versperrte, um alle mehr dem westdeutschen Fernsehprogramm hin zu öffnen. Obwohl die Interviewte rückblickend eingesteht, doch ebenso auch gerne mehr DDR-Fernsehen geschaut zu haben, um sich heute u. a. im Bereich der DDR-(Musik-)Kultur besser auszukennen, hat man sich eigentlich nur an diesem Westlichen orientiert (IA/1:10). Über den medial hergestellten Draht zum Westen hinaus, der sich aufgrund der Grenznähe technisch leicht herstellen ließ, war es aber mehr noch die zwischenmenschlich am Leben gehaltene Verbindung Eva Apitz' zum westlichen Familienkreis, die ihre Beziehung zum anderen Teilstaat über die Jahre hinweg lebendig hielt. Derart waren es nicht nur Westprogramme und Westpakete, durch die besondere, in der DDR nicht erfüllbare Konsumwünsche (wie z. B. ein Sweatshirt oder eine spezielle Gardine) sowie der generelle Wunsch nach ein bisschen Westen zu Hause befriedigt werden konnten. Viel wichtiger als der konsumtive, mediale wie postalische Kontakt zu den einen selbst eng verbundenen Menschen waren nicht zuletzt jedoch die Ereignisse, an denen der unmittelbare Kontakt zum westdeutschen Familienkreis möglich wurde. So breitet Eva Apitz im Folgenden narrativ gebündelt all ihre Erfahrungen aus, die sie im Laufe der Jahre – nach der Zementierung der Grenzverhältnisse in den 1960er-/70er-Jahren – bei Westbesuchen, d. h. bei Besuchen von Westverwandtschaft in der DDR sammeln durfte. An dieser Stelle ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung merkt sie vor allem all die Schwierigkeiten an, welche sich beim Empfangen der Westverwandtschaft immer wieder für sie selbst, als mittlerweile verheiratete Ehefrau, und die im Osten zusammengeführte Familie angesichts des Lebens an und mit der Grenze einstellten: Aber die durften ja nicht in dieses Sperrgebiet kommen, die Westverwandten. Also mussten wir uns, wenn dann die Verwandten mal kamen, nicht jedes Jahr, nicht regelmäßig, aber sie ham dann doch immer mal geguckt, dann hat man sich immer außerhalb des Sperrgebietes treffen müssen. Was natürlich für die Verwandten auch nicht so schön war, weil sie ja eigentlich in die Heimat wollten und nicht irgendwo in Worbis oder in Leinefelde in einer Gaststätte sitzen (...) tagelang; gucken wo kann ich jetzt, wo kann ich schlafen, wo sind noch Verwandte, die nicht im Sperrgebiet wohnen; und dann kommen, fahren wir in die Richtung, die fahren dahin. Den nächsten Tag mussten wir dann wieder zum Bahnhof gucken, dass man sich dann wieder irgendwo trifft. Es war schon recht beschwerlich und dann geht einem auch so ein System ganz einfach auf die Nerven. Dann merkt man erst wie schlimm das ist. Dann sagt man sich, ich will doch eigentlich gar nichts, ich tue doch dem Staat nichts Böses, wenn ich meine Verwandten besuchen möchte. Ich tue doch dem Staat überhaupt nichts Böses, wenn meine Verwandten zu mir kommen möchten. […] Meine Verwandten kamen, meine Patentante hat immer auch Päckchen und hat was mitgebracht. Ich hätte die so gerne mal hierher genommen. Hätte meine Familie gezeigt. Klar wir konnten dann, wir hatten dann '75 nen Trabi. Wir konnten dann mit dem Trabi dahinfahren, mit zwei Kindern. Aber es war doch nie so, als wir zu Hause mal nen Kaffee kochen oder mal einladen oder mal zum Essen einladen. Das war immer so unpersönlich

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien irgendwo anders; sich bei anderen Leuten treffen und das ja auch für die Verwandten, wenn wir uns bei Bekannten, die jetzt, ich sag mal von Teistungen weggezogen waren, nach Leinefelde, die hat man dann gefragt, können wir uns denn mal bei euch in der Wohnung treffen. […] Auf der einen Seite die Freude, die Verwandten kommen, auf der anderen Seite aber auch wieder die Trauer, dass sie nicht nach Hause dürfen. Und das ging ja dann eigentlich bis zum Ende der DDR. (IA/1:9)

In der Rückbetrachtung Eva Apitz' sind ihr die Besuche der Westverwandtschaft, bei aller Freude ihres Zustandekommens, doch immer recht beschwerlich vorgekommen. Allen voran die Organisation, d. h. wann und wo das Familientreffen stattfinden sollten, stellten sie, ihren Ehemann und ihre Verwandten immer wieder vor kleine und große Probleme. Am meisten nervte sie jedoch, dass sie ihre Verwandten nie wirklich zu sich nach Hause mitnehmen konnte, sondern immer in den Wohnungen Anderer (Bekannter, Verwandter) oder an öffentlichen Orten wie Gaststätten oder Bahnhöfen empfangen musste. So blieb ihr nichts Anderes übrig, sich immer außerhalb des Sperrgebiets und damit außerhalb der eigenen Heimat mit der eigenen Westverwandtschaft zu treffen, was das Zusammenkommen angesichts der Bedingungen, unter denen es zustande kam, stets so unpersönlich für sie gemacht hat. Interessanterweise wird im hier gebrachten Interviewauszug das Sperrgebiet, entgegen der selbst attestierten Heimatlosigkeit zu Anfang, schließlich dann doch zur ihrer Heimat erklärt. Im Folgenden lässt sich jedoch sehen, dass es nicht so sehr das für die Westverwandtschaft gesperrte bzw. unzugängliche Grenzgebiet war, als vielmehr der familiäre Wohnort, das sprichwörtliche zu Hause, das Wohnhaus, was hier als Heimat seine Erwähnung findet. Entsprechend traurig äußert sich Eva Apitz, als sie hierauf weiter darüber zu berichten beginnt, wie schlimm es für sie war, ihr eigenes familiär geschaffenes zu Hause nicht für den Besuch richtig präsentieren zu können. Wollte man doch zum einen zeigen, dass man sich hier ja auch eingerichtet [hatte] und dass man auch was geschaffen [hatte], worauf man am Ende auch nen bisschen stolz [war] (IA/1:9). Zum anderen wollte die damals bereits verheiratete Ehefrau und zweifache Mutter auch zeigen, was die Westverwandten uns haben zukommen lassen, nen Wäschestück, Handtücher oder ne Tagesdecke, was eben damals auch modern war, ne; wollte man ja auch mal zeigen, wo man es hingelegt hat, was man daraus gemacht hat (IA/1:9). Eine Erleichterung kam dahingehend erst 1973 auf, als ein kleiner Grenzübergang (ebd.) vor Ort eingerichtet wurde, über den die Verwandten zumindest Zugang zum Heimatort der Interviewten bekamen, wenngleich nur kurz, indem sie nur hindurchfahren durften, ohne denn irgendwo anhalten oder länger verweilen zu können. Doch auch hierauf wussten sich die Interviewte und ihre Familie einzustellen (Stichwort: Arrangieren), insofern man schon immer geguckt [hat], wir kommen dann und dann sind wir an der Grenze, vielleicht, mal gucken, wie lange es dauert. Dann hat man sich schon mal oben an die Straße gestellt, […] dass man dann gleich auch hinterherfahren kann, dass man keine Zeit verliert (IA/1:9).

Die Westorientierung von Eva Apitz, wie sie zuvor anhand des Westkonsums (West-Fernsehen, West-Pakete) und dem Empfangen der Westverwandtschaft deutlich wurde, zeigt sich jedoch noch stärker in den Momenten der Erzählung, an

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der die Interviewte ihre selbst unternommenen Reisen und Besuche in den Westen breiter ausführt. Nachdem die Interviewte bis in die Mitte der 1950er-Jahre mit ihren Eltern noch regelmäßig Besuche ins benachbarte Duderstadt (Niedersachsen) zur Verwandtschaft unternahm, war es ihr infolge des Mauer- und Grenzausbaus erst drei Jahrzehnte später wieder möglich, nochmals eine Reise in den Westen Deutschlands zu unternehmen. Auf offizielle Einladung zum 65. Geburtstag der inzwischen in die Eifel gezogenen Patentante, durfte sie 1986 mit einem Visum für zehn Tage in die BRD reisen (IA/1:13). Dieser zehntägigen Reise in den Westen, die Eva Apitz aufgrund von Visa-Auflagen ohne ihre Kinder (mittlerweile waren es vier) und ohne ihren Ehemann unternehmen musste, wird in der narrativen Gesamtschilderung ihres Lebens nicht zuletzt ein besonderer Platz eingeräumt. So schildert die Interviewte nicht nur in einer gewissen Breite und Ausführlichkeit die Zugreise, die sie von Gotha über Gerstungen und Frankfurt am Main schließlich bis nach Cochem in die Eifel führte. Sie erzählt das ganze Erlebnis vielmehr noch in einer emotionalen wie sehr bewegenden Art und Weise, wie der folgende, länger zitierte Erzählausschnitt deutlich macht: Also mein Mann hat mich in Gotha noch in den Zug, in so einen Wagen noch reingeschoben, mein Koffer hinterher. Und da stand ich bis Frankfurt am Main ähm an der Toilettentür und dann so gegen Morgen, man war erschöpft, man war aufgeregt, man war einfach müde (...). Aber bis Eisenach, Gerstungen, von Gotha, war man ja erstmal hellwach und äh hat auch immer Angst, was da jetzt passiert in Gerstungen. Und alle in Gerstungen angekommen, alle, die keinen Sitzplatz hatten mussten raus, mussten raus aus dem Zug. Da war so eine Asbesttrennwand, da war der Zug, der rausfuhr und hier hinten war der Interzonenzug, der ähm von Bebra wieder in die DDR kam. Und äh da standen massenhaft Leute an dieser Asbestwand und die Grenzpolizei, die Polizei, die Kontrolle, der Zoll und alles mögliche, Hunde, und die Grenzer hatten auch alle die Kalaschnikow so, ja (zeigt). Und die, die kontrolliert haben, hatten so einen Aktenkoffer um, wie so ne Aktentasche, die man so aufklappen konnte. Und die gingen dann ähm zu jedem hin, haben die Dokumente genommen, immer geguckt, das Dokument, das Passbild, ob das alles stimmte, die Zählkarten, die Erklärungen, alles sich angeguckt. Und dann musste man aber immer gucken, da zu dieser Tür muss ich wieder rein, das ist mein Abteil. Da steht auch noch ein Koffer von mir. Weil man durfte auch erst wieder rein, als alle draußen kontrolliert waren und als alle Beamten aus dem Zug wieder raus waren. Und das dauerte, weil die hatten Leitern und haben dann drinnen auf die Toiletten und überall, wo man gucken konnte, unter den Zügen lang, die Hunde unter den Zügen lang. Es hat mir richtig Angst gemacht, es hat mich verwundert. Wenn man so Filme von, also '44/'45 gesehen hat, die Transporte in die KZs oder so, wenn die Züge so voll waren und wenn die raus mussten. Und da immer schon bewacht, mit Gewehr, mit Hunden, da hatte ich gedacht, oh Gott, oh Gott, oh Gott, das ist ja genau wie als noch Krieg war. Das ist ja so schlimm. Und dann äh rein, dass man dann endlich weiterfahren konnte. Der Zug setzte sich in Bewegung, über die Grenze. Da hörte man gar keine, gar nichts mehr rattern und dann ging es noch mal ratatatt, da machte die Grenze nochmal so Schlenker und dann fuhr man nochmal nen Stück durch DDR-Gebiet. Und dann äh endlich in Bebra angekommen. Da war eine Stimmung in dem Zug, es wurde laut, es wurde gelacht, es wurde erzählt. […] Und in Bebra dann äh raus, schon mal auf dem Bahnhof, herzlich willkommen, wir begrüßen sie in der Bundesrepublik. Das war wie in einem anderen Film, wie in einer anderen Welt. Dann umsteigen bis nach Frankfurt. Und natürlich durch die Verspätung, wie der Zug schon mal ankam, waren auch meine Anschlusszüge weg. Ich hatte ja meinen Fahrplan und ich konnte die Fahrkarte hier hin- und zurück für Ostmark kaufen. Also ich musste keine D-Mark ausgeben, aber ich konnte 15 DDR-Mark eins zu eins bei der Staatsbank in Worbis tauschen und hab 15 Westmark bekommen. Das war so nen bisschen Reisegeld

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien für unterwegs. Und jetzt war ich ganz allein zwischen hunderttausenden Menschen auf einem riesen Bahnhof, wie ich noch nie gesehen hatte. Es war kein Vergleich zu Leipzig oder zu Gotha oder Erfurt, wo man eventuell mal war. Es war wie eine Stadt in der Stadt. Die Geschäfte, die Stände, die Marktstände, ich wusste gar nicht wohin. Mein Anschlusszug war weg. Jetzt hab ich keine Information gefunden, ich bin auf dem Bahnhof umhergeirrt. Ich hatte Panik, weil ich ja zu einer bestimmten, mit einem bestimmten Zug in Cochem an der Mosel ankommen musste, denn da wurde ich ja erwartet. Das wurde aber jetzt nichts mehr. Und da bin dann erstmal solange rumgelaufen, bis ich äh einen Beamten, also einen Bahner gefunden hab. Und den hab ich dann gefragt, wo ich mich informieren kann, wie ich denn weiterfahren kann. Und das hat der mir dann auch gezeigt. Bin ich dann hingegangen, da war ich dann schon mal erstaunt, da gingen die Türen schon mal alle auf, automatisch. Und dann hab ich mich an einem Schalter angestellt und hab mich dann erkundigt und da sagte die Schaffnerin, die da, die Bahnfrau: Ja, aber dann fahren sie jetzt mit dem Intercity. Sie fahren dann nicht mehr mit dem Personenzug. Sie müssen dann Intercityzuschlag bezahlen. Was kostet das? Fünf Mark. Ich hatte ja die 15 Mark, ich hab dann diese Karte gelöst, für den den Zuschlag. Und äh habe dann wieder draußen gestanden und hab dann erstmal wieder geguckt, wo ist jetzt mein Bahnsteig, wo muss ich jetzt auf diesem riesen Bahnhof hin. Wenn jetzt da ein Zug nach Gotha gestanden hätte, ich glaub ich wär eingestiegen, weil ich war so verloren, ich war so allein. Und dann denkt man, Mensch so viel Menschen, ein bekanntes Gesicht wird doch hier sein. Aber war nich. Ich war dann so erschöpft, dass ich dagesessen hab, und ich habe einfach nur noch die Tränen laufen lassen. Ich hab einfach nur noch geweint. (IA/1:13−15)

Wie bewegend der Transit in die BRD für Eva Apitz letztlich war, zeigt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Emotionalitäten, wie sie in der zuvor gebrachten Erzählsequenz Anklang finden. Diese erzählten Emotionen wurden zudem noch dadurch unterstrichen, indem sie von der Erzählerin während des Erzählens im Interview gestisch und mimisch immer wieder unterlegt wurden. 224 So waren nicht nur Erschöpfung und Aufregung ständige Begleiter auf der Reise in den Westen, sondern auch verschiedene Gefühle von Angst, welche der Interviewten bis heute scheinbar noch so körperlich eingeschrieben sind, dass sie sie (willentlich oder nicht) auch körperhaft während des Interviews zum Ausdruck bringen musste.225 Besondere Emotionen stellten sich vor allem während der ganzen Überfahrt von Gotha nach Gerstungen ein, wo die Ungewissheit darüber, wie die (ungewohnte) Reise mit dem Interzonenzug sich noch – auf DDR-Seite befindlich – entwickeln sollte und vor allem zu welchem Ende, starke Angstgefühle bei ihr hervorrief. Diese Gefühle von Angst entluden sich insbesondere an dem Punkt der Reise, an dem Eva Apitz unterschiedliche Kontrollen an der Grenze über sich ergehen lassen musste. 226 So bemüht sie in diesem Zusammenhang schließlich einen geschicht224 Vgl. die protokollarischen Mitschriften zum ersten lebensgeschichtlichen Interview (Ortstermin zu Hause bei der Befragten). 225 In diesem Zusammenhang sei auf die lebensgeschichtlichen Einzelfallanalysen von JUREIT (1999a) verwiesen, die im Gespräch mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager noch spezieller auf das Phänomen ohne Worte erinnern (1999a:272ff.) gestoßen ist. Im eigenen hier präsentierten Fall von Eva Apitz zeigte sich wiederum, wie das Spurensuchen anhand von Sprach-Spuren immer auch von der Spur als Performanz und körperhafter Ausdrucksweisen spurenvermittelter Erscheinungen begleitet wird (vgl. Kap. 4.2.1, 4.3.1, 4.3.2). 226 Diese Erzählsequenz steht in Analogie zu einer, die sich zuvor finden lässt (vgl. IA/1:6). Hier berichtet sie von einer Zugfahrt mit ihrer Mutter nach Duderstadt aus den 1950er-Jahren, die

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lichen Vergleich, welcher sie das Ganze in einer Analogie zu den Jahren '44/'45 und den Zugabfertigungen und Transporten in die KZs (IA/1:13) sehen lässt, wie sie sie persönlich aus Filmen kennt. An dieser Stelle ihrer Erinnerungsnarration mischen sich offenkundig eigene Geschichtserfahrungen mit medial vermittelten Geschichtsansichten (auf Nazi-Deutschland und die verübten Verbrechen bzw. Deportationen), was das Geschehnis für sie selber erst als solches begreifbar und rückblickend erzählbar macht. Von den negativ beladenen Gefühlen, die ihr von diesem Grenzübertritt geblieben sind, stellte sich auch im Folgenden, also nachdem sie die BRD und ihren Umstiegsbahnhof Frankfurt am Main erreicht hatte, noch eine gewisse Beklommenheit ob des zuvor Erlebten ein. So traute sie sich weder an der abrupt gewandelten Stimmung, die sich im Zug nach dem Grenzübertritt eingestellt hatte, richtig teilzunehmen noch konnte sie sich darüber freuen, nach der langen nächtlichen Zugfahrt und deren Strapazen am frühen Morgen in der BRD angekommen zu sein. Unter dem Eindruck der Größe und der Lebendigkeit des Frankfurter Bahnhofes und der Tatsache ihre Anschlusszüge (nach Cochem zu ihrer Westverwandtschaft) alle verpasst zu haben, machte sich vielmehr Panik bei ihr breit, sodass sie – ganz orientierungslos – nicht wusste, wohin sie gehen sollte (IA/1:14). Letztlich fühlte sie sich in dieser von ihr erinnerten Situation und in dieser für sie ganz anderen Welt überaus verloren (ebd.), was sie schließlich nicht nur zum Weinen brachte, sondern ebenso zur Überlegung, nicht doch gleich wieder zurück, zurück in die DDR und ins Grenzgebiet fahren zu wollen. Dass sie dies am Ende nicht tat, hing wohl nicht zuletzt damit zusammen, so führt sie im Anschluss an die zitierte Interviewpassage aus (IA/1:14f.), dass ihr ein junger Mann half, sowohl eine neue Zugverbindung zu finden, als auch eine Nachricht an die auf sie wartenden Verwandten in Cochem telefonisch zu übermitteln – mehr noch hat er, und dies schien ihr rückbetrachtend besonders wichtig gewesen zu sein: auch Anteil an […] [ihrem] Schicksal genommen (IA/1:15). Wenngleich nicht derart gefühlsgeladen wie die Ein- bzw. Hinreise in die BRD, war dann neben der weiteren (Zug-)Fahrt auch der mehrtägige Aufenthalt in Westdeutschland in vielerlei Hinsicht sehr erlebnisreich und bewegend für Eva Apitz. Von der Zeit vor Ort erinnert sie vor allem die unzähligen Anlässe, bei denen ihr die Region, aber vor allem der Westen als solcher schmackhaft gemacht wurde. Und dann erstmal nen Glas Wein. Ich konnte das gar nicht, ich konnte den Wein gar nicht trinken. Und komm iss erstmal was. Was willst du denn essen, ein Schinken oder ach (...)? Und dann kamen die, und dann sind wir bis in die Eifel gefahren, fast zum Nürburgring. Da wohnte meine Tante damals. Und das war natürlich toll. Und abends sagten die dann, meine Cousine, die war jünger als ich und ihr Freund: Wir fahren jetzt noch mal nach Cochem rein. Das waren 30 km. Wir fahren jetzt nochmal in die Stadt. Und sind die mit mir nochmal nach Cochem, an die Mosel. Wir sind dann an der Uferpromenade spazieren gegangen. Komm jetzt ess ma sie, obwohl der Ort in unmittelbarer Nähe lag, auf Umwegen – über Eisenach, Gerstungen und Bebra – erst dorthin brachte. Angesichts der repressiven Kontrollmaßnahmen bei einzelnen Fahrgästen im Zug und angesichts der vielen Grenzsoldaten an den Kontrollstellen, verspürte sie ein ähnlich starkes Angstgefühl, wie sie es im oben präsentierten Fall ergriff, was im Endeffekt in gleicher Weise zu einem intensiven Gefühlsausbruch führte, sodass sie schlussendlich fürchterlich brechen [musste] (IA/1:6).

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien erstmal ein Eis. Eis, was möchtest du denn für eins. Stracciatella, konnte ich gar nicht aussprechen. Wusste gar nicht wie man das spricht. Ich so jetzt: Ich weiß gar nicht was ich hier für ein Eis nehmen soll. (IA/1:15)

Am Ende kam es Eva Apitz nicht nur unwirklich vor, das alles erlebt und gesehen zu haben. Sie schien vielmehr in der Zeit bei ihren Westverwandten von einem Extrem ins andere gefallen [zu sein] (IA/1:15). Wie extrem ihr diese Zeit vorgekommen sein muss, zeigt sich in der Erinnerung an die Heimkehr und an die ersten Tage zurück im DDR- und Grenzalltag: Ich war krank, als ich nach Hause musste. Ich war krank zu Hause. Mich hat der Dreck im Dorfe angekotzt. Das so im September, wurde schon so nen bisschen herbstlich. Ich habe immer nur gesagt: ihr könnt es euch nicht vorstellen. Was ihr im Fernsehen seht, in Krimis, in Filmen, im Werbefernsehen, das ist ja von der Wirklichkeit, von der Realität SO WEIT WEG. Das kann man sich nicht vorstellen, das kann man sich nicht vorstellen. Und man konnte süchtig werden, man konnte süchtig werden, nach dem Westen. (IA/1:16)

In der Kontrastierung der eigenen mit der fremden Lebenswelt wurde ihr zum einen schmerzlich vor Augen geführt, wie weit beide Welten voneinander entfernt waren. Zum anderen wurde ihr klar, wie schwer es sich gestalten würde, sich wieder in den gewohnten Alltag in der DDR und spezieller, an der Grenze einzufinden. Ungeachtet der Tatsache, dass das graue Herbstwetter ihr die Ankunft zu Hause erschwerte, war es dann eben vor allem der begrenzte Handlungsspielraum im Gegensatz zu den unbegrenzten Möglichkeiten während ihres Westbesuches, der ihr das Wiederankommen fast unerträglich machte. Der Überdruss und das Kranksein über das Heimkommen in den Osten mit dem gleichzeitigen Süchtigwerden nach dem Unerreichbaren, dem Westen, steht in gewisser Verbindung zu einer Geschichte, die die Interviewte in genau umgekehrter Blickrichtung zuvor über ihren Onkel zu erzählen weiß. Der Onkel lebte ursprünglich im angrenzenden niedersächsischen Duderstadt bevor er mit seiner Frau nach Nordrhein-Westfalen zog. Eva Apitz erzählt in eindrücklicher Art und Weise, welchen großen Schmerz (IA/1:12) der Onkel zeitlebens immer wieder durchlebte, aus dem Grund, weil er nicht mehr ohne Weiteres den Ort seiner Kindheit und Jugend, den Ort der Interviewten, besuchen konnte. Der Grenzschmerz des Onkels verstärkte sich über die Jahre, die Zeit der Teilung Deutschlands immer mehr, bis hin zu einem krankhaften Heimweh (IA/1:12). Ein Heimweh, das ihn nicht nur schmerzte, sondern dem er selbst immer wieder nachgab bzw. ganz eigen Abhilfe zu leisten versuchte, wie die Interviewte genauer zu berichten weiß: Dann ist der immer zum Pferdeberg gegangen, der war immer auf dem Turm, der hatte immer ein Fernglas mit und hat dann bis zum Elternhaus gucken können oder bis zum Friedhof. Und ähm dieses Wissen, jetzt steht Onkel Günther da oben (...). Er hat sich ja dann auch, hat ja dann meiner Oma geschrieben, meine Oma ist '90 verstorben, mit 90 Jahren. Dann hat Oma immer gesagt, kommt noch mal her und winkt nochmal am Küchenfenster. Onkel Günther ist wieder auf dem Pferdeberg, ne. Hat dann immer in ihr Fensterkreuz nen weißes Tuch gebunden. Wusste heute ist Onkel Günther, der hält sich heute den ganzen Tag da oben auf. Der ist ja hier groß geworden. […] Und das hat der dann alles mit dem Fernglas immer beobachtet, ne, überall geguckt. Und dann äh kam dann nach 8 oder 14 Tagen Post, und dann schrieb er immer, ich hab euch alle wiedergesehen, ne. Das war eigentlich ganz traurig. Für uns war's traurig, für

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meinen Onkel war es eine Katastrophe, dass er so nah am Elternhaus ist oder da, wo er als Kind war oder als junger Bengel (...) und nich hindurfte; das war ganz schlimm […]. (IA/1:12)

Der Punkt, von wo aus der Onkel zu seinem ehemaligen Heimatort immer wieder rüber sehen konnte und den Grenzschmerz am heftigsten erlebte, war 1985 als Aussichtsturm für Grenztouristen westseitig und unweit des Wohnortes von Eva Apitz errichtet worden. Die Interviewte selbst konnte bei den sonntäglichen Friedhofsbesuchen mit ihren Familienangehörigen immer wieder auf den oben genannten Pferdeberg mitsamt dem Aussichtsturm und den dort beobachtbaren Touristenverkehr schauen, wodurch die Grenze – entgegen ihrer rückerinnerten Unsichtbarkeit (vgl. IA/1:1) – dann doch wieder temporäre Sichtbarkeit erfuhr. Beim Erblicken der Grenze und der vielen Grenztouristen auf der anderen Seite stellte sie sich immer wieder vor, wie es wohl wäre, den anders gelagerten Blick vom Westen auf den Osten der Grenze einmal selbst einnehmen zu können, um auch mal hierüber [zu] gucken und um zu sehen, wie das so von da aussieht (IA/1:12). Dass sie diesen Blick nach nochmaligen Reisen 1987 nach Remscheid (zu ihrem Onkel) und 1989 nach Duderstadt (zu einer Cousine mütterlicherseits) denn bald selbst, ungezwungen und so oft sie denn wollte, wird einnehmen können, war ihr zu diesem Zeitpunkt indes noch nicht bewusst. Das noch keiner ahnen konnte, dass im November '89 […] alles vorbei [ist] (IA/1:17), wird Eva Apitz in Erinnerung an ihre letzte Westreise im März 1989 nochmals bewusst vor Augen geführt. Versuchte sie doch während jenes Kurzaufenthalts in der nahräumlichen BRD noch ihren jüngeren Bruder, der vom Westen Blut geleckt hatte (IA/1:17), davon abzubringen, ohne sie im Westen zurückzubleiben. Mit dem notwendigen (Zukunfts-)Wissen um das baldige Ende der DDR hätte sie ihm, rückblickend gesprochen, sicher geraten, dort zu bleiben, wo er ist, ohne mit ihm zurückzukehren. Aber das konnte da noch keiner ahnen. Das konnte da noch keiner ahnen. […] Und Gott sei Dank war ja dann bald alles vorbei (IA/1:17). Obwohl sie rückblickend zu verstehen gibt, nicht wirklich an das große Ende der DDR und damit ihrer eigenen Lebens- bzw. Grenzsituation geglaubt zu haben, gibt sie hierauf doch zu verstehen, dass sie gleichwohl um den friedlichen Protest227 (insbesondere in Leipzig) und den hiermit in Gang gesetzten gesellschaftlichen Bewegungen wusste (IA/1:19). Im Kleinen versuchte sie sogar (direkt indirekt) daran teilzuhaben, mit der Begründung, nicht alles den Leipziger […] überlassen [zu wollen], die die Kohlen ausm Feuer holten (ebd.). Insofern tat sie es den Leipzigern, die sie im West-Fernsehen sah, gleich, indem sie sich u. a. dazu entschloss, eine Kerze ins Fenster zu stellen, obschon sie sogleich einräumt, aus Angst vor etwaigen Sanktionen, die Kerze nur auf die hintere und nicht auf die vordere (sichtbarere) Hausseite bzw. Fensterbank gestellt zu haben. Ihr persönlicher Drang nach stillem Protest fand darüber hinaus, hingegen weniger still, Resonanz in den damals zahlreich in der DDR stattfindenden Friedensgebeten, an denen sie, als religiös überzeugter Mensch, selbst mehrere Male in ihrer Umgebung teilnahm.

227 Der in der Zwischenzeit mit der Friedlichen Revolution wiederum seine ganz eigene Begriffssetzung erfahren hat (vgl. THER 2010).

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Dass das Ganze bald vorbei sein würde und wiederum die Veränderungen und Reformen in Aussicht stellte, die viele Ostdeutsche 1989 auf die Straße brachten und die Eva Apitz in stillen und weniger stillen Aktionen teilte, stellte in ihrem Leben und ihrem Rückerinnern daran letztlich einen bedeutsamen WendePunkt dar. Im persönlichen Rückblick bedeutet die systempolitische Wende so gesehen nicht nur eine historische Wende, mit der sich bald die großen geopolitischen Raumverhältnisse zwischen Ost und West, in die die Befragte quasi natürlich hineingeboren bzw. hineinsozialisiert wurde, nach und nach aufzulösen begannen. Für Eva Apitz kommt der Wende im Hinblick auf ihren eigenen biographischen Werdegang vielmehr noch die Bedeutung einer Lebenswende zu: ich werde niemals vergessen, was, wie das unser Leben auch verändert hat, diese Wiedervereinigung, die Grenzöffnung erstmal (IA/1:19). Was der Mauerfall am 9. November 1989 zunächst für kurzfristige Veränderung für ihr Leben brachte, schildert sie im Laufe des zweiten Interviews (Ortstermin an der Grenze), während sie zusammen mit dem Interviewer und ihrem Ehemann 228 in der Nähe des Aussichtsturms, auf dem ihr Onkel immer stand, die Sicht auf das ehemalige DDR-Grenzgebiet richtete: War ein tolles Gefühl. War (...) Man musste das gemacht haben. Man musste das einfach mal (...) Es gab damals Dinge äh, wo ich heute sage, ja gut. Aber damals war das ganz ganz wichtig. Man musste Dinge ausprobieren, wo man immer bestenfalls mal von geträumt hat oder was man mal ganz ganz irgendwo im Hinterkopf hatte. Wo man gesagt hatte, wenn ich das doch mal könnte, einmal da oben stehen, einmal so rüber gucken. Und hat man wirklich dagesessen und hat erstmal […] Toll! Es war alles (...) Es ging so äh so ins Herz und in die Seele und das hatte, es hatte so dem Innenleben so gutgetan. Jetzt auch irgendwie dazu zu gehören. Man gehörte zwar nie nichtig ganz hier dazu, aber man gehörte doch in etwa dazu […]. (IA/2:54f.)

Neue Ortserfahrungen an der Grenze sammeln sowie jenseits der Grenze neue Ortsansichten hinzuzugewinnen, waren unmittelbar nach dem Mauerfall und den vor Ort stattfindenden Grenzöffnungen das erste, was Eva Apitz und ihre Angehörigen machten. Also erstmal wollten wir die Grenze sehen, in alle Richtungen, rechts und links, da erstmal lang wandern, was da so möglich war. Dann wollte man das Klosterholz natürlich, wo man früher als Kind hinkonnte oder mit der Schulklasse hingegangen ist. Das war schon mal wichtig, das wieder zu sehen. Es war auch wichtig mal äh durch die Innenstadt zu gehen, in Duderstadt, die Stadt zu sehen. Und damals die Supermärkte da, mal sich umgucken, was es so alles 228 Ihr Ehemann begleitete sie bei dem zweiten Ortstermin an die Grenze. Bereits zum Ende des ersten Interviews, nachdem die Frage nach den persönlichen Erinnerungsorten gestellt wurde, hatte sie in Aussicht gestellt, doch gerne auch ihren Mann mit ins Boot nehmen [zu wollen] (IA/1:42). Dies hatte, wie sich dann im Laufe des vor-Ort-Interviews noch zeigen sollte, zum einen den Grund, dass er als Begleitperson das Auto dorthin führte, wohin die Befragte es gerne haben wollte. Dies hatte aber auch den Grund, und so lassen sich dann auch die einzelnen (längeren) Wortmeldungen des Ehemanns verstehen, dass auch der Mann einiges über die ortsbzw. grenzbezogene Geschichte und Erinnerung hieran zu berichten wusste. In letzterem Punkt war der Ehemann der Interviewten dann in gewisser Weise immer auch eine Gedächtnisstütze. Da er das Interview teilweise aber auch an sich nahm und mitunter die Interviewte in ihren Ausführungen unterbrach, um bspw. fortzuführen oder mit dem Auto weiterzufahren, ergaben sich dadurch aber auch nicht vorhersehbare Brüche im Erinnerungs- und Interviewgeschehen, die insgesamt noch Gegenstand einer gesonderten Reflexion sein werden (vgl. Kap. 9).

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gibt. Es war dann gar nicht mehr, als es alles so da stand, unbedingt, dass man das so gleich haben musste. Es war einfach da, und wenn man es denn brauchte oder kaufen konnte, konnte man das auch kaufen. Und das war doch irgendwo auch schon ein ganz beruhigendes Gefühl. (IA/2:70)

Unter dem Eindruck all der von großen Glücksgefühlen begleiteten Wendeerlebnisse weiß sie noch von vielen anderen Grenzerkundungen zu berichten, welche sie kurz nach dem 9. November 1989 im benachbarten, nahräumlichen Westen, d. h. quasi vor der Haustür mit ihrer Familie unternahm. So erinnert sie sich z. B. noch sehr genau daran, wie sie kurz nach den Grenzöffnungen den Graben, den sie als Kind oft gedanklich von Ost nach West durchschritt, und der später für sie Niemandsland sowie unüberwindbare Trennung bedeutete, nun selbst wahrhaftig durchschreiten konnte: Und dann hat man mal gesagt, jetzt gehen wir doch einfach mal durch den Graben, jetzt gehn wir doch einfach mal durch den Köterbusch. Und das war ein ein unwahrscheinliches Gefühl, das war ähm (...) Da sind auch so viel ähm Glückshormone freigeworden. Muss man ganz einfach mal so sagen. Dass man das jetzt einfach konnte, was man sich früher nicht getraut hat […]. (IA/1:12)

Das besondere Glücksgefühl, dass sich in dieser Aussage äußert, begründet die Erzählerin an späterer Stelle (während der Spurensuche an der Grenze) ferner damit, dass der oben erwähnte Ort, der Graben (Köterbusch) immer etwas Geheimnisvolles (IA/2:45) besaß, als er doch lange unerreichbar und ohne direkte Kenntnis über ihn zu einem quasi okkulten Un-Ort für sie wurde. Der furchtlose Drang der Interviewten, die Grenzen, die ihr lange Bewegungsfreiheit nahmen, zu überschreiten und entlang jener (teils geheimnisvoller) Grenzorte wieder Erkundungstouren machen zu können, fand schließlich auch seinen direkten Wiederhall in den politischen Ereignissen jener Tage, wie sie auch in der unmittelbaren Umgebung der Befragten zahlreich stattfanden. So erzählt Eva Apitz u. a. von einer Begegnung mit Rita Süssmuth, die als damalige Bundestagspräsidentin ihren Wahlbezirk in Göttingen hatte und die nach der Öffnung der Grenzübergangsstellen nach Drüben fahrende DDR-Bürger persönlich begrüßte, so auch Eva Apitz (IA/1:19). In gleicher Weise bewegend, wie die Begegnung mit Rita Süssmuth, waren ebenso all die politischen Aktionen und Demonstrationen in ihrer nahräumlichen Umgebung, die dieser Tage in gewisser zeitlicher Dichte und an vielen Orten stattfanden. In Bezug darauf findet im Speziellen eine Koffer-Demo229 ihre Erwähnung, an der vor Ort neben Helmut Kohl und Rita Süssmuth auch viele andere Demonstrierende, rund 40. 000 waren es, mit ihr zusammen teilnahmen (IA/1:19). Neben diesen Großereignissen, die der Interviewten lebendig in Erinnerung geblieben sind, waren es gleichwohl ebenso kleinere Dinge, die die damals 41-jährige Eva Apitz ob der Wende in ihrem Leben glücklich stimmten. Insofern war es ihr und ihrer Familie ebenso 229 In dieser Protestaktion wurde an der Übergangsstelle von Worbis nach Duderstadt symbolisch und als gemeinschaftlicher Akt mit Koffern ein Grenzübertritt inszeniert. Mit dieser Aktion erhoffte man sich zu jener Zeit, als die Wiedervereinigung noch keineswegs beschlossene Sache war, vom Lokalen ausgehend, gesellschaftlichen Druck zu erzeugen, mit der die Trennung der beiden deutschen Staaten endgültig überwunden werden sollte.

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ein großer Wunsch und zugleich ein besonderes Gefühl von Glück, die westliche Konsumwelt, die sich direkt vor ihrer Haustür eröffnete, gemeinsam entdecken und ausprobieren zu können. Das Erleben der westlichen Konsumwelt und die Verwirklichung eigener Konsumwünsche – besondere Lebensmittel für sie und ihren Mann sowie besondere Spielsachen für die Kinder – machten ihnen, wie sie amüsiert feststellte, die 100 D-Mark Begrüßungsgeld (IA/1:19) nicht nur möglich, sondern letztlich auch besonders schmackhaft 230 – mit dem letztendlichen Wissen darum: Uns haben 5 km getrennt und es war eine total andere Welt. Nicht zu fassen, nicht nachzuvollziehen heute mehr (IA/1:20). Wie anders ihr die Welt westseitig der Grenze und ihres Wohnortes vorgekommen sein muss, gibt sie noch an einer anderen Stelle ihrer Erzählung zu verstehen, als sie von Seminaren spricht, die sie Anfang der 1990er-Jahre mit Frauen von Handwerksmeistern aus Niedersachsen und [Frauen] hier aus der DDR [besuchte] (IA/1:18). Hierbei hat sie nicht nur erstaunt feststellen müssen, was (Stimme wird leiser) die Wessi-Frauen alles machen (ebd.), womit sie vor allem den legeren und konsumorientierten Lebensstil der kennengelernten Frauen aus Westdeutschland meinte. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang zudem, wie sie sich zusammen mit den anderen Frauen aus Ostdeutschland beim Kennenlernen der Frauen aus dem Westen richtig auch Respekt verschafft [hat] (IA/1:18). Aus dieser gegenseitigen Annäherung und Respektverschaffung zwischen Ost und West auf persönlicher Ebene resultierte am Ende sogar eine gemeinsam organisierte Fahrt aller Meisterfrauen nach Hamburg […] ins Phantom der Oper (ebd.). Die Fahrt ist ihr nicht nur aus dem zuvor geschilderten Grund erwähnenswert. Sie ist es auch, weil sie hiermit zu unterstreichen versucht, wie das Zusammenwachsen der kurz zuvor noch geteilten beiden deutschen Staaten in zwischenmenschlicher Hinsicht bereits Früchte trug. Ihr ist die Hamburgreise ebenso wichtig zu erwähnen, weil sie während des Hamburgaufenthalts die Stadt als solche, aber vor allem die Räumlichkeiten der Musicalaufführung derart beeindruckt hatten, dass sie sich – aus ihrer körperlich-lebendigen Erinnerung heraus gesprochen – nicht mehr bewegen konnte und dagesessen [hatte] wie gelähmt (IA/1:18). Viel eindrücklicher als jene Erlebnisse war jedoch der Moment, in dem ihr erst richtig bewusst wurde, wo sie denn eigentlich ist: Ich, ich aus der DDR. Ich bin in Hamburg. Ich bin hier in Hamburg im Musical. Ich bin IN HAMBURG (ebd.). Bei aller Euphorie, welche sich bei der Befragten in den Monaten und Erlebnissen nach dem Mauerfall und dem Öffnen der Grenzen einstellte, gingen mit der Wende für Eva Apitz gleichwohl nicht nur positive Lebenswendungen einher. Neben der Hinzugewinnung von Handlungsmöglichkeiten und zahlreichen Erlebnissen sowie Freiheiten brachte die Nachwendezeit aber auch einige Probleme mit sich. Damit ist nicht so sehr der Umstand angesprochen, dass die Interviewte zum 230 Das Amüsieren über ihre dahingehend gemachten Wendeerfahrungen findet in einer hierauf erzählten Geschichte ihr Höhepunkt, als die Interviewte darüber berichtet, welch ein Fest es für sie, ihren Mann und ihre Kinder war, drei Dosen Ananas und […] drei Becher Schlagsahne (IA/1:21) gegessen zu haben, worauf eines der Kinder meinte (und hier beginnt die Interviewte lautstark an zu lachen): kein Zonenobst mehr essen [zu wollen] (IA/1:22).

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Zeitpunkt des Geschehens gerne 20 Jahre jünger gewesen wäre (IA/1:24). Damit sind vielmehr all die Ungewissheiten und Unsicherheiten gemeint, sich nun in dem Ganzen […] zurechtzufinden (ebd.). Wie schwierig sich das Zurechtfinden für sie persönlich gestaltete, macht sie vor allem daran deutlich, wie schlagartig umkämpft für die damals bereits über 40-Jährige der Arbeitsmarkt wurde, auf dem sie und ihr Mann und ihr gemeinsam geführter Familienbetrieb erst einmal ankommen mussten. Als gelernte Handelskauffrau und mithelfende Ehefrau (IA/1:25) ergab sich für sie ferner die Problematik, bei drohender Arbeitslosigkeit zunächst keinerlei Anspruch auf Sozialhilfe zu haben. In gleicher Weise konnte sie aufgrund ihres nicht entsprechend vergüteten Anstellungsverhältnisses in der DDR – prospektiv gesprochen – auf keine angemessene Rente hoffen (ebd.). 231 So meint sie im resümierenden Rückblick auf die Zeit vor und nach 1989 dann auch eher ausgleichend bilanzieren zu müssen: Es war in der DDR nicht alles gut, es war mehr negativ als positiv. Und es ist heute auch nicht alles gut, aber auch das mussten wir erstmal lernen (IA/1:25). Dass sie in den Nachwendejahren immer mehr lernte, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen, zeigt sich u. a. daran, dass sie ob der Anpassungsschwierigkeiten, die viele Ostdeutsche dieser Zeit hatten, letztlich nicht untätig blieb. So versuchte sie sich in der Unübersichtlichkeit der neuen Welt, vor allem der (neoliberalen) Arbeitswelt zurechtzufinden, indem sie zusammen mit ihrem Ehemann Initiative für den familiären Betrieb ergriff und sich für ihn stark machte. Ihre Bereitschaft sich in die neuen Verhältnisse einzubringen, zeigte sich vielmehr aber auch an ihrem eigenen Engagement, sich und andere weiterzubringen. Neben dem Eigenengagement, sich beruflich durch Weiterbildungsangebote im kaufmännischen Bereich weiterzubringen, hat sie es ferner gewusst, sich ebenso durch zivilgesellschaftliches Engagement für andere in ihrem sozialen Umfeld einzusetzen. Im Hinblick darauf ist insbesondere ihr politisches Ehrenamt zu sehen, das sie über viele Jahre hinweg aktive lebte und pflegte, und in dem sie versuchte, das Dorf und die umliegende Region, die durch die DDR-Zeit, aber auch die Wendeereignisse und ihre Folgen mitunter auch ein bisschen gespalten [waren] (IA/1:27), wieder ein wenig näher zueinander zu bringen. Hierein fällt schließlich auch eine Tätigkeit, die sie bis heute begleitet und die sie immer wieder auch (im positiven Sinne) umtreibt, weil sie ihr in gewisser Weise zu einer Herzensangelegenheit geworden ist. Am Anfang als Strukturanpassungsmaßnahme während ihrer späten Orientierungsphase auf dem Arbeitsmarkt begonnen (IA/1:26), ist ihr die Geschichts- und Erinnerungsarbeit im ortsansässigen Grenzlandmuseum nicht nur zu einem (ihre Rente aufbessernden) Nebenverdienst, sondern vor allem auch zu einem zentralen Lebensinhalt geworden. Die Erinnerung und das Gedenken an die Zeit vor 1989 und der (Grenz-)Verhältnisse war Eva Apitz von Anfang an ein großes Anliegen. Obwohl es ihr heute 231 Da es in der DDR in Fällen sonstiger bzw. selbstständiger Erwerbstätigkeiten kein Lohnabhängigkeitsverhältnis unter Ehepartnern geben konnte, hat Eva Apitz auch nichts verdienen können (IA/1:25), wie sie selbst anmerkt. Obwohl sie mit einem Mindesteinkommen von 300 Mark von ihrem Mann rentenversichert wurde, konnte ihr Anspruch auf Altersvorsorge, gemessen an ihrem Grundeinkommen in der DDR, somit letztlich nur klein ausfallen (ebd.), was für sie persönlich zum Problem wurde.

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als vollkommen selbstverständlich erscheint, Erinnerungsorte, wie das Grenzlandmuseum samt materieller Überreste des Grenzregimes zu haben, hielt sie es, wie viele andere, nach dem Mauerfall noch für wenig sinnvoll, geschweige denn für notwendig, Überbleibsel der trennenden und schmerzlich erlebten Geschichte für die Nachwelt zu bewahren: Nach der Wende hätte ich auch nicht da dran gedacht. Nach der Wende war ich genau der Meinung wie tausende andere Leute: weg weg weg mit der Grenze, wir wollen das nie wiederhaben, nie wiedersehen, nie wieder daran erinnert werden (IA/1:39). Trotz der Freude über den Fall der Mauer und dem gleichzeitigen Bestreben alles Gestrige dem Vergessen anheimfallen zu lassen, stellte sich bei Eva Apitz denn schnell auch die Einsicht ein: Wie will ich wem was erzählen, wenn ich es nicht zeigen kann […] Da ist es, da ist es, nicht nur zum Hören, da ist es auch zum Sehen, zum Teil zum Anfassen. Und dann kann man das auch verständlich machen (IA/1:39). Ihrer Meinung nach ist es überaus wichtig, dass eine Erinnerung an die DDR und ihrer Grenzsysteme bestimmter Relikte und somit auch einer gewissen Anschaulichkeit bedarf. Denn am Ende muss man die Vergangenheit doch auch ein bisschen nachempfinden können, um sie auch plausibel erzählen zu können, so ihre Begründung. In diesem Moment ihrer Erzählung bemüht die Interviewte abermals einen Vergleich, der vor ihrem eigenen biographischen Hintergrund und eigener (Glaubens-)Überzeugungen, nicht allzu weit hergeholt scheint: Was hätten sie denn, was hätten sie für eine Vorstellung jetzt äh, sag ich mal ganz was anderes äh (...) Franz von Assisi. Ist Ihnen sicherlich (...), sagt ihnen was. Was hat der uns gegeben? Die Weih(...), Krippendarstellung, Geburt Jesu im Stall. Wenn der, wenn wir nie ne Weihnachtskrippe (...) was hätte man denn dann für eine Vorstellung? Wie wollen sie denn Kindern erklären, Jesus ist im Stall geboren, oder oder (...) Da bauen wir den Stall auf und die Figuren alles, ne. Und genauso ist es das mit so einem Museum. (IA/1:39)

Um Geschichte verständlich und die Erinnerung hieran lebendig zu halten, braucht es einen Anknüpfungspunkt, ein Setting, mithin einen Ort (s. Assisi-Beispiel), an dem sich die Erinnerung festmachen kann. Denn: Wenn ich das alles nicht zeigen kann, dann kann ich es auch ganz schwer erklären. Können sie mir ja sagen: ja, du kannst mir ja viel erzählen. Drei Meter Zaun, was soll denn das? Zum Beispiel (IA/1:39f.). Wie wichtig ihr der Ort in der DDR- und Grenzerinnerung ist, zeigt sich nicht nur an den authentisch hinterlassenen Schauplätzen der Geschichte – erhaltene Teile der ehemaligen Grenzanlagen oder Aussichtstürme an der Grenze –, welche zusammengenommen, so die Ansicht der Interviewten, Anschaulichkeit und Nachempfindung schließlich erst gewährleisten können und welche derentwegen auch entsprechend gepflegt werden müssten.232 Die Bedeutsamkeit der räumlich bezeugten Vergangenheit zeigt sich aber in gleicher Weise an den neu, mithin künstlich geschaffenen Orten des Gedenkens, die das Erinnern ihrer Meinung nach ebenso stützen und befördern können. Hierzu zählen laut Eva Apitz u. a. Denkmäler, wie z. B. das West-Östliche Tor ganz in ihrer Nähe, bei dessen 232 Entsprechend verärgert zeigte sich die Interviewte bei der Ortsbesichtigung (zweiter Interviewtermin), als sie über Spuren von Vandalismus stolperte, wie sie sie zusammen mit ihrem Mann am erhaltenen Aussichtsturm erblicken musste (vgl. IA/2:61).

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Einweihung sie neben Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow auch selbst anwesend und ob des großen Gedenkaktes auch überaus beeindruckt war (IA/2:57). Sowohl die artifiziell geschaffenen als auch die authentisch geschützten Orte der Vergangenheit dienen der Interviewten zufolge gleichermaßen zur Bewahrung und zugleich auch zum stetigen Anstoß zum Erinnern, und somit Nicht-Vergessen von spezifischen ortsbezogenen DDR-Vergangenheiten. Für die Befragte kommt dabei jedoch insbesondere der lebendig getragenen Erinnerungsarbeit eine besondere Rolle zu, als sie zusätzlich zu den bewahrten Orten, die Geschichte ferner erst zu vermitteln hilft. So betont sie vor dem Hintergrund aktuell bestehender Grenzen und Grenzkonflikten in der Welt (IA/1:24), z. B. im Gazastreifen oder in Korea, die gegenwärtig gegebene Wichtigkeit der Arbeit des Grenzlandmuseums, und so gesehen, auch der eigenen. 233 Dass die Arbeit an der Erinnerung ihr Leben ist (IA/1:30), dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass es letztlich ihre eigene Lebensgeschichte ist, die sich mit ihrer Arbeit am Grenzgedenken unmittelbar verknüpft. Ihr Leben ist es vielmehr auch deswegen, weil sie neben dem unermüdlichen Drang sich vor Ort im Grenzlandmuseum, egal ob an der Kasse, putzend im Haus oder eine Führung gebend, aktiv einbringen zu wollen, ebenso den Drang verspürt, anderen, vor allem jüngeren Menschen, die die Grenze und die deutsche Teilung nicht unmittelbar erlebt haben, die Möglichkeit zu geben, etwas darüber im persönlichen Gespräch zu erfahren, stets von der Absicht begleitet, dass unsere 234 Geschichte erhalten wird (IA/1:30). Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Eva Apitz in Führungen, die sie auch mit Schulklassen unternimmt, immer auch bereit, Persönliches […] preiszugeben (ebd.). Denn, so schiebt sie späterhin nach: man [darf das] einfach nicht vergessen, insofern kann man eigentlich nicht genug darüber reden, drüber wissen, drüber weitergeben (IA/1:37). Umso mehr überrascht oder verärgert sie es zum Teil auch, dass insbesondere bei den Leuten vor Ort, d. h. den ehemaligen Grenzlandbewohnern, eine fehlende Bereitschaft oder teils auch falsche Vorstellung darüber existiert, was das Museum und seine erhaltenen Grenzorte vermitteln wollen. Dass Erinnerungsorte235 am Ende wirklich das A und O [sind] (IA/1:40), zeigt sich über die gesellschaftlich geleistete Erinnerungsarbeit und der damit verbundenen Sensibilisierung für den kollektivierten Gedächtnisgegenstand DDR aber schließlich auch daran, wie die Interviewte das Thema Grenzerinnerung inner233 In diesem Zusammenhang berichtet sie von Museumsbesuchern aus Südkorea, wie sie sie schon einmal im Museum treffen durfte, und die mit Blick auf ihre eigene bestehende Abgegrenztheit und vor dem Hintergrund der museal präsentierten Grenzüberwindung Deutschlands überaus emotional reagierten, was wiederum auch die Interviewte persönlich sehr bewegte (IA/1:24). 234 Mit dem Kollektivsingular unsere meint die Befragte nicht allzu sehr die gesamte DDR-Gesellschaft adressieren zu wollen. Vielmehr nimmt sie hier auf die lokale Gemeinschaft und auch, wie noch im Folgenden sichtbar wird, auf die eigene Familie dezidiert Bezug. 235 Der hier von ihr selbst benutzte Begriff weist einige Übereinstimmung zum ursprünglich von NORA (1990:26ff.) benannten Begriff der lieux de mémorie auf, zumal sie nicht nur physisch lokalisierbare Orte (wie bspw. Denkmäler) hierunter subsumiert, sondern eben auch Textdokumente, wie Familienalben oder gemalte Bilder von den Kindern und Enkelkindern.

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familiär immer wieder zum Thema werden lässt. Dies offenbarte sich vor allem bei der Grenzwanderung (zweite Interviewphase), in den Momenten, an denen sie darüber nachzudenken begann, wie bedeutsam es für sie ist, diese Orte zu haben, sie zu besuchen und wie stark sich die eigene Familiengeschichte eigentlich mit diesen Orten verbindet und wie bedeutsam es ist, diese Geschichte an und mit jenen Orten in der eigenen Familie weiterzugeben. Ihrer Ansicht ist es demnach auch: einfach wichtig, dass ich auch den Kindern zeige, wo wir herkommen, was mal früher für uns wichtig und interessant war, dass sie überhaupt ihre nähere Umgebung kennenlernen. […] Und dass man nicht weiß, dass man vor der Haustür auch ein landschaftlich sehr schönes Fleckchen hat. Und das ist ja eigentlich unsere Geschichte, die die Kinder auch wirklich kennen sollten. (IA/2:44)

Die landschaftlich schönen Fleckchen, die die Interviewte zusammen mit ihrem Mann während der Grenzwanderung hervorzuheben und auch zu besuchen weiß, verbinden sich zugleich aber auch mit weniger schönen, teils wunden Punkten in der biographischen Ortserinnerung. 236 Ob dies das Gedenken an den verstorbenen Vater ist, dem fernab des traditionellen Totengedenkens zusätzlich dadurch gedacht wird, indem man die von ihm gepflanzten Obstbäume als sein Vermächtnis (IA/2:45) und zugleich auch als seinen personifizierten Erinnerungsort ansieht, den man zusammen mit den Kindern und Enkelkindern immer wieder aufsucht und besucht. Oder ob das eine Kapelle ist, die während des zweiten Interviews besucht wurde, an der die innerdeutsche Teilung unweit entfernt entlang führte, und die nach der Wende vielerlei Spuren der Ortsvernachlässigung und -verwüstung an sich trug und an der nun die Wiedervereinigung des lange grenzüberschreitenden religiösen Brauchtums (hier: Markusprozession) zwischen der ost- und westseitigen Kirchengemeinde seine Freilegung, Wiederbelebung und ortsbezogene Pflege erfuhr. 237 Oder ob das die Gegend rund um den sogenannten Lindenberger Kluß ist, an dem sich früher die Dorfjugend (IA/2:64) traf und an dessen markantem Platz nun die eigene Geschichte und die anderer wieder mit den Nachfahren gemeinsam begangen und rückverortet werden kann. Oder ob es die lang unzugänglichen Wiesen und Felder rundum die Grenze sind, einschließlich der ehemaligen eigenen Ländereien, die nun zusammen mit den Enkeln auf dem Fahrrad durchfahren werden können, alles das ruft ihr immer wieder ins Gedächtnis, welche bewegenden Zeiten – sowohl im negativem aber auch im positiven Sinne – es für sie und ihre Angehörigen waren. Diese Erinnerungsschauplätze bewegen Eva Apitz denn letztlich erst immer wieder dazu, von eben jenen selbst bewegenden Lebensmomenten, die sie unmittelbar mit der Grenze und einzelner Grenzorte teilt, Bericht zu geben. Immer dann beginnt sie ihre ortsbezogenen Erinnerungen zu erzählen, von denen sie meint, es könnte ihren Kindern und Enkelkindern nicht nur ein Stück Geschichte, sondern auch ein Stück Heimat vermitteln. Eine Heimat, die sie

236 Vgl. TILL (2012) oder die Ausführungen in Anm. 136. 237 Die obendrein aber auch dem erwähnten West-Onkel ein Ort des Zurückkehrens und zugleich Erinnerns gab, insofern er jedes Jahr aus Dankbarkeit, da drüber, dass er wieder nach Hause kam […] um das Kreuz [der Kapelle] […] ein Rosenstrauß [band] (IA/2:68).

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lange, wenn überhaupt nur in der eigenen Familie und erst spät in ihrer eigentlichen Heimat finden konnte. Nach der rekonstruktiven Fein- und Sequenzanalyse der lebensgeschichtlichen Erzählung Eva Apitz' bleibt nun an dieser abschließenden Stelle zu fragen, welche Spur die DDR und die Grenze in ihrer Erinnerung insgesamt gesehen hinterlassen hat. Lässt man die zuvor unternommene geohistorische Spurensuche Revue passieren, dann hat die spurengeleitete Suche mit und anhand von Eva Apitz wiederum selbst diverse Spurenfunde zutage gefördert. In ihrem Falle hat sich gezeigt, inwieweit die DDR lange Zeit das ganz Normale (IA/1:23) für sie darstellte. Eine Normalität, in der und mit der sie quasi einfach zu leben versuchte, insofern man sich so gut wie möglich in das Ganze einbrachte (ebd.). So führten sowohl ihre narrativ gespurten Erinnerungen (erstes Interview zu Hause) als auch ihre szenisch erinnerten Spuren (zweites Interview an der Grenze) immer wieder zu dem Alltäglichen und Gewöhnlichen zurück, was die Umgrenztheit und Eingeschränktheit ebenso dokumentierte wie das Einleben hierin und deren Arrangement damit. Ungeachtet dessen, dass Eva Apitz die Grenze und ihre eigene Lebenslage von Kindesbeinen an nicht anders als unhinterfragt hinnehmen musste und auch weitestgehend hinnahm, waren es vereinzelte vom Normalen und den elterlichen Ansichten abweichende Handlungen, mithin besondere, nicht-alltägliche Grenzerlebnisse, wie z. B. dem unerlaubten Mitbringen der Freundin ins Sperrgebiet, die ihr ein Ventil gaben, aus dem unentrinnbaren Grenzalltag auszubrechen, kurzum: etwas Anderes zu machen. Fernab des normalisierten Alltags waren es zum einen die Familie und zum anderen der Glaube, welche ihr jeweils das Einleben in ihre persönliche Grenzsituation fortwährend zu bewerkstelligen halfen. Wie die religiösen Deutungs- und Erzählmuster im Erinnerungsinterview gezeigt haben, hat ihr nicht zuletzt auch die Religiosität und der Glaube an Gott die notwendige Kraft, Widerständigkeit und auch Überzeugung geben, in Zeiten sozialistischer Konformität etwas im Kleinen auch anders denken oder machen zu können. Die Familie, die eine besondere Stellung im Gesellschaftssystem (als Sonstige) und bei ihr selbst einnahm, gab ihr wiederum den Halt und auch die Heimat, die ihr die DDR nie wirklich geben konnte. Neben der in ihrer Nähe befindlichen Familie war es zudem die ferne, weniger leicht erreichbare Familie im Westen und die familiäre Westorientierung insgesamt, die ihr immer auch das Andere (Mögliche) vor Augen führte sowie andere Sichtweisen auf das Eigene offerierten. Anlässe, eine andere Sicht auf ihre gewohnten wie bewohnten Raumverhältnisse zu bekommen sowie ihre auferlegten Grenzen selbst überschreiten zu können, gab es für Eva Apitz während ihrer gelebten DDR-Zeit – es waren 40 Jahre – nicht viele, sodass erst mit dem großen Grenzüberschritt, der Wende, die verschüttete Sehnsucht nach dem Westen, nach dem anderen Leben offen zutage treten konnte – mit all den Unübersichtlichkeiten, Ungewissheiten und auch Orientierungsschwierigkeiten, die sich für sie im Zuge dessen einstellten. Und dennoch: Mit der Wende im Leben Eva Apitz' wurde ihr nun all das ermöglicht auszuleben, was ihr vorher allenfalls als Traum- oder Wunschvorstellung in den Sinn kam. So eröffneten sich für sie Türen in die fernnahe Welt und damit verbunden ganz neue Ortsansichten, u. a. auch auf die eigene Lebenswelt, was teils unheimliche sowie vorher nicht gekannte Gefühle in ihr her-

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vorrief. Darüber hinaus eröffnete sich für sie durch die Zäsur 1989 überhaupt erst die Möglichkeit, über das Vergangene, das eigene mehr oder weniger normale Leben an und mit der Grenze/DDR tiefgründiger nachzudenken. Im Nachdenken über die DDR-Vergangenheit und der hierin selbst erlebten Zeit- und Raumverhältnisse kommt sie schlussendlich zu der Einschätzung, dass die Veränderung (Wende) im gesellschaftlichen wie eigenem Leben etwas Besonderes bedeutete (IA/1:18), was allen voran die jüngere Generation nicht alles so selbstverständlich hinnehmen [sollte] (IA/1:18). Das geht am Ende ihrer Meinung nach nur, wenn man gemeinsam, d. h. generationsübergreifend an der DDR-Erinnerung arbeitet, und das geht letzten Endes am besten, indem man sie gemeinsam an und mit den Orten pflegt (IA/2:73). 8.2

Zur Rekonstruktion der Erinnerungsspur von Karl Westhäuser

Karl Westhäuser lebt seit 48 Jahren in Coburg, einer Stadt in Bayern, nahe der Grenze zum Nachbarbundesland Thüringen. Kurz nach der Anfrage zu einem Interview macht er sogleich deutlich, dass er gerne über seine eigenen Erfahrungen mit der innerdeutschen Grenze und [den] vielfältigen Erlebnissen im Zusammenhang mit der Grenzöffnung 238 berichten möchte. Mit der Entschiedenheit, mit der Karl Westhäuser seine Gesprächsbereitschaft bereits im Vorfeld signalisierte, mit genau eben dieser Entschiedenheit trat er auch in die nachfolgenden Interviews ein. Bevor es jedoch dazu kommen konnte, ließ er der ersten Kontaktaufnahme und seiner Interviewzustimmung noch einen Erfahrungsbericht folgen, in welchem er (sowohl im E-Mail-Austausch als auch übers Telefon) den Interviewer bereits über die für ihn wichtigsten Grenzerlebnisse in Kurzform informierte. Ohne einen Bruch, sollte sich diese Bereitschaft zur Auskunft im ersten Interview, das ein paar Wochen später bei ihm zu Hause stattfand, nahtlos fortsetzen. So begann Karl Westhäuser, nach der persönlichen Begrüßung, auf die Frage nach seiner Lebensgeschichte hin, ohne großes Vorgerede, an zu erzählen: Nun ja. Muss ich mich erst mal, ähm 78 Jahre zurückversetzen. Ich wurde 1936 in Streufdorf geboren, nen Dorf in Thüringen. Meine Eltern haben ein Gemischtwarengeschäft gehabt; Kolonialwaren hieß das damals, mit Lebensmitteln, Düngemittel, Bauartikel, Kohlen, alles rundum äh, was man so gebraucht hat. […] wir war'n, wir war'n der Kaufmann, mit Hausnamen auch. Und bei uns hat jeder alles bekommen, der Landwirt, die Hausfrauen oder die Handwerker. Es gab einfach ALLES. Was se in der ganzen Umgebung in den nächsten Städtchen oder so, Rodach, Römhild, Heldburg, gar nicht unbedingt bekommen haben; die waren zwar größer, aber mit kleineren Geschäften; bei uns gab's einfach ALLES […]. (IW/1:1)

In dieser einleitenden Erzählsequenz gibt Karl Westhäuser in wenigen Worten und in klassisch-biographischer Manier Auskunft darüber, in welcher Zeit und Gegend er geboren wurde und wie seine Familienverhältnisse waren, in denen er seit Kindesbeinen an groß wurde. Zum Zeitpunkt seiner Geburt, als die nationalsozialis238 Aus der E-Mail-Korrespondenz mit dem Interviewten vom 23.9.2014; im Folgenden mit EKW abgekürzt.

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tische Machtergreifung bereits drei Jahre her war, betreiben seine Eltern ein gut laufendes Gemischtwarengeschäft, was sein Großvater zuvor in Streufdorf aufbaute. Seine Eltern und Großeltern sind zu dieser Zeit angesehene Kaufleute im Dorf, die nicht nur die Ortsbevölkerung, sondern auch einzelne umliegende Gemeinden mit allem Möglichen versorgen. Wie stark sich die kaufmännische Tätigkeit der Familie mit der fremd wie eigen zugeschriebenen Selbst-Identität verknüpfte, wird daran deutlich, dass der Interviewte bereits früh den Namen Kaufmannsbubi (IW/1:32) zugesprochen bekam. Mehr noch sollte sich die Familiengeschichte auch in Zukunft, im Sinne einer Kaufmannsfamilie fortschreiben, insofern es ihm – als Nachkömmling – oblag, einmal das Geschäft [zu] übernehmen (IW/1:1). Noch während des Zweiten Weltkrieges kommt Karl Westhäuser in die Schule. Über das Jahr seiner Einschulung (1942) wie auch über die restlichen Kriegsjahre verliert er über die ganzen Gespräche hinweg allerdings nur wenige Worte. Obgleich sicher dem Umstand geschuldet, dass er sich zu dieser Zeit erst im mittleren Kindesalter befand, kommt seine lebensgeschichtliche Erzählung gewissermaßen erst ab da richtig in Fluss, als er beginnt, einzelne Erinnerungen aus der Nachkriegszeit und seiner beginnenden Jugendzeit zu erzählen. 239 So erfährt man, der lebensgeschichtlichen Dramaturgie weiterfolgend, dass er von 1947 an als Tagesschüler die reformpädagogisch ausgerichtete Hermann-Lietz-Schule im benachbarten Haubinda besuchte, bevor diese aufgrund der grenznahen Lage 1950 geschlossen wurde (IW/1:1). Nach der Schulzeit nimmt Karl Westhäuser, auf Ratschlag seines Vaters, der meinte, ein Handwerk hat goldenen Boden (IW/1:1), Anfang der 1950er-Jahre eine Herrenschneiderlehre auf. Da in der Nachkriegszeit […] alles möglich [war] (IW/1:2), womit er im Wesentlichen die Ungewissheiten in Bezug auf die politische Situation (Besatzung, deutsche Staatengründungen) meinte, sollte ihm diese Lehre ein zweites Standbein (IW/1:2) verschaffen, um in den unsicheren Zeiten ggf. eine weitere Sicherheit (zusätzlich zu dem Geschäft der Eltern) in der Hand zu haben. 240 Und trotz aller Unsicherheiten und Ungewissheiten mit Blick auf die eigene Zukunft, gibt der Interviewte hierauf gleichwohl zu verstehen, in der Zeit nach 1945 ein einigermaßen ruhiges Leben und vernünftiges Leben gehabt zu haben (IW/1:2). So führt er aus, dass seine Familie in der Nachkriegszeit die Möglichkeit hatte, neben den Einkünften aus dem Geschäft ebenso kleinere Erträge aus einer eigenen Nebenerwerbslandwirtschaft zu beziehen (IW/1:2), was ihm 239 Dies mag sicher auch damit zusammenhängen, dass ihm durch das Briefing (Anschreiben, Telefonat) im Vorab implizit Vorgaben dafür gemacht wurden, wie er seine biographische Darstellung entwickeln könnte. Angesichts des Erzählens der eigenen Lebensgeschichte in anderen (gewohnteren) Kontexten, ist es aber auch wahrscheinlich, dass die in sich geschlossen wirkende Geschichte […] durch häufige Wiederholung immer konstantere Strukturen [angenommen hat] (JUREIT 1999a:88), was nichts Anderes heißt, dass seine derart vorgenommene lebensgeschichtliche Gewichtung einen manifesten Ausdruck dessen darstellt, wie er üblicherweise gedenkt, Schwerpunkte innerhalb seiner Narration zu setzen. 240 Die Sicherheit bestand hierin, im Fall der Fälle zu seinem Onkel nach Düsseldorf zu gehen, dem dort eine Herrenschneiderei gehörte. Inwiefern er auf diese Option späterhin tatsächlich zurückgreifen musste, wird sich im Folgenden noch zeigen.

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zufolge insbesondere bei der stark reglementierten Rationierung von Lebensmitteln eine gewisse Erleichterung brachte. Darüber hinaus hatte man sich in der Zwischenzeit irgendwie auch an den Druck von oben gewöhnt (IW/1:2), was ihm das Leben so gesehen einfacher bzw. ruhiger erscheinen ließ. Mit dieser Aussage versucht der Interviewte alles in allem darauf hinzuweisen, dass es seiner Familie dieser Tage, trotz schwieriger Verhältnisse, gelang, mit den gegebenen Umständen leben und auch umgehen zu können; unterschieden sie sich doch nicht wesentlich von denen zuvor, wie sie sie im Dritten Reich erlebten, als man gleichermaßen Erfahrungen von Knappheit, Repression und Obrigkeitsstruktur machen musste, wenngleich in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Qualität. So klar und schlüssig die Erzählung Karl Westhäusers, ungeachtet ihrer Auslassungen in der Erinnerung an die Kriegszeit, bis hierhin erscheinen mag, so abrupt kommt sie ins Stocken, als er plötzlich auf ein Erlebnis zu sprechen kommt, dass sein Leben und das seiner Familie von heute auf morgen verändern sollte. Und dann kam […] wohl der einschneidendste Tag für viele im Grenzgebiet (IW/1:2). 241 Wie einschneidend dieser Tag für ihn gewesen sein müssen, lässt sich daran sehen, wie der Interviewte von einem Moment auf den anderen die anfänglich veranschlagte Erzählart verlässt, um dem erzählten Einschnitt bzw. erinnerten Bruch (einschneidendster Tag) nun auch äußerlich Gestalt und Gewicht zu verleihen. Was dies zu bedeuten hat, zeigt sich nicht zuletzt an den sich verändernden körpersprachlichen Signalen, die der Erzähler dem Interviewer plötzlich aussendet. Mit einem starken sich-Räuspern und einem bedächtigen Senken der Stimme 242 beginnt er folgende – hier nur in Teilen gekürzte – Erzählsequenz auszubreiten, die sein Umschwung in der narrativen Darstellung letztlich zu erklären vermag: [G]egen morgens um vier (Pause) hat man plötzlich (...) war Unruhe im Dorf. Streufdorf nen Ort mit gut elf hundert, knapp zwölf hundert Einwohnern damals. Wir hatten damals auch ne Menge Flüchtlinge aus nen Ostgebieten, sogenannte Umsiedler (Pause) mhm, die Bombenevakuierten ausm Ende des Zweiten Weltkrieges ausm Rheinland. […] plötzlich an dem 5. Juni ohne irgendwelche Vorwarnungen kam da Unruhe ins Dorf, ich mein die Bauern müssen ihr Vieh (...) 5 oder um 6 Uhr stehen auf, wahrscheinlich meistens und müssen ihr Vieh füttern und dann merkt man doch, beim Nachbarn stimmt irgendwas nich. Da standen vor den Häusern von acht Familien Lkws; […] Und die standen vor den Häusern und dazu einige bewaffnete und auch ein paar Helfer. Und man hat den Leuten klargemacht, klar zu machen versucht: sie müssten innerhalb von wenigen Stunden, von zwei oder von vier, von vier Stunden war glaub ich zuerst die Rede, ähm alles verlassen, sie würden irgendwo umgesiedelt, wohin, das hat ihnen keiner gesagt; (Pause) nach einem Beschluss der Regierung der DDR, gab kein richterlichen Beschluss, gar nichts. Und das hat natürlich für unheimlich viel Unruhe gesorgt. Die Nachbarn ham das gemerkt. Manche sind zum Nachbarn und ham sich da irgendwie um Hilfe gebeten oder so. Und in so nem Ort spricht sich das natürlich sofort rum, da kommt so viel Unruhe auf, ja, merkt das jeder. Ähm später wurden dann die Glocken geläutet. Nicht nur die große Glocke im Turm, sondern auch so ne, die kleine Alarmglocke, die Feuerglocke, wie 241 In einem Bericht, den der Interviewte 2002 anlässlich einer Gedenkfeier schriftlich verfasste, spricht er vielmehr noch vom schwärzesten Tag in der […] Geschichte [seines] Heimatortes Streufdorf und einer der tiefgreifendsten in [seinem] Leben (EBW:o. S.; eig. Herv.). 242 In dem bereits erwähnten textlichen Bericht (siehe Anmerkung zuvor) gibt er sogar offen zu, dass ihm beim Erzählen jener Erlebnisse: Auch heute [noch] […] der Kloß im Hals [würgt] (EBW:o. S.).

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die hieß. So, die hat dann richtig aufgeregt gebimmelt. Und da läuft einfach alles zusammen, was sich auf die Beine machen kann: Männer, Frauen, Kinder; auch die Männer, die die Grenze, an der Grenze abholzen sollten; ich glaub die waren aus dem alten Thüringer Wald, Waldarbeiter. Die sollten Bäume für den 10m-Schutzstreifen (...) da wurde an der Grenze, entlang am 10m-Streifen wurde gerodet, später ist der gepflügt und geeggt worden; […] In diesen Tagen fing das schon an und die war'n bei uns in der Gastwirtschaft einquartiert. Und die waren natürlich genauso äh geschockt und sind genauso auf die Straße gegangen. Dann im Laufe des Morgens kamen dann die ersten Fahrzeuge aus dem Heldburger Unterland, mit Familien, die ausgesiedelt werden sollten. Und ja, wenn da 100, 200, 300 Menschen auf der Straße stehen, da kommt der Lkw nicht durch. (I: mhm) Das waren ganz normale Menschen, die sind dienstverpflichtet worden, die mussten sich nachts um 12 in Hildburghausen melden. Die wussten nicht warum oder was, und sind dann auf die Grenzdörfer verteilt worden. Ähm ja und als der erste stand, hat sich das dann angesammelt, weil dann keiner mehr durchkam; das war am Markt, da ist die Straße nicht so breit. Ich mein (???) durch die Menschenmenge schon gar nicht möglich, ähm. Bei jedem Fahrzeug aufm Trittbrett, die hatten da noch außen so Trittbretter gehabt, außerhalb der Türen; einer mit der Knarre, junge Vopos [Volkspolizisten, R. L.], die da auch eingesetzt wurden. Und ich hab das mehrfach erlebt, ich mein, ich stand nicht an der Stoßstange, aber in der Masse mit. Ich mein so, so mutig war ich auch wieder nicht, und auch nicht der Rabauke, der sich da äh mit (...) außerdem ich war 16 Jahre, ich mein, wir waren damals noch große Kinder. Wenn da mal so nen Lkw anfahren wollte, musste, sollte, sobald der von der Bremse weg ist, ist der rückwärtsgefahren, nen Stück. Hat der gemerkt, ah komm, die Leute schieben mich zurück. Der hat ja auch nicht gerade sehr aufs Gas gedrückt, ich mein, das ist ganz klar. Das war ein ganz normaler Mensch. Und es hat sich dann den ganzen, so einige Stunden hingezogen, war schon emotional ziemlich aufregend, ähm, dazu waren noch aus der Parteischule in Erfurt sogenannte Instrukteure und Aufklärer, die sollten die Leute überzeugen, dass das notwendig war, zum Schutze des Friedens, so hieß das, war so nen Spruch, der gar nicht gepasst hat, ja. Ich sag manchmal ähm (...) heute würd man sagen, die hätten deeskalierend wirken sollen und die haben das Gegenteil gemacht. Die ersten acht Familien, es waren ja alles alteingesessene, angesehene Familien, ähm (...) und ich kann mich an eine Szene erinnern, standen nen paar Männer vor dem einem Haus auf der Straße und so nen Instrukteur, und der sagte: diese Elemente müssen aus dem Dorf raus (mit flattriger Stimme). So richtig auf(...), aufreizend oder so. Und da ist ihm mal einer an die Krawatte gegangen und hat nen zurückgestupst, zum Glück nur so (zeigt); hätte auch schlimmer kommen können. Ich mein, wenn der ihm eine ma gescheuert hätte oder er wär gestürzt und wär vielleicht unglücklich gefallen, das wär natürlich furchtbar gewesen, ja (I: mhm). Aber das war nur mal so nen ähm so nen Eindruck, und konnte später das Wort Element nicht hören (lacht). Hab mich irgendwie, ich mein in der Chemie, gut, ist ne andere Geschichte, aber sonst irgendwie, Element, das war (schlägt auf den Tisch) so nen Reizwort. Daraufhin ja und, ich kann mich dann an eine Szene (...), stand ich nicht weit davon, ähm nen bisschen oberhalb vom Marktplatz stand ein Lkw mit einem, mit ner Familie ausm Heldburger Unterland, der hat Baumholz, also Baumstämme aufgeladen, ich weiß nicht, 2 m, 2,5 m lang, irgendwie so runde Rundhölzer, geschälte Rundhölzer ähm (...) Ich hab mich damals schon und heut noch (...), das ihm das so wichtig war, wenn sie so einen kleinen Lkw haben und für ihr Mobiliar, das sie mitnahmen, mitnehmen sollten und konnten und durften, ja. Das ihm das Holz so wichtig war, ich weiß es nicht, jedenfalls, haben plötzlich einige Leute angefangen, die Möbel und die Sachen abzuladen von dem Auto; natürlich auch die Holzstämme und die wurden auf der ziemlich breiten Dorfstraße verteilt, einfach wild durcheinander verteilt. Und nun können sie sich ausrechnen, Rundholz, wenn ein Lkw kommt, der kommt auch nicht drüber. Ich mein, so kräftig (...) waren ja keine Panzer oder was, so kräftig war'n die nicht. Es war schon mal, es war der Anfang eigentlich von den Barrikaden, die man uns bloß nicht nachsagt, die wir gebaut haben. Und ähm der Mann hat sich zwar erstmal dagegen verwehrt; dass man es abgeladen hat, das war (...) der hat im Krieg einen Arm verloren gehabt. Ich hab von ihm auch, damals hat mir, der ist dann nach nen Westen und hat dann

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien eidesstaatliche Versicherung abgegeben, dass er das eigentlich war, dem man da hatte; man hat nen anderen ähm Streufdorfer (...) hat man ihn da mit verwechselt nicht, sondern bewusst verwechselt, der auch einen Arm im Krieg verloren hatte. Und hat ihm da einige Schuld gegeben, dabei hat er, war er eigentlich der Erste, der das so wirklich ähm Widerstand geleistet hat; außer den anderen, die auf der Straße waren und alles blockiert haben. Ich mein, das war ja auch nen Widerstand, klar. Und überhaupt, das war nen Widerstand. Und die Folge dann von, dass die Stämme auf der Straße verteilt waren, da kam nen Anstoß, wir können ja noch mehr hinstellen. Und manche Bauern hatten landwirtschaftliche Maschinen vorm Haus stehen oder im Hof stehen, die wurden auf die Straße geräumt, kreuz und quer. Dann, weiß ich noch genau, der eine Bauer hatte ähm Wurzelstöcke ausm Wald vorm Haus liegen; die ausgegraben worden sind meistens im Winter und dann gespalten worden als Brennholz; die waren also noch ganz große verzweigte Wurzelstöcke; und die sind auf der Straße verteilt worden; weiß ich nicht, alle auf einer Stelle. Ich würde sagen, auf 50 bis 80 m war die Straße total blockiert mit allem möglichen Gerätschaften, mit allem Möglichen; also ein Durchkommen war für die Lkws aus dem Heldburger Unterland war nicht möglich. Und die einzige Straße oder, es gab noch ne Straße über Linden hin so aus, ne ganz ne engere außen rum, aber die war eigentlich unbedeutend. Durch Streufdorf ging die einzige Straße von da unten rauf, die ganze Strecke, es war plötzlich blockiert (I: mhm). Und natürlich für die, für die da oben, ja, war das schon nen bisschen nen Schock. Damit haben die gar nicht gerechnet. Die haben da mitgedacht, die Leute lassen alles mit sich machen. Außer in Streufdorf, hat man sich echt ähm enorm gewehrt; natürlich auch durch das Auftreten der Funktionäre aus Hildburghausen oder Suhl und vor allen Dingen von der Parteischule der SED in Erfurt, die so richtig sich ma so gezeigt haben, so richtig mal die Sau rausgelassen haben, möchte ich mal sagen, ja. Die waren, die kamen ja von weither, die hatten ja keine Beziehungen zu den Menschen hier. Ähm (Pause) Und ich möcht sagen, die haben sich verhalten wie zehn Jahre vorher Besatzer im feindlichen Ausland (I: mhm). Wie sich Deutsche auch in Russland benommen haben oder am Balkan und so weiter; ich mein das sehen wir ständig wieder, ja. Ich mein, nicht ganz so schlimm, aber in der Art; echt rücksichtslos. Na und dann kam dann noch nen Gerücht auf. Ich hab vorhin erwähnt, dass die, dass es eine zweite Straße gab über Linden ähm; plötzlich kommt das Gerücht, in Westhausen, im Nachbarort, hätt man Bäume über die Straße gefällt. Und damit war die zweite (zeigt auf den Tisch), die mögliche Umgehungsstraße auch noch blockiert. Das hat uns echt natürlich auch nen bisschen bestärkt. Und ähm vom Ortsamt in Streufdorf, […] der hat gehört, das von oben, irgendwie von der Partei oder so, die Anweisung kam, dass sie nicht von der Schusswaffe Gebrauch machen sollten. Ich mein, dass kann natürlich auch so nen bisschen ähm Mut machen, sag ich mal. Wichtig ist dabei hier zu sagen, dass die, dass hier überhaupt nichts organisiert war. Der ganze Widerstand in Streufdorf, der hat sich da einfach recht hochgeschaukelt; auch durch die, durch das ganze Auftreten der Parteigrößen, die natürlich dann verstärkt in Streufdorf waren. Ich mein, wo so was vonstattenging, wenn da nur zwei, drei Familien wegkamen, dann (schlägt zweimal auf Tisch) ja Gott, da hat vielleicht jeder Angst hat, dass er der nächste sein könnte und hat sich nicht herrührt. Und bei uns ging das nen bisschen anders her. (Pause) Und auf jeden Fall, ich mein, ich sag manchmal, ich hab nen bisschen Glück dabeigehabt, Glück im Unglück. Ich hab mich nen bisschen weit vor gewagt, am oberen nördlichen Ortsende, in der Maschinen-, Traktorenstation, Vorgänger von der Kollektivierung, von der Kolchose oder LPG [Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft; R. L.], waren Maschinen-Traktorenstationen, Maschinenausleihstation hieß es vor, ja, MTS, MAS, äh da ham die Genossen ihre, ihr Hauptquartier gehabt. Und ich bin da nen Stück Dorf rauf, auf jeden Fall, plötzlich gemerkt, dass an den (schlägt mehrmals auf den Tisch), an der Straße überall Posten standen, von Helfern, von ähm, wenn ich jetzt sag, die Betriebskampftruppen, die sind zwar erst nen paar Wochen später offiziell einge(...), eingerichtet worden, diese Organisation; aber die waren uniformiert in olivgrünen einfachen Uniformen, als Helfer Suhl, Zella-Mehlis, aus den Industriebetrieben, wurden dann abgeordnet, abkommandiert. Und die haben da dafür gesorgt, dass da keiner ähm (...) auch mitgeholfen beim Packen, als Packer und so weiter. Und plötzlich ham

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wir da gemerkt, ich alleine, waren noch mehrere, die ham uns da, die ham da so nen Sack gebildet, und wir konnten nicht mehr zur Ortsmitte zurück, und die haben uns dann abgedrängt, da oben zur der, zu der Hauptdienststelle, sag ich ma, zu der, oder zu dem Stützpunkt in der MAS oder MTS, wie's dann hieß. Und ja wie ich da oben reinkam, es war ein eingezäuntes Gelände, begegne ich wieder oder begegnet mir wieder der Kreissekretär der SED von Hildburghausen. Und der sieht mich und sagt, verhaften se ma den, der ist nen Hauptrabauke. Danke, ne. Ich war 16 Jahre alt. Gut ich war groß. Ich sag manchmal beim Tanzen bin ich für 18 durchgegangen, wenn's hieß um zehn Uhr (I: mhm) unter 18, unter 18-Jährige nach Hause; hat mich gar nicht gestört (lacht). Und das war natürlich, hat er sich nen bisschen verschätzt (schlägt auf den Tisch), ja. Und ich hab mir überlegt, was hab ich dem getan, bis mir nachher einfiel, du hast ja mit dem diskutiert (I: mhm), im Ort, einfach, weil ich nen anderes Demokratieverständnis hatte. Konnt mir nicht vorstellen, dass man sieben Jahre nach Kriegsende noch so mit seinen Mitbürgern umgeht; man (...) überall ne Schule und so weiter, alles von, was diese Sprüche hergeben (I: mhm). Ich mein, wir ham den eigentlich nicht viel geglaubt. Wir haben ihnen einiges zugetraut, aber so schlimm, ham wir's nicht vorgestellt, dass die eigenen Deutschen gegenüber ihren eigenen Landsleuten so sein könnten, niemals überhaupt. (IW/1:3−6)

In der zuvor präsentierten Erinnerungserzählung Karl Westhäusers versammeln sich eng aneinandergereiht all die Erlebnisse, die den einschneidendsten Tag in seinem Leben erklären bzw. in ersten Schritten verstehbar machen. Zunächst mag man an dem Vortragsstil, der – trotz des kurzzeitigen Stoppens zu Anfang – weithin routiniert und eingeübt scheint, erahnen, dass er diesen Auszug aus seiner Lebensgeschichte bereits mehrere Male vorgetragen haben muss. So gibt er dann auch selbst offenkundig zu: [I]ch habe da […] schon öfters berichtet (IW/1:3). 243 Worüber er schon öfters berichtet hat und was ihm trotz alledem immer wieder auch die Stimme verschlägt bzw. einen Kloß in den Hals (EBW:o. S.) setzt: es ist der 5. Juni 1952. Als damals 16-Jähriger nimmt er diesen Tag, auch noch rückblickend als emotional ziemlich aufregend wahr (IW/1:4). Was ihn damals wie heute so emotionalisiert(e), ist nicht so sehr die störerische Unruhe (IW/1:3), die sich am frühen Morgen im sonst so ruhigen und konservativen Ort Streufdorf (IW/1:9) breitmachte. Es ist mehr das Unglaubliche (EKW:o. S.), was sich aus dieser Unruhe heraus entwickeln sollte. Diese Elemente müssen aus dem Dorf raus (IW/1:4). Mit Flattern in der Stimme ist ihm dieser Satz, der das Unglaubliche auf einen Punkt bringt, bis heute besonders fest in Erinnerung geblieben. Bringt er doch nicht nur zum Ausdruck, was die Ursache und der Anstoß aller Unruhe war. Er ist vielmehr auch ein Ausdruck dafür, wofür der Tag bis heute steht: die Aktion Ungeziefer244, unter dessen Namen DDR-weit sogenannte Elemente, d. h. unlieb243 Wie er sich in der Rolle desjenigen sieht, der anderen Bericht gibt und als Zeitzeuge Rede und Antwort steht, darauf wird an späterer Stelle der Interviewauswertung noch genauer Bezug genommen. 244 Mit der sogenannten Aktion Ungeziefer wurden allein im Sommer 1952 in Thüringen mehr als 5.000 Menschen von den Grenzgebieten ins Landesinnere der DDR stabsplanmäßig zwangsumgesiedelt (vgl. BENNEWITZ & POTRATZ 2002:36). Ihr folgte 1961 mit der Aktion Kornblume noch eine weitere Welle von Zwangsaussiedlungen, wovon allerdings eine geringere Zahl von Grenzbewohnern betroffen war. Um einen Eindruck von der damaligen Umsiedlungspraxis zu bekommen, ein Textauszug aus der Anordnung des Chefs der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (Mai 1952) zu den auszuweisenden Personen und Per-

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same bzw. unpassende Grenzbewohner aus den Sperrgebieten 245 zwangsumgesiedelt wurden. In Karl Westhäusers Gedächtnis hat vor allem das Wort Element tief greifende Spuren hinterlassen. Es hat sich für ihn quasi zu einem Reizwort (IW/1:4) entwickelt. Egal in welchen Zusammenhängen es ihm späterhin unterkommen sollte, es stieß ihm stets auf, nicht zuletzt auch körperlich. 246 Er konnte später das Wort Element nicht mehr hören (IW/1:4), da es ihm immer wieder sogleich das Auftreten der Funktionäre vor Augen führte, die sich an diesem Tag seiner Ansicht nach wie Besatzer im feindlichen Ausland [verhielten] 247 (IW/1:5). Die Funktionäre, die sich aus sogenannten Instrukteuren und Aufklärern aus den anliegenden Kreisstädten Suhl und Hildburghausen sowie aus Agitatoren der SED-Parteischule aus Erfurt zusammensetzten, haben die Dorfbevölkerung allen voran durch ihr provokantes Auftreten (EKW:o. S.) aufgebracht, so auch Karl Westhäuser. Fühlte er sich doch gerade durch den Ausspruch und den ihm folgenden Geschehnissen besonders herausgefordert, sich zu erheben, seine Stimme zu ergreifen und letztlich auch sein Unmut kund zu tun. Nicht zuletzt durch sein anderes Demokratieverständnis (IW/1:6), wie er meint, sah er sich veranlasst, gegen das Agieren der Funktionäre vorzugehen, indem er sich als damals 16-Jähriger traute, gegen sie anzureden. Letztlich es war ihm einfach unbegreiflich, wie man sieben Jahre nach Kriegsende noch so mit seinen Mitbürgern umgehen [konnte] (IW/1:6). Umso mehr befürwortete er nicht nur das sich-Entgegenstellen der anderen Dorfbewohner, die sich dagegen wehrten, ihre Nachbarn abtransportiert zu sehen, indem sie begannen, die schon beladenen LKWs wieder abzuladen. Er nahm vielmehr mit Wohlwollen wahr, dass sich im Ort zunehmend mehr aktiver Widerstand entwickelte, insofern viele darangingen, alles Mögliche auf die Dorfstraße zu räumen, um den Abtransport der Umzusiedelnden neben menschlichen auch festere Barrieren entgegenzustellen. Das war der Anfang eigentlich von den Barrikaden […] und überhaupt das war nen Widerstand (IW/1:7). Wenngleich sowohl sein persönlicher Widerstand als auch der seiner Nachbarn weder geplant noch organisiert gewesen war, gipfelte das Aufbegehren der Streufdorfer gegen die Willkür der Staatsgewalt zunächst in einem Teilerfolg: keiner der acht Familien, die zwangsumgesiedelt werden sollten, konnten abtransportiert werden. Dieser Ersonengruppen: Ausländer und Staatenlose, Personen, die nicht polizeilich gemeldet sind, Personen, die kriminelle Handlungen begangen haben und bei denen zu vermuten ist, daß sie erneut straffällig werden. Personen, die wegen ihrer Stellung in und zu der Gesellschaft eine Gefährdung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung darstellen (zit. nach POTRATZ 1993: 62). Die Ankündigung, staatenlose oder kriminelle Menschen aus den Grenzgebieten zu holen, sollte sich schnell als Vorwand erweisen, zumal es am Ende um ganz andere Personenkreise gehen sollte, allen voran um alteingesessene, einflussreiche Einzelpersonen oder Familien, die umgesiedelt wurden (vgl. BENNEWITZ & POTRATZ 2002:37ff.). 245 Siehe hierzu die vorhergehenden Ausführungen in Anm. 219. 246 So meint er in dem via E-Mail zugesandten Erlebnisbericht entsprechend: Bei diesem Gedanken läuft mir heute immer noch ein Schauer über den Rücken (EKW:o.S.). 247 Hiermit sind im Interview im Wesentlichen deutsche Besatzer bzw. Besatzungen auf russischem Boden oder auf dem Balkan gemeint. Interessanterweise spricht er an anderer Stelle ebenso und in gleiche Richtung weisend, von sowjetischen Besatzern (KBW:3), was womöglich mehr aus seiner selbst erlebten (unmittelbaren) Besatzungserfahrung spricht.

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folg währte jedoch nur von kurzer Dauer, denn kurz hierauf zeigte sich die DDR von ihrer hässlichsten Seite (EKW:o. S.). Unter Einsatz von berittener Polizei und Wasserwerfern (IW/1:8) wurde der Widerstand der Dorfbewohner langsam aber sicher zerschlagen. So geriet auch Karl Westhäuser inmitten sich postierender Volkspolizisten, die die aufgebrachte Streufdorfer Bevölkerung nach und nach voneinander in unterschiedliche Teile des Dorfes zurückdrängten. Währenddem wird der Interviewte, und das ist ihm ein weiterer in Erinnerung gebliebener Wortschnipsel, vom damaligen SED-Kreissekretär, der vor Ort anwesend war, als ein Hauptrabauke (IW/1:6) identifiziert, worauf er ihn sogleich abführen ließ. Ohne es in diesem Moment genau gewusst zu haben, 248 weswegen er als Hauptrabauke bezeichnet und abgeführt wurde, findet er sich auf einmal, und an dieser Stelle geht obige Narration unmittelbar weiter, zusammen mit anderen festgesetzt in einer Garage wieder (IW/1:6). Die darauffolgende Nachgeschichte ist schnell erzählt. Karl Westhäuser kommt mit Handschellen gefesselt (IW/1:6) zusammen mit ca. einem Dutzend anderen Männern auf die Laderampe eines LKWs, der sie, so sollte er kurz darauf feststellen, nach Hildburghausen zur Stasi 249 brachte. Zeitgleich zu seiner Verhaftung und seinem Abtransport, dies weiß er aus Berichten, die er sich später hat erzählen lassen oder die er teils in schriftlich niedergelegten Dokumenten in Archiven nachlesen konnte, geht der Widerstand indes zu Ende. Während seiner Abwesenheit wird schließlich auch sein Vater verhaftet, was er nicht nur als eine logische Konsequenz aus seinem widerständigen Verhalten, sondern vielmehr noch aufgrund des Faktes begründet sieht, mit vier Häusern zu vermögend gewesen zu sein (IW/1:8). 250 Er selbst verbringt insgesamt zweieinhalb Tage in Haft, in der er mehrmals unter Androhung von 10 Jahren verhört wurde, sich aber bei Fragen nach etwaiger Mitwisserschaft oder etwaigen Mittätern hartnäckig stur hielt, indem er sich einfach unwissend bzw. dumm stellte (IW/1:7). Als er hierauf ohne Strafe wieder freikommt, sind seine Mutter und seine Schwester schon nicht mehr im Ort. Sie wurden bereits zwangsumgesiedelt, oder wie Karl Westhäuser es auch nennt: zwangsdeportiert 251 (IW/1:3). Nachdem sie erst in ein kleines Nest mit dem 248 Im Nachhinein wurde ihm klar, weswegen er zu den verdächtigten Rädelsführern gemacht wurde: er hatte mit dem SED-Kreissekretär zuvor eine Diskussion geführt, in der er die Geschehnisse vor Ort anprangerte. 249 Seinerzeit wurde der sich erst in den Jahren danach ausbauende Sicherheitsdienst der DDR noch nicht unter dem Namen Staatssicherheit (kurz: Stasi) geführt, sondern als Staatssicherheitsdienst (kurz: SSD) bezeichnet (vgl. IW/1:8). 250 Dass sich diese Vermutung schnell bewahrheitete, macht sich daran deutlich, dass, entgegen fadenscheiniger Anschuldigungen – wie hört RIAS und verbreitet Lügen (IW/1:7; vgl. BENNEWITZ & POTRATZ 2002:38ff.) – zumeist vermögende oder einflussreiche Ortsbewohner direkt von den Zwangsumsiedlungen betroffenen waren (vgl. Anm. 244). 251 So berichtet der Interviewte an späterer Stelle über die Abtransporte von Zwangsumgesiedelten mit Zugwaggons. Hier zieht er einen direkten Vergleich zu den Deportation von Juden während der NS-Zeit, wie er sie wohl nur von Erzählungen her kennt. Bei diesem Vergleich führt er jedoch noch eine wesentliche Differenzierung ein: (Zwangs-)Deportierte wussten in den meisten Fällen, wohin sie gebracht wurden (und zu welchem Endziel); Zwangsumgesiedelte

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien

Namen Kleinhettstädt gebracht wurden, in dem der Familie nur ein einziges Zimmer zur Verfügung gestellt werden sollte, wogegen die Mutter resolut aufbegehrte, findet der Weg der Familie Westhäuser über Plaue/Arnstadt (und der Verteilung aller Zwangsumgesiedelten aus Thüringen) schließlich wieder in einem kleinen Örtchen namens Stützerbach, einem Dorf südlich von Ilmenau, zusammen. Laut offiziellen Verlautbarungen sind er und seine Familie vor Ort in Luxuswohnungen (IW/1:10) untergebracht. Wie er amüsiert zu Protokoll gibt, waren es eher einfachste Verhältnisse, welche sie vorfanden, d. h. eine Behelfswohnung in einem ehemaligen Fabrikgebäude über einem Ziegenstall (EBW:o. S.), in der und mit der sie nun leben mussten. Und dennoch: Das Leben für Karl Westhäuser und seine Familie ging erst einmal weiter. So gehen er und seine Schwester wieder arbeiten bzw. führen ihre Lehre in Ilmenau fort. Auch finden sie schnell Anschluss an die Leute vor Ort, über die er rückblickend nicht klagen kann, insofern sie ihn und seine Angehörigen ordentlich (IW/1:10) behandeln und insoweit auch gut aufgenommen haben. Einzig das Gefühl ständig unter Beobachtung (IW/1:10) zu stehen, dass ihm seit seiner Verhaftung umtreibt, will auch hier nicht vergehen. Dass dieser Eindruck damals nicht ganz unberechtigt schien, zeigte sich für ihn in dem Moment, als sein Vater zur Klärung eines Sachverhalts ein weiteres Mal abgeführt wurde, worauf er sechs Wochen in Untersuchungshaft in Meiningen verbrachte (IW/1:10). Grund der Anschuldigung: Wirtschaftsvergehen und Wirtschaftsverbrechen (IW/1:10). Nachdem die Familie aus Streufdorf weggeschafft wurde, hatte man im Geschäft, das nun vom neu im Ort eingesetzten Bürgermeister bewohnt wurde, neben fehlend aufgelisteten Waren ebenso, so der Hauptanklagepunkt, 456 Mark West gefunden (IW/1:11). In der nachfolgenden Gerichtsverhandlung sollte sich herausstellen, dass es sich beim gefundenen Geld komplett um DDR-Mark handelte und nur gerade einmal um elf Westpfennige (IW/1:11). Die Anklage gegen seinen Vater wird daraufhin fallen gelassen. Als der Vater noch in Haft saß und der Ausgang der Verhandlung noch ungewiss war, reifen bei Karl Westhäuser und seiner Schwester unterdessen Gedanken über eine mögliche Flucht in den Westen: Wir ham also […], meine Schwester und ich ham natürlich gesagt, ach Gott, früher oder später hau'n wir ab, nach em Westen. War so die übliche Redensart, abhauen. […] Wir gehen weg, aber wir müssen erst abwarten bis die Verhandlung gegen unsern Vater stattgefunden hat, egal wie sie ausgeht. Wenn sie ihn einbuchten, dann hauen wir ab, und wenn se nicht, dann erst recht, dann ganz klar. (IW/1:13)

Mit der Gewissheit, dass der Vater wieder frei war (IW/1:13), nahm die ins Auge gefasste Fluchtplanung folglich auch konkretere Züge an. Da die grüne Grenze (IW/1:13) nicht mehr in reichbarer Nähe lag, musste sich die wiedervereinte Familie folglich andere Routen für ihre Flucht überlegen. So informierten sich die Eltern bei einem Geschäftsmann in Ilmenau, der aufgrund von Lebensmitteleinkäufen häufig nach Berlin fahren musste, wie man von Stützerbach aus am besten den (Flucht-)Weg über Ost-Berlin nach West-Berlin antreten könnte. Er gab ihnen hingegen wussten über ihren Bestimmungsort in den meisten Fällen nicht Bescheid, wenngleich dessen Endziel weniger lebensbedrohlich erschien, als das der Deportierten.

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schließlich den Tipp: Fahrkarten bis Rostock [zu] lösen, nicht direkt bis Berlin, um es nen bisschen unauffälliger zu machen (IW/1:13). Acht Wochen, nachdem sie nach Stützerbach gebracht wurden, reisen er und seine Schwester zusammen nach Berlin; ihre Eltern bleiben aus Sicherheitsgründen noch in Stützerbach zurück, ehe sie sich auf selbigen Weg machen. Über seine Fahrt nach Berlin berichtet Karl Westhäuser ausführlicher an folgender Stelle: Und auf jeden Fall, ja, wir sind dann (...) ham uns in nen Zug gesetzt, jeder mitm Koffer, ausm Kaufhaus in Ilmenau, Vulkanfiber hieß das Zeuch, war damals modern, gab's damals; […] Wir sind auf jeden Fall mit unsern Köffer(...), mit so nem Koffer standen wir in Leipzig aufm Hauptbahnhof, also der erste Zug in Berlin war überfüllt und dann ham wir, meine Schwester war 19, ich war 16 ähm ein Platz im Abteil für Mutter und Kind bekommen, war ha Wurscht, Hauptsache wir haben Platz gehabt und kamen da rein. Und vor Berlin (...) ich mein da standen auf den ähm Bahnhöfen vorher schon mal e ma Vopos und so, ja, aber, ich mein, das war klar, ich mein, ohne irgendwas. Und kurz vor Berlin wurde dann der Zug kontrolliert (I: mhm). […] Die Kontrolle vor Berlin, der eine kam von vorne, einer von hinten und bei uns ham die sich getroffen, wie in einem blöden Krimi meinetwegen, ja. Und uns hat keiner kontrolliert. Und wir hatten auch nen bisschen Bange gehabt, meine Schwester hat (...) wir mussten unsere Ausweise abgeben. Und ich hab meinen nen paar Tage vorher, vor unserer Flucht wiederbekommen, aber der Stempel vorne auf der ersten oder auf der zweiten Seite, Sperrzone, der war ungültig gemacht; sag mir, der Mensch, der ist verdächtig, wenn man kontrolliert wird, ja. Wenn der aus der Sperrzone kommt und das Ding ist ungültig gemacht, was macht der jetzt in Berlin. Und meine Schwester hatte noch nen Ausweisersatz DIN A 6, […] in so nen Ding, das se sich 50 km im Umkreis von Ilmenau bewegen darf oder auch von Stützerbach. Damit sind wir nach Berlin gefahren. (IW/1:13f.)

Trotz auszustehender Ängste und Ungewissheiten, die er und seine Schwester auf der ganzen Zugfahrt begleiteten, kommen beide wohlbehalten in West-Berlin an, wo sie gleich ihre entfernt angeheirateten Verwandten (IW/1:14) aufsuchen. Die berliner Verwandten ham unsern Eltern ein Telegramm geschickt, dass Zwillinge angekommen sind, wo und wie auch immer und so weiter. Da wussten die Bescheid, aha. Unsere Eltern sind dann ne Woche später gefahren, auch dorthin. Ich glaub wir war'n dann 6 Wochen in Berlin bis wir dann ausgeflogen wurden. (IW/1:14)

Noch in Berlin durchlaufen Karl Westhäuser und seine Schwester getrennt voneinander verschiedene Aufnahmelager, bevor sie gemeinsam mit den Eltern die eigentliche Ausreise in den Westen antreten. Kurz vor der Ausreise in die BRD trennt sich die Familie und geht zunächst in unterschiedliche Himmelsrichtungen auseinander. Karl Westhäusers Schwester kommt nach Frankfurt a. M., seine Eltern verschlägt es zunächst zu Verwandten ins oberfränkische Coburg. Er selbst kommt über die Stationen Hamburg und Stukenbrock nach Düsseldorf. [D]ass Düsseldorf nicht auf noch nen Flüchtling gewartet hat (IW/1:15) wird ihm sofort beim Anblick der noch von Bombenangriffen gezeichneten Stadt und der immer noch in Teilen notleidenden Bevölkerung vor Ort offenbar. Dieser erste Eindruck wiegt in der Erinnerung an seine Flucht und deren vorläufigem Endziel allerdings nicht so schwer, als sich vielmehr die Freude darüber bei ihm einstellte, wieder frei zu sein, wieder eine Zukunft zu haben (EBW:o. S.). Die Zukunft und Freiheit vor Augen, kommt Karl Westhäuser bei seinem schon erwähnten Onkel väterlicherseits unter. Zusätzlich zur Arbeit als Herrenschneider im Geschäft seines

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Onkels beginnt er sich neue Ziele zu stecken. Zusammen mit seinem ehemaligen Schulfreund aus Streufdorf, der genau wie er infolge der schrecklichen Ereignisse vom 5. Juni auf Umwegen nach Düsseldorf geflüchtet ist, beginnt er das Abendgymnasium zu besuchen. Während jener weiterführenden zweijährigen Schulzeit hat er gelernt, gelernt [und] nochmals gelernt (IW/1:16) und bei alledem nur wenig Zeit, denn Geld für irgendwelche anderen Dinge gehabt. Seine Situation ändert sich nicht wesentlich, als er hierauf zusammen mit seinem Freund im nahegelegenen Mönchengladbach das Studium des Bekleidungsingenieurs aufnimmt. Wir waren wohl die Ärmsten (lacht). […] Aber wir ham's überstanden (IW/1:16). Karl Westhäuser lebt insgesamt fast sieben Jahre im Rheinland, wechselweise in Düsseldorf und Mönchengladbach. In diesem Zeitraum kommen seine Eltern über die Zwischenstation Coburg ins benachbarte Lichtenfels, wo sie einen eigenen Lebensmittelladen aufmachen. Wie der Interviewte berichtet, war es für die Eltern als Neulinge (IW/1:33) ein steiniger Weg bis sie wieder in Besitz und, vergleichbar ihrem kaufmännischen Leben zuvor, zu einem Laden kamen. Nach erfolgreich beendetem Studium 1959 folgt er den Eltern nach Oberfranken, das fortan zu seiner zweiten Heimat wird (IW/2:94); wenngleich er sich zu Anfang in der neu gefundenen Heimat noch sehr fremd fühlt. Mit diesem Umzug vom Rheinland ins Fränkische, wo er eine Anstellung in einer Bekleidungsfabrik in Lichtenfels erhält, kommt er nicht nur der Familie wieder ein Stück näher. Mit diesem Ortswechsel rücken vielmehr auch die Grenze sowie das Grenzgebiet, welches er im Juni 1952 von jetzt auf gleich verlassen musste, wieder in unmittelbare Nähe. Während dieser Zeit lernt er schließlich auch seine zukünftige Frau kennen, mit der er 1968 nach Coburg zieht und eine Familie gründet. Immer noch dicht an der Grenze (IW/1:17), zeigt sich nun, unter den gegebenen Umständen, seine Grenzansicht, nicht nur dem Fakt geschuldet, auf der anderen (westlichen) Seite zu sein, als eine ganz und gar andere. Naja, uns hat die Grenze nicht mehr so gestört (IW/1:45). Ungeachtet der Tatsache, dass er in diesem Punkt des Interviews zu verstehen gibt, zu jener Zeit nur wenig Störendes denn Berührendes am Thema Grenze empfunden zu haben, gibt es gleichwohl klare Indizien dafür, wie sich seine Beziehung zur Grenze und zur ehemaligen Grenzheimat in diesen Tagen, wenn auch auf anderen Wegen, fortsetze. Denn, so lässt sich seiner Narration entnehmen: die Beziehung und der Kontakt zu Streufdorf waren zu keinem Zeitpunkt seiner Abwesenheit wirklich abgerissen. Mit dem Ankommen auf der anderen westlichen Seite der Grenze und mit der Erfahrung der Zwangsumsiedlung im Gepäck, hat sich jedoch seine Sichtweise auf das abwesende Andere da drüben, die DDR und ihre Grenzverhältnisse, jedoch erst einmal grundlegend verändert. So erinnert er sich, wie er den Brüdern da drüben nicht getraut [hat] (IW/1:45), womit er allerdings nicht jeden DDR-Bürger und jede DDR-Bürgerin im Einzelnen meint, sondern allein die politischen Funktions- und Entscheidungsträger, die, wie er unmissverständlich zu verstehen gibt, in der Hauptsache sein Schicksal zu verantworten hatten. Die ostdeutsche Gesellschaft und deren Mitglieder, zu denen er noch einige Zeit zuvor selbst zählte, sah er mit veränderter Blickrichtung demgegenüber nun mehr als Staatsinsassen (IW/1:52) an, die seiner Meinung nach dem Schicksal, ein-, um- und abgeschlossen zu sein, nur bedingt

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entrinnen konnten. Und trotz dieser negativierenden Ansichten über seine frühere Heimat und deren Bewohnern, seine Beziehung zur DDR erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Störung denn eine Unterbrechung. Dies weiß speziell seine Ehefrau zu betonen, die zur Hälfte des ersten Interviews, nachdem sie alle Anwesenden mit allerlei Leckereien versorgt hatte, mit ins Gespräch einsteigt, um in der Folge z. B. ihren Ehemann für bestimmte Erinnerungssachverhalte zu sensibilisieren, die er selbst ausgespart oder vergessen hatte. Sie sollte aber immer wieder auch das Wort ergreifen, wenn es darauf ankam, den Interviewten dazu zu bringen, zielgerichteter die gestellten Interviewfragen zu beantworten. Ein weiterer wesentlicher Beweggrund, warum sie am Gespräch teilnahm, lag aber darüber hinaus darin, eigene Erinnerungen an die gemachten Grenzerfahrungen ihres Mannes beitragen zu wollen. Vor diesem Hintergrund merkt sie im Tenor der zuvor beschriebenen Erinnerungen an, dass die Beziehung ihres Mannes zur verloren gegangenen Heimat, trotz der veränderten Ortsbezüge und -ansichten, nie vollends erlosch. Ihre Anmerkung zum Anlass nehmend, kommt ihr Mann sodann auf ein zentrales Bindeglied zu sprechen, das ihm den Kontakt zum ehemaligen Heimatort nicht zuletzt erst möglich machte wie auch den Austausch dorthin über Jahre hinweg lebendig hielt: Die Beziehung war DA, ja. Und die ehemaligen Streufdorfer, die ham sich, hab ich schon mal gesagt, in Rodach, Roßfeld getroffen. Waren bis zu 250 Leute, die (...) Zwangsausgesiedelte, Flüchtlinge und auch einige, die auch schon im Krieg oder in der Nachkriegszeit beizeiten schon nach em Westen sind. Ganz normale Wanderung, ja. Aber da war schon nen gewisser Zusammenhalt da. (Pause) Wir ham zum Beispiel auch bei diesen unsern Treffen, Pfingsten immer, ähm sind auch Rentner, die in nen Westen reisen durften (I: mhm); bei ihren Verwandten waren, sind auf der Heimreise dann noch nach Rodach und ham sich mit uns getroffen; ham natürlich ihre ehemaligen Nachbarn und Freunde und so getroffen, also mehrere auf einmal ja, die sie sonst gar nicht hätten besuchen können; und waren unsere Gäste auch zum Teil. (IW/1:45)

Die Roßfelder Treffen, wie sie seit 1964 im Ort Roßfeld bei Coburg alle zwei Jahre über die Pfingstfeiertage stattfanden, gaben Karl Westhäuser immer wieder die Möglichkeit, Neuigkeiten zu erfahren – wie's drüben war, was die gehört haben (IW/1:46). Auf diese Art und Weise konnte er, trotz der Distanz und Abgrenzung zu seinem früheren Heimatort, am Ende doch irgendwie am Dorfleben teilnehmen. Im Laufe der vorhergehenden Erzählung springt ihm seine Frau abermals zur Seite, indem sie weitererzählt, wie ihr Mann diese Treffen neben dem Informations- und Erfahrungsaustausch immer wieder auch zum Anlass nahm, um verschiedene Blicke auf seine ehemalige Heimat zu werfen. So erinnert sie sich, dass der Interviewte während dieser Treffen stets die direkte Nähe zur Grenze suchte, indem er bspw. auf grenznahe Hochsitze kletterte, alles dafür gebend, nur eine bessere Sicht auf die andere Seite und insbesondere auf sein, mittlerweile in Volkseigentum übergangenes Elternhaus zu bekommen. Über die Jahre und die mehrmaligen Berührungen mit der eigenen ortsfernen Vergangenheit reifte bei Karl Westhäuser schließlich immer mehr die Einsicht, den schmerzlich erlittenen Bruch in der eigenen Biographie (Zwangsumsiedlung und Flucht aus der DDR), rückblickend gesehen doch als Chance genutzt zu haben, insofern er sich erst hierdurch ein anderes und vielleicht auch besseres Leben auf-

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bauen konnte. Im Sinne von – was wäre gewesen, wenn… – weiß Karl Westhäuser denn auch seinen möglicherweise gegangenen Lebensweg im Osten und damit jenseits der Mauer (kontingent) weiterzudenken, indem er meint: Ich würd' mal sagen, ich war zumindest froh, dass ich auf dieser Seite gelebt hab. Nicht unbedingt den Kameraden da drüben, dankbar war ich nicht dafür, aber letzten Endes ähm hab ich mir gesagt, da drüben hätt ich irgendwie dahinvegetiert oder ich, weiß nicht, vielleicht wär ich, Revoluzzer, nen bisschen Revoluzzer geworden oder ich wär abwegs mitgeschwommen, ich hätt mich geduckt, ich weiß nich, ja. Das kann man nicht so sagen (I: mhm). […] Auf jeden Fall ging mir's auf lange Sicht hier besser, als mir es da drüben jemals gegangen wäre (Pause) in jeder Beziehung (Pause), weil wir hatten da (Pause) (...) es hat sich eigentlich schon nach dem Krieg abge(...), in den ersten Jahren so abgebildet, dass wir da drüben (lange Pause) nich viel zu erwarten haben, egal in welche Richtung, ja. So seh ich das. (Pause) Vor allen Dingen wir konnten hier unsere Meinung äußern, wir konnten, natürlich vernünftiger, vernünftiger (...) unser Leben leben. […] Ich hab einfach die Freiheit gehabt, ja, für vieles, was ich drüben nie gehabt hätte. (sehr lange Pause) (lacht) Hab den Strick gezogen (?) (lachen) […] Ob ich jemals da drüben glücklich geworden wäre, weiß ich nicht; ich glaub's nicht. (IW/1:67f.)

Dass er früher oder später […] auch nach em Westen [wär] (IW/2:97), setzt in der kontingenten Sicht auf die nicht-erfahrene, allenfalls fiktiv ausgedachte Lebensgeschichte Ost den finalen Schlusspunkt. Gerahmt wird jene selbstreflexive Erzählsequenz noch von einer anderen Aussage. So meint Karl Westhäuser zudem erwähnen zu müssen, sich von dem schwärzesten Tag in seinem Leben in gewisser Weise erholt zu haben (IW/1:48).252 In diesem Sinn wusste er denn auch sein damals neu gewonnenes Leben in der BRD auch entsprechend zu leben, d. h. glücklich zu leben; und dennoch, bei allem sich über die Jahre im Westen Deutschlands einstellenden Lebensglück, was durch die Geburt seiner zwei Kinder komplettiert wird, seine eigene DDR-Vergangenheit lässt ihn zu keiner Zeit los. Das nicht nur deswegen, weil er in regelmäßigen Abständen den Treffen in Roßfeld beiwohnt und allerlei Neuigkeiten von drüben erfährt. Es hat auch damit zu tun, weil er vereinzelte Reisen in den Osten unternimmt – privat wie auch beruflich. Es hat aber auch damit zu tun, da er über Jahre hinweg versuchte, Ansprüche auf Entschädigung (Lastenausgleich) für das enteignete Eigentum, insbesondere für die Häuser, geltend zu machen. Dies alles von der Gewissheit getragen, wohl niemals wieder an den Ort seines früheren (ersten) Lebens zurückkehren zu können. Einholen tut ihn seine DDR-Vergangenheit schließlich erst wieder vollends, als die DDR beginnt, selbst Geschichte zu werden: im November 1989. Genauso wenig wie er die Zwangsumsiedlung jemals vergessen kann, genauso wenig kann er jemals die Tage der Grenzöffnung vergessen. Die unheimliche Euphorie, die allen voran in den Grenzgemeinden (IW/1:30) damals vorherrschte, brauchte nicht lange, um auch Karl Westhäuser zu erfassen. Noch Jahre zuvor konnte er es sich, wie oben beschrieben, überhaupt nicht vorstellen, dass er die Grenze je frei und ohne irgendwelche Zwänge wird überschreiten können; geschweige denn lag es für ihn im Bereich des denkbar Möglichen, dass er irgendwann einmal wieder in seinen ehema-

252 Verbunden mit dem fehlenden Verständnis für Leute, die es nach der langen Zeit irgendwie noch nicht richtig geschafft haben, sich hiervon zu erholen (IW/1:47f.).

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ligen Heimatort wird gehen können.253 Und so gibt er dann auch hinsichtlich besonderer Erlebnisse im Leben mit der Grenze in einer selbst verfassten Kurzbiographie zu Protokoll: Ein positives Ereignis war natürlich die Grenzöffnung 1989, und die dazugehörigen Ereignisse, die wir hautnah erleben durften und dann der Besuch der alten Heimat und das Wiedersehen mit alten Jugendfreunden (KBW:3). Wie positiv er die plötzliche Wende in der deutsch-deutschen Geschichte aber vor allem in seiner ganz eigenen Lebensgeschichte wahrgenommen haben muss, darüber weiß nicht nur er selbst, sondern auch – ein weiteres Mal – seine Frau genauer zu berichten. Jene Gelegenheit nutzend, holt seine Frau ein kleines Heft aus dem Schrank, das sie gemeinsam mit ihrem Mann und anderen Betroffenen anlässlich des 50. Jahrestages der Zwangsumsiedlung und Flucht aus Streufdorf drucken ließen. Während sie auf dieses Heft verweist, fängt sie an, über die ersten Ortseindrücke zu erzählen, die diesen emotionalen Moment des Zurückkehrens nach Streufdorf – den lange schmerzlich erinnerten Heimatort – begleiteten, und welcher schließlich selbst in dem gezeigten Heft in einem von ihr verfassten Erinnerungsbericht (mit dem Titel Heimkehr) textlich Niederschlag fand: Ich kann mich noch genau daran erinnern. Wie wir, Karl, Martina und ich, zum ersten Mal nach Streufdorf hineinfuhren. Das war im November 1989. Lange genug haben wir davon geträumt – jedes Mal, wenn wir auf der anderen Seite der Grenze am Schlagbaum standen und hinüberblickten. Die Straße entlang bis zur Kurve, wo dann der Blick nicht mehr weiterging, wo aber das Elternhaus stand, in dem er aufgewachsen ist und wo er seine Kindheit und die Hälfte seiner Jugend verbracht hat. Und ich hatte mir geschworen: wenn jemals die Grenzen aufgemacht werden, fahren wir dorthin; dahin, wovon Karl immer so viel erzählte, dass ich meinte, mich in Streufdorf genauso gut auszukennen wie er. […] Karl erklärte uns alles, wer wo gewohnt hat, wo er gespielt hat. In seinen Erinnerungen war alles anders: der Holzberg war länger und steiler, der Marktplatz viel, viel größer. Wir fuhren durchs Dorf, er zeigte uns sein Elternhaus […]. (EEW:o. S.)

Während Karl Westhäuser seine Frau, wenngleich in stark gekürzter Form zu dem Textauszug zuvor, darüber erzählen lässt, wie das damals unmittelbar nach dem 9. November 1989 so war, beginnt er selbst einige Fotos hervorzuholen, die diese Zeit und ihre eigenen (wiedergewonnenen) Ortsansichten dokumentieren. Die gemachten Fotos sind allesamt nicht nur Zeugnisse der damaligen Zeit, sondern zugleich auch ein Beleg dafür, wie der Interviewte sich postwendend zum Mauerfall daranmachte, in eigener (familiärer) Sache Spurensuche zu betreiben.254 So sind Karl Westhäuser nach 37-jähriger Abwesenheit nicht nur ein paar Veränderungen bzw. veränderte Wahrnehmungen des Ortsbildes (fotografisch) in Erinnerung geblieben (insb. beim Marktplatz). Neben der lebendigen Erinnerung daran, hier nen Kaffee getrunken und da mit jemanden gesprochen [zu haben] (IW/2:80), war es aber vielmehr der erste Anblick der ehemaligen, in Familienhand befindlichen Häuser, 253 Schließlich blieb es ihm bis 1989 als (West-)Besucher verwehrt, ins Grenz- bzw. Sperrgebiet zu reisen, was den Aufenthalt in Streufdorf infolgedessen auf lange Sicht unmöglich machte. 254 Auf diese, unmittelbar nach der Wende betriebene Spurensuche nahm der Interviewte den Interviewer beim zweiten Gesprächs- bzw. Ortstermin in Teilen noch einmal mit, insofern er ihn über die Grenze, nach Streufdorf führte und anhand einzelner verfolgter Ortsspuren die wiedergefundene (Familien-)Geschichte sichtbar zu machen versuchte.

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien

die ihm bis heute besonders eindrücklich im Gedächtnis heften. Als sozialistisch gepflegt (IW/1:29) bezeichnet er rückblickend das, was ihm damals zu Gesicht kam. Mit der selbst gewählten, augenscheinlich von Ironie getragenen Formulierung, die er nach eigenen Angaben zumeist nur vor Ort, d. h. in Streufdorf gebraucht, versucht er schließlich aus seiner erzählten Erinnerung heraus darauf aufmerksam zu machen, in welchem desolaten Zustand sich die Häuser damals befanden und wie bestürzt er hierüber war: Da war alles abgewohnt (IW/1:29). In der Art und Weise, wie sich Karl Westhäuser im ehemaligen Heimatort nach materiell zurückgebliebenen Spuren seiner Familie umschaute – neben den Häusern ebenso nach zurückgelassenen Gegenständen (insb. einem Bücherschrank inklusive Bücher und einiger Gemälde) –, in genau derselben Art und Weise war es ihm in diesen Tagen ein tieferes Bedürfnis weitere Stationen seiner erlebten DDRVergangenheit abzugehen. So kehrte er zusammen mit seiner Familie kurz darauf u. a. an den Ort seiner Schulbildung, Haubinda, zurück, um auch in diesem Fall zu sehen, welche Spuren die Zeit hinterlassen hat. Ebenso wichtig erschien es ihm, in den Tagen nach seinen ersten nahräumlichen Grenzgängen, einzelne Orte und Wegpunkte seiner persönlich erlebten Aussiedlungs- und Fluchtgeschichte nachzugehen. In detektivischer Manier hat er sich dabei allen voran als archivalischer Spurensucher betätigt, indem er sich gezielt in Aktensammlungen (Archive, öffentliche Ämter) nach etwaigen Dokumenten umschaute, die ihm dabei helfen sollten, seine schicksalsbehaftete Lebensgeschichte anhand von bisher noch verborgenen bzw. unbekannten Details zurückverfolgen zu können. 255 Das Rückverfolgen dieser Geschichte, die sich, wie zuvor rekonstruiert, nicht nur mit einschneidenden Ereignissen, sondern auch mit unterschiedlichen Standorten verband, hat ihn schließlich sowohl zum Ort seiner Stasihaft 256 (Hildburghausen) geführt, als auch nach Stützerbach, wo ihm speziell die Erinnerungen an die Zeit im Exil 257 wieder raumbezogen wie gegenständlich vor Augen geführt wurden. Darüber er selbst: [I]ch hab auch 1990 dann in Stützerbach äh ein Foto von unserer Luxuswohnung mal gemacht. (Pause) Ich war dann drin, war zwar nen Schild Betreten verboten, ich bin natürlich die Treppe auch hoch. Hab gesehen, da sind noch Sachen dort, da hab ich Schulsachen gesehen, da hab ich gemerkt, ha, da hat noch nach uns auch noch ne Familie drin gewohnt, also unter ähm einfachsten Verhältnissen (I: mhm). Nebenan war ne ehemalige Glasfabrik. Ich hab mal reingeschaut irgendwie, da waren noch Glasröhrchen da. Is ja im ilmenauer Raum ähm, war das ja ziemlich verbreitet, aber das waren nur noch die Reste. Und das ganze Ding war abgerissen, größtenteils, das ganze Gebäude, und unser Stück noch; die eine Seite stand noch mit unserer […] ehemaligen Behausung. (IW/1:10)

Die vergangene Zeit anhand von überdauerten Resten rückzuverfolgen, war denn nicht zuletzt auch ein Grund dafür, die ehemalige innerdeutsche Grenze bzw. das, 255 Einen Teil dieser archivalisch ausgegrabenen Spuren bekommt der Interviewer beim ersten Interview selbst in die Hände und wiederum einen Teil davon (als Kopie) auch mit nach Hause. 256 In diesem Kontext fügt er noch hinzu, wie er sich beim eher zufälligen Entdecken des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Hildburghausen mit dem Gedanken trug, das Gebäude mit dem Schriftzug Stasi zu besprühen (IW/1:39), was schließlich aber nur ein Gedanke blieb. 257 Ein Wort, was er in diesem Zusammenhang erwähnt, aber selbst auf mehrmaliges Nachfragen hin nicht richtig mit Inhalt bzw. weiteren Erläuterungen anreichert (vgl. IW/1:18; IW/2:122).

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was von ihr kurz nach der Wende noch übrig war, aufzusuchen. So erinnert er sich noch genau daran, wie er und seine Frau in den Wendejahren auch diverse Male bei Überfahrten in den Osten (und zurück) an den bereits zu Teilen abgebauten Grenzanlagen Halt machten. Dass es Karl Westhäuser bei einem dieser Grenzhalte einmal nicht so sehr nur um ein Nachgehen und Rückbesehen des kurz zuvor noch Bestehenden ging, sondern vielmehr um eine ganz andere Sache, macht er eindrücklich innerhalb nachfolgender Erzählung deutlich: Ich hab da mal an der Grenze, nachdem schon, das wird '90 dann, ja, der Zaun schon zum großen Teil weg war, wir ham uns da auch so nen 2,5m-Zaun geholt (I: mhm); ham nen zusammengerollt dann hinterher und mit den Schrauben von dort zusammengeschraubt; hab ich in nen Golf reinbekommen; die war'n grad nen Meter lang (I: mhm). So dick zusammengerollt (zeigt). Das ist der unkaputtbare Metallgitterzaun, der hält bis zur Steinzeit, ja. […] einen hab ich zum Komposthaufen gemacht, aber mit einem DDR-Kfz-Kennzeichen dran (sie lacht). Und meine Regenwürmer, die ich da manchmal reinschmeiß, wohin sie kommen (lachen). Aber das nur so, das sind so kleine äh, kleinliche Racheakte. […] ne kleinliche Rache, bin ich mir ganz ehrlich, ja (I: ja). Ich hab auch zum Beispiel em paar Pfähle umgemacht, von den der Draht schon abmontiert, geklaut oder gestohlen oder wie auch immer (F: Ne, das war abge..., net du) oder je nachdem. Die war'n wirklich weg, ja. Und ich hab nen paar Pfähle umgemacht […] mit nem Vorschlaghammer und dann mit nem Bolzenschneider; da sind ja vier Eisen drin gewesen, so fast mhm kleinfingerdick; und dann die Eisen angeknackst und rum und [...] und dann auch wieder sauber umgeklopft, dass sich kein Wild verletzt. Und da kamen nen paar Leute aus, ausm Badischen, Schweizer-Französisch-Eck da unten, Freiburg in der Gegend, und war nen Sonntag; und den hab ich dann erzählt, ich krieg für jeden Pfeiler, den ich ummach, krieg ich 18,50 Mark (sie lacht). Und die durften auch einen ummachen, ham nichts dafür bezahlt, durften se einen ummachen (lachen). Aber ich hab das gebraucht, ein für meinen Vater und nen paar für meine Freunde, die die Wende nicht mehr erlebt haben, zum Teil, die kurz vorher gestorben sind, ja (I: mhm). […] Ähm ich mein, es war so (lacht) (Pause), nen bisschen kleinliche Rache, natürlich, ja, och Gott, ich mein. (F: Genugtuung war das) Genugtuung, Genugtuung, ja (F: Ja) war das. Nen Stück hab ich mitgenommen von dem Ding […]. (IW/1:49f.)

In diesem Auszug seiner lebensgeschichtlichen Erzählung gibt Karl Westhäuser offen und ehrlich zu, wie er Teile der ehemaligen Grenze sowohl abmontiert als auch zerstört hat. Wie auch an dieser Stelle durch seine Ehefrau erzählerisch unterstützt – sie gibt ihm vereinzelt Wortbausteine vor –, begründet er seine von abartigen Gefühlen (IW/1:51) getragene Handlung rückblickend damit, dass es ihm gar nicht anders möglich war, als eben an der Sache Rache zu nehmen, die gleichsam auch (stillschweigend) für das verantwortlich war, was ihm, seiner Familie und seinen Freunden angetan wurde. Weil sie ihn und andere lange Zeit so sehr geärgert [hatte] (IW/2:100), machte sich insofern also auch die Grenze – hier: ein Metallgitterzaun und ein Grenzpfosten – an seiner schicksalshaft erlebten Grenzgeschichte schuldig. Infolgedessen war es für ihn eine gewisse Genugtuung, der Grenze, dem Zaun […] dann nochmal so […] so nen Rest zu geben (IW/1:51), worüber schließlich die damals von seiner Frau gemachten Fotos 258 Zeugnis ablegen. 258 Von dem geschilderten Akt wurden über das oben gezeigte Foto noch mehrere andere Fotos gemacht, die auch dem Interviewer, allerdings erst nach dem zweiten Gesprächstermin zu-

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Im Laufe dieser Zeit, als er sich nach und nach damit zu beschäftigen begann, die eigene, insbesondere schmerzlich erlebte DDR-Geschichte anhand der für ihn biographisch bedeutsamen Orte und Spuren abzugehen und sich dieser Ortsspuren teilweise auch in eigensinniger Art zu bemächtigen, kam er auch dazu, die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit auf anderen Ebenen anzugehen. Also ich denke, ich hab mir recht viel Mühe gegeben mit der ganzen Aufarbeitung (IW/1:34). Mit diesem Satz fasst Karl Westhäuser rückblickend betrachtet all seine Aufarbeitungsbemühungen zusammen, welche nicht so sehr nur mit den vorhergehenden Unternehmungen und Spurensuchen aus der unmittelbaren Nachwendezeit zusammenhängen, als vielmehr mit all den Initiativen, welche sich insbesondere rundum die Rückübertragung des im Zuge der Zwangsaussiedlung enteigneten Familieneigentums drehten. Seine Lebensgeschichte aufzuarbeiten, dies bedeutete für ihn neben dem sich Abarbeiten an den Orten und Spuren der Vergangenheit denn ebenso auch die Aufarbeitungoffener Vermögensfragen (IW/1: 26). Ich hab se nach der Wende am Hals gehabt, vier alte Häuser (IW/1:8). Was hier in den Anfängen der Erinnerungserzählung Karl Westhäusers scherzhaft seine Erwähnung findet, stellt sich bei genauerer, weiterführender Betrachtung gewissermaßen erst als das Endresultat eines jahrelangen Kampfes dar, den er, wie er es abermals in eigensinniger Art und Weise zu verstehen gibt, mit diversen Post-DDR-Behörden (EKW:o. S.) ausfechten musste. Wie schwer er es hatte, seine Rückübertragungsansprüche geltend zu machen, zeigt sich ihm zufolge schließlich daran, dass ihn die komplette Aufarbeitung dieser Ansprüche bis weit in die 2000er-Jahre hinein beschäftigte. Sein besonderer Ehrgeiz (IW/1:27), den er beharrlich an den Tag legte, um das Eigentum seiner Familie zurückzuerkämpfen, erstaunt ihn und seine Frau aus heutiger Sicht in gewisser Weise. Musste er doch nicht nur viel Zeit259, sondern vor allem auch einige bürokratische Unannehmlichkeiten und Hürden auf sich nehmen wie überstehen, bis die verbliebenen Reste des 1952 geraubten Eigentums (KBW:4) wieder in seine Hände übergehen konnten. In diesem Zusammenhang erinnert sich Karl Westhäuser z. B., wie er als Zwangsumgesiedelter schließlich erst rehabilitiert werden [musste], wie einer, der verurteilt worden ist (IW/1:23). 260 War er nach 1952 noch Ausgestoßener, Vertriebener, ein Element, ein Ungeziefer (EBW:o. S.), so war er nun ein Illegaler, ein Republikflüchtiger (IW/1:42), dessen (Opfer-)Status erst noch geprüft werden musste. So sah er sich nicht nur allerlei Schikanen bei Behördengängen ausgesetzt, wie er sie anhand von persönlichen Begegnungen im Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung oder im Amt zur Regelung offener Vermögensfragen im Zuge seiner eigenen Aufarbeitungsarbeit erlebte und in der Erzählung nochmals durchlebte. Bei alledem sah er sich vielgänglich waren. Angesichts des fotografisch Belegten und seiner zugrunde liegenden Gefühlslage, gibt der Interviewte denn aber aus heutiger Sicht zu verstehen, sich für das Getane – das Rache-Nehmen an der Grenze – bei all seiner persönlich begründbaren Berechtigung, im Nachhinein auch ein bisschen geschämt zu haben (IW/1:50). 259 Der letzte diesbezügliche Bescheid erreichte ihn 2011. 260 Da Zwangsumgesiedelte im Zuge der Wiedervereinigung keine Erwähnung im Zusammenhang mit vertraglich festgehaltenen Wiedergutmachungsleistungen fanden, war es erforderlich, dass sie sich entsprechend erst einer Rehabilitierung unterziehen mussten.

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mehr noch, und das wiegt rückblickend besonders schwer, einem Generalverdacht ausgesetzt, der ihm die Beantragung etwaiger Ansprüche zunächst schwer erträglich machte: Die ham […] bezweifelt, dass das heute noch nachwirkt, nach 40 Jahren (IW/1:24). Als wäre dies für ihn und seine Familie nicht schon genug gewesen: Und dann ist mir vorgeworfen [worden]: sie waren ja selbst schuld, dass sie ausgesiedelt wurden. Ham mir zwar nich gesagt, wie und warum und was, aber weil wir Widerstand geleistet haben. Sag ich: Hätten wir uns abführen sollen wie die Schafe zur Schlachtbank oder was? (IW/1:24)

Was ihn ungeachtet der vielen Strapazen sowie der in den Weg gelegten Steine solange weitermachen ließ: Ich hab's gebraucht einfach. Mich hat's erfüllt (IW/1: 27). Egal wie viel Nerven, Zeit und Geld es ihm am Ende auch kostete, er hat es stets als etwas Erfüllendes empfunden, sich für seine (Familien-)Sache stark zu machen. So gab es für ihn schlussendlich auch eigentlich nur eins: entweder ich […] seil mich ab, wander möglichst aus nach Australien, und sag hier, macht was ihr wollt, oder ich kümmer mich drum so weit wie es geht (IW/2:76). Die Entscheidung für das eigene Hausengagement fiel hiernach vor allem auch aufgrund der damaligen Nähe zu seinem früheren Wohnort, wie er erklärt, derentwegen er sich schließlich auch erst fortwährend verpflichtet sah, sich für die Rückübertragung einzusetzen. Neben dem Argument der räumlich-nahen Distanz war es zudem die lange Familiengeschichte, die persönliche Verwurzelung an Ort und Stelle und zu guter Letzt natürlich auch seine nie endenden Heimatgefühle (IW/1:39), die die schwierige (materielle) Aufarbeitung dann trotz alledem ertragbar werden ließen, mehr noch, zum Herzensanliegen machten: ja man hängt einfach an der, an der Sache und die Familie hat in Streufdorf nen paar hundert Jahre gelebt und da ist man irgendwie (Pause) schon dran interessiert. (IW/2:77) Und, da hab ich mir gesagt, ich muss mich nen bisschen drum kümmern. Ich will ja noch mal nach Streufdorf kommen und mich sehen lassen […]. (IW/2:76)

Die Vorstellung, selbst nach Streufdorf zu kommen und sich vor Ort sehen zu lassen, war bereits kurz nach der Grenzöffnung für Karl Westhäuser das Selbstverständlichste auf der Welt. Es bleibt selbstverständlich, als er sich um seine Familienhäuser bemüht und sie schließlich auch zurückbekommt. Wie er und seine Bemühungen vonseiten der Dorfbewohner dieser Zeit gesehen wurden, dazu hat er seine ganz eigene Erinnerung: nach der Wende: die Gutwilligen, die haben mich bedauert wegen nem alten Gehöft, Gehötsch und einige Böswillige, mit Sicherheit, die ham gesagt, da kommt der, a Wessi, und will da sich Volkseigentum unterm Nagel reißen, ja (IW/1:27).

Das alte Gehötsch, wie er liebevoll sein in die Jahre gekommenes Elternhaus gerne auch nennt, war ihm – zusammen mit den anderen zurückerworbenen Häusern – ein zentraler Anlass, um immer wieder den Weg in seine wieder gewonnene Heimat zu finden. So ist er stolz darauf, dass er insbesondere mehrere sozialistisch gepflegte, aber ortsbildprägende Wohnhäuser […] wieder einigermaßen herrichten konnte, um damit auch das Ortsbild von Streufdorf wieder zu verbessern (KBW:4). Egal ob ihm – als einem Wessi – die Dorfbewohner dafür Verständnis

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entgegenbrachten oder nicht, für ihn war das Sanieren seiner vier rückübertragenen Häuser nicht nur Mittel zum Zweck; für ihn kam es nie in Betracht, wieder nach Streufdorf zurückzukehren, genauso wenig ging es ihm nur darum, die Häuser bestmöglich in Wert zu setzen, um sie irgendwann einmal möglichst gewinnbringend zu verkaufen oder zu vermieten. 261 Man kann sich schließlich nicht dem Eindruck erwehren, dass es stets auch einen anderen Beweggrund gab, der ihn bei alledem immer wieder antrieb. Denn das in Eigenregie betriebene Wiederherrichten der Familienhäuser mitsamt dem Verschönern des Ortsbildes fungierte letztlich ebenso als ein Anknüpfungspunkt und zugleich als eine Chance, sich nach mehr als 40 Jahren wieder heimisch fühlen zu können. So gesehen war es für ihn vor allem das handwerkliche Betätigen an den Häusern, das Werkeln262 (IW/1:27), was ihm insgesamt gesehen stets auch ein Stückchen Heimat zurückbrachte: Ja, das ist die Heimat, einfach, ja. Das ist die Heimat. Und der alte Spruch: Was du erbst von deinen Vätern […], erwirb es um es zu besitzen, ja (I: mhm). Ich hab […] das Erbe schwer erwerben müssen […] (IW/2:84).

Letzterer Auszug aus der Erinnerungserzählung Karl Westhäusers spiegelt schließlich sinnbildlich wider, welcher Grundmovens und welche Motivation bei seiner eigenen Aufarbeitungsarbeit gleichermaßen immer mitschwangen. Sich in den Ort einbringen, etwas vor Ort bewegen, das Ortserbe bewahren – diese Handlungsmotive stehen über den Rückerwerb von Heimat hinaus zugleich genauso dafür, inwieweit sich Karl Westhäuser ferner dafür einsetzte, ortsbezogene Erinnerungspflege zu betreiben. Die Erinnerungen an die Geschehnisse vom 5. Juni 1952 und deren Folgen sind ein wichtiger Bestandteil der Lebensgeschichte und der Identität Karl Westhäusers. Sie sind es schon, als er in der BRD wohnend, ein neues Leben beginnt und dabei nicht vergisst, den Blick über die Grenze auf das da drüben einst Geschehene zu richten. In einer Zeit, als: ja kaum einer was gewusst [hat]. Wer nicht im Grenzgebiet hier im Westen gelebt hat, hat das (...) stand's in der Zeitung und so weiter. Im Osten ist es totgeschwiegen worden. Wenn da jemand, wenn die Kinder oder die Enkel die Großeltern gefragt ham, wie war das denn damals […], die ham nichts erzählt, besonders nicht in Streufdorf; aus lauter Angst, […] dass da irgendwas geschieht […]. (IW/1:64)

Gegen das Totschweigen der Ereignisse sind ihm persönlich die zuvor angesprochenen Roßfelder Treffen erste Erinnerungsanlässe, um mehr über den 5. Juni 1952 und seine Folgen für andere zu erfahren, aber auch um eigene diesbezügliche Erfahrungen mit anderen zu teilen. Auch in der Familie erzählt er vereinzelt über 261 Dagegen spricht dann auch die Tatsache, dass – wie seine Frau anmerkt – die Häuser gegenwärtig mehr (finanzielle) Last als Entlastung bringen, zumal zum Zeitpunkt des ersten Interviews zwei Häuser leer standen. Die anderen zwei Häuser hat er nach eigenen Angaben wieder verkaufen können, nachdem er sie teils vermietet hatte. Für die leer stehenden Häuser hat Karl Westhäuser, dies ließ er den Interviewer späterhin noch wissen, mittlerweile Interessenten gefunden, die sich bestimmt weiter darum kümmern [werden] (KBW:4). 262 Auf das Werkeln und dessen Endbilanz verweist er während der Ortsbegehung mehrere Male stolz. So berichtete er ferner amüsiert, dass er in den letzten Jahren in wechselnder Rolle Gerüstbauer, Maler, Putzer- und Malerhelfer war (IW/1:55).

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früher, wenngleich, so meint seine Frau einlenkend, das Thema der Zwangsumsiedlung im Gegensatz zu seinen Kinder- und Jugendjahren dabei nie größere Erwähnung fand (IW/1:54f.). Richtig präsent wird das Thema erst wieder im Zuge der zuvor dargelegten Wendeerlebnisse. Hier wird Karl Westhäuser in gewisser Weise dazu gezwungen, sich bewusster sowie auch aktiver zu erinnern. Denn nachdem die Erinnerung an den einschneidendsten Tag in seinem Leben und im Leben anderer lange Zeit einigermaßen tief gehalten wurde (IW/1:52), gab es nun mehr Gründe und auch Anlässe, um darüber zu erzählen. Nicht zuletzt im Zuge seiner Aufarbeitungsbemühungen wurde er zum Erinnerungsarbeiter in eigener Sache, der sich angesichts gestellter Rückübertragungsansprüche notwendigerweise rückerinnern musste. Abgesehen davon traute er sich im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen von Zwangsumsiedlungen, die lange als Opfergruppen ausgeklammert wurden oder sich selbst keine Stimme gaben (IW/1:65), gegen das Beschweigen und das lange betriebene Vergessen der schmerzlich erlebten Vergangenheit sprichwörtlich anzureden. In die Rolle des Zeitzeugens, der erzählen soll, wie es denn nun genau war, ist Karl Westhäuser, nach eigenen Angaben, aber mehr oder weniger reingerutscht bzw. reingezogen [worden] (IW/2:114). Als er immer häufiger danach gefragt wurde, sah er sich denn selbst immer mehr auch in der Lage, im Gegensatz zu vielen anderen, die weiterhin schwiegen, über seine Erlebnisse und Erfahrungen Rede und Antwort zu stehen. In diesem Sinne hat er schon diversen Leuten, bspw. Journalisten oder Schülern, über den 5. Juni 1952 und seine Erinnerungen hieran berichtet – immer mit dem Ziel vor Augen, die Sichtbarkeit des Themas Zwangsumsiedlung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu erhöhen. 263 Entsprechend sprudelt (IW/1:52) es bei solchen Gelegenheiten, wenn er das eigene Thema Thema werden lassen kann, geradezu aus ihm heraus, wie er sagt. Dann bricht sich die Erinnerung meist ungezügelt, wenngleich in gespurten Linien Bahn und das Ganze erscheint wieder in vielen Facetten vor seinem geistigen Auge. 264 Die derart, durch publik gemachte Erinnerungen, von ihm geleistete Arbeit am Gedenken an das von ihm und anderen erfahrene Unrecht ist seiner Meinung nach nicht weniger bedeutend, als die angestoßene Initiative, am Ort des Geschehens einzelne manifeste Zeichen des Gedenkens gesetzt zu haben: da ham wir nen bisschen, was dazu getan, zum Beispiel durch unsere Gedenkveranstaltung 2002 in Streufdorf, ähm. Dass da viele Leute angesprochen worden […] Und da kamen da welche aus Zella-Mehlis und von sonst wo her, ehemals Betroffene, die kamen dann auch nach 263 Diese Erlebnisberichte fanden letztlich auch in verschiedene Zeitungsartikel Eingang, die dem Interviewer nach dem Gespräch zusammen mit den zuvor erwähnten Archivakten mitgegeben wurden. Obwohl der Interviewte in diesem Zusammenhang immer auch die Dringlichkeit eines stärkeren Besprechens des Themas Zwangsumsiedlung deutlich macht, ist er sich gleichwohl über die Vielschichtigkeit des gegenwärtigen Opfergedenkens in Bezug auf die DDR, aber vor allem auch im Hinblick auf die NS-Diktatur, mehr als bewusst. So sieht er bspw. das Thema Verfolgung von Juden, Sinti und Roma oder die Thematik der Vertreibung in gleichem Maße erinnerungskulturell stärker zu gewichten, womit natürlicherweise Konkurrenzen unter opferbezogenen Erinnerungen entstehen würden (IW/2:113f.). 264 Was sich an der lebendigen Erzählart während der Interviews aber auch anhand der Schilderungen zu den Orten und Ereignissen in Bezug auf den Schauplatz selbst nachvollziehen lässt.

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Gespurte Erinnerungen und erinnerte Spuren – Grenzbiographien Streufdorf; als zum Beispiel der Bernhard Vogel da war. War natürlich, ich mein, da sieben-, achthundert Menschen war'n da sicher in Streufdorf. Ich mein, da war der ganze Marktraum voll (I: mhm). Logisch, ich mein, so nen Zugpferd, wenn man hat, da ist das natürlich (...) und das kam wieder so richtig auf. (IW/1:64)

Dass er zusammen mit seiner Frau, ein bisschen mit zu geholfen [hat] (IW/1:66), dass das Thema wieder im Ortsgedächtnis und darüber hinaus präsenter wurde, erfüllt ihn heute mit gewissem Stolz. Gegen das Vergessen – das Motto der Gedenkveranstaltung, es steht denn nicht weniger für die lebensgeschichtliche Einstellung Karl Westhäusers. Damit das nicht ganz vergessen [wird] (IW/1:70), bedurfte es denn neben persönlichen Schilderungen von Betroffenen, die zur Festlichkeit gedrungen zur Sprache kamen, 265 ebenso einzelner Orte und Ortspunkte des Erinnerns und Gedenkens, die es auch in Zukunft möglich machen sollten, das Vergangene auf bestimmte Art und Weise festzuhalten. So hat die Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag viel für das Erinnern und ebenso viel gegen das Vergessen getan, indem nicht nur Gedenkfeiern – unter prominenter Beteiligung des damaligen Ministerpräsidenten Thüringens Bernhard Vogel – breitenwirksam abgehalten wurden. Es wurde vielmehr besondere Sorge dafür getragen, ein auf Dauer hin angelegtes Ortserinnern zu ermöglichen, indem beständige, feste Objektivationen zum Erinnern (und gegen das Vergessen) geschaffen wurden. In diesem Sinne wurde im Zuge der Gedenkinitiative zum einen der Streufdorfer Marktplatz in den Platz des 5. Juni 1952 umgewidmet, um das an dieser Stelle Geschehene auf lange Sicht wachzuhalten. Zum anderen, und das ist Karl Westhäuser besonders wichtig zu erwähnen, wurde ein eigener Gedenkstein an Ort und Stelle aufgestellt, den er mit anderen Betroffenen in einem Steinbruch im Thüringer Wald ausgesucht hat und der sinnbildlich – als Stein des Anstoßes – seiner Meinung nach immer wieder zum Nachdenken über die Zwangsaussiedlung und Flucht aus Streufdorf 266 anregen soll.

265 In diesem Zusammenhang versuchte der Interviewte dem Gedenken der Ereignisse selbst einen weiteren Aspekt hinzuzufügen. In diesem Fall hat er in seiner, vom Gemeindepfarrer im Laufe einer Gedenkzeremonie vorgetragenen, Erinnerungserzählung versucht, die ihm und seiner Familie während der Zeit in Stützerbach zuteil gewordenen Solidarität seitens der Dorfbewohner herauszuheben. Der Hintergrund: Die Familie erhielt während der Exilzeit in Streufdorf viele Zeichen der Anteilnahme, entweder in Form von Zusendungen oder durch persönliche Besuche. Dazu Karl Westhäuser seine diesbezüglichen Erinnerungen wiederbelebend: dass man zu uns gestanden hat, obwohl man uns eigentlich äh so herabgewürdigt hat und uns diffamiert hat, auch im Nachhinein noch; […] Das war schon (...) vor allen Dingen im Nachhinein kam mir das dann so, es war wirklich schon beachtlich (IW/1:18). 266 Die Originalinschrift lautet: Gegen das Vergessen / 5. Juni 1952 und 3. Oktober 1961 / Zwangsaussiedlung und Flucht aus Streufdorf. Hiermit wurde neben der sogenannten Aktion Ungeziefer ebenso der Aktion Kornblume gedacht, welche mehr als neun Jahre nach der ersten Zwangsaussiedlung, von der Karl Westhäusers Familie betroffen war, nochmalig, wenngleich in kleinerer Anzahl als zuvor, Veränderungen im sozialen Ortsgefüge mit sich brachte. Dem Interviewten ist es in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass er sich mit dem Gedenkstein kein (persönliches) Denkmal setzen wollte. Eher ging es ihm und seinen Leidensgenossen darum, allen Opfern gleichermaßen eine Stimme zu geben (vgl. IW/2:90).

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Neben den derart symbolisch geschaffenen Gedenkplätzen ist es Karl Westhäuser zudem wichtig zu betonen, dass selbst die Orte, mit denen sich lange sein Lebensschicksal unweigerlich verband – Orte und Relikte der Grenze (wie bspw. Grenztürme) – als wichtiges Anschauungsmittel (IW/2:101) bewahrt werden müssten, um nachfolgenden Generationen auch entsprechend anschaulich über die historisch erlebten Gesellschafts- und Raumverhältnisse erzählen zu können. Die Rolle desjenigen, der anderen etwas zeigt und mit Erzählungen anschaulich werden lässt, ist eine, die Karl Westhäuser bis heute fortwährend mit Überzeugung und seiner ganz eigenen Art und Weise des rückerinnernden Berichtgebens auszufüllen weiß. Hierzu passte dann auch der Besuch des Zweiländermuseums Rodachtal 267 in Streufdorf während des zweiten Interviews, in dem er sich seit seiner Begründung 2009 in unterschiedlichen Funktionen engagiert. Im Zuge des gemeinsam realisierten Museumsrundgangs versuchte er mithilfe des Zeigens, Berührens und vor allem Erzählens von Museumsdingen (bspw. Nachbauten, Bilder, Minen oder alarmgesicherte Grenzzäune) keineswegs nur allgemein auf die DDR-Grenzzeit vor Ort einzugehen. Anhand der gezeigten Ausstellungsgegenstände versuchte er mit dem anwesenden Interviewer vielmehr noch die eigene Grenzgeschichte dinglich bezeugt nachzugehen, indem er während des Museumsrundgangs vereinzelt auch seine persönlichen Bezüge zu den Dingen herstellte. 268 Wie Karl Westhäuser im Interview selbst anmerkt, ist er im Zweiländermuseum Rodachtal neben seiner Vorstandsmitgliedschaft im Förderverein zudem im Museumsdienst (IW/1:27) tätig, wobei seine Tätigkeit beim Pflegen der Begrünung anfängt und eben beim Betreuen von Museumsbesuchern aufhört. Wenngleich er kritisch einwendet, für letzteren Dienst im Museum keinerlei pädagogische Eignung zu haben, kann er die mit Besuchern immer wieder unternommenen Vergangenheitsrückschauen doch immer durch etwas anreichern, was das Ganze am Ende einzigartig bzw. so gesehen auch pädagogisch wertvoll macht: einen persönlichen Erlebnisbericht (IW/1:60). Beim wiederkehrenden Berichtgeben über sein Leben, über seine schmerzlich erfahrenen Erlebnisse als Zwangsumgesiedelter und DDR-Flüchtling, ist ihm selber, teilweise durch seine Familie angeregt, schon öfters auch der Gedanke gekommen, dass er all das Erlebte doch einmal niederschreiben könnte, müsste, vielleicht sogar niederschreiben […] sollte (IW/2:122). Dass ihm dieser Gedanke vermutlich immer genau dann in den Sinn kommt, wenn er mit Leuten zusammentrifft, die die vergangene (DDR-)Zeit gerne beschönigen, gar glorifizieren wollen, ist stark anzuneh267 Im Zweiländermuseum Rodachtal werden entsprechend der geographisch gelieferten Bezeichnung unterschiedliche Schlaglichter auf die jüngere, aber auch ältere Geschichte des thüringisch-bayrischen Grenzgebiets geworfen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle noch, dass der Interviewte dem Museum neben seinem Ehrenamt ebenso eine Parzelle von seinem Grundstück zur Verfügung gestellt hat. 268 So steuerte er selbst einige Exponate der Ausstellung bei. In Teilen passierte die oben beschriebene Situation auch schon beim ersten Interview. Hier wurden neben Archivalien auch vereinzelte Erinnerungsobjekte ausgekramt und vorgezeigt, wie bspw. ein Wimpel mit sozialistischer Losung oder eine Armbinde eines FHVP (Freiwilliger Helfer der Volkspolizei). Dies nicht nur, um als Erinnerungsanstoß bzw. -anker zu fungieren, sondern auch, um dem Gesagten gleichsam auch noch eine objekthafte Beglaubigung zu verleihen.

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men. Versteht er sich doch selbst, mit seinem biographischen Hintergrund, gerne als Wossi (IW/1:10, 34), der, dem Namen nach, beide, d. h. ost- wie westdeutsche Seitenblicke in sich vereint und dementsprechend auch für Ansichten sowohl des einen als auch des anderen Verständnis aufbringt. Sein Verständnis endet jedoch zumeist an dem Punkt, wo Menschen damit beginnen, wieder die Mauer hochziehen [zu wollen] (IW/1:36). Solche Mauerhochzieher (IW/1:37) wie auch Ostalgiker (KBW:4) sind ihm nicht nur ein streitbarer Anstoß und zugleich schmerzlicher Verweis auf die eigene Grenzbiographie. Sie sind ihm darüber hinaus eine immer wiederkehrende (negative) Bestätigung dafür, dass vielleicht noch nicht alles zur DDR und vor allem zu seiner eigenen Grenzerfahrung gesagt denn textlich zu Papier gebracht worden ist. Karl Westhäusers Erzählung und seine sich hierin offenbarten Erinnerungsspuren sind aufs Engste sowohl mit einem ganz bestimmten Ort als auch mit einem ganz konkreten Ortsereignis verknüpft. Streufdorf und der 5. Juni 1952 – mit diesen raumzeitlichen Koordinaten ist gleichsam das geohistorische Setting abgesteckt, auf dem sich die Biographie Karl Westhäusers immer wieder narrativ aufbaut. So dreht sich seine erzählte Lebensgeschichte, egal in welche Richtung man sie denn verfolgt, zumeist um diese beiden Eckpunkte herum. Ob das die Erzählung zum einschneidendsten Tag in seinem Leben selbst ist, die mit allerhand (dichten) Ortsschilderungen besticht, oder ob es der aus dieser Geschichte heraus begangene oder nicht-begangene Lebensweg und deren Rückbeschau ist, in allen Fällen führt die Spur zu diesen zwei Punkten zurück. Die Gewichtung seiner eigenen Geschichte in bedeutende und weniger bedeutende Lebensabschnitte zeigt dann auch, dass die biographischen Ereignisse und Wege rundum die Zwangsaussiedlung rückblickend betrachtet gewichtiger erscheinen – gewichtiger als sein anderes Leben, was er späterhin in der BRD führte, was sich seiner Meinung nach einfach so ergeben hat (IW/1:20). Insofern nimmt der mit Streufdorf und dem 5. Juni 1952 unmittelbar verbundene lebensgeschichtliche Einschnitt (Widerstand, Verhaftung, Haft, Zwangsaussiedlung) und die hierauf nachfolgenden Wegstationen (Exil, Flucht) aufgrund ihrer schicksalhafteren Züge in der Rückerinnerung auch einen größeren Raum ein. Dagegen stellt sich das Einleben auf der anderen (westlichen) Seite der Grenze mehr als eine normale Fügung dar, der demgemäß auch nicht weiter erzählerisch nachgegangen werden muss. Erst als die Verbindung zum früheren Leben und Lebensmittelpunkt, welche im Laufe der Jahre über persönliche Kontakte nie vollkommen abriss, wieder durch den Wegfall der Grenze 1989 direkter aufscheint, beginnt auch die Beziehung zum ersteren, traumatisch endenden Lebensabschnitt Ost wieder mehr an Bedeutung für sein darauf gelebtes Leben zu gewinnen. Eröffneten sich doch mit dem freien Grenzübertritt in die sonst für ihn unzugängliche Sperrzone nicht zuletzt auch vielerlei (ungeahnte) Möglichkeiten des Aufarbeitens der eigenen Erlebnisse, welche das physisch Trennende, die innerdeutsche Grenze, noch kurz zuvor weithin unmöglich erscheinen ließ. Bei alledem halfen ihm vor allem das Zurückkehren in die verlorene Heimat und die persönlich betriebene Spurensuche vor Ort, um das ganze Erlebte unmittelbarer aufzuarbeiten. Wie die vorhergehende Rekonstruktion der Erzählung Karl Westhäusers deutlich gemacht hat, suchte er als Zwangsumgesiedelter im Zuge seiner Aufarbeitungs-

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bemühungen nicht nur nach Entschädigung für seine verloren gegangene Geschichte, indem er lange unzugängliche Archivakten sichtete und vor allem die Orte seiner Leidensgeschichte besuchte, um sie denn auch in gleicher Weise auf materiell überdauerte Spuren der Vergangenheit hin rückzubeschauen. Angesichts der wirtschaftlichen Katastrophe (IW/1:21), die seine Familie (als Kaufmannsfamilie) zu erleiden hatte, suchte er ebenso nach finanzieller Entschädigung für die Enteignung seines ursprünglichen zu Hauses, welches er erst nach 37 Jahren Abstinenz und vielen Jahren des Zurückkämpfens wirklich wieder sein zu Hause nennen durfte. Alles zusammengenommen trifft es letzten Endes wohl der Topos der Erinnerungswunde (vgl. TILL 2012), als Grundmovens und zugleich Resultat der erinnernden Spurensuche, recht gut. Eine Wunde, die durch das Zurückholen der ehemals beraubten Heimat und dem Wiederherrichten der Familienhäuser genauso in Teilen seine Heilung erfuhr, wie auch das körperlich-materielle Abarbeiten am Grund allen Übels, der Grenze, in dieser Hinsicht Abhilfe (Genugtuung) leistete. Welche Wunden die Grenzerlebnisse fernab der materiellen Dimension hinterlassen haben, wurde ferner speziell daran deutlich, inwieweit sich die einst hinterlassenen SprachSpuren in der Erzählung über die Jahre hinweg erhalten haben, wie insbesondere an dem Wort Element und deren reflexhaften Reaktionen hierauf deutlich gemacht werden konnte. Am Ende bleibt der Gesamteindruck, dass der Widerstand, den Karl Westhäuser als 16-Jähriger im Juni 1952 leistete und der zum Ausgangspunkt seines schicksalhaften Lebensweges wurde, zeitlebens nie wirklich geendet ist. Er hat sich nach der Wende 1989/90 sprichwörtlich nur gewendet, insofern Karl Westhäuser weiterhin, aber indes aktiver, mit persönlichem Engagement und Eigensinn (zugespitzter Sprach-/Wortgebrauch), gegen seine Geschichte und gegen die seines Heimatortes beständig widerständig blieb. In dieser Hinsicht verschreibt sich Karl Westhäuser denn bis heute in gleicher Weise einer ortsbezogenen Erinnerungspflege, die immer wieder sprichwörtlich den Finger in die Wunde legt. Möglich wird dies nicht zuletzt dadurch, dass er offen Auskunft über seine ganz speziellen DDR-Grenzerfahrungen gibt, gegen das Vergessen anredet und obendrein einen erinnerungskulturellen Beitrag dazu erbringt, ein sich mittlerweile konstituierendes Ortsgedächtnis durch Gedenkzeichen und erinnerungspraktische Darbietungen auf lange Sicht hin präsent bzw. präsenter zu halten.

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Geohistorisches Spurenlesen in reflexiver Schleife

»Der Erkenntnisweg des Feldforschers führt über das Fremde zum Eigenen, seine Analyse in Form der dichten Beschreibung ist Ergebnis eines selbstreflexiven Prozesses.« (JUREIT 1999a:83) Das Nachdenken über die Standortgebundenheit wissenschaftlicher Forschung ist inzwischen in vielen Teilen der scientific community, insbesondere innerhalb von interpretativ-verstehenden Forschungszweigen zu einem gewissen Allgemeingut erklärt worden (vgl. BOHNSACK 2010; BREUER 2010; FLICK et al. 2012). Insofern scheint es immer mehr auch Brauch zu werden, im Nachgang zur eigenen Forschungsarbeit Reflexionen anzustellen. Aus dieser Bewegung eines bereits ausgerufenen reflexive turn (BACHMANN-MEDICK 2006:39) heraus soll es auch nachfolgend darum gehen, in reflexiver Schleife über die zurückliegende Theorie-, Methodologie- und Empirie-Arbeit, nicht zuletzt auch in ihrer Verbindung zueinander, nachzudenken. Die wohl größte Herausforderung bei der Entwicklung und Exploration des Konzepts geohistorischen Spurenlesens bestand von Anfang an darin, zu klären, wie man dazu gelangt, etwas herbeizuführen bzw. ans Tageslicht zu bringen, was gemeinhin auf Zufällen und Überraschungen fußt: Spuren und Spurenlesen. Jene Frage wurde bei der Übertragung einzelner Spuren-Axiome (Kap. 3.3) in ein eigenes Spurenkonzept (Kap. 4.2, 4.3) bis hin zur Operationalisierung in eine entsprechende Methodik/Methodologie (Kap. 5) bereits grundlegend beantwortet. Im Hinblick auf die zurückliegende Forschungspraxis hat sie aber indes noch Schwierigkeiten mit sich gebracht sowie offene Fragen zurücklassen. So ist das unabsichtliche Hinterlassen von Spuren, das eine, noch leicht Nachvollziehbare – und dass, obwohl es weithin im Verborgenen stattfindet. Das weniger leicht Nachvollziehbare ist hingegen das Suchen wie auch das Finden- und Lesen-Lassen von Spuren, das, obgleich es (idealtypisch gedacht) absichtsvoll und auch präsent abläuft, zusammengenommen auf einer undurchsichtigen, intuitiven, weil abduktiven Erschließungspraxis basiert. Infolgedessen erschien es nicht zuletzt auch schwierig, etwas unter Laborbedingungen beobachten und ergründen zu wollen (vgl. LATOUR 2000a, 2006; RHEINBERGER 2007:297f.), was normalerweise weniger geplant, als vielmehr plötzlich und überraschend vonstattengeht (Stichwort: abduktiver Blitz;

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REICHERTZ 2012:283). Da Spuren zumeist nur als Störungsanzeiger (Kap. 3.3.5) auftreten, bedurfte es schließlich auch eines störenden Moments, um der Spur zur Sichtbarkeit zu verhelfen und um das Spurenlesen persönlicher Vergangenheiten mitsamt spurengeleiteten Erinnerungsdurchbrüchen (NIETHAMMER 1985c:402) gewissermaßen erst in Gang zu bringen. Dies war in der Forschungspraxis mitunter schwieriger zu erbringen als angenommen, zumal sich dieser Störungsmoment nicht immer und ohne Weiteres, vergleichbar einer Experimentierreihe, steril herstellen, kontrollieren oder gar regulieren ließ. So konnte oder wollte sich die resonante und autologische Selbstreflexivität, wie sie zuvor theoretisiert wurde, denn nicht in jeder Erhebungssituation einstellen, zumal die Spurenleser nicht immer, wie erhofft, als Hermeneutiker in eigener Sache (HARD 1995:125) auftraten. Gezeigt hat sich dies u. a. immer dann, wenn innerhalb der selbstreflexiven Spurenlese weniger Bezug zu sich selbst, also zur eigenen Grenzbiographie gesucht wurde, als vielmehr zu eher allgemeineren, kollektivierten und damit auch in Teilen entpersonifizierten Lesarten der DDR/Grenze (vgl. Kap. 6). Aber auch in durchaus persönlicheren Momenten der Spurensuche offenbarte sich dieser Effekt, wenngleich in abgewandelter Form; z. B. immer genau dann, wenn sich die Befragten mehr im Auslesen bereits bekannter, offensichtlicherer Geschichtszeichen übten (bspw. DDR-Bilder, Grünes Band), weniger jedoch in dem Erschließen eigener, eher unbekannter oder vergessener Vergangenheitsspuren, die ein Schlaglicht auf biographisch bedeutsame Erlebnisse eines jeden Selbst geworfen hätten. So gesehen sind die Erinnerungsspuren, denen narrativ wie materiell gefolgt wurde, in vielen Fällen auch in ihren eingespurten Bahnen belassen worden, indem mitunter mehr Gemeinplätze und weniger persönliche Ansichten zur DDR/ Grenze hervorgeholt und präsentiert wurden. Selbst bei Fragen, die die jeweiligen Grenzerfahrungen jeweils neu bzw. anders zu erfragen versuchten, kam es oft dazu, dass, abweichend zur Frage, zurechtgelegten oder gesellschaftlich anerkannten Erinnerungsmustern (JUREIT 1999a:385) gefolgt wurde, was mit Blick auf die eigene, selbst erlebte Grenzgeschichte mitunter einer Erinnerungsvermeidungserinnerung gleichkam. In letzterem Falle wurde in Anlehnung an LUHMANN, der in systemtheoretischer Manier von einer Kommunikationsvermeidungskommunikation (LUHMANN 1997:235) sprach, eine eigene Begriffssetzung vorgenommen, die auf das Phänomen des kommunizierten Ausblendens eines Teils des Gesagten durch das gesellschaftlich bewusste Verschweigen des vermeintlich Evidenten deutlich zu machen versucht. Auf den eigenen Betrachtungsgegenstand bezogen: Fällt das Wort DDR oder Grenze in einem Gespräch, so ist damit vermeintlich schon alles gesagt, was es darüber zu sagen gibt. Die Erinnerung an die DDR/Grenze wird so gesehen im Sinne einer Deckerinnerung gedeckelt, d. h. so weit reduziert, dass persönliche tieferliegende oder auch kontingente Geschichtserfahrungen gar nicht wirklich zur Sprache kommen können. Ungeachtet der Probleme, die sich beim Evozieren verborgener Gedächtnisinhalte eingestellt haben, hat es gleichwohl Sinn gemacht, zwei (triangulativ ineinandergreifende) Erhebungswege gewählt und eingeschlagen zu haben: von der ersten lebensgeschichtlichen Ausbreitung des Spurenfeldes bis zum leibhaftigen Nachgehen einzelner ortsbezogener Grenzspuren. Auch die in diesem Zusammenhang ge-

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troffene Methodenwahl (narratives Interview, teilnehmende Beobachtung) hatte sich insoweit bewährt, da in beiden Fällen die Spurenlese methodisch angemessen sowohl ihren Anstoß als auch ihre Begleitung erfuhr. Denn bei allen Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, die Spurensubjekte zum auto-biographischen wie autogeographischen Spurenlesen anzuleiten, war es dem begleitenden Wissenschaftler gleichwohl jederzeit möglich, günstige Voraussetzung hierfür zu schaffen. Günstig war vor allem, den context of discovery (HARD 1993:98ff., 1995:130), also ein Setting, eine Kulisse umrissen zu haben; alles in engem Bezug auf die erinnerungshistorisch bedeutsamen Lebenswege und -punkte der Befragten. Schließlich wurde es auf diese Weise möglich, die spurengeleiteten Vergangenheitsrückschauen an Ort und Stelle sowohl zu initiieren als auch die jeweilige geohistorische Bindung der Spurensubjekte an Raum und Zeit zu erhöhen (vgl. Kap. 2, 4.3). Was dies zu bedeuten hat, konnte man u. a. bei der Interviewten Eva Apitz beobachten. An einer Stelle der Grenzbegehung verwies sie ganz explizit wie selbstreflexiv darauf, durch die gebotene Möglichkeit der Suche nach persönlichen Spuren einen Anlass und zugleich Anstoß dafür geliefert bekommen zu haben, sich (noch) stärker mit der selbst erlebten Vergangenheit und deren lokalspezifischer Räumlichkeit sowie Zeitlichkeit auseinandersetzen zu können. So meinte sie ganz beiläufig erwähnen zu müssen: Ist interessant, also ich frage mich jetzt eigentlich, musste ich warten bis sie kommen, dass ich mal wieder hierherkomme (IA/2:44). Vor diesem Hintergrund war dann auch insbesondere das ortbezogene Gehen und Begehen, was in der zweiten Erhebungsphase stattfand, überaus geeignet dafür, ein szenisches Erinnern zu befördern, was gleichermaßen eine fruchtbare Verbindung von narrativierten Vergangenheitsspuren (Erzähl-Spuren) und vergegenständlichten/ verkörperten Vergangenheitsspuren (Objekt-Spuren) beförderte, innerhalb derer letztlich die Erinnerungsspur jedes Einzelnen erst in vielen Schattierungen aufscheinen konnte. Aber auch das dabei Nicht-Aufgeschiehene, das quasi Entzogene (vgl. LÉVINAS 1987), was bei aller praktizierter Spurenlese und ihrer Auswertung stets auch zugegen war, ist in gleichem Maße gewinnbringend dafür gewesen, um über die nicht-thematisierten Leerstellen und dem Nicht-Gezeigten zu empirischen Aussagen (über das Abwesende) zu gelangen. In diesem Punkt käme es zukünftig vielleicht noch mehr darauf an, diese Leerstellen im Laufe der Erhebung selbst stärker zum Thema zu machen. Dies würde dann neben dem ortsbezogenen erklärtermaßen auch das zeitbezogene Bedeuten von Spuren betreffen. Hier könnte das Bedeutete dezidierter neben das nicht-Bedeutete gehalten werden, um aus diesem Vergleich heraus die raumzeitlich variierenden Gegenwartsbezüge der Vergangenheitsbeschau in den Blick zu bekommen und gesamtbiographisch reflektieren zu können. Dies könnte z. B. durch das zeitlich verschobene Befragen der Spurenleser (über Jahre hinweg) erzielt werden, genauso wie durch das Gegenhalten der gemachten Jetzt-Aussagen zu historisch weiter zurückliegenden Aussagen, wie sie z. B. in selbst verfassten Ego-Dokumenten – in Tagebüchern, Memorien, Briefen, etc. – zu finden sind (vgl. JUREIT 1999a:396; STEPHAN 2004:2). Denn: Warum wurde die DDR und die Grenze in den Gesprächssituationen jeweils so erzählt und gezeigt wie sie erzählt und gezeigt wurde, und warum nicht ganz anders? Und: Welcher lebensgeschichtliche Umstand hat die Auswahl der begangenen Spuren einerseits

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befördert und die anderer andererseits verhindert (Stichwort: Verdrängung)? In dieser Hinsicht scheint es insofern angebracht, eine stärkere Sensibilität dafür aufzubringen, implizites, stummes oder vielleicht noch nicht artikuliertes (Erinnerungs-)Wissen, was sich z. B. in der Spurenlese gezeigt, aber nicht weiter ausbuchstabiert hat, zum Gegenstand der Spurenlese selbst sowie der ihr folgenden Nachlese (Analyse) zu machen. In gleichem Maße sollte man auch sensibilisiert für die die Spurensuche begleitenden bzw. mitbestimmenden Artefakte sein, die in dieser Arbeit zwar stets mitbedacht aber nicht immer derart tiefgründig mituntersucht wurden: die Rede ist von Fotos, Filmen oder anderen Alltagsdingen, die neben der Hauptquelle Erzählung noch weiter- sowie tiefergehende Spurenlektüren ermöglichen könnten. In eben genau derselben sensiblen Haltung sollte man als wissenschaftlicher Spurenleser darüber hinaus für die vorrangig nebensächlich erscheinenden Schauplätze der Spurensuche offenbleiben, um die Eigensinnigkeit einer jeden subjektivierten Erinnerungsspur und Spurenlese nicht zu torpedieren bzw. in toto unberücksichtigt zu lassen. Beispielhaft sei hier nochmals ein Auszug aus der Fallgeschichte Eva Apitz angeführt. Im Rahmen dieser geohistorischen Spurensuche hat sich die ganz persönliche Erinnerungsspur nicht nur an den offensichtlichen Wegpunkten ihrer eigenen Grenzgeschichte entlang entwickelt und solcherart ausbuchstabiert. Wie das Ende der Grenzbegehung zeigen sollte, führte ihre Spur noch zu einem anderen lebensgeschichtlich bedeutsamen Ort zurück. Das Endziel unserer gemeinsam unternommenen Grenz-Tour war der nahegelegene Wallfahrtsort Etzelsbach, wo es schließlich um ein nicht weniger bedeutsames Ereignis in ihrem Leben gehen sollte, das (scheinbar) zunächst nicht so viel mit der Grenze zu tun hatte: der Besuch Papst Benedikts XVI. im September 2011, dem sie selbst mit hunderttausend Anderen beiwohnte. Aufgrund der Bedeutsamkeit dieses Ortes und dieses Orts-Ereignisses in ihrer eigenen Auto-Bio-/Geographie war es ihr insofern auch ein besonderes Bedürfnis, mit dem Interviewer zusammen dieses Erlebnis nochmals an entsprechender Stelle nachzugehen. Der in dieser Situation zu enggeführte Blick des Interviewers auf Grenzerfahrungen verhinderte jedoch, dass diese nochmalige Chance der ortsbezogenen Anknüpfung an die Lebensgeschichte der Befragten, die, wie in der Fallrekonstruktion dargestellt, von einem tiefen Glauben getragen ist, am Ende ungenutzt blieb, da an dieser Stelle nicht weiter nachgefragt bzw. nachgespürt wurde. Neben den im Rahmen der Feldforschung aufgesuchten Ortsspuren haben vor allem all jene entdeckten Sprachspuren, so hat es die vorhergehende Fallanalyse gezeigt, dazu gedient, besondere Erlebnisse, Brüche, Umschreibungen oder Kontingenzen in der erinnerten Lebensgeschichte der beforschten Spurensubjekte rückverfolgen zu können. Derart hat vor allem der Fall Westhäuser deutlich gemacht, auf welche eigensinnigen Begriffe und Formulierungen Spurensucher ihre, teils schmerzlich gemachten Erfahrungen (hier: Grenzerfahrungen) bringen können; in diesem Fall machte sich dies insbesondere am Überdauern sozialistischer Redewendungen und Sprachgebräuche deutlich, wie am Wort Element eingehender dargestellt. Bei der Untersuchung von lebensgeschichtlich zurückgebliebenen Spuren in der Erinnerungserzählung wäre es rückblickend betrachtet vielleicht noch gewinnbringender gewesen, diese Überbleibsel der DDR/Grenze noch stär-

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ker im Gespräch selbst zur Sprache zu bringen, indem man den selbstverständlich eingespurten Gebrauch der Sprache und einzelner Wörter hierin zusammen mit dem Spurenleser genauer hinterfragt und diskutiert. Genauso hinterfragbar wären ferner die erinnerungskulturellen Gemeinplätze gewesen, die, wie oben bereits angedeutet, in den Erzählungen – allen voran mit Blick auf die DDR-Zeit – ihre Erwähnung und damit ihren angestammten Platz fanden. Mit JUREIT gesprochen, käme es in diesen Fällen noch mehr darauf an, den Raum des Sagbaren und NichtSagbaren (JUREIT 1999a:295) stärker auszuloten, indem man das Gesagte nicht nur mit den gängigen Erinnerungsdiskursen spiegelt, sondern in Bezug auf Auslassungen, De-Thematisierungen oder Verdrängungs- bzw. Vergessensaspekte hin dezidierter befragt und sodann eben auch hinterfragt (vgl. ASSMANN 2012). Gleiches würde ebenso für die Suche nach den geohistorisch bedeutsamen Erinnerungsdingen in Frage kommen. Auch in diesem Zusammenhang wäre die Forschungsfokussierung noch stärker darauf auszurichten, wie eine dingliche Spur (Ort, Artefakt) grundlegend in den situativen Blick des Spurensubjekts gerät. Man denke hier schließlich nur an solche speziellen Momente, in denen objekthafte Spuren ausfindig gemacht werden, die als Landmarke irgendwie zu dem Gesagten passen sollen oder ihm als materialisierter Gewährsmann zur Seite gestellt werden sollen; wenn z. B. ein Grenzer seine Erfahrung während des Grenzschutzes erzählen will und deswegen an den Ort zurückgeht, der dies seiner Meinung nach gleichsam erinnerungskulturell beglaubigen kann (u. a. ein Kolonnenweg oder ein Wachturm). Um allerdings noch mehr an verborgene Spuren der im Fokus stehenden Spurensubjekte zu gelangen, wäre es überdies denkbar, die Spurenleser noch mehr selbst an die Orte und Artefakte, die für sie noch eher unbekannt sind, heranzuführen, was gewissermaßen erst das zuvor beschriebene Spurenlesen (im eigentlichen Sinne) herausbeschwören würde. Dies hieße im Umkehrschluss nur, dass der context of discovery, das Erinnerungssetting, noch mehr vom Forscher vorzugeben bzw. vorzustrukturieren wäre, was sicher zugleich immer die Gefahr in sich birgt, am raumzeitlichen Erinnerungshorizont des Spurensubjekts vorbeizuzielen. In jedem Fall würde dieses leicht modifizierte Vorgehen erlauben, etwaige Routinen im Lesen von Spuren an Orten und Dingen zu umgehen, mit dem Ergebnis: eine eher entroutinisierte Lektüre der Welt zu befördern, die nicht mehr Erinnertes (weil Vergessenes) oder so noch nicht Betrachtetes in den Blick bekäme. Im Hinblick auf die forschungstechnische Unterlegung der Empirie hat sich die Wahl der audiovisuellen Aufnahme durch ein Diktiergerät und begleitender Fotos zur Erhebung und Dokumentation des Ganzen insgesamt gesehen als nützlich erwiesen. Allen voran bei der Spurensuche und der Erhebung von Erzählspuren schaffte der Mitschnitt des Gesagten und deren nachfolgenden Transkription die notwendige (Daten-)Grundlage zur spurengeleiteten Sprach- und Inhaltsanalyse. Wie schon in der methodischen Herleitung angesprochen (vgl. Kap. 5.3), wäre für die Dokumentation beider Bereiche der Spurensuche, dem körperlich-materiellen und sinnhaften Nachvollzug der Spurenlese, sicher ein Videomitschnitt hinsichtlich einer umfassenderen Dokumentation in mancherlei Hinsicht gewiss geeigneter

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gewesen. 269 Könnte doch so noch mehr die performative Seite des Spurenlesens, d. h. das Ausgraben, Zeigen oder Nachstellen der Spur auch noch im Nachhinein (filmisch) rückverfolgt werden; alles das, was Feldnotizen, Fotos oder Memos nur in bedingtem Maße ermöglichen, zumal hier nicht immer für alle beobachtungsrelevanten Sachverhalte aufgrund selektiver und starrer Aufnahmemöglichkeiten (Kamerafokus, Beobachterblick) genügend Platz ist. In diesem Kontext ist aber indes, und das wurde auch im Vorab zur eigenen Spurensuche schon mitbedacht, zu sehen, inwieweit das videographische Aufnehmen des Geschehens nicht auch dazu führt, dass der Spurenleser in seinem natürlichen Handeln beeinflusst wird, indem er z. B. während des Gefilmt-Werdens meint, besonders medienwirksam auftreten zu müssen. Mit Blick auf die spezifische Rollenverteilung im Forschungsprozess bleibt über den Technikeinsatz hinaus noch zu reflektieren, inwieweit sich durch das Hinzukommen eines zweiten (nahestehenden) Spurensuchers sich immer auch plötzliche Wendungen im Spurenerzählen und -deuten einstellen können. Im positiven Sinne mögen dadurch sich gegenseitig befruchtende Gedächtnisstützen erwachsen, die die geohistorische Spurensuche am Ende mitunter ertragreicher werden lassen, wie im Falle Westhäuser und seiner Frau geschehen. Negativ betrachtet, könnten sich daraus aber immer auch nicht abzuschätzende Unwegsamkeiten, Dynamiken oder Brüche ergeben, die die Feldforschungsarbeit teils erheblich beeinflussen bzw. erschweren können; z. B. wenn eine hinzugekommene Person den im Fokus stehenden Spurensucher fortlaufend unterbricht oder ganz und gar das Interviewgeschehen an sich reißt. Dies kann alles dazu führen, dass der an und entlang von Spuren in Gang gesetzte Erinnerungsfluss gestört wird oder ganz und gar zum Erliegen kommt. Bei allen technischen Fragen der Erhebung, Aufnahme und Speicherung des empirischen Materials ist zudem der Faktor Zeit als kein unwesentlicher zu betrachten. Denn, so lässt mit Blick auf die zurückliegende Feldforschungsarbeit festhalten: Man muss mitunter viel Zeit aufbringen, um der Spur des Spurenlesers wirklich auf die Spur zu kommen; viel mehr, als man vielleicht vorher veranschlagt hat und viel mehr, als für Interviewerhebungen sonst üblicherweise veranschlagt werden.270 Dieser Umstand ist allen voran darauf zurückzuführen, dass interessante Spurenbezüge nicht immer unmittelbar durchs Fragen hervortreten. Sie blitzen meistens erst in den Momenten auf, in denen man sie am wenigsten erwartet: in eher informellen Gesprächen, u. a. während des Schlenderns, des Kaffeetrinkens oder der Autofahrt. In diesen Momenten ist der Spurensucher anscheinend eher bereit, etwas (mehr) über seine Vergangenheit und seine diesbezüglichen Erlebnisse preiszugeben, als es in den künstlich geschaffenen Interviewsituationen möglich scheint. So gesehen ist es für das angewandte Spurenlesen von Vorteil, genügend (im Besonderen auch informellere) Zeiträume zu schaffen, in denen der Spurenleser die 269 Vergleichbar der Arbeit von LANZMANN, der einen erdnahen Film ([1985]2000:104) über die vergessenen Orte und Ortszeugen der Shoah gemacht hat, indem er Überlebende bei deren Spurensuche begleitete und dies für die Nachwelt filmisch-dokumentiert hinterlegte. 270 So haben einzelne Spurensuchen, allen voran die an den persönlichen Erinnerungsorten, bis zu mehreren Stunden in Anspruch genommen.

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Möglichkeit erhält, an den Orten und Ereignissen so lange verweilen und innehalten zu können – gedanklich oder wahrhaftig –, bis ihm besondere Spuren seiner Lebensgeschichte aus dem Gedächtnis sprachlich oder körperlich-leiblich vorstellig werden.271 Bei alledem muss seitens des wissenschaftlichen Spurenlesers nicht nur eine angemessene, zurückhaltende wie geduldige Haltung eingenommen werden. Er muss vielmehr auch eine richtige Balance zwischen einem Nah-dran-Sein am Geschehen und einem Nicht-Stören des sich Vollziehenden finden, was sich in einzelnen Momenten der durchgeführten Feldforschungsarbeit ebenfalls als eine Schwierigkeit herausstellte. Damit zusammenhängend, gilt es insofern ebenso Spannungen zwischen dem, was man meint durch den Spurensucher erzählt zu bekommen und dem, was man letztlich erzählt bekam, auszuhalten; wie es immer auch darum gehen sollte, Nicht-Erwartetes aufzunehmen und wiederum selbst zum immerwährenden Aufhänger der Spurenleser bzw. zum Frageanlass zu machen. Es hat sich insofern als günstig erwiesen, sich, als derjenige, der dem Spurenleser beim Spurenlesen folgt, mit seinem eigenen Vorwissen zum beforschten Spurenfeld ein stückweit zurücknehmen, um am Ende möglichst offen und unvoreingenommen gegenüber dem Präsentierten zu sein. Aus dieser naiven Forschungshaltung resultierten nicht zuletzt aber auch bestimmte (unbeabsichtigte) Nebeneffekte. So hatte es zum einen manchmal den Anschein, als würde das Spurenlesen (vor allem an den Erinne-rungsorten) von den Spurenlesenden in Teilen als zu banal angesehen werden, als dass es denn ihrer Meinung nach (noch) wissenschaftlich relevant sein könnte. 272 Zum anderen führte die Zurücknahme des Forschers im Erhebungsprozess mitunter dazu, dass sich der Erzähler mit seinem eigenen (Erfahrungs-)Wissen teilweise über die Position und Expertise des Interviewers erhoben sah – im Sinne von: wissen se nicht…, können se nicht wissen… (vgl. Fall Westhäuser). Im Vergleich und entgegengesetzt dazu, gab es aber gleichwohl auch das in der lebensgeschichtlichen Forschung schon häufiger zu beobachtende Phänomen, dass interviewte Zeitzeugen meinen, mit der persönlichen Rückerinnerung und Spurenlese nichts Wichtiges erzählen oder zeigen zu können (vgl. HAGEMANN 1990). Dieses 271 Hier wäre dann u. a. auch zu überlegen, ob die zuvor noch voneinander getrennten Erhebungsphasen nicht enger zusammengeschoben werden könnten, indem man sie gleichzeitig, also zusammen an Ort und Stelle stattfinden lässt. Dagegen spräche indes die aufeinander aufbauende Dramaturgie – die Lebensgeschichte zu Hause erzählen und an die lebensgeschichtlich bedeutsamen Ortsspuren rückbinden –, die sich während des Feldaufenthalts als überaus gewinnbringend herausgestellt hat. 272 Dies kann wohl u. a. darauf zurückgeführt werden, dass gesellschaftlich gesehen, Forscher immer noch als die angesehen werden, die allein an Greifbarem und dem objektiven Erhabensein über die Untersuchungsgegenstände definiert werden; sie werden jedoch weniger mit Abwegigem oder Diffusem in Verbindung gebracht, wie eben mit Spuren, die ihrer Ansicht nach schwer greifbar und dingfest zu machen sind. Demgegenüber steht gleichwohl eine sich in den letzten Jahrzehnten veränderte wissenschaftskritische Innenansicht, die mehr und mehr einen Verzicht auf die Kategorie des Wissenschaftlers und seine Aura der Erhabenheit [propagiert] (SCHLOTTMANN 2005b:113), um damit den Blick mehr für das (vermeintlich) Nebensächliche frei zu bekommen. Zu letzterem haben sicher mikro- und alltagswissenschaftliche Forschungsrichtungen, insbesondere auch aus Geographie und Geschichte stammend, ihren jeweiligen Teil beigetragen (vgl. Kap. 4.3.1 und 4.3.2).

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Phänomen äußerte sich vor allem bei dem zuvor präsentierten Interview mit Eva Apitz. Nahm sie sich doch selbst sowie ihre vorgetragenen Erinnerungen wie auch biographisch gespurten Orts- und Ereignisschilderungen nicht allzu ernst, aus dem Grund, einfach nicht so gebildet [zu sein] (IA/1:42). Infolgedessen kam es dann am Ende des ersten Gesprächs mit Eva Apitz auch zu der (verlegenen) Frage, ob der Interviewer denn etwas mit dem Gesagten anzufangen wüsste (ebd.). In gleicher Weise wurde auch während des zweiten Interviews vereinzelt danach gefragt, wo der Interviewer denn noch alles hinmöchte, was ihm noch wichtig sei, was noch gezeigt werden müsste, um den wissenschaftlichen Ertrag der Ortsbegehung möglichst groß zu halten, woraus – entgegen dem ursprünglich Gewollten – ein vereinzeltes Zurücknehmen der eigenen Person und Rolle der eigentlich im Fokus stehenden Zeitzeugin resultierte. Derentwegen wurde es auch mehrmals notwendig, die Stoßrichtung und Triebfeder der Spurenlese wieder in die Hände der Interviewten zurückzugeben. Dies war genauso aus dem Grund notwendig, um am Ende eben nicht Gefahr zu laufen, dem Zeitzeugen bestimmte Interpretationsschablonen einfach überzustülpen (JUREIT 1999b:25), welche die selbstbezogene Spurenlese in Teilen verstellt oder ganz und gar verfälscht hätte. Nur durch ein wirkliches und in mehrfacher Hinsicht reflexives Spurenlesen (HARD 1989:9) konnte letztlich der Zugang zur Erinnerungs- und Erfahrungswelt der Beforschten eröffnet werden. Bei alledem kam es schließlich immer wieder auch darauf an, sich seine eigene Rolle als Forscher stetig vor Augen zu führen und reflexiv im Untersuchungsgeschehen mitzubedenken bzw. anzupassen. Als jemand, der der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Untersuchten keineswegs außen vorsteht und einzelne Geschichtserfahrungen sogar biographisch teilt, ist es in diesem Sinne geradezu elementar zu sehen und abzuklären, wie man als begleitender Mitleser der Spurenlese auf den Spurentext Einfluss genommen hat und zu welchem Teil. Hierfür braucht es eine ständige Reflexion darüber, wie man an dieser Textproduktion beteiligt war, d. h. inwieweit und in welchem Maße man in diesen mit hineingeschrieben hat (oder eben auch nicht). Diesem Grad an Offenheit und Transparenz eigener Forschung kommt man letztlich nur bei, wenn man die eigene Lesart der subjektiven Lesarten für einen selbst und andere so plausibel wie möglich darlegt. Dies kann letzten Endes nur gelingen, wenn man stets mitbedenkt, die gewonnenen empirischen Ergebnisse ebenso hinsichtlich eigener Einsprengsel, mithin Spuren eigener Welt- und Geschichts(an)sichten, hin zu besehen. Um mit einer (für einige Leser) sicher ernüchternd klingenden Einsicht zu schließen: Die spurengeleitete Analyse von erinnerten Biographien und Geographien kann letztendlich nur als eine Annäherung an das Erleben von Geschichte (JUREIT 1999a:395) angesehen werden – eine Annäherung, die sowohl vom Beforschten als auch Forschenden gemeinschaftlich auf den Weg gebracht wurde. Führt man sich dies vor Augen, dann weiß man zu guter Letzt auch die Früchte der eigenen Forschungsarbeit (in doppelter Hinsicht) besser einzuschätzen und solcherart auch entsprechend zu honorieren.

10 Wozu Erinnerungen, Spuren und Räume geohistorisch lesen?

In Rückbezug auf Friedrich Schillers universalhistorisch gestellter Frage anlässlich seiner akademischen Antrittsrede von 1789 an der Universität Jena, soll es nun abschließend neben der Frage nach dem »Wozu« ferner um die Klärung dessen gehen: Was heißt und zu welchem Ende studiert man »Erinnerungen, Spuren und Räume«? 273 Bevor es zum abschließenden »Wozu« und dem »Ende« kommt, gilt es jedoch zuvor erst einmal rückblickend die Erträge dieser Arbeit über ihre jeweiligen Teiletappen zusammenzufassen. Aller Anfang war eine Spur. Die Spur, von der die zurückliegende Forschungsarbeit ihren Anfang nahm, fand in einem spatial turn, genauer gesagt in einer wissenschaftstheoretischen Wende ihren Ursprung, in deren Entwicklungsverlauf Vertreter einer deutschsprachigen Geographie und Historiographie – nach langer Beziehungsabstinenz voneinander – schließlich wieder mehr auf Tuchfühlung zueinander gehen sollten. Wie in KAPITEL 2 dargelegt, führte dieses neuerlich gewonnene Verhältnis allerdings nicht zu dem, was diesbezüglich und aus heutigen Wissenschaftsgesichtspunkten wünschenswert gewesen wäre: ein interdisziplinäres Zusammendenken und Ineinandergreifen beider Fächerrichtungen sowie ein sich gegenseitiges Befruchten disziplingenuiner Forschungsarbeit. Im Gegenteil: Das sich-einander-Annähern mündete letzten Endes in einer strittigen Kontroverse darüber, wie man beiderseitig gedachte, neuerdings oder aufs Neue im Raume die Zeit zu lesen (vgl. HARD 2008; SCHLÖGEL 2006a; WERLEN 2008). Ohne dass eine der beiden widerstreitenden Parteien, die jeweils zumeist unter sich blieben, einen wirklichen Ausgleich zur Lösung des Problems beizugetragen gewusst hätten, ergab sich hieraus folgernd, eine bis heute anhaltende Unvereinbarkeit zwischen Geographie und Geschichte infolge des spatial turn, wie sie – weithin unverhandelt bzw. ungelöst – nach wie vor Bestand hat. Dies war nicht nur der Anfang und zugleich Ausgangspunkt, von dem aus sich die zuvor präsentierte Unternehmung in Gang setzte. Es war vielmehr die Grundlage, auf der sich die Ziel- und Fragestellung der eigenen Arbeit im eigentlichen Sinne erst begründen und sodann in Angriff nehmen ließ, und zwar: einen Weg zu finden, der die entstandene Kluft zwischen

273 Die Frage Schillers lautete im Originaltext: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«.

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Geographie und Geschichte – vor dem Hintergrund sich widerstreitender Raumansichten – wieder zu überbrücken und damit zu überwinden versprach. Zur Überwindung gegenseitiger infolge des spatial turn entstandener Verständnisschwierigkeiten schien es zunächst unabdingbar, das stärker zu problematisieren und zu fokussieren, worüber Geographie und Geschichtswissenschaft scheinbar am heftigsten in Streit miteinander gerieten: die Figur des Lesens von Räumen und Orten. Ironischerweise wurde das erste Puzzleteil zur Lösung des Problems, was zur Wiedervereinbarkeit von geographischen und historischen Ansichten über den Raum und das Raum-Lesen nützlich erschien, unabhängig voneinander in beiden Wissenschaften selbst entdeckt. So hat die Frage, wie Raum und Zeit in ihren jeweiligen Verschränkungen lesbar bzw. lesbar gemacht werden können, und das, ohne in erkenntnistheoretische Fallstricke (LOSSAU & LIPPUNER 2004:202) oder ontologische Fallen (HARD 2008:268) zu laufen, schlussendlich zu der Frage geführt, wie man zu alledem Spuren und das Lesen von Spuren in Stellung bringen kann. In diesem Sinne fand die problemorientierte Betrachtung in KAPITEL 3 geradewegs zu einem Spuren- und Indizienparadigma, wie es vor mehr als drei Dekaden vom italienischen Historiker Carlo GINZBURG (1988c) wissenschaftshistorisch entdeckt, mikrohistorisch ausbuchstabiert sowie für viele andere Disziplinen bis heute anschlussfähig wurde (vgl. ATTIA et al. 2016; FEHRMANN et al. 2005b; KRÄMER 2007a/b; MITTERBAUER et al. 2009; SCHÄRER 2006a, 2007; VEIT et al. 2003). Innerhalb dieses Übergangspunktes, über den allerlei erkenntnistheoretische Einsichten und heuristische Ansichten zur Spur und zum Spurenlesen in Erfahrung gebracht werden konnten, wurde indes offenkundig, nicht nur, wie spurendurchzogen unsere Alltagswelt ist, was sprachlich oder bildlich vermittelte Vorstellungen (wie z. B. Fußspur, Spurrille, Spürnase, spurlos, erspüren) nur zu deutlich haben werden lassen. Neben der, wenn man so will, banalen Verwendung und Aneignung von Spuren in ihrer Alltäglichkeit war es zudem eine genuine Wissenschaftlichkeit, mit der sich das Phänomen der Spur verbinden und genauer ergründen ließ. Im Rahmen einer breit angelegten Sichtung und Sondierung zeitgenössischer Wissenschaftsansichten zur Spur konnte schließlich herausgestellt werden, dass Spuren und das Spurenlesen nicht einfach nur als übriggebliebener Rest einer nicht mehr gelebten Zeit (urgeschichtlicher Fußabdruck) oder als veraltete Orientierungs- und Kulturtechnik (Jagdkunst) abgetan und solcherart beiseitegeschoben werden dürfen. Wer dies tut, verkennt schließlich in hohem Maße, dass Spuren/-lesen als epistemische Dinge sowie epistemologische Wissens- und Deutungsweisen für Erkenntnisproduktionen jedweder Couleur auch heute noch einen zentralen Beziehungspunkt und zugleich auch Nutzen darstellen. Vorausgesetzt, man weiß Spuren, als besondere (An-)Zeichen richtig zu lesen und für sich (wissenschaftlich) in Gebrauch zu nehmen. Denn das Besondere an Spuren: Sie bezeugen oder übermitteln nicht etwas durch sich oder an sich; sie stehen eher für die Präsenz der Absenz von etwas, insofern sie einmal unabsichtlich in der (vornehmlich) materiellen Welt hinterlassen, einer intuitiven wie klugen Spurenlese wie auch eines findigen Spurenlesers bedürfen, um sie aus ihrer präsent-absenten Verborgenheit herausholen und, abhängig von der jeweiligen Leserichtung, interpretativ-verstehend erschließen zu können. Ausgehend von diesen epistemologisch wie transdisziplinär

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gewonnenen Spuren-Axiomen (Kap. 3.3) ging es nun selbst darum, einen Verbindungspunkt zu setzen, um der anfänglich diagnostizierten Unvereinbarkeit geographischer und historiographischer Raumlektüren etwas Eigenes, Wiedervereinendes entgegenzustellen. Mit den Überlegungen zu einem Konzept geohistorischen Spurenlesens, wie sie grundlegend in KAPITEL 4 angestellt wurden, sollte nicht nur die zuvor benannte Leerstelle – inmitten des zerklüfteten Beziehungsgefüges von Geographie und Geschichte – besetzt werden. Mit dem selbst entwickelten Spurenkonzept sollte vielmehr eine Fährte in der Paradigmengeschichte der wissenschaftlichen Geographie aufgenommen und weiterverfolgt werden, wie sie zwei Geographen zuvor – als Desideratum formuliert – fruchtbar, aber weithin unbeachtet zurückgelassen haben. So waren es nicht nur eben jene Wegbereiter, wie der spatial turn, eine geographisch-geschichtswissenschaftliche Raumkontroverse oder die sich hiermit postierenden Weggefährten SCHLÖGEL, WERLEN oder GINZBURG, sondern ferner auch HARTKE (1956) und HARD (1995), die sich am Vorspuren dieser Arbeit gleichermaßen verdient gemacht haben. Wurde doch durch ihre geographischen Lektüren von Landschaften und Vegetationen der Weg in gleichem, wenn nicht im besonderen Maße für eine dezidiert sozialgeographische Beschäftigung mit Spuren (vor)bereitet. Unter Rekurs auf Arbeiten und Theoreme eines zeitgenössischen Indizienparadigmas (vgl. KRÄMER et al. 2007) erfuhr die Spur von diesen gesamten Fährtenlegungen ausgehend, in der Folge konsequenterweise als soziales Phänomen, mithin als Handlungsspur seine weiter- wie tiefergehende Übersetzung. Im Anschluss an eine handlungstheoretische Sozialgeographie (vgl. WERLEN 1986, 1999, 2007, 2010a/b, 2013a) wurde damit nicht zuletzt all jenen (sozialen) Phänomenen größere Aufmerksamkeit geschenkt, welche als verborgene Niederschläge, mithin Nebenprodukte menschlichen Tuns auf die Erde gelangten, von wo aus sie im mikroskopisch kleinen Latenz-Zustand und als weithin Unbemerktes, Welt und WeltGeschichte beständig mitbeglei(te)ten, und in gewisser Hinsicht auch mitgestalte(te)n. Hiermit wurde jedwede ontologische Form der Spur – Naturspur, Fußspur, Gebrauchsspur, Gedächtnisspur, Sprachspur, etc. – nicht nur in ihrer bisher weithin unbeachtet gebliebenen Handlungsbezogenheit geblickt, sondern folglich auch als eine besondere Praxisform in Augenschein genommen. Denn, so die daran geknüpfte Kernthese: Wie wir zur Welt stehen, wie wir die Welt in raumzeitlicher Hinsicht ordnen und anverwandeln, ist nicht zuletzt ein Ausdruck dessen, wie wir alltäglich Spuren legen und lesen. Durch eine mikroanalytische Perspektive blickend, schien es demgemäß geboten, die Spur – als verborgene Erscheinung – in ihrer jeweiligen Handlungs- und Praxislogik zu perspektivieren und einer entsprechenden sozial- und kulturwissenschaftlichen (Spuren-)Forschung zuzuführen. Vielmehr machte es die so vorgenommene (Re-)Fokussierung der Spur möglich, sämtliche Praktiken, die für alle nur denkbaren (menschlichen) Einspurungen auf der Erde ursächlich waren oder sind, wie auch die, die sie schließlich erst fortwährend zu entdecken sowie zu erschließen halfen oder helfen, in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Erst hierdurch fand der Blick schlussendlich zum Spurenlesen als sozial-kulturelle Praxis, wodurch wiederum erst jene Akte des Suchens, Sicherns, Lesens, Interpretierens, Erzählens und Vorausdeutens von Spuren ihre

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konzeptionelle Grundlegung und genaue wissenschaftstheoretische Ausbuchstabierung erfahren konnten. Aus dieser Blickwende heraus besehen, ist das, was es als Spur – idealtypisch gedacht – zu entdecken gibt oder noch zu entdecken geben kann, grundsätzlich abhängig davon, wie und wozu Spuren in praxi, mithin im tätigen Vollzug gesucht, gebraucht und gelesen werden. So gesehen gibt es verschiedene Handlungskontexte und Praxisfelder (angefangen vom Labor über den Tatort bis hin zum Geschichtsschauplatz oder der Literatur), in denen Spuren passieren, stattfinden und sodann sind, und entlang derer Spurenüberbleibseln auf Grundlage verschiedenster Suchbewegungen selbst zielgerichtet auf die Spur gekommen werden kann. Wie zuvor eingehender hergeleitet, fand die eigene Spurenarbeit dabei gleichwohl nicht als eine in erster Linie wissenschaftsdetektivische Suche nach noch unbekannten epistemischen Dingen ihre theoretische Fundierung, sondern als eine, die sich mehr für die Alltäglichkeit des Spurenlesens mitsamt dem Nachvollzug dieser Alltäglichkeit in ihrer Praxis interessierten sollte. Entsprechend lag der Dreh- und Angelpunkt, über eine epistemische Erschließung etwaiger Spurengegenstände hinausgreifend, eher in einer gänzlich anderen Denk- und Arbeitslogik begründet, und zwar der, dem Spurenleser beim Spurenlesen auf der Spur zu sein. Denn, so die (Zwischen-)Antwort auf die anfangs gestellte Problemfrage gebend: Ein spurenbasierendes wie historisch motiviertes Raum- und Ortelesen ist nur dann zu haben, wenn man versteht, das Spurenlesen und den Spurenleser, und nicht die Spur allein, in den (verstehenden) Blick zu nehmen. Um diese Grundprämisse noch stärker auf die zu Beginn des Buches aufgemachte Erkenntnisproblematik – Wie Raum und Zeit zusammen lesbar würden – rückbeziehen zu können, war es notwendig, die Spur und das daran geknüpfte Spurenlesen in ihrer sowohl räumlich-geographischen als auch zeitlichhistorischen Dimension eingehender zu theoretisieren. In diesem Zusammenhang konnte zum einen theoriegeleitet herausgestellt werden, dass sich Spuren neben ihrer besonderen Zeichenhaftigkeit durch eine ebenso besondere Geographizität wie Historizität ausweisen, insofern ihnen durch ihre besondere topologisch-ubiquitäre Eindrücklichkeit (konzentrierte Verteilungen, Dichteverhältnisse, räumliche Disparitäten, Ortsverschiebungen, etc.) in gleicher Weise eine besondere Geschichtlichkeit (Nachträglichkeit, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Kontingenzen, etc.) eigen ist, welche zusammengenommen und aufs größere Ganze hin besehen, einen speziellen Ein- und Ausdruck gesellschaftlicher Raum- und Zeitverhältnisse zur Anzeige bringen können. Zum anderen konnte in diesem Kontext aufgezeigt werden, dass im Speziellen das Spurenlesen als eine besondere Form der Welt-Aneignung bzw. Welt-Bindung (WERLEN 2007) und, in Erweiterung dessen, auch in vielerlei Hinsicht als eine besondere Form der Zeit-Bindung verstanden werden kann. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückgeführt worden, dass erst über die subjekt- und handlungsbezogene Welt- und Zeitbindung, mithin über das Anverwandeln von Welt und Geschichte seitens eines spurenlesenden Subjekts und einer spurenlesenden Praxis, eine im Verborgenen und Unsichtbaren gründende Erd- und Vergangenheitsspur sich zu einem evidenten Element geographischer wie historischer Wirklichkeiten entwickeln kann. Dies geschieht grundsätzlich dadurch, so eine weitere aus dem Konzept geohistorischen Spurenlesens

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gewonnene Grundannahme, da der Spurenleser der stummen, weil materiellen Spur eine bedeutsame Stimme verleiht, indem er sich in semantisierender wie körperlich-tätiger Art und Weise in sie einbringt, eine welt- und zeitbezogene Bindung aufbaut, und dadurch eine verständliche wie verständlich machende Erzählung für sie findet resp. erfindet. Derart avanciert die Spur letztlich zu einem materiell geronnenen Spiegelbild des Spurenlesers und seiner Sicht der Dinge, wodurch die Spur und die Spurenlese mitunter mehr über die Seh- und Denkgewohnheiten, die (wissenschafts-)kulturellen Überzeugungen und die Erfahrungsaufschichtung des Spurenlesers zu verstehen geben, als über die Spur selbst sowie ihre ihr eigenen (morphologischen) Aufschichtungen und Formgebungen. In eine konstruktivistische Denkrichtung gedreht, konnte das Spurenlesen so gesehen konsequent als eine Praxisform des Geographie-Machens sowie des Geschichte-Machens (um-)gedacht und solcherart von Neuem theoretisiert werden. Auf diese Weise kamen letztlich alle jene geographischen und historischen Praktiken aufs Tableau, die ein (geohistorisches) Spurenlesen implizit rahmen und leiten und sodann selbst erst tiefergehend zu erforschen erlauben, also: imaginierte Welt- und Geschichtsbilder, versprachlichte Raum- und Zeitansichten, erinnerte Lebens- und Alltagswelten, verkörperte und in Szene gesetzte Orts- und Geschichtsaneignungen sowie erzählte und identitätsstiftende Auto-Geographien und -Biographien – alles auf das Ziel hin ausgerichtet, der raumzeitlichen Dialektik des Spurenlesens selbst und selbstredend geohistorisch auf die Spur zu kommen. Im Hinblick auf die forschungspraktische Umsetzung des Konzepts geohistorischen Spurenlesens und seiner Teilaspekte galt es in KAPITEL 5, die eigens formulierte Forschungsmaxime – dem Spurenleser beim Spurenlesen zu folgen – hinsichtlich ihrer methodischen und methodologischen Konsequenzen noch genauer zu durchdenken und entsprechend zu operationalisieren. Um das Spurenlesen als ein selbstbestimmtes Spuren-Lesen-Lassen forschungslogisch angehen und um Spuren in deren Verborgenheit wie Besonderheit erforschen zu können, fand in der Folge eine sowohl abduktive als auch qualitative Betrachtungs- und Verfahrensweise Eingang in das Forschungsdesign. Erst jene beiden forschungsparadigmatischen Einordnungen erlaubten es letztlich, methodologisch begründet, die Spuren(lese) eines Spurenlesers aufs Besondere hin, mikro- und autologisch nah wie dicht, in Augenschein zu nehmen und solcherart empirisch sichtbar zu machen. Da sich eine Spurenlese, wie zurückliegend an verschiedenen Stellen dargelegt, sowohl durch eine Objekt- wie auch Subjektbezogenheit auszeichnet, wurde indes versucht, das Erschließen von Spuren in seiner Körperlichkeit und Materialität wie auch – im Besonderen – in seiner Sinnhaftigkeit forschungslogisch nachzuvollziehen. Ähnlich einer kriminalistisch verfahrenden Spurensuche, die mit Objektfunden (Tatspuren) wie auch Subjektbefunden (Zeugenaussagen) hantiert, bedurfte es dazu einer triangulativen Forschungsperspektive wie -methodik, um das Phänomen des Spurenlesens in seiner Komplexität und Ganzheit angemessen untersuchen zu können. Mit der methodischen Schwerpunktsetzung auf einerseits narrative Interviewtechniken und andererseits beobachtende Verfahren konnte das subjektbezogene Lesen von Spuren sowohl in seinem körperlich-materiellen als auch sinnhafterzählenden Vollzug wiederum selbst nachvollzogen werden, da dem Spurenleser

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beim performativen Ausgraben wie auch Erzählen persönlich bedeutsamer Spuren gefolgt wurde – und das in (fremd-)beobachtender wie interviewender Haltung seitens des mitspürenden Spurenforschers. Erst über diese zwei getrennten, obgleich eng miteinander verwobenen, Spuren- und Forschungsfelder eröffnete sich abschließend ein spezifischer Untersuchungszugang, von dem aus das Spurenlesen schlussendlich in eine empirische Anwendung gebracht werden konnte. Wie in den KAPITELN 6 und 7 dokumentiert, war es neben dem selbst erklärten Ziel, eine anwendungsorientierte Exemplifikation des Konzepts geohistorischen Spurenlesens leisten zu wollen, ferner das selbst erklärte (empirische) Anliegen der Arbeit, nach einem passenden wie lohnenden Aufhänger für die eigene Spurenuntersuchung zu suchen. Aufgespürt wurde letztendlich ein Forschungsgegenstand, über den die Erfahrungseinträge eines speziellen, weil materialiter weitgehend abhandengekommenen Geschichtszeugnisses – namentlich der DDR/Grenze –, in den Erinnerungen einzelner Zeitzeugen auf die Spur zu kommen versucht wurde. Dazu sind Erinnerungsspuren von DDR-Zeitzeugen sowohl gesichtet, erfragt, gehoben als auch inspiziert worden, die im dynamisch-fluiden Gesellschafts- und Wissenschaftsdiskurs über ein zu gestaltendes DDR-Gedächtnis (vgl. SABROW et al. 2007) bisher größtenteils eher unbeachtet bzw. randständig geblieben sind: die Erinnerungsspuren ehemaliger Grenz(land)bewohner. Über die Inblicknahme subjektbezogener DDR-Grenzerinnerungen (KAPITEL 8) eröffnete sich indes die Möglichkeit, die vielfältigen Gedächtnisspuren einzelner, bisher unberücksichtigter Geschichtsakteure hinsichtlich ihrer erlebten Raum- und Zeitverhältnisse vor 1989 und ihrer gebliebenen geohistorischen Einsprengsel (Spuren) zurückzubesehen. Hieraus entstanden sind zwei Fallgeschichten, von Eva Apitz und Karl Westhäuser, welche zusammengenommen in jeweiliger Art und Weise Aufschluss darüber gegeben haben, wie und inwieweit die DDR/Grenze Spuren in der Erinnerung, in diesem Fall, einer Grenzanwohnerin und eines Zwangsumgesiedelten/ Geflüchteten zurückgelassen hat. Zwar hat die geohistorische Rekonstruktion beider Erinnerungsspuren, die im Forschungsprozess noch einige Unwegsamkeiten parat hielt, 274 je unterschiedliche Lebenswege an und mit der Grenze empirisch nachzeichnen können. In Teilen konnte aber auch eine sich ähnelnde Grenzerfahrung aufgedeckt werden, die sich aus der dargebotenen Erinnerung heraus anhand bestimmter Sprach-/Erzählspuren wie auch Orts-/Objektspuren beiderseitig ausfindig machen ließ: die Erfahrung einer raumzeitlich aufklaffenden Erinnerungswunde (vgl. TILL 2012). Derart konnte in beiden präsentierten DDR-Grenzbiographien eine falltypische Erinnerungswunde inspiziert, analysiert und indiziert werden, welche insgesamt gesehen im Topos der Heimatlosigkeit wohl ihre größte Entsprechung wie Übereinstimmung fand. Trotz oder gerade wegen der persönlichen Ortsanwesenheit (an der Grenze) einerseits oder Ortsentzogenheit (von der Grenze) andererseits, zeigte sich jener Topos in beiden Lebensgeschichten gleichermaßen, als ein mehr oder weniger schmerzlich erlebter Entzug des jeweils Anderen, d. h. des Ostens (Westhäuser) oder des Westens (Apitz), des nicht274 Allen voran beim forschungspraktischen Anleiten und Begleiten der jeweils betriebenen Lektüren von Vergangenheitsspuren; siehe dazu die in KAPITEL 9 angestellten Reflexionen.

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Erreichbaren oder des (postwendend) jeweils als fremd Erfahrenen. Wie die Spurensuche entlang der persönlichen Grenzgeschichten letztlich gezeigt hat, vermochte allein der Glaube an die eigene Familie und Gott (Apitz), eine persönlich geleistete Vergangenheitsaufarbeitung (Westhäuser) und nicht zuletzt auch eine gemeinsam betriebene Arbeit an einer zu formenden DDR-Grenzerinnerung jener aufgeworfenen Leerstelle etwas entgegenzusetzen, und zwar: einen (retrospektiv besehen) je eigen wie eigensinnig gemeisterten Lebensweg. Nach der Gesamtsynthese der gewonnenen theoretischen, forschungsmethodischen wie auch empirischen Erkenntnisse soll es nun zum Schluss unter Bezug auf Friedrich Schiller um die Frage gehen: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Erinnerungen, Spuren und Räume? Wie anhand der spurengeleiteten Untersuchung von DDR-Grenzerinnerungen zuvor exemplarisch wie explorativ gezeigt werden konnte, vermag ein geohistorisches Studium von Erinnerungen, Spuren und Räumen vor allem Eines zu leisten. Es kann in der Hauptsache dazu dienen, verborgenen und bisher unentdeckten Überbleibseln der Vergangenheit und den damit verknüpften subjektiven Erfahrungswelten auf den Grund zu gehen. In diesem Sinne kann ein mikrologisches Erschließen von Räumen bzw. Raumfragen, und damit einhergehend, auch von Zeiten bzw. Zeitfragen vermittels und auf Grundlage von Erinnerungen und Spuren (wie auch vice versa) alles in allem dazu führen, bisher unbesehene Vergangenheitserfahrungen, unberücksichtigte Geschichtsakteure sowie deren raumzeitbezogenes Gedächtnisgut im Gesellschaftlichen wie Wissenschaftlichen zu Gehör zu bringen; wodurch gewissermaßen erst deren wechselseitigen und weithin undurchsichtigen Verwiesenheiten aufeinander im eigentlichen Sinne zum Vorschein kämen. In gleicher Weise kann es eine vermittelnde Perspektive auf Erinnerungen, Spuren und Räume ermöglichen, weithin unbeachteten Orts- und Objektspuren eine Bühne zu geben, insofern sie entlang von Spurenlektüren und Spurenlesern (und dessen wissenschaftlichem Nachvollzug) von einer ihr anhaftenden erinnerungskulturellen Absenz folglich erst in eine bedeutungstragende Präsenz gelangen würden. Da eine solche Untersuchungsperspektive die Sinn- und Objekthaftigkeit von Erinnerung, ohne essentialistischen Fehlschlüssen (insb. Hypostasierung, Containerisierung) zu erliegen, gleichermaßen zu berücksichtigen erlaubt, kann sich hieraus für eine sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erinnerungsforschung (memory studies; vgl. ERLL 2012) eine Möglichkeit ergeben, außerhalb der üblicherweise geäußerten (offiziellen) Raum- und Vergangenheitsansichten einen tiefgründigeren Einblick in die Raumund Zeiterfahrungen einzelner, im Gedächtnisdiskurs kaum beachteter Akteure zu erlangen und folglich auch in die alltägliche Praxis des Erinnerns raumzeitgrundierter Lebensgeschichten. In diesem Zusammenhang wären ferner auch Biographie-, Lebenslauf- und Migrationsforschung weitere Adressaten der Arbeit, insofern in dieser Hinsicht ebenso eine tiefergehende Untersuchung von gespurten Lebenswegen insbesondere vor dem Hintergrund aktuell geführter Geflüchtetendebatten in Aussicht stünde. Um es jedoch noch einmal und abschließend auf den Punkt zu bringen: Spuren memorierter Geographien und Historiographien zu heben und zu lesen heißt, nicht beim Ort oder Raum der Erinnerung/Geschichte allein anzusetzen, sondern anderswo, im Kleinen, beim erinnerungsfähigen Subjekt

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und seinen raum- sowie ortsbezogenen Handlungsspuren bzw. Spurenpraktiken – hier speziell: dem Suchen, Lesen, Performieren und Erzählen von Erinnerungsspuren. Über diesen Umweg mag gleichwohl wieder zu den Orten der Erinnerung, der Geschichte sowie auch und vor allem zu den Orten des Vergessens zurückzufinden sein, in der Hinsicht, dass sie dem Betrachter einen Eindruck davon vermitteln (können), wer, wie, wann und vor allem wo Spuren – im Sinne einer geohistorischen (Selbst-)Einschreibung in die Welt – entweder hinterlassen hat oder selbst auf die Spur zu kommen versucht, oder beides zusammen. Denn, so lässt sich mit Hannah ARENDT an dieser Stelle zusammenfassend konstatieren: Ohne Erinnerung und die Verdinglichung, die aus der Erinnerung selbst entspringt […] würde das lebendig Gehandelte, das gesprochene Wort, der gedachte Gedanke spurlos verschwinden (ARENDT [1967]2007:113f.; eig. Herv.). In Anbetracht dessen vermag das Konzept geohistorischen Spurenlesens über seinen Beitrag zur Disziplinverständigung zwischen Raum- und Zeitwissenschaften hinausgehend (vgl. JUREIT 2012a; RAU 2013a), einen eigenständigen Beitrag zu einer reflexiven Erinnerungskultur (WELZER 2012:43) zu erbringen. Eine Form der Erinnerungskultur bzw. kulturellen Gedächtnisbildung, welche offen ist für das Verborgene, Unsichtbare, das Nicht-Erinnerte und damit letztlich auch für das, was gemeinhin nicht in ihrem Auftrag liegt: das Vergessen. Jenes Vergessen, das sich insbesondere im stillen Zeugen, d. h. in der Spur manifestiert und durch ein wissenschaftlich begleitetes Spurenlesen erst zu entsprechender Sichtbarkeit und damit auch zu gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gebracht werden kann. So vermag es der sensibilisierte Blick für Spuren letztlich nicht nur, so die hier mit dem eigenen Spurenkonzept formulierte Hoffnung, eine deutschsprachige Geographen- und Historikerschaft infolge widerstreitender Raumansichten wieder ein Stück näher zueinander zu führen. Es scheint als veranschlagter Verbindungs- und Brückenpunkt ferner auch nützlich dafür zu sein – und dies gilt es in Zukunft freilich noch stärker zu forcieren wie auszuloten –, zwischen opponierenden repräsentionalistischen, mentalistischen und materialistischen Auffassungen von Raum und Zeit zu vermitteln. Neben derlei Zugewinnen und Forschungspotentialen, liegt der größte Zugewinn wohl aber vor allem darin, verloren gegangene, vergessene oder schlichtweg verdrängte RaumZeit-Erfahrungen anhand von Spuren und über das Lesen von Spuren ans Tageslicht und damit überhaupt erst ins gesellschaftliche Bewusstsein zu bringen.

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Transkriptionszeichen

I:

Interviewer

B:

Befragte/r

M:

Ehemann

F:

Ehefrau

(lacht)

gefühlsmäßige oder körpersprachliche Äußerung

(Pause)

längere Pause (länger als 4 Sek.)

(…)

abgebrochener Satz

[…]

Auslassungen im Interviewtranskript

[Foto gemacht]

Anmerkungen des Autors

TOTAL

besonders betonte Wörter

(???)

unklare Wörter oder Passagen

Sie umgeben uns immer und überall: Spuren. Trotz ihrer Allgegenwärtigkeit bleiben sie zumeist unbemerkt und stumm. Ob als justizieller Beweis einer Straftat oder als unfreiwilliger Bote der Vergangenheit, einer Spur hängt stets etwas Geheimnisvolles sowie Rätsel­ haftes an. Ralf Leipold greift den Topos der Spur auf, um ihn für geographische wie auch geschichtswissenschaftliche Forschungszwecke gleichermaßen zu erhellen. Hierfür entwickelt er das Konzept des geohistorischen Spurenlesens. Ins Zentrum rücken dabei die besondere Räumlichkeit und Zeit­ lichkeit der Spur sowie der Spurenleser

ISBN 978-3-515-13172-8

9 783515 131728

als erinnernder Orts­ und Zeitzeuge. Das geohistorische Spurenlesen findet seine empirische Anwendung in der Frage, welche raumzeitlichen Erin­ nerungsspuren die deutsche Teilung bis heute in der alltäglichen Gedächtnis­ praxis diverser Geschichtsakteure hinterlassen hat. Leipold bietet einen Beitrag zur Konvergenz von Geogra­ phie und Geschichte und stößt zu einer reflexiven Erinnerungsarbeit an. Eine Form der Retrospektive, welche offen für die verborgenen oder verlorenge­ gangenen Ortsspuren der Vergangen­ heit ist, und damit auch für das, was gemeinhin nicht im Blickpunkt steht: das Vergessen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag