Erfindung und Korrektur: Tretjakows Ästhetik der Operativität [Reprint 2021 ed.] 9783112472187, 9783112472170


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Erfindung und Korrektur: Tretjakows Ästhetik der Operativität [Reprint 2021 ed.]
 9783112472187, 9783112472170

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Fritz Mierau

Erfindung und Korrektur

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Fritz Mierau

Erfindung und Korrektur Tretjakows Ästhetik der Operativität

Mit Texten im Anhang

Akademie-Verlag • Berlin 1976

Der Abdruck von Sergej Tretjakows „Ich will ein Kind haben" in der Bearbeitung Bertolt Brechts sowie der Briefe Tretjakows an Bertolt Brecht erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bertolt-Brecht-Erben.

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer • 202 • 100/245/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4740 Bestellnummer: 752 885 7 (2150/36) • LSV 8037 Printed in GDR DDR 10,50 M

Inhalt

Vorwort

9

Bild und Gegenbilder: Der „operierende" Schriftsteller Biografie und Methode - Präzedenzfall 1931 . . . Erfindungen Gegenbilder

19 21 44 66

Das Produktionsstück „Ich will ein Kind haben" Die zwei Fassungen „Standard" und „Montage der Attraktionen" Die Produktionskunst

83 84 90 98

. . . . . .

Der Operationsbericht „Feld-Herren"

108

Der Futurist als Kollektivierer „Biografie der Dinge" Die Kunst des Leben-Bauens

109 114 118

Das Bio-Interview „Deng Schi-hua" Die „Eigentümlichkeit" Chinas „Evolution einer Gattung" Die Dokumentär- und Montagekunst Die Theorie in Porträts „Menschen eines Scheiterhaujens" Der Verbindungsmann Fazit der Umschwünge Die Alternative 5

125 127 134 139

143 145 149 153

Utopie

oder Kampfweise : Die „Literatur des Fakts"

Zeugnisse Fakt und Fiktion Traktabilität und Totalität

157 161 167 172

Anbang

177

Texte Ich will ein Kind haben Der König der Vagabunden Briefe an Bertolt Brecht

179 179 247 258

Anmerkungen

273

Personen- und Werkregister

310

Dem Andenken an Olga Viktorowna Tretjakowa

Vorwort

Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows steckt voller Widersprüche. Ausgerechnet dieser Mann, der sich dem Tag verschrieb und auf Visionen pfiff, sollte über seinen Tag hinaus etwas zu sagen haben? Die strenge Rationalität, die seine Unternehmungen durchzieht: Kennt sie nur die Frühzeit revolutionärer Veränderungen, oder brauchen wir sie gegen die hitzige Ungeduld unserer Hoffnungen ständig? Der höhnische Abschied von der Wärme der vertrauten Gestalten: Keine Herakles-Adaption wie in Gladkows Zementkein PilatusRoman im Roman wie in Bulgakows Meister und Nlargaritd1, keine Fizzwi-Erneuerung wie in Gorkis Klim Samginß; nur diese neuen Leute mit Namen Milda Grignau, Deng Schi-hua und John Heartfield: Ist das ein Mangel des Anfangs oder die Konsequenz der sozialistischen Revolution, die ihre Poesie aus der Zukunft schöpft? Das analytische Interesse für die Produktionsbedingungen literarischen Erfindens, das Ausstellen der Machart, das ständige Grenzüberschreiten des gewohnten Kunstraums: Erschöpfen sie ihre Funktion im Schock, im Abbau eines irrationalen Kunstbegriffs, um dann wieder einer Poetik der verborgenen Verfahren Platz zu machen? Oder sind sie Vorboten für eine Kunst, die den Menschen nicht nur die Fähigkeiten und Absichten seiner Gattung gewahr werden und genießen läßt, sondern auch noch die Kniffe und Feinheiten von Konstruktion und Technologie ihrer ästhetischen Vergegenständlichungen? Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows war fällig. Verglichen mit seinen bekannteren Freunden Majakowski, Meyerhold und Eisenstein war er zweifellos am wenigsten fertig. Polemik blieb sein Element. Kein „Werk" liegt uns vor. 9

Gerade die Offenheit des Wegs aber, die nicht sein früher Tod erzeugte, machte diesen Ansatz für eine materialistische Literaturtheorie unentbehrlich. Der furiose Streitgeist seiner Arbeiten offenbart die bewegenden Kräfte der revolutionären Literatur wie in einem Demonstrationsraum. Die Kämpfe der Personen zeigen sich als um Sachen geführt, doch abhängig von der Art und den Zwecken der Personen. Die Impulse, die Arbeitsprinzipien, oft von der ausgelösten Bewegung, von Ergebnissen verdeckt, werden neu sichtbar. Sozialistische Traditionen können kühner als Baumaterialien und Instrumente gehandhabt werden: Auf Verfügbarkeit bei den neuen Weltaneignungen befragt, erweisen sie sich in den Abschnitten offener Polarisierung der Tendenzen, in den liegengebliebenen Erwägungen, ja vermeintlichen Holzwegen als ergiebig. Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows war eine Wiederentdeckung seiner Ästhetik der Operativität. Sie zeigte ihn als einen Vorläufer und Theoretiker der weit verzweigten Bemühungen um eine sozialistische Kunst, die das Operieren in der Gesellschaft auf das Ausstellen ihrer Verfahren stützt. Kunst wird als Element oder Entwurf sozialistischer Öffentlichkeit produziert. Sie bleibt zu erkennen als hergestellt. Sie prüft alle wissenschaftlichen und technischen Neuerungen auf ihre Verwendbarkeit für Bilder von den Produktionen der Menschen. Drei unterschiedliche Unternehmungen seien als jüngste Beispiele genannt - ein Stück, eine Inszenierung, eine Komposition. Heiner Müllers Bearbeitung von Gladkows Zement. In der stark raffenden Versfassung und mit dem Einbau der drei Intermedien Achill und Hektar, Herakles befreit Prometheus und Kampf mit der Hydra, die die Mythen neu deuten, erreicht sie das Übergreifen des „Milieus": „[. . .] die Russische Revolution hat nicht nur Nowosibirsk, sondern die Welt verändert." 4 Klaus Erforths und Alexander Stillmarks Inszenierung von Pablo Nerudas Glanz und Tod des Joaquín Murieta mit Studenten der Schauspielschule Berlin auf der Probebühne des Deutschen Theaters Berlin. Die Ausstattung besorgte Ezio Toffolutti, der in seinem Kommentar Ein Bühnenbild für Neruda die Erarbeitung des szenischen Raums und des „nicht10

figurativen Bühnenbilds" beschrieb. Zum Agieren in diesem Raum heißt es: „Das Moment der theatralischen Aktion oder des theatralischen Ereignisses ist ebenso wichtig wie das der Darstellung [ . . . ] Die Offenheit der Bezeichnungsfunktion verlangt ständig eine assoziative und visionäre Lektürebereitschaft des Zuschauers."5 Und Luigi Nonos Oper AI gran sole carico d'amore, inszeniert von Juri Ljubimow, dem Leiter des Moskauer Theaters an der Taganka. Die Heldinnen dieser Oper sind die Kommunardin Louise Michel, Rosa Luxemburg, Tamara Bunke, die Frauen von Südvietnam. Nono zu den Texten: „Ausgangspunkt ist die Simultaneität der verschiedenen Momente, die gemeinsame Situation in verschiedenen Zeiten und Ländern. Es gibt viele Originaltexte in der Oper, historische Texte von Louise Michel, ihre Selbstverteidigung vor einem bürgerlichen Tribunal, die übergeht in die Selbstverteidigung von Dimitroff, Gramsci und Fidel Castro; Passagen von Marx und Lenin über die Pariser Kommune; Worte von Rosa Luxemburg." Weiter Texte von Gorki, Rimbaud, Pavese, Brecht, Sätze von Turiner Arbeitern. Nono zur Musik: „Neben Solisten, Chor und Orchester verwende ich viele Tonbänder als Verbreiterung der klanglichen Möglichkeiten. Es gibt viele zusätzliche akustische Dimensionen, elektronisches, instrumentales, chorisches Material, Geräusche, Texte. Ich verwende auch einige Arbeiterlieder, nicht als Zitat, sondern als Element der musikalischen Struktur."6 Entscheidend ist, daß hier von Brecht oder Eisler her weitergegangen und an deren „Lehrer", darunter Tretjakow, Meyerhold, Eisenstein, Majakowski oder einen Komponisten wie Kaschnizki selbständig angeknüpft werden kann. Der nächste Schritt ist immer auch mit dem Studium der Vorläufer der Vorläufer verbunden. Tretjakows Operations-Kunst kann nur als Impuls, als Quelle, als Tür zu noch weniger Bekanntem, beileibe nicht als Kanon begriffen werden. Dann zeigt das Lernen beim „Lehrer" Tretjakow zugleich, wie bei seinen „Schülern" zu lernen sei. Daß der Anschluß an die frühen Überlegungen nicht nur nach der Arbeitsweise, sondern auch geschichtlich direkt erfolgt, zeigt die Unerläßlichkeit der Wiederentdeckungen. 11

Heiner Müller, Ruth Berghaus und Hans-Jochen Irmer leiten ihren neuen Blick auf Gladkow aus dem Studium der „revolutionären Umgangskunst" jener Zeit her. 7 Ezio Toffolutti, Klaus Erforth und Alexander Stillmark beziehen sich auf Meyerhold, Wachtangow und Eisenstein. Und Luigi Nono erinnert an seine Begegnung mit dem Orchesterdirigenten Hermann Scherchen, dem Kommunisten, der ihm nach 1945 den Kontakt zum Stand von 1933 ermöglichte: „Durch ihn wurde mir die historische, kulturelle und politische Bedeutung des Berlin der Jahre vor 1933 vertraut, dieses Weltzentrums der Begegnung und des Austauschs zwischen neuer sowjetischer Kultur und fortschrittlicher Intelligenz des Westens. Aber auch das München des Spartakus-Aufstandes mit seiner großen politischen und kulturellen Ausstrahlung erschloß er mir. Und nicht zuletzt entdeckte ich durch Hermann Scherchen die Sowjetunion, die er sehr gut kannte." 8 Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows vollzieht sich im Streit um die Konzeptionen für die Geschichte und den Weg der sozialistischen Literatur. Schon wird Tretjakow, der es für lächerlich hielt, wenn „ein einzelner Schriftsteller von philosophischer Hegemonie" träume, zum Kronzeugen für eine „reine" sozialistische Literatur. Gegen die angeblichen Vermischungen und Nivellierungen späterer Zeiten wird die ursprüngliche Reinheit des Entwurfs gesetzt. Charakteristisch die Frage, warum Tretjakow nach 1930 von seiner früheren Position abgegangen sei und etwa auf dem I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934 nicht über die literarische Methode, sondern über die internationale Zusammenarbeit der Schriftsteller und die Weltbedeutung der sowjetischen Literatur gesprochen habe. Der Münchener marxistische Slawist und Filmwissenschaftler Hans-Joachim Schlegel hat in seinen Anmerkungen zur Rezeption der frühen sowjetischen Literatur die Absichten dieses Vorgehens aufgedeckt: „Nur wenn das geschichtliche und theoretische Denken in einen unverbindlichen Zwischenraum geführt wird, ist die Gefahr eines gesellschaftlich aktualisierenden Lernprozesses gebannt. Die .Goldenen Zwanziger' als Gegenstand nostalgischer Erlebnisse, als historisch gesehen geradezu illusionistischirrealer Zeitabschnitt .enormer künstlerischer Potenzen', der 12

dann .zugunsten eines byzantinischen Klassizismus liquidiert [wurde], den man als Sozialistischen Realismus ausgab', der also ein .Argument' gegen den realen Sozialismus der Sowjetunion von heute liefert - das ist der Rahmen, in dem sich die bürgerliche .Ideologie' eine .Rezeption' der frühsowjetischen Kultur, Kunst und Ästhetik wünscht."9* In die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows mischt sich antisowjetische Spekulation. Gestützt auf Brechts Gedicht zu Tretjakows tragischem Tod Ist das Volk unfehlbar? (1939) wird einer unkritischen Verherrlichung und Kanonisierung des Autors das Wort geredet.10 Man muß sich das Gedicht im Wortlaut vornehmen, um die Unhaltbarkeit solcher Versuche zu erkennen: 1 Mein Lehrer Der große, freundliche Ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht. Als ein Spion. Sein Name ist verdammt. Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn Ist verdächtig und verstummt. Gesetzt, er ist unschuldig? 2 Die Söhne des Volkes haben ihn schuldig gefunden. Die Kolchosen und Fabriken der Arbeiter Die heroischsten Institutionen der Welt Haben in ihm einen Feind gesehen. Keine Stimme hat sich für ihn erhoben. Gesetzt, er ist unschuldig? 3 Das Volk hat viele Feinde. In den höchsten Stellungen Sitzen Feinde. In den nützlichsten Laboratorien Sitzen Feinde. Sie bauen * Als Lesehilfen wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise verweisen als auch auf Sachanmerkungen, einen Stern gekennzeichnet.

13

durch

Kanäle und Dämme zum Wohl ganzer Kontinente, und die Kanäle Verschlammen, und die Dämme Stürzen ein. Der Leiter muß erschossen werden. Gesetzt, er ist unschuldig? 4 Der Feind geht in Verkleidung. E r zieht eine Arbeitermütze ins Gesicht. Seine Freunde Kennen ihn als eifrigen Arbeiter. Seine Frau Zeigt die löchrigen Sohlen L)ie er sich im Dienst des Volkes durchlaufen hat. Und er ist doch ein Feind. War mein Lehrer ein solcher? Gesetzt, er ist unschuldig? 5 Über die Feinde reden, die in den Gerichten des Volkes sitzen können Ist gefährlich, denn die Gerichte brauchen ihr Ansehen. Papiere verlangen, auf denen schwarz auf weiß die Beweise der Schuld stehen Ist unsinnig, denn es muß keine solchen Papiere geben. Die Verbrecher halten Beweise ihrer Unschuld in Händen. Die Unschuldigen haben oft keine Beweise. Ist also schweigen das beste? Gesetzt, er ist unschuldig? 6 Was 5000 gebaut haben, kann einer zerstören. Unter 50, die verurteilt werden Kann einer unschuldig sein. Gesetzt, er ist unschuldig? 7 Gesetzt, er ist unschuldig Wie mag er zum Tod gehn? 11 * Brecht nimmt den Irrtum an, indem er als Materialist metaphysische Unfehlbarkeit ausschließt. Das Wissen um die prinzipielle Notwendigkeit revolutionärer Justiz und die prinzi14

pielle Korrigierbarkeit falscher Urteile kann den Schmerz um die Unersetzlichkeit dieses Unschuldigen nicht lindern. Gerade dieses Wissen aber erfordert die Arbeit der Kritik, um die antisowjetische Verkultung dieses Unschuldigen zu verhindern. Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows wird nur ergiebig, wenn sie die geschichtliche Mächtigkeit jenes Tages, dem er sich verschrieben hatte, in ihrer widersprüchlichen Fülle begreift und Tretjakow nicht isoliert. Verzeichnung, Zerrbild und Vergessen ist nicht zu begegnen mit der Wiederaufrichtung eines „eigentlichen" Tretjakow. Freilich müssen seine Arbeiten und Ansichten authentisch belegt werden. Bliebe es aber dabei, verfügten wir lediglich über die Authentizität einer Mumie. Wir haben Tretjakow vielmehr der Kritik der Lage zu unterwerfen. Maßstab kann dabei nicht die „verpaßte Gelegenheit" sein. Maßstäbe setzt allein die fortschreitende Praxis des sozialistischen Aufbaus. Je weiter die sozialistischen Länder ihre Gesellschaft entwickeln und je mehr Länder den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen, desto reicher werden auch die Entdeckungen in den frühen Arbeiten und Irrtümern. Die Besonderheiten von heute entdecken uns die Gesetze von gestern. Gegen die kleinbürgerliche Revolutionsnostalgie setzen wir die Kritik an den „Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche" 12 und gewinnen uns um so sicherer, was Tretjakows Verfahren ausmacht: die Verquickung von Impuls und Instrument, die Einheit von Polemik und Werkzeug. Die Wiederentdeckung Sergej Tretjakows hat es mit der funktionalen Mobilität seiner Arbeitsweisen und mit ihrem polemischen Bezug auf andere zu tun. Keine noch so skrupulöse Darstellung seiner Theorien allein kommt dem Autor auf die Spur. Denn er war einer, der, noch ehe die Korrekturwürdigkeit eines eingeschlagenen Weges allgemein anerkannt war, einen neuen erkundete und ausprobierte. Er stützte sich dabei auf Erfahrungen aus verschiedensten Versuchen, auch solchen, denen er widersprochen hatte. So bindet sein Resümee der Kongreßdebatten von 1934, das er als Teilnehmer, als Betreuer der deutschen Delegation und als Redakteur des Protokollbandes deutsch an Bertolt Brecht 15

schrieb, die Lösung der neuen Aufgaben an intensive Analysen und internationalistische Gemeinsamkeit: „Der Kongress war bedeutungsvoll und giebt einen ungeheuer grossen und frischen Stoff für die literarischen Prognose. D i e Frage des Soz. Realismus hat Gorky gut angefasst als er sagte. Viele haben nach allerlei arten diesen begriff erklärt und bewiesen, aber der grösste und wirklichste beweis werden ihre nächste bücher. Das giebt diesem ausdruck eine bedeutung mehr in die perspektive gerichtet. Tut leid - es ist schwer alle sachen brieflich zu befassen da sollte man zusammenkommen. Aber sie wollen das nicht tun. O d e r können nicht. Besonders jetzt wurde es so wichtig theoretisch mehrere fragen zu bearbeiten. Momentan sind wir an einem Wendepunkt: das extensive thema übergiebt seinen Vorrang an das intensive. Die reportage literatur sucht grosse formen und lyrik dringt sich ins epos hinein. D e r einseitige intellektualismus (technizismus) wird vom emotionellen prinzip schärfst angegriffen. Emotionelle kompliziertheit wird gefordert. Nicht nur den querschnit des lebensstromes (reportage, naturalismus, bürg, realismus) sondern der schnitt entlang der Zeit (d. h. in die Zukunft - historisch dialektisch) braucht die literatur. Ich habe angst das meine deutsche Sprache erlaubt mir nicht sich klar genug auszudrücken. Aber ich will nur betonen - es giebt eine reie prinzipiell neuen lagen die man besprechen und studieren muss. Und gerade mit ihnen möchte ich besonders das tun." 1 3 D i e Wiederentdeckung Tretjakows wäre danach verfehlt, folgerte sie aus der „operierenden" Haltung des Schriftstellers, er habe die traditionell „operativen" Gattungen der Literatur, reine Zeugnissammlungen oder gar ein einziges Medium - die Zeitung, zu den allein herrschenden machen wollen. Große Formen spielten eine wesentliche Rolle in seiner Arbeit. Es kam darauf an - welche. Nicht die traditionellen nämlich, denn sie durften nicht entfernt mehr erinnern an eine Literatur, die als Ersatz für den Auistrag gesellschaftlicher Kämpfe diente, sondern mußten ganz sprachliches Instrument sozialistischer Öffentlichkeit geworden sein. Vier Arbeiten stehen im Mittelpunkt unserer Untersuchung. 16

Sie sind die Probe auf die Theorien der zwanziger Jahre, die sie kritisch aufnehmen und verändern. Das Produktionsstück Ich will ein Kind haben, wie es nach dem Vorsatz der Biologin Milda Grignau heißt - ein soziales Experiment auf der Bühne, das die „Liebe auf den Operationstisch" legt, den Sexus nicht ästhetisch sublimiert, sondern extrem sozialisiert. Feld-Herren, der „Kampf um eine Kollektivwirtschaft", ein „Operationsbericht" aus den Jahren der Revolution auf dem Lande, der den Schriftsteller als den Produzenten seines literarischen Stoffes zeigt. Deng Schi-hua, ein „Bio-Interview" gegen die ChinaSchwärmerei im Moment der Niederlage der revolutionären Bewegung in China. Menschen eines Scheiterhaufens - der Entwurf einer Theorie des Veränderns in Schriftstellerporträts, die am Beispiel John Heartfields, Bertolt Brechts, Erwin Piscators, Hanns Eislers, Friedrich Wolfs, Gregor Gogs, Oskar Maria Grafs, Theodor Pliviers, Johannes R. Bechers und Martin Andersen Nexös eine positive Antwort auf die radikale Kritik der Intellektuellenkultur in den parallel entstehenden Arbeiten Walter Benjamins, Max Raphaels, Christopher Caudwells und Carl Einsteins gab. Tretjakow ging es um eine eingreifende Kunst wie sie mit Begriff und Praxis des „operierenden" Schriftstellers und der „Literatur des Fakts" erkundet wurden. Geprüft wurde das Verhältnis von intensiver Laboratoriumsarbeit und Wirkungsmöglichkeit in der gesellschaftlichen Totale. Die 1927 und 1928 erscheinende Zeitschrift Nowy Lef, deren Chefredakteur Wladimir Majakowski und ab Mitte 1928 Sergej Tretjakow war, bezeichnet den Beginn dieser Phase, die bis zur differenzierten praktischen Internationalisierung der Erfahrungen zwischen den Kongressen von Charkow (1930) und Moskau (1934) reicht. Alle vier Arbeiten Tretjakows wurden zu Beginn der dreißiger Jahre ins Deutsche übersetzt und haben sowohl zum sowjetisch-deutschen Erfahrungsaustausch beigetragen als auch die Konzeptionsbildung der internationalen sozialistischen Literatur befördert. In der Sowjetunion erschienen außer zahlreichen Drucken in Anthologien bisher zwei ausführlich kommentierte Sammel2

Mierau, Tretjakow

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ausgaben mit Tretjakows Prosa und Stücken. Eine neue Ausgabe, die auch die Briefe an Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf enthält, wird 1977 publiziert. Neben den Arbeiten der Zeitgenossen Tretjakows, Alexander Fewralski und Viktor Petzow, die als Mitglieder der Kommission für den Nachlaß des Schriftstellers wesentlich zum Zustandekommen der Ausgaben beigetragen haben, sind die größeren Untersuchungen von I. Gaser, M. Krjukowa und L. Asmuko zu nennen. Ihnen, wie vor allem Tatjana Sergejewna Gomolizkaja, die nach dem Tode ihrer Mutter Olga Viktorowna Tretjakowa das Archiv in der Moskauer Uliza Wesnina 12 fortführt, danke ich für Anregung, Rat und Hilfe. Die fünfzigseitige Tretjakow-Bibliographie der Saltykow-Schtschedrin-Bibliothek in Leningrad von 1972 weist die einschlägige sowjetische Literatur bis 1968 nach. Danach enthielt besonders die Meyerhold-Monographie Konstantin Rudnizkis von 1969 ausgezeichnete Bemerkungen zur Dramatik Tretjakows.14 Die umfangreichste und konzeptionell einleuchtendste Tretjakow-Studie des Auslands schrieb der slowakische Literarhistoriker Vasil Choma in seinem Buch Od futurizmu k literatüre faktu, 1972 (Vom Futurismus zur Literatur des Fakts). Die vorliegende Tretjakow-Monographie knüpft an die Arbeiten Tatsache und Tendenz. Der „operierende" Schriftsteller Sergej Tretjakow (1972), Tretjakow und Brecht. Das Produktions-Stück „Ich will ein Kind haben" (1973) und Polemik und Korrespondenz: Fjodor Gladkow und Sergej Tretjakow (1973) 15 an. Sie führt die Überlegungen meiner Problemskizze Revolution und Lyrik (1972) 16 zur Geschichte und Aktualität der sowjetischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre kritisch weiter. Anregungen verdanken sie zwei im Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR entstandenen Gemeinschaftsarbeiten: Multinationale Sowjetliteratur (1975) und Verteidigung der (1975) 17 . Übergänge und Entwürfe zum vorlieMenschheit genden Tretjakow-Buch in methodischer Hinsicht finden sich in meinen Essays zu den Ausgaben von Isaak Babel (1973), Demjan Bedny (1974) und Juri Tynjanow (1975). 18

18

Bild und Gegenbilder : Der „Operierende" Schriftsteller

Sergej Tretjakows Operations-Kunst umriß eine Kampfweise. Die Wirkungsabsicht bestimmte die ästhetischen Lösungen in so hohem Maße, daß einander ausschließende Gattungen in schnellem Wechsel eingesetzt werden konnten: auf dem Theater z. B . „Montage der Attraktionen", Melodrama, Agitationsguignol, dramatisierter Zeitungsartikel, Produktionsstück. Diese Gattungen bezeichneten nicht die Entwicklung eines Personalstils. Tretjakows erklärtes Ziel war die „Entindividualisierung und Entprofessionalisierung" 1 9 des Schreibens. Gegen die Vergötzung der besonderen Schriftstellersicht setzte er die allgemeine Schreibbefugnis. Gegen das Verbergen der Verfahren ihre Ausstellung und freie Verfügbarkeit. Tretjakows Operations-Kunst schloß kritisch an mehrere ähnliche Entwürfe der beginnenden zwanziger Jahre an. Sie beschloß die Folge von Versuchen, die zur Überwindung eines idealistischen Subjektivitätsbegriffs in der Kunst, des „überholten .Ptolemäischen Systems' der Literatur", wie Tretjakow sagte 2 0 , entwickelt worden waren. Tretjakows Arbeiten nehmen Impulse aus der Produktionskunst (Boris Kuschner, Boris Arwatow, Wladimir Tatlin), der Kunst des LebenBauens (Nikolai Tschushak), der Attraktionskunst (Sergej Eisenstein) und der Dokumentär- und Montagekunst (Dsiga Wertow, Alexander Rodtschenko, E l Lissitzky, Juri Tynjanow) auf. In der Debatte um die „Literatur des F a k t s " trafen ihre durchaus unterschiedlichen Bestrebungen geballt aufeinander. Als letzte ihrer Art war die Operationsästhetik besonders militant. D a s machte ihr schließlich die ursprünglichen Anreger, so selbst Majakowski, zu Gegnern. Dennoch hat gerade 2*

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die Konsequenz es in der Aufnahme wie im Zuendefühcen dieser Entwürfe Tretjakow ermöglicht, als einem der ersten in der sozialistischen Literatur die Perspektiven der neuen Arbeitsmethoden seiner deutschen Freunde oder der tschechischen revolutionären Künstler zu erkennen. Die kühne Internationalisierung seines Literaturkonzepts seit Anfang der dreißiger Jahre hängt mit der prinzipiellen Variabilität seiner Operationsästhetik ursächlich zusammen. Das Studium des deutschen und des tschechoslowakischen Beispiels wie auch die nähere Bekanntschaft mit dem Werk Martin Andersen Nexös beförderte dabei den kritischen Umbildungsprozeß, in dem sich Tretjakows Operationsästhetik seit seinem Anschluß an einen kaukasischen Kolchos befand. In der Einleitung für die deutsche Ausgabe der Feld-Herren zählte Tretjakow zweieinhalb Seiten lang auf, was er im Kolchos für Arbeiten erledigt hatte. Was den literarischen Ertrag betraf, hieß es dann: „Wenn ich meine Kolchosarbeit begann mit Skizzen, die naturgemäß nur wiedergeben, was ich in der Eile mit ungeschulten Augen aufzufangen vermochte, so haben diese Skizzen sich heute aus bloßen Informationen in Operationsberichte verwandelt. Sie zählen nicht nur auf, was sich an Tatsachen begibt, sie sehen diese Tatsachen in ihrem Zusammenhang und fordern zum unverzüglichen Eingriff in sich vollziehende Geschehnisse auf. Den ,informierenden' Skizzenschreiber löst so der .operierende' Skizzenschreiber ab." 2 1 Das Operationskonzept - „das Leben nicht bloß abzubilden, sondern es 2ugleich neu zu bilden" 22 - war hier bis zu einem äußersten Punkt getrieben. Noch ein Schritt und es agierte der Sozialarbeiter, der Forschungsreisende, der politische Funktionär, der Naturwissenschaftler. Die Schrecken der Gegenbilder zur Operations-Kunst, die längst aufgerichtet waren, schienen sich auf das verheerendste einzustellen. Tretjakow, der „lyrische Kondor" 23 , drohte sich zu Tode zu stürzen. Die Operationen verlöschten in der Betriebsamkeit beim „Mahlen einer Kaffeemühle" 24 . So bedroht, kommt Tretjakow mit seiner Operations-Kunst nach Deutschland. Herzhaft oder anrüchig - der polemische 20

Akt der „Entprofessionalisierung" ließ keinen kalt. Tretjakow fragte nach dem Grundverhältnis schriftstellerischer Arbeit, dem von Biografie und Methode. Da aber in Deutschland 1931 niemand das Feld der Polemiken übersah und die Fülle der Gegenbilder zu seinem speziellen Konzept unbekannt blieb, kam es bei Anhängern wie Kritikern zum Zerrbild. Verzerrt wurde vor allem das Verhältnis, in dem Tretjakows besonderer Weg zur allgemeinen Umstellung der Grundlagen des Schriftstellers stand. Seine Bücher Feld-Herren und Deng Schi-hua, die kurz darauf deutsch erschienen, entzerrten das Bild nur zum Teil. Wie Tretjakow seine Arbeitsweise weiterentwickelte und dabei seine Kenntnis der Weimarer Republik und ihrer revolutionären Künstler sowie auch das tschechoslowakische Beispiel einsetzte, ist nach der faschistischen Machtergreifung nur noch von wenigen verfolgt worden. Tatsache ist, daß er dem drohenden Auseinanderfall von „Operation" und „Kunst" durch die Verarbeitung seiner internationalen Erfahrungen begegnen konnte. So ungünstig aber der Zeitpunkt heute scheinen mag, zu dem Sergej Tretjakow mit seinen Auffassungen nach Deutschland kam - eine Einsicht verdanken wir dieser Ungunst: Die Arbeitsmethoden sozialistischer Literatur eines Entwicklungsabschnitts lassen sich weder beliebig auf einen anderen übertragen noch aber auch als unzutreffend abtun. Sie müssen der Kritik der Lage unterworfen werden, in die sie kommen, also geschichtlich genommen werden. Schwärmerei wie Lamento bleiben unfruchtbar. Kritisches Werten hingegen verwandelt den Austausch in einen kräftigen Antrieb.

Biografie und Methode — Präzedenzfall 1951 Der Vortrag Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf, den Tretjakow (in deutscher Sprache) zum erstenmal am 20. Januar 1931 im Berliner Kussischen Hof hielt und dann in Wien, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Aachen und auch kleineren Städten wiederholte, unterzog das Schriftstellerbild und den Literaturbegriff einer Revision, die selbst für die sozialistische Literatur von herausfordernder Radikalität 21

war. Der Text erschien vollständig in der Zeitschrift Das bleue Rußland, dem Organ der Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußland, auf deren Einladung Tretjakow ein halbes Jahr die Weimarer Republik besuchte. Der Vortrag war zunächst einmal einer der ersten persönlichen authentischen Berichte über den „bolschewistischen Frühling" des Jahres 1930, der dann zum Gegenstand Scholochows in Neuland unterm Pflug wurde, eines Buches, das erst nach dem Sieg über den Faschismus nach Deutschland kam. Zwei Drittel des Vortrags befaßten sich mit Entwicklungsproblemen der sowjetischen Landwirtschaft. Tretjakow erzählte Geschichte und Geschichten: die Kollektivierung als die „ganz neue Welt einer äußerst intensiven Bewegung". Tretjakow erklärte Sowchos, Kolchos, Maschinen-Traktoren-Station und erläuterte den Unterschied der drei Kolchosformen. Dann folgten die Kurzfassungen einiger Geschichten, die im Buch Feld-Herren wiederzufinden waren, etwa Aufruhr der Bäuerinnen. Der Berichterstatter der Welt am Abend schrieb bedauernd: „Leider lassen sich in diesem Rahmen die wundervollen Erzählungen Tretjakows vom russischen Dorf hier nicht erzählen. Doch wäre zu hoffen, mehr von diesem Dichter zu hören."25 Tretjakows Vortrag hieß Der Schriftsteller und das sozialistische Dorf und versuchte in dem einleitenden Drittel zu umreißen, welche Schlußfolgerungen sich aus der „äußerst intensiven Bewegung" in der sowjetischen Gesellschaft für die Arbeitsbedingungen des Schriftstellers ergäben. Er ging von der Beobachtung aus, daß die meisten Ausländer ein Bild von der Sowjetunion hätten, das hauptsächlich durch die Lektüre der russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts geformt worden sei: „Amerikanische Jünglinge, kaum in Moskau angelangt, durcheilen die Straßen, um die Brüder Karamasow, Sonja Marmeladowas, Raskolnikows zu suchen. Unbeabsichtigt imitieren sie damit den Helden des ,Idiot' [. . .] Dieser Tage veröffentlichte ein amerikanischer Dichter einen offenen Brief an mich, der sich mit meinen Äußerungen über die Tätigkeit des Schriftstellers im Kolchos befaßte, und schrieb wörtlich: ,Das eifrigste Studium der Marxschen Theorien kann uns nicht 22

mehr Kenntnisse über den .Mushik' vermitteln, als die vorrevolutionäre klassische Literatur enthält. 26 "* Darauf entwirft Tretjakow sein Konzept, das sich gegen die Überbetonung des biologischen und emotionalen Lebens der Gestalten richtet. Er sieht seine literarische Arbeit in der Einheit von erstens exakter „Untersuchung der Tatsachen in ihren Besonderheiten und ihren konkreten Erscheinungen"; zweitens „Herausarbeitung der charakteristischen Momente [. . .]", „Untersuchung der Tatsache auf ihr allgemeingesellschaftliches Interesse", wodurch sich die Tatsache „in ein Argument, in ein Signal, in einen konkreten Vorschlag" verwandle, und drittens praktischen Schlußfolgerungen, die „die Anwendung des literarischen Beitrags in der Praxis der sozialistischen Umgestaltung der Wirklichkeit" gestatteten. Um so zu arbeiten, müsse sich der Schriftsteller verantwortlich mit der Gesellschaft binden. „Die gestaltenden Beziehungen zum Stoff tragen nur die Verantwortung für die Richtigkeit der beschriebenen Vorgänge und für die literarische Form, nicht aber für deren künftiges Schicksal. - Operative Beziehungen nenne ich die Teilnahme am Leben des Stoffes selbst."27 Tretjakow begreift diesen Vorgang als den Teil eines größeren Prozesses, der sozialistischen Kulturrevolution in der UdSSR, die das Schreiben aus einer „ungewöhnlichen individuellen Fertigkeit zu einem Gut der allgemeinen Bildung" mache. Die 1930 bereits zwei Millionen umfassende Bewegung der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten und die Initiative „Stoßarbeiter in die Literatur" schaffen nach seiner Meinung ein ganz neues Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser. Das Berufsbild des Schreibenden ändere sich. Er müsse seine Beziehungen zum sozialistischen Aufbau aus der verbreiteten Kontemplativität herausführen in die Operativität. Tretjakow hat den Zusammenhang von neuem Charakter der Arbeit und veränderten Arbeitsbedingungen des Schriftstellers nach seiner Rückkehr aus dem Ausland 1931 in dem Aufsatz Eine Sache der Ehre - eine Sache des Ruhms formuliert, der in dem Sammelband Rote Arbeit (zusammen mit Beiträgen von Anna Seghers und Jürgen Kuczynski) noch 1931 deutsch erschien und parallel in Moskau herauskam. 23

Die knappe Hälfte bildeten Texte von Stoßarbeitern, die die Entwicklung in ihren Betrieben schilderten. In ihnen spreche der Arbeiter als der „Herr der Wirtschaft", als sozialistischer Eigentümer: „ [ . . . ] der Herr der Wirtschaft, der rationalisiert, erfindet und Erfindungen sammelt, der Herr der Wirtschaft und Kontrolleur, der jeder Kleinigkeit nachgeht, jeden Verlust schmerzlich empfindet, darüber hinaus aber nach Auswegen für Abhilfe sucht, konkrete Vorschläge dafür macht und die Aufmerksamkeit der Massen für den Kampf um die konkreten Vorschläge mobilisiert. - Dieser proletarische Herr der Wirtschaft eben ist der Stoßarbeiter. Stoßbrigadler bilden jene Vorderreihen der siegreichen Arbeiterklasse, in deren Mitte inzwischen- schon ein neues Verhältnis zur Produktion und zur Arbeit sich entwickelt. - Dem Stoßbrigadler ist die Arbeit ein politischer und ökonomischer Akt, dessen Wert er einzuschätzen weiß. Seine Arbeit ist ein Stück Klassenkampf, in dem der Klassenfeind nicht einfach als ,konkrete Verkörperung des Schlechten', sondern in Form von Überbleibseln, Gewohnheiten, Rückständigkeiten, Abweichungen, wie sie sich im Bewußtsein und Wesen jedes einzelnen Menschen eingenistet haben, erscheint [. . .] Der Stoßbrigadler, das ist der Repräsentant einer zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit werdenden wahrhaft f r e i e n A r b e i t . Dieses Symptom muß man begrüßen und aufmerksam s t u d i e r e n ," 28 Angeregt von diesen Darstellungen Tretjakows plante der Neue Deutsche Verlag, 1933 einen Sammelband mit Geschichten sowjetischer Stoßarbeiter herauszubringen; Tretjakows Vorwort sollte die Texte der „Homers an der Werkbank" einleiten. 29

Treffen der Konzepte Ablehnung und Nachfolge sind im Anschluß an Tretjakows Erwägungen zu seiner Operations-Kunst so apodiktisch formuliert worden, daß dieses Treffen der Konzepte, eine der aufschlußreichsten Begegnungen zwischen sowjetischer und deutscher Literatur, wegen der polemischen Verkrustung bis heute 24

unausgeschöpft geblieben ist. Dabei ist nicht zu übersehen, daß Tretjakow als Vermittler bestimmter sowjetischer Erfahrungen zugleich Wichtiges lernte und für den sowjetischen Literaturprozeß gewann. Sein Buch Menschen eines Scheiterhaufens, das Polemik und Korrespondenz sehr unterschiedlicher Arbeitsweisen sozialistischer deutscher Künstler zeigte, ist nicht nur dem Stoff, sondern auch der Auffassung und Einsicht nach der genauen Beschäftigung mit den deutschen Besonderheiten verpflichtet. Und zwar nicht allein in der Spanne zwischen Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf. Über die Porträts des Buchs hinaus plante Tretjakow Texte über Egon Erwin Kisch, Ernst Toller und Erich Weinert. Auch Lion Feuchtwanger wollte er vorstellen; es blieb bei der Begrüßungsrede von 1937. 30 * Was Tretjakow 1934 von seinem Austausch mit Brecht sagte, läßt sich verallgemeinern: „Ich selbst fühle, wie das Gefühl der kameradschaftlichen Verbundenheit in meiner freundschaftlichen Arbeit mit Brecht wächst. Ich korrespondiere mit ihm, einiges übernehme ich von ihm, vieles von ihm weise ich wieder zurück, doch bei jedem Schritt verhalte ich mich äußerst aufmerksam und umsichtig, ja, man kann sagen sehr zärtlich sogar." 31 An Oskar Maria Graf, den er 1935 nach Olga Viktorowna, seiner Frau, und Iwan Kirillowitsch Martowizki, den bewunderten Kolchosorganisator, mit John Heartfield seinen „großen Freund"32 nannte, schrieb Tretjakow im Sommer 1936: „Ich bin jetzt in meiner arbeit, wenn nicht deiner Meinung, so deiner Einstellung geworden. Es reisst mich nicht zum herumreisen und eindrucksammeln, sondern zum denken, um die großen umrisse des lebens und des Menschen sich aufzuklären. Eine Vertiefung in den Stoff ist nötig, und Stoff ist da." 33 Vorbereitet war Sergej Tretjakow auf die Berliner Begegnung geradezu einzigartig. Er gehörte zu den sowjetischen Experimentatoren, die unter dem Einfluß der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges aus der antibürgerlichen Avantgarde an die Seite der Arbeiterklasse gegangen waren. E r hatte 1919 bis 1922 im Fernen Osten an der großen Ausbildung der Agitationskunst gearbeitet. Als er dann nach Nikolai Assejew mit Nikolai Tschushak nach Moskau kam, 25

gehörte er nicht nur zu den Mitarbeitern Sergej Eisensteins, Wsewolod Meyerholds und Wladimir Majakowskis, sondern war ein Inspirator von Kunstunternehmungen, die einen sozialistischen Kunstbegriff ausbildeten. Sein Theaterstück Brülle, ¡China!, nach einem längeren Chinaaufenthalt geschrieben, war ein Schlag gegen die Asien-Exotik, ein Stück, das die Bühne zum politischen Tribunal machte und damals zum meistgespielten sowjetischen Stück in der SU und im Ausland wurde. D i e Montagekunst Eisensteins im Panzerkreuzer ,Pot}omkin' verdankt Tretjakow wesentliche Anregungen, der bei früherer Zusammenarbeit mit dem Regisseur auf dem Theater die „Montage der Attraktionen" mitentwickelt hatte. Sergej Tretjakows Experimentier- und Erfindungsgeist war gespeist von der politischen Massenbewegung nach der Oktoberrevolution. D e r Funktionswechsel der Medien, die Erfahrung einer geschichtlich neuen Kunstbefugnis und des internationalistischen Charakters sozialistischer Kunst bestimmten seine Vorschläge. Tretjakow war einer der wenigen sowjetischen Schriftsteller, die zu früher Zeit nicht nur Kenntnis vom europäisch-mittelrussischen Gebiet hatten, sondern die Klassenkämpfe in anderen Teilen der Sowjetunion und der Welt kannten: in Sibirien, im Kaukasus, in China.

Radikalisierung und Differenzierung Dies bedacht, ist die Funktion von Tretjakows Auftreten 1931 nahezu unbekannt und theoretisch nur ungenau bestimmt. Die Ursachen: Die gesteigerte politische Aktivität der deutschen Arbeiterklasse angesichts der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise und der Übergang des ersten sozialistischen Staats der Welt zu umfassender Gesellschaftsplanung führten nach 1930 zu einem Höhepunkt der Radikalisierung des bürgerlichen Literaturkonzepts, aber schon zur Differenzierung des sozialistischen. Daher kam es, daß Tretjakows Auffassungen von Johannes R. Becher, dem Vorsitzenden des Bundes proletarischrevolutionärer Schriftsteller Deutschlands, im August 1931 als sektiererisch schroff abgelehnt 34 , von Walter Benjamin auf der 26

linken Seite der Avantgarde aber als eine Art Patenlösung 35 gepriesen wurden. Daher kam es, daß Benn auf der rechten Seite der Avantgarde Tretjakow als den Inbegriff von naturwissenschaftlichem Positivismus, mechanischem Materialismus, untragischem Funktionalismus verteufelte, die der Dichter im Namen der rasend beschworenen „Epoche eines großartig halluzinatorisch-konstruktiven Stils" 36 verwarf. Bechers und Benns Einspruch werden gerade von einem linksradikalen Ideologen wie Yaak Karsunke heute wieder triumphierend Benjamins Fürsprache entgegengesetzt37. Um dieser falschen Konfrontation zu begegnen, die einen ewigen Gegensatz zwischen den etablierten „Konservativen" (gleich welchen politischen Programms) und dem scheiternden Radikalen, Utopisten sieht, muß der Präzedenzfall von 1931 genauer erinnert werden. Sergej Tretjakow traf mit seinen Vorträgen im ersten Halbjahr 1931 und mit den Büchern Feld-Herren (deutsch 1931) und Detig Schi-chua (deutsch 1932) in die Diskussion um die gesellschaftliche Funktion der Literatur und die Anfänge der Realismusdebatte der deutschen sozialistischen Literatur. 1929 hatte die Auseinandersetzung Johannes R. Bechers und Egon Erwin Kischs mit Gerhart Pohl über die „Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit" und die nötigen Schlußfolgerungen für Biogräfie und Methode stattgefunden. Es ging um die Durchsetzung sozialistischer Parteilichkeit als ästhetischem Wertungsprinzip der neuen Literatur. Zu den „prinzipiellen Zusammenhängen der Literatur mit Politik, Partei und Propaganda" schrieb Kisch zusammenfassend: „Dagegen sind dem Kenner der sozialistischen Literatur die Probleme des seit Jahrhunderten in Gang befindlichen Klassenkampfs klar, zu welchem gleichermaßen das Ding an sich wie ein kleiner Gegenstand des täglichen Bedarfs gehören; von der Fähigkeit des marxistischen Schriftstellers hängt es dann ab, ob er das ihm deutlich sichtbare Problem zu erledigen vermag. Das hat die Partei von uns, das haben wir von der Partei, die sich siehe Lenins Briefe an Gorki - sehr um die Schriftsteller bemüht."38 Ausgelöst worden war die Polemik durch einen Aufsatz Max Herrmann-Neißes über Gottfried Benns Prosa. Hier war der „wirklich, naturhaft selbständige Geist, dessen urwaldblühender Nihilismus in Wort und Logik ganz von 27

neuem beginnt" den „literarischen Lieferanten politischer Propagandamaterialien", dem „schnellfertigen Gebrauchspoeten" als Beispiel entgegengestellt worden.39 Darauf nahm im Frühjahr 1930 dann ein Rundfunkgespräch zwischen Gottfried Benn und Johannes R. Becher Bezug, das die Positionen bürgerlich-modernistischer und sozialistischer Literatur scharf herausarbeitete. Benn weigerte sich, eine qualitativ neue Situation nach der Oktoberrevolution zu erkennen, und sieht den Befreiungskampf des Proletariats als Bewegung unter Bewegungen. Fazit: „Die politische Tendenz ist keine Tendenz der Dichtung, sondern eine Tendenz des Klassenkampfs; wenn sie sich in poetischer Form äußern will, ist das Zufall oder private Liebhabereil" Becher setzte gegen Benns These „Dichtung an sich", mit der er das Gespräch eröffnet hatte, seine These „Dichtung als Tendenz", Dichtung im Befreiungskampf des Proletariats als dem Kampf um die Befreiung der Menschheit entgegen: „Es ist selbstverständlich, daß mit dieser für mich zentralen Erkenntnis sich auch ein Umbruch in meiner Dichtung vollziehen mußte. Ich könnte sagen, ich stieg in meiner Dichtung von dem Himmel zur Erde herab, ich hob das Jenseits auch in meiner Dichtung auf." 40 Das bürgerliche Fortschrittsverständnis brach in Benns unheimlichem Anrennen gegen die „progressive Zerebration", die „fortschreitende Verhirnung"41, gegen die gesamte Aufklärungstradition sichtbar zusammen. Und selbst wo daraus nicht der Schluß auf die „halluzinatorisch-konstruktiven" Elemente des Nationalsozialismus gezogen wurde, dessen verhängnisvoller Irrtum Benn erst im August 1934 klar wurde, gab es ein verzweifeltes Abwehren der Erfahrungen in der Wirklichkeit. So zog Joseph Roth gegen die „Neue Sachlichkeit" zu Felde, die ihre „moralische Bestätigung" aus Rußland, ihre materielle aus Amerika beziehe: „Die dokumentarischen Berichte aus der großen russischen Revolution", hieß es bei Roth im Januar 1930 in Schluß mit der Neuen Sachlichkeit!, „fanden den Enthusiasmus, den man dem Stoff entgegenbrachte. Sie führen ein literarisches Leben auf Kosten dieser, nur d e m S t o f f g e l t e n d e n B e g e i s t e r u n g . Die russische 28

Literatur der Gegenwart ist in der Tat (mit geringen Ausnahmen) eine Materialsammlung für Kulturhistoriker [. . .] Mit der kategorischen Erklärung: daß die ,Seele' abgeschafft sei, ein überflüssiger Blinddarm des bürgerlichen Menschen und eine literarische Verwirrung des hochbegabten, aber leider verblendeten Dostojewski, fängt die Epoche der russischen sogenannten revolutionären Neuen Sachlichkeit an."42 Während hier die Herausforderung, die die sozialistische Revolution und die sowjetische Literatur für die kapitalistische Welt und die bürgerliche Literatur bedeutete, verzweifelt abgewehrt wurde, gab es auf linksbürgerlicher Seite viele Versuche, von den ästhetischen Erfolgen her eine politische Aufwertung der Sowjetunion vorzunehmen. Bezeichnend Richard Huelsenbeck, der Ende 1930 in seinem Aufsatz Die geistige Umstellung in Rußland schrieb: „Der russische Film enthält mit der Tendenz, durch die Tendenz und vielleicht trotz der Tendenz eine solche Fülle der Beobachtung und Darstellungskraft, daß man hier, wo Genie und Regie zusammentreffen, den Schwerpunkt der geistigen Umstellung vermuten möchte." Zur Literatur: „Vorläufig handelt es sich noch um Kolchosen und Sowchosen, aber nicht sehr um Geist."43 In diesem Prozeß erwies sich Tretjakows Auftreten als reaktionsbeschleunigend. Seine Wirkung lag weniger im literarischen Einfluß, als vielmehr im Zuspitzen der Probleme, im Auslösen von Denkvorgängen, in der Herausforderung neuer Haltungen. Nirgends hat Benn so erbittert argumentiert wie in seiner Rede gegen Tretjakow. Nirgends ist wieder ein so umstülpendes Programm für die Erneuerung der Literatur durch die Zeitungskur formuliert worden wie bei Benjamin. Nirgends auch ist so entschieden auf die genaue Eingrenzung des Geltungsbereichs Tretjakowscher Vorschläge gedrungen worden wie bei Becher. Und nirgends schließlich ist so kategorisch der Tretjakow-Weg für die sozialistische Literatur verworfen worden wie bei Lukäcs. Johannes R. Becher rechnete die Überlegungen Tretjakows von 1931 in seinem programmatischen Vortrag Unsere Wendung kurzerhand zu dem „Unfug vom ,Ende der Literatur"'. Für den Druck fügte er diesem Prädikat eine lange Fußnote an, in der er auf Karl August Wittfogels mündliche Entgeg29

nung an Tretjakow und auf das gänzlich Inoffizielle dieser Auffassungen hinwies. Becher stützte diese Kritik auf die Autorität des Prawda-Attikels Über das Plenum der RAPP vom 31. August 1931, der allerdings in dem zitierten Passus ganz andere Tendenzen kritisierte - nämlich die von Tretjakow nie vertretene „merkwürdige Theorie des .Rohmaterials'". Danach sei jetzt nicht die Zeit für eine „große bolschewistische Kunst", wohl aber für die Sammlung von „Rohmaterial", was Becher mit Leo Trotzkis Auffassung von der Widersinnigkeit proletarischer Kunst in der Übergangszeit verband.44 Ein Jahr darauf warf dann Georg Lukäcs Tretjakow mit Ernst Ottwalt, Ilja Ehrenburg und Upton Sinclair in einen Topf und zieh sie der „ E n t s t e l l u n g der Wahrheit", als die sich die „vom Ganzen losgelöste, starr auf sich gestellte Teilwahrheit" erweise.45 Der Grund für diese scharfe Ablehnung und politische wie künstlerische Disqualifizierung Tretjakows bestand zweifellos darin, daß Becher, Wittfogel und Lukäcs, früher auch schon Weiskopf, die erforderliche „Wendung" der deutschen proletarisch-revolutionären Schriftsteller, die sich „in den Menschen und in den Verhältnissen, die sie darstellen müssen, auch wirklich auskennen"4®* sollen, durch sie gefährdet sahen. Dabei vergaßen sie freilich den Unterschied in der Intention. Während der Bund nämlich die Gefahr unreflektierter Enge und sektiererischer Abkapselung bekämpfte, bekämpfte Tretjakow die Gefahr unreflektierter Breite innerhalb sozialistischer Literaturverhältnisse und entwickelte aus der Polemik bestimmte literarische Verfahren. Die spezifische Hilfe, die Tretjakows Arbeit hätte leisten können, wurde nicht erkannt. Vielmehr wurde seine Kampfweise zu einem Popanz gemacht.

„Der Autor als

Produzent"

Andererseits zog die einzige Verallgemeinerung der Vorschläge Tretjakows, Walter Benjamins Aufsatz von 1931, dessen Hauptthese er in dem Pariser Vortrag Der Autor als Produzent (1934) und in dem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit (1936) ausbaute, aus einem b e 30

s t i m m t e n Vorgehen e i n e s sowjetischen Schriftstellers derart weitreichende Schlüsse, daß eine ausschließlich von diesen Maximen beherrschte literarische Praxis den Eindruck der Dürre machen muß. 1931 schrieb Benjamin: „Der Lesende ist doch jederzeit bereit, ein Schreibender, nämlich Beschreibender oder auch ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverständiger - und sei es auch nicht für ein Fach, vielmehr für den Posten, den er versieht - gewinnt er Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht einen Teil des Könnens, das zu ihrer Ausübung erforderlich ist. Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet und so Gemeingut. Es ist mit einem Wort die Literarisierung der Lebensverhältnisse, welche der sonst unlösbaren Antinomien Herr wird, und es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedrigung des Wortes - die Zeitung also - , auf welchem seine Rettung sich vorbereitet."' 47 * Benjamin reagierte damit auf einen aktuellen deutschen Streit um die Rolle der Zeitung. Rudolf Borchardt, der von konservativen Positionen gegen den Verlust des Formbewußtseins stritt, war in einem Vortrag vor Bremer Unternehmern Die Aufgabe der Zeit gegenüber der Literatur - für Enthaltsamkeit vom Medium Zeitung eingetreten. 48 Gottfried Benn unterstützte ihn darin. 49 Bernard von Brentano, der damals Brecht nahestand, hatte Ende 1929 mit seinem Aufsatz Die Aufgaben der Literatur gegenüber der Zeit geantwortet, der noch 1930 in seinem Buch Kapitalismus und schöne Literatur erschien. Dort hieß es: „Ich finde Leute weit verbreitet bei uns, die zu sich selber sprechen, ein Journalist sei kein Hölderlin und eine entschlossene Zeitung kein Weimar. Dagegen bin ich der Ansicht, daß eine entschlossene Zeitung durchaus ein Weimar ist [ . . . ] Die Einrichtungen einer Zeit, in der ich wenige Jahre zu leben habe, sind zunächst einmal nicht gut oder schlecht, sondern vorhanden. Die erste Aufgabe eines Schriftstellers ist es, das Vorhandene zu erkennen und seine zweite, es zu verändern." 50 Benjamin verfocht wie Brentano und Brecht den Gedanken einer Umfunktionierung der Apparate. Tretjakows Zeitungskonzept kam ihm da gerade recht. „Ich hoffe", schließt Benjamin 1934 an den Passus von 1931 31

an, „damit gezeigt zu haben, daß die Darstellung des Autors als Produzent bis auf die Presse zurückgreifen muß. Denn an der Presse, an der sowjetrussischen jedenfalls, erkennt man, daß der gewaltige Umschmelzungsprozeß, von dem ich vorhin sprach, nicht nur über konventionelle Scheidungen zwischen den Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen Forscher und Popularisator hinweggeht, sondern daß er sogar die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision unterzieht. Für diesen Prozeß ist die Presse die maßgebendste Instanz, und daher muß jede Betrachtung des Autors als Produzenten bis zu ihr vorstoßen." Von hier aus entwickelt Benjamin die Funktion sozialistischer Kunst, die er darin sieht, „aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen". Wobei sich eben die organisatorische Verwertbarkeit der literarischen Werke nicht auf das Propagandistische beschränken könne, sondern ihren wichtigsten Maßstab darin finde, wie sie es verstehe, in revolutionären gesellschaftlichen Haltungen zu unterweisen. Der Schriftsteller, tue das schreibend. Insofern sei es dann auch Aufgabe des sozialistischen Künstlers, die Verfahren, die Techniken, die Apparate, mit denen er arbeite, nicht zu verstecken, sondern sich um ihre Verwertbarkeit für andere Autoren zu sorgen und sie damit in ihrem geschichtlichen Entstehen und in ihrer Wandlung begreifen zu lehren. 51 Nicht daß Benjamin die zentralen Punkte Tretjakows verfehlt hätte. Doch herausgetrennt aus dem Feld von Polemik und Korrespondenz, in dem sich Tretjakow bewegte, verloren die Argumente ihren Adressaten. Ein Verfahren erstarrte zur Norm. Eine Funktion verlor sich in der Regel. Benjamins Folgerungen müssen daher ebenso wie Bechers, Wittfogels und Lukács' mit der wirklichen Breite der Vorstöße zur sozialistischen Literatur konfrontiert werden - und nicht nur untereinander. Brecht, Eisler und Heartfield selber übrigens, auf die sich Benjamin als deutsche Beispiele bezog, waren, wie auch Ottwalt, viel vorsichtiger mit Verallgemeinerungen. Bei ihrer Theorienfreudigkeit ist das bemerkenswert. Brecht nannte Tretjakow später seinen L e h r e r , ohne dessen Verfahren jedoch zur Lehre zu machen. Man begann 32

einfach die Zusammenarbeit. Brecht hatte schon Ich will ein Kind haben bearbeitet 52 * und sich Tretjakows zentralen Aufsatz Die Biografie der Dinge übersetzen lassen. Mit Eisler wurden die Arbeiten Drei Fünfjahrpläne und Arbeitslose Hände, arbeitslose Gehirne ins Auge gefaßt. Mit Ottwalt sollte das Parallelporträt eines sozialistischen und eines kapitalistischen Direktors geschrieben werden. Mit Heartfield entstand die erste Heartfield-Monographie (1936). Rückblickend hat John Heartfield in einem Brief an Olga Viktorowna Tretjakowa die Bedeutung des sowjetischen Schriftstellers für die deutschen revolutionären Künstler beschrieben: „.Brülle China!' Dieser aufrüttelnde Titel des Bühnenstückes von Sergej Tretjakow kursierte nach Beendigung des ersten Weltkrieges in Berlin und viele meiner deutschen Künstlerund Schriftstellerfreunde, und nicht nur diese, hörten wohl zum ersten Mal so den Namen des sowjetischen Dichters Tretjakow. Und er blieb ihnen geläufig, wurde ihnen vertraut und lieb. .Brülle China!' wurde in Deutschland, soviel mir bekannt ist, nie aufgeführt. Ich sah jedenfalls nie eine Aufführung dieses, die Zeit des erwachenden Chinas schildernden Stückes und bedaure dies sehr. Daß ich aber später für Tretjakows Roman ,Den Schi-Chua' den Schutzeinband fertigen konnte, freut mich noch heute ganz besonders. Der MalikVerlag in Berlin brachte diese sorgfältige Schilderung des harten, opferreichen Lebens eines revolutionären chinesischen Studenten erstmalig zur Zeit der Weimarer Republik heraus, und der Leiter des Malik-Verlages, mein Bruder Wieland Herzfelde und ich, wir bemühten uns beide, dem Buch den charakteristischen Einband zu geben. Tretjakow half uns dabei, indem er uns die von ihm in Peking selbst gemachten fotografischen Aufnahmen zusandte. E r war dann erstaunt und sehr erfreut, daß wir das Foto für den Schutzeinband wählten, das den chinesischen Studenten, dessen Leben das Buch schildert, vor den vielen chinesischen Rollen mit den Aufrufen stehend, zeigt. Wir hatten wirklich keine Ahnung, daß der Chinese auf dem Foto Den Schi-Chua ist. Eine beflissene Sachlichkeit zeichnet alle biografischen Arbeiten Tretjakows besonders aus. Auch die Monographie, die er gemeinsam mit S. Telingater über mich und mein Schaf3

Mierau, Tretjakow

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fen 1936 im Staatsverlag der darstellenden Kunst O G I S in Moskau herausbrachte, ist eine äußerst präzise Wiedergabe meines bis dahin verbrachten Lebens und eine einprägsame Beschreibung meiner künstlerischen politischen Bemühungen. Tretjakow wurde vielen von uns deutschen fortschrittlichen Schriftstellern und bildenden Künstlern ein selten guter und großer Freund. V o r allem uns deutschen Künstlern ein stets helfender Freund. Ich lernte erstmals Tretjakow persönlich in Berlin kennen, später 1931 bis 1932 war ich dann sein und Frau Olgas Gast in Moskau. So beengt ihre Wohnung auch war, ich war auf das liebevollste in ihr untergebracht und fühlte mich selten so glücklich. Tretjakow erzählte mir von den Kämpfen der revolutionären Arbeiter Moskaus. E r zeigte mir ihre kleinen Häuser, in denen sie lebten. E r zeigte mir - ja ich müßte eigentlich aufzählen, was er mir nicht zeigte, um einigermaßen zu kennzeichnen, welche Mühe er sich täglich gab, mich mit Moskau bekannt zu machen. E r erzählte mir nicht nur von Moskau, nicht nur von Leningrad, von den großen Kämpfen der Völker der Sowjet-Union für ein neues, schönes Leben in Glück und Frieden. E r machte mich bekannt mit den Moskauer Künstlern, mit Rodtschenko, mit Frau Brilc; er wurde nie müde von seinem tief verehrten Freund Majakowski zu berichten. Und im Winter - ich war auch noch im Winter in Moskau - kleidete er mich noch warm ein. Nicht nur eine russische Mütze schützte meinen Kopf vor Kälte. Tretjakow steckte mich in einen kleinen Fohlenmantel. Was taten er und seine liebe Olga nicht alles für mich, und selbstredend nicht nur für mich, sondern für uns deutsche revolutionären Kunstbeflissenen. Sicherlich nicht nur für uns, doch vor allem für uns. Wir danken ihm und seiner lieben Olga dies stets. Bertolt Brecht schrieb Gedichte an ihn. Eines ist betitelt ,Rat an Tretjakow, gesund zu werden*. Im Interesse der Sowjets Trink ein Glas Milch am Morgen Damit nicht dein Rat für uns Eines kranken Mannes Rat sei!

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Wie sehr hat unser großer Dichter Bertolt Brecht den großen sowjetischen revolutionären Schriftsteller, seinen Freund Sergej Tretjakow verehrt und geliebt. Die Gedichte, die er ihm schrieb, zeigen es. Wie glücklich würde ich und mit mir viele, viele Menschen sich fühlen, wären beide große Dichter heute noch unter uns. Doch sie sind mit uns! Ja, mit uns! Mit unsern Kämpfen! Unserm Schaffen! Unseren Bemühungen, die Welt des Kommunismus zu bauen und den Frieden in der Welt zu schützen und für alle Zeiten zu sichern! Eine Fotografie zeigt mich in Tretjakows Wohnung. Er, der großgewachsene Mann sitzt hinter mir kleinem, mich liebevoll wie einen Sohn im Arme haltend. Auf Seite 308 des soeben im V E B Verlag der Kunst in Dresden erschienenen Buches meines Bruders Wieland Herzfelde über mein Leben und Werk, ist diese mir so liebe Fotografie wiedergegeben. In diesem Oktober wäre Tretjakow nun 70 Jahre alt geworden. Mir ist es leider nur möglich, ihn zu diesem seinem Geburtstag in Gedanken zu umarmen. Man lache bitte nicht, wenn ich sage: ,Ich umarme ihn wie ein Sohn seinen Vater'. War er doch stets viel erwachsener als ich, mir immer ein guter, lieber Vater und Lehrer. Du, liebe Olga, die Du ihn jetzt so gut vertrittst und an seiner statt allen unseren Freunden, die Moskau besuchen, unermüdlich wie er es getan hätte, behilflich bist, und Du liebe Tanja, nehmt meine und meiner Frau beste Glückwünsche zum 70. Geburtstag Sergej Tretjakows entgegen."53* 1937 hoffte Brecht, Tretjakow neben Eisenstein und Nikolai Ochlopkow als Mitglied der Diderot-Gesellschaft zu gewinnen, die sich zur Aufgabe setzen sollte, „Erfahrungen ihrer Mitglieder systematisch zu sammeln, eine Terminologie zu schaffen, die theatralischen Konzeptionen des Zusammenlebens der Menschen wissenschaftlich zu kontrollieren".54 In einem Punkt hatte Becher natürlich nicht falsch vermutet. Die Faszination, die für avantgardistische Intellektuelle von Tretjakows radikalem Konzept einer Veränderung des Schriftstellerlebens ausging, war gewaltig. Man spürt gerade in Benjamins Tretjakow-Systematik die heroisch selbstverleugnende Absage an die alten Überzeugungen. 3»

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Das von Becher gefürchtete wohlmeinende Mißverständnis, dem Sergej Tretjakow bei seinem Besuch unterlag, bezeugen drastisch die Erinnerungen des vom Dadaismus gekommenen Malers und Filmregisseurs Hans Richter. Hier ist der konkrete Autor zu einer exotischen Figur stilisiert, ja dämonisiert, die sie für viele bürgerliche Bewunderer tatsächlich geblieben ist. Eines Tages sei bei ihm, schreibt Richter, „ein langer, schmalköpfiger, total haarloser (weil kahlschädlig abrasierter) Russe" aufgetaucht, „dessen Name in der Literatur und im Theater jener Zeit einen nicht unbedeutenden Klang hatte. Sein Stück ,Brülle, China!' war von Japan bis Berlin und von Paris bis New York aufgeführt worden. E r hieß Sergej Michailowitsch Tretjakow. Wir wurden so schnell gute Freunde, als hätten wir uns schon Jahrzehnte gekannt. Alles zog mich bei ihm an, sein maskenhaftes Aussehen, seine Lehrhaftigkeit, seine Intelligenz wie sein naiver Dogmatismus, seine künstlerische Sensibilität sowie seine Isoliertheit als Mensch. E r schlug seine Arbeitszelte in Berlin in meinem Atelier im Grunewald auf (,So leer und groß wie eine Kirche', meinte Eisenstein) und übersetzte Brecht, mit dem er in Lehrhaftigkeit, Dogmatismus, Intelligenz und künstlerischer Sensibilität seltsam übereinstimmte, dessen zynischem Moralismus er aber nichts entgegenzusetzen hatte. Tretjakow war ein unzynischer Gläubiger, und das hat ihm später auch den Kopf gekostet [ . . . ] Obgleich er gut deutsch, das heißt baltisch sprach, brachten ihn Brechts Schriften zur Verzweiflung, nicht weil Brechts Dichtungen schwieriger oder unklarer waren als andere, sondern ganz allgemein wegen der Eigentümlichkeit der deutschen Sprache, die das Verb ans Ende des Nebensatzes zu setzen beliebt. Außerdem behauptete er, Brecht habe eine spezielle Technik, seine Objekte irgendwo zu verstecken, so daß man sie wie verlorengegangene Kinder unter den Röcken der Mutter Subjekt hervorsuchen müsse. E r hatte vor, alles von Brecht ins Russische (,eine viel einfachere Sprache'?) zu übersetzen, und arbeitete derzeit an Brechts .Mutter* (nach Gorki). E r besuchte alle Theater und war von einer intellektuell künstlerischen Freßgier, die mir unersättlich schien. Den größten Eindruck machten ihm weder Friedrich Wolfs leidenschaftliches und linientreues Revolutionstheater an der Volks-

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bühne noch Brechts böse Lehrstücke, die ja von den Agitprops seines eigenen Landes abstammten, sondern im Gegenteil das mystisch-dämonische Stück Barlachs ,Der blaue Boll' im Staatstheater. Der besoffene Seher Heinrich Georges und die dämonisch sinnliche Hexe Margarete Melzers bekamen von ihm das höchste Lob, das ein Theaterrusse zu vergeben hat: ,Das müßte Stanislawski gesehen haben.'" 55 In der Erinnerung liegen hier Entsetzen und Frohlocken nahe beieinander. So nahe, daß Richter sogar die Ironie überhört, die der lobende Bezug auf Stanislawski in Tretjakows Mund bedeutete. Daß die Faszination durch die schillernde Radikalität sich nach zwei Seiten hin lösen konnte, hat die Reaktion auf Tretjakows Vortrag gezeigt. Sie konnte, so bei Benjamin, einen Akt der Überwindung bisheriger Intellektuellenkultur einleiten, wie ihn neben Benjamin auch Christopher Caudwell, Carl Einstein und Max Raphael als Kritik am Surrealismus fortsetzten und Brecht im Komplex seiner TuiStudien (1935 bis 1943) als Kritik an der politischen Käuflichkeit ausbaute56. Sie konnte aber auch, so parallel bei Gottfried Benn, der nicht zufällig von Tretjakows „sehr raffiniertem und polemisch fesselndem Vortrag" 57 * sprach, zu unbedingter Rückkehr zu ihr beschwören lassen.

„Die neue literarische

Saison"

In seiner Rundfunkrede am 28. August 1931, Goethes Geburtstag, wie er ausdrücklich vermerkte, nahm Benn ein Thema auf, das er in diesem Jahr mehrfach besprochen hatte - Kunst ist nur Kunst, wenn sie gesellschaftlich nutzlos ist. Schon in einem Beitrag zu Heinrich Manns 60. Geburtstag im März 1931 war es gegen den „Begriff des nützlichen Schriftstellers" gegangen, den einige „harmlose junge Leute" bei Mann irrtümlich ausgeliehen hätten.58 Die Rundfunkrede Die neue literarische Saison richtete sich dann zunächst gegen die „Internationale des literarischen Tinnefs", den kleinbürgerlichen Kitsch auf der Bühne und im Roman: „Steht gar in einem Blockhaus auf einem Holztisch eine Whiskyflasche und der rauhen Goldsucherkehle entsteigt der Wollustsong, steht die neue Synthese 37

aus Büchner und Kleist vor uns da." Hinter dieser „Vordergrundsliteratur" gehe aber ein „echter literarischer und weltanschaulicher K a m p f " vor sich. D i e Frage laute: „Hat der Schriftsteller noch das Recht, seine Individualität als Ausgangspunkt zu nehmen, ihr Ausdruck zu verleihen, darf er für sie noch auf Gehör rechnen oder ist er völlig zurückgeführt auf seine kollektiven Schichten, nur noch beachtenswert als Sozialwesen?" Tretjakow - „nach seinem Äußeren und der Art seiner Schilderung ein literarischer Tschekatyp, der alle Andersgläubigen in Rußland verhört, vernimmt, verurteilt und bestraft" habe darauf geantwortet, es handle sich um „westeuropäische ,Individualidiotismen"'. Jeder „schöngeistige Versuch" sei als „lächerlich und bourgeois erledigt." D e r „Schriftsteller als Beruf ist verschwunden, er arbeitet mit in der Fabrik, er arbeitet mit für den sozialen Aufbau, er arbeitet mit am Fünfjahresplan". D i e neue Literatur, die Tretjakow stolz vorgezeigt habe - Hefte, „jedes von einem Dutzend Fabrikarbeitern unter Führung eines früheren Schriftstellers verfaßt". Hier erscheine der Mensch als das „zwar ärmliche, aber saubere, das geglättete heitere Kollektivwesen, der Normalmensch ohne Dämon und Trieb [ . . . ] " . Dieser simplifizierenden Darstellung des Vortrags von Tretjakow stellt Benn sein Konzept entgegen. E r fragt: „Ist der Mensch in seinem Wesen, in seiner substantiellen Anlage, im letzten Grundriß seines Ich naturalistisch, materialistisch, also wirtschaftlich begründet, wirtschaftlich geprägt, nur von Hunger und Kleidung, in der Struktur bestimmt, oder ist er das große unwillkürliche Wesen, wie Goethe sagte, der Unsichtbare, der Unerrechenbare, der trotz aller sozialen und psychologischen Analyse Unauflösbare, der auch durch diese Epoche materialistischer Geschichtsphilosophie und atomisierender Biologie seinen schicksalhaften W e g : eng angehalten an die Erde, aber doch über die E r d e geht?" E i n e Erfahrung bliebe „gegenüber der innern Raumlosigkeit dieser TretjakowVorstellung als große Wahrheit durch alle Saisons, durch alle geschichtlichen Epochen bestehen: wer das Leben organisieren will, wird nie Kunst machen." Schließlich sei der Kampf gegen die Kunst uralt. E r gehe immer von den mittleren Kräften

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außerhalb, aber auch innerhalb des Künstlers gegen die höheren, von Plato bis Tolstoi. U n d : alles, was die „Tretjakowleute heute gegen die .tiefen Schriftsteller' sagen, schrieb vor hundert Jahren Börne gegen Heine, Heine gegen Goethe . . . Goethe: ,Das Zeitablehnungsgenie', wie Heine ihn nannte. Goethe: ,Der Stabilitätsnarr', wie Börne von ihm schrieb." Heine sei es später nicht besser gegangen: „Heine war damals der Feind, der ,tiefe Schriftsteller', und Börne der Tretjakowjünger, der junge Mann, den das Ewig-Menschliche anwidert." 5 » Zum Präzedenzfall wurde der heftige Streit um Tretjakow, weil an keiner Stelle so früh das Verhältnis von Schriftstellerbiografie und literarischer Methode in dieser Offenheit und so folgenreich bis an die Wurzel geprüft worden ist. Die Arbeitsweise des Schriftstellers zeigte sich als ein kompliziertes Verhältnis von gesellschaftlicher Funktion und Biografie. Tretjakow war ausgesprochen das, was man einen reizenden Menschen nennt. Sein Vater war Lehrer, später Schulinspektor und hatte ein Mädchen aus einer holländischdeutschen evangelischen Familie geheiratet, das zur Orthodoxie überging. Sie hatten sechs Kinder. Man lebte nicht ärmlich, aber der Haushalt brauchte jeden, und die Kinder verstanden sich auf die Arbeit wie auf ihr Spiel. Sergej war der älteste, sehr begabt, aber kein Wunderkind, wie seine Schwester, Nina Michailowna Tretjakowa, in ihren Erinnerungen schreibt. Für seine jüngeren Geschwister war er der unermüdliche Erfinder spannender Unternehmungen. Er spielte nicht nur glänzend Klavier, sondern malte auch ausgezeichnet und war ein scharfsichtiger Karikaturist. Seine Scherzgedichte steckten voller Übermut auch im Sprachlichen. Der erste Weltkrieg traf ihn als Studenten der Rechte und jungen Futuristen in Moskau, wohin die Familie wegen der Anfälligkeit der Mutter gegen das feuchte Klima Lettlands Anfang 1914 übergesiedelt war. 6 0 Die schneidende Schärfe der Polemiken Tretjakows war ebenso wie die Majakowskis oder Eisensteins keine Folge seiner Persönlichkeitsstruktur, sondern Instrument zur Bewältigung einer Aufgabe. Dabei hat jedenfalls das Bemühen, dem „eigenen Lied auf die Kehle zu treten", wie Majakowski das für sich faßte, eine zwiespältige Rolle gespielt. Hier strengte einer 39

die Funktionalität des Verhaltens gegen seine Sensibilität an und mußte zunehmend begreifen, daß sie einander bedingen und bei Strafe der Selbstaufgabe als Revolutionär nicht auseinandergerissen werden dürfen. Die ihn in den dreißiger Jahren sahen, fanden einen Menschen, der als einer der „Propheten unserer Zeit", wie Ernst Busch einmal sagte 61 , von herzlicher Ungezwungenheit und Impulsivität war. Brecht und Heartfield schildern seine naive Hingabe an das Amt eines Führers durch das alte und neue Moskau. Oskar Maria Graf entwirft 1935 verliebt das Bild eines homo novus der sozialistischen Ära der Menschheit: „Und - was ist Serjoscha noch? Einer der liebenswertesten Menschen, immer heiter, immer lebhaft, arbeitsbesessen und dennoch leicht beschwingt. Der beste Typ des modernen russischen Menschen. Männlich und kämpferisch, ein ausgeglichener Skeptiker und ein unerschrokkener Optimist der neuen Menschengemeinschaft. Rußland und Europa verbinden sich in diesem Dichter und bilden eine Harmonie - die Harmonie des Menschentyps der Zukunft." 6 2 Wie wir aus den Briefen an Brecht und Graf wissen, war das, auch für 1935 schon, stilisiert, eine Freundesgeste des sonst so scharfzüngigen Bayern, der dem kranken Mann zu neuer Kreativität aufhelfen wollte.

Bündnis und

Poetik

Verfänglich und daher so faszinierend wie fatal war Tretjakows Beispiel für den Politisierungsprozeß der bürgerlichen Schriftsteller aus diesem G r u n d : Hier hatte einer den Weg vom antibürgerlichen Avantgardisten zum sozialistischen Kunstarbeiter zurückgelegt und in mehreren Phasen Haltungen und Verfahren für ein neues Funktionieren der Kunst in der Gesellschaft ausgebildet. D e r Positionswechsel war möglich. Der Schriftsteller hatte seine Klasse verlassen, was einen der stärksten Beweise gegen einen dem Marxismus unterschobenen mechanisch determinierten Persönlichkeitsbegriff darstellte. Und es war ein Positionswechsel, der, was die Poetik anging, die Materialbewußtheit, die sprachliche Laboratoriumsarbeit der russischen Futuristen wie ihre Medien40

experimente als Werkzeuge zur Wahrnehmung der revolutionären Funktionen der Künste verwandte. Was einen der stärksten Beweise gegen die angebliche verschleppte Bürgerlichkeit der Sozialisten im Ästhetischen darstellte. Beides befand sich damals freilich selbst noch in der Diskussion. Vulgärsoziologische Auffassungen in der sowjetischen Literaturkritik banden den Schriftsteller an seine Herkunft fest. Und die Trennung zwischen der Entstehungsgeschichte bestimmter literarischer Verfahren und ihrer gesellschaftlich wandelbaren Funktion, also die Unterscheidung ihrer Genese und der Evolution der Literatur, wie sie 1929 besonders von Juri Tynjanow in seinem Buch Archaisten und Neuerer gezeigt wurde, war nicht durchgesetzt. So kam es, daß auch Becher und Lukács bei Tretjakow mehr auf die Herkunft als auf den Weg und die Intention sahen. Mit seinem Beispiel des Positionswechsels und der Umfunktionierung der Kunstmittel hat aber Tretjakow die für die antifaschistische Einheitsfront der dreißiger Jahre entscheidende Neubestimmung des Verhältnisses von Poetik und Bündnis maßgeblich beeinflußt. Soviel nämlich Georg Lukács durch seine Studien zum vorsozialistischen Realismus für die Gewinnung der bürgerlichen Humanisten tat, sowenig tat er für die Gewinnung der aus der antibürgerlichen Avantgarde hervorgegangenen revolutionären Kunstarbeiter. Ja, sein Realismuskonzept ging auf Kosten ihrer Bündnisfähigkeit. Die Gewinnung ästhetischer Maßstäbe für die sozialistische Literatur aus der dialektisch-materialistischen Erforschung des europäischen Romans betrieb Lukács in methodischer Parallele zu Maxim Gorkis Anstrengungen. Es ging darum, ein Literaturkonzept zu entwickeln, das die Dürre einer eng agitatorischen Zweckliteratur überwand. Dabei vernachlässigte diese Richtung des marxistischen ästhetischen Denkens jedoch wesentliche Elemente sozialistischer Kunst, wie sie in Theater, Film, Plakat, Fotomontage, Karikatur und Reportage entwickelt worden waren. Die berechtigte Kritik an der vielfach anzutreffenden Qualitätseinbuße schlug um in generellen Zweifel an ihrer ästhetischen Leistungsfähigkeit und Legitimität in der sozialistischen Kunst. So differenziert Georg Lukács z. B. einige der neuen Erzählweisen der sowjetischen 41

Literatur zu würdigen wußte, von Gorki, Scholochow und Fadejew bis zu Makarenko und Platonow, so ungenau blieben alle seine Äußerungen über Künstler, die er verdächtigte, mit Hilfe der Reportage die Kunst zu eskamotieren. Von nachhaltigen Folgen war hier die Kombination von ästhetischer und politischer Disqualifizierung. Daß gerade der Gesellschaftsroman in der Nachfolge Balzacs und Tolstois für den Theoretiker Lukäcs eine immer größere Rolle spielte, hat zweifellos seine Ursache auch in der besonderen Lage der deutschen Exilliteratur. Die meisten anderen Gattungen waren durch die gewaltsame Trennung vom Publikum in eine aussichtslose Lage gedrängt. Daher hat ein Grundzug der sowjetischen künstlerischen Öffentlichkeit, nämlich die qualitativ neue ästhetische Befugnis der werktätigen Massen und die Entstehung eines konzeptionell und gattungspoetisch reichgegliederten, in sich polemischen Kunstensembles in Lukäcs' Theorien der dreißiger und vierziger Jahre überhaupt keine Rolle gespielt. Hier hat Tretjakow Bahnbrechendes geleistet. Indem er seit 1931 das Verhältnis von Materialbewußtheit und politischer Position in Brechts, Eislers, Heartfields oder Piscators Arbeiten studierte, leistete er Pionierarbeit für die theoretische Fundierung eines erweiterten Bündniskonzepts. Wobei er, gewitzigt durch die sowjetischen Erfahrungen, nicht in den Fehler verfiel, Dichter vom Typ Friedrich Wolfs, Johannes R. Bechers, Oskar Maria Grafs oder Martin Andersen Nexös wegen ihrer anderen poetischen Verfahrensweisen für weniger bedeutend zu halten. Mit diesen Erfahrungen, die in den Porträts des Buchs Menschen eines Scheiterhaufens ihren Niederschlag fanden, arbeitete Tretjakow 1932 bis 1935 als Mitglied des Sekretariats der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS) und redigierte seit 1933 die russische Ausgabe der Internationalen Literatur, deren Kollegiumsmitglied er war. Nach der Gründung der Assoziation der Schriftsteller für die Verteidigung der Kultur und der Auflösung der IVRS setzte Tretjakow seine internationale Arbeit als Stellvertreter Michail Kolzows in der Auslandskommission des Sowjetischen Schriftstellerverbandes fort. Er kümmerte sich besonders um •die deutsche Ausgabe der Internationalen Literatur. Auf dem 42

I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller schloß Tretjakow seine Rede mit einer weitgreifenden Überlegung zum Bündnisproblem: „Unsere internationale Schriftstellerfront heißt Vereinigung revolutionärer Schriftsteller. Doch es stellt sich die Frage, ob das nicht zu eng gefaßt ist. .Revolutionärer Schriftsteller' - schränkt das nicht zu sehr ein? Baut das nicht eine Schranke auf vor jenen Schriftstellern, die zu uns kommen, ein großes künstlerisches und allgemeines Gewicht haben, die sich dabei aber auf den unangenehmen Rang eines bloßen Mitläufers plaziert fühlen. Mehr noch: Es kommt vor, daß ein Schriftsteller aufrichtig für die Sache des Proletariats eintritt und trotzdem nicht in der Vereinigung revolutionärer Schriftsteller ist; es kommt vor, daß ein Schriftsteller bei seinen Vorurteilen zweifelt, ob er wirklich diese Bezeichnung für sich in Anspruch nehmen darf - und trotzdem ist er ein Antifaschist und somit unser Verbündeter im Kampf. Folglich muß unsere internationale Arbeit auf der Losung basieren: Kampf mit dem gemeinsamen Feind - Kampf gegen den Faschismus. Im Namen der Ideen echter Menschlichkeit, deren einziger Träger und Verfechter das Proletariat ist." 63 Erst von hier aus faßt man auch die ganze Bedeutung der Benjaminschen Maximen im Pariser Vortrag Der Autor als Produzent. Der zweite wesentliche Tretjakow-Bezug darin ist nämlich der auf Bündnis und Poetik. Ergiebig war nicht allein die Ausschließlichkeit, mit der Benjamin ein bestimmtes Verhältnis zu den literarischen Produktionsmitteln als das sozialistische Verhältnis überhaupt darzustellen versuchte. Ergiebig war ebenso die Korrektur der Bündnisperspektive, die Benjamin nicht zufällig im Institut zum Studium des Faschismus vornahm. Die ausschließliche Behandlung des Produzentenbegriffs und des Zeitungsmodells übersieht ihre Bindung an die Polemiklage, was nicht heißt, daß gerade die Zuspitzung für bestimmte Kunstarbeiter in bestimmten Situationen des Klassenkampfs produktiv werden kann.

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Erfindungen Erfindungsreich nenne ich ihn vor allem, obwohl es widersinnig klingt: Er war einer der klügsten und wohl der konsequenteste Vertreter der viel mißverstandenen „Literatur des Fakts". Aber dieser eingefleischte Zeugnissammler wurde zum kühnen Erfinder, wenn es um die Instrumente ging, mit denen sich die vereinigten Produzenten das Funktionieren ihres Zusammenlebens klar machen könnten. D a arbeitete seine Phantasie auf Hochtouren. Was er wollte, war, aus den neuen Tatsachen heraus erfinden, nicht über sie hinweg. Diese Erfindungen wurden ein Ärgernis für normative Poetiken, aber eine Fundgrube für die neue Kunst. Dabei hat sich keiner so hartnäckig dagegen gewehrt, daß seine Unternehmungen als Kunst verbraucht würden, wie Tretjakow. Am meisten bekämpfte er die Ästhetisierung des Fakts, Faktographie als letzten Schrei einer „modernen" Kunst. Kein Revolutionär habe das Recht, etwas zu beschreiben, worauf er nicht vorher Einfluß genommen hat und worum er sich nachher nicht weiter kümmert. Veränderung vor Schönheit, Veränderung nach Schönheit: Der Autor trage die Verantwortung für seinen Stoff! Diese Auffassung vom Autor verwarf den Seher. Sie rechnete mit der „Fähigkeit, die Kräfte sparsam auf dreißig Jahre künftigen revolutionären Alltags zu verteilen". Sie war bis zur Illusion kurzsichtig und zugleich weitsichtig bis zur Vision. Sie irrte zweifellos in der Annahme, man könne den Schriftsteller über kurz oder lang entbehren, entprofessionalisieren, weil er in der bürgerlichen Gesellschaft eine Ersatzfunktion gehabt habe: Die Undurchschaubarkeit des Zusammenlebens, die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse habe den Erklärer, Deuter, Tröster, Führer hervorgebracht, der dem einzelnen die abhanden gekommene Durchsichtigkeit, das „Ganze" verschaffte. Nicht irrte sie aber in der Uberzeugung, der Schriftsteller habe in einer prinzipiell nicht auf Verschleierung der Machtverhältnisse angewiesenen Gesellschaft eine andere Haltung ihr gegenüber einzunehmen, sich umzuprofessionalisieren.

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Produktion

des

Neuen

Tretjakow lehnte daher den „unbedachten Parallelismus" ab, der früher oder später „rote Homers und rote Tolstois" erwartete und plädierte dafür, als Grundlage des Schriftstellerlebens nicht allein das Sezieren und Sinngeben, sondern das Organisieren der Gesellschaft zu nehmen - das „Operieren" in der Gesellschaft. Irrtum und Weitsicht sind schwer trennbar, wenn er 1928 schreibt: „Die Sphäre schriftstellerischer Problematik wird immer enger. Nicht mehr lange, und ein Schriftsteller hat als ,Lehrer' nichts mehr zu tun; der Mann der Wissenschaft, der Technik, der Ingenieur, der Organisator der Materie und Gesellschaft tritt an die Stelle, wo eben noch der letzte Lehrer des Lebens sein Haupt erhob."64 Wer die sozialistische Revolution nach Dostojewskis Weissagungen in den Dämonen beurteilte und dort die Voraussicht auf die Gefahren möglicher Entartung fand oder gar das im Jüngling entworfene Kunstwerk der Zukunft für bare Münze nahm, verfiel mitleidiger Verachtung. Als ob die Aktionen der Produzenten dazu da wären, später einmal ein Kunstwerk abzugeben! Das dritte Stück des letzten Kapitels des Jüngling, ein freundschaftliches Urteil des ehemaligen Erziehers über das Manuskript seines Zöglings, das den Roman ausmacht, endet mit einer Zusammenfassung jenes Kunstkonzepts, das Tretjakow ablehnte. Es war nicht unbedingt Dostojewskis Konzept, sondern sprach mögliche ästhetische Einwände gegen die Aufzeichnungen über den Weg des Jünglings, des „Mitglieds einer zufälligen Familie" aus. Die Erlebnisse solcher „zufälligen Familien" zu schildern, sei undankbar, denn sie ermangelten der schönen Form. Jedenfalls seien diese Typen „etwas noch im Werden Begriffenes und können daher nicht in künstlerisch vollendeter Weise dargestellt werden". Es bestünde die Möglichkeit, daß man bedeutende Fehler begehe, dies und das übertreibe, dies und das übersehe. Ausweichen könne man nur ins Historische. Aber wem die Gegenwart am Herzen liegt, dem bleibe, „zu erraten suchen und [ . . . ] sich irren". Der Wert der Aufzeichnungen über das Leben „zufälliger Familien" sei aber dennoch beträchtlich. Sie könnten als „Material für ein künftiges Kunstwerk, für ein künfti45

ges Bild einer unordentlichen, aber bereits vergangenen Periode dienen. Oh wenn der Zorn des Tages vorbei ist und die Zukunft anbricht, dann wird ein zukünftiger Künstler sogar für die Darstellung der vergangenen Unordnung und Verwirrung schöne Formen finden. Dann, dann wird man solche .Aufzeichnungen' wie die Ihrigen nötig haben, und sie werden ein brauchbares Material liefern - trotz all ihrer Verwirrung und Zufälligkeit, wenn sie nur aufrichtig sind [. . .] Es werden doch wenigstens ein paar richtige Züge darin stecken, so daß man aus ihnen erraten kann, was in der Seele manches Jünglings in der damaligen trüben Zeit verborgen lag - eine Kenntnis, die nicht ganz wertlos ist, denn aus denen, diesen Jünglingen, bilden sich die Generationen . . Tretjakows Auffassung von 1928 kümmerte sich um die praktische Verbesserung des Zustands der sowjetischen Gesellschaft, war darauf aus, ihre eigene, verborgene, nicht eine erborgte Gestalt auszubilden. Das war der springende Punkt. Grund für die rationalistische Zuspitzung des Konzepts war diese Aufmerksamkeit für das Unerwartete, für das ganz andere, die Produktion des Neuen. Sergej Tretjakow und die Lef-Leute haben mit wahrer Unersättlichkeit versucht, sich aller ihnen zugänglichen Medien zu bemächtigen, um dieses erwartete Neue aufzuspüren, festzuhalten und bewußtzumachen. Alle Lef-Mitarbeiter befaßten sich z. B. intensiv mit dem Film. Dies Tretjakows Arbeitsbericht von 1927, der unter Laufendes im Nowy Le/-Heft zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution erschien: „Beendete eine viermonatige Arbeit in der Staatlichen Filmindustrie Georgiens (GOSKINPROM), wo er als Konsultant der Dramaturgie tätig war. Unterstützte die Umstellung der Produktionslinie im Goskinprom auf die bevorzugte Herstellung von Filmen, die von der Wirklichkeit, der Lebensweise, der Produktion der Transkaukasischen Föderation ausgehen. Grundprinzip: Nicht von einer vorgegebenen Fabel her das Material suchen, sondern vom gegebenen Material her die Fabel suchen. Ergebnis dieser Umstellung war, daß zwei seiner ethnographischen Szenarien angenommen wurden: ,Die Blinde' (über das heutige Swanetien) und ,Der letzte Dekanos' (über das sowjetische Chewsuretien). Auch erhielt er den Auftrag, eine Reihe von 46

Szenarien herzustellen, deren interessanteste zwei sind — ,Wasserstrudel', Hauptgestalt ein Fluß, und .Helden unserer Zeit', über den Kampf um eine hohe Maisanbaukultur." 6 6 Tretjakow schwor auf das Fotografieren, das ihm ein „optisches Tagebuch" garantierte und uns sozialpolitische Fotos hohen Rangs aus China, Swanetien und dem Kaukasus zur Verfügung stellt. Tretjakow inspirierte Dokumentaraufnahmen in China und in den Kolchosen und drang darauf, die gleichen Objekte einer fortlaufenden, über viele Jahre gehenden Beobachtung zu unterwerfen. Tretjakow schulte sich als Zeitungsmann und Redner, der nicht mitriß, aber zum Mitdenken zwang. Eine Mischung aus „sanftmütiger Herzlichkeit und überraschender Schärfe" nannte die dänische Schauspielerin Lulu Ziegler seine Art. 6 7 In dieser Art brachte der „Schriftsteller aller Gattungen" seine Vorschläge vor: Einzurichten sei ein „Moskwarium", ein Planetarium verkehrtherum, das die Entwicklung Moskaus nach verschiedenen Gesichtspunkten aufleuchten lassen kann. Herauszugeben sei ein sowjetischer Baedeker, der die nach der Revolution veränderte Landschaft erkläre. „Moskau im Ganzen" sollte eine Kollektivdarstellung der Hauptstadt im fünfzehnten Jahr der Revolution sein. 6 8 * Aus vielem ist nichts geworden, wie auch wenig wurde aus Vorschlägen zu einer ergiebigeren Demonstrationspraxis unter sozialistischen Verhältnissen, zur Gründung von Klubkombinaten, aus Filmszenarien und manchen anderen Erfindungen. 6 9 Aber geworden ist etwas aus dem Versuch, eine neue Position des Schriftstellers zu begründen. D i e ausschließliche wurde sie nicht, doch haben die anderen Positionen bei der Aufrichtung ihrer Gegenbilder sich mit ihr auseinandersetzen müssen. D e r berühmte Brief Tretjakows an Brecht vom 15. Juli 1933 zeigte das Beispiel eines auf völlig neue Weise in der Gesellschaft beschäftigten Schriftstellers. E r sei eben von einem Staatsgut, einem Sowchos auf der Krim nach Moskau zurückgekehrt und mache sich wieder an seine Bücher: „Hier muss ich in 3 - 4 Tagen mein Buch über Deutschland zu ende bringen und dann fahre ich wieder in den gebiet der Feldherren zum Nordkaukasus, wo bleibe bis September die ganze Erntezeit.

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Von dem Staatsgut (es ist ein glänzendes Hühnerzuchtgut mit 300 000 weiße Hühner) habe ich etwa 250 Photos gebracht und mache jetzt photoartikeln. Der Staatsgut wird gerade von dem Genossen geleitet, von dem ich den .Direktor' mache. Sie erinnern sich an dieses Thema, das ich auch dem Ottwalt angeboten habe. Das ist ein Mensch eines besonderen Talentes, Organisatorstalentes. Man giebt ihm ein betrieb in sehr schwerem zustand und er kuriert es leicht und graziös, wo andere Leute sich die Zähne abbrechen. Er wirtschaftet so wie der Karuso singt. Methodik dieser handlung zu klären - das ist •die aufgabe. In den Kolchosen werde ich erstens bei der ernte helfen - die in diesem jähre sehr reich ist. Zweitens will ich über allen Leute, die in meinen Kolchosbüchern seit 5 Jahren genannt sind feststellen - was mit ihnen seit dieser Zeit geschehen ist. Da wird es sich um die Schicksal etwa 50-70 Menschen handeln. Wenn auch 10-15 beobachtungen gelingen - ist es schon interessant. Drittens werde ich im Kolchos die arbeit mit dem Drama fortsetzen. Dieser Sommer hat sehr viel Material gegeben zum Schreiben." 70 Mit dem Buch über Deutschland sind die Porträts deutscher sozialistischer Künstler gemeint, die 1936 unter dem Titel Menschen eines Scheiterhaufens erschienen. Feld-Herren hieß die deutsche Ausgabe der beiden Skizzenbücher Tretjakows von 1931, die russisch als Herausforderung (1930) und Ein Monat auf dem Lande (1931) herausgekommen waren. Die neuen Beobachtungen erschienen als 1 001 Arbeitstag 1935 deutsch in der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in Moskau. Das neue Stück sollte heißen Wir machen die Erde satt. Brecht interessierte sich sehr dafür und ermunterte Tretjakow, es fertigzustellen. Im Mai 1937 schrieb Tretjakow an Brecht: „Und du hattes recht - wichtig ist, einen Stück über die kollektivierung zu machen in einfachen, aber umfangreichen und sehr realen Zügen." 71 * Die Rangerhöhung des Zeitzeugnisses und des sozialen Erfindungsgeists, die Tretjakow und seine Freunde auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ist kräftig im Gange. Daß es sich dabei um etwas höchst Bewegliches handelt, hat Tretjakow selbst schon damals gezeigt. Sein Produktions-Stück Ich will 48

ein Kind haben ist die Erfindung eines „Standards" gegen das Zeugnis seiner Unmöglichkeit im Leben. Sein „Operationsbericht" Feld-Herren ist ein Zeugnis gegen erfundene Gestalten des „russischen" Bauern. Sein China-Buch Heng Schi hua zeigt die Erfindung eines Zeugnisses, ein biografisches Interview, das zum Bericht über eine Generation wird. Und seine Theorie des Veränderns, das Porträtbuch Menschen eines Scheiterhaujens ist ein Zeugnis von den großen Erfindungen deutscher revolutionärer Künstler, die er mit dem Begriff des „MontageEpos" beschreibt. Büste oder Pflaster? Im Kampf gegen den falschen Parallelismus schreckte Tretjakow vor äußerstem nicht zurück. Den „Liebhabern von Schönheit" in der Moskauer Kommunalverwaltung, die nach ausländischem Vorbild Skulpturen an Straßenkreuzungen und auf Plätzen aufstellen wollten, gab er 1928 den Rat, zuvor den barbarischen Zustand des Straßenpflasters, den empfindlichen Mangel an Toiletten und Pissoirs, die unterentwickelte Verkehrsregelung und die ramponierten Fußwege zu berücksichtigen. Dies erledigt, schließt Tretjakow grimmig, sei er der erste, der für Skulpturen stimme (sofern noch irgendwo Platz sei!), und zwar weniger für irgendwelche ideologisch zweifelhaften Klassiker, als vielmehr für den Genossen Ziwziwadse selbst, Stellvertreter des Vorsitzenden der Moskauer Kommunalverwaltung. 72 * Höchst verständlich: Wer sich 1928 auf dreißig Jahre revolutionären Alltags einrichtete, kam nicht so schnell zur Kunst. Man muß sich klarmachen, an welchem Punkt ihrer Entwicklung die sowjetische Gesellschaft stand, um den Elan zu begreifen, den Sergej Tretjakow mit der Gruppe des Nowy Lef, die 1927 bis 1928 arbeitete, in seine praktischen Vorschläge steckte. Die meisten Fehler in der Beurteilung des leidenschaftlichen Streits gegen die unbedachten Parallelen ergaben und ergeben sich daraus, daß er eng ästhetisch begriffen wird. Diese Leute hatten es aber auf die politische und soziale Organisation abgesehen. Der Akzent lag nicht auf einem neuen „Ins-Volk-Gehen", „Ganz-unten-Arbeiten" oder körperlicher 4

Mierau, Tretjakow

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Anstrengung als Errettung vor den spekulativen Verirrungen des Geistes. Es ging um den Ausbau sozialistischer Öffentlichkeit und die Erfindung von Formen und Methoden für Geselligkeit und Selbsttätigkeit der Produzenten. Das neue Verhältnis von Persönlichkeit und Öffentlichkeit stand im Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Aktionen. Da war für Jahrzehnte zu tun. Freilich: Selbst wer sich für dreißig Jahre einrichtete, richtete sich für zu kurze Zeit ein. Im April 1928 konstatierte Nadeshda Krupskaja in der Prawda die „Stabilisierung des Analphabetismus". Der Fortschritt sei zu gering. Von 82 Millionen Einwohnern der RSFSR, in der die Alphabetisierung am weitesten vorangekommen war, seien noch 45,8 Millionen Analphabeten, also 55 Prozent. Fazit der Analyse: „[. . .] das Problem der Liquidierung des Analphabetentums ist ein P r o b l e m d e r F r a u e n und ein P r o b l e m d e s D o r f e s stärker als eins der Stadt." 73 Das Ziel, die Alphabetisierung der RSFSR, eine Grundlage für die erfolgreiche Industrialisierung des Landes, bis 1933 abzuschließen, erfordere äußerste Anstrengungen. In einem Vortrag zur Qualität der politischen Bildungsarbeit, in dem die Krupskaja auf die Differenzierung der Arbeitsmethoden je nach Lage den Nachdruck legte, vermerkte sie die Unentdecktheit riesiger Gebiete: „Eigentümlich - aber die Pädagogische Hochschule Twer veranstaltet Exkursionen in entfernte .unerforschte' Gebiete des Gouvernements, und im Autonomen Gebiet der Mari ist es eben erst gelungen, vom Flugzeug aus in die Tiefe der Wälder zu sehen und sie zu fotografieren."7,4 Aber auch in den erforschten Gebieten bliebe viel Unbekanntes. So die örtlichen Traditionen des politischen Massenkampfs (1905, 1917) und die Arbeit der gegenrevolutionären Zentren in den Klöstern und bei den Altgläubigen. Die Beispiele verdeutlichen den Moment. Es ist nicht mehr der Anfang, der Aufbruch, da man, nach Tretjakow, die Fähigkeit haben mußte, „in einer einzigen übermenschlichen Anstrengung zu zerbersten, alle vorhandene Energie einsetzend"75. Es sind das Staunen, die Ungeduld, der Zorn von unterwegs, da man die Kräfte prüft und umgruppiert, die Schwierigkeiten zu übersehen beginnt und den neuen Schritt 50

unternimmt - die Aufstellung eines einheitlichen Wirtschaftsund Gesellschaftsplans, ja eines Fünfjahrplans der Kunstentwicklung. Die Kämpfe um diesen Schritt - von der Wiederherstellung zur Rekonstruktion der Wirtschaft und dann zum erweiterten sozialistischen Umbau - unterscheiden sich wesentlich von den vorangegangenen, und die komplizierten Probleme des Selbstverständnisses der Schriftsteller in dieser Phase hängen damit direkt zusammen. Sergej Tretjakow stellte sich sehr zeitig bewußt auf die neuen Aussichten ein. Hinter dem Passus eines Arbeitsberichts, der die Erweiterung seiner Beobachtungszentren „China" und „Kolchos" um ein „industrielles" notiert, stecken die verzweigten Auseinandersetzungen um den Charakter der Wirtschaftsplanung, um Ziel und Tempo der ökonomischen Entwicklung. „Hier interessiert mich", schreibt Tretjakow rückblickend 1933, „der industrielle Umbau der großen unberührten Neuland-Areale durch die Bolschewiki. Ich habe mich zum Angarostroj schlagen lassen, werde aber wahrscheinlich, da sich die Entwicklung dort verzögert, an einen vorgeschobeneren Abschnitt gehen, z. B. den Wolgostroj." 7 6 Die eigentliche industrielle Erschließung des „Landes A-E", Angara-Jenissej, wie Tretjakow seine Sibirienskizzen nannte, haben wir erst in den ausgehenden fünfziger und sechziger Jahren erlebt. Doch nicht die Verzögerung eines Objekts ist hier von Belang, sondern die Entscheidung für ein Prinzip. Die Debatte um die Planbarkeit der Wirtschaft führte den alten Streit der Bolschewiki gegen die liberalen Volkstümler weiter, deren Epigonen als Fachleute in der Planungskommission des Obersten Rates der Volkskommissare, dem GOSPLAN, saßen. Gleb Maximilianowitsch Krshishanowski, der erste Vorsitzende des GOSPLAN, erinnerte 1957 in seiner Hommage für den sowjetischen Statistiker, Planungstheoretiker und „Sozialingenieur" Stanislaw Gustafowitsch Strumilin an die Lage: „Dieser Fünfjahrplan hieß später der Fünfjahrplan der großen Arbeiten und des entfalteten sozialistischen Angriffs. Aber der Weg zu ihm war äußerst lang und schwer. Die Prärogative eines zentralen GOSPLAN wurden von den mächtigsten Wirtschaftsbehörden bezweifelt, wobei der Ober4*

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ste Volkswirtschaftsrat, das Volkskommissariat für Verkehrswesen und das für Landwirtschaft unerhört hartnäckig ihre Selbständigkeit in Fragen der gesamtstaatlichen Planung verteidigten. Und sogar solche Organisationen wie die Nutzungskommission und die O S O T O P (die Besondere Brennstoffberatung) litten GOSPLAN man gerade als ihren bescheidenen Weggefährten. Dabei war der konkrete Staatsplan für den Staat unabdingbar. Die staatliche Planung mußte sich unbedingt auf die großen, wirtschaftlich fundierten Rayons stützen können. Das Netz dieser Rayons war im GOSPLAN genau durchdacht worden, aber die juristische Bestätigung dieser Rayons zog sich furchtbar in die Länge. Die Erforschung unserer natürlichen materiellen Ressourcen steckte noch so sehr in den Anfängen, daß unser Land damals als ein Land organischen Rohstoffmangels galt." 77 Strumilin, der führend an der Ausarbeitung des ersten Fünfjahrplans beteiligt war, hat die Prinzipien dieses sozialistischen Plans sowohl gegen die Epigonen der liberalen Volkstümler als auch gegen die „Überindustrialisatoren" verteidigen müssen. War dieser Plan eine Voraussage von Tendenzen oder ein Aktionsprogramm? Mußte sich der Staatsplan den zweiundzwanzig Millionen „Bauernplänen" der Kleinwirtschaften anpassen oder umgekehrt? War dieser Plan gar ein später Nachfahre der Fourierschen Vorgaben für die Phalange, die „Antilöwen" und „Antiwale" vorsahen? Im Gegensatz zu den von bürgerlichen Spezialisten vorgeschlagenen Fünfjahrplänen für Teilgebiete der Wirtschaft in der Rekonstruktionsperiode, die methodisch gesehen lediglich das spontane Wachstum für den neuen Abschnitt extrapolierten und ökonomisch gesehen mit den Vorkriegsmaßstäben des Produktionsvolumens auch den Vorkriegszustand der Produktionsweise restaurieren wollten, ging der sozialistische Plan von einer Größe aus, die jene überhaupt nicht in ihr Kalkül gezogen hatten - dem kollektiven Willen der Produzenten. In seinem Aufsatz Die Industrialisierung der UdSSR und die Epigonen der Volkstümler schreibt Strumilin: „Wir beschränken unsere Aufgabe nicht auf ein unbeteiligtes Beobachten, um diese oder jene Willensäußerungen der Massen vorauszusehen. Wir selber, die wir uns als Element dieser 52

Massen begreifen, sind bestrebt, ihren Willen aktiv auf bestimmte konkrete Aufgaben zu lenken und zu konzentrieren, die auf dem Wege zur Verwirklichung der endlichen Ideale des Proletariats liegen." 78 Nur von hier aus waren die ökonomisch wie philosophisch in der Anbetung der Spontaneität wurzelnden Angriffe gegen sozialistische Gesellschaftsplanung abzuwehren. Der Plan befaßte sich nicht mit Tendenzen, sondern legte ein Programm von Unternehmungen fest, das die Veränderungen in den Klassen selbst umgriff. Der Plan lieferte die Industrie nicht den zweiundzwanzig Millionen bäuerlichen Einzelplänen aus. Strumilin widersprach dabei sowohl den volkstümlerischen „Agrarisierern", die durch die Stärkung der großen Bauern die Mittel für eine im Grunde kapitalistische Erweiterung der Industrie zu erwirtschaften hofften, als auch den ultralinken „Überindustrialisierern", die die sozialistische Industrialisierung auf Kosten der gesamten Landwirtschaft gehen lassen wollten. Beide erlagen übrigens einem bezeichnenden Minimalismus in der Beurteilung des Tempos der Wirtschaftsentwicklung, der 1928, als der Zuwachs der Industrieproduktion von 1928/29 zu 1932/33 auf 167 Prozent, also das Zweieinhalbfache, festgelegt wurde, noch einmal mit seiner Skepsis zu Wort kam. Strumilin, in dessen Arbeit Krshishanowski das Beispiel für eine „Wissenschaft der Revolutionäre" sieht, hat mit seiner Kühnheit im Zuendedenken statistischer Fakten diesen Minimalismus klug bekämpft. Strumilin war kühn aus Kenntnis. Er stützte sich auf die exakte Erforschung der materiellen Lebensumstände und der Gewohnheiten sowjetischer Arbeiter. Die Lebensweise der Arbeiter in Zahlen. Statistisch-ökonomische Studien heißt eine Schrift von 1926, die die Lage Anfang 1924 beschreibt. Hier legte er besonderen Wert auf Erhebungen zum häuslichen Inventar der Arbeiterfamilien, weil Zeit- und Finanzbudget erst nach Kenntnis dieser Umstände richtig zu beurteilen seien. Die Liga der Zeit, eine Organisation, die sich um die rationelle Nutzung der Zeit kümmerte, habe z. B. die Zeitmessung mit sogenannten persönlichen Zeitkarten propagiert, ohne vorher zu untersuchen, wieviel Uhren eigentlich in den Arbeiterfamilien vorhanden sind. 53

Strumilin fragte in seinen Erhebungen nach Wohnungsinventar (Möbel, Geschirr, Kleidung, Schuhe, Bücher), Schlaf utensilien, Hygieneartikeln (Bürsten, Scheren, Rasiermesser, Tischtücher, Servietten, Handtücher). Um nur einige seiner Ergebnisse zu nennen: von hundert Angehörigen aus Arbeiterfamilien (die im Durchschnitt vier Personen umfassen) schlafen wenigstens acht auf der Erde, meist jedoch mehr, weil als Schlafmöglichkeit auch Kisten genannt werden, die sich für die Jüngeren nicht ewig zum Schlafen eignen. Eigene Matratzen, Federbetten usw. haben aber kaum die Hälfte von hundert. Bettlaken haben knapp 50 Prozent. Scheren finden sich durchschnittlich in 68,9 Prozent der Haushalte. Rasiermesser nur in einem von vier Haushalten. Ein Handtuch kommt auf zwei bis drei Personen. Wertmäßig nehme den ersten Platz die Kleidung ein. Dann folgen verschiedene Instrumente, vor allem Nähmaschinen - in jeder 2. Familie. Auf je vier Mitglieder kommt 1 Uhr, also pro Familie 1. An dritter Stelle folgen die Möbel. An vierter Schuhe. Dann Geschirr. Dann Hausrat, und erst an letzter Bücher. Was Bücher und Ikonen angeht, schreibt Strumilin: „ D i e kulturelle Armut und der Archaismus der materiellen L a g e des Arbeiters zeigt sich vielleicht am krassesten darin, daß sogar die im Leben eines Arbeiters unnützen Ikonen in seinem Hausrat einen ehrenvolleren Platz einnehmen als die Bücher. Ikonen zählten wir in jeder Familie nach dem Vorkriegswert für 6,90 Rubel, dagegen Bücher, Bilder, Bilderbücher - für 5,70 Rubel. Schwer zu glauben, daß diese Beobachtung sich auf das siebente Jahr der proletarischen Revolution bezieht und auf das Arbeitermilieu, in dem schon jetzt nur noch 22 von 100 beten gehen, Bücher und Zeitungen dagegen 92 lesen, in dem für Gebete und andere religiöse Übungen pro Tag durchschnittlich nicht mehr als 2,9 Minuten und für das Lesen und wissenschaftliche Beschäftigungen nicht weniger als 1,71 Stunden, also 35 mal soviel aufgewandt werden. Aber es ist eine Tatsache. Erklärlich vor allem dadurch, daß, wenn auch der Arbeiter selber - das Haupt der Familie - in 4 von 5 Fällen schon jetzt Ikonen gegenüber gleichgültig ist und sich vielmehr für Bücher und für die Zeitung interessiert, in jeder Familie doch die Frau, die alte 54

Mutter oder irgendeine religiöse Tante leben, die kein Buch brauchen, weil sie Analphabeten sind und um so fester am Alten hängen, also auch an den Ikonen. Bücher sind bei Arbeitern schon deshalb selten, weil sie im Vergleich zu dem Lohn, den unser Arbeiter erhält, zu teuer sind." 79

„Ästhetische

Erstürmung

des

Winterpalasts"

Die mächtige soziale Dynamik, die sich hinter diesen Analysen offenbart, treibt die hartnäckigen Versuche von Leuten wie Sergej Tretjakow, geeignete Instrumente für die Kulturrevolution auszubilden. Verständlich, daß sie da unter den Medien Klub, Demonstration, Film, Foto, Radio und Zeitung mehr interessierten als das traditionelle Buch oder das traditionelle Theater. Und wenn schon Literatur, dann eben das „Stück als Diskussion", der „Operationsbericht", das „BioInterview", das „Produktionsszenarium". In seinem Artikel Film zum Jubiläum hob Tretjakow 1927 ungeachtet der späteren Kritik an Eisensteins Oktober eine Leistung als allgemein überzeugend hervor: die ästhetische Erstürmung des Winterpalasts. „Der Winterpalast muß zweimal genommen werden. 1917 wurde er als politische Zitadelle vernichtet. Jetzt muß er als ästhetische Zitadelle vernichtet werden. Die ironische, höhnisch vernichtende Sicht Eisensteins auf diese ganze zaristischgutsbesitzerliche monumentale Herrschaftlichkeit - die Ermitage, die Teppiche, das Porzellan, die Bilder, die Statuen zeigt den Weg dieser ästhetischen Erstürmung. Für diese Erstürmung leistet Eisensteins Arbeit nur einen Teil, denn der ,ästhetische Winterpalast' ist von den Kunstspießern in das ganze Land verschleppt worden und existiert in allen Wohnungen und Gewohnheiten." 80 Gemeint war eine neue, kritische Haltung zu Vorgefundenem, der historisch differenzierende Blick, der nicht die überkommene Teilung in die „Leuchten" der Kultur und die staunende Menge als natürlich übernahm. Anfang 1928 verdeutlichte Tretjakow diesen Gedanken in seinem Aufsatz

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Dame oder Bauer, der zur Diskussion in der Zeitschrift Rewoljuzija i kultura erschien und bisher nicht beachtet wurde. Nachdenkend über die Mobilisierung sozialen Erfindungsgeistes zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution habe er in der Unterhaltung mit einem sowjetischen Journalisten den Vorschlag gemacht, „Oktober-Geburtstagskinder" zu feiern, nämlich die sowjetischen Kulturarbeiter, die unbemerkt die „Molekularprozesse" in der Tiefe des sowjetischen Aufbaus in Gang halten. Sie seien „Helden der schöpferischen Initiative" und brauchten Aufmerksamkeit und neue Eindrücke, die ihnen z. B. kostenlose Theaterbesuche verschaffen würden. Die Reaktion seines Partners hätte ihn überrascht. Um Gottes willen, nur nicht diese Aufwertung. Man schade den Leuten nur. Sie würden sowieso schon der Liebedienerei verdächtigt. Das liege daran, fährt Tretjakow fort, daß die alte kulturelle Schere zwischen den „wenigen .Geistesaristokraten' oder Feudalen der Ästhetik", die weltberühmt und kolossal gebildet sind, und den „Millionen kleinen, verlausten Geistesarmen, den mit 120 Worten auskommenden Halbwilden" noch lange nicht geschlossen ist. Der Fetischismus der großen einzelnen feiere fröhliche Urständ. „Man achte nur einmal darauf, wie wir unseren sowjetischen Aufbau dem Ausland zeigen. Auf dem Wege des geringsten Widerstandes, indem wir den Ausländern mit unseren ,Namen' Sand in die Augen streuen - unsere Anatole France sind nicht schlechter als eure Anatole France. Und erst an zweiter Stelle rangiert das mit unbewaffnetem Auge kaum wahrnehmbare Aufgehen des sowjetischen Millionensauerteigs. Und wie wenig tun wir im Grunde, um das unbewaffnete Auge unserer Gesprächspartner zu bewaffnen." Durchzusetzen sei eine selbstverständliche Öffentlichkeit für die Taten der „Ameisen", und zwar auf Kosten der übersteigerten Selbstdarstellungen jener „Patentgenies", die wie „ein gut dekoriertes Schaufenster" leben. Natürlich sei er für ein Sowohl als Auch, doch mit nachdrücklicher Betonung und Förderung der Selbsttätigkeit der Massen. Diese Öffentlichkeit müsse gesellschaftlicher Natur sein und nicht von der süßlichen Volkstümelei herrschaftlicher Begönnerung, wie Tretjakow sie in Dame oder Bauer? schildert. Ein Verlust sei es natürlich 56

immer, wenn ein großer Mann der intellektuellen Spitze ausfalle. Da sei die Dame verloren, nicht die Partie. „Aber wenn der Aktivist der unteren Ebene, unser sozialer Bauer, sozial erkrankt, sauer wird oder karrieristisch, verzweifelt, erstarrt, den Bürokraten spielt und den Erfindungsgeist verliert, ist das für das Sowjetgewebe tödlich. Man mag sich drehen und wenden wie man will und zweigeschwänzte Formeln mit .sowohl als auch' nach Belieben aufstellen, unsere Kulturrevolution bleibt ein Bauernspiel, langsam, aber zugleich das fröhlichste Spiel, denn der Bauer rückt, wenn er seinen Weg zurückgelegt hat, unter die Damen auf." 8 1 Zuspitzung der Polemik und Zuschärfen der kritischen Instrumente greifen hier so eng ineinander, daß ihre Trennung kaum versucht worden ist. Das Ausprobieren der zu einem Teil schon kurz nach der Oktoberrevolution entwickelten Methoden ergab nämlich, daß sie sich in der Praxis des beginnenden planmäßigen sozialistischen Aufbaus nicht bewährten. Das Kollektiv um die Zeitschrift Nowy Lef hat sich sowohl hinsichtlich des Tempos der Veränderung gesellschaftlicher Beziehungen verschätzt als auch, davon abhängig, hinsichtlich des Persönlichkeitsbilds. Dennoch hat der Vorstoß eine Fülle von Beobachtungen zur Art der Widersprüche sozialistischer Gesellschafts- und Kunstentwicklung hervorgebracht, die auch für die Bewältigung späterer Etappen von Nutzen sein können. Tretjakows spezielle Arbeit ist deshalb so aufschlußreich, weil er einerseits am extremsten formulierte und am längsten an den Vorgaben festhielt und andererseits als exponiertester unter den Schriftstellern des Nowy Lef die Korrektur am entschiedensten vornahm. Die Vorschläge und Kritiken der Mitarbeiter des Nowy Lef zur „ästhetischen Erstürmung des Winterpalasts", die nicht nur in der Zeitschrift der Gruppe, sondern in der gesamten einschlägigen Presse erschienen, konzentrierten sich auf drei Probleme: Keine Ästhetisierung der Revolution. Effektivität der Medien. Ständige Auffrischung der Kunstmittel. Die Abwehr der Ästhetisierung der Revolution, die Medienkritik, die Erfindung von Kunstmitteln hingen für das LefKollektiv zusammen: Wer die Revolution dem ästhetischen Schein auslieferte, lenkte vom Alltag ab, zu dessen Meisterung

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Klub, Demonstration, Zeitung, Radio beitragen sollen. Die Aufgabe besteht also darin, diesen Schein ständig zu zerstören, auch dort, wo er von ursprünglich revolutionären Künstlern erzeugt wird. Die Mobilität dieses Vorgehens und die entworfene Ästhetik des Veränderns sind aktuell geblieben. 1928 beschäftigte Tretjakow die Krise des Klubs. Tretjakow entwickelte in seinem Aufsatz Die ästhetische Fäulnis des Klubs im November 1928 den radikalen Vorschlag, die Klubs entweder in Theatersäle umzuwandeln und den Bezirken oder den Berufskünstlern zu übergeben oder sie ganz aufzulösen und Kräfte und Mittel in andere Arten von Massenarbeit zu stecken, z. B. die roten Gesprächs- und Informationsecken in Eßräumen, Wohnheimen und Betriebskorridoren, die natürlich den Klub nie ersetzen könnten. Wenn nämlich, wie eine Analyse der Klubs der Bergarbeiter und der Metallarbeiter zeigt, der Anteil der künstlerischen, also passiv zu erlebenden Veranstaltungen 1925 zu 1927 von 73,8 Prozent auf 90,3 Prozent anstieg und für aktive Arten, wie Gespräche, Vorträge mit Diskussion, Exkursionen, inszenierte Gerichte nur 9,7 Prozent blieben, habe der Klub seine Funktion verloren. Film, Theater und Konzert finde der Besucher in den professionellen Einrichtungen in weit höherer Qualität vor. Wenn der Klub nicht Spezifisches auf einleuchtende Weise biete - Anregungen zur Eigenaktivität der Arbeiter - , könne er weder gegen die „tausendjährige Erfahrung kirchlicher Umgarnung der Seele" noch gegen den „primitiv-physiologischen TrunkenheLtseffekt der Bierstube", noch auch gegen die „Gemütlichkeit der Privatwohnung" konkurrieren. 82 In ähnlicher Weise wehrte sich Ossip Brik gegen das Weiterschleppen einer funktionslos gewordenen „Romantik des illegalen Kampfs" in den Revolutions- und Bürgerkriegsdarstellungen. Sie habe zur Folge, daß die jungen Leute den offenen Kampf im kapitalistischen Ausland interessanter finden als die praktische Arbeit zu Hause. Die Revolution sei keine „Oper mit Schüssen und roten Fahnen" 83 . Majakowski schloß seinen Beitrag zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution Nur keine Erinnerungen mit der Losung: „Unser Sieg liegt nicht in der Simplifizierung, sondern im Erfassen der gesamten komplizierten Kultur. Weniger ACHRR - mehr Industrialisierung!" 84 58

Gemeint war die Assoziation revolutionärer Maler Rußlands (ACHRR), deren naturalistische Revolutionsdarstellungen die Lei als heroischen Servilismus bekämpfte. Im Leitartikel der ersten Nummer des zweiten Jahrgangs von Nowy Lef ließ Tretjakow dem gesammelten Unmut der Freunde gegen die sogenannten „militanten Passéisten", die Vergangenheitler, Antipoden der „Futuristen", der Zukünftler, freien Lauf. „Die Ikonenmaler pinseln unter den Helm des Heiligen Georg das Gesicht eines Rotarmisten oder schreiben unter Frauen im Sarafan statt .Mädchen' - .Komsomolzin'. Die Komponisten fügen Kommune-Worte in Caféhausmelodien. Die Schriftsteller servieren einem in Tschechows gedämpften Tönen oder in Dostojewskis hysterisch-kriminalistischer Romanmanier den Bürgerkrieg und die Rekonstruktion der Fabriken. Die Theater haspeln im Stil konstruktiv-dekorativer Schablonen immer die gleiche .Jarowaja' in verschiedenen Variationen ab. Der Film träumt von der .Pickfordisierung' des Arbeitermilieus statt seiner .Fordisierung', erfindet wackere ,Sowjetdouglasse' und süße .Sowjetmarys'." (Gemeint waren Mary Pickford und Douglas Fairbanks, die zu dieser Zeit die Sowjetunion besuchten.) Zu bekämpfen sei also Kunst als „Sozialnarkotikum" und die Darstellung des „Menschen der ,Seele', des Elementaren, der Emotion". 85

„Überspannt den

Bogen!"

Der Kampf wurde mit unglaublicher Schärfe geführt. Dabei geriet nicht nur der wirkliche Revolutionskitsch ins Feuer der Kritik, sondern auch die entscheidenden Bücher der Sowjetliteratur jener Jahre. So viele Feinheiten man bei der Geißelung der unhistorischen Parallelen auszumachen wußte, so undifferenziert verfuhr man mit allen, die der Todsünde des „Passéismus", der „ästhetischen Stabilisierung" verdächtig waren. Ganz unterschiedliche Werke verfielen nach stereotyper Argumentation der Ablehnung - Gladkows Zement wie Fadejews Neunzehn, Leonows Dieb wie Oleschas Neid, Sostschenko wie Babel. 86 Für uns mag dieser Irrtum schwerwiegend, ja empörend sein. 59

Für die Beurteilung der Intention dieser Kritiken ist er ein läßliches Vergehen. Denn worum ging es? Nicht um eine reiche Literaturgeschichte, sondern um einen eingreifenden Rezipienten. Nicht um das gelungene Kunstwerk, sondern um das Gelingen der Revolution. Diesem Rigorismus, dem in der Prosa sowohl die erfolgreichen Versuche zur Erneuerung des Epischen aus der mündlichen Erzähltradition bei Babel, Soschtschenko oder Wsewolod Iwanow als auch die Versuche erster Romansynthesen bei Gladkow, Fedin und Leonow zum Opfer fielen, lag das Konzept zugrunde, daß die Kunst weder Bild noch Bilanz geschichtlicher Vorgänge anzustreben habe. Alles, was auch nur entfernt an einen „Spiegel der Realität" erinnerte, verfiel dem Verdikt. Protokoll und Eingriff waren das Panier. Diese vorübergehende falsche Beschränkung der ästhetischen Abstraktions- und Wirkungsweisen erklärt sich aus der Furcht, allzu beflissene Kunstübung im überkommenen Fahrwasser könne auf die Dauer zur Ästhetisierung der Politik führen. Tretjakow zögerte dabei nicht, den politischen Leerlauf zu benennen, wo immer er ihn entdeckte. Die analytische Schärfe ästhetischer Kritik von der politischen Funktion her traf dabei die befreundeten Medien ebenso wie die befreundeten Künstler, den Klub, die Blauen Blusen, Wsewolod Meyerhold, Sergej Eisenstein. Am 26. März 1928 fand im Theater der Revolution eine Diskussion über die Blauen Blusen statt, die eben von einem erfolgreichen Auslandsgastspiel zurückgekehrt waren. Tretjakow, ein alter Freund dieser einflußreichen Form künstlerischer Selbsttätigkeit, hielt den Vortrag. Kurz zuvor hatte er sein Konzept der Konkretheit für die Spieltrupps formuliert: „Einstellung auf den Fakt. Örtliches Thema. Örtliche Heldentat. Örtliches Vergehen. Vor- und Vatersnamen angeben. Datum angeben. Adresse angeben. Ins Gedächtnis rufen. Mit unserem Aufbau insgesamt verbinden."87 Nun benannte er zwei Gefahren. Statt Satire dominiere Humor. Die Arbeit gleite ins Komödische. Aber der Bürokrat lasse sich aus einer Sostschenko-Sicht nicht bekämpfen. Und: Verloren gehe der Adressat. „Das Schlimmste ist, daß von der Zeitungsaktualität, vom großen Element des Exprompts, von der Arbeit eines speziellen Mitglieds, das die Auftrittsorte besucht und in der

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Lage ist, das örtliche Material zu bearbeiten, ein Übergang zu beobachten ist zum verallgemeinerten Produkt." Aber der Blaublusler dürfe nicht zum Schauspieler werden. Er ist einer, der nicht nur „illusorisch, auf der Bühne einen Agitator und Propagandisten darstellt, sondern in der täglichen Arbeit als Propagandist wirkt, ein Mann von hoher Bildung, ein Standard-Mensch, ein Vorbild-Mensch."88 Wußte Tretjakow hier keinen anderen Ausweg, als die Blauen Blusen auf die Klubs zu verweisen, deren eigene „ästhetische" Anfälligkeit er ein halbes Jahr später scharf angehen würde, so ersieht man aus seiner Kritik an der Automatisierung der Meyerholdschen Verfahren und am Abgleiten des Meyerhold-Theaters in das intellektualistische Theater (gemeint war die Rew'iw-Aufführung) 89 *, wie er sich die Durchbrechung der Ästhetisierung dachte. Neuerertum und Philisterei heißt sein Artikel über den Regisseur Igor Terentjew, der in Leningrad das Theater des Hauses der Presse leitete und eine Aufführung von Tretjakows Stück Ich will ein Kind haben plante. Tretjakow beginnt mit einem Rückblick auf die Zeit des „Theater-Oktober", als sich die Zuschauer in Meyerholdianer, Tairowianer und Eisensteinianer schieden. Jetzt seien die Inszenierungen in fast allen Theatern völlig einheitlich. Der „Theater-Oktober" sei zum Ornament degradiert. Die Zuschauer scheiden sich nicht nach Regisseuren, sondern nach Stücken. Im Wachtangow-Theater habe Sejfullinas Wirineja ein völlig anderes Publikum als Bulgakows Soikas Wohnung. Da müsse wieder ein neuer Typ von Regisseur-Erfinder eingreifen, der jede Inszenierung mit dem Ziel erarbeitet, daß das Stück „so intensiv wie möglich die Gehirne durchschüttelt, die Probleme zuspitzt". Terentjew erreiche das. Tretjakow verweist vor allem auf die Inszenierung von Gogols Revisor ein „glänzende Buffonade, ein Lach-Spektakel, das immer ins Schwarze trifft". Eine wirksame polemische Antwort auf Meyerholds Revisor, die der hohen Tragik der Vergeltung die sardonische Komik eines endlosen Gedudels der nikolaitischen Beamtenleier entgegensetzt und so den Revisor auf die Art des Lieds Ein Hund kam in die Küche gibt. 90 Der funktional unzutreffendste Einwand gegen diesen Begriff von der wechselseitigen Kritik der Unternehmungen wäre: 61

wenn das nun alle Regisseure mit allen Stücken täten! Tretjakows Aufruf Überspannt den Bogen/91 beruhte ja gerade darauf, den Ausgleich in einer beruhigten Mitte zu verhindern, setzte also die groß ausgebaute Gegenposition (in diesem Fall Meyerholds) voraus. Dabei ging es natürlich nicht um die Pikanterie des Bruderzwists, sondern um die geistige Beweglichkeit der vereinigten Produzenten. Die Schärfe von Erfindung und Gegenerfindung helfe ihnen, die politischen und ökonomischen Bewegungen der Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit zu beherrschen. Die Sozialisierung aller Funktionen der Künste war das Ziel. Die Humanisierung der Gesellschaft setzte nach diesem Konzept den Kampf gegen ihre Ästhetisierung voraus. Kunst sollte also nicht abgeschafft, sondern neu begründet werden.

„Unser Epos ist die Zeitung" An einem bestimmten Punkt dieser Neubegründung wirft sich Tretjakow auf die Zeitung. In der ersten Nummer des Nowy Lef von 1927 erscheint der Aufsatz Der neue Lew Tolstoi. In einer paradox zugespitzten Polemik bestritt Tretjakow, d a ß der sozialistische Schriftsteller bei Tolstoi etwas lernen könne. Tolstoi überzeuge heute weder als „Lehrer des Lebens" noch als Pate eines „majestätischen .Gemäldes' unserer Epoche". Der Schluß: „Wir brauchen nicht auf Tolstois zu warten, wir haben unser Epos. - Unser Epos ist die Zeitung." Ausgangspunkt der Überlegungen Tretjakows war der neue Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen. Angesichts der „kollektiven Weisheit der Revolution", die die Arbeiterklasse und ihre Partei - als die „Achse jeglicher Leitungstätigkeit" in ihrem täglichen Kampf einsetzt, sei es lächerlich, wenn ein „einzelner Schriftsteller von philosophischer Hegemonie träumen" wollte. „Die gesamte namenlose Masse der Zeitungen, vom Arbeiterkorrespondenten bis zum Leitartikler zentraler Organe, ist der kollektive Tolstoi unserer Tage." Anstatt auf „rote Epiker zu warten", sollte die sowjetische Gesellschaft das Zeitunglesen lernen, die Schriftsteller an die Zeitung heranführen und die Zeitung vervollkommnen. 92 * 62

Hinter Tretjakow liegt eine umfangreiche Theaterarbeit: Bearbeitungen von Alexander Ostrowskis Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste für Sergej Eisenstein und von Marcel Martinets Nacht als Die Erde bebt für Wsewolod Meyerhold. Eigene Stücke: Hörst du, Moskau?!, Gasmasken, Brülle, China! Hinter Tretjakow liegt die Zusammenarbeit mit den Blauen Blusen, liegt der Kampf um den Klub, liegt Filmarbeit. Warum nun - Anfang 1927 - mit dieser Vehemenz die Zeitung? Die Frage ist nur zu beantworten, wenn auch der Einsatz in der Presse nicht als Patentlösung, sondern in seiner Funktion begriffen wird. Tretjakow kommt nicht früher auf die Zeitung, als bis ein gehöriger Fortschritt in der Alphabetisierung erzielt ist: Wie zum Zeitmessen die Uhr gehört, so zum Einsatz der Zeitung das Lesen und Schreiben. Tretjakow sagt nicht, wie man nach manchen Interpretationen annehmen müßte, „unser E t h o s " , sondern „unser E p o s ist die Zeitung". Er nennt sie die „Bibel unserer Tage", den „neuen Lew Tolstoi" und gibt damit die Höhe an, die zu gewinnen sei. Nach Theater, Agitproptruppe, Klub und Film, deren Gefährdung durch Ästhetizismus er schon spürte und in Kürze scharf analysieren würde, war der Gang in die Zeitung keine Verengung, sondern eine Erweiterung der Aktionsbasis. Tretjakow besteht auf der Qualität des Mediums: „Die Mängel der Zeitung und die Rolle der Meister des Wortes innerhalb der Presse - das ist eines der vordringlichsten Themen."93 Tretjakow beschränkt sich nicht auf die Zeitung selber. Er weist auf die Zeitungsherkunft der Transparente hin, die er „Zeitung an Stangen"94 nennt. Er macht Vorschläge zur Verbesserung der „RadioZeitungen"95 und setzt sich als „Wort-Arbeiter" und „WortKonstrukteur" für die qualifizierte Radio-Reportage von und auf den Demonstrationen96 ein. In dem Aufsatz Die Zeitung an Stangen vom Oktober 1927 konstatiert er die Literarisierung der Demonstrationen, die die Vorherrschaft des Bildplakats in den ersten Jahren der Revolution abgelöst habe; um so genauer müßten die Texte den Maßstab der Straße und die Reflexe der Massen kalkulieren und semantisch wie gestalterisch durcherfunden sein, damit: sie sich durch „überraschende und eigenwillige Wendungen im. 63

menschlichen Gehirn festhaken wie die Klette am Schafschwanz". Bei der Demonstration zum zehnten Jahrestag sei von mehreren tausend Sprüchen nur einer in seinem Gedächtnis haftengeblieben.97 Die „Montage der Attraktionen" seiner Theaterarbeit und die „Sprach-Schmiede" seiner Versarbeit werden hier für die Zeitung und ihre Abkömmlinge nutzbar gemacht. Tatsächlich zeichnen sich seine eigenen Texte durch sprachliche Dichte und Knappheit aus, die mit der Montage des Unerwarteten ständig den Erwartungshorizont durchstoßen und automatisierte Denkabläufe unterbrechen. Mit diesem hohen Begriff von Zeitungsarbeit polemisierte er gegen den Minderwertigkeitskomplex vieler Zeitungsmänner, den er sogar bei Demjan Bedny entdeckte 98 . Kein Wunder, wenn sich mancher Feuilletonist freue, wenn seine Reportage nach den „Marmeladenwendungen" der klassischen Romanschreiber rieche.99 Tretjakows Anstrengung der Zeitung gehörte zu seiner Suche nach neuen Prosaformen. Hier münden die Erfahrungen aus Theater-, Vers-, Agitprop-, Klub- und Filmarbeit. Der Begriff „Epos der Fakten" fällt im Aufsatz Der neue Lew Tolstoi zum erstenmal. „Bio-Interview" und „Montage-Epos" erscheinen im Blickfeld. Feld-Herren, Deng Scbi-hua und Menseben eines Scheiterhaujens, die großen Bücher der dreißiger Jahre, gehen aus dem Umschlag der Theorien und Erfahrungen der zwanziger Jahre in der Zeitung hervor. Daß das nicht heißt, die Zeitung sei auch für Tretjakow nur ein im Grunde minderwertiges Medium gewesen, das es zu verlassen galt, sobald es seine Mission als Geburtshelfer neuer literarischer Formen erfüllt habe, geht aus der hohen Variabilität seines Zeitungsdenkens hervor. Tretjakows Erfindungen werden für uns zur Fundgrube, wenn wir die M e t h o d e ihrer Erfindung studieren, nicht lediglich das einzelne Ergebnis. Abgesehen davon, daß manches tatsächlich anwendbar blieb und manches vielleicht erst noch anwendbar wird, sind es doch vor allem Tretjakows Haltungen, die ergiebig sind. Wie er zum Beispiel 1932 in die Debatte um die Radio-Zeitung eingriff oder 1934 die Möglichkeiten von Konferenzschaltung für Demonstrationsreportagen entwickelt, zeigt sein methodisches Vorgehen. 64

Im August 1932 fand eine Beratung der Redaktion der Radio-Zeitung Proletarier beim Allunionskomitee für Rundfunksendungen statt. Tretjakow vertrat die Rundfunksektion des Organisationskomitees für den neuen Schriftstellerverband. Der Befund war alarmierend. Die Radio-Zeitung sei langweilig. Aufsätze in papierenem Russisch. Angebote von Sprechern, die entweder ihren Text psalmodierend herunterleiern oder aber über die einfachsten Dinge in dem herablassend belehrenden Ton einer Gouvernante dozieren. Hilflos sei der Radio-Umbruch, die Montage der Zeitung. Die Texte seien durch musikalische Einblendungen voneinander getrennt, die mit dem Text nichts zu tun haben und ihm sogar auf anekdotische Weise widersprächen. Tretjakow machte in seinem Beitrag für die Literaturnaja gaseta die folgenden Vorschläge: In der häufigeren Verwendung des künstlerischen Bilds sehe er kein Universalheilmittel gegen die Krankheiten der RadioZeitung. Da drohe ein „Radio-Imaginismus", ein „Bild-Impressionismus", der zu nichts tauge. Dagegen sei die Montage höchst funkgerecht. Weiter könnten bestimmte Schriftsteller immer zur gleichen Zeit mit ihrem Feuilleton, ihrer Skizze, ihrer Erzählung, ihrer Anekdote usw. zu Wort kommen. Dazu sei allerdings nötig, daß man genau die Besonderheiten des Mediums berücksichtige. Der Funktext sei bisher einfach der gelesene Zeitungstext: „Er muß aber ein Werk einer besonderen Kunst - der Radio-Kunst sein. - Man muß das Thema in den streng nach Minuten bemessenen Raum hineinpressen." Tretjakow ging in der Berücksichtigung des damaligen technischen Standards sogar so weit, daß er meinte, die Worte müßten auf ihre Sprechbarkeit geprüft werden; bestimmte Laute, die per Funk schlecht hörbar seien, müßten im Text auf ein Minimum reduziert werden. Schließlich setzte er sich für Schriftstellerlesungen ein. Dafür gebe es allerdings eine Bedingung. Die „Radio-Literatur" - „Interview, Gespräch, mehrstimmige Episode, Inszenierungsmontage" - müsse auch von einer speziellen Kritik beobachtet werden. Daß nämlich die Schriftsteller lieber in einer dicken Zeitschrift drucken als in der Zeitung, hänge auch damit zusammen, daß sie dort von der Literaturkritik beachtet würden. Wie ängstlich erst müssen sie dann gegenüber dem Medium Rundfunk sein. 100 5

Mierau, Tretjakow

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Wie hier wurde auch für die Life-Reportage von den Potenzen des Mediums her erfunden. Tretjakows Notiz zur Arbeitsweise einer Schriftstellerbrigade als Sprecher auf Demonstrationen lautet: „Von Jahr zu Jahr verbessert, wurde die Übertragung zu einem komplizierten literarischen Produkt, das sich von Platz zu Platz, von Stadt zu Stadt, von Kolonne zu Kolonne hin und her wirft, wo der Vers die Geschützsalve begleitet, die Reportage die trockenen Laute belebt und die geschichtliche und biografische Auskunft die Möglichkeit bietet, in das Dickicht einer auf den ersten Blick homogenen Masse zu schauen und in ihr die grellsten Tatsachen und bemerkenswertesten Menschen zu erfassen." 101

Gegenbilder Was der Autor sei in der Gesellschaft? Der S p e z i a l i s t , Träger von Schreibverfahren, der eine soziale Bestellung erledigt wie andere Spezialisten auch, Dreher, Physiker, Ärzte? Der S c h ö p f e r schlechthin, Vorbild einstweilen schöpferisch noch eingeschränkt arbeitender Persönlichkeiten? Der V e r t r a u t e des Lesers, dem Bedrängnis und Sorge mitzuteilen sind? Der A n a l y t i k e r , der S o z i o l o g e , der M o r a l i s t ? Braucht man Autoren in diesen und weiteren Funktionen, oder erfüllt jeder Autor am besten gleich alle zusammen? Der erbitterte Streit, beleidigend geführt und schließlich die Parteien selber zerstreitend, läßt sich aus dem mangelhaften Zustand der marxistisch-leninistischen Persönlichkeitstheorie oder der Abbildtheorie und den daraus folgenden terminologischen Mißverständnissen nicht hinreichend erklären. Natürlich herrschte weitgehend jenes kategoriale Selbsthelfertum, das Tretjakow als den Traum einzelner Schriftsteller von philosophischer Hegemonie ironisch abgefertigt hatte. Doch die Art, wie nun die Mitarbeiter des Nowy Lef aus dem Dilemma herausführen wollten, erschreckte allgemein. Der berechnete, vorsätzlich eingeschränkte Mensch, zu dessen Herausbildung allein der Autor als spezialistischer Verfahrensträger erforderlich war, wirkte furchteinflößend. Tretjakow war besonders rigoros. Ende 1928 erklärte er:

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„Eine der Hauptaufgaben unserer Kulturrevolution ist, unseren Arbeiter als den einheitlichen, für unseren heutigen Aufbau erforderlichen Typ des entschlossenen, zielstrebigen Spezialisten-Bolschewiken auszubilden. Uns stehen Jahrzehnte eines komplizierten und schweren Aufbaus, komplizierten und gefährlichen Manövrierens bevor. Auf diesem Wege siegt allein der, der seine Energie auf lange Zeit verteilt, sein Aktionsfeld maximal begrenzt, sich vor der ästhetischen Verschwendung von Zeit und Kraft optimal zu hüten weiß und zum Wohl kommender Generationen auf den Selbstgenuß verzichtet. Mag dieser Mensch auf den ersten Blick einseitig, rigoristisch fanatisch, übermäßig spezialisiert und langweilig diszipliniert erscheinen, nur er, nicht der allumfassende Humanitarier, typisch für den Intellektuellen der kapitalistischen Epoche, wird auf seinem prämiierten Nacken die Bürde des Aufbaus des Kommunismus bewältigen." 102 Solange dieses Konzept als Gegengewicht zu liberalen Illusionen über ein kampfloses Hineinwachsen in den Sozialismus verstanden werden konnte, war die Kampfweise Tretjakows ein entscheidendes Element der sozialistischen Ku'i