Eremitica: Studien zur altfranzösischen Heiligenvita des 12. und 13. Jahrhunderts 9783111328546, 3484520353, 9783484520356


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German Pages 446 [448] Year 1972

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
A. Zur Cançun de saint Alexis
I. DIE REZEPTION DES ALEXIUSSTOFFES: DIACHRONISCHER RÜCKBLICK
II .DIE HS.L UND IHR EREMITISCHES MILIEU
III. MOTIVIK DER VITA SOLITARIA
B. Die Vie de saint Gile des Guillaume de Berneville
I. PRÆAMBULA
II. DER PROLOG
III. KINDHEITS–UND JUGENDGESCHICHTE
IV. VERSUCHUNG UND BEWÄHRUNG
V. DIE FLUCHT
VI. BEIM BISCHOF CÆSARIUS VON ARLES
VII . DER EREMIT VEREDEMIUS
VIII. DER HEILIGE IN SEINER EINSIEDELEI
IX. DIE KLOSTERGRÜNDUNG: GILLES’LEBEN ALS ABT
X. DER EXEMPLARISCHE TOD
XI. DAS NACHLEBEN
XII. ABSCHLIESSENDER RÜCKBLICK: DIE EIGENART DER VIE DE SAINT GILE
C. Die Vie de saint Jehan Bouche d’Or
I. ERZÄHLERISCHER RAHMEN UND PROLOG
II. MITTELPARTIE: VERBANNUNG AUF DIE INSEL UND EREMITENLEBEN
III. WUNDERBARE RÜCKKEHR UND TRIUMPH
LITERATURVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
NAMENREGISTER
SACHREGISTER
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Eremitica: Studien zur altfranzösischen Heiligenvita des 12. und 13. Jahrhunderts
 9783111328546, 3484520353, 9783484520356

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B E I H E F T E ZUR Z E I T S C H R I F T FÜR R O M A N I S C H E P H I L O L O G I E B E G R Ü N D E T V O N GUSTAV G R O B E R F O R T G E F Ü H R T V O N WALTHER V O N WARTBURG HERAUSGEGEBEN VON KURT BALDINGER

130. Heft

LOUISE

GNÄDINGER

EREMITICA Studien zur altfranzösischen Heiligenvita des 12. und 13. Jahrhunderts

MAX NIEMEYER V E R L A G 1972

TÜBINGEN

ISBN 3-484-52035-3

Gedruckt mit einem Druckkostenbeitrag des Kantons Züridi (Schweiz).

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1972 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Herstellung durch Allgäuer Zeitungsverlag G m b H Kempten/Allgäu Einband von Heinr. Koch Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

VII

A . Zur Canqun de saint Alexis I. Die Rezeption des Alexiusstoffes: diachronischer Rückblick.

i . . .

3

1. Vorbemerkung

3

2. Henri Gh^on: Le Pauvre sous l'Escalier

4

3. Hugo von Hofmannsthal und der Pilger unter der Treppe.

.

.

6

4. Die Spur des Alexius in Mörikes Maler Nohen

9

5. Alexius in Goethes Briefe aus der Schweiz

10

6. Benoit Joseph Labre, der >neue Alexius
Gesta Romanorum< an. Diese bieten die aus der lateinischen Vita bekannte Version der Legende, mit gewissen Abweidiungen, die hier außer Betracht bleiben können - bis auf die merkwürdige Tatsache, daß des Alexius Wohnplatz unter der T r e p p e nicht erwähnt wird . . . Da Hofmannsthal gerade diesen charakteristischen Zug symbolisch vertieft, muß er ihn aus dem altfranzösischen Denkmal gekannt haben - was nicht verwundert, da Hofmannsthal bekanntlich romanische Philologie studiert und sich für dies Fach 1901 habilitieren wollte.« Inzwischen weist Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, Münster (Westfalen) 1966 (= FrP, Heft 18), S. 92, auf die seiner Meinung nach einzige lateinische

7

§ 1 3 . Wie Hofmannsthal es als Charakteristikum seiner Zeit erkannte, daß sie, statt Metaphern aus sich herauszustellen, alles in ihren inneren Raum hineinnimmt, so beendet er selbst nun — man möchte sagen: als echtes Kind seiner durch ihn treffend diagnostizierten Zeit - die Evasion in eine frühere, kräftig nach außen wirkende Epoche damit, daß er den unerkannt unter der Treppe seines Vaterhauses wohnenden Alexius empfindsam zu einem Sinnbild des eigenen dichterischen Subjekts verinnerlicht und dort, wo die ältere Dichtung exemplarische Vorbilder zu selbstvergessener Bewunderung aufrichtet, dem Gleichnis selbstbespiegelnd nachspürt. Die eine vereinzelte Episode aus der Alexiuslegende wird für Hofmannsthal freilich zu einem tiefinnerlichen Erlebnis, indem sie ihm selbst Gleichnis und Stoff wird, aus dem der Dichter schafft wie die Spinne, aus dem eigenen Leib den Faden hervorspinnend, der über den Abgrund des Daseins sie trägt 10 .

§ 1 4 . Die Heiligenvita als solche wird dem Vortragsredner Hofmannsthal verständlidierweise nicht zum Anliegen. Er unterwirft sie ganz der eigenen Intention, benutzt sie, statt sie ausdeuten zu wollen, als rhetorischer Schmuck, unter dem seine Rede in altertümlich-sakraler Tracht feierlich und besinnlich einhergeht, mit dem Ernst einer Parabel und der Unnahbarkeit und Unantastbarkeit jener zum Symbol erhobenen Situationen, die jegliche Analyse sich verbieten 11 . Hofmannsthals Allusion an die Alexiuslegende ist darum — vielleicht im Unterschied zu anderen Wiederaufnahmen älterer literarischer Stoffe aus der Romania durch Hofmannsthal - weniger eine Erneuerung romanischen Erbgutes 12 , als eine schöne achtungsvolle Reverenz, und darüber hinaus ein Zeugnis von Hofmannsthals Vorliebe für mittelalterliche, fromme Patina.

10 11

12

Alexiusversion hin, in der von der Treppe die Rede ist. Daß Hofmannsthal jedodi an diese lateinische Fassung des Alexiusliedes - mit dem Wortlaut: fac mihi [ . . . ] / sub gradu tuo lectulum; und: Hospitium / sub domus ascensorio dachte, ist ganz unwahrscheinlich. Freilich spridit Franz-Wilhelm Servaes, Joseph Bripius, De laudibus sancti Alexii. Untersuchungen und. kritischer Text, (Diss.) Köln 1966, S. 57, von mehreren lateinischen Viten, die das Treppenmotiv enthalten. Hugo von Hofmannsthal, Die Berührung der Sphären, S. 57. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde, Mit Quellennachweis herausgegeben von Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1965, S. 1 1 : »Situationen sind symbolisch; es ist die Schwäche der jetzigen Menschen, daß sie sie analytisch behandeln und dadurch das Zauberische auflösen.« Diese Absicht wird Hofmannsthal unterstellt durch E. R. Curtius, Zur Interpretation des Alexiusliedes, S. 136: »Hofmannsthals Ausdeutung des Alexius zeugt ebensosehr für den Lebensgehalt der tausendjährigen Legende wie für die magische Erweckungskraft des deutschen Dichters.« In ähnlich romantischer, jedoch märchenhafter Verinnerlichung und ohne jeden Ansatz zu irgendwelcher Ausdeutung erzählen die Brüder Grimm in ihrer Kinderlegende Armut und Demut fähren zum Himmel (Kinder- und Hausmärchen, II. Band) von einem unerkannt unter der Treppe des Vaterhauses wohnenden Königssohn. Auch dies scheint ein Relikt der Alexiuslegende zu sein. 8

4- Die Spur des Alexius in Mörikes Maler

Nölten

§ 1 5 . Eine erstaunliche Mutation erfuhr die Alexiuslegende in Eduard Mörikes Legende

vom

Alexisbrunnen.

Sie nimmt einen breiten Platz und eine

privilegierte Stelle in dem vielschichtig gebauten Künstlerroman Maler

Nol-

ten ein 13 . Obschon Mörike den mittelalterlichen Alexiusstoff gekannt hat 14 , oder gerade wegen der Auseinandersetzung Mörikes mit der mittelalterlichasketischen Spiritualität der Alexiusvita

erlitt die Legende in Mörikes

erzählerischem Gefiige eine derart gründliche Transformation, daß seine Alexislegende

kaum

anders

denn

als Anti-Alexius

verstanden

werden

kann 15 . § 1 6 . Der glückliche Ausgang der anfangs dunkel beschatteten Geschichte in Mörikes Maler Nölten

entspricht einem liebevoll gehegten, hellen Wunschbild

des Dichters: Alexis und Belsore finden zusammen schon auf Erden ihr Glück 16 . Mörike war demnach aus der mittelalterlichen Legende vor allem das Thema der um Gottes willen verlassenen Braut mit Widerhaken im Gedächtnis haften geblieben 17 , dem er, wider seine eigene getäuschte H o f f nung, die Vorspiegelung eines innerweltlich erfüllten Glückes in der Liebe von Mann und Frau entgegenstellte18. Mörike ist es so in der Auseinandersetzung mit der Alexiuslegende gelungen, eine in ihrer gelösten Diesseitigkeit in seinem Werk vereinzelt dastehende 18

14

15

18 17

18

Eduard Mörike, Sämtliche Werke, herausgegeben von Herbert G. Göpfert, München '1964, Maler Nolten II. Teil, S. 796S. Mörike publizierte den Maler Nohen zum ersten Male 1832. Vgl. dazu Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, D V J X X V I (1952), S. 2 3 0 - 3 1 , wonach Mörike die Alexiuslegende zweifelsohne gekannt haben muß: »daß sie ihm zumindest im Unterbewußtsein gegenwärtig« gewesen sein muß. Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, S. 231, umschreibt die Abweichung Mörikes von der mittelalterlichen Legende so: »Die Gestalt von Mörikes Alexis [ . . . ] scheint geradezu aus dem Widerspruch gegen die Figur des Heiligen entstanden. Die Frage, ob Christus »würdig sei, daß man um seinetwillen alles verlasse«, beantwortet sidi für den Helden der alten Legende in einer ganz eindeutigen Weise, für den Alexis des Maler Nolten dagegen ist sie der Anlaß zu quälenden Zweifeln. [ . . .] Ohne daß eine absichtliche Umformung des Stoffes angenommen werden müßte, hat sich der Sinn der Heiligen-Vita aber unter seinen Händen gewandelt, ja geradezu in sein Gegenteil verkehrt.« Vgl. dazu Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, S. 236. Tatsächlich hat Mörike dieses Thema der alten Alexiuslegende in seine Legende hinübergenommen und es in der Frage nadi dem Verhältnis der Gottesliebe zur Liebe zwischen Mann und Frau zum Mittelpunkt gemacht. Die mittelalterliche Alexiusvita hatte ihr Zentrum - entgegen der Behauptung von Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, S. 231 - nodi nicht in diesem Problem. Verallgemeinernd fügt Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, S. 236, bei: »Die in Mörikes Legende sich spiegelnde Hoffnung auf ein durch die Kraft des Glaubens und der Liebe vergöttlichtes Erdendasein des Menschen hat nicht nur den Dichter selbst betrogen, sondern sein ganzes Jahrhundert.« 9

Utopie zu entwerfen und sich darin eine beglückende Erfahrung wenigstens idealiter zu verschaffen 19 . 5. Alexius in Goethes Briefe aus der Schweiz § 1 7 . Ganz anderer Art und Stimmung ist der Bericht, den Johann Wolfgang Goethe in seinen Briefen aus der Schweiz unter dem Datum des 1 1 . Novembers (1779) von seiner Begegnung mit der Alexiuslegende gibt20. Da wird der Lebenslauf des heiligen Alexius nach der Erzählung einer einfachen Walliser Frau in ein Tagebuch eingetragen und referiert. Die Walliser Frau selbst kennt das Alexiusleben aus dem Legendenbuch des erbaulichen Schriftstellers Pater Martin Cochem, sie hat aber, nach Goethes barockfeindlichem Befund, »alle abgeschmackten Anwendungen dieses Schriftstellers rein vergessen« und nur »den ganzen reinen Faden der Geschichte behalten« 21 . Das hat die Wirkung, daß Erzählerin und Zuhörer nach beendigter Nacherzählung beinahe in Weinen ausbrechen. § 1 8 . Goethes Wirtin hatte ihren Gästen die Legende des heiligen Alexius vorsichtig und sanft aufgedrängt, da sie ihr »erbärmlicher vorkomme, als viele der übrigen« Legenden 22 . Zwar erkennt und bewundert die Walliser Wirtin mit ungetrübtem Blick für das Außergewöhnliche des Heiligenlebens, daß Alexius, »dieser heilige Mann so viel aus Liebe zu Gott ausgestanden habe« 23 ; sie steht aber zu diesem ihrem Lieblingsheiligen in einem derart treuherzigen, direkten, geradezu verwandtschaftlichen Verhältnis, daß Goethe zuerst glaubt, Alexius müsse ihr oder des Hauses Patron sein. Von diesem naiv-sentimentalen Verhältnis der Frau zur Alexiuslegende, das sich in ihrer Erzählung in Sprache übersetzt und fast in jedem Satz rührselig 19

20

21

"

23

Herbert Meyer, Mörikes Legende vom Alexisbrunnen, S. 23$, beschreibt die Sonderstellung dieser Erzählung in musikalischer Terminologie: »Die Alexislegende aber ist im Rahmen der musikalischen Komposition von Mörikes Werk die flüchtige, deshalb aber um so eindrucksvollere Abwandlung eines dominierenden dunklen Moll-Themas in ein versöhnendes Dur.« Goethes Werke, Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1899,19. Band: Briefe aus der Schweiz, Zweite Abtheilung, S. 279-85. Goethes Werke, S. 28$. Leutfried Signer, Martin von Cochem. Eine große Gestalt des rheinischen Barock. Seine literarhistorische Stellung und Bedeutung, Wiesbaden 1963 (= Institut für europäische Geschichte, Mainz, Vorträge N r . 35), S. 9 - 1 0 , vermutet allerdings, Goethe habe eventuell gar nicht Cochems originalen Text, sondern eine aufklärerisch überarbeitete Ausgabe der Legenden von 1799 vor Augen gehabt. So richtete sich Goethes Kritik gar nicht gegen die Erzählweise Cochems; sie träfe den Überarbeiter. Zum Legendenwerk Cochems und dessen Verbreitung vgl. auch Joh. Chrysostomus Schulte, Die literarische Eigenart des Pater Martin von Cochem, O. M. Cap., C F I (1931), S. 90-92. Goethes Werke, S. 281. Goethes Werke, S. 281.

10

durchschimmert, sich dazu im Ernst der zur Mutter unverwandt aufblickenden Kindergesichtern spiegelt, ist Goethe angetan und ergriffen. § 1 9 . Goethe fesselt das volkstümliche, unverbildete Erzählgenie der einfachen Frau mehr als der Gehalt der Legende selbst; für ihn wird die einstmals herbe Legende deshalb zur reinsten Walliseridylle und zu einem Hohen Lied auf die Standhaftigkeit, die darum übermenschlich erscheinen muß, weil sie mit besdieidenem Blick in der Geborgenheit eines trauten Heims betrachtet wird 2 4 . Alles Jähe und Ärgerniserregende fällt da aus des Alexius Lebensgeschichte wie von selbst weg, und Goethe würdigt im Vergleich der Walliser Erzählung mit derjenigen des barocken Schriftstellers das stilistische Plus, welches sich mit der unverfälschten Menschlichkeit der eben vernommenen Rede ergibt. Die Hochachtung und Wertschätzung gilt dem rein sich aussprechenden Humanum. § 20. Wie von selbst plaziert sidi hier das überraschende Urteil von Ludwig Klages über das Menschenbild Goethes und dessen Beschränkung: Man denke sich den Goetheschen Menschen aus Gesellschaft und Geselligkeit herausgerissen und hineingestellt, sei es in die wirkliche Einsamkeit des mittelalterlichen Eremiten und Höhlenbewohners, sei es in die symbolische Einsamkeit des i n n e r e n Fürsichselberseins und - er hat zu bestehen auch schon aufgehört! Das Lebensgefühl des Goetheschen Genius, dem »Ewig-weiblichen« verwandt, bedarf eines M i t t l e r s , und dieser Mittler ist der »Andere«, der »Nebenmensch«. Hier liegt sein besonderer Gehalt, hier aber auch seine eherne S c h r a n k e « 2 5 . Tatsächlich hatte Goethe bei der Begegnung mit der Alexiuslegende nur Sinn und Ohr für das Marternde der geheimgehaltenen und daher verkannten zwischenmenschlichen Beziehung: Eltern, Braut und Gesinde halten ihn für einen fremden Pilger, und Alexius hellt das Mißverständnis absichtlich nicht auf. Eigentlich handelt es sich um gar kein Mißverständnis, denn Alexius ist 24

25

Fritz Wagner, Die Verslegende vom heiligen Alexius, 'Duxit Romanus vir nobilis Eufemianus', M J b I (1964), S. 78, der ebenfalls auf die Erzählung der Alexiuslegende im Goetheschen Reisetagebuch verweist, glaubt dagegen, Goethe habe vor allem die »Verherrlichung der heroischen ja überheroischen Selbstverleugnung und Stille« in der Legende begeistert. Das Herausfordernde der ursprünglichen, in ihrer Eigengesetzlichkeit verharrenden Legende liegt jedoch gerade in deren Selbstverständlichkeit. Heroisch ist da nichts, weil sich der Heilige ein für allemal und ungeteilt auf die ewige Zukunft ausrichtet. Die Kategorie des Heroischen ist der Legende fremd, paßt hingegen wohl zu der Betrachtungsweise Goethes, in der der Heilige eben ganz Mensch, d. h. u. a. anfechtbar bleibt. Goethes Elegie Alexis und Dora, ein ferner Anklang an die Alexiuslegende, bestätigt dies. Erst kürzlich führte Edzard Schaper Goethes Wirtin, welche die Alexiuslegende »mit so feinem poetischem Sinn« erzählte, zum Lobe des Wallis an; in: Lutz Besch, Gespräch mit Edzard Schaper, Zürich 1968, S. 79. Ludwig Klages, Bemerkungen über die Schranken des Goetheschen Menschen (1917), in: Mensch und Erde, München 1920, S. 1 1 3 . II

freiwillig im Exil auf Erden, da kennt er weder Eltern noch Braut oder Gesinde. Die einfordernde Mahnung, welche von des Alexius einsamer, strenger Heiligkeit ausgeht, nämlich nicht auf das Veränderliche und Vergängliche zu setzen, ist aus Goethes Reisebericht nicht herauszuhören.

6. Benoît Joseph Labre, der >neue Alexius« § 2 1 . Noch eben während sich in Münster im Oberwallis die friedliche, innige Szene um die Legende vom heiligen Alexius abspielte, und während Goethe sie behutsam in sein Tagebuch eintrug, damit sie für immer festgehalten sei, begann man in Rom immer lauter den >neuen Alexius< zu feiern, den Pilger Benoît Joseph Labre. Dieser beinahe schockierende, erst 1 8 8 1

kanonisierte

Heilige hat sich die Imitation des Alexiuslebens kaum zum bewußten oder ausschließlichen Programm gemacht; er wurde jedoch dem wahrscheinlich nur fiktiven Legendenheiligen Alexius derart ähnlich, daß ihm dieser bis in die Einzelheiten auf den Leib geschrieben schien26. Die in diesem Falle untrügliche Stimme des Volkes pries ihn deshalb als die Erfüllung des in der alten A l e xiuslegende vorgestellten Typos. § 2 2 . Auch P. Temple notiert in seinen Aufzeichnungen über den ihm persönlich bekannten, unablässig pilgernden Labre: Certains pèlerins m'avaient rapporté savoir de ceux qui le voyaient de temps en temps, qu'ils publiaient que c'était un autre saint Alexis; ce que j'ai entendu encore à l'occasion que je l'avais confessé la dernière matinée; car d'autres ayant dit que j'avais parlé à un grand saint, pour expliquer leur pensée, ils le comparaient, celui-ci à saint Alexis à cause de son grand détachement du monde etc. celui-là à saint Louis de Gonzague à cause de son innocence etc. 27 . Zudem meint Benoît Labre's gewissenhafter und ausführlicher Biograph: Une autre manière de juger l'opinion, c'est de considérer les sobriquets ou dénominations qui étaient données à Benoît dans l'ignorance de son nom, et quelque26

27

Zur Frage der Historizität der Alexiusgestalt vgl. vor allem Léon Hermann, Qui est saint Alexisf, Antiquité classique X I (1942) 235-42; und Albert Poncelet, La Légende de saint Alexis, La Science Catholique I V (1891) 632-45, der S. 633 erklärt: »Et d'abord il faut rayer de la liste des réalités historiques, nous ne disons pas saint Alexis, mais l'Alexis traditionnel [ . . . ] « . In diesem Zusammenhang behält gewiß P. Saintyves, En marge de la Légende dorée. Songes, miracles et survivances. Essai sur la formation de quelques thèmes hagiographiques, Paris 1 9 3 1 , recht, wenn er die Frage nadi der Historizität der Heiligenlegenden S. 163 beiseite schiebt mit der Bemerkung: »La tradition hagiographique n'est presque jamais qu'un aspect de la tradition littéraire, un courant dans cette crue incessante qui assaille dès leur naissance les générations pour leur imposer les mêmes éternelles images.« Die Notizen des P. Temple sind abgedruckt bei F. M. J . Desnoyers, Le vénérable Benoît Labre [.. .], Lille 1857, Band I, S. 517.

12

fois par admiration. Ainsi il fut appelé: le bon Pauvre, le Pauvre des quarante heures; le Solitaire du monde, l'Anachorète des cités, la Copie de l'Evangile, l'Exemplaire de l'Eglise, l'Homme d'oraison, le Saint du siècle, le nouvel Alexis, le nouveau Calybite [ . . ,] 28 . Das ist angewandte Namenforschung - sie entdeckt einige Themen, die im Zusammenhang mit der Alexiusvita weiter auszuführen sind. § 2 3 . D a Benoît Labre seit seiner Jugendzeit mit exklusiver Vorliebe in Legenden-, Erbauungs- und Gebetbüchern las, mußte er die Alexiuslegende unfehlbar kennen 29 . Einen ganz einwandfreien Beleg bietet folgende Predigtstelle des Blinden Paters, dessen gedruckte Predigten Labre ganz und gar auslas : [ . . . ] G O T T hat verordnet / daß kein eintziger Heiliger gefunden wird / der ein so tugendsam / ein so vollkommen / ein Wunder-volles Leben geführt habe / daß er nidit etwelch einen Nadifolger gehabt habe / der ihm zimlidi nahe gekommen / und gar ähnlich gewesen seye. Die Heil. Maria Magdalena hat ein über die maßen streng / und im höchsten Grad rauhe Büß gewürckt / dreyßig gantzer Jahr lang von aller menschlicher Gemeinschaft entfernet / in ihrer heiligen Höhle nächst Massilien gelebt; ein andere Maria hat eben dises in Einsamkeit der Wüsten gethan [ • . . ] Der H . Simeon Stylites hat ein außerordentlich / und wunderseltsames Leben geführt / indem er vil Jahr lang auf einer Saul stehend zugebracht / denen heiß-brennenden Sonnen-Straalen im Sommer / der Rauhe des Winters / und anderen Ungemach der Zeit ausgesetzt. Ein anderer Simeon mit dem Beynamen Stylites der Jüngere hat eben dises einige Zeit hernach gleichfalls gethan. Der H . Alexius ein einiger Sohn eines großen Herrens von Rom hat sich in einen Armen verstellt / und unbekannter Weiß ein geraume Zeit seines Lebens hindurch unter der Stiegen in seines Vatters Hauß gewohnt / nova mundum arte deludens, durch einen neuen Fund / und List die Welt hintergehend: E r hat hierinnen zu einem Nachfolger gehabt einen anderen andächtigen Jüngling ebenmäßig von Rom / der gleicher Gestalten verstellet in einem kleinen Windcel seines vätterlichen Hauses / wovon er Joannes Calybita zu genamet worden / gewohnt hat [ . . .] 30 . 28 M

30

F. M. J . Desnoyers, Le vénérable Benoît Labre, Band I I , S. 503 Anm. 4. F. M. J . Desnoyers, Le vénérable Benoît Labre, Band I, berichtet passim in der Jugendgeschichte Labre's, also in den ersten Kapiteln der Biographie, von der Lektüre des zukünftigen Heiligen. Dom Pierre Doyère, Saint Benoît Labre. Ermite pèlerin, 1748-1783, Paris 1964 (= TS 7), bemerkt S. 18: »Benoît lisait d'autres livres, tels que la >Vie des Pères< et les œuvres de Louis de Grenade, mais pour revenir toujours aux Sermons du Père l'Aveugle.« Die zehnbändige Ausgabe der französischen Predigten des Blinden Paters, die Benoît Labre benutzte, war mir leider unzugänglich. So behalf ich mich mit einer zeitgenössischen Ubersetzung: Der Blinde, Aber getreu / und sichere WeegWeiser Von Jericho nach Jerusalem, Das ist: Lehr- Geist- und Eyfer-volle Lobund Ehren-Predigten [...], Ehedeßen in Französischer Sprach gehalten von A . R . P. Joanne le Jeune (insgemein der Blinde Pater genannt) Priestern des Oratorii Jesu [ . . . ] in das Teutsche übersetzt / und in Druck verfertiget Durch A. R . D. Laurentium Laux Ord. S. Aug. Regulirter Chor- und Capitular-Herrn

13

Labre kannte die Umstände des Alexiuslebens jedoch nicht nur aus den Predigten des Blinden Paters. Es ist anzunehmen, daß er, der auf allen seinen Pilgerfahrten ständig ein Römisches Brevier mit sich trug, um daraus täglich den passenden Abschnitt zu lesen, am 17. Juli, dem Feste des heiligen Alexius, jeweils die im Brevier gegebene Lebensgeschichte überdachte. D a in ihr die Pilgerschaft des heiligen Alexius eigens hervorgehoben und betont ist, wird sie sich Labre von selbst als Modell angeboten haben. § 24. Zweifelsohne hat Alexius in Benoît Labre einen späten, aber noch treffenderen Nachfolger und Nachahmer gefunden als Johannes Calybita es war, und das Volk von Rom hat denn an ihm auch die spezifischen Tugenden des heiligen Alexius wiedererkannt: evangelische Armut, Einsamkeit als Pilger und verkannter Fremdling, die Ausdauer, Standhaftigkeit und Geduld eines Einsiedlers 81 . In der Krisis des Todes und durch die posthumen Mirakel erst zeigte sich bei Benoît Labre wie bei Alexius die Macht der Heiligkeit mit der auch die öffentliche Meinung bezwingenden Überzeugungskraft. Mag sich der Vergleich des Alexius mit Benoît Labre auch befremdend ausnehmen, das erstmals in Labre leibhaftig dargestellte Schema und Modell des Alexiuslebens und die mittelalterliche Alexiusvita erhellen sich gegenseitig, ähnlich wie in einem anderen, rein literarischen Bereich die Gestalt des Polyeucte und diejenige des heiligen Alexius aufeinander hin durchsichtig gemacht werden können 32 .

7. Simplicissimus als Leser der Alexiusvita § 25. Eine andere verschlungene Spur der Alexiuslegende führt in die Barockliteratur. D a greift die Erzählung von Alexius in Grimmelshausens abenteuerlichem Roman von Simplicius Simplicissimus entscheidend in das Leben des Helden und damit auch bestimmend in die Romanhandlung ein. Die vertrackte, hintergründige Szene mit dem täuschenden Abgott Baldanders - eine tückische, ins Spielerische gewendete Metamorphose des anachoretischen Dämonenkampfs - endet in der Continuano des abentbeurlichen Simplicissimi

31

32

[ . . . ] , Constantz / gedruckt / und verlegts Johann Jgnati Neyer / 1727, Vierdter Theil, Acht und zwantzigste Predig, S. 563-64. Übrigens sieht auch René Aigrin, L'Hagiographie. Ses sources, ses méthodes, son histoire, Paris 1953, S. 230, Alexius und Johannes Calybita in Sachen Treppe voneinander abhängig. Dom Jean Leclercq, Monachisme et pérégrination du IXe au XIIe siècle, SM I I I (1961), S. 4 1 , macht auf die enge Beziehung von Eremitenleben und Pilgerstand aufmerksam. Ebda. S. 51 verweist er ausdrücklich auf Benoît Labre als auf einen Vertreter der christlich asketischen peregrinatio, für welche sich auch Alexius entschied. Diesen Vergleich unternimmt erfolgreich Leo Spitzer, Erhellung des Polyeucte durch das Alexiuslied, ARom X V I (1932) 473-joo.

14

in der Weise, daß der Einsiedler Simplicissimus mit lustvollem Grauen zwar der abschreckenden Versuchungen der Wüstenväter gedenkt, in seiner Neugier jedoch nicht ruht, bis er die Geheimbotschaft Baldanders' entziffert hat, um darnach zum Ausgleich und zur Beruhigung in seiner Wohnung die Legenden der alten Heiligen zu lesen; wie der Held selbst sagt: [. . .] nit allein durch gute Beyspil mich in meinem abgesonderten Leben geistlich zu erbauen / sonder auch die Zeit zupassiren 33 .

N u n aber, statt der erwünschten Entlastung kommt, der ersten, nur schwächlich abgewehrten Versuchung auf dem Fuße folgend, eine zweite, weit subtilere Versuchung und Bewährungsprobe mit der Unausweichlichkeit eines Verhängnisses über den ohnehin schon geprüften Einsiedler Simplicissimus. § 26. Diesmal versteckt sich die Versuchung unter dem Schein des Guten; sie erscheint verführerisch in einer Lichtgestalt, in der Heiligengestalt des Alexius nämlich: D a s Leben deß heiligen A l e x i j kam mir im ersten G r i f unter die Augen / als ich das Buch auffschlug; da fände ich mit w a s v o r einer Verachtung der Ruhe er das reiche H a u ß seines Vattern verlassen / die heilige ö r t e r hin und wieder mit großer Andacht besucht und endtlich beydes sein Pilgersdiafft und Leben unter einer Stiegen in höchster A r m u t : ohnvergleichlicher Gedult und wunderbarer Beständigkeit seeliglich beschlossen hätte [ . . .] 34 .

Obschon Simplicissimus vorerst bei der Lektüre noch die Armut, Geduld und Beständigkeit des heiligen Alexius im Auge behält und - zusammen mit der barocken Bühne 35 - bewundernd anerkennt, heftet er doch sogleich seine ganze Aufmerksamkeit auf die Besuche der heiligen Orte; er rückt damit sich und seine Lektüre unweigerlich aufs neue in das trügerische Licht und in den Machtbereich des Götzen Baldanders. Der in seinem Gemüt schon wankende Simplicissimus nimmt die Pilgerschaft des heiligen Alexius, um seine eigene Haltlosigkeit und Unbeständigkeit zu 33

34

35

Grimmelshausen, Der Abentheurlich Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, Herausgegeben von R o l f Tarot, Tübingen 1967, I X . Capitel, S. $08. Grimmelshausen, Der Abentheurlich Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, X . Capitel, S. 508-9. Wie beliebt die barocke Bearbeitung des Alexiusstoffes für die Jesuitenbühne war, zeigt die große Z a h l von Aufführungsorten und -jähren des Stückes; vgl. dazu Johannes Müller, Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge vom Anfang (iß}}) bis zum Hochbarock (166}), Zweiter Band, Augsburg 1930 (= Schriften zur deutschen Literatur für die Görresgesellschaft, Band 8), S. 97. U n d Berchtold Bischof, Jakob Bidermanns >Joannes Calybita< (1618), Luzern 1932, S. 6, teilt über das Alexius-Drama ergänzend mit: »Das Alexius-Drama lebte bis ins 19. Jahrhundert hinein. Noch 1810 f a n d in Hergiswil (Luzern) eine A u f f ü h r u n g statt [ . . . ] • führten ihn Studenten in Brig auf; in den achtziger Jahren fand noch eine A u f f ü h r u n g in Turtmann (Wallis) statt.« (Ebda. S. 6 A n m . 4.)

1$

decken und seinen zweifelhaften Entschluß, eremita vagans, d. h. »auß einem Wald: ein Wallbruder oder Pilger zu werden« 38 , notdürftig zu rechtfertigen. Mit wenigen kleinen Umänderungen verwandelt Simplicissimus sein Einsiedlergewand in ein Pilgerkleid und der arg Getäuschte berichtet weiter: Solcher gestalt außstaffirt I machte ich midi in das wilde Schappach / und erbettlet von selbigen Pastor einen Schein oder Urkunt / daß ich mich ohnweit seiner Pfarr als Eremit erzeigt und gelebt hätte nunmehr aber Willens wäre / die heilige örter hin und wider andächtig zubesudien [ . . ,] 37 . § 27. Pilgerschaft und Einsiedlerleben stünden gewiß in keinerlei Gegensatz zueinander, wenn man Simplicissimus Vertrauen schenken dürfte 38 ; doch bestimmen ihn unverkennbar nicht etwa tugendhafte oder gar heroische Motive zu seinem Wegzug aus seiner Einsiedelei, sondern der mächtigere, unüberwindliche Hang zur bequemeren schiefen Bahn setzen ihn in Bewegung. Er erlag augenscheinlich dem den Eremiten drohenden Hauptübel, der Langeweile und dem Überdruß, die beide der acedia, diesem technischen Ausdruck des geistlichen Lebens, zu subsummieren sind. Simplicissimus wird deshalb als wallender Einsiedler zum Heuchler und Scheinheiligen, was er dem Leser im Laufe des weiteren Berichtes auch ohne Umstände zu verstehen gibt. § 2 8 . Von jeher hatten solche vagierende Eremiten zu Bedenken und zu Kritik Anlaß gegeben; schon Augustinus erhebt Klage gegen herumziehende Mönche 39 , die Benediktsregel 36

warnt vor ihnen40, und von da ab nimmt die

Grimmelshausen, Der Abentheurlich Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, X . Capitel, S. 509. 37 Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, X . Capitel, S. j i o . 38 Ilse-Lore Konopatzki, Grimmelshausens Legendenvorlagen, Berlin 196$ ( = PSQ, Heft 28), S. 100, nimmt zu unrecht an, Simplicissimus gebe allein schon durch das Pilgern den Eremitenstand auf, wenn sie ausführt: »Entscheidend für den weiteren Verlauf des Romans ist hier die Mitteilung, daß Alexius >die heilige örter hin und wieder mit großer Andacht besucht< habe, denn Simplicius gibt nach der Lektüre sein einsiedlerisches Leben auf und will nun auch als Pilger die heiligen Stätten der Christenheit aufsuchen.« Der Aufbruch ist selbstverständlich ein Einschnitt im Leben des Helden, zu einer radikalen Wende wird er jedoch, weil aus einem angefochtenen Einsiedler kein eingezogener Wallfahrer werden konnte, sondern nur einer, der im Grunde das zerstreuende und unterhaltende Abenteuer suchte. Werner Welzig, Beispielhafte Figuren. Tor, Abenteurer und Einsiedler bei Grimmelshausen, Graz/Köln 1963, S. 39, betont, daß des Simplicius Lektüre der Alexius-Vita »grundsätzlich wohl auch für den Autor aufschlußreich« sei; inwiefern wird sich noch weisen. Ebda. S. 135fr. wird im Kapitel Homo viator die Ansicht vertreten, Simplicius füge sich durch die Aufnahme der Pilgerschaft in das Gesetz der Unbeständigkeit, jedodi um es schließlich zu überwinden. S. 140 verweist Welzig auf den heiligen Alexius als auf das Beispiel eines beständigen Pilgerns, das aber Simplicius selbst nicht nachahmt. 3 » Epistola 262, P L X X X I I I 1077fr. 40 Regula Sancti Patris Benedicti [...], Herausgegeben von D. Raphael Walzer, Beuron 1928, 1. Kapitel, S. 23. 16

meist polemische Brandmarkung der unsteten Religiösen kein Ende 4 1 . Was Ivo von Chartres gegen sie schreibt, trifft auch unseren barocken Helden: Vita solitaria ideo inferior est, quia voluntaria et importunis cogitationibus çlena, qua; tanquam muscae minutissima: de limo surgentes volant in oculos cordis et interrumpunt sabbatum mentis41. Eben eine solche Verfinsterung überkommt Simplicius im Umgang mit Baldanders, also schon als Waldbruder, heftiger noch später als Wallbruder. E r reiht sich dadurch ein in die Schar derjenigen, die Rolle von Hampole in seinem Incendium

amoris

beklagt: Girovagi, qui sunt scandalum heremita-

rum 43 . § 29. Im X X I I . Capitel des Ersten Budies von Grimmelshausens Roman meint der protestantische Pfarrer in einem Gespräch über des Simplicissimus Vater, den Einsiedler: Meines Erachtens ist er durch Lesung vieler Papistischen Bücher / von dem Leben der Alten Eremiten / hierzu [zu seinem strengen Leben als Waldbruder] verleitet worden 44 .

41

42

43 44

Zu den von der Benediktinerregel bekämpften gyrovagi vgl. auch Margrit Koch, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther. Irische Heilige in der literarischen Darstellung des Mittelalters, (Diss.) Zürich 1959, S. 41 und S. 109-10. Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, R A M I (1920), S. 325-26, und ders. Ermites et reclus. Etudes sur d'anciennes formes de vie religieuse, Ligugé 1928, S. 49Îï., legt eine reiche Dokumentation zum Thema der falsdien Eremiten, der gyrovagi, vor; sie umfaßt Beispiele aus dem Bereich weltlicher und geistlicher Literatur und reicht bis ins Spätmittelalter. Ergänzend sei an die briefliche Warnung Brunos des Kartäusers an seine in der Großen Kartause zurückgebliebenen Mitbrüder erinnert. Bruno warnt eindringlich vor den lästigen gyrovagi (PL C L I I 419B und schon 419A). Übrigens wandte sich schon Karl der Große in seinen Kapitularien gegen die herumziehenden Einsiedler (PL X C V I I 180A und i8$A). Zu den synodalen Verordnungen gegen die gyrovagi vgl. auch Dieter Hoster, Die Form der frühesten lateinischen Heiligenviten von der Vita Cypriani bis zur Vita Ambrosii und ihr Heiligenideal, (Diss.) Köln 1963, S. 107 Anm. 42. Später sind die Versus Pagani Bolotini de falsis heremitis qui vagando discurrunt symptomatisch; vgl. dazu Dom Jean Leclercq, Le poème de Payen Bolotin contre les faux ermites, R B L X V I I I (1958) 52-86. Sogar das St. Trudperter Hohe Lied, Kritische Ausgabe von Hermann Menhardt, Halle (Saale) 1934, S. 201-2, 70, flicht in seinen geistlichen Text eine scharfe Verurteilung aller, die, statt sich dem Gehorsam und der stabilitas loci zu unterziehen, herumschweifen und Einsiedler werden. Ivo von Chartres, Epistola 256, P L C L X I I 260-62. Zu der im übrigen üblichen hohen Einstufung des Eremitenlebens vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I I - I I q. 188 a. 8, wo die verschiedenen Gesichtspunkte und Einwände vorgestellt und dahin zusammengefaßt werden, daß das Einsiedlerleben, von dem in der Gemeinschaft zur Vollkommenheit gelangten in richtiger Weise erfüllt, die hödiste Lebensform, andernfalls jedoch äußerst gefährlich ist. Siehe auch weiter unten S. 20 Anm. 50, S. 2 1 1 Anm. 299, S. 283 Anm. 490. Zitiert bei Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 183. Grimmelshausen, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi, S. 61.

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Diese so gefährlich mitreißende Lektüre bestand wohl aus der zehn Bücher umfassenden, von Heribert Rosweyde besorgten Ausgabe der Vitneue Alexiuse Benoit Joseph Labre, betrachtete. Siehe die Wiedergabe des Kanzelreliefs im Straßburger Münster bei Ilse-Lore Konopatzki, Grimmelshausens Legendenvorlagen; Zitat ebda. S. 101. In der Darlegung der Fragen, die sich um das Grimmelshausen vorgelegene Modell der Alexiusvita gruppieren, benutzte ich das in obiger Arbeit zusammengetragene und diskutierte Material. Ilse-Lore Konopatzki, Grimmelshausens Legendenvorlagen, besonders S. 1 0 1 , häuft die Vielzahl der vorgeschlagenen Möglichkeiten zur Beseitigung der aufgetretenen Schwierigkeit phantastisch, wenn sie beifügt: »Die dritte Möglichkeit wäre eine selbständige, von außen unbeeinflußte Änderung der volkstümlichen Legende im Hinblick auf den Fortgang des Romans, die vierte eine Verwechslung mit einer anderen Legende, und schließlich kann man auch zu der Uberzeugung kommen, daß der Dichter ein Legendär benutzt hat, in dem Alexius wie im römischen Brevier als Pilger dargestellt wird.« Das allerdings ist nun ein Überangebot an Lösungsversuchen, welches sogar die anfangs wahrscheinlich gemachte Annahme, Grimmelshausen habe die Alexiuslegende aus dem Legendär des Sebastian Brant gekannt, wieder in Frage stellt und damit den Gedankengang, der zur plausiblen Bestimmung dieses Legendenmodells führte, in nichts auflöst.

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der Beständigkeit überhaupt zweifeln ließ, statt wie ein Erbauungsbuch eher wie ein Orakel vorkommen, wenn er vom Heiligen las, daß er auf weite Reisen ging. Die Alexiuslegende mußte ihm wie eine an ihn persönlich gerichtete, ja wie eine himmlisdie Botschaft vorkommen, die ihm den narrenden Spruch des Götzen Baldanders zu ersetzen hatte. Die Pilgerfahrt mußte ihm in dieser Situation in schnellem Dreh als die rechtmäßige, sogar geheiligte Form seines Schweifens vorkommen. Das Hin und Her des Besuches der heiligen Stätten bietet sich willig der nahrungsuchenden, unruhigen Phantasie des lesenden Simplicissimus, um sie freudig umzustimmen und sie in ihrem wachsenden Wunsch nach Veränderung vor sich selbst zu rechtfertigen. Dem versuchten Einsiedler Simplicius konnte nun irgendwelche Fassung der Alexiuslegende vorliegen; jede vermochte die fatale Entscheidung herbeizuführen, denn keine erlaubte sich, die freiwillige peregrinatio ganz zu übergehen. In welcher Alexiusversion Grimmelshausen seinen Simplicius auch lesen ließ, die Alexiuslektüre ist das erzählerische Mittel, durdi das Grimmelshausen darzustellen gelang, wie schnell und gründlich ein im innersten schon vorentschiedenes, schwankendes Gemüt in die Irre gehen kann, wie der noch nicht gewitzigte Eremit der subtilen Versuchung, d. h. dem unter dem Sdiein des Guten andrängenden Bösen erliegt. § 3 3 . Zum ersten Male fanden wir hier den legendarischen Alexius so eng mit dem Einsiedlerthema verknüpft. Grimmelshausen befaßte sich intensiv mit den Lebensbeschreibungen der alten ägyptischen Einsiedler, er nahm auch manche der strengen Eremitengestalten liebevoll in sein Werk auf 50 . Dennoch ist es erlaubt zu fragen, ob er vielleicht am Eremitenstand indirekt Kritik übte, indem er den Lebenslauf des heiligen Alexius erzähltechnisch dazu benutzte, seinen Helden gewissermaßen zu Fall zu bringen. Das ist kaum anzunehmen. Indes bietet die Alexiuslegende Grimmelshausen die gute Gelegenheit, mit ihr eine Station im Leben seines abenteuerlichen Helden zu markieren: die Simplicissimus eigene Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit zeigt sich einstweilen auch da, wo dieser sich in vorschnellem Eifer einem anspruchsvollen Leitbild angleichen will. Grimmelshausen exemplifiziert so an der Begegnung des Simplicius mit der Alexiuslegende eine Grundbefindlichkeit seines Protagonisten. Wie er [Simplicius] bisher jeder inneren Gefahr, die sein Stand gerade mit sich brachte, erlag, so erliegt er zunächst auch den Gefahren, die das ungeleitete Einsiedlerleben mit sidi bringt: dem Müßiggang und der Scheinheiligkeit51. 50

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Die Studie von Ilse-Lore Konopatzki, Grimmelshausens Legendenvorlagen, besonders Kapitel II, S. 29-79, weist nach, daß die Vita patrum für manche Figuren in Grimmelshausens Werk, vor allem natürlich für den alten Einsiedler in den Büchern I - V und den weisen Simplicissimus in Buch V I des Abentheurlichen Simplicissimus Teutscb und Continuatio, das Modell boten. Ebda. S. 1 3 4 - 3 5 , wie schon S. 36 und 40, betont die Verfasserin, daß Grimmelshausen den Stand des Eremiten als außergewöhnlich hohe Lebensform betrachtete. Ilse-Lore Konopatzki, Grimmelshausens Legendenvorlagen, S. 36

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Vom Versagen des Simplicissimus fällt deshalb kein schlechtes Licht zurück auf die Alexiuslegende oder gar auf den Heiligen selbst. Die Subtilität der Tücken und Gefahren, denen Simplicissimus auf seinem eremitischen Weg begegnet, bis er im V I . Buch der Continuatio - selbst nun endgültig im Eremitenstand nach dem Vorbild der ägyptischen Anachoreten - endlich eine weise Ausgewogenheit erlangt, wird am Beispiel der Alexiuslektüre eindrücklich offenbar. 8. Das Mystère de S. Bernard de Menthon § 34. Ohne den heiligen Alexius zu nennen oder ausdrücklich auf ihn Bezug zu nehmen, bewahrt das Mystère de S. Bernard de Menthon — vom Herausgeber in den Zeitraum Ende 14./Anfang I J . Jahrhundert verwiesen 52 - die geistliche Grundhaltung und Problematik der Alexiusvita getreu 53 . Das lebhafte und lebendige Spiel dramatisiert in der Première journée I - X , X V I X V I I I , und in der Deuxième journée I I - V I mit liebevollem Gefallen die charakteristische Ausgangssituation der Alexiuslegende. Bernhard, wie Alexius nicht nur einziger Sohn, sondern einziges Kind überhaupt der wohlhabenden Familie von Menthon, mit besonderer Sorgfalt ausgebildet, soll auf Beschluß der Eltern hin durch Vermittlung des Vaters verheiratet werden (Première journée, I). Auf den drängenden Vorschlag des Vaters, bald eine Heirat einzugehen, antwortet Bernhard: M o n seignieur, j ' a v o y e entente E n mon euer tout ung aultre estât. C e n'estoit pour avoir débat A vous, que ne doibt courroucier. J e me vouloye pronuncier A u service Dieu et l'Eglisse. ( v v . 2 7 - 3 2 )

Das Haupt- und Gegenargument des Vaters lautet: Bien sçaves, sy vous n'este beste,/ Que aultre enfant n'ay synon vous seul (vv. 3 5 - 3 6 ) ; es wird später wiederholt (V, v v . 2 3 9 - 4 1 ) . Darauf kann Bernhard als vorbildlicher Sohn, den er im Mystère ja auch verkörpern soll, nur erwidern: 52

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Le Mystère de S. Bernard de Menthon, Publié pour la première fois d'après le manuscrit unique appartenant à M . le Comte de Menthon par A . Lecoy de la Marche, Paris 1 8 8 8 ; zur Datierungsfrage vgl. ebda. S. X V I - X V I I . S. Duparc-Quioc, Le Mystère de saint Bernard de Menthon, in: Dictionnaire des Lettres françaises, Le Moyen Age, Paris 1964, S. 5 3 9 - 4 0 , spricht dem Theaterstück z w a r keinen großen literarischen Wert zu, bezeichnet die Lektüre des erbaulichen Textes jedoch als angenehm. Z u r Quellenfrage des Mystère äußert sie sich mit dem Hinweis auf eine Fassung der Alexiuslegende: »Parmi ses sources littéraires, la plus importante est le >roman de saint AlexisLeben des heiligen Alexius< ist das Gedicht von seinem Tode und seiner Heiligkeit. Wenn es das a l t e französische Alexiuslied war, das Petrus Valdus so sehr ergriff, dann war Petrus nicht zu spät auf jenen Kirchplatz gekommen, wo der Spielmann schon von des Alexius H i n s c h e i d e n sang. Von den 125 Strophen des Gedichtes sind nicht 50 dem lebenden Alexius gewidmet 57 .

§ 40. Petrus Valdus freilich verstand die Situation auf dem L y o n e r P l a t z anders. Z w a r stieß er wirklich spät zu den Zuhörern, w u r d e aber v o m Sterben des heiligen Alexius so stark bewegt, daß es sein Leben augenblicklich zu v e r ändern begann. S o f o r t bat Valdus den Sänger zu sich nach Hause, um die Geschichte von Alexius ausführlicher, v o r allem v o n ihrem A n f a n g an, zu vernehmen 5 8 . Seine R e a k t i o n auf die nun vollständig gehörte Erzählung ist noch interessanter als die Gier, mit der er sie sich angehört hatte: Valdus f r a g t gleich anderntags einen Theologen nach dem sichersten und vollkommensten Weg zur Seligkeit. D e r befragte Magister verweist ihn auf Matth. X I X , 1 6 f f . , w o Christus dem reichen Jüngling auf die gleiche Frage antwortet:

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Chronikbericht von der Bekehrung des Valdus J.-M. Meunier, La Vie de Saint Alexis. Poème français du XIe siècle, Paris 1933, S. 1 8 - 1 9 ; a l s Hinweis auf die Wirkung des Gedidites zieht den Chronikbericht heran Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, L'hagiographie et son public au XIe siècle, in: Miscellanea historica in honorem Leonis van der Essen, Bruxelles/Paris 1947, S. 158 Anm. 81, und Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, ZrP L X X (1954), S. 199. Und Friedrich Heer, Mittelalter. Von 1100 bis 1350, Zürich 1961, S. 9, zählt Valdus zu den Begründern einer >linken< Volksbewegung: »Dieser Mann hat 1 1 7 3 eine Art Schock erlitten: Ein Spielmann sang ihm die Alexius-Legende so ergreifend vor, daß dieser reiche Kaufherr plötzlich inne wurde, daß der Mensch, der wirklich Christ sein will, arm durch die Welt wandern muß. Der wirkliche Christ muß auf Macht, Reichtum, Hab und Gut verzichten.« Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L. Eine Interpretation unter dem Gesichtspunkt von Trauer und Freude, Meisenheim am Glan 1967 (= UrP, Band 1), S. 125, führt das Ereignis mit besonderem Augenmerk für die Wirksamkeit der Legende und die Empfänglichkeit des Publikums an, wenn er auf die »Ansprechbarkeit« des Petrus Valdus und dessen folgendes »Eremitendasein« hinweist. Emil Winkler, Von der Kunst des Alexiusdichters, ZrP X L V I I (1927), S. 589. Der Chronikbericht erzählt die bis dahin rekapitulierten Ereignisse so: Currente adhuc anno eodem, scilicet 1 1 7 3 . dominice incarnacionis, fuit apud Lugdunum Gallie civis quidam Valdesius nomine, qui per iniquitatem fenoris multas sibi pecunias coacervaverat. Is quadam die Dominica cum declinasset ad turbam, quam ante ioculatorem viderat congregatam, ex verbis ipsius conpunctus fuit, et eum ad domum suam deducens, intente eum audire curavit. Fuit enim locus narracionis eius, qualiter beatus Alexis in domo patris sui beato fine quievit. (Alexander Cartellieri/Wolf Stechele, Chronicon universale anonymi laudunensis, Leipzig/Paris 1909, zum Jahr 1 1 7 3 , S. 20.)

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Si vis esse perfectus, vade et vende omnia qua: habes, et da pauperibus, et habebis thesaurum in ca:lo, et veni, sequere me ( X I X , 21) 5 9 . Diese Auskunft klärt zugleich das Alexiusleben. Valdus weiß nun jedenfalls, was es für ihn bedeutet; er sichert unverzüglich den Unterhalt seiner Frau, schickt seine beiden Töchter in das Kloster Fontevrault 60 , verschenkt seine ganze Habe und bettelt von jetzt ab wie der heilige Alexius um Almosen 6 1 . § 4 1 . Schon Emil Winkler vermutet 62 , und Hans Sckommodau nimmt es mit Gewißheit an 63 , daß der Joculator auf dem Platz in L y o n das altfranzösische Alexiuslied dargeboten haben muß; die heute noch erhaltene lateinische Verslegende kommt für diesen Vortrag kaum oder sogar sicher nicht in Frage 6 4 . 59

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Über das Nachspiel zur Kenntnisnahme der Alexiuslegende berichtet die Chronik: Facto mane, civis memoratus ad scolas theologie consilium anime sue quesiturus propera vit; et de multis modis eundi ad Deum edoctus, quesivit a magistro, que via aliis Omnibus cercior esset atque perfeccior. Cui magister Dominicam sentenciam proposuit: >Si vis esse perfectus, vade et vende omnia, que abes< etc. Zur Geistigkeit von Fontevrault vgl. Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt besonders S. 47 Anm. 77, wo auf die Töchter des Valdus hingewiesen wird. Das Alexiuslied steht in keinem nachweislichen Zusammenhang mit der Abtei Fontevrault; sie steht jedoch mit geistig verwandter Literatur in Beziehung durch ihren Gründer, den Einsiedler und Wanderprediger Robert d'Arbrissel; vgl. dazu Reto R . Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en Occident (¡00-1200), Deuxième partie, Tome II, Paris i960 (= B E H E , 313), besonders S. 2 7 j f f . und Troisième partie, Tome I, Paris 1963, besonders S. i u f F . Nachdem sich die Gattin des Valdesius die Immobilien aus dem Vermögen ihres Gatten zu ihrem Unterhalt zusprechen ließ, die beiden Töchter mit einer Mitgift an Bargeld der Abtei Fontevrault übergeben waren, verschenkte Valdus den Rest des flüssigen Kapitals: [ . . .] maximam vero partem [pecunie] in usus pauperum expendit. Fames enim permaxima tune grassabatur per omnem Galliam atque Germaniam (Alexander Cartellieri/Wolf Stechele, Chronicon universale anonymi laudunensis, S. 21). Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, S. 57 Anm. 103, erinnert daran, daß der Erzbischof dem Bekehrten Valdesius auf Betreiben von dessen Frau hin das Betteln in Lyon verbieten mußte. Emil Winkler, Von der Kunst des Alexiusdichters, S. 589. Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 199, führt aus: » E i n e n bedeutsamen Hinweis auf die Wirkung des Gedichts [des altfranzösischen Alexiusliedes] in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts besitzen wir. Z w a r ist es ein Dokument von etwa 1220, das die Bekehrung des Begründers der WaldenserSekte unmittelbar mit dem Alexiuslied in Zusammenhang bringt.« Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, S. 445, bezeichnet die betreffende Chronik als »glaubhafte Überlieferung«. Pió Rajna, Un nuovo testo parziale del >Saint Alexis< primitivo, Archivum Romanicum X I I I (1929), S. 49, vermutet, Valdesius habe auf dem Platz in Lyon das Alexiusleben in der Fassung von S, nicht wie Emil Winkler annimmt, in derjenigen von L, gehört (vgl. Emil Winkler, Von der Kunst des Alexiusdichters, S.589). Dieses lateinische Gedicht ist neuerdings ediert von Fritz Wagner, Die Verslegen26

Herbert Grundmann gibt in seinem Kommentar zur Chronikstelle von der Bekehrung des Valdesius die stichhaltige Begründung dafür, daß der Lyoner Kaufmann eine volkssprachliche Version der Alexiuslegende gehört haben muß, indem er bemerkt, daß Valdesius des Lateins unkundig war - wie der vortragende Joculator wahrscheinlich auch - und sich aus diesem Grunde Übersetzungen der biblischen Schriften anfertigen ließ65. Valdesius mußte sich nach dem Chroniktext ja auch nicht eine halbverstandene lateinische Alexiuslegende von Sänger und Magister erklären lassen, er wollte sich die Geschichte, da er allzu spät auf dem Platze erschienen war, nur in vollem Umfange anhören. Welchen genauen Wortlaut die auf dem Lyoner Platz vorgetragene und von Valdesius gehörte und beherzigte Alexiusvita gehabt hat, ob sie einer der heute noch erhaltenen Versionen entsprach, ist aber nicht, schon gar nicht mit Sicherheit, festzustellen. § 42. Wichtig und erwähnenswert bleibt jedoch, was Herbert Grundmann zu der Bekehrungsgeschichte des Petrus Valdesius bemerkt: Eine Dichtung, deren Vortrag den Laien schon unendlich oft den religiösen Stoff zur Kenntnis gebracht und zu Gemüte geführt hatte, traf plötzlich auf eine andere religiöse Haltung eines Menschen, der nicht mehr nur zuhörte, sondern den Sinn der Dichtung ernst nahm, sich von ihm ganz ergreifen und verwandeln ließ und zu eigener religiöser Tat durch ihn entzündet wurde 66 .

Sicher hat die damalige geschichtliche Konstellation, der Beginn der sich unaufhaltsam durchsetzenden Geldwirtschaft, das Gewissen des reichgewordenen Kaufmanns beunruhigt und geschärft, damit auch die Voraussetzungen zu dem wirksamen Anhören der Alexiusvita geschaffen. Die Alexiusvita führte Valdesius jedoch nicht etwa nur zu der Frage nach der Rechtmäßigkeit seines Gelderwerbs; sie beschränkte sich in dem exemplarischen Hörer nicht allein auf einen Zusammenhang mit der historischen Aktualität. Valdesius stellt, de vom heiligen Alexius, S. 78-99; ebda., S. 81, wird die lateinische Legendenfassung annähernd datiert: »Da unser Dichter den Reim vorwiegend zweisilbigrein bildet, die älteste Handschrift der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angehört, darf man die Entstehung des Gedichtes etwa um 1 1 0 0 ansetzen. Ob man ihn nach den Reimen als Romanen ansprechen darf?« Zu den Merkmalen, die das altfranzösische Alexiuslied als zum Repertoire eines Joculators gehörig wahrscheinlich machen vgl. vor allem Rudolf Baehr, Das Alexiuslied als Vortragsdichtung, in: Serta Romanica. Festschrift für Gerhard Rohlfs zum JJ. Geburtstag, Herausgegeben von Rudolf Baehr und Kurt Wais, Tübingen 1968, S. 175-99, zum zeitlichen Verhältnis der lateinischen Verslegende zum altfranzösischen Lied besonders S. i 8 i f . 65 Zum Anhören des Alexiusliedes durch Valdus und den darauf folgenden Übersetzungsaufträgen vgl. Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, S. 445-46, und ders., Litteratus-illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, A K X L (1958), S. 56-57. " Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, S. 445-46.

2/

durch die V i t a aufgerüttelt, ganz allgemein die Frage nach dem heilsgeschichtlich sichereren Weg, nach der »via cercior et perfeccior« - dem »plus seur chemin« des Alexiusnachfolgers Bernhard von Menthon. Valdesius verallgemeinert die Frage zur Alternative, wenn er zu Beginn seiner Predigertätigkeit ausruft: N e m o potest duobus dominis servire, D e o et mammone 6 7 ; er macht sie zur Entscheidungsfrage in der Wahl zwischen G o t t und Welt 6 8 . Sicher bezeichnet das Zusammentreffen des Petrus Valdus mit der altfranzösischen Alexiuslegende einen einzigartigen P u n k t ihrer Geschichte, den Zeitpunkt nämlich, in dem Erbaulichkeit in keinem Gegensatz zu wirklichkeitswandelnder T a t stand; der hagiographische Bericht v o n Alexius w a r eben geschichtsmächtig.

II. D I E HS. L U N D

IHR

EREMITISCHES

MILIEU

§ 43. V o n heute an rückwärts - chronologisch also im Krebsgang - verfolgten w i r die mancherlei Metamorphosen, die der Alexiusstoff in einer je aktuellen und somit unterschiedlichen Rezeption durchmachte. E i n zusammenfassender Oberblick über die schon kurze, summarische Rezeptionsgeschichte des A l e xiusstoffes genügt, um den thematischen Reichtum und die mögliche V a r i a tionsbreite der knappen Legendenvita k l a r herauszustellen. S o betont das D r a m a Gheon's an der Gestalt des Alexius das demütig-verkappende Inkognito, welches verunmöglicht, daß der Heilige auch nur in die feste, etablierte Ständeordnung sich eingliedern ließe. D i e von der nächsten U m w e l t nicht erkannte, durch Alexius selbst willentlich maskierte Lebensweise, die eine vollkommene, v o r allem innere Einsamkeit garantiert, die sogar die Geborgenheit in der Anerkennung von Zeugen und Zuschauern verhindert, ist die andauernde Echtheitsprobe der Heiligkeit. In Wirklichkeit Einsiedler, verzichtet Alexius auf den R u h m des Einsiedlers.

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Die chronikale Aufzeichnung schildert die aufsehenerregende Aktion so: In assumpcione beate virginis quandam summam pecunie per vicos inter pauperes spargens, clamabat dicens: >Nemo potest duobus dominis servire, Deo et mammone^ Tunc accurrentes cives arbitrati sunt, cum sensum perdidisse. Darauf stellt sich Valdus an einen erhöhten Ort und spridit zum zusammengelaufenen Volk; vgl. Chronic on universale, S. 21. Valdesius spridit in seiner Rechtfertigungsrede: »O cives et amici mei! non enim insanio, sicut vos putatis, sed ultus sum de his hostibus meis, qui me sibi fecerunt servum, ut semper plus essem sollicitus de nummo quam de Deo, et plus serviebam creature quam Creatori. Scio, quod me reprehendent plurimi, quod hoc in manifesto feci. Sed propter me ipsum et propter vos hoc egi: propter me, ut dicant, qui me viderint possidere deinceps pecuniam, me amentem esse; set et propter vos hoc feci in parte, ut discatis in Deum spem ponere et non in diviciis sperare«; Chronicon universale, S. 2 1 - 2 2 . 28

Hugo von Hofmannsthal fixiert das verborgene und unerkannte, ja verkannte Leben des pilgernden Bettlers unter der Treppe in einem Sinnbild: der in seiner Isolierung und Abseitigkeit unbeachtet lebende Einsame findet gerade dank seiner Einsamkeit-der »Strom der Zeit« und das Alltagsgeschehen gehen in nächster Nähe auf der Treppe unablässig über ihn hinweg - aus sich selbst die Kraft, sein Dasein sinnvoll zu bewältigen. Mörike hingegen, ein skeptischer Leser der frommen Legende, verarbeitet vom alten Alexiusstoff nur die Umkehrung des Themas von der verlassenen Braut: statt die Liebe zu ihr erst im Himmel gelten zu lassen, freut er sich am gegenwärtigen, in ihr ihm zugefallenen irdischen Glück. Eindrücklich an Mörikes Erzählung vom Alexisbrunnen ist die Kontrastwirkung zur traditionellen Legende. Anders wiederum versteht und erlebt Goethe das in der Alexiusvita erscheinende Problem der Mitmenschlichkeit. Ihn packt an der von den Allernächsten nicht erkannten Alexiusgestalt allein das Mitleid Erweckende, das menschlich Rührende 69 . Der historische Heilige, Joseph Benoît Labre, legt durch seine pilgernde Existenz - wahrscheinlich ohne bewußten Bezug zu der ihm bekannten Alexiusvita - den Nachdruck auf die auch von Alexius gewählte asketische Peregrinatio und auf das freiwillige Exil, während Grimmelshausens Simplicissimus am eigenen Leib die Gefahren der von Alexius und vom >neuen Alexius< Labre so selbstverständlich geübten Pilgerschaft erlebt: Simplicissimus landet in einer heillosen Zerstreuung und scheitert durch Unstetigkeit. Das Mystère de Bernard de Menthon ist vor allem eine dramatisierte contemptus-mundiPredigt, wie sie auch schon aus der früheren altfranzösischen Alexiusvita und überhaupt aus der Alexiuslegende deutlich herauszuhören ist. Das erbauliche Programm des Spiels besteht in einem Aufruf, den sichereren Weg zu gehen, was mit dem Verzicht auf alles Vergängliche und Veränderliche gleichgesetzt wird. Die selbe Frage nach dem sichereren Weg läuft bei Petrus Valdus nicht auf ein allgemeines Ideal des Verzichts hinaus, sondern präzise auf das Armutsideal, indem sich das globale evangelische Allesverlassen in realer Besitzlosigkeit konkretisiert. Für Valdus, der durch seine Predigt und durch sein Beispiel eine geschichtliche Bewegung einleitet, stellt die Alexiuslegende nicht einen unbestimmten Heiligkeitsanspruch dar; er versteht die an Alexius ge-

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Hier ist nachzutragen, daß schon Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 186, darauf hinweist, wie naheliegend es sei, »daß gerade das Zusammenleben des unerkannten Alexius mit den Seinen einem anteilnehmenden Empfinden besonders erregend erscheinen« könne, wie auch die Alexiuserzählung in Goethes Briefe aus der Schweiz zeige. Die andere Bemerkung, ebda. S. 2 0 1 : »Die Legende hat bei aller rigorosen Betonung des asketischen Gedankens eine eigentümlich erregende Menschlichkeit, die nicht nur im Mittelalter stark empfunden wurde [ . . . ] « , entbehrt jedoch, was das Mittelalter betrifft, jeder Grundlage; kein Zeugnis stützt sie. Eher scheint sie aus modernem Empfinden abgeleitet zu sein.

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zeigte Askese spezifisch auf die gesellschaftliche Lage seiner Zeit bezogen und sozialisiert sie in einer umfassend gedachten, weiten Armutsbewegung. § 44. D a die Legendenvita ihrem Wesen und ihrer Intention nach ewige, unverrückbare Wahrheiten sichtbar zu machen hat, und Sichtbarmadien, Zeigen, in diesem Zusammenhang unbedingt den Sinn von Erbauen, Fordern, Bewegen annimmt 7 0 , ist es nicht gleichgültig, ob sie etwas vermag oder nicht. Valdus stellt in seiner Begegnung mit der Alexiuslegende — in der Bewegung zwischen einer literarisch-poetisierten, also unverbindlich formalisierten Legenden-Heiligkeit und einer geschichtlichen Konkretion des vorgestellten Legenden-Programms - den einen Extrempunkt d a r : das hagiographische Dokument ist Zündung, der Ernst des Legenden-Hörers mündet in einer Tat. Damit erübrigt sich allerdings die Legendenerzählung fürderhin in diesem ganz bestimmten Fall; sie entzieht sich ihre eigene Existenzberechtigung, indem sie zurücktritt vor der Verwirklichung dessen, was sie selbst immer nur intendiert und demonstriert. § 45. Eine mittlere Möglichkeit — weder absolute Verpoetisierung der Legende noch radikale Umsetzung in die Tat - wird da sichtbar, wo sich eine reale, geschichtlich fixierbare und umschreibbare Situation in einer Legendendichtung spiegelt oder niederschlägt. In dieser, die genannten Extrempunkte verbindenden Zwischenzone sind denn auch die Gestaltwandlungen der Legende, ihre Neuformulierung, ihre thematische Umarbeitung oder beides zusammen, zu beobachten 71 . 70

71

Vgl. dazu die Charakterisierung des spezifisch Legendarischen durch Max Lüthi, Märchen, Stuttgart 1962 (= Sammlung Metzler, Abteilung Poetik, 16), S. 1 0 - 1 1 , und Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964 (= Buchreihe der Anglia, ZeP, 10. Band), S. 22ff. insbesondere. Hippolyte Delehaye, Les Légendes hagiographiques, Bruxelles 4 i 9 J $ , anastatische Reproduktion 1968 (= SH, 18), faßt ebda. S. 4 die Ausgestaltungen der Legende, auf die es uns eben hier ankommt unter dem Begriff »roman hagiographique« und, ebda. S. 108-9, differenziert unter den Bezeichnungen »roman historique« und »roman d'imagination« zusammen, um sie vom historisch glaubwürdigen Heiligenleben, einem geschichtlichen Dokument, auf welches er allein erpicht ist, zu unterscheiden. Auf die literarischen, 'dichterischen' Gestaltwandlungen der Legende, die auf ihre Weise Geschichte wiedergeben, gehen vor allem folgende Studien ein: Ludwig Zoepf, Das Heiligenleben im 10. Jahrhundert, Leipzig und Berlin 1908 (= B K M R , Heft 1), und ausführlicher Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters; passim behandeln diesen Gesichtspunkt Rudolf Teuffei, Individuelle Persönlichkeitsschilderung in den deutschen Geschichtswerken des 10. und 11. Jahrhunderts, Berlin 1914 (= B K M R , Heft 12), sowie Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts. Audi Dieter Hoster, Die Form der frühesten lateinischen Heiligenviten von der Vita Cypriani bis zur Vita Ambrosii und ihr Heiligenideal. Leider war mir die Arbeit von W. Hug, Elemente der Biographie im Hochmittel-



D e r verschiedenartige Widerschein der Alexiuslegende (den w i r in unserer Einleitung in ganz unterschiedlichen Zeiträumen feststellen konnten) zeigt und bestätigt bereits die dem Gehalt einer H e i l i g e n v i t a mögliche vielfältige f o r m a l e und inhaltliche Ausfächerung. N u r oberflächlich und auswahlsweise herangezogene Bearbeitungen und sogar außerliterarische Verwirklichungen der Alexiuslegende erwiesen die enorme Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Legendenstoffes - bei noch so divergierenden Standpunkten der Bearbeiter und noch so verschiedenem jeweiligem >Zeitgeist< im Augenblick der Rezeption - und gleichzeitig einige Konstanten in der A u f f a s s u n g und dem Verständnis des Alexiuslebens 7 2 . Nach der großräumigen Betrachtung, die auch extreme Umarbeitungen und beinahe totale Verwandlungen des alten Legendenstoffes berücksichtigte, soll nun beschrieben werden, w i e sich ein bestimmt umgrenztes Milieu in der Alexiuslegende wiederfinden und bestätigt glauben konnte, wobei eine gewisse geschichtliche Konstellation w i e auch persönliche Situation in einer besonders ausgeformten E r z ä h l v a r i a n t e ihren Niederschlag, zumindest ihren adäquaten Ausdruck finden konnte. § 46. Es ist dies eine A r t K o n f r o n t a t i o n von Dichtung und Wahrheit, in der beide wenigstens partiell zur Deckung gebracht werden, so daß die eine in der anderen sich erkennt. Statt den Prozeß etwa der Legendenbildung und der Textgeschichte, also die Erscheinung v o n Varianten, Versionen, Umarbeitungen und gänzlichen V e r wandlungen eines gegebenen Stoffes genetisch zu betrachten und damit in einen diachronischen Zusammenhang oder in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu bringen, statt veränderte motivische Akzentuierungen, thematische Verlagerungen, Erweiterungen oder Kürzungen der Legende in einer kunstvoll konstruierten Fluchtlinie zu sehen, verlohnt es sich, einmal eine einzige Fassung im Verhältnis zu ihrer U m w e l t zu bestimmen, und so das Dichtwerk nicht v o m gegenwärtigen historischen K o n t e x t und v o n der es tragenden Leser- oder Zuhörerschaft zu abstrahieren. § 47. D i e Bekehrungsgeschichte des Valdus brachte den im Längsschnitt geführten Überblick über die Geschichte der Alexiuslegende in eine Epoche zurück, welche ein kulturelles und geistiges K l i m a a u f w i e s , das diesem Legendenstoff offenbar in mancher Hinsicht günstig w a r und er die damals w o h l

72

alter. Untersuchungen zu Darstellungsform und Geschichtsbild der Viten, Diss. (masch.) München 1957, unzugänglich. Unbedingt zu erwähnen sind hier die mir erst nach Beendigung dieser Arbeit bekannt gewordenen ausgezeichneten Studien und Forschungsberichte von Sophronius Clasen OFM, Die Hagiographie als literarische Art, WuW X X X I (1968), S. 81-99; ders., Das Heiligkeitsideal im Wandel der Zeiten, WuW X X X I I I (1970), S. 46-64, 132-64; und ders., Vom Franziskus der Legende zum Franziskus der Geschichte, WuW X X I X (1966), S. 15-29.

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intensivste, eine 'gültige' Form annehmen konnte, diejenige des altfranzösischen Alexiusliedes. Die - um es in einem etwas großen Wort zu sagen - Geschichtsmächtigkeit des Alexiusstoffes in eben jenem Zeitpunkt manifestiert sich einerseits in der der Legende widerfahrenen großartigen dichterisch-künstlerischen Gestaltung, andererseits in der Begeisterung und K r a f t , mit der sie nach der volkssprachlichen Neuformung angehört und etwa von Petrus Valdus erfahren wurde. Die existentielle Imitation der Erzählung, mit dem Nachdruck auf der zu verwirklichenden Armut, w a r eine schöpferische Interpretation, die vermutlich nur in dem einmaligen Kairos erfolgen und im Hinblick auf konkrete Lebensumstände verwandelnd wirken konnte. § 4 8 . Damit lassen w i r diesen Modellfall eines engagierten Anhörens des Alexiuslebens, um noch auf einen gleichzeitig möglichen, dem existentiellen Verständnis der Heiligenlegende scheinbar widersprechenden konträren Gesichtspunkt hinzuweisen. Wie bei kaum einer anderen literarischen Gattung nämlich fühlte man sich bei der Besprechung der Wandlungen eines Legendenstoffes berechtigt, die A b folge von Neufassungen und Umformungen im luftleeren Raum von einer rein formalen Seite her zu betrachten, ganz unbelastet von der Frage nach der jeweiligen geistlichen Relevanz des Erzählten. Tatsächlich scheint bei der formalen Transformation auch des Alexiuslebens oft eine schulmäßig-fixe, konventionelle ästhetische Vorstellung, ein anerkanntes Muster, die geschmackliche Normierung und das rhetorische Vermögen des Bearbeiters bestimmend mit im Spiele gewesen zu sein. Die entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Legende hätte demnach ein handwerklich ausgerichtetes poetisches Bestreben, die überkommene Vorlage soweit möglich auch im neuen G e w a n d unverändert wiederzugeben 73 . § 49. D a bei der Neuformulierung einer Legende an eine tendenziöse, aktualisierende Umänderung des überlieferten Erzählmaterials in vielen Fällen nicht gedacht werden durfte - galt doch die Vorlage als abgeschwächt Heilige Schrift - 7 4 , lag auch das Interesse oft nicht an der Veränderung der einmal 73

74

Vgl. Rudolf Teuffei, Individuelle Persönlichkeksschilderung in den deutschen Geschichtswerken des 10. und 11. Jahrhunderts; sowie Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 70. Jahrhundert, wo passim Beispiele aus der lateinischen Hagiographie besprochen werden, die in den meisten Fällen für die formale Anpassung an den geschmacklich-ästhetischen Stand der Zeit zeugen, in den wenigsten Fällen eine tendenziöse Bearbeitung darstellen. Zur Annäherung des Legendentextes an die Heilige Schrift und beider Kompetenz vgl. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. iff. und später S. 21 ff. vor allem. Neuerdings auch Gerhard Strunk, Kunst und Glaube in der lateinischen Heiligenlegende. Zu ihrem Selbstverständnis in den Prologen, München 1970 (= MAePS, Band 12), S. 1 1 und passim.

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anerkannt und als autoritativ betrachteten Fakten. Die Erneuerung mußte dann lediglich, wenn sie überhaupt nicht bloß rhetorische Übung war, der formalen Verschönerung des wunderbaren Gehaltes dienen. Der Legendeninhalt verblieb vermeintlich unantastbar 75 . Wenn die mittelalterliche hagiographische Tätigkeit ihre Dynamik teilweise auch umfassenderen Beweggründen verdankt 7 6 , so glaubte man doch, in welcher Fassung auch immer, das Verbindliche, das Unabdingbare und Verpflichtende geltend gemacht und zur Wirkung gebracht zu haben. Man glaubte im wechselbaren rhetorischen Kleid die gleichbleibenden evangelischen Lehren, Mahnungen, Räte und die daraus abgeleiteten Tugenden vorgestellt zu haben. § 5 0 . Der legendarische Bericht besteht gewissermaßen in einer Diastase der Form und dem mit ihr zusammenhängenden dichterisch-künstlerischen A n liegen 77 zu einem nackten Gehalt, der sich sowohl in der Legendendichtung als ästhetischem Gebilde wie auch im nachahmenden bekehrten Zuhörer verkörpert. D a es in der Absicht der Legende liegt, zu erbauen 78 , wenn möglich sogar zu bekehren, ist sie eben da ans Ziel ihrer innersten Tendenz gelangt, w o sie sich im Hörer als Dichtung aufgibt, um in der nachahmenden frommen T a t zu enden 79 . Die Täter ihres Wortes erweisen sich — in gewollter Analogie zum Bibeltext - als die wahren Hörer; gerade sie offenbaren das unverhüllte Wesen der wunderbaren Legendenerzählung, die als Gattung merkwürdig »zwischen Literatur, Kultus und Historie« 8 0 , ja überhaupt zwischen Dichtung und Leben, Literatur und T a t besteht. 75

Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen, Bern und München 1960, S. 78 und 79, bestimmt die Legende, im Unterschied zu Sage und Märchen, als diejenige Erzählgattung, welche auf Fragen dogmatischer A r t antwortet, jenseitige Einflüsse und Erscheinungen systematisiert und ihnen inhaltlich eng festgelegte Bedeutungen zulegt. Die Legende wolle Sinn und Wesen glaubensmäßiger und 'übernatürlicher' Gegebenheiten endgültig verpflichtend erklären. Vgl. dazu Hippolyte Delehaye, Les Passions des Martyrs et les genres littéraires, Bruxelles 1 9 2 1 , S. 37off., wo außer dem ästhetischen Belang weitere Rechtfertigungsgründe für die Neubearbeitung eines Legendenstoffes aufgezählt werden. Auf die mögliche Eigenständigkeit der ästhetischen Betraditung und Beurteilung eines Dichtwerkes - zutreffend auch für die Legende, insofern sie Poesie ist - und deren Autonomie in bezug auf historische Fakten verweist Erich Köhler, Quelques observations d'ordre historico-sociologique sur les rapports entre la chanson de geste et le roman courtois, in: Chanson de geste und höfischer Roman, Heidelberger Kolloquium (30. Januar 1961), Heidelberg 1963, S. 22. Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 122, präzisiert in bezug auf die Alexiusdichtung: »[. . . ] Denn das Alexiuslied hat als literarisches Kunstwerk heute zwar einen Eigenwert, damals jedoch empfing es auch seine künstlerische Berechtigung von der ethischen Zwecksetzung: Es sollte erbauen, [. . . ] . « Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 8 und ebda, passim spricht häufig von der Vorbereitung zur frommen Tat, von der Erbauung und Andacht, welche die Legende als Ziel anstrebt. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. X I I I besonders. 2

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33

Die Alexiusdichtung ließ im paradigmatischen Falle des Petrus Valdus den Funken aus dem Stoffe springen und ihre Erbaulichkeit sich in der T a t erfüllen. Ähnliches bewirkte nachweislich die Vita Antonii,

die Aurelius Augusti-

nus zu der bereits angebahnten Konversion endgültig veranlaßte 81 . Augustinus und Valdesius - dies stellt die beiden in ein überraschendes Verhältnis zueinander - hörten aus der Heiligenvita von Antonius und Alexius die selbe Bibelstelle heraus, Matth. X I X , 2 1 : Si vis perfectus esse, vade et vende omnia qua: habes, etc. 82 . Eine ähnliche Kraft ging von der der Alexiuslegende an Strengheit und Härte nicht nachstehenden Vita der heiligen Maria

Aegyp-

tiaca aus, bei deren Lektüre sich der Kaufmann Giovanni Colombini ( 1 4 . Jahrhundert) zu einem Büßerleben bekehrte 83 . Jedesmal scheinen die biblischen Forderungen im Kontext der poetischen Heiligenvita an überzeugender Macht zu gewinnen. § 5 1 . Die der Legendenvita notwendige Qualität der Erbaulichkeit 84 , die sich für die Alexiuslegende in der konkreten Imitatio des Petrus Valdus veräußert hat, markiert eventuell einen allgemeiner feststellbaren Wandel in der H a l tung den Heiligenviten gegenüber: Valdus wäre dann Zeuge und Beweis eines Übergangs von andächtiger, passiver Bewunderung der Legendenheiligen zu 81

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83

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Der entsprechende Text, welcher Augustinus zunächst veranlaßte, die Mailänder Klöster zu besuchen und selbst ein klösterliches Leben zu beginnen, findet sich in S. Aurelii Augustini Cortfessionum, Libri X I I I , Cum notis Rev. P. H . Wangnereck S. J., Turin 1962, Liber V I I I , Caput V I , 3-4, S. 282-83: Cui ego cum indicassem illis me Scripturis curam maximam impendere, ortus est sermo [ipso narrante] de Antonio Aegyptio monacho, cujus nomen excellenter clarebat apud servos tuos, nos autem usque in illam horam latebat [ . . . ] . Stupebamus autem audientes tam recenti memoria et prope nostris temporibus testatissima mirabilia tua, in fide recta, Catholica Ecclesia. Omnes mirabamur, et nos quia tam magna erant: et ille quia inaudita nobis erant. Vgl. dazu die Ausführungen von Adolar Zumkeller, Das Mönchtum des heiligen Augustinus, Würzburg 1950 (= Cassiciacum Band X I , 1. Reihe/j. Band), S. 28ff. Der Bibeltext wird jeweils nach der folgenden lateinischen Ausgabe zitiert: Biblia Sacra juxta Vulgatam Clementinam [. . ./, Denuo ediderunt complures Scripturae Professores Facultatis theologica: Parisiensis et Seminarii Sancti Sulpitii, Roma:Tornaci-Parisiis 1956. Vgl. dazu die Angaben bei Piero Misciattelli, Mistici senesi, Siena 1 9 1 1 , S. 103; auch Le lettere del B. Gio. Colombini da Siena, Prefazione di Piero Misciattelli, Firenze 1923, S. 5-6 und S. 196 Brief L I , wo mit Emphase an die Heilige Maria Aegyptiaca erinnert wird; und Konrad Kunze, Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet, Berlin 1969 (= P S Q , H e f t 49), S. 150 Anm. 6. Martin Walser, Halbzeit. Roman, München/Zürich 1969, S. 147, erwähnt hingegen eine abscheulich fruchtlose Lektüre der Vita von Sanct Maria Aegyptiaca. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 8, macht wohl darauf aufmerksam, daß es beim Bericht eines legendarischen Lebenslaufes immer um die Darstellung eines Absoluten gehe, daß die Legendenvita jedoch in unterschiedlichem Maße mehr auf ein »imitabile«, auf ein »venerabile« oder auf eine »amabile« weise. In jedem Falle freilich stellt das Heiligenleben eine Zweckdichtung religiöser, erbaulicher Art dar (vgl. ebda. S. 21). 34

deren tatkräftigen Nachahmung 8 5 . D i e Heiligenlegenden dienten nun keineswegs mehr einer selbstgenügsamen

Frömmigkeit 8 6 ,

sondern würden

zum

Prüfstein; die Wahrhaftigkeit des Willens zur v i a arctior konnte sich nun real an ihnen ermessen. § 5 2 . Zwischen untätiger, versunkener Bewunderung des in der V i t a ideal dargestellten Heiligen und tätiger Imitation vermittelt der im ganzen Mittelalter überaus beliebte Begriff des Spiegels. D i e Heiligenvita ist Spiegel, in dem sich jeder Christ zu betrachten hat. D a r a n hält noch Gautier de Coinci mit Nachdruck fest: Li mireoir, Ii essemplaire Par quoi devomes a Dieu plaire, Ce sont li livre ou vies maintes Trovomes de sainz et de saintes. Es saintes vies, es sains fais Des sains homes et des parfais, Des saintes virges, des puceles, Qui tant a Dieu par furent beles, Mirer se doivent boene gent. Tel mireor sont bel et gent, Tel mireor sont reguler: Nus n'a le euer si seculer, Se bien s'i vieut souvent mirer, S'ame ne puist si atirer Que volentiers la verra Diex Et s'en fera s'espeuse es ciex. (vv. 281-296) 8 7 85

86

87

Dom Jean Leclercq, S. Martin dans l'hagiographie monastique au moyen âge, in: Saint Martin et son temps. Mémorial du XVIe centenaire des débuts du monachisR o m 1961 (= S A , 46), S. 185, differenziert die beiden me en Gaule, 361-1961, Legendentypen, die bloß Bewunderung heischende und die zur Nachahmung aufrufende, nicht nur, er staffelt sie zeitlich: »Cette tendance à la confiance et à l'admiration plus qu'à l'imitation s'est maintenue longtemps. A u X e siècle encore, un document comme la Vie de S. Odon, dans lequel la dévotion à S. Martin est comme un leit-motiv, accorde moins d'importance aux vertus morales de l'évêque de Tours qu'à sa puissance de protecteur« [Jean de Cluny, Vie de S. Odon, Mabillon, Acta Sanctorum O. S. B., V , S. 1 4 8 - 2 0 1 ] . Sogar Matthias Waltz, Rolandslied-Wilhelmslied-Alexiuslied. Zur Struktur und geschichtlichen Bedeutung, Heidelberg 1965 (= S R , 9. Heft), S. 176fr., der zu beweisen sucht, daß die Alexiuslegende nicht zur direkten Nachahmung a u f f o r dere, dem Leser oder Hörer sicher in den Einzelheiten kein nachzuahmendes Beispiel gebe, kommt zum Schluß: »Was der Dichter also von seinen Zuhörern fordert, ist ein A k t der Erkenntnis. [ . . . ] Der Heilige ist also Gegenstand und Mittel einer Erkenntnis, die in ein verändertes praktisches Leben ausmündet« (ebda. S. 178). Die Alexiusvita verlangt demnach z w a r keine Kopie des von ihr dargestellten Heiligenbildes, jedoch trotzdem eine Wandlung des Lebens. Gautier de Coinci [geboren 1 1 7 7 oder 1 1 7 8 , gestorben 1 2 3 6 ] , Le sermon en vers de la chasteé as nonains [zwischen 1 2 2 3 - 1 2 2 7 ] , Publié d'après tous les manuscrits par Tauno Nurmela, Helsinki 1 9 3 7 (= A A S F , Band X X X V I I I , 10), S. 139-40. In diesem Sinne bemerkt schon Gregor der Große im Prolog zu seinen Dialogi ( P L L X X V I I , I48f.): V i t s sanctorum virorum scriptis tradita: veluti quœdam divinae conversationis imagines animatae ad imitationem bonorum operum pro35

J e nach A r t des Betrachters kann sich, gemäß der Spiegel-Metapher, das betrachtete Bild in ein wirksames, in ein den Beschauer modelndes verwandeln. Es kann kräftig dazu anspornen, die Diskrepanz zwischen Betrachter und Betrachtetem auszugleichen. Das Maß der Wandlungskraft bestimmt sich nach der A r t und Intensität des gegenseitigen Verhältnisses. § 5 3 . Schon die frühe lateinische Fassung der Alexiuslegende wurde mindestens zweimal zur Illustration eines exemplarischen christlichen Lebens, demnach als Spiegel f ü r den Christen verwendet 8 8 . Beide Male freilich wurde die Alexiusvita vielleicht weniger durch eine freie Vorliebe f ü r den Heiligen denn durch den Z w a n g der Predigtsituation zum Exempel statuiert. Innerhalb der Festtagspredigt wird der Kanzelredner fast notgedrungen zum Lobredner, der nur eifrig darauf aus ist, zum Heile der Zuhörer die Tugenden des gefeierten und verehrten sanctus strahlend und deutlich werden zu lassen. Trotzdem braucht am Ernst und an der Ehrlichkeit, mit welcher der Spiegel der Alexiusvita vorgehalten wurde, nicht gezweifelt zu werden. § 54. Die Alexiusvita findet sich predigtmäßig als ausgesprochenes Exemplum erstmals vor der Mitte des 1 2 . Jahrhunderts in einer Homilie Adalberts von Prag. Adalbert von Prag, der zum Kloster San Bonifazio e Sant'Alessio in R o m gute Beziehungen unterhielt und dort, von w o die Alexiusverehrung im Abendland ihren Ausgang nahm 89 , zu Gast weilte, hielt 995 in R o m seine Alexiuspredigt 9 0 . Obschon der Festrede die Evangelienlektion nach Matth. positœ sunt, prout quidam sanctorum Patrum nostrorum philosophati sunt. V g l . dazu Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 82 und A n m . 2 1 2 . 88

N a c h der A n g a b e von J . - T h . Welter, L'Exemplum dans la littérature religieuse et didactique du Moyen Age, Paris/Toulouse 1 9 2 7 , S. 2 7 0 A n m . 1 1 9 und S. 3 1 2 A n m . 64, findet die Alexiuslegende nur noch zweimal, im 14. Jahrhundert und weniger signifikativ als bei Adalbert von Prag, als E x e m p l u m Verwendung. Die Lobrede des Joseph Bripius (wahrscheinlich 1 3 7 7 / 7 8 in Mailand geboren) auf den heiligen Alexius wurde auch schon der Predigtliteratur zugezählt - in diesem Falle eine E r g ä n z u n g zur obigen A n g a b e - ; Franz-Wilhelm Servaes, Joseph Bripius, De laudibus sancti Alexii, S . 2 5 - 2 8 , will sie jedoch gattungsmäßig als ein Enkomion, als ein Panegyrikos auf den Heiligen bestimmen.

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Z u m A u f e n t h a l t Adalberts im Bonifatius-Kloster in R o m vgl. L u d w i g Z o e p f , Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 1 0 4 und 1 2 2 . H a n s Sckommodau, Alexius in Liturgie, Malerei und Dichtung, Z r P L X X I I ( 1 9 5 6 ) , S. 1 7 0 - 7 1 , verweist auf die Verbreitung des Alexiuskultes durch Adalbert von Prag, welcher ein Prager Kloster u. a. dem Patrozinium des Alexius unterstellte.

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Z u den näheren Umständen dieser Festtagspredigt v g l . v o r allem M a n f r e d Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 28, 1 5 : » D i e Homilie wurde zum Gedächtnis des Heiligen etwa im Jahre 995 in R o m gehalten; das darin enthaltene Vitenfragment stellt also das früheste datierbare Zeugnis f ü r die lateinische Prosafassung des Alexiuslebens dar.« Z u r Homilie als solcher v g l . ebda. S. 49, 2 j , w o z . T . inhaltliche Eigenheiten erläutert werden.

36

X I X , 2 7 $ . voraufgeht, durchsetzt er seine Ausführungen u. a. zusätzlich mit der Evangelienstelle, die später in der Bekehrungsgeschichte des Petrus Valdus im selben Zusammenhang mit dem Alexiusleben erst recht aktuell w i r d : Perfectus autem ille est, qui abiens vendit omnia, que habet, et dat pauperibus ac veniens sequitur Christum (nach Matth. X I X , 2 1 ) 9 1

um seine Auslegung

des Evangelientextes allerdings erst gegen das E n d e seiner Rede hin auf den zu rühmenden Heiligen, auf Alexius anzuwenden. § 5 5 . V o r allem anerkennt die Lobrede Adalberts v o n P r a g die E r f ü l l u n g der verlesenen Evangelienstelle durch A l e x i u s : [. . .] et maxime in beatas memoria; patre nostro Alexio, [. . .] totum lectionis videmus perfectissime esse completum92. Wie in der beigezogenen, hart anmutenden Stelle der Frohbotschaft liegt auch der Schwerpunkt der festlichen Predigt deutlich auf der R a d i k a l i t ä t des Allesverlassens, dem zufolge Alexius schließlich: in domo propria ut peregrinus manebat 9 3 . Nachdruck liegt auch auf der Tatsache, daß Alexius in dieser extrem schwierigen Lebenslage freiwillig mit G e d u l d und Standhaftigkeit verharrte. Diese Feier des Alexiusfestes in R o m f a n d offenbar seinen Sinn in dem ermutigenden Vorzeigen des v o m Heiligen verwirklichten

evangeliengetreuen

Lebens, mochte dieses Heiligkeitsideal noch so unerreichbar, j a geradezu ärgerniserregend erscheinen. § 5 6 . Sicher stellt A d a l b e r t v o n P r a g sein Heiligenleben den Mönchen des Bonifatiusklosters nicht nur zur andächtigen Bewunderung, sondern in erster Linie zur getreulichen, nicht nur in einem übertragenen oder abgeleiteten Sinne verstandenen Nachahmung dar. D a r u m schließt A d a l b e r t seine Festtagspredigt mit der aus seinen Ausführungen sich natürlich und zwingend ergebenden Feststellung: Unde necesse est, fratres karissimi, ut tanquam boni filii et tanto parente digni exempla illius sanctissimae vitae sequi curemus94. Die Pflicht der Nachahmung, jedenfalls in bezug auf das Allesverlassen, leitet sich schon unausweichlich dadurch ab, daß der in der Lobrede gefeierte Alexius als Ahne, sogar als V a t e r der angesprochenen Zuhörer vorgestellt w i r d . 91

92

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Die Homilie Adalberts von Prag ist vollumfänglich abgedruckt bei Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Dens ingenite< (11. ]h.) und das altfranzösische Alexiuslied, als VIII. Anhang (§ 69), S. 102-6. Zitiert aus Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 104. Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 104. Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 105. 37

§ 5 7 - In einer im n . Jahrhundert von Petrus Damiani gehaltenen Alexiuspredigt - ebenfalls eine Festtagspredigt - figuriert der Heilige gleicherweise als nachzuahmendes Beispiel 9 5 . Petrus Damiani charakterisiert das Alexiusleben anhand eines Vierpunkteschemas: Primum est, quod mundum et mundana quseque contempsit; secundum, quod peregrinus, et in omni facultate nudatus, per decem et Septem annos in Edessa: MesopotamiEe civitate omnium rerum penuriem pertulit: jam vero tertium est, quod domum propriam felici post liminio rediens, durumque certamen agressus, inter uxorem et utrumque parentem, inter vernaculos diversamque familiam, ut soli Dei fieret veraciter notus, omnium fefellit aspectus. Postremo quartum est, quod illic post alapas ac verbera servulorum, post subsannationes et contumelias irridentium, post cadiinnantium ac SEvientium piagas, post intolerabilis denique patientissime toleratas calamitatis injurias, tandem feliciter obiit, tantique laboris immensa certamina beato fine complevit 96 . D i e Predigt Damianis, weniger darauf ausgehend, einen Tugendspiegel oder ein tale quäle zu imitierendes Modell aufzustellen, steigert den Heiligen lieber ins Heldenhafte, um sein Publikum zu erschüttern 97 und es schließlich auf dem U m w e g einer heilsamen Emotion zu einer >conversio< zu bewegen. D i e bekehrende Absicht bleibt z w a r unausgesprochen, versteht sich jedoch bei Petrus Damiani von selbst 98 und teilt sich in der Intensität der Rede mit. § 58. U m den gefeierten Alexius gleich von A n f a n g an hoch genug zu stellen, lobt der Prediger einleitend die rechtschaffenen Eltern des Heiligen. Anschließend betont er, daß der Sohn deren beispielhaftes Leben noch übertraf 9 9 . Eine unerwartete Steigerung erfährt das Heiligenbild des Bekenners Alexius dadurch, daß es kühn der obersten Stufe in der Hierarchie der christlichen H e i ligen eingepaßt wird, nämlich dem ordo martyrorum: [. . .] quia admiranda sancti viri hujus vita; vere triumphus est et nova atque inaudita fere victoria [vgl. die ähnliche Formel: nova mundum arte deludens 95

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Vgl. den Predigttext in: P L C X L I V , 6 5 2 D - 6 6 0 A , Sermo X X V I I I . De S. Alexio confessore. Zur Alexiuspredigt des Petrus Damiani vgl. auch Franz-Wilhelm Servaes, Joseph Bripius, De laudibus sancti Alexii, S. 26; und weiter unten Anm. 99. P L C X L I V , 6 5 4 D - 6 5 5 B . Im Hintergrund dieser Ausführungen, besonders der Begrifflichkeit vom K a m p f , steht Matth. I V , 1 - 1 1 , die Versuchung Jesu in der Wüste. In der Linie der Mitleid erweckenden Betrachtung und pathetischen Beschreibung des Alexiuslebens stehen später die romanhaften Ausformungen der Legende; vgl. dazu Heinrich Schneegans, Die romanhafte Richtung der Alexiuslegende in altfranzösischen und mittelhochdeutschen Gedichten, Modern Language Notes I I I (1888), S. 247-56 und 307-27. Zur Spiritualität des Petrus Damiani vgl. Dom Jean Leclercq, Saint Pierre Damien. Ermite et komme d'Eglise, R o m a i960 (= Uomini e dottrine, 8), zu den Predigten besonders S. 1 6 1 - 6 3 ; auch Fridolin Dressler, Petrus Damiani. Leben und Werk, Roma: 1954 (= S A , 34), S. 39. P L C X L I V , 6 j 2 D ff.

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in der Alexiuspredigt des Blinden Paters, oben § 2 3 ] ; cumque, juxta Propheticam vocem, mirabilis Deus sit in sanctis (Ps. L X V I I ) , in hujus invicti militis sui spectaculi tirocinio tanto mirabilior exstitit, quanto per hunc contra carnis illecebras, contra fraudis diabolicse tentamenta novo atque insolito martyrii genere dimicavit 1 0 0 .

Alexius ist damit, fast gewaltsam, in das geistliche Konzept Damianis eingepaßt: Alexius ist Märtyrer durch seine konsequent durchgehaltene Weltverachtung 101 . Das so beschriebene Heiligenleben wirkt sensationell und spektakulär, mehr zur fromm-begeisterten Bewunderung aufreizend, denn zu detaillierter Nachahmung empfohlen: [. . . ] novum martyrii genus novus praebet in admiratione spectaculum 102 . § 59. Damit die Rede noch an Eindringlichkeit gewinne, schildert Petrus Damiani mit rhetorischem Pathos die mit Geduld ertragenen Leiden des Heiligen, indem er das neuartige Martyrium mit demjenigen der 'alten' Märtyrer konfrontiert. Mit großartiger Eloquenz läßt der Prediger seinen Heiligen nicht nur die vorbildlichen Eltern, vielmehr sogar die früheren Märtyrer überbieten: Martyribus enim carcer erat poena, catena pressura; isti vero propria domus auratis decorata trichiniis erat materia tentationis. Illos torquebat manus armata carnificum; istum aravius puniebat conspectu quotidie pietas genitorum [ & c . ] 1 0 3 .

Diese in eindrücklicher sprachlicher Gestik vorgetragene affektive und verinnerlichte Betrachtung des Alexiuslebens scheint Damianis persönliche Leistung zu sein. Während Adalbert von Prag in seinen Ausführungen über dasselbe Heiligenleben schlicht und nüchtern blieb, arbeitet sich Petrus Damiani damit ab, aufzurütteln und zu erschüttern. Von der in Adalberts Rede gegebenen Durchsicht des Alexiuslebens auf ausgewählte Evangelienstellen ist im Pathos des Eiferers nichts haltbar. § 60. Eine beispielgebende Funktion hat das Alexiusleben in dem aus dem 1 1 . Jahrhundert stammenden rhythmischen Gedicht Pater Deus ingenite. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es dazu bestimmt, in der Alexiusfigur ein Leitbild der Jungfräulichkeit vorzustellen, das den Reformbestrebungen von Cluny - besonders in ihrem Kampf gegen die Priesterehe - Wirksamkeit zu verleihen vermochte. Eine derart präzis und scharf umrissene programmati100

P L C X L I V , 658B. 101 V g l . die freilich kritisch aufzunehmenden Ausführungen von Robert Bultot, La doctrine du mepris du monde. I V : Le XIe siecle. 1. Pierre Damien, Louvain/Paris 1 9 6 3 ( = C V H , A . I V , i), S. 1 3 2 zur Alexiuspredigt. D o m J e a n Leclercq, Saint Pierre Damien, S. 1 6 1 , betont, daß die Alexiuspredigt - im Unterschied zu den anderen, v o r Mönchen gehaltenen Predigten Damianis - Ratschläge für verheiratete Laien enthalte. Sie w a r demnach an ein weiteres Publikum gerichtet.

10ä 103

P L C X L I V , 658D. P L C X L I V , j68D.

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sehe Tendenz, wie sie f ü r dieses lateinische rhythmische Gedicht plausibel gemacht werden konnte 1 0 4 , stellt den Sonderfall dar, in welchem die exemplarische K r a f t eines bestimmten Heiligenlebens zur Erreichung neuer Ziele eingesetzt wird. Es bleibt also nicht dabei, daß im Alexiusleben ein allgemeines, wie in den meisten Heiligenleben höchstens etwas weltflüchtiges Ideal gerühmt w i r d ; vielmehr wird ihm schon da aufgetragen, eine einmalige, gerade aktuelle Situation verändernd zu beeinflussen. § 61. Bereits von der lateinischen Alexiusvita konnte eine über bloß passive Erbaulichkeit hinausgehende Wirkung an den eben erwähnten, historisch umschreibbaren Musterbeispielen festgestellt werden. Eine weitere, die wohl interessanteste und zugleich schönste Fassung des Alexiuslebens, von der die Abhängigkeit von einer spezifischen Umwelt, die Herkunft aus einem bestimmten Milieu und die darin ausgeübte Funktion des poetischen Textes einigermaßen bekannt sind, blieb bis jetzt unbesprochen: Auch die Fassung der Canqun de saint Alexis nämlich, wie sie die Handschrift L überliefert, bietet das Ergebnis eines besonderen Zusammenspiels verschiedener geschichtlicher Gegebenheiten, in welchem das erzählte Legendengeschehen mit den Ereignissen seiner es tradierenden Umwelt zur Deckung gelangt und es so in seiner Aussagekraft und -gültigkeit momentan verdichtet. Das in einer noch zu umschreibenden Konstellation sich intensivierende Alexiusleben gewinnt dabei eine literarische, eine dichterisch überzeugende Form, die bis heute ihre Spannkraft und eigenartige Schönheit auch in gewandelten Verhältnissen und unter grundverschiedenen Umständen bewahren konnte. § 62. Die Fassung der altfranzösischen Alexiuslegende in der Handschrift L stellt ein besonders interessantes Moment in einer bereits bestehenden Textgeschichte der Alexiusvita dar. Sie gibt eine schon existierende altfranzösische Übersetzung und wohl gleichzeitige Bearbeitung einer ungefähr auf die Mitte des 1 1 . Jahrhunderts zurückzudatierenden Vorlage wieder 1 0 5 . Neben ihr sind

104

Abgeleitet, belegt und verfochten wird dieser Zweck des rhythmischen Gedichtes

von Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11.

Jh.)

und das altfranzösische Alexiuslied, S. 26, § 13.2, wo darauf hingewiesen wird, daß Papst Leo IX., der ein Anhänger der cluniazensisdhen Reform und ein Kämpfer gegen klerikale Mißstände war, als Verfasser des lateinischen Gedichts anzusprechen ist, »was leicht die beispielhafte Behandlung gerade des Alexiusstoffes erklärt. Daß in der Folgezeit dem Gedicht weitere Verbreitung zuteil wurde, läßt sich denken, da ein bedeutender Papst der Verfasser war und da nach Leo I X . die Aktualität des Themas (Durchsetzung des Zölibats) andauerte.«

Auch Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied 105

der Handschrift

L,

S. 86, nimmt diesen Gedanken befürwortend auf. Zu den ins 1 1 . Jahrhundert zurückweisenden sprachlichen Merkmalen der im

12. Jahrhundert niedergeschriebenen Canqun de saint Alexis der Handschriften L, A und P vgl. vor allem Howard B. Garey, The Historical Development of Tenses from

40

Late Latin

to Old French,

Language X X X I (1955), Supplement Language

weitere, chronologisch nicht ganz einwandfrei zu klassierende Versionen desselben verlorenen, jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach notwendig supponierten Prototyps erhalten. Betrachtet und beurteilt man jedoch die Fassung des Alexiuslebens in der Handschrift L nicht im Hinblick auf das verlorene, eventuell gar nie existente, jedenfalls nicht mehr rekonstruierbare Original, sondern als ein Dokument der Zeit, in der nicht nur eine neue Niederschrift des Heiligenlebens veranlaßt wurde, in der man vielmehr das Dichtwerk mit Rücksicht auf eine aktuell bestehende Situation innerlich neu organisierte und es in dieser F o r m als kostbaren Schatz auch zu erhalten wußte, so tauchen in dieser Sichtweise andere Fragen an den T e x t auf; diejenigen nach der etwaigen F o r m eines hypothetischen Urtextes - die sich ohnehin kaum je abschließend beantworten lassen - oder nach der Priorität der Fassung in der Handschrift L gegenüber anderer, verwandter Überlieferung in weiteren Handschriften - zur Diskussion steht v o r allem Handschrift A - treten zurück 1 0 6 . D i e Fassung L , meistens voreilig und einseitig ins 1 1 . Jahrhundert rückbezogen und vorwiegend auf archaische Z ü g e hin untersucht, erscheint dann überraschend als neuangefertigte, frisch beendete, in manchen Z ü g e n an die Zeit des Schreibers und Bearbeiters adaptierte Redaktion, kurz, als ein spannender T e x t des iz. und nicht des 1 1 . Jahrhunderts 1 0 7 .

106

107

Dissertation N o . j i , Chapter I I I . Eleventh-Century French represented by La Vie de Saint Alexis, S. 46-90. Otto Pacht, The St. Albans Psalter (Albani Psalter), The Warburg Institute, London i960, spricht - freilich nicht unangefochten - von der Möglichkeit, daß die Fassung L überhaupt keine altfranzösische Vorlage der Alexiusvita gehabt habe. Die Diskussion, welche der drei erhaltenen altfranzösischen, aus dem 1 2 . J a h r hundert stammenden Handschriften (L, A , V ) dem verlorenen, aus dem 1 1 . J a h r hundert zuzuweisenden altfranzösischen Alexiusliede am nächsten stehe, gelangte noch zu keinem einhelligen Ergebnis. Das wissenschaftliche Gespräch dreht sich v o r allem um die Handschriften A und L. Bekanntlich betrachtet die Mehrzahl der Forscher die Handschrift L als autoritativ - V . Draskovic, A propos des éditions critiques du ms. L de la Vie de St. Alexis, in: Linguistique et Philologie Romanes. Actes du Xe Congrès International de Linguistique et Philologie Romanes, Paris 1965 (= A C , 4), Vol. I I , S. 643-54, äußerte sich neuerlich entschieden in diesem Sinn - , während Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 1 6 1 - 2 0 3 , versucht, die Handschrift A als dem U r t y p des altfranzösischen Alexiusliedes näherstehend darzulegen. Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, A n S C X C I V (1957), S. 1 3 8 - 8 0 , bereits ebda. C X C I (1954), S. 2 0 2 - 1 3 u. a., hielt strikte an der auch zeitlichen Priorität von L fest. Hans Sckommodau, Das Alexiuslied. Die Datierungsfrage und das Problem der Askese, in: Medium Aevum Romanicum, Festschrift für Hans Rheinfelder, München 1963, besonders S. 303, mäßigt sich ebda. S. 304 zu der vorsichtigen Formulierung: »Eine heikle Sache ist also wohl die sichere Datierung aller frühen Alexiusdichtungen und Alexiusviten.« Vorausgesetzt wird natürlich immer, daß die älteste Fassung die auch sonst dem Original zunächst stehende wäre. Schon Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 1 7 7 - 7 8 , schließt mit zwingender Logik, wenn auch in anderer Absicht als wir - selbstverständlich 41

§63- Freilich kann und soll damit nicht darüber entschieden sein, ob die Fassung L überhaupt ein altfranzösisches Modell hatte; auch soll nicht abgestritten werden, daß die Canqun de saint Alexis in mancher Beziehung das i i . Jahrhundert widerspiegelt; aber die Tatsache, daß die volkssprachliche Bearbeitung des Alexiuslebens im 12. Jahrhundert waches Interesse fand, und in welcher Form sie es fand, erscheint wichtiger. Denn offenbar erkannte man gerade in der besonderen Umwelt der Fassung L eigene geliebte Ideale in der Alexiusvita verwirklicht: alles deutet darauf hin, daß die Fassung L ihre Existenz nicht der Langeweile oder einer mechanischen Abschreibearbeit zu verdanken hat. Sie entstand vielmehr in bestimmt umschriebenem Auftrag, der für die interpretative Einschätzung des dichterischen Vitentextes nicht unbedeutend und nicht zu vernachlässigen ist. Es genügt also vorerst, die näheren Umstände, die zu einer erneuten Niederschrift der volkssprachlichen Legendenvita im 12. Jahrhundert führten und die nächste zeitgenössische Umwelt der Handschrift L referierend in ihren Hauptmomenten zusammenzustellen, in der Hoffnung - oder eher in der Gewißheit - , daß die geschichtlich-faktische Konstellation, welche die Grundlage zur neuen Redaktion abgab, zum besseren Verständnis der Canqun de saint Alexis beiträgt, den Text auch von innen erhellt und dessen Signifikanz mitbestimmt. § 64. Immerhin soll die falsche Annahme, ein Dichtwerk - ein solches ist die Canqun de saint Alexis ja trotz der ihr wie jeder hagiographischen Legende eignenden Zweckbestimmtheit und trotz des ausgeprägten Willens zur Erbaulichkeit - spiegle fraglos und ungebrochen die historische Konstellation, in welcher es entstand und das Milieu, welches es hervorbrachte, entschieden ferngehalten werden. Dennoch besteht die Gewißheit, daß das hypothetische Alexiuslied des 1 1 . Jahrhunderts genügend aktuelle Elemente aufweisen mußte oder die geschichtliche Situation in der Entstehungszeit besonderen Zündstoff enthalten mußte, damit eine Neuschreibung dringlich erscheinen konnte. Die Geschichte vom Leben des heiligen Alexius mußte mindestens immer noch Gefallen finden können, als man im 12. Jahrhundert an eine sorgfältige und wohl überlegte Abschrift ging. So wird jetzt versucht, das Alexiuslied der Handschrift L nicht nur als allgemein zweckgerichtete, sondern als situationsbezogene Dichtung zu verstehen. Die Canqun de saint Alexis ist damit in einem strengen, enger zu umschreibenden Sinne Spiegel, in dem man ein wahres Bild zu finden suchte. auf seine Prioritätsspekulationen gemünzt: »Alle Hss. [des altfranzösischen A l e xiusliedes] haben ihre schwachen Stellen. U n d was ist damit gewonnen, wenn man in dem einen Fall A , in dem anderen L und in einem dritten V rechtgibt? A l l e erhaltenen Hss. dürften Kopien nach Vorlagen sein. [. . . ] Diese Hs. L ist aber nicht nur - wie die anderen Hss. auch - ein T e x t des 1 2 . Jahrhunderts; sie scheint auch - trotz altertümelnder Graphie - an vielen Stellen in der Gestaltung von Vers und T e x t den literarischen Stil des 1 2 . Jahrhunderts zu spiegeln.« V g l . dazu auch ebda, schon S. 1 6 5 .

42

§ 6$. Die Alexiuslegende verdankt also wohl ihre besondere Strahlungskraft, zu der sie im altfranzösischen Alexiuslied gelangt, ihrer Übereinstimmung mit spezifischen Forderungen, die man in ihr bestätigt und verwirklicht finden wollte, sowie ihrer Bereitschaft, sich den Bedürfnissen, die sie zu befriedigen hatte, anzupassen und die ihr entgegengebrachten Erwartungen in einer inhaltlich und formal einheitlichen Gestalt zu erfüllen. Im Glücksfalle - und um einen solchen handelt es sich in der Cançun de saint Alexis — bringen die im Legendenstoff vorgefundenen, weil in ihm angelegten Möglichkeiten, im Zusammentreffen mit dem ihm günstigen begabten Bearbeiter, die latenten Tendenzen sowohl der Legende selbst wie der im Bearbeiter vertretenen neuen Zeit und Epoche an den Tag. Eine derart glückliche Korrespondenz von schreibendem Bearbeiter und vorgefundenem Stoff dürfte die lebendige Erhaltung einer Legende, mehr noch eine solch extrem schöne und verdichtete Sonderleistung, wie sie das altfranzösische Alexiuslied darstellt, bedingen 108 . § 66. Noch ein weiterer grundsätzlicher Aspekt ist unbedingt an dieser Stelle einzubeziehen und in der Betrachtung zu berücksichtigen: derjenigen des Publikums. Denn es gilt sicherlich auch f ü r unseren Zeitraum, vielleicht sogar in erhöhtem Maße f ü r ihn, was Gérard Genette allgemein feststellt: »Une époque se manifeste autant par ce qu'elle lit que par ce qu'elle écrit, et ces deux aspects de sa >littérature< se déterminent réciproquement [. ..].« 1 0 9 Schließlich war ja selbst der bearbeitende Schreiber, der sich an einen vorgegebenen Stoff hielt, notwendig zuerst Leser, der sich - in unserem Falle nachweislich - nicht zufällig und wahllos an die Reproduktion eines hagiographischen Textes machte; er hatte d a f ü r seine bestimmten Gründe, er fand an diesem Heiligenleben besonderen Gefallen und stand darüber hinaus ausdrücklich im Auftrag, der seinerseits einer gezielten Nachfrage, vielleicht der eines einzelnen Auftraggebers, vielleicht auch der eines kollektiven Publi108

109

Bei unserer Betrachtung geht es selbstverständlich nicht darum, Gattungsmerkmale, gar allgemeingültige, zu einer Definition des Erzähltypus beizubringen. Unsere Untersuchungen liegen einer solchen Bestimmung als von diesem Gesichtspunkt aus bloß >vorwissenschaftliche< voraus. Mit Redit warnt Max Lüthi, Märchen, S. n , vorbeugend davor, Umweltsbedingungen, die der Legende günstig sind - etwa Glauben oder Nichtglauben - verabsolutierend als gattungsbestimmende Wesensmerkmale auszugeben.

Gérard Genette, Structuralisme et critique littéraire, III, in: Figures. Essais,

Paris 1966 ( = Collection >Tel QuelinférieursImitatio Alexiiafter the event< as a meaningful allusion and suitable parallel to Christina's own experiences taken from one of the paradigms of Christian life.« The Life of Christina of Markyate, S. jo. 10. Melitta Hürsch, Alexiuslied und die christliche Askese, 2FS LVIII (1934), S. 414-18, besonders S. 415fr., spricht vorwurfsvoll von der »Frage der Schuldhaftigkeit des Verlassens der angetrauten Frau durch Alexius« und bringt Dokumente bei, die dartun sollten, daß ein derartiges Verhalten, wie es am Heiligen zu beobachten ist, kirchlich verworfen werde. Gerhard Eis, Alexius und die christliche Askese, ZFS LIX (1935), S. 232-36, gibt, gegen Emil Winkler, Von der Kunst des Alexiusdichters, S. 588-97, und gegen Leo Spitzer, Erhellung des Polyeucte durch das Alexiuslied, S. 473-500, den Darlegungen recht, wonach Alexius von einem kirchlichen Standpunkt aus tatsächlich zu verurteilen wäre. Zur genauen Bestimmung dieses Treuepfandes vgl. Mary Dominica Legge, Les renges de s'espethe, Romania L X X V I I (1956), S. 88-93; auch T. Fotitch, The mistery of >Les renges de s'espetherenges< gegeben: »attache qui fixe l'épée au baudrier«, während La Vie de saint Alexis, Texte du Manuscrit de Hildesheim (L), Publié par Christopher Storey, S. 149 mit >ceinturon< übersetzt. In der Illustration des Albanspsalters wird die Übergabe des Treuezeichens, wohl seiner Wichtigkeit halber, im Bilde festgehalten; vgl. Otto Pacht, The St. Albans Psalter, S. 57. 46

nicht als verpflichtend anerkennt. Sie taucht unter und erwartet in ihrem Versteck die Annullierung des Eheschlusses durch den für sie zuständigen Bischof 1 1 9 . Die Anschauungen waren damals in bezug darauf, ob zur gültigen Schließung der Ehe der freiwillige Konsens beider Partner 1 2 0 und zur U n auflöslichkeit der Vollzug der Ehe notwendig seien, noch fluktuierend oder mindestens undeutlich 121 . Gewiß durfte ein Gatte nicht unter dem V o r w a n d der Askese leichtfertig, vor allem nicht ohne die Einwilligung des Partners die Ehe auflösen und seine Haushaltung verlassen. Die Heiligenlegende führte jedoch immer wieder Beispiele vor, wonach der an sich höher eingeschätzte Stand der >virginitas< auch gegen Widerstände, zum Beispiel gegen einen nicht einwilligenden Verlobten oder Angetrauten, durchgesetzt werden mußte 122 . 119

120

121

122

Zu den näheren verbürgten Umständen des Lebenslaufes Christinas vgl. The Life of Christina of Markyate, S. 13fr., besonders S. 1 4 - 1 5 (zur historisch gesicherten Chronologie ihrer Biographie), wonach die Annullierung der Ehe nach langwierigem Hin und Her erst zwischen 1 1 1 8 und 1 1 2 2 erfolgte. Gabriel Le Bras, Le mariage dans la théologie et le droit de l'Eglise du XIe au XIIIe siècle, C C M X I (1968), S. 200, stellt eine im 12. Jahrhundert vollzogene rechtliche Revolution fest, wonach die >patria potestas< nicht mehr über Eheschluß oder Klostereintritt entscheiden durfte. Alexis' Rücksicht auf den väterlichen Wunsch mag ein archaischer Zug sein. Nach Gabriel Le Bras, Le mariage dans la théologie et le droit de l'Eglise du XIe au XIIIe siècle, S. 198, war der Vollzug der Ehe zwar zu ihrem Zustandekommen nicht unbedingt notwendig. Es fehlte jedoch nicht an Klauseln, die eine Nichtigerklärung unter bestimmten Bedingungen erlaubte. Leider stand mir die Studie von H. Portmann, Wesen und Unauflöslichkeit der Ehe in der kirchlichen Wissenschaft und Gesetzgebung^ des 11. und 12. Jahrhunderts, Emsdetten 1938, nicht zur Verfügung. Zur sogenannten Josefsehe, als welche die Bindung des Alexius an seine Braut betrachtet werden kann, vgl. Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. j ^ i f f . Zur nichtvollzogenen Ehe in der Hagiographie vgl. Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, Intactam sponsam relinquens. A propos de la Vie de Saint Alexis, A B L X V (1947), S. 157-95, und ders., Source d'un texte relatif au mariage dans la Vie de saint Alexis. BHL. 289, A B L X I I I (1945), S. 52-53. Beispiele für Heilige, die, um das Ideal der virginitas zu verwirklichen die Heirat fliehen, bietet Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. ié4ff.; ebda. S. 165 etwa das Beispiel der heiligen Aldegundis, die vor der Verheiratung in ein Kloster flieht, um nicht getraut werden zu können. Auf der Flucht steht ihr Gott sogar durch ein Mirakel bei; sie kann über Wasser schreiten (ebda. S. 193). Schon die Vätergeschichten kennen die in der Alexiusvita und ähnlich in der Vita Christinas beschriebene Situation. So wird beispielsweise von Amun erzählt: »D'après Palladius, Histoire lausiaque, ch. V I I I , Amoun, orphelin à vingt ans, fut obligé par un oncle à se marier. Il se laissa faire, mais, après la noce, il dit à sa femme: »Notre mariage est comme tous les autres, mais faisons quelque chose de noble. Dormons séparés et gardons la virginité pour plaire à Dieu.« Et il lut à son épouse les passages de l'Evangile et de saint Paul sur la virginité en vue du royaume des cieux. Touchée par la grâce, la jeune femme dit: »Je suis de ton avis, faisons comme tu le désires.« Il aurait voulu davantage, la quitter tout à fait pour se faire ermite. Elle n'y consentit pas. [ . . . ] « (Vies des pères du désert, Textes essentiels présentés et recueillis par

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§ 7 ° . Jedenfalls besteht eine Parallele im Leben des Alexius und Christianes darin, daß beider Flucht aus einer unfreiwillig geschlossenen und nicht vollzogenen Ehe erfolgte, und zwar um ein stillschweigend abgelegtes Gelübde der Jungfräulichkeit, das offenbar auch als privat abgelegtes den Vorzug hatte, nicht zu verletzen 1 2 3 . Alexius freilich veranlaßte durch die Flucht nach der rechtlichen, offiziell geschlossenen Ehe seine Braut und Gattin notgedrungen zu einem ebenfalls jungfräulichen Leben, wie er es für sich seit jeher vor hatte. Christina hingegen bewirkte mit Geduld und Hartnäckigkeit die Lösung und Nichtigerklärung des ihr aufoktroyierten Ehebundes. Trotz der Divergenz, die sich in der Situation Alexis* und Christinas bei aller auch bestehenden Ähnlichkeit feststellen läßt, scheint eben doch das Verbindende beider Viten dominiert zu haben, so daß Christina die Alexiusvita zur Legitimation ihrer Handlungsweise beziehen konnte 1 2 4 . Alexius war für Christina ein nachahmenswertes Modell, das sie in ihrem riskanten Unternehmen nur unterstützen und in ihrem abenteuerlichen Unterfangen ermutigen mochte. § 7 1 . Christina suchte in ihrer schwierigen Lage - nach der Verweigerung der Ehe - nicht irgendwo Zuflucht, sondern natürlich dort, w o sie auf Verständnis und Hilfe hoffen durfte. Sie fand sich beim Eremiten Roger ein 125 , der A. Hamman, Paris 1961 ( = LC, no 4), S. 68, Anm. 1. Nach 18 Jahren bekommt Amun die Erlaubnis, sich in der Wüste eine Zelle zu bauen. Zur Biographie Amuns vgl. auch Enquête sur les moines d'Egypte (Historia monachorum in Aegypto), Traduit par A.-J. Festugière, Paris 1964 ( = Les moines d'Orient, IV/i), S. 120-22, X X I I . Pierre Jonin, Des premiers ermites à ceux de la >Queste del saint Graalpièce justificative< of her action in leaving her husband and retiring to the hermitage« dar. 1 2 5 Zum Eremiten Roger vgl. The Life of Christina of Markyate, S. iifî., besonders S. 16, 21 und 36; auch Otto Pacht, The St. Albans Psalter (Albani Psalter), vor allem S. 136. Roger wird auf der Inschrift seiner Grabplatte folgendermaßen vorgestellt: Vir domini verus iacet Heremita Rogerus (ebda. S. 22). 48

ein ehemaliger M ö n d i des Albansklosters w a r , in welchem sie mit z w ö l f J a h ren still f ü r sich das Gelübde abgelegt hatte. R o g e r hielt Christina vier oder fünf J a h r e lang in einer seinem Oratorium angebauten Zelle versteckt 1 2 8 . Sehr wahrscheinlich w a r Christina also nicht aus freien Stücken Reklusin, sondern durch den Z w a n g der äußeren Umstände. D a r u m erklärte sie sidi nach der Beilegung ihres Ehekonfliktes bereit, in M a r k y a t e , in der unmittelbaren Nachbarschaft des Klosters St. Albans, einer Gemeinschaft von N o n n e n als Priorin vorzustehen. Jedoch blieb Christina zeitlebens - und dies w o h l ganz bewußt - v o m Geiste der Eremitengemeinschaft, die unter der Leitung des Einsiedlers Roger stand, welcher ihr Unterkunft und Schutz gewährt und sie geistlich unterwiesen hatte, geprägt 1 2 7 . Auch als Vorsteherin einer religiösen Gemeinschaft kümmerte sich die >prima priorissa de bosco< 128 liebevoll um die Einsiedler und Reklusen in der Umgebung ihres ebenfalls so weit als möglich auf die v i t a solitaria ausgerichteten Klosters 1 2 9 . § 7 2 . Wenn auch nicht bestätigt werden kann, daß der Einsiedler Roger der Schreiber, eventuell sogar der A u t o r der altfranzösischen Fassung des Alexiusliedes in der Handschrift L gewesen sein muß - offen bleibt aber auch, daß er es sein kann - 1 3 0 , so ist doch, w i e bereits einmal vorwegnehmend gesagt wurde, die ihm Schutzbefohlene, durch ihn geformte Christina die Destinatärin der dem wohl ebenfalls f ü r sie bestimmten Albanspsalter beigebundenen 126 y g j dazu Dom Louis Gougaud, Ermites et reclus, S. 1 7 , w o ausgeführt w i r d : » [ . . . ] Une autre recluse, du nom Christine, vécut dans une cellule contigue à celle de Roger, ancien moine de St Alban's, »gradu livita, devotione heremita«, retiré à Markyate, près Dunstable. Thomas Walsingham, le chroniqueur de St Alban's, note que Roger dispensa, pendant quatre ans, ses enseignements à sa voisine, sans que jamais le maître et la recluse se vissent.« V g l . dieselbe Angabe ebda. S. 90, und ders., La vie êrêmitique au moyen âge, S. 2 2 3 ; audi The Life of Christina of Markyate, S. 20. 127 Z u m Zusammenhang der verschiedenen Eremiten mit dem Kloster St. Albans und untereinander vgl. The Life of Christina of Markyate, besonders S. 16 u. 2 1 . 128 Dieser Titel wird zitiert bei Otto Pacht, The St. Albans Psalter, S. 136. 129 Von Christinas Tätigkeit nach dem Tode Rogers wird in The Life of Christina of Markyate, S. 29, in der Einleitung ausgesagt: »He expended his energies less on the aggrandizement of his own monastery than on the hermits and recluses who dwelt in the neighbourhood.« 130 Eine Diskussion, der mit dieser Frage verhängten Gesichtspunkte findet sich, außer bei Otto Pacht, The St. Albans Psalter, passim, auch in The Life of Christina of Markyate, S. 22ff., w o S. 2 j folgender Schluß gezogen w i r d : »The accumulation of these details, however, tends to show that the manuscript has its main connexions not with Roger the hermit, but with Christina, the prioress.« Christopher Storey lehnt in seiner Textausgabe, S. 24, die von Otto Pächt v e r fochtene Möglichkeit der Autorschaft Rogers ab, um die These vom anonymen Geniedichter festzuhalten. Besser bestimmt Sophronius Clasen O F M , Die Hagiographie als literarische Art, WuW X X X I (1968), S. 97-99 besonders, den Anteil des Hagiographen an der Legendendichtung. 49

Abschrift der Cangun de saint Alexism, womit der Eremit Roger gewiß mittelbar an deren Entstehen beteiligt war. Z w a r wurde unter Abt Richard (Amtszeit von 1097 bis 1 1 1 9 ) im Albanskloster, zu welchem Roger und Christina rege und freundschaftliche Beziehungen unterhielten, eine Kapelle dem heiligen Alexius geweiht, ein in England höchst seltenes Patrozinium 132 ; trotzdem steht das Interesse Christinas am Alexiusleben als Anlaß für die neuerliche Abschrift des volkssprachlichen Alexiuslebens im Vordergrund 1 3 3 . Christina von Markyate mit ihren eremitischen Erfahrungen und ihren am Einsiedlerleben orientierten klösterlichen Aspirationen mußte sich - ganz abgesehen von der besprochenen Ehegeschichte - im altfranzösischen Alexiuslied in einer objektiviert-stilisierten und zugleich besonders innerlich-persönlichen Weise wiederfinden und sich dadurch in der gewählten Lebensweise bestätigt und bestärkt fühlen. § 73. Mit der Feststellung, daß das dem köstlichen Albanspsalter beigebundene Alexiuslied Christina von Markyate zugehörte und ihr sogar speziell zugedacht w a r 1 3 4 , ist die Cangun de saint Alexis nicht nur als eine einem 131 Vgl. die Ausführungen von Otto Pacht, The St. Albans Psalter, besonders S. 136 und 138. 132

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134

Zu dieser Weihe und den Fragen um den Alexiuskult im anglo-normannischen England vgl. The Life of Christina of Markyate, S. 26 Anm. 1, und Otto Pacht, The St. Albans Psalter, S. 135. Mary Dominica Legge, Anglo-Norman Literature and its Background, S. 243, sagt darüber zusammenfassend: »St. Alexis was never a popular saint in England, and today there is not a single church dedicated to him anywhere in the country, though this Life was copied there more than once. The connexion with St. Albans was probably inherited from Bee.« Otto Pacht, The St. Albans Psalter, S. 136-37, behauptet entschieden und mit Kompetenz, daß Christina und nicht das Alexiuspatrozinium für das Alexiuslied von Bedeutung gewesen sei. Er führt über Christinas Verhältnis zum Alexiusleben aus: »To see the presence of the Alexis Song in a book which was Christina's Psalter merely as an accidental occurrence seems no longer possible. To the medieval mind all events experienced or witnessed in one's own life had their préfigurations on the lives of the biblical personages or in those of the saints [. . .] and the problem in an individual case was only to find the right préfiguration. N o story can have impressed Christina's contemporaries as a more perfect metaphor of her tribulations than the legend of Alexis, the homo Dei. To use such a simile was a legitimate way to commemorate a contemporary event and thus there are strong reasons for taking the Alexis Song, incorporated as it is in a book used by Christina in her daily devotions, as a symbolical memento of the owner's personal story.« Ein Beispiel für den möglichen Zusammenhang von Patrozinium und Legendendichtung findet sich zwar mit Wahrscheinlichkeit gerade in England. In Whitby wurde Papst Gregor dem Großen ein Altar geweiht und wohl deshalb dort die Vita Gregorii geschrieben. Vgl. dazu Marie Schütt, Vom heiligen Antonius zum heiligen Guthlac. Ein Beitrag zur Geschichte der Biographie, in: Antike und Abendland, Band V (1956) 84. Schon die Tatsache allein, daß die Abschrift und eventuelle Bearbeitung für eine Frau geschrieben wurde, ist ein bemerkenswerter Zug, der seine Parallelen hat 5°

eremitischen Milieu des beginnenden 12. Jahrhunderts entstammende und in irgendeiner benediktinisch-klösterlichen

Umwelt benutzte und

verwahrte

hagiographische Dichtung charakterisiert; sie ist damit in ihrer Bestimmung näher festgelegt. Und z w a r wird sie in doppelter Weise, einmal in ihrem paraliturgischen Gebrauch, worauf ebenfalls das in der Handschrift L erhaltene V o r w o r t hinweist 1 3 5 , dann aber auch in bezug auf ihr vorerst begrenztes

135

und zum kultur- und geistesgeschichtlichen Bild des 12. Jahrhunderts als >novura< gehört. Vgl. dazu Herbert Grundmann, Die Frauen und die Literatur im Mittelalter. Ein Beitrag zur Frage der Entstehung des Schrifttums in der Volkssprache, A K X X V I (1936), S. 149 Anm. 66, w o die Liste der Frauen gewidmeten deutschen Literatur ergänzt wird: »Da ich mich auf Zeugnisse aus dem deutschen Schrifttum beschränkt habe, sei hier kurz auf einige entsprechende Belege aus der französischen Literatur hingewiesen: die >Wunderfahrten des hl. Brendan< sowie das Tier- und Steinbuch Philipps von Thaon sind für Adelheid von Löwen geschrieben, die 1 1 2 1 Heinrich I. von England heiratete; Geoiffroi Gaimar hat um 1 1 5 0 die >Estoire des EnglesRoman de Brut< ( 1 1 55) und Benoît de S. More seinen >Roman de Troie< ( 1 1 6 5 ) der berühmten Eleonore, damals Königin von England, vorher Königin von Frankreich, gewidmet; deren Tochter, die Gräfin Marie de Champagne, wird von Chrestien de Troyes im >Lancelot< gefeiert, weil er ihr >matiere et sanEracles< neben Graf Balduin von Hennegau auch dessen Gemahlin Marie nennt und seinen anderen Roman >Ille und Galeron< für Beatrix von Burgund, die Gattin Barbarossas, dichtet; vor 1 1 6 7 schreibt Marie de France ihre Lais, um 1 1 8 5 das >Espurgatoire de S. Patrices - bald darauf schreibt Gautier von Coinci für die adligen Nonnen von Soissons seine Mariendichtungen usw. Die beherrschende Bedeutung der Frau für die Entfaltung des französischen Schrifttums tritt schon in diesen wenigen bekannten Tatsachen hervor, wird sich aber bei eingehender Untersuchung wahrscheinlich vielfältig bestätigen.« Auch Reto R . Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en Occident (¡00-1200), Deuxième partie, Tome I I , besonders S. 427fr., auch Troisième partie, Tome I I , Paris 1963, ( = B E H E , 320), S. 254$. vor allem, sowie auch anderwärts passim in seinem fünfbändigen Monumentalwerk, macht auf die wichtige Rolle der Frau bei der Herausbildung einer volkssprachlichen höfischen Literatur aufmerksam. Mary Dominica Legge, Anglo-Norman Literature and its Background, S. 369, weist lediglich auf den starken Anteil dichtender Frauen an der anglo-normannischen Literatur des 12. Jahrhunderts hin. Auf paraliturgische Verwendung des Alexiusliedes weist schon Gaston Paris, La Vie de saint Alexis. Poème du XIe siècle et renouvellements des XIIe, XIIIe et XIVe siècles, S. 177, hin. Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, L'hagiographie et son public au XIe siècle, S. i J 7 , bestätigt die Ansicht Edmond Faral's - und präzisiert damit die Angabe Gaston Paris' —, wonach die Alexiusdichtung, klerikalen Ursprungs, in der Kirche verlesen wurde. Madeleine Tyssens, Le prologue de la Vie de saint Alexis, dans le manuscrit de Hildesheim, in: Studi in onore di Italo Siciliano, Firenze 1966 ( = B A R , Vol. 86), S. 1168, bemerkt zum Prolog und dessen Aussagekraft zur Erschließung der genaueren Bestimmung der altfranzösischen Alexiusdichtung: » [ . . . ] II [der Prolog] est important en ce qu'il montre bien la destination du poème; il me Ji

Publikum, die religiöse Gemeinschaft der Nonnen von Markyate 1 3 6 , gekennzeichnet. Die Vorliebe der Frauen für das Alexiusleben ist übrigens auch in der späteren Geschichte der Legende verbürgt 1 8 7 . Die Lebensgeschichte des heiligen Alexius, wie sie in der Fassung der H a n d schrift L vielleicht zum ersten Male auf einen Frauenkonvent zugerichtet er-

,M

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semble du moins que la phrase »del quel nos avons odit lire e chanter« indique que cette >amiable diançon< se disait à l'Eglise, le jour de la fête du Saint, après que l'office latin était terminé. Le poème prend ainsi un caractère, sinon liturgique, au moins ecclésiastique.« Auch Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, L'hagiographie et son public au XIe siècle, S. 147, gesteht kürzeren, hieratischen Heiligenviten die Verwendung in der Kirche, vor allem nach der Matutin, zu. Willibrord Lampen OFM, Mittelalterliche Heiligenleben und die lateinische Philologie des Mittelalters, in: Liber floridus. Mittellateinische Studien. Paul Lehmann zum 6j. Geburtstag, Herausgegeben von Bernhard Bisdioff und Suso Brechter, St. Ottilien 1950, S. 122, vermerkt für die Vita des heiligen Willibrord, daß die metrische Vita als Übung in der Prosodie, die Prosavita aber zur Vorlesung in der Matutin geschrieben wurde. Auf ein Nonnenpublikum schloß bereits Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954), S. 302ff., aus textinternen Gründen; Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Deus Pater ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 90, stützt dieses Ergebnis. Madeleine Tyssens, Le prologue de la Vie de saint Alexis dans le manuscrit de Hildesheim, S. 1 1 7 1 , sammelt alle Argumente, die sidi aus dem Text des altfranzösischen Alexiusliedes wie aus dessen Prolog herauslesen lassen und die bestätigen, daß die volkssprachliche Heiligenvita für einen klösterlichen Frauenkonvent bestimmt gewesen sein muß. Nach D'Arco Silvio Avalle, Alle origini della letteratura francese. I Giuramenti di Strasburgo e la Sequenza di Santa Eulalia, Torino 1966, S. 157, wurde die Eulalia-Sequenz ebenfalls f ü r ein Frauenkloster gedichtet. A. T. Baker, Saint's Lives Written in Anglo-French: Their Historical, Social and Literary Importance, in: Essays by Divers Hands, Royal Society of Literature of the United Kingdom, N e w Sériés, Vol. I V (1924), S. 121, nimmt für die volkssprachlichen Viten generell ein Nonnenpublikum an. Dazu vgl. Gerhard Eis, Beiträge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik. Untersuchungen und Texte, Berlin 193J ( = GS, Heft 161), S. 154-55, s a g t ¡ n Zusammenhang mit dem von ihm edierten mittelhochdeutschen Alexiusgedicht: »Zutreffend ist Sdiönbachs weitere Feststellung, daß weder die Anfangsverse noch das ganze Gedicht eine Spur aufweisen, daß es von einer Frau abgefaßt ist; aber es muß bedacht werden, daß der ganze Stoff danach angetan ist, Frauen besonders anzuziehen. Und tatsächlich ist die Vorliebe der mittelalterlichen Frauen für diese Legende erweislich. So stammt eine der wenigen Hss., die Konrads Alexius überliefern, aus dem Frauenkloster St. Andreas (1478 geschrieben). Neben der Tatsache, daß die Hs. G unserer Legende A aus Frauenkreisen stammt, besteht jedoch weiters auch noch die begründete Vermutung, daß auch die Prager Hs., was Schönbach ganz entgangen ist, gleichfalls aus Frauenbesitze stammt, nämlich aus dem Egerer Klarissinnenkloster [ . . . ] . D a wir demnach beide Hss. unserer Alexiuslegende dem Interesse von Frauen verdanken, scheint mir die am Schlüsse von G erhaltene Nachricht, daß das Werk von einer Frau gedichtet wurde, durchaus nicht unannehmbar. Die Dichterin wäre dann in den höchsten Kreisen des Landes zu suchen. Sie könnte am H o f e König Wenzels I I . gewirkt haben.«

52

zählt w i r d 1 3 8 , konnte gewiß nicht nur Christina v o n M a r k y a t e , sondern audi alle ihre Gefährtinnen erbauen 1 3 9 , bevor sie, der Liturgie ganz entbunden, sich in der Öffentlichkeit an ein weites Laienpublikum w a n d t e 1 4 0 . § 74. V o n Christina von M a r k y a t e und dem Eremiten R o g e r ausgehend, welcher als Schreiber oder gar Verfasser der Cangun

de saint Alexis

(L) nicht

auszuschließen ist und sogar immer noch vermutet werden d a r f , w a r es doch sicherer, bei den unanzweifelbaren Gegebenheiten zu verweilen: bei der E m p f ä n g e r i n der altfranzösischen Alexiusdichtung und ihren klösterlichen Mitschwestern. D a aber Christinas Eremitenleben keine spurlos vorübergehende Episode gewesen und der nach der vollkommenen v i t a solitaria strebende ehemalige Mönch von St. Albans, Roger, mindestens als Mentor der Reklusin Christina seinen Einfluß auf das Alexiuslied geltend machen konnte, ist es erlaubt, nicht nur nach den Elementen des Alexiusliedes zu fragen, die auf die Fraulichkeit der Destinatärin und ihres Lebenskreises ausgerichtet sind, sondern auch nach denjenigen, welche ihrer eremitischen Neigung und Formung entgegenzukommen imstande w a r e n . Unter diesem A s p e k t sollte sich eine neue, ergänzende Verständnismöglichkeit des altfranzösischen A l e xiusliedes ergeben, eine, die vielleicht der damaligen A u f f a s s u n g und betrachtenden Interpretation nahe kommen kann.

138

Heinrich Lausberg, Zum alt französischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954), S. 302ff., weist nach, daß im Alexiuslied L der Legendenstoff mit Sorgfalt auf ein Frauenpublikum eigens abgestimmt wurde. Matthias Waltz, Rolandslied — Wilhelmslied - Alexiuslied, S. 187, referiert Lausbergs Ansicht, zweifelt jedoch an deren Stichhaltigkeit. Auch Rudolf Baehr, Das Alexiuslied als Vortragsdichtung, S. 183 Anm. 45, meint - mit zweifelhafter Argumentation - , das altfranzösische Alexiuslied könne wegen seiner an die chanson de geste angenäherten Form nicht für ein Kloster oder Doppelkloster niedergeschrieben worden sein. 139 Vgl dazu Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954), S. 305 und 309 besonders. 140 Zum Ausbruch aus dem Raum der Kirche vgl. Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, L'hagiographie et son public au XIe siecle, S. 156; auch Manfred Sprissler, Das rhythmische Gedicht >Pater Deus ingenite< (11. Jh.) und das altfranzösische Alexiuslied, S. 91. 53

III. MOTIVIK

DER

VITA

SOLITARIA

i . Peregrinatio und freiwilliges E x i l § 7 5 . D e r nur in der Handschrift L vorhandene, vorausblickend die V i t a resümierende P r o l o g 1 4 1 verspricht eine »amiable cançun e spiritel raisun«. Doch k a u m jedermann kann die E r z ä h l u n g des harten, asketischen Lebenslaufes, wie ihn das altfranzösische Alexiuslied bietet, als angenehme und liebenswürdige Geschichte empfinden und kennzeichnen. D a r u m spezifiziert der Schreiber abschließend in der Vorrede das v o n ihm intendierte P u b l i k u m : Icesta istorie est amiable grace e suverain[e] consulaciun a cascun memorie spiritel, les quels vivent purement sulunc castethét, e dignement sei delitent es goies del ciel ed es noces virginels 142 . Wer wie der besungene Heilige ehelos lebt, um schon jetzt, quasi die E w i g k e i t vorwegnehmend, die himmlischen Freuden zu kosten, Mönche und Nonnen also - an erster Stelle die Frauengemeinschaft von M a r k y a t e - , der freilich vermag aus dem an geduldig durchstandenen Prüfungen reichen Alexiusleben Trost in den eigenen Bewährungsproben zu schöpfen. G e r a d e die maximale Steigerung und Zuspitzung des Themas von der eines Gelübdes wegen bewahrten Keuschheit ist seiner speziell gearteten Erbaulichkeit wegen auf regel- und gelübdegebundene Mönche und N o n n e n abgestimmt und ausgerichtet 1 4 3 . Doch bildet die gelobte B e w a h r u n g der virginitas, wie sie in dem 141

142

143

Vgl. La Vie de Saint Alexis: Texte du Manuscrit de Hildesheim (L), Publié par Christopher Storey, S. 9 1 : »C'est seulement dans le ms. L que ce prologue en prose précède le poème. Il est vraisemblablement l'œuvre d'un copiste.« Otto Pacht, The St. Albans Psalter, S. 137, hingegen führt dezidiert und genauer aus: >Of all extant copies of the Alexis >chanson< that in the St. Albans Psalter is the only one in which the poem is preceded by a short prologue epitomizing its content and proclaiming the glorification of the chaste life as its principal theme. This preamble is commonly considered to be the work of the scribe who wrote the song down and illustrated it, in short it is credited to the scribe-illuminator whom we call the Alexis Master.« La Vie de Saint Alexis. Texte du Manuscrit de Hildesheim (L), Publié par Christopher Storey, S. 91. Der altfranzösische Text des Alexiusliedes wird im folgenden jeweils nadi dieser Ausgabe zitiert. Am klarsten stellt Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I V (1957/58), S. 154-55, § 22, diesen Zug des altfranzösisdien Alexiuslebens heraus, indem er ausführt: » [ . . . ] Der kumulierte Alexius ist ein paradoxutopisch-pathetisches Beispiel für die Befolgung der evangelischen Räte der Mönche. Der Grund der Flucht (12e se or ne men fui) ist die Furcht (12e mult criem) vor dem Bruch des Gelübdes des gänzlichen, d. h. ehelosen Dienstes Gottes [ . . . ] . Es ist die Aufforderung an die Mönche, sich dem weltlichen >amor< zu entziehen [ . . . ] . [ . . . ] Das Zurückschrecken des Alexius vor der Frau ist hagiographisdiaskesegeschichtlich ganz normal-traditionell. Um scharfe Töne gegen die Ehe — eben im Zusammenhang mit dem Rat der gottgeweihten Ehelosigkeit - zu hören,

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im Alexiuslied rapportierten Gespräch in der Hochzeitsnacht zum Ausdruck kommt, nur eine Seite der Suche nach der »parfit'amor« (Str. 1 4 , 68); die andere besteht in der Flucht 1 4 4 . § 76. D i e Flucht des Alexius stellt sich im L a u f e seiner Lebensgeschichte nicht als situationsbedingte, durch äußere Umstände erzwungene Notlösung, sondern als ein - w o h l mit seinem Gelübde der Enthaltsamkeit verbundener Entschluß zur selbstgewählten, asketischen peregrinado und damit zum f r e i willigen E x i l dar 1 4 5 . Sicher flieht Alexius vorerst ganz einfach die nächste G e legenheit zur Sünde 1 4 6 : >E! Deus!< dist il, >cum fort pecét m'apresset! S'or ne m'en fui, mult criem que ne t'em perdeperegrinatio trans mare< besteigenden Alexius als die beiden Hauptmomente des selben Abschieds dar 1 4 9 . § 7 7 . Bereits zur Zeit, da sich die syrische Legende vom homo Dei - er wurde später als Alexius aus seiner Anonymität gehoben - gegen die Mitte des 5. Jahrhunderts bildete, gab es im Abendland freiwillig exilierte Asketen 1 5 0 . Rutilius Namatianus beschreibt in seinem Gedicht De reditu

suo einen dies-

bezüglichen Doppelgänger des Alexius: Adsurgit ponti medio circumflua Gorgon Inter Pisanum Cyrnaicumque latus. Aversor scopulos, damni monumenta recentis: Perditus hic vivo funero civis erat. Noster enim nuper juvenis majoribus amplis, Nec censu inferior, conjugiove minor, Impulsus furiis, homines terrasque reliquit, Et turpem latebram credulus exul adit. Infelix putat illuvie coelestia pasci, Seque premit l«esis sarvior ipse deis 1 5 1 . 148 149

150

151

Str. 15, 74-75. Die Miniatur des Albanspsalters zum Alexiuslied ist reproduziert bei Otto Pacht, The St. Albans Psalter, Abbildung 35. Hans Frhr. von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, S. 1 1 - 1 2 , macht darauf aufmerksam, daß das im orientalischen Mönchtum mit Xeniteia bezeichnete Ideal lateinisch mit peregrinatio bezeichnet wurde, warnt jedoch ebda. S. 8 davor, den Begriff im Sinne des syrischen Wanderideals zu deuten: »Denn der Nachdruck fällt nicht etwa auf den Gedanken des Wanderns und Reisens als solchen, sondern wie schon die rein sprachliche Bedeutung des Ausdrucks nahelegt, auf das in der Fremde, als ein Fremdling (Çévoç) leben und sein, also das Auswandern.« Vgl. auch Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, Etudes critiques d'hagiographie et d'iconologie, S. 33 Anm. 1 besonders, w o ebenfalls festgestellt wird, daß mit Xeniteia nicht ein Wanderideal, vielmehr der Stand des Fremdseins und Fremdlingseins gemeint sei. Zur selben Begriffsbestimmung vgl. auch Weisung der Väter. Apophthegmata patrum, auch Gerontikon oder Alphaheticum genannt, eingeleitet und übersetzt von Bonifaz Miller, Freiburg i. Br. 1965 ( = Sophia, Band 6), S. 476. Referenzen bei Arthur Amiaud, La Légende Syriaque de Saint Alexis l'Homme de Dieu, Paris 1889, S. L X X V I I Anm. 1 , wo das Zitat wie folgt eingeleitet und gerechtfertigt wird: »Les anachorètes ne manquaient point alors [Mitte 5. Jahrhundert] à l'Occident. C'est précisément au temps d'Alexis que Rutilius Namatianus, revenant de Rome en Gaule et passant devant l'île Gorgona, écrivait ces vers connus sur un solitaire dont le portrait ressemble fort à notre saint [. . .].«

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Alexius, der an verschiedenen Stellen der Canqun

de saint Alexis

ein >alter

Christus< ist 152 , steht mit seinem brüsken Auszug in der Imitatio Christi, da Christus »um unsertwillen ein Fremdling wurde« 1 5 3 . Die auf die heilige Radegundis angewandte Formel trifft auch auf Alexius zu: Elegit exul fieri, ne peregrinaretur a Christo 1 5 4 . § 7 8 . Der Heilige spricht während seines Abschiedsgesprächs im Brautgemach u. a.: A n icesft] secle nen at parfit' amor (Str. 14, 68). So flieht er wohl »pro gratia: et caritatis augmento« 1 5 5 in ein ihm vollkommen fremdes Land und in letzter Konsequenz in die Unkenntlichkeit, in ein nicht mehr aufzuhebendes Inkognito 1 5 6 . In negativem Aspekt ist die asketische peregrinatio eine überlegte Flucht vor 152

Zu Alexius als >alter Christus< vgl. Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954/îy), S. 303, w o Alexius aus dem Blickfeld der Braut beschrieben wird. Zur Angleidiung des Lebensalters des Alexius an dasjenige Christi (34 Jahre nach L und P, 33 nadi A ) vgl. Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 184 Anm. i ; auch Fritz Tschirch, j j / ¡ 4 als Symbolzahlen Christi in Lehen, Literatur und Kunst des Mittelalters, in: Spiegelungen. Untersuchungen vom Grenzrain zwischen Germanistik und Theologie, Berlin 1966, besonders S. 176-77, und ders., Literarische Bauhüttengeheimnisse. Vom symbolbestimmten Umfang mittelalterlicher Dichtungen, ebda. S. 2 1 5 . Margarete Rösler, Die Fassungen der Alexius-Legende mit besonderer Berücksichtigung der mittelenglischen Versionen, Wien und Leipzig 1905 (= WBeP, X X I . Band), S. 7, vermutet, der Sterbetag des Heiligen sei in verschiedenen Versionen wohl absichtlich auf denjenigen Christi verlegt worden (statt: in Parasceve). 153 Zitiert nach Hans Frhr. von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, S. 4. 154 Dom Jean Leclercq, Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, RQ LV (i960), S. 2 1 7 , zitiert die auf Radegundis bezogene Wendung mit dem Hinweis auf ihre Möglichkeit der Verallgemeinerung. 155 Hans Frhr. von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, S. 1 1 - 1 2 , bringt diese Textstelle, mit welcher Paulinus von Nola (gestorben 4 3 1 ) seinen Freund zur freiwilligen Heimatlosigkeit aufmuntert, bei. Noch ein heutiger Mönch schreibt über das Einsiedlerleben, worauf die freiwillige peregrinatio immer bezogen ist und welches den Zurückgebliebenen unweigerlich als Flucht erscheint: »La vie érémitique ne s'explique que par le besoin d'aparté d'un grand amour« (Un moine, L'Ermitage. Spiritualité du Désert, Genève 1969). Auch Johannes Climacus (gestorben um 640) widmet das 3. Kapitel seiner Scala Paradisi der peregrinatio und empfiehlt sie; der Wille zur Rückkehr darf beim Auszug nicht vorhanden sein (vgl. S. Giovanni Climaco, La Scala del paradiso, A cura di D. B. Ignesti, Siena 195 5, Erster Band, S. J9ÎÏ.). 15 * Zum Nichterkanntwerden des Alexius durch die ausgesandten Diener vgl. Erwin Bernhard, Les pinceaux des trouvères. Essai sur la technique descriptive des épopées et des romans français du XIIe siècle (Diss. Zürich, Teildruck), Bologna 1962, S. 23-25. Zum tieferen Sinn des Inkognito innerhalb des Alexiusliedes vgl. Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954/55), S. 304, § 55; ausführlicher ders., Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I V (1957/58). S. 157-58, § 2457

jeglichen menschlichen Bindungen und ihrem Beziehungsspiel, eine Flucht vor der Verkettung mit weltlich-irdischen Gütern und

Verantwortlichkeiten,

überhaupt eine Loslösung aus dem gewohnten, überkommenen sozialen K o n text 1 5 7 . Abgesehen von den wenigen Abschiedsworten des Heiligen im Brautgemach kommt dieser asketische, auf den Ausbruch aus den intersubjektiven Verhältnissen ausgerichtete Sinn der peregrinatio im Alexiuslied expressis verbis nicht weiter zum Ausdruck. U m so eindringlicher spiegelt er sich in den Klagereden und der Gestik der Zurückgelassenen - die trotz ihrer Frömmigkeit und ihrem Edelmut die zu fliehende Welt vertreten 1 5 8 - und im ganzen weiteren Verhalten des Heiligen selbst 159 .

157 Yg[ d a z u Hans Frhr. von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, S. 30: »Die asketische Heimatlosigkeit ist mehr als eine rein zufällige Erscheinung, die einmal auftritt und wieder verschwindet, eine willkürlich herausgegriffene Kuriosität aus dem unermeßlichen Repertoire mönchisch-religiöser Selbstkasteiung, sondern sie spiegelt letzten Endes ein religionspsychologisches Gesetz wider, das zu allen Zeiten gilt. Sie ist der krasseste Ausdruck für die schmerzliche und gewaltsame Lösung aus dem gewohnten und heimisch überkommenen Leben, die jedermann durchmachen muß, dem Gott wie den alten Mönchen zum wirklich persönlichen Erlebnis wird, so daß die dumpfe innere Bindung an Haus und Heimat als an das bloß Ererbte und Eigene und darum Geliebte zerreißt.« Dom Jean Leclercq, Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 225, bemerkt zusammenfassend ebenfalls: »So war die peregrinatio für alle das Mittel zur Verwirklichung der totalen Loslösung, die in der Logik des monastischen Lebens liegt: eschatologische Loslösung, soziale Loslösung, physische Loslösung.« Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. und 13. Jahrhunderts, (Diss.) Bonn 1968, S. i i j ß . , betont gleicherweise, daß zum Vollzug der Xeniteia die Aufgabe von Land und Familie sowie die endgültige Trennung von Reichtum und Besitz gehöre. 159 Schon Josef Bédier & Paul Hazard, Histoire de la littérature française illustrée, Tome premier, Paris 1923, S. 5, betonen, daß sich die Gestalt des Alexius nidit von einer schlechten, sondern von einer >normaIen< edlen Welt abhebt, wenn sie sagen: »Le contraste entre l'inflexible ascétisme du héros et les sentiments nobles, mais imprégnés d'humaine faiblesse, de sa femme et de ses parents, y [im Alexiuslied] est marqué avec une poignante vigueur.« Eine Analyse der menschlichen Umwelt, aus der der Heilige flieht, findet sich auch bei Ernst Robert Curtius, Zur Interpretation des Alexiusliedes, Z r P L V I (1936), S. 1 1 8 - 2 0 . Ganz verfehlt ist die Kritik an des Alexius Eltern wie sie Elise Richter/Helene Adolf/Emil Winkler, Studien zum altfranzösischen Alexiusliede, ZfSL LVII (1933), S. 80-95, üben. Vgl. die richtigstellenden Ausführungen von Matthias Waltz, Rolandslied - Wilhelmslied — Alexiuslied, S. 183 besonders; und von Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, in den entsprechenden Abschnitten. 159 Auf die prinzipielle Abhebung des Heiligen im altfranzösischen Alexiuslied von der ihn umgebenden Welt macht vor allem Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern z i 9 J 9 , S. 109fr. aufmerksam; seine Ausführungen werden dort, wo sie mißverständlich oder einseitig sind, von Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 20, richtiggestellt; vgl. auch das Alexius-Kapitel von Matthias Waltz, Rolandslied - Wilhelmslied - Alexiuslied, besonders S. i 8 i f f .

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§ 79- I m A u f b r u c h des Heiligen g e r a d e in dem Augenblick, d a sich sein irdisch innerweltliches Glück zu erfüllen scheint, konzentriert sich die Bedeutung und die erbauliche T e n d e n z des ganzen Alexiusliedes; der f ü r den H e i l i g e n mühelose, eigentlich selbstverständliche Entschluß z u m asketischen E x i l hebt die legendarische H a u p t f i g u r scharf v o n ihrer U m w e l t a b und charakterisiert sie als den s u p r a h u m a n e n Protagonisten, den die hagiographische Lebensbeschreibung v e r l a n g t 1 6 0 . D i e diskussions- und k a m p f l o s unternommene asketische peregrinatio weist den Heiligen bereits überdeutlich als solchen a u s : er ist der v o l l k o m m e n e , unanfechtbare, in seiner H e i l i g k e i t u n w a n d e l b a r e LegendenP r o t a g o n i s t 1 6 1 , u m den sich die Nebenfiguren, auf ihn verweisend, zur V e r deutlichung scharen 1 6 2 . D e r in die Hochzeitsnacht verlegte A u s z u g läßt durch seine Erhabenheit und R a d i k a l i t ä t alles andere äußere Geschehen, sogar die nachfolgend anhebenden vehementen K l a g e n der verlassenen Angehörigen, v e r b l a s s e n 1 6 3 ; er w i r d zur umfassenden, allein gültigen Wirklichkeit, durch die 1,0

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1.2

1.3

Zur Charakterisierung des Legendenhelden vgl. u. a. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. i^ß. Zur Mühelosigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Alexius das Heiligsein gelingt, vgl. Matthias Waltz, Rolandslied — Wilhelmslied - Alexiuslied, S. 177: » [ . . . ] sowohl innerlich: er ist vom ersten Augenblick an Heiliger, er zögert nie, schwankt nie, verzweifelt nie, wie auch äußerlich: denn das, was man als Schwierigkeiten ansehen könnte, die >PrüfungenSanctus< bezogen.« Schon Philipp August Becker, Grundriß der altfranzösischen Literatur, I.Teil: Älteste Denkmäler, nationale Heldendichtung, S. I J , bezeichnet die Nebenfiguren im Alexiuslied »als Folie zum irdischen Verzicht um des Seelenheiles willen«, erkennt jedoch deren eigene Sdiematik noch nicht. Zur Abschwächung der innerweltlichen Wirklichkeit und der säkularen Belange im Alexiuslied vgl. Erich Auerbach, Mimesis, besonders S. 109-10 und 1 1 3 . Die regulierenden Bemerkungen von Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 20, ist jedoch unbedingt beizufügen: »Auerbach sieht hier den stilgeschichtlichen Wandel primär als ein Schwinden des gegenständlich oder psychologisch Wirklichen. Er untersucht nicht die Emotionen, die vom Autor bzw. Publikum aus in besonderen Formen an die Tradition herangetragen werden können, und übersieht deshalb, daß die mittelalterliche Legende nicht nur >Verengung< der Wirklichkeit und ein Beispiel für den »Erstarrungs- und Reduktionsprozeß der Spätantike« ist, sondern zugleich ein Auffüllen mit religiösen Substanzen und eine (besonders im Hochmittelalter hervortretende) Verdichtung auf fromme Andachtsgefühle hin.« Zur dichterischen Leistung, die die Klagereden darstellen, vgl. J.-M. Meunier, La Vie de Saint Alexis, S. 1 1 , der die Originalität und Kunst in der Einführung und Behandlung der Klagereden am meisten bewundert (Str. 78-84, Vater; Str. 86-93, Mutter; Str. 94-99, Braut). 59

die faktische Wirklichkeit, welche die Nebenpersonen vertreten, ins f ü r sich allein Nichtssagende und Bedeutungslose verfällt 1 6 4 . § 80. D e r Alexiusdichter bleibt jedoch nicht bei dem global Überwältigenden des Aufbruchs zur peregrinatio stehen. E r verbindet die asketische Ausheimatung des Heiligen mit weiteren hagiographisch-geistlichen Themen, die freilich mit der peregrinatio von jeher verbunden waren oder ihr sogar inhärent sind. S o versteht sich beim alleinigen Auszug des A l e x i u s 1 6 5 die Einsamkeit beinahe von selbst, und die späteren Strophen des Alexiusliedes bestätigen durchwegs, daß der Heilige seit seiner Flucht als Eremit lebt 1 6 6 ; frei von menschlichsozialen Bindungen und Verpflichtungen obliegt er einzig asketischen Ü b u n gen und dem Gebet, w a s in der klischeehaften Formel: de Deu servir ne cesset (Str. 1 7 , 85) summarisch, aber unmißverständlich zusammengefaßt ist. Alexius zeigt sich auch im Besitze der oft mittels der peregrinatio gesuchten und dem Eremitenleben unbedingt zugehörigen Apatheia, einer heiligmäßigen innerlichen Ruhe und Fiihllosigkeit 1 6 7 . 164

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Dazu bemerkt Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 26, treffend: »Grundsätzlich aber ergibt sich aus der erbaulichen Gruppierung der Nebenfiguren und der Konzentration auf den Vorgang der Heiligung — oder häufiger den Zustand des Heiligseins - eine Versammlung und E n t w e r t u n g d e s ä u ß e r e n G e s c h e h e n s . « Damit wird der von Erich Auerbach, Mimesis, S. IO9ÍF., gemachten Beobachtung doch ihr eingeschränktes Recht eingeräumt. Daß Alexius ganz allein auszog, ist zu jener Zeit nicht selbstverständlich; vgl. die Ausführungen von Edmond-René Labande, Eléments d'une enquête sur les conditions de déplacement du pèlerin aux Xe-XIe siècles, in: Pelegrinaggi e culto dei santi in Europa fino alla Ia crociata, Todi 1963 ( = Convegni del Centro di studi sulla spiritualità medievale, I V ) , S. 1 0 7 - 8 : »Mais si l'homme de ce temps est habituellement d'esprit grégaire et préfère marcher en groupe, il y a aussi - et c'est celui dont nous entretiennent volontiers les textes hagiographiques, l'âme d'élite, le mystique, ou tout simplement l'homme au tempérament érémitique, qui espérait trouver dans la solitude monotone de longues journées le climat propice à son ascension intérieure.« Ober die Schwierigkeiten des Alleinganges zu jener Zeit vgl. ebda. S. 106—7. Ebda. S. 108 wird das Beispiel des heiligen Aleaume vermerkt, der mit einem Diener auf die peregrinatio flüchtete, bald aber mit ihm die Kleider tauschte, um allein nach R o m zu kommen. Zu der der peregrinatio inhärenten eremitischen Tendenz vgl. Hans Frhr. von Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, S. 1 8 - 1 9 ; und D o m Jean Leclercq, Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 2 1 7 - 1 8 . Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt des Heiligen in mittelhochdeutschen Legendenepen des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 190, betont in der Besprechung der Alexiuslegende Konrads von Würzburg, der Heilige habe sich f ü r das Eremitentum entschieden. Chrétien de Troyes, Guillaume d'Angleterre. Roman du XIIe siècle, Edité par Maurice Wilmotte, Paris 1927 ( = C F M A , 55), S. 8, v v . 2 j 2 f f . läßt Guillaume, im Unterschied zu Alexius, die Gattin mit auf die freiwillige Pilgerschaft und ins E x i l nehmen. Vgl. dazu Dom J e a n Leclercq, Otia monastica. Etudes sur le vocabulaire mona60

§ 8 i . Mit der asketischen Pilgerschaft des heiligen Alexius ergibt sich nicht allein die eremitische Lebensweise und -haltung des Protagonisten.

Das

Thema der freiwilligen asketischen Armut steht, mindestens verbal, ebenso im Vordergrund. Die Pilgerschaft ist schon dadurch eine Form der Armut, daß man während der Zeit ihrer Dauer alles Bequeme und Angenehme entbehren muß 168 . Alexius aber trifft darüber hinaus eigens Maßnahmen, welche ihm den Stand der Armut garantieren. Im altfranzösischen Alexiuslied wird somit der Bezug der peregrinatio zur Armut mit Insistenz und großer Sorgfalt dargestellt 169 und sogar szenisch bis in Einzelheiten ausgeführt: vorerst verläßt der Heilige das Vaterhaus und damit den ihm als dem einzigen Erben zustehenden Besitz; was er an beweglichem Gut auf die Flucht mitnimmt, verbraucht er zur Bezahlung des Fahrgelds beim Einstieg ins Schiff, den Rest teilt er in Edessa unter die Armen aus, um sich darnach selbst als armer Almosenempfänger unter sie zu setzen. Tut sun aver qu'od sei en ad portét Tut le départ par Alsis la citét; Larges almosnes, que gens ne l'en remest, Dunet as povres, u qu'il les pout trover: Pur nul aver ne volt estra ancumbret. Quant sun aver lur ad tot départit, Entra les povres se sist danz Alexis; Reçut l'almosne, quant Deus la Ii tramist; Tant an retint dunt ses cors puet guarir; Se lui'n remaint, sil rent as poverins 170 . stique du moyen âge, Rom 1961 ( = SA, 48), S. 66: » [ . . . ] Cette solitude favorable à la quiétude peut se trouver aussi grâce à la >peregrinatioalter Christus< erscheinen, der den Beleidigern großmütig vergibt. Durch das Zitat von biblischen, auf Christus bezogenen Worten wird Alexius als Erfüllung des durch Christus aufgestellten Typos gekennzeichnet: Tuz l'escarnissent, sil tenent pur bricun; L'egua li getent, si moilent sun liçon; N e s'en corucet giens cil saintismes hom, Ainz priet Deu quet il le lur parduinst Par sa mercit, quer ne sevent que funt 1 7 7 . Das typologische Bezugsschema eröffnet den tiefsten Sinn der im Alexiuslied übermittelten Lebensgeschichte 178 . 174

Auf den durchgehend figuralen Charakter der Alexiusgestalt macht bereits Erich Auerbach, Mimesis, S. 1 1 3 , aufmerksam. 175 Erich Auerbach, Mimesis, S. 1 1 2 , charakterisiert das Alexiuslied aufgrund des Vorwiegens der szenischen Darstellungsweise folgendermaßen: » [ . . . ] das Alexiuslied ist eine Reihe von in sich geschlossenen, miteinander locker verbundenen Vorgängen, eine Serie von gegeneinander stark unabhängigen Bildern aus einem Heiligenleben, deren jedes eine ausdrucksvolle und dabei einfache Geste enthält.« Str. 53, 261-65. 177 Str. 54, 266-70. 178 Vg] dazu vor allem die Studien von Heinrich Lausberg, Zum altfranzösischen Alexiuslied, AnS C X C I (1954/y 5) und C X C I V (1957/58) passim. Zur Befragung der hagiographischen Viten nach den von ihnen illustrierten Idealen, wozu selbstverständlich die Christusnachfolge und -analogie des Heiligen gehört, vgl. Dom Jean Leclercq, Monacbisme et pérégrination du IXe au XIIe siècle, besonders S. 3 5. Franz-Wilhelm Servaes, Joseph Bripius, De laudibus sancti Alexii, S. 26 und 34, macht auf die typologische Beziehung Alexius/Christus wie auch Alexius/Hiob aufmerksam. Zur Askese des Alexius als Nachfolger Christi vgl. auch Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 78ff.

63

§ 84. Die Vollkommenheit und Gründlichkeit der von Alexius erworbenen und gelebten humilitas zeigt sich im Anlaß, der die zweite Schiffahrt herbeiführte, und dann, noch deutlicher, in der sofortigen Bereitschaft, dasselbe einsame, von allen irdischen Bindungen freie Leben nach dem unvorhergesehenen Verschlagenwerden nach Rom 1 7 9 am Rande der Hausgemeinschaft seiner einst geflohenen Angehörigen fortzusetzen. Die Flucht aus Edessa basiert auf dem weit verbreiteten hagiographischen Topos, wonach der Heilige sogar vom Himmel kommende Zeichen der Auserwählung, des göttlichen Wohlgefallens und der Ehrung flieht - im Alexiuslied ist es das wunderbare Mirakel des sprechenden Bildes - , um der Verehrung des herbeiströmenden Volkes zu entkommen: Quant il 50 veit quel volent onurer: >Certesn'ai mais ad ester, D'icest' honur nem revoil ancumbrer desperat - désoler, ruiner, mettre en deuil; während M. Mussafia (Referenz ibid.) meint, >despeiret< sei mit >dépare< zu übersetzen. Str. 28, 136-40. In der nun eben erst edierten Alexius vi ta des 13. Jahrhunderts gleicht das verwüstete Zimmer ausrücklich einer Einöde, dem Wohnort eines Eremiten: Tote la despolh[i]erent [la cambre] comme liu enermit (Charles E. Stebbins, The Oxford Version of the Vie de saint A l e x i s : an Old French Poem of the Thirteenth Century, Romania X C I I (1971), S. 14, X V I I . v. 340). Zum äußerst kunstvollen rhetorischen A u f b a u der Zerstörungsszene vgl. die ausführliche Analyse von Ernst Robert Curtius, Zur Interpretation des Alexiusliedes, S. 128-129, w o v ° r allem S. 129 auf die H ä u f u n g der angewandten Kunstmittel hingewiesen wird. Str. 29, 1 4 1 - 1 4 5 . Gaston Paris, La Vie de saint Alexis, Paris 1887, S. 183, zieht in der Anmerkung zu 29e die Lesart >cinces< >curtines< vor. Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 35, vermerkt: cinces, A u f h ä n g e n verrissener Vorhänge. Christopher Storey bemerkt in der hier zitierten Textausgabe S. 99-100 in der Anmerkung zu Zeile 144 zusammenfassend: Curtines: >rideauxhaillonslectio faciliorin Sack und Asche gehen< erinnert 212 . Eine lateinische V i t a des 10. Jahrhunderts läßt die Mutter des Alexius nach dem Verschwinden ihres Sohnes mit Bezug auf das Bußritual des in Sack und Asche Gehens klagen 2 1 3 : [. . .] non cessabo flere hac lugere nec parcam mici de sacco et cinere que indui mici diebus hac noctibus donec respiciat Dominus afflictionem meam et faciat me scire quid est de filio meo 214 . Die expressive Bußattitüde der Mutter vollendet sich in der Sitzhaltung aus Trauer (vgl. Ps. C X X X V I , 1 : [ . . .] illic sedimus et flevimus; Thren. III, 2 8 : Sedebit solitarius, et tacebit) 2 1 5 : Del duel s'asist la medre jus a terre (Str. 30, 146). § 92. Die vom Auszug des Heiligen am meisten Betroffene, die verlassene Braut, greift zum selben Trauergestus wie die Mutter und setzt sich zu dieser auf die Erde nieder: Si fist la spuse danz Alexis a certes (Str. 30, 147). Schon früher hatte sie geäußert: Or sui si graime que ne puis estra plus (Str. 22, 110). U m dem Heiligen seine einsame Höhe zu lassen, zählt der Dichter der de saint Alexis

Canqun

die zurückgelassene Braut ganz einfach zur Trauergemeinschaft

des Elternhauses. Auch die Braut bedauert den Verlust des in asketischer Rücksichtslosigkeit fliehenden Alexius 2 1 6 und bleibt gerade dadurch weit hin212

Hans Sckommodau, Alexius in Liturgie, Malerei und Dichtung, S. 193, bezeichnet das Wort >sas< als »ein wertvolles Leitfossil«, das auf das biblische >in Sack und Asche« zurückverweise. Vgl. die beigezogenen Bibelstellen ebda. S. 193 Anm. 4: Matth. X I , 21, Luc. X , 13 u. ä. Auch Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 34, versteht das sich Hinsetzen der Mutter auf den Sack als ein dem A T entliehenes Trauerzeichen. Die Contes pieux en vers du XIVe siècle tirés du recueil intitulé Le Tombel de Chartrose, Publié par E. Walberg, Lund 1946 ( = Acta reg. Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis, X L I I ) , S. 92 De saint Alexi [. . .], v v . 546-49, übernimmt die Stelle so: Mist [die Mutter] .1. sac sur le pavement / De sa chambre pour faire lit; / Unque puis a greignour délit / N e voult jesir ne nuit ne jour.

213

Gilles G. Meersseman, Dossier de l'Ordre de la Pénitence au XIIIe siècle, Fribourg (Suisse) 1961 ( = SF, 7), S. 2, bemerkt: »Le sac et le manteau de bure étaient les pièces d'habillement propres aux Pénitents.« Ebda. S. 5 Hinweis auf die Gemeinschaften von Büßerinnen des 12. Jahrhunderts. Zitiert bei Hans Sckommodau, Alexius in Liturgie, Malerei und Dichtung, S. 193. Zum Ausdruck der Trauer durch sitzende Haltung vgl. weiter unten Anm. 4 1 6 in Abschnitt B. Gerhard Eis, Alexius und die christliche Aszese, Z f S L L I X (1935), besonders S. 235, tadelt die diesbezügliche Härte des altfranzösisdien Alexiusliedes: »In dem afrz. Gedichte gibt Alexius seiner Braut gerade nur mit dürren Worten auch ein wenig Teil an seiner Erleuchtung und ermahnt sie zu christlichem Leben.« Er lobt ebda. S. 236 die deutsche Fassung A des Alexiuslebens, welche die Trennung in ihrer schmerzlichen Auswirkung auf die Braut ausgestaltet: »Hier [in

214 215

216

71

ter dem Protagonisten des Alexiusliedes zurück, der einzig auf Gott ausgerichtet ist: Penat sun cors el D a m n e d e u servise. Pur amistét ne d'ami ne d'amie, N e pur honurs ki l'en fussent tramise[s], N ' e n volt turner, t a n t cum il ad a v i v r e " ' .

Noch nach dem Tode des Heiligen unter der Treppe des Vaterhauses und nach der Entdeckung seiner Identität klagt die Braut: >Sire Alexis, tanz jurz t'ai desirrét, [E tantes lermes pur le tuen cors plurét,] E tantes feiz pur tei an luinz guardét. Si revenisses ta spuse conforter, Pur felunie nient ne pur lastét< 218 .

Wie man diese im Wortlaut etwas dunkle Strophe auch immer übersetzen mag 219 , deutlich wird, daß die Braut, trotz des Alexius Rede in der Hochzeits-

217 218 219

der deutschen Fassung A ] ist also tatsächlich ein »innerer Leidenswegs eine »seelische Qual< vorhanden, die den rohen Stoff psychologisch vertieft und die Askese erst menschlich und christlich macht, was sie in dem a f r z . Liede nun einmal wirklich nicht ist.« Allerdings um den Preis des absolut Exemplarischen und Erbaulichen im Sinne des von der Cançun de saint Alexis angesprochenen Publikums! Str. 33, 1 6 2 - 1 6 5 . Str. 9$, 471-475Christopher Storey bemerkt in seiner Textausgabe S. 1 1 7 - 1 8 zu dem besonders schwierigen Vers 475 : »Ce vers manque dans A, P, S et ni la leçon de L, ni celle de V (Pur felonie o lassas o pur grant meil) ne donne un sens très acceptable. Foerster, en se basant sur le parallélisme habituel des poèmes antiques, pense que ce vers appartenait à une strophe, maintenant perdue, puisque la plainte de l'épouse est plus courte que celle de la mère ou du père. Le vers, tel qu'il se trouve, p o u r r a i t se traduire, »Je ne l'ai fait ni par manque de fidélité ni p a r faiblesse«. M. Wilmotte a suggéré (v. Le Moyen Age X L , 1930, p p . 1 3 8 - 1 4 3 ) que nous devrions mettre un point à la fin du vers 473 et traduire alors: »Si tu étais revenu consoler ta femme ce n'aurait été (de ta part) ni par félonie ni p a r lâcheté« (on n'aurait pu voir là ni une trahison, ni un manque de courage, c.-à-d. les deux seuls mobiles qui peuvent déshonorer un chevalier). N o u s adoptons cette suggestion.« Im Hinblick auf das mönchisch-eremitische Publikum, f ü r welches die Cançun de saint Alexis in erster Linie bestimmt war, ist jedoch die erste Übersetzung vorzuziehen, welche Alexius in seiner Isolation der Heiligkeit beläßt u n d ihn nicht in die Überlegungen der klagenden Braut einbezieht, um ihm die Sorge um einen E h r e n p u n k t zu unterschieben, der in der Hagiographie k a u m P l a t z finden k a n n . Gaston Paris, La Vie de saint Alexis, Paris 1887, S. 192, bemerkt erläuternd zu 95e: » [ . . . ] si elle [die Braut] regardait au loin, ce n'était pas p a r oisiveté ou infidélité, c'était pour voir s'il ne revenait pas à elle.« Elise Richter, Alexius 95e Pur felunie nient ne pur lastet, ZfSL LVI (1932), S. 66, dagegen meint: »Bei der ersten Klage L 22c sagt die Braut, trotz der geistlichen Ermahnungen, die ihr Alexius gab (Str. I4flg.) : pechez le mat tolut. 9 j e gibt das Gegenstück: N i c h t aus Schlechtigkeit hast du mich verlassen. D a m i t w i r d das 72

nacht, die Abwesenheit ihres Gemahls tief bedauert und in ihrem Innersten unentwegt auf eine Rückkehr hofft. § 93. Demnach verhält es sich nach der Darstellung des altfranzösischen Alexiusliedes tatsächlich so, daß die Braut zwar nicht ohne deren Wissen, aber auch nicht mit deren ausdrücklicher Einwilligung verlassen wird 2 2 0 . Erst hinterher, nachdem die Suche nach dem entwichenen Alexius erfolglos verlaufen ist, und nur noch Resignation übrig bleibt - N e poet estra altra, turnent el consirrer (Str. 32, 1 5 6 ) - schickt sich die Braut in ihr Los 2 2 1 , indem sie zur Mutter des Alexius spricht: »Dama«, [ . . . ] , »jo i ai si grant perte, Ore vivrai an guise de turtrele; Quant n'ai tun filz, ansembl' ot tei voil estra« 222 . A m beiderseitigen Willen zur Treue ist damit keinesfalls mehr zu zweifeln: Alexius überreicht seiner Braut vor der Flucht ein Treuezeichen, welches auch die wider Willen verlassene Braut als solches verstehen mußte 2 2 3 ; die Braut ausgesprochen, was nicht nur dem heutigen rationalistischen Leser, sondern jedem natürlidi Empfindenen äußerst nahe liegen mußte, der Vorwurf unedler Handlungsweise, unbegreiflicher Rohheit, Wortbrüchigkeit.« Ebda. S. 67 ergänzend: »Indem die Braut nun dies Wort [felunie] gebraucht (V. 95e), gibt sie nicht nur zu, daß eine solche Beurteilung wirklich vorlag, sondern zugleich, daß ihr jetzt die Augen geöffnet sind. Sie - als die einzige - spricht aus, daß sie an ihn glaubt, noch ehe er Wunder tut. Und da ist es ja wohl ganz richtig, daß eben sie - und nicht auch Vater und Mutter, was Foerster unbegreiflich findet - im Himmel mit ihm [Alexius] vereinigt wird (Str. 122).«

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222 223

Beachtenswert zum Verständnis dieser Stelle ist der Vorschlag von Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 66, der über diese Rede der Braut sagt: »Der Dichter will nur - und das wird die Str. 98 bestätigen - ihre Naivität in der Beurteilung von Alexius' Askese ausdrücken, wenn er die Gattin den Wunsch hegen läßt, Alexius möge zu ihr zurüdckommen, und zwar nur, um sie in ihrem Leid zu trösten, nicht in seiner Eigenschaft als Gatte; [...].« Unwahrscheinlich ist die auf einem auf die Alexiusdichtung unanwendbaren Sündenbegrifi basierende Erklärung von Hans Sckommodau, Zum altfranzösischen Alexiuslied, S. 1 9 1 . Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, Intactam sponsam relinquens, S. 195, stellt ganz allgemein fest: »L'examen des différentes versions a montré que, d'après la légende, Alexis a mis son épouse au courant de ses projets et obtenu son assentiment.« Hans Sckommodau, Alexis in Liturgie, Malerei und Dichtung, S. 176, kommt ebenfalls zum Schluß, daß Alexius seiner Braut den Verzicht >diktiertpuer venerabilis< ein. Dennoch macht sich dieser auf den Weg in die Fremde und läßt eine G a t t i n zurück, die sich durch das Turteltauben-Gleichnis zu unwandelbarer Treue bekennt, und die dann, als der tote >famulus Domini< identifiziert wird, ihr W i t w e n t u m beweint und Gott um die Vereinigung mit dem Seligen im anderen Leben bitten möchte: ut illi conjungar in uita eterna. In der a f r . Dichtung müßte man die Einwilligung der Braut aus der Entgegennahme der symbolischen Geschenke und aus dem Turteltauben-Gleichnis in Str. 3 od schließen (wie es Baudouin de Gaiffier tut); es fehlen jedoch so eindeutige Äußerungen wie Acquiescit ei virgo, silentio tegitur incorruptionis thesaurus oder Fit ex utraque parte consensus.«

225 226

Str. 99, 491-495Karlheinz Gierden, Das altfranzösische

74

Alexiuslied

der Handschrift

L, S. 102-103,

§ 9 5 - D a s in der Alexiustradition durchgängig zu Gleichnis 2 2 7 w i r d in der Canqun

de saint Alexis

findende

Turteltauben-

als bekannt vorausgesetzt und

nur in Abbreviatur gegeben. D a die verlassene Braut in einem Moment höchster Spannung und emotionaler Erschütterung das Turteltauben-Gleichnis zu H i l f e nimmt, um komprimiert auszudrücken, welche Wende ihr Leben nun definitiv nimmt, stellt es nicht eine sinnentleerte schablonenhafte Formel, sondern im Gegenteil eine durch ihre K ü r z u n g intensivierte Aussage dar. D i e Turteltauben-Metapher erfuhr jedoch im Mittelalter, ja bereits in den Werken der Kirchenväter und in der frühen Physiologus-Tradition eine um verschiedene Grundbegriffe kreisende Deutung 2 2 9 , wobei die Auslegungen allerdings nicht etwa in gegensätzliche Sinnrichtungen auseinanderstreben, sich vielmehr oft bündeln und im K o n n e x auftreten. § 9 6 . In der Physiologus-Tradition stand in der Deutung der Turteltaube ursprünglich das Charakteristikum des einsamen Lebens im Vordergrund 2 2 9 ,

227

übersetzt im Kontext des Alexiusliedes das »Deu servir« wohl rechtens mit »willensmäßige Gottesliebe«. Zu dieser Formel vgl. auch weiter unten Anm. 69 und 321 in Abschnitt B . In der Oxforder Version des Alexiuslebens spricht denn die Braut zur Bezeichnung ihres nun definitiv anhebenden, enthaltsamen Witwenstandes die Turteltauben-Metapher erst an der Bahre des toten Alexius: A loi de turterele qui escive verdor, / Qui n'avrat mais pateil cant pert sa prime amur, / Déduirai mais ma vie [ . . . ] (Charles E. Stebbins, The Oxford Version of the Vie de saint Alexis: an Old Frencb Poem of the Thirteenth Century, S. 3 1 , L U . vv. 9 3 3 - 3 5 ) . Vgl. dazu Sankt Alexius. Altfranzösische Legendendichtung des 11. Jahrhunderts, Herausgegeben von Margarete Rösler, Halle/Saale 1928, S. 20 in der Anmerkung zu Vers 149: »In den meisten Texten aller Typen ist das Turteltauben-Gleichnis ausgeführt [ . . . ] . Der franz. Dichter hat es, da es im Mittelalter ein Gemeinplatz war, als bekannt vorausgesetzt [. . . ] . « Zur Konstanz des Turteltauben-Vergleichs vgl. auch dies., Die Fassungen der Alexius-Legende mit besonderer Berücksichtigung der mittelenglischen Versionen, S. 53.

Es ist deshalb unbegreiflich, weshalb Rudolf Baehr, Das Alexiuslied als Vortragsdichtung, S. 189, die turtrele (Vers 149 des altfranzösischen Alexiusliedes, Hs L) als individuell lyrisches Bild bezeichnet, das in den lateinischen Legendenvorlagen vorzufinden erstaunlich sei. 2 2 8 Leider stand mir die Studie von Francesco Sbordone, Richerche sulle fonti e sulla composizione del Physiologus greco, Neapel 1936, welche die Kirchenväterstellen mit der Verwendung der Turteltauben-Metapher anführt, nicht zur Verfügung. Ein tosco-venezianischer Bestiarius, herausgegeben und erläutert von Max Goldstaub und Richard Wendriner, Halle a. S. 1892, S. 430 Anm. 3, verzeichnet ebenfalls einige Kirchenväter, welche von der Turteltauben-Metapher Gebrauch machen. 229 Y g j d a z u Der Physiologus, Übertragen und erläutert von O t t o Seel, Zürich und Stuttgart i960 ( = Lebendige Antike), S. 84 Anm. 1 2 2 , und Friedrich Laudiert, Geschichte des Physiologus, Straßburg 1889, S. 26. Gregorio Penco, II simbolismo animalesco nella letteratura monastica, SM V I (1964), S. 2 5 - 2 7 , bringt Belegstellen für >solitarius sicut turturTurteltaubenu wizzest, herre, daz ich trage / den staeten willen iemer / von dem erweiten huse dîn, / ê daz ich von dem vriunde min / die rehte wârheit hie vernime. / ich arme trûren sol nâch ime / sam sich diu turteltûbe quelt, / diu kein ander liep erweit / swenne ir trût gevangen wirt. / si mîdet iemer und verbirt / aller grüenen böume zwî / und wont dem dürren aste bî / mit jâmer und mit Sender klage. / reht alsô wil ich mine tage / die vrischen Wunne vliehen / und midi ze sorgen ziehen / die min gemüete derrent / und allen trôst versperrent / vor mînem armen herzen< (die Stelle findet sich in der Ausgabe von Moritz Haupt, Der heilige Alexius von Konrad von Würzburg, ZfdA III (1843), S. 547; und bei Richard Henczynski, Das Leben des heiligen Alexius von Konrad von Würzburg, Berlin 1898 ( = AG, Band IV, Heft 1), S. 40). Gerhard Eis, Beiträge zur mittelhochdeutschen Legende und Mystik, S. 152, bemerkt zu dem in seinem von ihm edierten Text vorkommenden Turteltauben-Gleichnis, Heinrich von Meissen hätte es in Böhmen aus Alexius A (vv. 424fr.) in sein Vaterunser (v. 4326) übernehmen können; das Motiv lebe auch im Ackermann aus Böhmen des Johannes von Saaz fort. Zum Motiv >auf keinen grünen Zweig mehr kommen< im Ackermann aus Böhmen vgl. Hans Messelken, Die Signifikanz von Rabe und Taube in der mittelalterlichen deutschen Literatur, S. 103. 242

Zum frühen Vorkommen des Elementes vom dürren Ast in volkssprachlichem 80

ter also die Kenntnis dieser Erweiterung und Bereicherung des TurteltaubenGleichnisses voraus, worauf vielleicht die aus dem Kontext des Alexiusliedes zu entnehmende Verhaltensweise der Braut hinweist. § IOO. In der Rede der verlassenen Braut des Alexius involviert die Turteltauben-Metapher selbstverständlich das Treueversprechen im Sinne einer zu bewahrenden, als virginitas spezifizierten castitas. In zeitlicher Hinsicht erstreckt sich seine Gültigkeit vielleicht bis zur erhofften Rückkehr des vermißten Gatten, vielleicht aber auch bis ans Lebensende, woran jedoch mit einem gewissen Recht gezweifelt werden darf, da die Braut des Alexius nach dem sicheren Hinschied des Heiligen für die Zeit ihrer Witwenschaft ein neues Versprechen formuliert (Str. 99, 491-495), obschon sich die häufigste und üblichste Auslegung der Turteltauben-Metapher, gerade was die castitas anbetrifft, sich ohnehin auf die Zeit nach dem Tode des einzigen Gatten bezieht. Die neuerliche Formulierung - »Ne ja mais hume n'avrai an tute terre« (Str. 99> 493) - scheint geradezu anzudeuten, daß das geläufige TurteltaubenGleichnis, an der Stelle da es ausgesprochen wird, sich nicht auf die viduitas beziehe. §101. Die verlassene Braut gebraucht die Turteltauben-Metapher in dem Augenblick, da sie sich zur trauernden Mutter auf die Erde niedersetzt. Die Mutter akzeptiert die Rede und die Geste ihrer Schwiegertochter, indem sie antwortet: »Plainums ansemble le doel de nostre ami: Tu tun seinur, jol f[e]rai pur mun filz«245.

Die Braut denkt demnach bei ihrer metaphorischen Rede an die eben begonnene sessio aus Trauer, somit an den zu ihrer Zeit >modernsten< Aspekt des Turteltauben-Gleichnisses: an das Sitzen auf dürrem Ast 246 . Darum knüpft die Mutter folgerichtig an die eben ausgesprochene Metapher an, wenn sie in ihrer Antwort den Willen bekundet, gemeinsam mit der Braut den Entwiche-

245 249

Text vgl. ergänzend Wolfgang Babilas, Untersuchungen zu den Sermoni subalpini, S. 243, Sermo V i l i , 1 5 5 - 5 9 : Si cum fait la tortor, que ia pois qu'ela pert / so conpaignun no bevrà d'aiva clara / ni s'asetarà sore ram vert, autresì / fa la bona femena que voi ester en castità. Ebda. S. 310 in der Anmerkung zu 1 5 2 - 5 9 der Hinweis auf das Vorkommen des Gleichnisses bei Ambrosius (PL X I V , 24öf.), Hieronymus (PL X X I I I , 263), Pseudo-Hugo von Sankt Viktor (De bestiis I, 25, PL C L X X V I I , 25) u. a. Str. 31, 1 5 4 - 1 5 $ . Ob der Alexiusdichter dabei auch an den geistlichen und sogar mystischen Sinn des Motivs vom dürren Ast dachte, ist nicht auszumachen. Bernhard von Clairvaux bezog den dürren Ast wahrscheinlich auf das Kreuz, indem er die Hohelied-Taube mit der Sintfluttaube analogisierte; vgl. dazu Hans Messelken, Die Signifikanz von Rabe und Taube in der mittelalterlichen deutschen Literatur, S. 106. 81

nen zu bedauern und zu beklagen; denn die Turteltaube auf dem dürren Ast ist eben mit Seufzen und K l a g e n vollauf beschäftigt 2 4 7 . S o treffen alle dem Turteltauben-Gleichnis inhärenten Sinnmöglichkeiten auf die Situation der verlassenen Braut zu, vordringlich das klagende, seufzende und trauernde Sitzen an einem ausgezeichneten O r t des Leids 2 4 8 . Freilich deckt weder eine einzelne, den Sinn auffächernde Auslegung noch die Summe aller Interpretationsmöglichkeiten der Turteltauben-Metapher die in der de saint Alexis

Canqun

gemeinte R e a l i t ä t ganz und genau. D i e Offenheit der im

Alexiuslied gebrauchten Metapher verlangt jedoch das Revuepassieren aller erdenklichen Sinnbezüge, um dann paradoxerweise gerade wegen ihrer O f f e n heit keine Einzeldeutung als die einzig gültige gelten zu lassen.

3. Weltflucht und contemptus mundi § 1 0 2 . D e r v o n einem hagiographischen T e x t zu erwartende erbauliche C h a rakter zeigt in der Canqun de saint Alexis einen besonderen Ernst; die Absage an die im jetzigen Zustande angeblich höchst unvollkommene und f ü r die E n t f a l t u n g der Heiligkeit nur hinderliche Welt ist deutlich 249 . H i e r i n liegt 247

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249

So beschreibt etwa das St. Trudperter Hohe Lied, Kritische Ausgabe von Hermann Menhardt, S. 160, 34, 10, die seufzende Turteltaube: dû alle dîne / ueste an mir aineme hâst, dû sûftest an deme / dürren zwiege unde an de [me] wege âne gemachide [ . . . ] . Die Wundergeschichten des Casarius von Heisterbach, Herausgegeben von Alfons Hilka, Erster Band, Bonn 1933 ( = P G r G , X L I I I ) , S. 77, 26, spricht von der >turtur< »Semper gemens et in virenti cespite denuo non quiescens«. Noch ein Benediktiner des 14. Jahrhunderts beschreibt einen bestimmten Stand der Liebe anhand der Turteltauben-Metapher: Status ergo iste desiderabilis est quo pre amore sponsi languescens anima uice fungitur gemebunde turturis, que subtracto compari quamdiu uiuit non residet in ramo uiridi (Dom Hugh Farmer, The Meditations of the Monk of Farne [Benediktiner von Durham, Mitte 14. Jahrhundert], in: Analecta monastica, Quatrième série, Rom 1957 ( = SM, 41), S. 206, Meditacio ad Crucifixum, Caput 80). Wilhelm Frenzen, Klagebilder und Klagegebärden in der deutschen Dichtung des höfischen Mittelalters, Bonn 1936 ( = BBDP, Heft 1), S. 33, bezeichnet deshalb die Turteltaube als Vogel der (weltlichen und geistlichen) Liebesklage. Wenn im altfranzösischen Alexiuslied im Hintergrund der verkürzten Turteltauben-Metapher tatsächlich der Gedanke an das Sitzen auf dem dürren Ast stünde, wäre an dieser Stelle die mit Analogiebeziehungen arbeitende Überlegung von Hans Messelken, Die Signifikanz von Rabe und Taube in der mittelalterlichen deutschen Literatur, S. 100 Anm. 1, wohl zu beherzigen: »Das Kreuzholz ist ja als >totes Holz< ( = verdorrter Lebensbaum) signum für Christi Leiden und Sterben. Damit wird es jedoch gleichzeitig zum Repräsentanten höchsten menschlichen Leids [ . . . ] . « Ihm entspräche der Lohn im Himmel, wo die gemeinsame Freude des Alexius und seiner Braut nur mit dem Unaussprechlichkeitstopos umschrieben werden kann (Str. 122, 610). Leonardo Olschki, Die romanischen Literaturen des Mittelalters, Wildpark-Potsdam 1928, S. 15, urteilt darum, wenn auch mit einer übertriebenen Betonung des Nihilistischen, richtig: »Der Sinn des Gedichts [des Alexiusliedes] ist klar. Es ist die erschöpfendste Illustration zu Matthäus 10, 37/38 und Lukas 14, 26/27 [Qui 82

freilich keine gnostisch-katharische oder sonstwie sektiererische Abwegigkeit, sondern ein v o m Glauben an ein nahes E n d e und v o n der E r w a r t u n g einer bevorstehenden besseren Zukunft bestimmtes Ungenügen 2 5 0 . A n der bevorstehenden erfüllten Z e i t gemessen erscheint die Jetztzeit als der T i e f p u n k t , der ein Gericht herausfordert und dem die Wende zum Guten folgen muß. D a r u m beginnt das Alexiuslied im Proömium mit einer laudatio temporis acti 2 5 1 , welche in den obligaten Topos von der nun alternden und immer schlechter werdenden Welt einmündet: Tut est muez, perdut ad sa colur: J a mais n'iert tel cum fut as anceisurs. Bons fut Ii secles; ja mais n'ert si vailant. Velz est e fraisles, tut s'en vat declinant: S'ist ampairet, tut bien vait remanant 252 . amat patrem aut matrem plus quam me, non est me dignus: et qui amat filium aut filiam super me, non est me dignus; respektive: Si quis venit ad me, et non odit patrem suum, et matrem, et uxorem, et filios, et fratres et sorores, adhuc autem et animam suam, non potest meus esse discipulus.], die sinnfälligste Darstellung der Nichtigkeit aller, selbst heiligster irdischer Bindungen; als solches der poetische Widerhall einer nihilistischen Stimmung, die sich überall, auch außerhalb Frankreichs, in der gewaltigen Zunahme der Mönche und Einsiedler, in zahlreichen neuen Ordensgründungen mit immer härteren Lebensregeln, in einem wahren Paroxismus der Askese äußert.« Die Oxforder Fassung der Alexiuslegende bezieht sich bereits auf die von Olsdiki herangezogene Bibelstelle Matth. X , 37-38; vgl. Charles E. Stebbins, The Oxford Version of the Vie de saint Alexis: an Old French Poem of the Thirteenth Century, S. 9, I X . vv. 191-95. Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt a. M. 1963 ( = BS, 77), S. 183, spricht beiläufig von der von »Busse und Ekstase« durchrauschten Welt und der gewaltigsten asketischen Reaktion, die im 1 1 . Jahrhundert begann. 250

251

Zur christlichen Auffassung vom Endzeitcharakter der Zeit nach Christi Geburt vgl. die Ausführungen von Herbert Grundmann, Die Grundzüge der mittelalterlichen Geschichtsanschauungen, A K X X I V (1933), besonders S. 329 und S. 3 3 1 : »Es ist nicht richtig, wenn man diese Zeugnisse der Endzeiterwartung immer nur als Ausdrude besonderer Zeitstimmung infolge katastrophaler oder beängstigender Ereignisse oder als Ausgeburten der religiösen Phantasie ungebildeter Volkskreise aufgefaßt hat. Der Gedanke an das nahe Ende ist vielmehr aus religiöser Überzeugung immer gegenwärtig, wenn auch nicht immer gleich wirksam gewesen [. ..].« Zu diesem rhetorischen Gemeinplatz im allgemeinen vgl. die Angaben und weiteren Referenzen bei Leonid Arbusow, Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Gemeinplätze als Hilfsmittel für Übungen an mittelalterlichen Texten, Zweite Auflage herausgegeben von Helmut Peter, Göttingen 1963, S. 118. 15. Speziell zum Topos in der Einleitung zum Alexiuslied vgl. die meisterhaften Ausführungen von Heinrich Lausberg, Das Proömium (Strophen 1-3) des altfranzösischen Alexiusliedes, AnS C X C I I (195s), S. 33-58. Mit Recht weist Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 87, darauf hin, daß das Lob der vergangenen guten Zeit als causa scribendi verstanden werden kann: weil die jetzige Zeit schlecht ist, muß neu geschrieben werden.

83

Diese Sicht und Beurteilung des Weltlaufes kehrt leitmotivisch nicht nur in der lateinischen, vielmehr auch in der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur wieder; so wiederholt etwa der Sermon des Guischart de Beauliu: Li secles est mut uielz e si est trespassanz Frailles est e malueis tuit sen uait declinanz. Iadis fud un bon secle al tens (alceur) [ancienur] 253 . Und das spätere Poème moral nimmt die Wendung leicht variiert auf : Muit est mueiz Ii secles, Ii tens mut perillos. Kar Ii siecles est muh frailles et lowerjans 254 . § 103. Alexius stellt als exemplarische Figur ein Stück der alten besseren Ordnung wieder her. Doch geht diese Restauration über eine Stufe der Weltverachtung und der Weltflucht. So kehrt denn das Vokabular des contemptus mundi im Verlauf der hagiographischen Lebensbeschreibung des Alexius als ein der legendarischen Erbaulichkeit beinahe obligatorisch zugehöriges Element auch andernorts, vor allem natürlich in der Abschiedsrede im Brautgemach wieder 255 . Freilich ist nicht zu vergessen, daß Alexius in diesem feierlichen und entscheidenden Augenblick in erster Linie zu einer geistlichen Vermählung mit dem Erlöser auffordert: »Oz mei, pulcele! Celui tien ad espus Ki nus raens[t] de sun sanc prec'fus«258. Erst nachträglich folgt daran anschließend als oppositio die Aufzählung der der Welt anhaftenden Mängel und Schwächen; der >celeste vithe< wird die >mortel vithe< als ein unversöhnlicher Gegensatz gegenüber gestellt. 252 253 254

255

256

Str. 1, 4-5 und Str. 2, 8-10. Le Sermon de Guischart de Beauliu, Edition critique par Arvid Gabrielson, Uppsala/Leipzig 1909, S. 3,1, vv. 11-12 und S. 19, XIV, v. 293. Le Poème moral. Traité de vie chrétienne écrit dans la région wallonne vers l'an 7200, Edition complète par Alphonse Bayot, Bruxelles 1929, S. 36, 116, v. 463 und S. 189, 6ji, v. 2601). Zur Durchgängigkeit des vanitas-Themas vom Hochzeitszeremoniell an vgl. auch Rudolf Baehr, Das Alexiuslied als Vortragsdichtung, S. 190. Eine legendenhafte, erbauliche Predigt der Weltverachtung findet sich auch bei Chrétien de Troyes, Guillaume d'Angleterre, S. 5, vv. 142-148: [ . . . ] Mais en despit aiiés le mont / Et vos meïsme mesprisiés, / Dieu seul amés et Dieu proiiés, / Por Dieu aiiés tot en despit / Et departés sans contredit / Tout vostre or, et tout vostre argent / Departés a la povre gent, / As maisons Dieu et as eglises [ . . . ] . Hier ist, wie im Alexiusleben, die freiwillige peregrinatio die Konsequenz der geübten Welt Verachtung. Und mit ähnlichen Worten spricht Paulus Simplex zu seiner Angetrauten im Brautgemach, worauf sie eine Josefsehe führen, bis sich Paulus eine Einsiedelei baut; vgl. den Text in Auetores Historie Ecclesiasticce Tripartita, Ruffino interprété, Lib. I, Nürnberg 1523, S. 280-81. Str. 14, 66-67. 84

§ 104- Die einzig durch die Askese zu überwindende Schwäche des sseculum zeigt sich in dreifachem Aspekt: An ices[t] secle nen at parfit' amor; La vithe est fraisle, n'i ad durable honur; Cesta lethece revert a grant tristur 257 . Die vanitas der Welt 2 5 8 läßt sich mit der Trias Liebesmangel 259 , Gebrechlichkeit und Schwäche (Unbeständigkeit) umschreiben. Alle drei Themen der Weltverachtung finden sich in der mittelalterlichen Bekehrungs- und Erbauungsliteratur. Der Sermon der Cançun 257

258

259

des Guischart de Beauliu nimmt die eine Formel

de saint Alexis wörtlich auf.

Str. 14, 68-70. An diesem Punkt hat auch Angelus Silesius mit großer Sicherheit die Heiligengestalt des Alexius zentral begriffen: Wie kann Alexius ein solches Herz sich fassen, / Daß er kann seine Braut den ersten Tag verlassen? / Er ist ihr Bräutigam nicht, er hat sich selbst als Braut / Dem ewgen Bräutigam verlobet und vertraut (Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke, Herausgegeben und eingeleitet von Hans Ludwig Held, Band 3: Cherubinischer Wandersmann, München 3 i949, S. 122, IV. 99. Von St. Alexio). Zum Motiv der Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt in der hagiographischen Literatur des Mittelalters vgl. Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 84; auch die, allerdings mit kritischer Reserve aufzunehmenden Studien von Robert Bultot, La doctrine du mépris du monde.Tome I V : Le XIe siècle, Volume 1 : Pierre Damien, Volume I I : Jean de Fécamp, Hermann Contract, Roger de Caen, Anselme de Canterbury, Louvain/Paris 1964 ( = C V H ) ; und Zoltan Alszeghy, Ein Verteidiger der Welt [Alan von Lille] predigt Weltverachtung. Zum Verständnis der >Vanitas-mundiWelt< und >FleischAlexis< et la >Bible< de Herman de Valenciennes. Le problème de l'origine de la laisse, CCM VI (1963), S. 31J-25, glaubt einen sprachlichen Einfluß des Alexiusdichters auf den Bibelübersetzer feststellen zu können, der, wie vielleicht Guischart de Beauliu, gewisse Formeln aus der Cançun de saint Alexis entliehen hätte. Le Poème moral, S. 135, 428, vv. 1709-1712. Vgl. damit die ähnlichen Formeln in Le Besant de Dieu von Guillaume le Clerc de Normandie, Mit einer Einleitung über den Dichter und seine sämtlichen Werke herausgegeben von Ernst Martin, Halle 1869, S. 93, vv. 3221-24: Nule chose n'i [in der Welt] est durable. / Totes les choses de cest mond / Com une fumee tresvont, / [ . . . ] ; und S. 93, vv. 3247-48: Apres leesce vient tristor / E la joie est muee en plor. Str. 99, 494-495Petrus Damiani, Epistola X X I I I , PL CXLIV, 408A. 86

Sainz Alexis est el ciel senz dutance, Ensembl' ot Deu e la compaignie as angeles, Od la pulcela dunt se fist si estranges; Or Tat od sei, ansemble sunt lur anames: N e vus sai dirre cum lur ledece est grande 264 . Der Verzicht entspricht genau der Brüchigkeit und Wandelbarkeit der mit »onur« (Str. 14, 69) bezeichneten irdischen Gütern und Ehren 2 6 5 , der UnVollkommenheit der irdischen Bindungen und der beängstigenden, durch den Menschen selbst nicht aufzuhebenden brevitas vitse. § 106. D i e H a l t u n g der Weltverachtung des Alexiusdichters zeitigt zugleich von einander untrennbare inhaltliche und formale Folgen. A m auffälligsten ist im Alexiuslied wohl die Zentrierung des Todes des Heiligen 2 6 8 . D e r T o d des Alexius, welcher den Mittelpunkt der Lebensgeschichte des Heiligen eindrücklich besetzt, bestätigt den vorläufigen und verdunkelten Charakter (vgl. Str. 1 2 4 , 6 1 6 - 6 1 7 : Las! malfeuz! cum esmes avoglez! / Quer 50 vedums que tuit sumes avoglez!) des irdischen Lebenswandels. D a s strahlende, schöne A n t litz des toten Heiligen (Str. 70, 3 4 7 ) ist das erste schon auf Erden sichtbare und von den Angehörigen auch aufmerksam registrierte Anzeichen der erreichten und nun wirksam werdenden Glorie 2 6 7 . U m die Diskrepanz zwischen dem

264

Str. 1 2 2 , 606-610. 285 Y g l K . - L . Hollyman, Le développement du vocabulaire féodal, S. 39, wonach im Alexiuslied >onur< in einem Begriff zusammenfaßt, was Ehre verleiht und was Ehre ist, also das Gut und die Ehre selbst; vgl. auch ebda. S. 40. 266 Vgl. dazu vor allem die Studie von Eleanor Webster Bulatkin, The Arithmetic Vie de Saint Alexis, P M L A A L X X I V (1959), beStructure of the Old-French sonders S. 5 0 1 ; und Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern und München "1967, S. 4 9 1 : »Bei Heiligenleben bildet mitunter der T o d des Heiligen einen Einschnitt. Die >Vita Leudegarii< (Poetas I I I 5ff.) hat einen Prolog und zwei Bücher, deren erstes mit dem Tode des Heiligen schließt. [. . .] Ähnlich ist der Verfasser des a f r . Alexiuslebens verfahren.«; ders., Zur Interpretation des Alexiusliedes, besonders S. i2off., präzisiert die kompositorische Wirkung des Todes des Heiligen. 267 Der G l a n z auf dem Gesicht des toten Heiligen wird in der O x f o r d e r Version eindrücklich umschrieben: Mais la chiere de lui lor rent si grant clarteit / K e soit angeles del ciel u soloz en esteit (Charles E. Stebbins, The Oxford Version of the Vie de saint Alexis: on Old French Poem of the Thriteenth Century, S. 25, X L . v v . 7 4 0 - 4 1 ) . Zur Licht- und Glanzmetaphorik in den Heiligenleben überhaupt vgl. H e r w i g Wolfram, Splendor Imperii. Die Epiphanie von Tugend und Heil in Herrschaft und Reich, Graz/Köln 1963 ( = Mitteilungen des Instituts f ü r österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband X X , Heft 3 ; Festschrift zur J a h r tausendfeier der Kaiserkrönung Ottos des Großen, Dritter Teil), I V . 3. Splendor sanctorum, S. 1 1 7 - 2 2 . M y r r h a Lot-Borodine, La doctrine de la >déification< dans l'Eglise grecque jusqu'au XIe siècle, R H R C V (1932), S. 42, weist darauf hin, daß in der griechischen Kirche üblicherweise Rückschlüsse vom Aussehen des Toten auf dessen Schicksal nach dem T o d gezogen wurden. Das strahlende Angesicht des Toten w a r ein sicheres Indiz f ü r die nun erlangte vollkommene Seligkeit. Bereits das

87

Heiligen und seinen z w a r frommen, aber dennoch in der irdischen Ordnung befangenen Angehörigen deutlich zu machen, setzt der Alexiusdichter die weit ausgebaute dreiteilige (Vater, Mutter, Braut) K l a g e p a r t i e ein 268 . V o r dem Hintergrund der schmerzlichen Tiraden erscheint die Abgelöstheit und V e r klärtheit des Alexius um so heller; er ist in Wirklichkeit nicht ein zu beklagender Toter, denn sogar seine leiblichen Überreste, das w a s man gemeinhin die sterbliche H ü l l e nennt, tragen den A b g l a n z der Seligkeit und verkünden eigentlich Freude 2 6 9 . § 1 0 7 . M i t dem offiziellen A u f r u f des Papstes, die unangebrachte T r a u e r zu lassen, gelangt eine besondere Freude zum Durchbruch 2 7 0 , diejenige, einen hilfreichen Stellvertreter zu haben ( [ . . .] p a r cestui a v r u m boen adjutorie, Str. 1 0 1 , 504). E i n eigentlicher Freudenrausch bemächtigt sich der Menge, welche nun beherrschend in den Vordergrund tritt, da ihr der heilige K ö r p e r , eine ehrwürdige Reliquie, angehört 2 7 1 : Unches en Rome nen out si grant ledice Cum out le jurn as povres ed as riches Pur cel saint cors qu'il unt en lur bailie: Qo lur est vis que tengent Deu medisme; Trestut le pople lodet Deu e graciet 272 .

2,8

2M

270

271

172

Gesicht des toten Einsiedlers Antonius zeigte die in der Hagiographie topische hilaritas (vgl. S. Antonii Vita versio Sahidica, Interpretatus est Gerardus Garitte, Lovanii M D C C C C X L I X , S. 55, 92). Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 106 Anm. 318, madit auf ein Alexius-Bildnis des Malers Georges de la Tour aufmerksam, welches das >engelgleiche< Strahlen wiederzugeben versucht. Leider war mir die Arbeit von Francesco Addonizio, La leggenda di S. Alessio nella letteratura e nell'arte. Saggio critico, Napoli 1930, die vielleicht Parallelen enthielte, unzugänglich. Zu den Totenklagen vgl. vor allem Ernst Robert Curtius, Zur Interpretation des Alexiusliedes, S. 1 1 9 besonders; »Jeder der drei Leidtragenden spricht aus seiner persönlichen Beziehung zu Alexius heraus, jeder trägt sein eigenes Leid. Der gemeinsame Schmerz ist dreifach gebrochen.« Und Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, in den entsprechenden Kapiteln. Ein Vergleich mit der Studie von Myrrha Lot-Borodine, La doctrine de la >deification< dans l'Eglise grecque jusqu'au Xle siecle, R H R C V (1932), S. 42, legt den Gedanken nahe, die Darstellung des toten Heiligen und die folgende Totenverehrung trage byzantinische Züge. Die erreichte Apatheia und Reinheit würde mit dem Glanz, der auf dem Toten liegt, belohnt und für die Umwelt offenbar gemacht. Ernst Robert Curtius, Zur Interpretation des Alexiusliedes, S. 1 2 0 - 2 1 , betont die Wende zu einer plötzlichen Freude: »Bisher war die ganze Erzählung in die dunklen Farben der Weltentsagung und des Schmerzes getaucht. [ . . .] Dasselbe Geschehen, das bisher Grund tiefsten Schmerzes war, wird Freudenquell.« Zum Verhalten der Menge im Alexiuslied vgl. die differenzierten Ausführungen von Matthias Waltz, Rolandslied - Wilhelmslied - Alexiuslied, S. i9off., wo das soziale Moment an der Stellung und der Beschreibung des Volkes im Alexiuslied betont wird. Str. 108, 536-540. 88

Alexius w i r d zu einer allgemein spürbaren, heiligen Präsenz, die d a f ü r zeugt, daß f ü r den heiligen Asketen die T r a u e r sich in Freude kehrt, im Gegensatz zum >s£eculumuns qui hermite resembla< vorgestellt (zitiert mit Angabe der Referenz bei Walter Becker, Die Sage von der Höllenfahrt Christi in der altfranzösischen Literatur, R F X X X I I ( 1 9 1 3 ) , S. 904). Die Verse 163 und 167 der genannten altfranzösischen Johannesvita, bei Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X , bezeugen, daß in waldreichen Gegenden Wald und Wüste im lateinischen eremus zusammengefaßt wurden und als Synonyme gelten; anderwärts in Küstenlandschaften stellt die Insel den Inbegriff des desertum und des eremus dar. Im erwähnten Text heißt es demnach vom K i n d Johannes: E t s'en veit al desert, [. . .] E s'en alast al bois hermites devenir. Z u r Austauschbarkeit von silva/eremus und Wald/Wüste in der Heiligenlegende vgl. auch die Angaben bei K o n r a d Kunze, Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet, S. 44, 92, 105 und 154. U n d K a r l Bosl, "EPHMOS - eremus. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen zum historischen Problem der Entfremdung und Vereinsamung des Menschen, in: Polychordia. Festschrift Franz Dölger zum j j . Geburtstag, Band I I , Amsterdam 1967 ( = B F , II), S. 87 besonders. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 308, bestimmt mit dieser Formel deskriptiv einen von anderen Legendengruppen abzuhebenden Legendentyp. Vgl. auch ebda. S. 308 Anm. 2. Zu den die Gattung bestimmenden Elementen der Mirakelerzählung vgl. die Untersuchung von U d a Ebel, Das altromanische Mirakel. D a das Mirakel, wie gesagt, in der Vie de saint Gile nicht die Essenz der Erzählung darstellt, konnte sie in dieser Studie unberücksichtigt bleiben. Als Beispiel eines solchen traditionellen normativen Elementes sei auf die grundsätzliche Dreiteilung der Legendenvita hingewiesen. Hippolyte Delehaye, Les Légendes hagiographiques, S. 92, etwa verweist auf diese Dreiteiligkeit der vollständigen Heiligenbiographie: » A v a n t sa [des Heiligen] naissance: sa patrie, ses parents, sa future grandeur miraculeusement annoncée; sa vie: l'enfance, la 97

t u n g w o m ö g l i c h nicht e n t g l e i t e n , w e n n d a s Interesse an d e m , w a s G u i l l a u m e d e B e r n e v i l l e aus i h n e n m a c h t , auch g r ö ß e r sein m a g . § 6. I n d e r F a s s u n g des G u i l l a u m e de B e r n e v i l l e ist das A e g i d i u s l e b e n eine an E p i s o d e n u n d B e g l e i t u m s t ä n d e n reiche H e i l i g e n b i o g r a p h i e 1 5 . B e i a l l e m M a n gel an chronologischer B e s t i m m u n g - nie w i r d e t w a d a s A l t e r , k a u m j e m a l s irgendeine fix abgrenzende, zeitbestimmende Z a h l genannt - hat m a n doch d e n festen E i n d r u c k , nichts sei ausgelassen. D e r H a g i o g r a p h e r z ä h l t ein m ö g lichst lückenloses, a u s g e f ü l l t e s L e b e n , in d e m es k e i n e s p ü r b a r e n leeren Z w i schenräume g i b t , obgleich g a n z e E t a p p e n n u r schematisch u n d

formelhaft

umschrieben sind. § 7 . D i e G e w i s s e n h a f t i g k e i t m i t d e r G u i l l a u m e d e n L e b e n s l a u f seines H e i l i g e n a u s f ü l l t u n d g l e i c h z e i t i g stuft, d a r f n u n a b e r nicht d a z u v e r f ü h r e n , d i e L e g e n d e w i e einen E n t w i c k l u n g s r o m a n z u lesen 1 6 . U n t e r d e m A s p e k t eines P r o z e s s e s d e r S e l b s t f i n d u n g o d e r d e m j e n i g e n einer s o z i a l e n I n t e g r a t i o n des P r o t a g o n i s t e n in eine g e g e b e n e U m w e l t e r w e i s t sich d e r B e r i c h t v o m L e b e n des h e i l i g e n A e g i d i u s als P s e u d o b i o g r a p h i e : D i e e i n z e l n e n E t a p p e n L e b e n s n ä m l i d i sind f ü r einen p s y c h o l o g i s c h e n E n t w i c k l u n g s g a n g

dieses

irrelevant

jeunesse, les actions les plus importantes de l'homme fait, les vertus, les miracles; culte et miracles apres sa mort.« Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 52, übernimmt das Dreierschema in folgender A b wandlung: »1. der Heilige bevor er sich völlig dem Dienste Gottes weiht, 2. der Heilige ganz im Dienste Gottes bis zum T o d (der Aszet durch Flucht aus der Welt und Büßerleben in der Einsamkeit oder im Kloster; der Märtyrer durch Standhaftigkeit in den Martern), 3. die Verehrung des Heiligen und die W u n der nach dem Tode.« L u d w i g Z o e p f , Das Heiligenleben im 10. Jahrhundert, S. 4off., schlägt eine differenzierte Unterteilung vor, die sidi jedoch ebenfalls auf ein Dreierschema reduzieren ließe. 1 5 Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 168-69, weist zurecht darauf hin, daß die Vie de saint Gile ein Beispiel »besonders episodenreicher und bunt beschreibender Darstellung« sei. " Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. i$4ff., ist in seinem Kapitel über die Vie de saint Gile den psychologisierenden Weg gegangen. Der Begriff »symbolische Vita« sogar wird im L a u f e seiner Ausführungen unausgesprochen mit »Bildgeschichte zur Illustration einer Persönlichkeitsentwicklung« gleichgesetzt. Dies verdeutlicht sich in der v o n ihm unternommenen, über das grundgelegte Dreierschema hinweglaufenden weiteren Unterteilung: »Innerhalb der so sinnvoll zweigeteilten Vita, welche die Ein-Kehr in sich selbst und die durch die Einkehr geläuterte und gemeinschaftschaffende Rück-Kehr zur Menschheit gestaltet, entrollt die Vie de saint Gilles in s i e b e n Stufen das Bild des von Gott berufenen, mit der Gnade mitarbeitenden Dieners Gottes, der in die Heiligkeit eingeführt wird und als vollkommener Heiliger stirbt« (ebda. S. 173). Verzerrend w i r k t dazu eine sinnverhüllende theologische Voreingenommenheit, welche der vita activa den höheren Wert gegenüber einer vita contemplativa zusprechen will, die, auf die Legende übertragen, anachronistisch ist.

98

(was hinwiederum nicht heißen will, daß sie zu einem solchen unbedingt in Widerspruch stehen müssen). Als Stationen eines Heiligenlebens stellen sie sich jedoch implizite sub specie xternitatis dar 1 7 . Auch das Maß des inneren Gefälles ergibt sich nicht aus der psychologischen Situation (obschon diese mitberücksichtigt sein kann), sondern aus der Fallhöhe der eingesetzten Kategorien: Heiliger-Sünder, Gott-Welt, Engel-Teufel & c . Diese geben deutlich zu verstehen, daß es in der Heiligenlegende um Heilsgeschichte geht. Daß nirgends in der Legende die Intimität einer Innenwelt faßbar werde, soll damit aber nicht behauptet sein. § 8. Mit der scheinbar einfachen Feststellung, die Vie de saint Gile weise jene A r t von Realismus auf, welcher in mittelalterlichen Wandmalereien anzutreffen sei, kommt Gaston Paris der Dichtung des Guillaume de Berneville sozusagen von der Oberfläche her nahe: »[. . . ] l'observation de la vie journalière, la reproduction des costumes contemporains, des gestes vrais, des attitudes familières, se fait jour à travers le merveilleux des sujets et la raideur hiératique de l'ensemble« 18 . Einer vergleichenden Parallelsetzung von mittelalterlicher bildender Kunst und gleichzeitiger Dichtung soll man wohl immer skeptisch begegnen, da die Künste ihre eigenen Phasenverschiebungen haben. Zudem kann ein scheinbar >natürlicher< Zug, der der ganzen Geschichte ein Gran Wahrscheinlichkeit verleihen möchte, im fabulierten, nach freiem E r messen gestellten Kontext umso >künstlichernatürlich< wirkenden, perspektivisch erfaßbaren Tiefenwirkung, und das Ergebnis besteht in einer geheimnisvollen Aperspektivität, in der die gegebenen Gegenstände und Ereignisse sich gemäß einer fein ausgebildeten Additionstechnik nebeneinanderlagern, um weniger auf sich selbst als auf einen überragenden, unfaßlichen Hintergrund zu verweisen. § 9. Ein anderer brauchbarer Vergleich, der sich als H i l f e f ü r das formale Verständnis und letztlich f ü r die Deutung der Legendendichtung, jedenfalls 17

Vgl. dazu Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 25, und Uda Ebel, Das altromanische Mirakel, S. 47: »[. . .] Sogar in den Jugenderzählungen wird der spätere Heilige häufig als saint oder angle bezeichnet. Es vergegenständlicht sich hierin die Auffassung von der wesenhaften, unveränderlichen Zuständlichkeit des Heiligen, für die in ihrer extremsten Ausprägung schon die Annahme einer Entwicklung zur Höchstform, die ja eine Stufe der Un Vollkommenheit impliziert, eine Minderung bedeuten würde.«

18

Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles,

S. X X X V I I .

99

der Vie de saint Gile,

mit Gewinn methodisch verwerten läßt, bietet sich im

handwerklichen Verfahren des mittelalterlichen Goldschmiedes an. Denn die mittelalterlichen Dichter, deren ars poetica auch auf der geschickten Handhabung erlernbarer Techniken beruht, sprechen oft selbst von Verse schmieden, feilen oder drechseln, so daß das fertige Werk folgerichtig als Analogie zu einem gutgefügten Schmuckstück verstanden werden kann. Das Ineinanderverarbeiten bewährter Formeln und das Ineinanderpassen bewährter Motive schon bekannter und beliebter Dichtungen machen die Hauptarbeit des Legendendichters aus, w o er sich nicht ausdrücklich um historische Treue oder um die Zuverlässigkeit eines Augenzeugen bemüht 19 . Wieviel schöpferische Kombinatorik und Erfindungsgabe — ungeachtet der zahlreichen verarbeiteten Versatzstücke 20 - dabei ins Spiel treten, wird sich zum Beispiel eben an der Vie de saint Gile entdecken lassen. § 1 0 . Zur interpretatorischen und analysierenden Arbeit an der aus vielen aneinandergereihten einzelnen Stationen und Szenen bestehenden Vie de saint Gile läßt sich die Geschmeide-Metapher sinnvoll verwenden 21 .

18

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Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 34, versucht, eine begriffliche Unterscheidung von Heiligen-Biographie, Heiligen-Vita und HeiligenLegende einzuführen, die jedoch sehr gezwungen wirkt. In dieser Terminologie träfen unsere Ausführungen in vollem Maße wohl nur für die Heiligen-Legende zu, welche ohne jede Rücksicht auf historische Fakten arbeitet. Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. L V I , nennen an Autoren und Werken, die Guillaume de Berneville - bildlich gesprochen - als Steinbruch dienten: die Schriften des Sulpicius Severus über den heiligen Martin und die Dialogi Gregors des Großen und meinen etwas weiter ausholend: »II suffit, par exemple, de rappeler que Gilles, comme saint Martin, donne son vêtement à un pauvre; - qu'il apaise une tempête comme saint Nicolas; - qu'il se dérobe par la fuite aux honneurs et à la richesse, comme saint Jean l'Aumônier, saint Alexis et beaucoup d'autres; - qu'il guérit les maladies, les morsures de serpent, qu'il ressuscite même les morts; - qu'il délivre les possédés, et que les démons, quand il approche du corps où ils ont élu domicile, se sentent à la torture et se hâtent de s'échapper; - qu'il fait cesser la sécheresse; - qu'il prédit l'avenir et notamment sa mort prochaine; - et qu'enfin, quand il trépasse, on voit distinctement les anges emporter son âme au ciel.« Letzteres eine imposante Aufzählung des in der lateinischen Aegidiusvita verwendeten hagiographischen Gemeingutes (Guillaume de Berneville verzichtet seinerseits auf die Totenerwedtung und die Aufhebung der Dürreperiode). E.-C. Jones, Saint Gilles, S. 48, weist ergänzend auf Parallelen zu verschiedenen Vätergeschichten hin (Antoniusvita, Paulusvita). Rainer Gruenter, Bauformen der Waldleben-Episode in Gotfrids Tristan und Isold, in: Gestaltprobleme der Dichtung. Günther Müller zu seinem 6$. Geburtstag, Bonn 1957, S. 45, vergleicht am Ende seiner subtilen Studie das Verfahren des mittelalterlichen Dichters mit demjenigen des Goldschmiedes. Er hält den vokabularischen Bereich des >Schmiedens< besonders geeignet, »die Nomenklatur der Stilcharakterisierung mittelalterlicher Werke zu beliefern«. Dies gilt kaum für die Stilcharakterisierung aller mittelalterlichen Werke, bewährt sich jedoch bei der Untersuchung der Vie de saint Gile. 100

Das von allem Anfang an immer gleich vollkommene, in dieser Hinsicht also keiner Entwicklung fähige Leben des heiligen Aegidius wird vom volkssprachlichen Erzähler vorerst nach dem bekannten Dreierschema - auf dem sich auch der höfische Artusroman aufbaut22 - angelegt: Jugend (vorbildliche) und endgültige conversio (oft durch einen abrupten Auszug ohne Abschied sichtbar gemacht), Bewährung (Aegidius als Helfer des Bischofs, als Eremit, als Abt, als Berater des Königs),Tod (exemplarischer); und darüber hinaus Nachleben (wunderbare Erscheinungen, Wunderheilungen, Ruhm, Fürbitte). Schon durch diesen Grundraster teilt sich der Erzählstoff in mehrere gleichwertige, wenn auch nicht gleichförmige Erzählabschnitte ein. § 1 1 . Das Skelett der hagiographischen Lebensbeschreibung erfährt weiter eine - in unserem Falle besonders reiche — Ausschmückung, welche die grundlegenden Hauptabschnitte der Biographie umrankt und ausziert. Die so geschmückten Erzählparzellen verlangen ihrerseits zur Sicherung der erzählerischen Kontinuität eine Verbindung unter sich. Sie wird in der Vie de saint Gile des Guillaume de Berneville durch das sich wiederholende Gebet und Mirakel gewährleistet; Gebet und Mirakel durchziehen die Erzählung als wiederkehrendes Ornament und bewirken eine formale Einheitlichkeit und regelmäßige Gliederung des gesamten Erzählstoffes. Die bunte Materie erscheint durch motivreimendes Gebet und Mirakel harmonisierend durchge-

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K u r t R u h , Höfische Epik des deutschen Mittelalters. I: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967 ( = G G , 7), S. 2 9 - 3 0 , weist darauf hin, daß die »heilsgeschichtliche Stufung im A u f b a u der Legende« im höfischen R o m a n wiederkehre: Weltleben - heiliger Wandel und B e w ä h r u n g u. U . bis zum T o d Wundertaten nach dem Tode, wobei nicht nur an den A u f b a u der ausgesprochenen Bekehrungslegende zu denken sei. D e m entspräche der Dreischritt des A r tusromans: unproblematischer G e w i n n , Krise und Bewährung, Vollendung (im R o m a n meist ins Märchenhafte gehoben). Mittelalters, Was die durch E r h a r d Dorn, Der sündige Heilige in der Legende des München 1967 ( = M A e P S , B a n d 10) eingehend untersuchten Bekehrungslegenden betrifft, so liegt ihr Charakteristikum im ersten Abschnitt der üblichen Dreiteilung: statt der vorbildlichen Kindheit und J u g e n d - die dem im höfischen R o m a n leichterworbenen anfänglichen Glück entspräche - , die einem ausdrücklichen A n ruf Gottes und der gewöhnlich selbstverständlichen Einwilligung des Heiligen vorausgeht, steht ein Sünderleben und die Bekehrung davon. A u f diese Variante darf gewiß kein zu starker Nachdruck gelegt werden, da »nämlich die Schilderung selbst der unseligsten Sündenverfallenheit überstrahlt w i r d von dem G l a n z der folgenden Lebensstufen des Heiligen und [ . . .] sie nicht zuletzt darum oft nur knapp und andeutend ausfällt« (a. a. O . S. 1 2 5 ) . A u d i gibt es keinen R ü c k f a l l ins verlassene Sünderleben, der bekehrte Heilige wandelt so sicher den Weg der Vollkommenheit als w ä r e es nie anders gewesen, hierin den Legendenheiligen gleich, die von Geburt an exemplarisch lebten. M a x Wehrli, Strukturprobleme des mittelalterlichen Romans, W W X (1958), S. 3 3 5 , macht bereits auf den der älteren heilsgeschichtlichen Erzählung, also der Legende, und dem R o m a n gemeinsamen Gerüstcharakter aufmerksam und w a g t von da auf eine Verwandtschaft der beiden Gattungen zu schließen.

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staltet. Daß sich Gebet und Mirakel in dieser Funktion nicht erschöpfen, versteht sich von selbst23. § 12. Unübersehbar ist die in der altfranzösischen Bearbeitung des Aegidiuslebens vollzogene »Parzellierung des Darstellungsfeldes in Gliederungseinheiten und -elemente«24. Jeder der Abschnitte nimmt sich eine gewisse Selbständigkeit heraus und genügt sich durch seine innere Abrundung bis zu einem bestimmten Grade selbst - solange, bis der überformende Sinn sich fordernd geltend madht und die Bewährung des Bestehenden in einer neu gestellten Situation verlangt. Eine solche, relativ abgeschlossene epische Zelle entspräche, wollte man sich weiterhin an die Geschmeide-Metapher halten, dem im Geschmeide zu fassenden schönen Stein oder dem Schmuckelement, das durch Zwischenglieder mit weiteren solchen Elementen zur Kette verbunden wird. Doch erübrigt sich hier ein längeres Festhalten an diesem Vokabular. § 1 3 . Tatsächlich erscheinen in der Vie de saint Gile gerade die zur Darstellung des Heiligen wichtigen Szenen wie zum Stehen gekommene Bilder. Sie haben den Hang zum Verharren, stellen sich der Beschaulichkeit. Da bedarf es einer vom Erzähler ersonnenen, am toten Punkt klug einzusetzenden causa movens, um den Lebenslauf in Gang zu halten und den nötigen Bilder- und Szenenwechsel herbeizuführen. Oft dienen Elemente des in sich geschlossenen, ruhenden Bildes - indem sie zum Beispiel aus ihrer bewegungslosen Sinnbildlichkeit befreit und im realen, buchstäblichen Sinn eingesetzt werden - , um, umfunktioniert, die Erzählung von Hauptpunkt zu Hauptpunkt zu bewegen. Die einzelnen gleichwertigen Stationen lassen sich so, wenigstens illusorisch, zu einer fortlaufenden Lebensgeschichte verbinden 25 .

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Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 28, beschreibt die hier ausgesparte Begründung für die häufigen Motivreime: » [ . . . ] In jedem Falle ist die Darstellungsperspektive weniger die des situationsbedingten, natürlichen Verhaltens der in der Szene befindlichen Personen als der von außen herangetragenen kultischen Verehrung, Betrachtung und Devotion. Daraus erklären sich auch die zahlreichen W i e d e r h o l u n g e n , vor allem in der Häufung der Wunder und Tugendbeweise. Sie entsprechen dem innersten Bedürfnis der Legende nach immer neuer Bestätigung des Geglaubten, und lassen sich nidit nur als Anwendung einer rhetorischen Vorschrift oder aus der mündlichen Vortragssituation vor mehr oder weniger gebildeten Hörern verstehen.« Baudouin de Gaiffier, Mentalité de l'hagiographie médiévale d'après quelques travaux récents, A B L X X X V I (1968) 391-99, gibt sein placet zu dieser von Wolpers eingeschlagenen Forschungsrichtung.

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Diese Begriffe aus dem Zusammenhang der Geschmeide-Metapher entnehme ich der angeführten Studie von Rainer Gruenter, Bauformen der Waldleben-Episode in Gotfrids Tristan und Isold, S. 45. Die eben beschriebenen Eigenheiten der hagiographischen Lebensschilderung entspringen der Eigenart des Protagonisten selbst. Sein vollkommenes Wesen verbietet ja eine Entwicklung; sein Fortschritt jedoch schüfe eine innerliche Bewe-

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§ 14. Die meist fein ausgearbeiteten, wenn auch manchmal wie aus der Luft gegriffenen, nur durch die Notwendigkeit des äußeren Erzählungsablaufes motivierten Intermezzi haben eine nicht geringe Aufgabe. Obgleich sie nicht Hauptsache darstellen, sind sie nicht minderwertig oder gar entbehrlich. Diesen erzählerischen Zwischenstücken obliegt es, das starre hagiographisch-biographische Gerippe so zu umspielen, daß ein bewegter Ablauf des Erzählstoffes suggeriert wird. Diese inhaltlich zumeist nebensächlich erscheinenden erzählerischen Verbindungsstücke schaffen also den eigentlichen Fortgang erst. Sie stellen, ungeachtet ihrer eigenen bloßen Episodik, das zeitliche und oft genug auch das räumliche Nacheinander der fixen Lebensstationen erst her, sie bilden eigentlich die Geschichte erst als solche, indem sie durch einen den Sinn des Heiligenlebens meist illustrierenden Wechsel der Bilder und v o r allem des Dekors R a u m und Zeit wenigstens markieren. Die >epischen Zellensume< ist kaum auf Chrestien's Werk zu beschränken. Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, geben in ihrem Wörterverzeichnis zur Ausgabe, S. 180b, für >sumelabor< vgl. Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, Rom 1961 ( = SA, 48), S. 90, 105, n i und 144.

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Lebensweise geschieht vorerst durdi die Formel >propter Dei amorem< 32 . Guillaume de Berneville wandelt sie - sicher mit Bedacht — ab, indem er sie auf eine personale Intimität, nämlich auf »sun eher seignur«, bezieht, und sie dadurch in den Bereich der eingangs erwähnten dulcedo rüdet. § 2 1 . Die wenigen Bestimmungen des Prologs setzen die Figur des vorgestellten Heiligen durch die einfache Formel »Vesqui od bestes mues e d'erbes crues« in ein, zunächst vielleicht ungeahntes, typologisches Verhältnis zu biblischen Gestalten 33 , sogar zu Jesus Christus selbst' 4 , der schon mit »eher seignur« gemeint war. 32

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Belege der entsprechenden lateinischen Formel >propter Dei amorem< finden sich bei Margrit Koch, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther, S. 97-98. Es wird da eine Verwandtschaft mit der Formel >propter nomen Domini< u. ä. postuliert und beides auf die Bibel, z. B. Matth. X I X , 29, zurückgeführt. >Pour amour Deu< wird nicht gerade sinnentleert, jedodi stark nur formelhaft, d. h. mechanisch, angewendet im Eracle des Gautier d'Arras (Œuvres de Gautier d'Arras, Publiées par E. Löseth, Paris 1890 ( = B F M A , t. V I ) , S. 17 v. 3 1 5 , S. 156 v. 2956). Zur häufigen, meist formelhaft leeren Anwendung von >por l'amor Deu< in den Chansons de geste vgl. C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos, S. 175. Die Vie de saint Gile verwendet »pur amur Deu« manchmal als Floskel, öfter jedoch, dem Ernst des Kontextes entsprechend, sinnbezogen. Chrétien de Troyes, Guillaume d'Angleterre, S. 31 v. 982, verwendet noch ernsthaft die selbe Formel. Typologische Verhältnisse zu suchen und zu entdecken, dazu ermutigt Erich Auerbach, Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur, Krefeld 1953 ( = Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln, II), S. 7, wenn er feststellt: » [ . . . ] es finden sich unzählige typologische Gedankengänge und Anspielungen in der mittelalterlichen Epik und bei den Chronisten [ . . . ] « , und ebda. S. 1 6 - 1 7 : »Es ist meine Überzeugung, daß die typologische Exegese, so wie sie von den großen Predigern, Exegeten und Hymnendichtern verwendet wurde, mit ihrer unendlichen Fülle von Kombinationen und Anspielungen, Motivkreuzungen und Metaphern, das eigentliche Lebenselement der christlich mittelalterlichen Dichtung bildet.« Zum doppelten oder in mehreren Schichten übereinander gelagerten Sinn mittelalterlicher Dichtung vgl. auch Reto R . Bezzola, Liebe und Abenteuer im höfischen Roman (Chrétien de Troyes), Hamburg 1961 ( = R d E , 1 1 7 / 1 1 8 ) , besonders S. 11-16, und die französische Erstausgabe, ders., Le sens de l'aventure et de l'amour (Chrétien de Troyes), Paris 1947, S. 9f., w o vor allem der buchstäbliche und der >symboIisdhe< Sinn unterschieden werden. Und Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, ZfdA L X X X I X (1958/59), reprographischer Nachdruck Darmstadt 1966 ( = Libelli, Band C C X V I I I ) . Zum Arbeiten der Legende mit biblischen Analogieschlüssen, eine Sonderform des typologischen Denkens, vgl. Klaus Schreiner, >Discrimen veri ac falsu. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, A K X L V I II (1966), S . 4 . Dom Jean Leclercq, L'Ecriture sainte dans l'hagiographie monastique du haut moyen âge, in: La Bibbia nell'alto medioevo, Spoleto 1963 ( = Settimane di studi dei Centro italiano di studi sull'alto medioevo, X ) , S. 1 1 2 , begründet die Analogie der Heiligenfigur zu Christus wie folgt: » [ . . . ] ces hommes [die Heiligen] ont imité les >mirabilia< que Dieu a accomplis dans le monde par son Fils Jésus

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Die schlichte Aussage »Vesqui od bestes mues e d'erbes crues« signalisiert einen weitreichenden, aber dennoch abzusehenden und zu bestimmenden Zusammenhang. Auf welcher Spur immer die Deutung der Formel gesucht wird, stets bietet sie eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und dem Wesen des eremitischen Lebens an. Im Vordergrund steht der Bezug zum neutestamentlichen Bericht vom Wüstenaufenthalt Christi, welcher den unter den stummen Tieren lebenden Heiligen unweigerlich in ein Analogieverhältnis zu dem in der Einöde weilenden Christus herstellt: [ . . . ] eratque cum bestiis (Marc. I, 13).

Der in der Wüste geprüfte Gottessohn wird in dieser extremen Situation sogar zum Modell, das nachgeahmt werden müßte: Hic est >unus magister noster< [vgl. Matth. X X I I , 8] qui >civitatem non ingrediturcum bestiis< durch dasjenige vom Leben von ungekochten Kräutern ergänzt wird. § 2 2 . Da Christus sich als neuer Adam in der Wüste aufhielt, um den paradiesischen Zustand wiederherzustellen, ist allen Adamskindern das paradiesische Leben neu ermöglicht87:

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Christ et par tous ceux qui ont eu pour fonction, pour raison d'être même, de le préparer, puis de transmettre son message; pour les comprendre, interpréter leur vie, traduire leur signification à une génération donnée, on applique à l'histoire sainte, qui se continue en eux, la méthode typologique pour l'Ecriture Sainte.« Petrus von Celle, De afflictione et lectione, ediert im Anhang zur Studie von Dom Jean Leclercq, La Spiritualité de Pierre de Celle (iiif-u8j), Paris 1946 ( = E T H S , V I I ) , S. 238. Stellennachweise zu >in deserto cum bestiis< als Nachfolge Christi finden sich bei Gregorio Penco, L'imitazione di Cristo rtell'agiografia monastica, CCist X X V I I I (1966), S. 24 und Anm. 60. Dom Jean Leclercq, La Spiritualité de Pierre de Celle (iiij-u8j), S. 233. Zur Entsprechung des Berichtes vom Wüstenaufenthalt Christi und der Genesis108

In deserto Adam, in deserto Christus; sciebat enim ubi posset invenire damnatum, quem ad paradisum, resoluto errore, revocaret 58 . Adam lebte jedoch im Paradiese vor dem Sündenfall allein von Kräutern und Samen, wie Gott es angeordnet hatte: Dixitque Deus: Ecce dedi vobis omnem herbam afferentem semen super terram, et universa ligna qua: habent in semetipsis sementem generis sui, ut sint vobis in escam (Genes. I, 29). Das Motiv vom Kräuteressen gesellt sich damit von selbst zum Leben mit den Tieren, beide zusammen bilden ein großes Thema: Rückkehr zum Paradies. Beides kann deshalb auch Zeichen des wiedererlangten Unschuldzustandes sein, in dem Gott wieder ähnlich nahe ist, wie damals als er mit den ersten Menschen im Garten Eden wandelte. Otto von Freising sieht das Eremitendasein denn audi in dieser Perspektive, wenn er in seiner Chronica Historia

de duabus civitatibus

sive

(entstanden 1 1 4 3 - 1 1 4 6 ) mit Anerkennung

vermerkt: Sunt etiam, qui squalorem solitudinum requirant, bestiale ferarum consortium non pertimescant, herba pascantur, pelle carnis pro operimento utentes, algore noctis et calore solis in modum Ethiopum denigrad, velud tympanum obrigescant atque terreno habitáculo in terra positi includi dedignantes tectoque caeli tantum utentes non se tam homines quam caslestis curias contubernales esse demonstran t 5 '. erzählung vom Paradiesesleben Adams vgl. August Schulze, Der Heilige und die wilden Tiere. Zur Exegese von Mc 1,1 jb, Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft X L V I (1955), S. 282; auch Dom Garcia M. Colombas, Paradis et Vie angélique, Paris 1961 ( = spiritualité monastiquewie ein TierLeben mit den Tieren von ungekochten KräuternSaint Alexis< primitivo, S. 49, den Vorgang, mindestens f ü r den Fall des Alexiusliedes, umgekehrt sieht. Ohne zur Frage der Priorität Stellung zu nehmen, kann gesagt werden, daß die Beeinflussungsmöglichkeit gegenseitig sein konnte. Z u r Technik der Personenschilderung in der Literatur, vornehmlich im Roman des Mittelalters, vgl. Alice M. Colby, The Portrait in Twelfth-Century French Literature, Genève 1965; zur Personenschilderung der Heldenepik und ihrer funktionalen Auswertung in der Erzählung vgl. E r w i n Bernhard, Les pinceaux des trouvères, S. 1 7 , § 3. Zum obligaten Motiv des Geliebtwerdens von den Mitmenschen in der Heiligenlegende vgl. Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Lehen im 10. Jahrhundert, S. 4 0 - 4 1 ; und Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit, S. 1 6 2 - 6 3 . 121

N'aveit pas mis en dras sa eure, En Deu amer ert sun delit; Or e argent out en despit, Chevaus e mulz e palefreiz E ridies dras e bons conreiz. (vv. 7 2 - 7 6 )

D a s Trachten des tugendhaften Kindes richtet sich anderswohin: Volunters alout a muster Oir la messe e Deu preier, E del muster dreit a Ia scole. (vv. 7 7 - 7 9 )

Eine solche Passage dient freilich weniger der Charakterisierung des Legendenhelden, als vielmehr der moralischen Belehrung und erbaulichen E r m a h nung des Publikums 8 2 . D e r Tugendkatalog ist gleichzeitig Tugendspiegel. Eine Intervention des Dichters in Form einer rhetorischen Frage des Z w e i f e l s und der Ratlosigkeit 8 3 schließt die Kindheitsschilderung des Heiligen a b : Ke vus en dirreie jo el? Sa vie esteit espiritel. (vv. 8 1 - 8 2 )

§ 40. D i e erbauliche und belehrende Absicht des Legendenautors tritt nochmals zutage, da er einen hagiographischen Gemeinplatz der exemplarischen Jugendschilderung herausnimmt ( v v . 8 3 - 9 8 ) , um die eben abgeschlossene laudatio des Heiligen zu variieren und zu illustrieren; vielleicht auch um dem sprichwörtlichen E i n w a n d gegen allzu frühe Heiligkeit zuvorzukommen. Alters- und Standesgenossen nämlich tadeln den kleinen Heiligen oft, da er nicht mit ihnen spielen w i l l . Sie wenden das Sprichwort: »De j o f n e seint veil adverser«, bösartig auf ihn an und sagen ihm das spätere Hervortreten einer häßlichen Gegenseite seines Tugendlebens voraus. Gilles läßt sich durch das nichtige Gerede natürlich nicht anfechten, und Guillaume de Berneville, der f ü r den Heiligen entschieden Partei ergreift, setzt die Schlechtredner ausdrücklich ins Unrecht, indem er sich auf die höchste Autorität beruft: N e demurat s'un petit nun Ke Deus mustrat miracle grant Pur Gire sun petit servant. (vv. 96-98)

§ 4 1 . M i t einem Mirakelbericht, der sich auf das paupertas-Thema, speziell auf Gilles' Verachtung der köstlichen K l e i d e r bezieht, setzt die V i t a zu einem 82

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Den gleichen Verdacht hegt audi Margrit Kodi, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther, S. 94-9$, bei der Besprechung der topischen hagiographisdien Jugendschilderung: » [ . . . ] - bisweilen möchte man beinahe vermuten, in solchen Darstellungen wolle der Verfasser etwas weniger heiligen Klostersdiülern ein beängstigend vollkommenes Vorbild hinstellen.« Zur Interjectio ex parte poetae in der Form der aporesis oder dubitatio vgl. Leonid Arbusow, Colores rhetorici, S. yif. und Heinrich Lausberg, Handbuch

der literarischen Rhetorik.

Eine Grundlegung

der Literaturwissenschafl,

chen i960, Band II unter den entsprechenden Stichwörtern.

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Mün-

größeren Erzählabschnitt (vv. 9 9 - 2 5 2 ) frisch an. Die Verachtung des Reichtums erweitert sich in ihm zur Liebe zu den Armen. Mit H i l f e mehrerer, z. T . schon genannter Motive baut Guillaume de Berneville eine lebhafte, nuancierte Szene auf, die den Beweis der Heiligkeit mühelos erbringt und jeden Einwand Lügen straft: Gilles schenkt seinen Mantel einem armen Kranken; der Kranke wird durch die Berührung mit dem Geschenk augenblicklich geheilt 84 . Saint Gilles ist damit ein neuer heiliger Martinus, ein neuer Caîsarius von Arles. In der erneuten Aktualisierung der heiligen Vorbilder bewahrheitet sich Gilles' eigene Heiligkeit 85 . § 4 2 . Der Erzählabschnitt von der Mantel-Schenkung gewinnt eine gewisse Selbständigkeit und Abrundung innerhalb des Erzählganzen dadurch, daß er illustrierendes Exempel, die Wahrheit erhärtendes Beweisstück ist. In seiner Geschlossenheit setzt er sich leicht von der übrigen Lebensgeschichte ab. Durch eine kunstvolle Erzähltechnik schafft Guillaume de Berneville zudem einen eigenen, durch Kulissen und Staffagen abgesteckten und eingegrenzten Raum, in dem sich die beispielhafte Handlung gut sichtbar abspielen kann 86 . 84

Gaston Paris Sc Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. L V I , machen darauf aufmerksam, daß die Schenkung des Mantels der Martinsvita des Sulpicius Severus entnommen sei. Vgl. die Stelle bei Sulpice Sévère, Vie de saint Martin, Tome I, Introduction, texte et traduction par Jacques Fontaine, Paris 1967 ( = SC, 133), S. 256fr., II, 3. E.-C. Jones, Saint Cilles, S. J7, behauptet hingegen: » [ . . . ] la guérison d'un malade par le manteau que lui donne le saint encore enfant, est inspiré non pas par celle de saint Martin, mais par un passage de la vie de saint Césaire [ . . . ] . La guérison par attouchement est inspirée visiblement, comme celle de saint Martin, par l'Evangile [ . . . ] . « Der Text der Vita Casarit episcopi Arelatensis ist der Vie de saint Gile tatsächlich näher: Qui sanctus ac venerabilis cum septimum seu amplius gereret aîtatis annum, ex vestimentis, qua: circa se habuisset, absque ulla dubitatione pauperibus tribuebat. Saepe domi seminudus revertens vir beatus, cum visus a parentibus suis fuisset, sub districtione discussus, quid de vestimentis suis fecerit, ipse hoc tantummodo respondebat, a transeuntibus sibi fuisse sublata ( M G H , Scriptorum rerum Merovingicarum, Tomus I I I , S. 458). Wenn die Vita Casarii auch zweifellos das direkte literarische Vorbild abgab, so darf doch die Vita Martini nicht als Vorbild ausgeschlossen werden.

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In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Herbert Grundmann, Studien zu Joachim von Floris, Leipzig/Berlin 1927 ( = B K M R , Band 32), S. 205, 2. Exkurs: Die Typologie in der Kunst, zu beherzigen: »Wo wir in mhd. Erzählungen [auch in afrz.!] so leicht etwas geringschätzig eine >typische< Episode, eine >typische< Handlungsweise, Bekehrung, Charakteristik, Lebenshaltung usw. feststellen, oft noch dazu an biblische Formen anklingend, da dürfen wir das nicht nur als Mangel an selbständiger Erfindungskraft oder als gar zu gut funktionierende Assoziationsfähigkeit, sondern ebenfalls als Symptom der typologischen Denkweise beurteilen: Alte, irgendwie sanktionierte Gestaltungen haben im strengen Sinn >typische< Gültigkeit. Wo >dasselbe< wieder geschieht, bestätigt sich die Wahrheit an den Zügen des Vorbildes.« e » Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X X X V I I I - X X X I X , bemerken zur Leistung Guillaumes bei der Umgestaltung der lateinischen Vorlage nur summarisch: » [ . . . ] on connaît le procédé, il est partout le même; diI23

A u f dem Schulweg - das Lernen ist in diesem Stadium seines Lebens »sun labur« (v. 100) - sieht das Kind Gilles, der sanctus puer der lateinischen Fassung, einen klagenden, armseligen Kranken auf einem Misthaufen; schon länger als ein J a h r leidet er unbeachtet 87 . E r ist eine Hiobsgestalt: De tuz les membres ert contreit, Leiz e horribles e desfeit. (vv. 107-108) Niemand beachtet ihn >ad januamA lei francesca< 124

Gilles wirft dem Armen kurz entschlossen den eigenen Mantel über, dessen Berührung den kranken, verkrümmten Leib in drastische Bewegung versetzt; er ist jählings geheilt ( v v . 1 2 6 - 1 3 6 ) : Oiez tut cum Deus est curteis: De l'enferte k'il out einceis Est Ii malade en pez levez. (vv. 1 3 7 - 1 3 9 ) In dieser kurzen Zwischenrede des Autors wird das Mirakel ein Zeichen von Gottes Entgegenkommen und Güte (erstaunlich ist die Aufnahme ausgesprochen höfischer Terminologie in die Legende!). Trotz seiner Plötzlichkeit wird das Heilungswunder minutiös in allen Phasen beschrieben. Die wunderbare Wiederherstellung des Kranken versetzt jedoch Gilles in Schrecken, das Mirakel treibt ihn zur Flucht, denn der Geheilte beginnt Gott und ihn laut zu loben, worauf im Augenblick eine Menge Menschen zusammenströmt 91 . § 44. Inzwischen entkommt Gilles verstört und bedrückt nach Hause, dem weiteren Schauplatz der Erzählung (vv. 1 5 2 - 2 5 2 ) : A meisun vint marri e murne E s'est de sur un banc assis, Le dief enclin, aukes pensis. (vv. 1 5 4 - 1 5 6 ) Gilles' Kummer, der Grund seiner Nachdenklichkeit, ist die Öffentlichkeit des Wunders, der Aufmarsch der vielen Zeugen. Wie die Tränen Signal des Mitleids waren, so ist nun das Sitzen auf der Bank und das Neigen des Kopfes Ausdruck und Veräußerlichung der Bekümmernis

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(Sainte Foy, v. 20). Etüde sur les Chansons de saints gallo-romanes du XIe siecle, Leiden 1962, S. 79-82 zur Wortgruppe um >plorerperner a lermer< ist in der Aufstellung nicht vertreten, ebensowenig >comencer a plorer< {La Chanqun de Guillelme. Französisches Volksepos des XI. Jahrhunderts, Kritisch herausgegeben von Hermann Sudiier, Halle a. S. 1 9 1 1 ( = B N , V I I I ) , S. 43, C X I V v. 1029). Karlheinz Gierden, Das altfranzösische Alexiuslied der Handschrift L, S. 4 1 , möchte das Tränenmotiv auch in der Cangun de Saint Alexis als Anleihe bei der Chanson de geste verstehen. Diesem Mirakel ist das Wunder vergleichbar, welches das Kind Benedictus ebenfalls aus Mitleid vollbringt; vgl. Li Dialoge Gregoire lo Pape, Zweites Buch, Kapitel I, S. 56 1 1 - 1 4 : [. . .] eius dolori compassus, [. . .] sese cum lacrimis in oratione dedit. Das erzählte Wunder ist sozusagen ein Normalmirakel, ein Bestätigungswunder, wie es sich in der Mehrzahl der Fälle in der Heiligenlegende findet; vgl. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 7: »In der Mehrzahl der vitahaften Heiligenlegenden macht das Wunder die Heiligkeit nur sinnfällig und bestätigt sie, wendet aber nicht das Leben.« Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit, S. 219, macht anhand seiner Texte dieselbe Beobachtung: »Die Wunder werden in allen Epen vornehmlich als die göttliche Bestätigung und Offenbarung der inneren Heiligkeit (Tugend) des Heiligen verstanden und nicht als verdienstvolles Tun gewertet, das die Heiligkeit bewirkt.«

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und der Nachdenklichkeit 92 . Zum ersten Male und gleich nachhaltig bedrängt Gilles die fama 9 3 . § 4 5 . Der eigene Vater hat in der Stadt von dem Vorfall gehört und er spricht sein Kind daraufhin an 94 . Es zeigt sich nun in aller Deutlichkeit die Überlegenheit des heiligen Kindes selbst über fromme Eltern; denn die Antwort besteht in einer langen Lehrrede des Kindes ( v v . 1 7 5 - 2 3 3 ) , welche den Topos vom puer senex in eigenartiger Weise reich ausgestaltet. Daß dieser altklugen theologischen Rede jedoch eine alltäglich-häusliche, in ihrer unverstellten Nähe und Intimität beschriebene Szene vorangeht, wirkt überraschend und originell. Es gehört auch fortan zur Eigenart von Guillaumes' Erzählweise, daß sich in ihr mit dem der Legendengattung eigenen Stilzwang eine ursprüngliche Sicht und Schilderung der Umwelt verbindet 95 . Gilles ist nun nämlich kaum mehr in Sorgen wegen der gefährlichen, unter allen Umständen zu fliehenden Ehrung, er ängstigt sich einfach deswegen, weil er nicht weiß, wie er dem heimkommenden Vater erklären soll, wohin sein Mantel gekommen ist. Solche Probleme haben sonst wohl gewöhnliche Kinder, nicht aber heilige Legendenkinder. 92

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Die Wendung >E s'est desur un banc assis< (v. 155) scheint Erfolg gehabt zu haben. Guillaume de Berneville verwendet sie selbst nochmals in einem feierlichen ernsten Augenblick v. 2852: En un banc s'est Ii reis assis. Sie findet sich ebenfalls in der altfranzösischen Brendans-Legende: Enz el palais Brandan s'est mis, / E sur un banc puis s'est asis (The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, Edited by E. G. R . Waters, O x f o r d 1928, S. 17, v v . 281-282). Zur epischen Formel >sun chef enclin (enbrunc)< im Rolandslied (Das altfranzösische Rolandslied nach der Oxforder Handschrift, S. 19, X , v. 140, S. 2 1 , X V , v. 214, S. 3 9 . L X I v. 7 7 1 ) vgl. Stephen G. Nidiols Jr., Formulaic Diction and Thema tic Composition in the Chanson de Roland, Chapel Hill 1961 ( = S R L L , 36), Appendix II, S. 48. Guillaume de Berneville selbst nimmt die Formel v. 156 (le dief enclin) und v. 2559 (Clinent les dies et sunt enbruns) nochmals auf. Zum Ausdruck der Niedergeschlagenheit und der Nachdenklichkeit durch Sinkenlassen des Kopfes vgl. Erhard Lommatzsch, Darstellung von Trauer und Schmerz in der altfranzösischen Literatur, Z r P X L I I I (1923), S. 22-30. Biblisches Modell f ü r den Rückzug wegen der sich ausbreitenden fama ist Matth. I X , 26 und 3 1 , sowie Joh. V I , 15. Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit, S. 195, denkt bei des Alexius Flucht vor der fama an eine Übernahme des Motivs aus der frühchristlichen Mönchslegende; diese Verbindung könnte auch für die Vie de saint Gile hergestellt werden. Vgl. auch Dieter Hoster, Die Form der frühesten Heiligenviten von der Vita Cypriani bis zur Vita Ambrosii und ihr Heiligenideal, S. 74-77, zur Flucht vor der fama. Vgl. dazu auch weiter unten Anm. 127 (Abschnitt B). Den neuartigen Aufbau dieses Wunderberichtes untersucht Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 86 und 157f. Mary Dominica Legge, Anglo-Norman Literature and its Background, S. 254, spricht, die Vie de saint Gile charakterisierend, ebenfalls von der gleichzeitigen Altertümlichkeit und der auffälligen Vorzeitigkeit des Dichtwerkes von Guillaume de Berneville. 126

§ 46. Die A n t w o r t des Kindes auf die Frage des Vaters nach dem Mantel besteht also in einer jener Lehrreden - einer A r t Unterweisung im Glauben und Anweisung zu dessen Umsetzung in die T a t —, welche der Legendenerzähler umstandslos der Hauptfigur in den Mund legen darf, selbst wenn sie noch ein Kind ist 96 . Solche predigtähnliche Einschübe, katechetischer Unterricht im Hinblick auf das Publikum und Glaubensbekenntnis des Protagonisten zugleich, scheinen zum Schmuck der Legende zu gehören. Solche didaktische und erbauliche digressio wird sogar zu einem spezifischen Merkmal der altfranzösischen Legendenviten 97 . Darüber hinaus gehört die Lehrrede, wie das epische Gebet, zu den literarischen Mitteln, die erlauben, die Innerlichkeit des Legendenhelden nach außen zu stellen 98 . § 47. Die Unterweisung durch das Kind Gilles - ein überzeugendes und rührendes Zeugnis mittelalterlicher Frömmigkeit — beginnt mit einem einleitenden Teil (vv. 1 7 5 - 1 8 4 ) , in dem der Tathergang und Tatbestand wiedergegeben und durch den vorläufig abschließenden Vers: Pur amur Deu ki nus tuz fist, motiviert und gleichzeitig legitimiert wird. A n ihn schließt sidi ein 9i

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Agnes Geering, Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung, Zürich 1899, S. 2 - 3 , beobachtet bereits treffend, daß die mittelalterlichen Kindheitsgesdiichten alle Züge des erwachsenen Helden spiegeln und darum folgerichtig dem späteren Heiligen und Asketen ein heiliges und asketisches Kind entspricht; vgl. ebda. Kapitel I I I . Das Kind in der Legende, S. 7 y S . und besonders S. 76-77 die klugen Bemerkungen zu dem ebenfalls Lehrreden haltenden Kind in Hartmanns von Aue Armer Heinrich, das nach dem Modell der heiligen Kinder geschaffen wurde. Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 40, macht darauf aufmerksam, daß sich die 430 Verse Lehrrede in der lateinischen Aegidiusvita nicht finden. Leider konnte ich die Studie von Hilde Tiedemann, Das Kind in der literarischen Darstellung der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. (masch.) Heidelberg 1957, nicht durchsehen. J . W. B. Zaal, >A lei francescahomo exteriorhomo interiorA lei francescadame largesce< an 104 . Ein sicher späterer altfranzösischer geistlicher Text macht Gott selbst zum Freunde der allegorischen Figur >povreteis A b e n t e u e r < getreten ist, das Abenteuer als eine gewagte u n d verantwortete Begegnung des einzelnen H e l d e n mit einem Unabsehbaren, das prinzipiell nicht vorgegeben u n d nicht zu erschöpfen ist, nur im beständigen Fortschreiten erfahren werden kann.« Guillaume de Berneville nimmt nun u m gekehrt den Begriff Abenteuer zur Bezeichnung des Wunders in Anspruch. Dabei darf jedoch die Differenz von W u n d e r und Abenteuer nicht übersehen w e r d e n ; vgl. dazu M a x Wehrli, Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter, in: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag, Berlin (1961) S. 434: 132

Die Mirakelerzählung selbst ( v v . 391—480) füllt nun die von Gilles ausbedungene Bedenkzeit aus. In der Wundergeschichte konkretisiert sich die zeitliche Spanne zwischen dem in Aussicht gestellten und dem endgültig kundgegebenen Bescheid. Der Mirakelbericht wirkt so erzählteclinisch als retardierendes Moment, das die Neugierde auf den Ausgang der A f f ä r e steigert. Das curriculum v i t x ist wohl absichtlich gestoppt, damit an dieser Stelle einmal mehr das Wesen des Heiligen im wunderbaren Ereignis erkannt werden kann 1 1 3 . § 5 7 . Irgendein von einer Schlange tödlich gebissener Mensch - ein quidam wie in den Evangelienberichten - hat vernommen, daß Gott für Gilles Wunder tut, und er bittet um Heilung (vv. 4 0 8 - 4 1 8 ) . Wiederum (wie schon v. 1 2 6 und dann später v. 2 8 1 4 ) wird Gilles durch das Elend des Kranken zu T r ä nen gerührt 1 1 4 : Les olz Ii pernent ä lermer (v. 420); er spricht sich jedoch in »Das Abenteuer ist sozusagen das im Roman funktionell gewordene Wunder, ein Wunder, das problematisch, das erlebt, das fruchtbar geworden ist.« Auch Reto R. Bezzola, Liebe und Abenteuer im höfischen Roman, S. 192, betont die Gnadenhaftigkeit des Abenteuers im ritterlichen Leben: »Des Ritters Leben ist ein >Abenteuercredo< épique, S. 68 Anm. 2: »La formule de beaucoup la plus fréquente est »Glorieus sire Pere« [ . . . ] . « Diese im Heldenepos häufige Anrufungsformel findet audi in der Vie de saint Gile zweimal Verwendung, v. 516 und 1 1 2 1 .

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Gilles geht mit sich zu Rate, indem er dem Legendenautor freies W o r t gibt in seinem Munde. § 64. D i e deliberatio mündet sodann endlich in eigentliche Gebetsworte, in denen anhand der alttestamentlichen Psalmen erneut die W e g - T h e m a t i k w i e deraufgenommen w i r d : Dampnedeu pere, ke ferai? Conseillez mei quel part irrai; enseignez mei veie a tenir Pur quei jo puisse a vus venir. (vv. 5 5 3 - 5 5 6 ) Ihre K r a f t schöpfen diese Worte aus der beibehaltenen Doppelsinnigkeit, in der sie den buchstäblichen w i e den geistlichen Sinn anvisieren. Gilles nämlich sucht nicht nur eine geistige, endgültig bindende und verpflichtende Richtung, er fragt ebensosehr nach einem wirklichen Weg, der ihn wegführen soll von Besitz und Ehre. Rom, die Stadt der Apostelfürsten, zeichnet sich als Ziel ab, da kann der Apostelnachfolger den Heilsweg zeigen. D a m i t steht Gilles' Entschluß zum Auszug endgültig fest. § 6 5 . In nochmaligem A n l a u f setzt die Erzählung bei den Kranken ein ( v v . 5 7 0 - 5 7 7 ) : Gilles tritt aus seinem Palast und erreicht durch sein Gebet die Heilung aller. Diese w i r d nur rapportiert, nicht geschildert. Im Vordergrund steht jetzt Gilles mit seinem Entschluß. D a ß er Form annehmen mußte, ist kein Indiz f ü r einen K a m p f zwischen G u t und Bös, bei dem es ein zweifelndes H i n und H e r gegeben hätte. D i e V e r suchung führt zu keinem Schwanken, sie ist, angestachelt durch die Reden und Vorschläge der Barone, dann durch den aus den Wundertaten resultierenden Ruhm, dank der Vorentschiedenheit des Heiligen bereits Bewährung. D i e mühevollen Windungen der Erzählung, v o r a b die mehrmaligen Neuansätze und das bewegte Selbstgespräch spiegeln eine läuternde Krisis wider, die innerhalb der von der Legendengattung gesetzten Grenzen gewiß die extremste Möglichkeit des Aufgewühltseins realisiert, den heiligen Protagonisten jedoch nicht in eine grundsätzliche Unsicherheit führt. D a s Selbstgespräch ist eher eine Spiegelfechterei des Heiligen zu Gunsten des zu erbauenden Publikums. Zudem illustriert es eindrücklich, w a s f ü r ein Ausmaß die durch den Einbruch des Wunders ausgelöste Bestürzung haben kann, und wieweit das Wunder den Lebenslauf des Heiligen bestimmt 1 2 5 . lss

M a x Wehrli, Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter, S. 434, kommt auch von seinem anderen Ansatzpunkt her zur selben Feststellung: »[. . . ] Anderseits ist der Legendenheilige selbst, streng genommen, entwicklungslos; er ruht in sich und steht gleichsam außerhalb der Welt - er ist, wie wir sahen, bloßer Vermittler einer Macht, die immer wieder den irdischen Ablauf durchbricht, so daß dieser durchaus keine Kontinuität in sich selbst haben kann.« Zur Motivwiederholung die als Kompositionsprinzip an die Stelle der späteren psychologischen Kontinuität der Erzählung tritt, vgl. ders., Strukturprobleme des mittelalterlichen Romans, S. 3 4 1 . 138

Wenn wir die Vie de Saint Gile in ihrer Gesamtheit überblicken, wird sich herausstellen, daß die Wiederholung solcher einbrechender Mirakel, die jedesmal eine Lebenswende herbeiführen, die Gleichförmigkeit des legendarischen Berichtes nicht beeinträchtigt, sondern je neu darauf hinweisen, daß das Heiligenleben seinen Zusammenhang nicht aus einer inneren menschlichen Logik, vielmehr aus der Unterstellung unter die höchste Macht gewinnt. § 66. Die serielle, von geistlichen Reflexionen häufig unterbrochene Reihung der Mirakel leitet bruchlos in ein Vorspiel zur nächsten obligaten Episode eines Heiligenlebens über, nämlich zur Flucht. Gilles trifft Anordnungen zu einem Festessen, zu dem alle seine einstmaligen Ratgeber eingeladen werden sollen (vv. 578—585). Er selbst setzt sich dann freudig und heiter mit zu Tische, wobei seine Hochgemutheit natürlidi mißverstanden und falsch ausgelegt wird (vv. 586-602): die Barone glauben sich erhört, während Gilles in Wirklichkeit daran ist, die Welt zu überlisten. Guillaume de Berneville macht deshalb die Beschreibung der Feststimmung durch eine moralische Ausdeutung zu einem Mahnzeichen, das an die Unbeständigkeit des Glückszustandes erinnern soll: Grant joie funt tute la gent, Meis la lur joie e lur leesce Revertirat a grant tristesce. (vv. 594-596)

Diese Belehrung ist zugleich Vorausschau auf die bald eintretende Wende und bildet so den Kontrapunkt zur festlichen Hochstimmung. Der bloß transitorische Charakter des irdischen Glücks bestätigt die Richtigkeit von Gilles' Wahl und legitimiert den weltflüchtigen Entschluß des Heiligen (vv. 597 bis 616). Während Gäste und Palastdiener nach dem Gelage in schweren Schlaf verfallen, bleibt der Heilige im Gebet, bereit seinen Entschluß zu verwirklichen (vv. 617-620).

V. DIE

FLUCHT

§ 67. Die Flucht ist ein Legendenmotiv, das zum überkommenen Grundschema der Heiligenvita gehört und gewöhnlich die Kindheits- und Jugendgeschichte sowie die Zeit der Anfechtung und Bewährung zu einem Abschluß oder an ein vorläufiges Ende bringt 126 . 126

Margrit Koch, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther, S. 97-98, glaubt annehmen zu dürfen, daß die in vielen Heiligenleben vorkommende Flucht zur Beschließung der Kindheits- und Jugendgeschichte an den irischen Viten abgelesen sei und darnach als Entscheid zum freiwilligen Exil in manchen Abwandlungen zu einem grundlegenden Motiv der Hagiographie überhaupt wurde.

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Nach dem geschickt in die Länge gezogenen, in mancher Hinsicht exkursiven Zwischenspiel - als das die Versammlung der Barone, die Mirakelerzählung and die Überlistung der Barone zu betrachten sind - , welches sich jetzt im Rückblick gleichzeitig als gelungenes Vorspiel entpuppt, fällt die Kürze der eigentlichen Fluchtbeschreibung auf. Das plötzliche Verschwinden Gilles' aus dem Palast wurde erzählerisch freilich von langer Hand vorbereitet und durch die von Gilles angewendete List in die Wege geleitet, ja unumgänglich gemacht. Der von Gilles mit seinen Untergebenen doppelsinnig eingegangene Kontrakt mußte in seinem wahren Gehalt offenbar werden. Gilles entging durch die Flucht dem Druck und dem Zwang seiner Barone und Vasallen; trotzdem war die Flucht keine kurzschlüssige Notlösung. Sie entsprach den innersten Absichten des Heiligen, der den direkten, geraden Weg zum Heil gehen wollte und nun in der Tat die eindeutige Antwort an die Versammlung der Barone implizierte. § 68. Ein weiterer Grund zur Flucht ergab sich durch den Ruhm und die Ehrung, die dem Heiligen wider Willen nach den vollbrachten Wundertaten zukamen. Ruhm und Ehre scheinen ihn vom intendierten geraden Weg abbringen zu wollen, weshalb es löblich ist beide zu fliehen, die Wundertaten und den Ruhm: Ecce aperte cognovi quia vita et non signa quxrenda sunt, scheint sich Gilles, zusammen mit Gregor dem Großen, zu sagen 127 . Das Mißtrauen des Wundertäters sich selbst gegenüber ist unausgesprochene Voraussetzung von Gilles' Handlungsweise. § 69. Guillaume de Berneville verschlingt also verschiedene Erzählmotive — Entschluß zu Weltabsage und Askese, Eingehen, wenigstens scheinbar, auf das Ansinnen der Barone, Flucht vor dem Ruhm — zu einer feinen Textur, welche die Grundlage zum brüsken Auszug des Heiligen bilden soll. Der Einbruch des Wunders scheint dem Legendenautor an dieser Stelle der Lebensbeschreibung nicht zu genügen, um eine Wende im Leben des Heiligen herbeizuführen. Das Wunder bildet nur einen Punkt in der Konstellation von Erzählmotiven, aus der heraus die Flucht resultiert. 1S7 Vgl Li Dialoge Gregoire lo Pape, Erstes Buch, X I I , S. 52: ecce enim aperte noui, quia uita et non signa qserenda sunt. Ebda. Zweites Buch, I, S. j6ff., verläßt der junge Benedikt nadi einem Wunder das Haus, in dem er mit seiner Amme gelebt, nachdem er schon das Vaterhaus verlassen hatte. Audi er will dem Ruhm entgehen: plus appetens mala mundi perpeti quam laudes (ebda. S. 57, 1), und entflieht in die Einöde, wo er beim Einsiedler Romanus (monadius) als Diener bleibt. Audi Jean Cassien, Conférences III, Introduction, texte latin, traduction et notes par Dom E. Pichery, Paris 1959 ( = SC, 64), S. 58, X X , berichtet von einem vorbildlichen Eremiten Pinuf, der vor dem ihm Ehre einbringenden Ruf der Heiligkeit die Flucht ergreift. Die Dialogi und die Collationes sind zwei der älteren Beispiele, die Guillaume de Berneville bekannt gewesen sein dürften. Belege, welche das Wunder als zweideutig ablehnen, da Gute und Böse Wunder wirken können, und die Tugend allein als Ausweis der Heiligkeit gelten lassen, finden sich bei Klaus Schreiner, >Discrimen veri ac falsiliberiusvacarevacare Deo soli< Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 101, 1 2 2 - 2 6 , 128 u.a., ders., Otia monastica, S. 49 und 143. 131 Les deux rédactions en vers du Moniage Guillaume. Chanson de geste du XIIe siècle, publiées d'après tous les manuscrits connus par Wilhelm Cloetta, Paris 1906 und 1 9 1 1 , Seconde rédaction, S. 136, X X X V I .

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Ore m'en fuierai an estrange régné, A Saint Michel al Péril de la mer, U en un guast u ja mes ne seie trové; La devendrai hermites ordené, (vv. 2414-15, 2417-18) 1 3 2 Es muß in der >künstlerischen< Absicht Guillaumes' liegen, wenn er sich v o r erst v o n einer solch eindeutigen Festlegung der Situation distanziert. § 7 1 . Die komplizierte A n l a g e des Erzählvorganges bei Guillaume de Berneville läßt freilich das Plötzliche und f ü r die U m w e l t Überraschende an Gilles' geheimem Auszug überzeugend in Erscheinung treten. D i e komprimierte E r zählung v o n der Flucht macht das bange E r w a r t e n des Ausganges und dann das glückliche Entkommen einigermaßen f ü h l b a r und nachvollziehbar, wenn auch weniger durch eine entsprechende a f f e k t i v e Beschwörung des Lesers denn durch eine imitatorische Bewegung im E r z ä h l g a n g . D i e Flucht Gilles' vollzieht sich erzählerisch in einer engen Folge aufgereihter Tatsachen und Umstände. K a u m sind die Kammerdiener trunken v o m Fest eingeschlafen, erhebt sich Gilles leise und verläßt sein Zimmer, ohne sich mit Gepäck zu belasten. D i e besondere Dunkelheit jener Nacht - in doppelter E r w ä h n u n g (v. 629 und 635) realistisch betont - kommt ihm zustatten: die Nachtwächter im T u r m an der äußeren Mauer bemerken ihn nicht. Ultre passe ke nul nel veit, Fors sun seignur kil conduieit; Ore en penst Deu par sa merci, Que pur s'amur ad tut guerpi. (vv. 637-640) S o unterschlägt Guillaume de Berneville z w a r das W o z u der Flucht - in der lateinischen Version P bestimmt - , um allein das W a r u m zu nennen: aus Liebe zu G o t t 1 3 3 . § 72. In einem erzählerischen Neueinsatz geht Guillaume de Berneville auf ein besonderes Moment der Fluchtgeschichte ein und baut es mit Rücksicht auf den eminent geistlichen G e h a l t der gesamten V i t a thematisch aus ( v v . 641 bis 654). Schon mit der F o r m e l : Que pur s'amur ad tut guerpi (v. 640), gewinnt der Legendenautor eine Perspektive, in deren Sicht die rein faktisch gemachten Angaben überholt werden. H a t t e er v o n Gilles eben noch berechnet und stark realistisch ausgesagt: Il ne se vot de dras charger Fors de cels k'il ne pout leisser, Kar se il fut affardeillé, Trop Ii custat l'aler a pé (vv. 625-628), 132 133

La Chançun de Willame, S. 66, CCVII. Zur peregrinatio >propter Dei amorem< vgl. Margrit Koch, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther, S. 59ÍÍ., auch Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 123. 142

so genügen nun diese bloßen Tatsadienangaben nicht mehr. Der durch die Schwierigkeiten der Flucht und durch die Sorge um schnelles Entkommen bestimmte Bericht wird jetzt im Sinne des zu zeichnenden Heiligkeitsideals modifiziert. Vorerst wird Gilles auf dem Weg gezeigt: Gires est en la veie mis, Gerpist sa tere e ses amis. (vv. 641-642)

Darnach entwickelt der Autor anhand der wiederaufgenommenen Worte »dras« und »aler a pe« das nun wichtige paupertas-Thema. Durch die negative Aufzählung all dessen, was Gilles nicht mehr hat, zielt Guillaume auf eine geistliche Deutung der Flucht. Der drastische Mangel führt zur befreienden Antithese, das Armuts-Thema zeigt den Hohlraum her, der Gottes Eingreifen herausfordert: Meis Deus ki est riches d'aveir lui truverat sun estuveir. (vv. 647-648)

Im Hintergrund dieser Verse steht das biblische: Jacta super Dominum curam tuam, et ipse te enutriet (Ps. L I V , 23, Matth. V I , 26, 1. Petr. V, 7). § 73. Der Passus umschreibt eine erste Form des im Prolog angekündigten Lebens von ungekochten Kräutern, d. h. es beginnt eine Lebensphase, in der sogar das Lebensnotwendigste dem - allerdings reichen - Gott anheimgestellt wird. Die mit dem freigewählten Exil verbundene Mühe wird jetzt als asketische Leistung gewertet und als solche sicher dem »grant labur« (v. 4) des Prologs zuzurechnen sein, ohne daß allerdings der geistliche Fachausdruck tuam, et ipse te enutriet (Ps. L I V , 23, Matth. VI, 26, 1. Petr. V, 7). Andererseits wird die Stelle durch die Ausweitung in den geistlich-asketischen Bereich nicht verflüchtigt. Es bleibt dabei, daß Gilles, da er fürchten muß, daß man ihm nachstellt, im eigenen Interesse möglichst unbelastet durch etwelchen Proviant und andere Ausrüstung schnellstens davonzukommen sucht. Das angestrengte und entbehrungsreiche Gehen ist damit in die krude Realität und Notwendigkeit zurückgebunden. Guillaume de Berneville deutet jetzt tatsächlich im Anschluß an den Fluchtbericht an, die Suche nach Gilles befinde sich in vollem Gange (vv. 6$ 5-660). Immerhin sehen wir Gilles bereits auf einem Wege, der die Form der selbstgewählten peregrinatio hat. Freiwilliger Auszug in spürbarer Armut sind Zeugen einer inneren Disposition, die gewiß latent seit jeher im Heiligen vorhanden war, die sich jetzt aber nach außen darzustellen beginnt und mit zunehmender Entfernung vom Palast die endgültige Form einer unwiderruflichen conversio annimmt 134 . 134

Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter, (Diss.) Zürich 1958, S. 97, notiert die auch auf unsere Textstelle zutreffende Beobachtung: »Bezeichnend für das mittelalterliche Denken ist es, daß die seelische Abwendung von den Menschen mit einer gleichzeitigen räumlichen Ent-

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§ 74- Die durch den Legendenautor erzählerisch sorgfältig vorbereitete Suche nach dem entkommenen Heiligen — es wurde ja bereits auf die notwendige Eile bei der Flucht verwiesen — wird in einem eigenen Erzählabschnitt breit und gründlich ausgeführt (vv. 661-762). Dieses lange Nachspiel zur Flucht bildet, auch umfangmäßig, das Pendant zur langen Fluchtvorbereitung. Der kurz gefaßte Bericht von der Flucht selbst ist somit von Vor- und Nachspiel flankiert und symmetrisch eingerahmt. Umfassend betrachtet bildet die Fluchtgeschichte einen mächtigen Komplex 1 3 5 . Die Suche nach dem verschwundenen Heiligen wird mit allen Mitteln der rhetorischen Dramatisierung beschrieben. Das Entsetzen und der Schmerz über das Vorgefallene wird zuerst an einer einzelnen, dem Heiligen nahestehenden Person, am Kammerdiener, vorgeführt (vv. 661-702). Die Suche beginnt so im Innersten, im Herzen des Palastes: der intimste Diener des Heiligen nämlich sucht am Morgen nach dem Fest vergeblich nach den Schuhen, um sie seinem Herrn behilflich hinzuhalten. Nachdem er sich überzeugt hat, daß das Bett leer und Gilles entflohen ist, fällt er - eine stereotype, aber dennoch heftige Schmerzensäußerung - ohnmächtig hin. Seinem Erwachen folgen weitere topisch formulierte Äußerungen der Trauer und des Schmerzes, Von-Sinnenkommen, Händeringen, Haareraufen, welche die intensive Klagerede einleiten 136 . Ein neuer, als Äußerung der Innerlichkeit und des Seelenlebens ernst zu nehmender Ohnmachtsanfall beendet die Rede; ernst zu nehmen, da solch expressive Gestik nur durch Wiederholung und quantitative Häufung intensiviert und in ihrer Ausdruckskraft erhöht werden kann 187 . fernung verbunden war. Für die Übertragung seelischer Werte auf räumliche gibt die >Vita sancti Columbani< ein typisches Beispiel. Eine Rekluse spricht mit Columban über die Notwendigkeit des Asketentums. Sie erwähnt den Ausdruck >peregrinatio< und versteht damit die Loslösung des Menschen von Heimat und Familie, die ihn allein zur Gottnähe führen kann. Columban steigert darauf diese asketische >peregrinatio< zu einer >peregrinatio trans mare< [ . . . ] . « Vgl. auch Matthäus Bernards, Speculum virginum. Geistigkeit und Seelenleben der Frau im Hochmittelalter, Köln/Graz 1955 ( = F V , Band 36/38), S. 166, nennt einige Glieder bis zurück zur Antike, die das Motiv vom Pilger- und Fremdlingsein des Menschen auf Erden belegen. 135 w a s Guillaume de Berneville reichlich amplifiziert, findet sich in Le Moniage Guillaume in nuce: Guillaume flieht aus dem Kloster, ohne daß seine Gefolgsleute es wissen; sie beklagen am Morgen ihren nicht mehr aufzufindenden Herrn (Le Moniage Guillaume, Seconde redaction, S. 44, II, v. 6jff.). 1M

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J . W. B. Zaal, >A lei francescar, S. 77fr., handelt überzeugend von den den vulgärsprachlichen Viten eigenen emotionalen Zügen, wie sie sich besonders häufig und eindrücklich in den Klagereden vorfinden. Er schließt von der eindringlichen Erzählweise auf die Absicht der Legendendichter, das Publikum zu fesseln und zu erschüttern. Zum Ausdrude des Schmerzes durch Ohnmacht vgl. Erhard Lommatzsch, Darstellung von Trauer und Schmerz in der altfranzösischen Literatur, S. 4 3 - 4 5 , ebda. S. 49S. zu den Jammergebärden wie Händeringen, Zusammenschlagen der Hände, Haareraufen &c. Dies gilt wohl grundsätzlich; vgl. Kurt Oppens, Zu den musikalischen Schriften

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D i e G e b ä r d e n s p r a c h e p r ä g t den g a n z e n A b s c h n i t t d e r Suche, sie r h y t h m i s i e r t ihn durch G e s t i k u n d p l a n c t u s . § 7 5 . D a s K l a g e g e s c h r e i des K a m m e r d i e n e r s w e c k t u n d v e r s a m m e l t die g a n z e D i e n e r s c h a f t des P a l a s t e s ( v v . 7 0 3 - 7 5 2 ) . S c h m e r z u n d T r a u e r g r e i f e n d a m i t auch r ä u m l i c h u m sich, desgleichen d e h n t sich die Suche in i m m e r w e i t e r e m U m k r e i s aus. M a n untersucht n u n nicht m e h r n u r das S c h l a f z i m m e r , s o n d e r n die g a n z e S t a d t . D e m N i c h t f i n d e n entspricht das A u f g e b o t a l l e r möglichen S c h m e r z e n s b e z e u g u n g e n , auf die eine z w e i t e K l a g e r e d e , d i e s m a l A u s d r u c k eines K o l l e k t i v s , f o l g t ( v v . 7 2 6 - 7 5 0 ) . S o g r e i f t die T r a u e r , v o r a l l e m d a s W e i n e n , auf einen nochmals e r w e i t e r t e n U m k r e i s , auf die gesamte S t a d t ü b e r ( v v . 7 5 3 - 7 6 2 ) . M e i s t e r h a f t v e r s t e h t es G u i l l a u m e de B e r n e v i l l e , den S c h m e r z , dessen A u s d r u c k v o n A n f a n g an der h e f t i g s t e ist, durch ein räumliches U m s i c h - G r e i f e n m a x i m a l z u steigern. D i e verschiedenen,

die Suche begleitenden

Klagereden,

nicht d a r a u f

be-

schränkt, M i t l e i d z u erregen u n d z u erschüttern, v e r m i t t e l n ein v a r i i e r t e s B i l d des L e g e n d e n h e l d e n . A u s d e r Sicht d e r >normalen< U m w e l t u n d des gesunden M e n s c h e n v e r s t a n d e s , auf den sich schon e i n m a l die B a r o n e u n d V a s a l l e n in i h r e r B e r a t s c h l a g u n g m i t G i l l e s b e r i e f e n , w e r d e n das v e r l o r e n e E r b e , die v e r t a n e J u g e n d u n d die enttäuschte R i t t e r s c h a f t b e k l a g t . G i l l e s e r w e i s t sich, in seiner A b w e s e n h e i t d o p p e l t , ü b e r einen solchen S t a n d p u n k t w e i t e r h a b e n , i h n t a n g i e r t d e r I n h a l t der K l a g e n ü b e r h a u p t nicht. § 7 6 . D i e in den verschiedenen E t a p p e n v o r sich gehende Suche stellt nicht b l o ß ein die S p a n n u n g erhöhendes, r e t a r d i e r e n d e s M o m e n t d a r ; sie schiebt nicht e i n f a c h die B e f r i e d i g u n g d e r N e u g i e r d e auf den w e i t e r e n Geschichtsv e r l a u f m e r k l i c h h i n a u s ; sie spielt nicht in erster L i n i e m i t d e m W i d e r s t r e i t zwischen g e s p a n n t e r E r w a r t u n g u n d h i n a u s g e z ö g e r t e r E r f ü l l u n g . D i e Suche schafft i m G e g e n t e i l z u s a m m e n h ä n g e n d e Z e i t , einen Z e i t r a u m , in d e m n u n G i l l e s s t ä n d i g u n t e r w e g s ist. D i e w e i t a u s g e d e h n t e , d r a m a t i s c h e Suche suggeriert eine w a c h s e n d e G e w i ß h e i t , d a ß G i l l e s ' Flucht g e l u n g e n sei. § 7 7 . E b e n diese Ü b e r z e u g u n g , d a ß G i l l e s w i r k l i c h e n t k o m m e n k o n n t e , w i r d b e s t ä t i g t u n d v e r s t ä r k t durch den E i n s a t z des neuen E r z ä h l a b s c h n i t t e s ( v v . 763-906): Gires ne cesse le l'errer Sun dreit diemin vers la grant mer. (vv. 763-764) D i e G e w i ß h e i t , d a ß G i l l e s i m W e t t l a u f m i t der f ü r die Suche a u f g e w e n d e t e n Z e i t g e w i n n e , t r ü b t sich nicht durch die g e t r o f f e n e V o r s i c h t s m a ß n a h m e .

Im

Theodor W. Adornos, in: Über Theodor W.Adorno, Frankfurt a. M. 1968 ( = BS, 249), S. 15: » [ . . . ] die Geste kann wiederholt und gesteigert, aber nicht eigentlich entwickelt werden; sie kann keine neue Qualität aus sidi heraus entlassen [. . .].«

141

Gegenteil, es wirkt beruhigend, wenn der Heilige, aus Furcht erkannt zu werden, nicht auf den eigentlichen Hafenplatz zielt. In einem kurzen Einschub - der u. a. den Vers: O d faim, od sei e od labur (v. 768), welcher v. 4 des Prologs abwandelt, enthält - insistiert Guillaume de Berneville wiederholt auf der asketischen Mühe, bevor er Gilles sich irgendwo am Meeresstrand niedersetzen läßt. Es ist dies wohl eine vorläufige Erfüllung des früheren Gebetes: Conseillez mei quel part irrai; Enseignez mei veie a tenir Pur quei jo puisse a vus venir. (vv. 554-556) Der Heilige bittet sogleich umstandslos Gott und den heiligen Nikolaus 1 3 8 um irgendein Schiff, das ihn hinüberführe 1 3 9 ; zu einer >peregrinatio trans mareperiller< bestimmt und eingefaßt: E vit une nef periller (v. 7 7 7 ) und Gires veit la nef periller (v. 7 9 3 ) 1 4 7 . § 8 1 . M a g sein, daß sich darin das von der >Welt< her gesehene Abenteuerliche und Ungewisse von Gilles' Aufbruch am Horizonte postiert. Für den Legendenheiligen jedoch ist es bezeichnend, daß ihn die geschaute chaotische Entfesselung der Elemente in einem selbstbezogenen, persönlichen Sinne nicht berührt und seine ruhige Seelenlage nicht beeinträchtigt. Die vor seinem Gesicht auftauchende Erscheinung wirkt auf ihn nicht wie ein Schreckgespenst; sie ruft im Heiligen allein die in unserer Legende bekannte und oft wiederkehrende Reaktion hervor, ein überwältigendes, mächtiges Erbarmen: Gires veit la nef periller E la mer braire e engrosser: Des mariners out grant pite. (vv. 793-795) Gilles als Seher des erschreckenden Ereignisses bildet also wohl den Mittelpunkt des Erzählabschnittes von der Sturmesschilderung, er ist aber in einer Bewegung des Mitleides auf die Gefährdeten ausgerichtet. § 8 2 . Die neutestamentlichen Bibelstellen vom barmherzigen Samaritan (Luc. X , 3 3 : Samaritanus autem quidam iter faciens, venit secus eum; et videns

147

ten, menschenfeindlichen Meer durchsichtig; das unverläßliche und abgründige Element stellt sich in ihm dar. Zur sinnbildlichen Bedeutung des Meeres in der Ausdeutung durch Fulgentius vgl. Reto R . Bezzola, Liebe und Abenteuer im höfischen Roman, S. 16: »Die >Aeneis< in ihrer Gesamtheit ist das Sinnbild des menschlichen Lebens. Auf diese Weise ist z. B. das Meer nichts anderes als der Menschenleib, in Bewegung gesetzt und geschüttelt von den durch die Wellen dargestellten Lastern: Habgier und Unzucht.« Diese moralische Interpretation findet sich auch im dritten Traktat De miseriis hominis, mundi et inferni [. . ./ des Hugo von Miramors (gestorben 1220/30) wieder. Das Bild des Meeres steht da für die Plagen der Welt; vgl. dazu Rainer Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Köln/Graz 1957 ( = F V , Band 39), S. 29-30. Die Legende vom heiligen Julianus in altfranzösischen Versen, Herausgegeben von Adolf Tobler, Braunschweig 1899, S. 4, v. 53, spricht von »cest monde amer«, überträgt also das Epitheton vom bitteren Meer auf das, was jenes versinnbildlicht, die Welt. Konrad Kunze, Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet, S. 61, führt eine im Gefolge des Walafrid Strabo stehende Stelle des Rheinischen Marienlobes (kurz nach 1220) an, die vom »bitteren Meer der Sünden« spricht; ebda. S. 1 2 1 wird ein Hymnus De saneta Maria. Aegyptiaca resümiert, u. a. die Flucht der Heiligen »vor den Stürmen auf dem Meer der Welt in den Hafen der Wüste«. Zur Deutung dieser sprachlichen Einfassung der Szene vgl. die feine Deutung von Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 167, in der er zum Schluß kommt: »Die Seesturmschilderung ist also keine unabhängige Naturbeschreibung, sondern steht in Beziehung zum Heiligen der Dichtung. Das liegt ganz in der Berneville'schen Darstellungsart, die Gilles immer in den Mittelpunkt stellt. Die Verben »periller« (V. 777) und »dechacer« (V. 778) stehen nicht selbständig da, sondern als Objekt des Schauens unseres Heiligen.« 149

eum, misericordia motus est.) und von den >viscera miserationispaix, Christ et miséricordes« Ebda. S. 180 Anm. 7 Belege für spätere, analoge Stellen: »Par exemple, Vie de S.Romuald, V I , I, p. 13, 1 1 ; Vie de S. Procope, V I , II, p. 78, 1 2 ; C f . Sulpice Sévère, Epist., I I I , II, éd. Halm, p. 148, 1 3 - 1 4 . « Die Referenzen beziehen sich auf die Acta Sanctorum O. S. B. 150

151

152

Vita beati Bernardi de Tironio, P L C L X X I I , 1 3 7 5 C . Ebda. 1385, 28 Erwähnung des Mitleids, 1427, 1 0 1 B Seufzen und Weinen des Heiligen aus Mitleid. Dom Jean Leclercq, L'Ecriture Sainte dans l'hagiographie monastique du haut moyen âge, S. 1 1 2 , begründet den Rückbezug der Heiligenlegenden auf die Bibel so: »La Bible est l'arsenal littéraire des auteurs de Vies de saints parce que les faits bibliques suscitent, orientent et stimulent la sainteté.« In der Diskussion des Vortrages von Dom Jean Leclercq, L'Ecriture Sainte dans l'hagiographie du haut moyen âge, S. 296, wird darauf aufmerksam gemacht, daß der Vitentext die Bibel auch mittelbar über andere Viten imitieren könne. Zur Hagiographie als Exegese der Heiligkeit vgl. ebda. S. 123. Die Lebensbeschreibung des heiligen Einsiedlers Godrich beriditet ebenfalls, daß der Heilige eine Unterhaltung plötzlich unterbrach, um f ü r ein Schiff in Seenot zu beten; vgl. dazu Hubert Dauphin, L'érêmitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 291. IJO

Guillaume de Berneville verlangt durch die doppelbödige, in real-buchstäblidiem und zugleich in allegorisch-metaphorischem Sinne aufzufassende Redefigur »a port de salu« (v. 7 9 7 ) ein spirituelles Verständnis des erblickten U n glücks und bestätigt somit die Sinnbildlichkeit seiner

Sturmesschilderung,

ohne sich allerdings auf eine fixe Deutung festzulegen 1 5 3 . Eine andere hagiographische Dichtung dagegen formuliert zum Schluß eine Bitte um Errettung in den sicheren H a f e n : Nos qui sumus in hoc mundo, vitiorum in profundo jam passi naufragia; Gloriose Nichola:: ad salutis portum trahe; tibi p a x et gloria 1 5 4 ! Wenn Guillaume de Berneville seine Sturmesschilderung gewiß nicht auf eine moralische Interpretation einengen wollte, so mußte er doch damit rechnen, daß auch diese gängige Vorstellung durch sein Sturmes-Sinnbild ins Spiel gerate. § 84. Natürlich stellt sich nunmehr das W u n d e r ein, der Sturm und damit die heftige Bewegung des Meeres beruhigen sich alsogleich 1 5 5 . Gilles gehört durch dieses Mirakel in die Reihe derjenigen Heiligen, denen W i n d und Wellen, die wilden und unberechenbaren Elemente gehorchen (vgl. das modellhafte Wunder Christi bei Matth. V I I I , 2 6 und Luc. V I I I , 2 5 ) 1 5 8 . 153

M a x w e l l Sidney Luria, The Christian Tempest. A Symbolic Motif in Médiéval Literature, (Diss.) Princeton Univcrsity 1965, stand mir leider nicht zur V e r fügung. Die in den Dissertations Ahtracts X X V I , 9 (1965/66) 5436, einzusehende Zusammenfassung dieser Studie gibt zu verstehen, daß die mittelalterliche Sturmtopik zumeist in sinnbildlicher Bedeutung verwendet wurde. Die S y m bolik, d. h. der über den Literalsinn hinausgehende Sinn, bezog sich nach den genannten Untersuchungen auf drei Bereiche: »(1) life's tribulations and instability, sometimes mythologically attributed to Fortune; (2) moral temptations; (3) the metaphysical principle of materiality.« In biblische Terminologie umgesetzt wären diese drei Bereiche: göttlicher Maditerweis, Gnade, Erlösung. Die antike Metapher vom mare v i t ® erscheint christianisiert (untersucht in den K a piteln 1 und 2 der Studie). 154 M. Edélestand du Méril, Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle, Paris 1843, Prose sur saint Nicolas, S. 1 7 3 . 155 Tristan, S. 18, betont, daß Ingrid Hahn, Raum und Landschaft in Gottfrieds die Stillung des Sturmes ein Motiv sei, das sich ganz allgemein gerne mit dem Sturmtopos verbinde und nicht allein der Legende mit ihren Mirakeln vorbehalten sei. Beispiele f ü r die Beruhigung des Unwetters ebda. S. 18 und Anm. 53. 158 Stillung eines Meeressturmes wird ebenfalls berichtet vom heiligen Romuald (vgl. S. Pier Damiani, La Vita di San Romualdo, Camaldoli 1963, Kapitel 1 3 3 , S. 86-87). Vgl. zudem die Angaben bei Gregorio Penco, L'imitazione di Cristo nell'agiografia monastica, C C i s t X X V I I I (1966), S. 1 9 - 2 2 vor allem. Die Vita beati Bernardi fundatoris de Tironio in Gallia, Auetore G a u f r i d o Grosso, P L C L X X I I , 1384(1., berichtet von Seeräubern, die u . a . mit Menschenbeute im Sturm auf die Insel des Eremiten verschlagen werden. Nach-

151

Der Legendenautor hat das Seesturm-Motiv nicht allein darum so ausführlich in sein Heiligenleben eingearbeitet, weil er die Tugend des Erbarmens und des Mitleids an Gilles exemplifizieren und dessen thaumaturgische Kraft einmal mehr erzeigen wollte 1 5 7 . Die Sturmesszene hat darüber hinaus eine zukunftsweisende und motorische Funktion. Die topische Sturmesschilderung muß als stimulans actionis die Geschichte von der Stelle und in erneute Bewegung bringen 158 . Sie führt dem Heiligen deshalb das ersehnte und herbeigewünschte Schiff zu 1 5 9 . Z u einem Schiffbruch durfte es allein schon aus diesem

157

158

1M

dem sie erneut in See gestochen sind, entfesselt der Heilige - der umgekehrte Prozeß der Sturmstillung - einen gewaltigen Sturm (ebda. I386f.), bis die Piraten in sich gehen und die Gefangenen frei geben. Sturmstillung gibt es in der Nikolausvita, des Robert Wace; vgl. Mary Sinclair Crawford, Life of St. Nicholas, Philadelphia 192}, S. 78, v v . 226-56. Philipp Krämer, Das Meer in der altfranzösischen Literatur, S. 35ÎF., stellt im Vergleich mit dem Nikolausspiel und dem Roman de Brut von Wace bei Guillaume de Berneville eine Verinnerlichung in der Sturmesschilderung fest. Vgl. auch die Angaben über Sturmstillungen in der altfranzösischen volkssprachlichen Literatur bei Edilestand du Méril, Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle, S. 172 Anm. 1. Die Funktionalität der topischen Sturmesschilderung erkennt bereits Wilhelm Frahm, Das Meer und die Seefahrt in der altfranzösischen Literatur, S. 14: »Für den Aufbau der Handlung war den Autoren der Sturm ein willkommenes Hilfsmittel. Durch Einschalten eines Seesturmes konnte der Ort in beliebiger und doch glaubwürdiger Weise geändert werden, denn was war daran unwahrscheinlich, wenn ein Schiff unversehens an eine fremde Küste verschlagen wurde.« Von der Vie de saint Gile gilt im besonderen: »Aegidius, der um der Gefahr des Erkanntwerdens zu entgehen, Hafenorte gemieden hatte, kommt durch einen Sturm zu einer Überfahrt (St. Gilles 77Öff.)« (ebda. S. 15). Auch Mary Dominica Legge, Anglo-Norman Literature and its Background, S. 149-50, betrachtet die Sturmesschilderung als movens der Erzählung: »In Tristan, and even S. Gilles, the sea is a means of getting from place to place.« Weiter ausholend behandelt Ingrid Hahn, Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan, S. 1 8 - 1 9 , die erzähltechnische Aufgabe der mittelalterlichen Sturmesschilderung: »Die eigentliche Bedeutung des Sturmtopos erschöpft sich nicht im Faktischen; vielmehr hat das Unwetter auch für den programmgemäßen Ablauf des Handlungsgeschehens zu sorgen. Odysseus wird durch den Rachesturm Poseidons nirgends anders als am Waschplatz der schönen Nausikaa angespült, Aeneas landet an der Küste Didos, und noch Gahmuret gelangt geradeswegs vor die Burg der bedrängten Belakane. Schicksalhaft ist der Weg des guten Sünders Gregorius, und so wird er seiner Mutter und Gattin unausweichlich entgegengeführt. Das Verschlagenwerden an eine zumeist ganz bestimmte, von Gott oder der Aventüre vorgesehene Küste ist für den Sturmtopos konstitutiv.« Ebda. S. 19 Anm. 57 die Ergänzung, daß mit der Verchristlichung des Topos Gott lenkend eingreift im Sturm. Gewitter und Irrfahrt werden auch in Le Moniage Guillaume, Seconde rédaction, S. 204-205, L X , v v . 333sff., zur glücklichen Führung des Geschehens eingesetzt; dank ihrer kann Guillaume gerade noch früh genug aus dem Gefängnis von Palermo befreit werden. Wilhelm Frahm, Das Meer und die Seefahrt in der altfranzösischen Literatur, S. 47-48, weist auf die genaue Kenntnis hin, in der Gilles das Fahrzeug gleich als Transportschiff erkennt. IJ2

Grunde nicht kommen. Die auf die Zerstörung des Schiffes anspielenden Redefiguren der topischen Sturmesschilderung fanden darum auch keine Verwendung und nach der Stillegung des Unwetters landet das Fahrzeug unbeschädigt und heil genau an der Stelle, da Gilles um die Errettung der Mannschaft betet (vv. 798-806). Die Seeleute sehen ihn und erkennen den Zusammenhang augenblicklich: Ben sorent ke pur sue amur Les aveit Deus garri le jur. (vv. 8 1 3 - 8 1 4 )

Das Seesturm-Mirakel ist somit in doppelter Hinsicht ins Ganze der Legendenerzählung verankert; einerseits illustriert es die in der ganzen Vita vom Dichter nachdrücklich herausgestellten Tugenden der Caritas und misericordia, andererseits bewirkt es im Lebenslauf des Heiligen eine das Geschick wendende Bewegung. §85. Im Gespräch mit der Schiffsmannschaft wird das Thema des Auszuges neu fundiert (vv. 807-905). Auf die Frage nach seinem Woher und Wohin gibt Gilles seiner Flucht vor Reichtum und Ehre eine bestimmte, früher nur vage erwähnte Deutung (vgl. v v . 543-546), indem er antwortet: Pur mes peches espeneir M'estot de ma contree issir. (vv. 825-826)

Gilles legt nun selbst seine Flucht als Anfang einer freiwillig auf sich genommenen Bußfahrt aus; der Aufbruch zur peregrinatio soll eine Sündenschuld sühnen. Das vorerst ins Auge gefaßte Reiseziel Rom mag hierin seinen Grund haben, denn es war der Papst, welcher nach einem kirchlich festgelegten Zeremoniell solche Bußfahrten offiziell über den reuigen Sünder verhängte oder annahm. Wollte Gilles in Rom seine freigewählte Pönitenz dem Oberhaupt der Christen unterstellen? §86. Die lateinische Vorlage P ist auch an diesem Punkte klarer als die altfranzösische Legendendichtung Guillaumes. Sie begründet den Aufbruch und die Reise nach >Übersee< mit aller Deutlichkeit so: [. . .] ut liberius Deo vacaret [Aegidius], solitariam vitam expetens, transeundum mare disposuit160.

Hier steht das eremitische Leben von Anfang an als Ziel der peregrinatio fest; der Auszug ist mit dem Entschluß zum eremitischen Leben identisch. Eine solche Gleichsetzung von freiwilligem Exil und Ergreifen des Einsiedleroder einer anderen Form des Mönchstandes findet sich auch in volkssprach180 161

E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A, S. 101. Le Poème moral, Zweiter Teil, Kapitel V I , S. 149, 484, vv. 1 9 3 2 - 1 9 3 6 .

153

licher religiöser Dichtung. So definiert der Autor des Poeme moral die vita eremitica als radikale Ausheimatung: L i hermite guerpirent lur bien, lor heritage; Relenquirent parenz et amis et vinage; Par l'amur Deu, manoient tot sol en l'ermitage E t grant paine sofroient en la terre salvage 1 6 1 .

Auch Philippe de Thaün bezieht in seinem Bestiaire die »mustelete« allegorisch auf den Einsiedler, der alles hinter sich läßt 162 : Saciez icest oisel N u s mustre essample bei: Issi fai om sené Que Deus at espiré, ses eirs guerpist en tere P u r l'amur D é cunquere, Celui ki l'engendrât, L a mere kil portât, T u z cels de sun lignage, T a n t est de sainte curage, Si cum funt saint chanuine, Saint ermite e saint muine. ( v v . 1 2 7 7 - 1 2 8 8 )

Noch der Jesuit Jacobus Gretser (1562-1625) hält an der Aequivalenz von peregrinatio und Ubertritt in den Eremitenstand fest: Est & aliud peregrinationis genus, discessio ex patria dom6que paterna in eremum vel Monasterium quodpiam, animo perpetim in eo perseverandi, absque reditus ad suos proposito. Qualis peregrinatio est monastics vel eremitica: v i t « professio Sc peregrinus, Monachus vel Eremita 1 6 3 .

Dieser Definitionstypus des Einsiedlerstandes ließe sich zeitlich rückwärts mindestens bis zu Augustinus verfolgen, der den >transitus per eremum< als die exemplarische Figur des allgemein christlichen Fremdlingseins auf Erden 184 betrachtet. Die Verbindung von peregrinatio und vita eremitica war anscheinend selbstverständlich. Spricht Guillaume de Berneville vielleicht deshalb nicht davon? § 87. Noch etwas ist in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen. Gilles spricht den geretteten Kaufleuten gegenüber von einer Bußfahrt, auf der er sich befinde und die er in Rom wohl als solche sanktionieren lassen will. Zugleich läßt Guillaume de Berneville - indem er die Flucht seines Helden als peregrinatio charakterisiert - die Möglichkeit zu, daß man die Flucht 182 163

164

Le Bestiaire de Philippe de Thaün, S. 48. Jacobi Gretseri Opera Omnia, Tomus I V : Defensio rituum ecclesiasticorum, A n h a n g : De sacris et religiosis peregrinationibus, Liber primus, C a p u t I, S. j E . Baudouin de Gaiffier, Etudes critiques d'hagiographie et d'iconologie, S. } j A n m . 1, weist auf Predigt 363 hin, in welcher Augustinus von der peregrinatio handelt. 1

54

G i l l e s ' als A u s z u g zu einem Eremitenleben verstünde. D a es sich e m p f a h l , f ü r das als Pönitenz g e w ä h l t e Einsiedlerleben eine päpstliche Spezialerlaubnis einzuholen, wenn man nicht z u v o r in ein K l o s t e r eintreten w o l l t e 1 6 5 , k a n n die E r k l ä r u n g G i l l e s ' sich schließlich auf diesen Sachverhalt beziehen. G u i l laume de B e r n e v i l l e mußte aus der hagiographischen L i t e r a t u r mindestens z w e i P r ä z e d e n z f ä l l e kennen: den heiligen K o r b i n i a n (8. J a h r h u n d e r t ) , der nach R o m pilgerte, u m die Erlaubnis zu einer v i t a solitaria zu b e k o m m e n 1 6 6 , und den heiligen G o d r i c h (gestorben

1 1 7 0 ) , Zeitgenosse und

Landsmann

unseres L e g e n d e n a u t o r s 1 6 7 . Tatsache jedoch bleibt, d a ß G u i l l a u m e de B e r n e v i l l e sich nicht bemüßigt f ü h l t , das Reiseziel R o m näher zu begründen und auf eine F r a g e der k a n o n i schen Rechtlichkeit w o h l gar nicht einzugehen g e w i l l t ist. W a s Gilles im Selbstgespräch sagte: Rume est chef de crestienté U Ii apostle unt conversé; Men escient si la esteie Aukes de bien i aprendraie (vv. 5 57-560) 1,5

186

167

Herbert Grundmann, 2 u r Vita s. Gerlaci eremita, S. 541, 543-44 und $43 Anm. 13, erwähnt und kommentiert die auf eine vita solitaria als Pönitenz bezüglichen Rechtsverhältnisse anhand der Vita des heiligen Gerlach (gestorben 1164 oder 1165). Zur Sondererlaubnis für Korbinian vgl. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S.73. Zum Lebenslauf des heiligen Godrich vgl. Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 289-92. Leider stand mir die Studie von Rötha Mary Clay, The Hermits and Anchorites of England, London 1 9 1 4 , die eventuell weiteren A u f schluß hätte geben können, nicht zur Verfügung. Zu Godrich und weiteren Eremiten, welche eine Erlaubnis einholten, vgl. vor allem Herbert Grundmann, Zur Vita s. Gerlaci eremita, S. 543-44, wonach der heilige Gerladi von Papst Hadrian I V . die Bewilligung erhielt, ein Eremitenleben zu führen, ohne sich vorher einem Kloster oder einer approbierten Regel anzuschließen. Dazu der Kommentar: »Überdies war es in dieser Zeit kein ganz vereinzelter Fall, daß der Papst einem zur >vita religiosa< bekehrten Laien erlaubte, als Eremit zu leben, ohne zuvor ins Kloster zu gehen (wie es die Regel Benedikts c. L und c. X X I I I als Vorschule in der >acies fraterna< für die >singularis pugna heremi< der >anachorit£e, id est heremit£e< forderte)« (ebda. S. 543). Weitere Einsiedler, die eine solche Sondererlaubnis bekamen, sind Galgano aus Chiusdino bei Siena (Erlaubnis 1 1 8 0 erhalten), Wilhelm von Malavalle (gestorben 1 1 $7 am Monte Pisano) und »noch früher hatte wohl auch der englische Kaufmann Godrik (f 1 1 7 0 >magn£e astatis senio succrescenteTristan de NanteuilVie de Saint Alexis< im 1 1 . Jahrhundert.« Verzichtete man deshalb nicht geradewegs auf die Asketen, so trug man doch bei ihrer Beschreibung dem neuen Ideal Rechnung.

183

Zur Wahl von Wald, Berg oder Insel als eremitischer Wohnort vgl. Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 218, wo die Insel als bevorzugter Ort bezeichnet wird. Zum Inselaufenthalt auch ebda. S. 224, wo präzisierend bemerkt wird: »Le goût de la vie solitaire au milieu des flots paraît avoir été particulièrement prononcé parmi les ascètes celtiques.« Zur Besiedlung der mittelmeerischen Inseln durch Einsiedler vgl. L'Ile et l'Abbaye de Lérins. Récits et description par un moine de Lérins, Lérins 3 i 929. S. 14fr. Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 274, zählt historisch verifizierbare Viten auf, die von Jahrgängern und Zeitgenossen Guillaume's handeln: » [ . . . ] celle [Heiligenvita] de S. Henry, venu de Danemark pour vivre en ermite sur la petite île de Coquet, à l'est de la Northumbrie, et qui mourut en 1 1 2 0 ; celle de S. Caradoc, qui mena la vie érémitique en divers endroits du Pays de Galles, et mourut à Ménévia en 1 1 2 4 ; celle de S. Wulfric, reclus à Haselbury en Somerset, mort en 1 1 5 4 ; celle de S. Godric, l'ermite de Finchale, qui mourut centenaire

184

161

in der Brendansreise

mit der Insel des Eremiten Paulus, in der Chanson

geste de Charles le Chauve und im Prosaroman

von Percevallss

de

verschiedene

bekannte Einsiedlergestalten an. Daß der Insel-Einsiedler ein Inbegriff war, geht auch aus dem Bestiarium des Philipp de Thaün hervor, w o der Wasservogel »fullica« mit dem Eremiten in Verbindung gebracht wird: Le ni qu'en eve fait U sur piere lait, Li niz est lius qu'abite U sainz om u ermite, (vv. 2779-2782) 1 8 8 § 9 5 . Während dieses Gespräches zwischen dem Schiffskapitän und dem Einsiedler findet Gilles Zeit, den entdeckten Inselbewohner näher zu betrachten, was ihn gleich innerlich bewegt: Gires le prent a esguarder, A une part tut sul le meine, De sa vie enquere s'apaine. (vv. 974-976) A u f diese Begegnung scheint die Fahrt insbesondere ausgerichtet gewesen zu sein. Was die lateinische Aegidiusvita gleich beim Auszug des Heiligen als

I8S

m

en 1 1 7 0 , après soixante années de vie pénitente; celle de S. Barthélémy, moine de Durham, puis ermite dans l'île de Farne, où il mourut en 1 1 9 3 après plus de quarante-deux ans de vie solitaire; celle de S. Robert de Knaresborough, dont la vie fut traversée de bien des épreuves, et qui mourut en 1 2 1 8 ; enfin, celle de Christine de Markyate, morte entre 1 1 5 5 et 1 1 6 6 , à certains points de vue la plus intéressante.« Näheres zu den einzelnen Viten vgl. ebda. S. 284ff. Vgl. auch Herbert Grundmann, Deutsche Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hochmittelalter (10.-12. Jahrhundert), A K X L V (1963), S. 72 und Anm. 3 1 , wo ebenfalls Angaben gemacht werden über schwer zugängliche Inseln bewohnende Einsiedler. Erwähnt werden Bernhard von Thiron (gestorben 1 1 1 7 ) , der, nachdem er sein Kloster bei Poitiers verlassen hatte, jahrelang auf der Kanal-Insel Chaussey bei S. Malo gelebt hatte; auch der Zisterzienser Rainer, 1198/99 Legat Innozenz' I I I . in Spanien und auch weiterhin dessen Berater, lebte als Eremit auf der Insel Ponza im Golf von Gaeta, auf der noch Rienzo 1348 Eremiten antraf. Ein anderer Eremit, »anachorita Everelmus«, lebte zwölf Jahre lang auf einer Flußinsel bei Brügge und starb dort 1060 (vgl. ebda. S. 73). Siehe auch ders., Eremiti in Germania dal X al XI secolo: >Einsiedler< e >Klausnerheiligen< Eiland 188 geführte Dialog wirkt wie von der Vorsehung eigens arrangiert und verdient unsere volle Beachtung: Fait Gires: »Di mei vérité: Cum ben as tu ici esté? De quei sustens tu ci ta vie, Quant il n'i ad ici guarie? Cornent poz tu vivre sanz pain? J a n'i vei jo de blé un grein Dunt tu puisses ici guarir Par laburer ne par fuir.« (vv. 977-984)

§ 97. Zuerst wird Gilles das Naheliegendste zur Frage; er kann nicht einsehen, wie man auf diesem anscheinend unfruchtbaren Eiland das Leben fristen kann, zumal für den Notfall nicht einmal ein Fluchtweg offen steht. Aus der Antwort erkennt man die paradiesische Bedürfnislosigkeit des einsamen Mannes, dem hier nämlich nichts fehlt: 187

188

Margrit Koch, Sankt Fridolin und sein Biograph Balther, S. 96, betrachtet das Verweilen des Legendenheiligen bei einem Lehrer oder im Kloster als einen einigermaßen geschlossenen und obligaten Abschnitt der Vita. Die hier eingeflochtene Begegnung entspräche diesem traditionellen Lebensabschnitt. So lautet die Etymologie von Helgoland, >heiliges Land«, weil auf der Insel einmal ein Eremit lebte, dem sogar die Piraten ihren Tribut zahlten auf der Durchreise, um Glück zu haben auf ihrer Fahrt. Der Einsiedler galt also auch ihnen in ihrer Weise - als heiliges Wesen; vgl. dazu Herbert Grundmann, Eremiti in Germania dal X al XII secolo: >Einsiedler< e >KlausnerEremus< et >eremitaanachoreticale certamen< - , seul à seul - >solus cum solo< la comparaison est fréquente dans l'hagiographie.« Vgl. auch ders., Le monachisme du haut moyen âge, S. 4 4 1 , w o >monachus< mit >anachoreta< identifiziert wird: »Le saint moine est un homme qui lutte contre le démon: il veut aller l'affronter dans la solitude, dans les déserts où il se réfugie.« 200 w i e ausgedehnt die Verritterlichung anhand der Schild-Metapher im Mittelalter w a r , zeigt eine Stelle des Renclus de Moiliens, der das Auge als kämpfenden Ritter und das Augenlid als Schild vorstellt: Se aucune riens Ii nuisist, / De le paupiere escu fesist. [ . . .] Quant un peu de pourre volete, / Ou une fumière molete, / Li ieus s'en fuit a sauveté / Sous le paupiere, en se logete, / Et desus soi sen escu gete (Li Romans de Carité et Miserere du Rendus de Moiliens, Tome I I : Miserere, S. 205, C X X X I V und S. 206, C X X X V , je v v . 7-8 und 1 - 5 ) .

167

Henri d'Arci beispielsweise fordert seine gesamte Leserschaft auf, sich gegen den allgemeingefährlichen Feind zu wappnen: E pur 9oe vus kevent estre armez de totes pars Pur defendre vus de debles e de lur darz 201 . Guischart de Beauliu warnt speziell vor dem mit vergifteten Waffen, mit zweierlei Wurfgeschossen, dem »dart trenchant« (v. 6 1 4 ) und dem »dart ardant« (v. 645), andringenden Teufel 2 0 2 . Der kämpfende Anachoret ist jedoch, wie es auch der Insel-Einsiedler bestätigt, den diabolischen Machinationen nicht schutzlos ausgeliefert; sein Schutz besteht nicht lediglich in der geschickten Handhabung einer Schutzwaffe, eben eines Schildes 203 , sondern in der Deckung durch eine Person: Escu m'est [Jesus Christus; >nostre sire< in der Vie de saint Gile] e guarant plus ke chastel perin 204 . Die geraffte, formelhafte Aussage des Eremiten steht also gewiß für eine damals lebendige Wirklichkeit und deckt sich mit der damals bestimmenden Spiritualität. § 1 0 2 . Zur Absonderung von aller Welt und somit auch zum Büß werk des Insel-Einsiedlers gehört das Einhalten der stabilitas loci. Durch die feste Ortsansässigkeit und -gebundenheit kann er dem einmal gewählten Eremitenund Büßerstand nicht mehr entgehen; die Beschaffenheit des Meeres zwingt sie ihm, im Einverständnis mit seinem eigenen Willen, sogar auf 2 0 5 . 201

202

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205

Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 2 1 3 , v v . 6571-6572. Noch an weiteren Stellen wird da von Pfeile schießenden Teufeln gesprochen, ebda. S. 7, v. 190; S. 2 1 , v v . 600-602; S. 185, v v . 5617-5618. Li Sermon de Guischart de Beauliu, S. 69, X L , v v . 1890ÎÎ. und ebda. S. 3 1 , X V I I I , v v . 638fr., w o eine ausgebaute Dämonologie geboten wird. Die Sdiild-Metapher wurde andernorts auch in diese Richtung hin erweitert. So schenkt im Poème moral Gott einen deckenden Schild: Bor fut nes, cui Deus weit covrir de son escut. [. . .] Bien seit Deus ses amis armeir de tel escut (ebda. S. 2 1 5 , 754, v. 3013 und 3016). The French Text of the Ancrene Riwle, S. 143-44, bringt wohl die breiteste Auslegung des Schild-Themas. Die metaphorische und dann vor allem die allegorische Deutung findet ihren Höhepunkt in den Ausführungen über die »cheualerie nostre duz seignur iesu crit. ke il fïst pur nus sur la croiz. [. . .] Regardez isci cornent pur la sue amur soen escu fu perce« (ebda. S. 144). Im Kampf mit dem Bösen kann auch die Profeßformel als Schild gebraucht werden: [ . . .] ut in die obitus mei sit mihi h sec promissio et haec charta scutum et defensio contra insidias inimicorum meorum (aus der eremitischen Profeßformel Stephans von Muret (gestorben 1 1 2 4 ) , zitiert bei Dom Louis Gougaud, La vie êrêmitique au moyen âge, S. 213). La Vie de seint Auban. An Anglo-Norman Poem of the Thirteenth Century, Edited by Arthur Robert Harden, Oxford 1968 ( = A N T , X I X ) , S. 2, v. 57. Das Ideal der stabilitas loci gehört nicht notwendig zum Stand des Einsiedlers. Sogar Eremiten, die dem Benediktinerorden angehörten, lebten, wenn sie die 168

Die extreme Lage des Wohnortes zieht das Thema Furcht herbei, denn das Korrelat zum dämonischen Ansturm ist die ständig lauernde Gefahr des Meeres. Die Furcht vor Sturm und Unwetter ist eine Konkretion des innerlichen Ausgesetztseins. In der Vie de saint Jean Bouche d'Or jagt der beleidigte König dem zum Inselaufenthalt verurteilten Heiligen ebenfalls Angst ein vor den Naturgewalten; er spricht: Qu'il [Jean] ert demain menes en Tille Ou Ii mers bat et Ii vens hille. (vv. 203-204) 2 0 9

Der durch die Einschließung durch das Meer nicht nur zum gewöhnlichen Einsiedler, sondern zum Reklusen gewordene Inseleremit betont auch hinsichtlich der Gewalt des Meeres seine Furchtlosigkeit; ebenso wie die Furcht vor dem Bösen ist die Platzangst auf dem Eiland überwunden von der inneren, geistlichen Freude in Gott. § 1 0 3 . Die Rede des Insel-Eremiten konnte kaum wirkungslos bleiben; aber mehr noch: sie findet in Gilles ein bis anhin noch geheimes Einverständnis vor. Er empfand nämlich den Bericht des Einsiedlers als milde Unterweisung, die sein Innerstes trifft und dort nichts als Sympathie vorfindet. Der Heilige gibt seine Zuneigung durch eine Freundschaftsgebärde zu verstehen: Tut Ii cunte [der Eremit] si simplement Sun estre e sun contenement: Gires estut, si escutat, Enbrace le, puis le beisat; Cil rebeise lui ensement: Issi s'ajustent bone gent: Cil dui se sunt entre trové, (vv. 1 0 1 5 - 1 0 2 1 )

Das Lehrgespräch zwischen Gilles und dem Einsiedler gibt gleichzeitig den ergänzenden Anschauungsunterricht. Der tapfere und heitere Anachoret steht als lebendes Paradigma vor Gilles, an dem der vorläufig noch unbestimmt segelnde Besucher seinen möglichen zukünftigen Weg ablesen kann. § 104. Sicher hat das Gespräch den Sinn einer geistlichen Unterweisung bei der Wegsuche, und Gilles befolgt den Rat des Poème moral: C'om vos dist alcun bien, volentiers l'entendez; Keilz hom qu'il onkes soit, a ce qu'il dist pensez; S'il vait la droite voie, volentiers lo siweiz 207 .

206 207

Erlaubnis zum eremitischen Leben bekamen, freizügig; vgl. das instruktive Beispiel des Einsiedlers Gunther bei Herbert Grundmann, Eremiti in Germania dal X al XII secólo: >Einsiedler< e >Klausnerbone gentla mer salee< anhand von Beispielen aus dem Rolandslied (v. 372 und 1038), aus dem Doon von Mainz (v. 40 und 890J), aus La Bataille d'Aliscans (v. 8317, 8343 und 7135), aus dem Fierabras (v. 3 1 0 1 , 6039 und 1977) und aus Otinel (v. 1898) als stehende Wendung, deren Beiwort >salzig< bequemes, weiter nichtssagendes Assonanzwort sei. Rein formelhaft findet sich »mer salee« (v. 528) sogar in der Vie de saint Auban, S. 15. Wahrscheinlich bedeutungslos auch im Renaus de Montauban, S. 14, Z. 27 und S. 15, Z. 3, und in La Chanqun de Guillelme, S. 30, L X X X I , v. 715, S. 35, X C V , v. 848, S. 36, X C V , v. 854 und 866. 170

und Weg ermöglicht es, die Fahrt über das salzige Meer in ihrem Doppelsinn zu verstehen. Der metaphorische Durchblick durch die häufige Formel ist sichergestellt durch geistliche Texte: [ . . . ] transiré mare salsum vita: huius, undas et turbines superare et evadere omnia qua: in hoc mundo pro incerto sui et lubrico marinis fluctibus comparantur 2 1 1 ; und: [. . .] mare mundus iste accipitur [. . . ] plenus amaritudine et salsugine 212 ; weshalb es nicht ausgeschlossen ist, daß auch volkssprachliche Dichtung sich, mindestens andeutungsweise, auf diesen allegorisch deutenden traditionellen Untergrund bezieht 213 . Ein Beispiel, in dem die Formel sich kaum nur auf die faktisch-wörtliche Bedeutung beschränken kann, bietet nebst unserer Vie de saint Gile

die Brendansreise,

welche trotz ihrer abenteuerlichen Romantik

deutlich genug voraussetzt, daß die Fahrt auf dem Meer Lebensreise, Bestehen des Weltmeeres ist 214 . Audi Gilles hat nach dem belebenden Gespräch mit dem >per adventura< erreichten Einsiedler seine Reise in neuer Richtung wiederaufgenommen. § io6. In drei Tagen gelangt die Mannschaft glücklich in den Hafen von Marseille (vv. 1 0 3 1 - 1 0 4 2 ) . Der Heilige bleibt nun hier in der fremden Stadt allein zurück. Unbesprochen und ungeklärt läßt Guillaume de Berneville, warum in Marseille und nicht, wie gewünscht und vorgesehen, in R o m 2 1 5 . 211

212

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215

Orígenes, Josuehomilie 1 9 , 4 , zitiert bei Hugo Rahner, Symbole der Kirche, S. 179 und Anm. 54. Cassarius von Arles, Sermo 136, j , zitiert bei Hugo Rahner, Symbole der Kirche, S. 279 und Anm. 62. Hugo Rahner, Symbole der Kirche, S. 179 und 279, weist bereits darauf hin, daß das volksspradiliche >la mer salée< keine blasse Wortgruppe war, sondern auf den metaphorischen Hintergrund hin besehen werden müßte. Auch Philipp Krämer, Das Meer in der altfranzösischen Literatur, S. 1 1 - 1 2 , gesteht die Möglichkeit zu, daß die Formel in bestimmtem Kontext bedeutungsvoll sein könne; vgl. auch Wilhelm Frahm, Das Meer und die Seefahrt in der altfranzösischen Literatur, S. 9 und 10. The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 71 (dazu Anmerkung S. 124), v. 1346: E sis départ la mer de sal. Zu der eigenartigen Reisebesdireibung bemerken Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L : »Tout le récit du voyage du saint est allongé dans Guillaume de la façon la plus agréable. On ne comprend pas plus chez lui que chez son modèle comment, partant d'Athène et voulant aller à Rome, les mariniers arrivent à Marseille; cependant l'invraisemblance du latin a été quelque peu atténuée dans le français. Là, en effet, quand Gilles dit qu'il voudrait aller à Rome, les mariniers lui offrent de l'y mener en ajoutant: »nos de illis partibus sumus«; tandis que dans le français ils disent >ke de la terre de Provence sunt nez< (v. 844); il est vrai que cela s'accorde mal avec ce qui est dit plus tard:

171

Jedenfalls ist deutlich, daß jetzt Gilles' Fremdlingsschaft beginnt: Esgaré fud en altre terre (v. 1047); gleichzeitig hebt sein Bettlerdasein an: Ore est venu al mendier (v. 1049). Die Härte dieser Situation wird vom Erzähler eigens herausgestrichen durch den Vergleich mit dem früheren Wohlstand des Heiligen: Anceis fud ridie, ore est mendis, N'est merveilles s'il seit pensis. (vv. 1 0 5 1 - 1 0 5 2 )

Worum Gilles einst betete, daß nämlich Gott selbst die Sorge für ihn übernehmen möge (vv. 647-648), das bewahrheitet sich nun. Ein Bürger nimmt den Heiligen gern bei sich auf; die Schiffsmannschaft dagegen reist angeblich in ihre Heimat. Von Rom ist in bezug auf Gilles nicht mehr die Rede. Gilles' Aufenthalt in Marseille wirkt tatsächlich zufällig, wie ein Verschlagensein, das Ende einer, wenn auch sanften und friedlichen Irrfahrt. Nicht der Sturm, dafür die wundersame Insel und die Begegnung mit dem Einsiedler haben den ursprünglichen Plan durchkreuzt, ihn nichtig erklärt. Der Heilige hat sich sozusagen an Land spülen lassen, wohin es ihm, ohne sein Zutun, beschieden war. VI. BEIM BISCHOF CjESARIUS VON

ARLES

§ 107. Der ungewollte und überraschende Marseiller Aufenthalt eröffnet den nun anhebenden Erzählabschnitt (vv. 1 0 5 9 - 1 1 7 0 ) . Dieser Ort, in dem sich Gilles nie heimisch fühlt, scheint nur darum von Guillaume de Berneville gewählt zu sein, um den Heiligen von dem vorbildlichen Bischof Cassarius von Arles hören zu lassen 216 . Zu ihm will Gilles nun unbedingt hin, um sich an seinem Beispiel zu erbauen; er macht sich auch gleich auf den Weg und erreicht in anstrengender nächtlicher Wanderung abgearbeitet die Bischofsstadt. § 1 0 8 . Doch wird der Ankunft beim Bischof ein Lebensabschnitt vorgebaut, der eine Zwischenstufe darstellt zwischen dem Eintreffen in der Stadt und der Aufnahme in die familia des Bischofs. arrivés à Marseille, >li marinier orent bon vent, vers lur pais vunt léement (v. 1058): Il nous semble qu'ils y étaient; mais Guillaume, comme nous le constaterons encore par la suite, avait des notions géographiques peu précises.« Wilhelm Frahm, Das Meer und die Seefahrt in der altfranzösischen Literatur, S. 1 2 4 - 2 5 , bemerkt zur Verantwortlichkeit für die Erreichung des gewünschten und abgesprochenen Reisezieles: »Hatte das Schiff das Ziel nicht erreicht, so traf die Schuld den Steuermann, wenn nicht gerade besondere Umstände eingetreten waren.« In der Vie de saint Gile ist weder von Schuld noch von außerordentlichen Umständen die Rede. Bei günstigster Witterung verlor das Schiff den >normalen< Kurs. Dies erscheint als gute Fügung, weshalb sich Gilles selbst nicht mehr um das Reiseziel kümmerte.

172

In Arles findet Gilles vorerst bei der Witwe Theotrita 2 1 7 Herberge. Dieses Aufgenommenwerden des Heiligen durch eine W i t w e stellt Gilles in die Reihe der alttestamentlichen, mit thaumaturgischen Gaben ausgestatteten Propheten; sie stellt ihn namentlich in die Stapfen des Propheten Elias, des Vaters der Eremiten (vgl. 3 Reg. X V I I , 9, w o Gott zu Elias spricht: [ . . . ] praecepi enim ibi mulieri viduae ut pascat te.). § 109. Das Mahl bei dieser Gastgeberin wird zum A n f a n g einer Mirakelgeschichte, denn während des Essens vernimmt Gilles Stöhnen und Klagelaute ( v v . 1 0 7 6 - 1 1 7 0 ) . A u f die Bitte der W i t w e hin, ihre seit zwölf Jahren kranke Mutter zu heilen, antwortet Gilles mit einem Hinweis auf seine Unkenntnis und Ohnmacht in medizinischen Belangen. Der Herr allein habe die Macht, Gesundheit zu schenken, er, der einzige A r z t 2 1 8 . Hingegen ist der 216

Gaston Paris & Alphonso Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I , führen in diesem Zusammenhang einen nochmaligen Nachweis von Guillaume's de Berneville geographischer Unwissenheit: »L'ignorance géographique de notre poète s'y (v. 1039-1224) fait voir dans la manière dont il rend les mots »Arelatensem regebat ecclesiam«: a Arrelais ert s'evesked (v. 1068); il a forgé ce mot d'Arrelais sans se douter qu'il s'agissait d'Arles, ville dont le nom ne lui était sans doute pas inconnu.«

217

Zur Form dieses Namens bemerken Gaston Paris Sc Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I : » [ . . . ] Theocrita (appelée Theotrita dans notre ms. par une faute de lecture très habituelle) [ . . . ] . « Zweifel an der Erlaubtheit ärztlicher Kunst ist in der hagiographisdien und geistlichen Literatur hie und da anzutreffen. Immerhin wird den noch Unvollkommenen das Hilfegesudi beim Arzt erlaubt. Der Eremit Barsanuph urteilt auf eine Frage des Abtes Dorotheus hin vorsichtig: »Puisque nous ne sommes pas encore délivrés de la captivité des passions, il vaut mieux s'adonner à la médecine qu'aux passions; cependant nous ne devons pas mettre en elle notre espérance, mais en Dieu qui donne la vie et la mort, lui qui a dit: »Je frapperai et je guérirai« (Dt. 32, 39) [ . . . ] . « (Maîtres spirituels au désert de Gaza. Barsanuphe, Jean et Dorothée, Textes choisis, traduits et présentés par Dom Lucien Regnault, Editions de l'abbaye de Solesmes, 1966, S. 114). Diadoque de Photicé, Cent chapitres sur la perfection spirituelle. Vision. Sermon sur l'Ascension, Introduction et traduction de Edouard des Places S. J . , Paris 1943 ( = SC, 5), S. m bis 1 1 2 , L I I I , erlaubt prinzipiell, den Arzt aufzusuchen, erwartet jedoch, daß der Einsiedler in der Wüste allein auf den Herrn vertraue. Der Eremit Johannes löst das Problem, ob man zum Arzt gehen dürfe oder nicht so: »Pour ce qui est de se montrer au médecin, il est réservé au parfait d'abandonner tout à Dieu, même si la chose est pénible; mais le faible, lui, se montre au médecin. En effet cela non plus n'est pas péché, mais humilité; car si le faible a besoin de se montrer au médecin, il doit croire aussi que, sans Dieu, rien ne peut (le guérir), pas même le médecin, et que Dieu rend la santé au malade quand il le veut« (ebda. S. 182). Theodoret von Cyrus, Mönchsgeschichte, S. 93, berichtet von Petrus folgende Szene um eine Heilung: » [ . . . ] D a die Mutter aber weinte und flehte und erklärte, sie werde ihn nicht verlassen, bevor sie nicht die Heilung erlangt, sagte er, Gott sei der Arzt solcher Übel und erfülle allen, die glauben, ihre Bitten. »Er wird dir also«, sagte er, »auch jetzt willfahren, nicht mir die Gnade erweisend, sondern deinen Glauben ansehend. Wenn du diesen festen und aufrichtigen Glauben, von jedem Schwanken frei, besitzest und Ärzte und Arz-

218

173

Heilige gerne bereit, der Kranken einen Besuch abzustatten, was von Theotrita, besonders der Häßlichkeit und Entstellung der Kranken wegen, nur als Werk der Barmherzigkeit verstanden werden kann. K a u m sieht Gilles die Kranke, da ergreift ihn wiederum Mitleid, das sich in einem langen Gebet ausformuliert. Aus ihm geht hervor, daß die Krankheit der Sünde entspringt, denn diese K r a n k e liegt ihres Hochmuts wegen darnieder. D a m i t sie Zeit habe zur Umkehr, möge sie durch Gottes Gnade geheilt werden. Durch die Ansprache bei ihrem N a m e n und durch das Kreuzzeichen tritt die sofortige Heilung ein. Dieses Heilungsmirakel impliziert eine Belehrung und Ermahnung zuhanden der Leser- und Hörerschaft, denn an diesem Wunder wird ein rätselhafter Konnex zwischen Sünde und Krankheit sichtb a r ; vor allem aber liegt der Nachdruck auf der exemplifizierten Bußlehre: Satisfaktion hier auf Erden tilgt Schuld und Sündenmakel, die sonst in der Ewigkeit viel härter abgebüßt werden müßten. Zu einem guten Tod, folglich auch schon zu einem guten Leben gehört die Wiedergutmachung, für welche nun durch die wunderbare Heilung Zeit gewonnen wird. Theotrita natürlich eilt nach der plötzlichen Heilung ihrer Mutter hinaus auf die Straße und verkündet laut das Wunderzeichen. Gilles ist beschämt durch die Ehrung, die ihm die unbekannte Bürgerschaft zuteil werden läßt. Sie bringt ihn in tiefe Verlegenheit. § 1 1 0 . An diesem Punkte der Erzählung, wie meistens nach einer Mirakelgeschichte, ist ein Ereignis fällig. Freilich hat die Wundergeschichte einen Sinn, durch welchen sie sich selbst genügt; sie demonstriert die anhaltende thaumaturgische Kraft des Heiligen, die auch nach der Irrfahrt im neuen Lebensabschnitt ihn auszeichnet und seine Integrität bestätigt 2 1 9 . Dieser H e i -

2,9

neien verabschiedest, so empfange diese gottgegebene Arznei.« Indem er dieses sprach, legte er die Hand auf das Auge und machte das Zeichen des heilsamen Kreuzes darüber, und sie war geheilt.« In The French Text of the Ancrene Riwle, S. 137 und 157, erscheint das geduldige Ertragen des Krankheitszustandes als bevorzugtes Mittel der Heiligung. Die Frage nach der Rechtlichkeit des ärztlichen Eingreifens wird gar nicht gestellt. Li vers de le mort. Poème artésien anonyme du milieu (?) du XIIIe siècle, Publié par Carl August Windahl, Lund 1887, S. 86, C C X I I I , 1 - 5 , argumentiert so: Quant vie est de mort tesmoignages, / Santés est trop perilleus gages, / Por faire a Diu boin paiement / De ce dont ame et cors engages / Et le boine oevre a faire gages. Zum Topos Christus als Arzt vgl. u. a. The French Text of the Ancrene Riwle, S. 2 1 3 , w o Christus als »uostre douz ami e uostre digne epus Ii amiable seignur Ii mire e Ii cyrugien du ciel« vorgestellt wird; auch La Voie de Paradis von Rutebeuf, v v . 839-40: C'est Diex qui fisique set toute, / Qui moult aime la gent sanz doute [ . . .] (Œuvres complètes de Rutebeuf, S. 101). Wenigstens nach Jean Cassien, Conférences, 1, Introduction, texte latin, traduction et notes par Dom E. Pichery, Paris 1955 ( = SC, 42), S. 270, V I I . X X V I , ist festzuhalten, daß die Wundermacht ein Ausweis des In-Gnade-Stehens bei Gott sei, wenn er vom Altvater Paul aussagt: » [ . . . ] et que la grâce des guérisons

174

lungsbericht bildet jedoch vorzüglich ein erzähltechnisches Gelenk, das den mühelosen Anschluß an die nächste bevorstehende Episode ermöglicht. Diesmal treibt z w a r das Wunder und die ihm folgende f a m a den Heiligen nicht zur Flucht - obschon er sich der Ehrungen wegen lieber sogar in Blois aufgehalten hätte, statt hier in Arles dem erschreckend wachsenden R u h m standzuhalten. D a s Feiern und Herumsprechen der Wundertat hat jetzt eine andere A u s w i r k u n g , die sich auf den Erzählungsablauf jedoch ebenfalls als motorische K r a f t erweist, indem nun etwas passiert. Der Bischof der Stadt, eben Cassarius von Arles, den Gilles j a eigentlich dringend aufsuchen wollte, hört v o n der wunderbaren Heilung. Guillaume de Berneville wiederholt in A n w e n d u n g der bei ihm schon bekannten Repetitionstechnik den Wunderbericht. E r gibt ihn unter anderem Aspekt, nämlich in der Fassung, wie er dem Bischof zu Ohren kommt. Diese Spiegelung des schon einmal dargestellten Ereignisses retardiert vorderhand den erzählerischen Fortgang. § m .

D a s neue Arrangement der selben Fakten gibt dem Legendendichter

die Gelegenheit, den Stoff gründlicher zu durchdringen. D i e Wiederholung erlaubt einen erneuten Blick auf den Heiligen, diesmal quasi v o n außen. Während w i r den Protagonisten bis anhin in einer Szene engagiert sahen, innerhalb des D r u m und D r a n eines bestimmten Schauplatzes, hören w i r nun aus dem M u n d e der A r i e r Bürger die abgelöste Essenz: [.. .] »un seint home Vint her seir a nus hostel quere: Ne savum dunt ne de quel terre, Meis ben savum certeinement Ke Deus l'aime parfitement.« (vv. 1 1 7 8 - 1 1 8 2 ) Freute sich der Bischof allein schon über die K u n d e v o n der Krankenheilung, so steigert sich seine Freude nach der Nachricht über den Wundertäter zu einer wahren Begeisterung. E r sieht in dem außerordentlichen V o r f a l l eine Gnadenheimsuchung Gottes, die der Heilige durch das M i r a k e l vermittelt. D e r Bischof schickt kurzerhand zu seinem E r z d i a k o n und beauftragt ihn, den »sergant« (v. 1 1 9 1 ) Gottes 2 2 0 herbeizubitten. Wie ein L a u f f e u e r griff der Belui avait été accordée par la vertu du Saint-Esprit, afin d'attester sa pureté et de manifester ses mérites.« Klaus Schreiner, >Discrimen veri ac falsiA lei }rancescaheiligen Mann< sprach. § 1 1 3 . Man führt Gilles aus der Kirche weg vor den Bischof, der ihm mit Zuneigung und Anerkennung entgegenkommt : Quant de Ii sout la vérité, Mult l'ad chéri e honuré. Il le retent ensemble od sei Douz anz enters, si cum jo crei. (vv. 1 2 1 7 - 1 2 2 0 )

Die letzteren Angaben bleiben im Vagen. Guillaume de Berneville verliert kein Wort über den Sinn dieses Verbleibens in der Hausgemeinschaft des Bischofs oder über die Funktion des Heiligen im bischöflichen Umkreis. Er berichtet gar nichts darüber, ob Gilles etwa die Ordination zum Priester oder zu einem anderen hierarchischen Amt angetragen wurde, was sonst in der Heiligenvita beinahe zum Verweilen an einem Bischofshofe gehörte 227 . Über diesen Punkt schweigt sich freilich bereits die lateinische Vorlage Guillaume's aus, aber auch ihr Bearbeiter scheint diesem Aufenthalt in Arles keine besondere Bedeutung beizumessen. Es bleibt dabei, daß Gilles in Arles als ein mit dem Charisma der Krankenheilung begabter Wundertäter auftritt und es auch weiterhin bleibt. Seine Heilungen mehren sich geradezu ins Unzählbare: 224

Œuvres de Gautier d'Arras, Publiées par E. Löseth, Tome premier: Eracle, Paris 1890 ( = B F M A , VI), S. 326. 225 Ygl d a z u Dom Louis Gougaud, Ermkes et reclus, S. 33: »L'extension des bras en croix, les génuflexions répétées en grand nombre de fois, la prostration sur le sol, que les anciens textes français appellent souvent >vaine< (venia) ou encore >afflictioncentauresaietaire< dont il donne une si terrible description. C'est sans doute du roman de Troie que les sagittaires ont passé dans des chansons de geste, notamment dans la Mort Aimeri. Mais Guillaume de Berneville paraît avoir puisé les siens directement aux mêmes sources que Benoit.« Zur Gemeinsamkeit von Zentaur und Chimäre vgl. Herbert Schade, Dämonen und Monstren. Gestaltungen des Bösen in der Kunst des frühen Mittelalters, Regensburg 1962, S. 50-51, dazu die Abbildungen 11, 25 und 28. A u d i V . - H . Debidour, Le Bestiaire sculpté du Moyen Age en France, Paris 1961, S. 387, verzeichnet im Index des sujets unter dem Stichwort Centaure die zahlreichen Abbildungen. V . - H . Debidour, Le Bestiaire sculpté du Moyen Age en France, S. 279fr. und 293ff., spricht mit Recht nachdrücklich von der Unsystematik und Willkürlichkeit der mittelalterlichen Tiersymbolik. Die P o l y v a l e n z einer Tierfigur macht deren Deutung schwierig. In der mittelalterlichen Literatur ist dabei meist der Kontext ausschlaggebend. D a der Bestiarius im Mittelalter theologisch, moralisch oder auch amourös ausgelegt wurde, mußten sich in der Interpretation der einzelnen Tierfigur Divergenzen ergeben. Deshalb mußten die Bestiariusdichtungen von einem strengen Standpunkt aus allzu unernst und spielerisch, ja gar verdächtig anmuten. Trotzdem wollte man ohne den Bestiarius nicht auskommen. Fr. John Morson O . C . R., The English Cistercians and the Bestiary, S. 146-70, weist nach, daß im mittelalterlichen England der Bestiarius sogar von dessen Gegnern, den Zisterziensern, gerne konsultiert wurde und z w a r auch bezüglich der Tiere, die I8J

§ 1 2 1 . Die dem moralisch-tropologischen Sinne nach freischwebende, beinahe neutralisierte Beschreibung des tierbevölkerten Dickichts, auf dessen Grund nur anderweitig versuchte Tierdeutungen flackern, erhält in der Vie de Saint Gile erst in ihrem Bezug auf den Heiligen eine einwandfreie Deutung. Die erst einmal vordergründig ornamentale Beschreibung des Tiergewimmels bezieht ihren weiteren Sinn aus der Reaktion des in den Wald eintretenden Heiligen. Guillaume de Berneville gibt der in sich mehrdeutigen, vorerst in ihrer dekorativen Funktion ruhenden Waldbeschreibung eine entscheidende Wendung und Sinnrichtung, indem er erwähnt, daß Gilles sich nicht schrecken läßt. Mit der Erwähnung des möglichen Schreckens aber gerät der eben beschriebene dämonische Untergrund der mittelalterlichen Tiergestalten in Aktion. Mit der sofortigen Versicherung, daß sich der Heilige auf seinen »bon seignur« (v. 1240) verlasse, ist die beängstigende K r a f t des vorgestellten Waldbildes aber auch gleich, erloschen, seine unheimliche Wirkung gebannt. D e r Heilige hat damit die diabolische Macht entlarvt und gleichzeitig überwunden. E r braucht überhaupt nicht auf sie einzugehen. Dieselbe Haltung der Furchtlosigkeit im Vertrauen auf Gott empfiehlt der heilige Brendan seinen furchtsamen Reisegefährten, indem er sie aufmuntert: »Seignurs, n'entrez en dutance: Deus vus en ferat la venjance. Guardez que pur fole poür Deu ne perdez ne bon oür; Quar qui Deus prent en sun cunduit N e deit cremer beste qui muit.« (vv.

Gilles ist gegenüber solchen tierisch-dämonischen Mächten gar nicht anfällig, er ist eigentlich unanfechtbar, darum kann ihm nichts geschehen 253 . Auf dem geeignetsten P f a d , dem Fluß entlang, dringt er getrost in die Einöde vor. § 122. Anschließend wird vom Heiligen ausgesagt: im biblisdien Sprachschatz nicht figurieren. Allerdings stehen die Tierzitate meist als negative Beispiele da, so der Wolf (ebda. S. 153), die Viper (ebda. S. 1 6 0 - 6 1 ) , während der Elephant allegorisch als Sinnbild Christi gedeutet wird (ebda. S. 155 bis 156). Zur mittelalterlichen Polyvalenz vgl. auch die Ausführungen bei Diet-

252

rich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (noo-ifoo), Teil I, S. 136fr. The Anglo-Norman Voyage 0} St. Brendan by Benedeit, S. 49-50.

253 Vgl dazu den Text von Jean Cassien, Institutions cenohitiques, S. 3 7 4 - 7 6 , Budi I X , Kapitel 8: Procurandum itaque nobis est, ut nostra potius emendare uitia et mores corrigere festinemus. Q u « procul dubio si fuerint emendata, non dicam cum hominibus, sed etiam cum feris ac beluis facillime nobis conuenit secundum illud, quod in libro beati lob dicitur: >Bestise enim ferse pacatas erunt tibiporros< (Lauch), wo nicht entschieden wird, ob ein zwiebelartiges Gewächs mit saftreichen Blättern oder der südeuropäische Porree gemeint ist, jedenfalls eine Lauchart; S. 207-8, w o nur die Zwiebel als allgemeine Bedeutung feststeht, vielleicht aber die Sommerzwiebel gemeint ist; S. 2 1 1 - 1 2 wird lateinisch >ascoloniaslactuachres< und >lattöch< wachsen im Garten Eden 2 5 9 . Möglich, daß bereits durch diese Grünpflanzen eine geheime Beziehung zwischen Paradieseszustand und Eremitenleben angedeutet sein wollte 260 . § 126. Von all diesen Pflanzen finden sich auf dem Felsen nicht genug für eine einzige kärgliche Mahlzeit, wie sie sonst nach alter Eremitentradition einmal im T a g eingenommen wird. Die erfolgte Katalogisierung der Gemüsepflanzen, deren Existenz auf dem Felsen dann rundweg negiert wird, treibt den Mangel am Wohnort dieses Berg-Einsiedlers auf die Spitze. Das Leben auf dem Felsen erscheint unmöglich. D a erst setzt Guillaume de Berneville endlich die Aussage, auf die er durch die ad absurdum geführte Aufzählung von Gemüsepflanzen hinzielte. E r sagt von dem in der Steinwüste sich aufhaltenden Eremiten paradoxerweise: Ne pur quant n'avait faim ne sei : Deu Ii trovot assez conrei. (vv. 1269-1270) Noch einmal schwebt dem pilgernden Gilles an einem lebendigen Beispiel diesmal oben auf einem kahlen Berg - die Existenzform vor, die er für sich

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bekannt waren, sondern - im Unterschied zu manchen Pflanzen aus dem Wurzgarten - in der Klosterküdie als Nahrungsmittel ihre Verwendung fanden. Vgl. dazu auch Emile Lesne, Histoire de la propriété ecclésiastique en France, Tome I V : Les églises et les monastères. Centres d'accueil, d'exploitation et de peuplement, Lille 1943, S. 298ff., besonders S. 300 zum Klostergarten von St. Gallen. Für Zwiebel und Kohl als eremitische Nahrung bringt Dom Jean Becquet, L'érémitisme clérical et laïc dans l'ouest de la France, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 192 und Anm. 59, Belege bei. Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 119fr. erwähnt die Nahrungsfrage im Zusammenhang mit den Formen der Askese und deren Stellung in den Heiligenleben. Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le conte du Graal, Publié par William Roadi, Genève/Paris 1959 ( = T L F , 71), S. 1 9 1 . Adolf Müssener, Der Eremit in den altfranzösischen nationalen Epen, S. 38-39, versammelt Textstellen, wo von Pflanzenkost der Eremiten, von Laudi, Lattich und Kresse u.a. die Rede ist. Die altdeutsche Genesis, Nach der Wiener Handschrift herausgegeben von V. Dollmayr, Halle 1932 ( = A T , Band 31), v. $02. Nach Dom Jean Leclercq, Le monachisme du haut moyen âge, S. 438, sind die Themen des Exils und des Paradieses in den karolingischen Heiligenviten, die den späteren Heiligenleben meist als Vorlage dienten, beherrschend.

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schon mehrmals, wenn auch unbestimmt, ins Auge faßte (vgl. die Verse 647 bis 648 nach der Flucht aus dem eigenen Palast und die Verse

1245-1246

nach dem Auszug aus der Bischofsstadt). Sie zwang ihn auf der unbebaubaren Insel zur Frage: D e quei sustens tu ci ta vie? (v. 980). Hier im Falle des Einsiedlers Veredemius wird nie gesagt, in welcher Weise Gott für den Berg-Eremiten sorgt, nur das Faktum, daß er sorgt, bringt der Legendenautor in den Blick 2 6 1 . § 1 2 7 . Darauf fährt Guillaume de Berneville in der Charakterisierung des Veredemius fort, indem er eine knappe Aufzählung der >diversa eremiticae misericordia opera< 262 gibt: Mut ert amed en cel pais E de plusurs terres requis; A lui veneient mult sovent: Il les conseillout bonement; Les malades de par la terre, I veneient pur santé querre : K i od bon quer le requesist Guariz esteit, ja n'i falsist. (vv. 1 2 7 1 - 1 2 7 8 ) Guillaume de Berneville scheint es nicht zu stören, daß durch diese Lobrede auf die Wunder- und Wohltaten des Einsiedlers der erzählten Geschichte 261

262

Möglich wäre, daß Veredemius ohne Nahrung lebt; es könnte aber auch sein, daß er seine Speise auf wunderbare Art bekommt. A . - J . Festugière, Culture ou sainteté, S. 6}f. und S. 64 Anm. 14, gibt Beispiele von Altvätern, die der Nahrungssorge auf irgendeine Weise enthoben waren. Vgl. auch ders., Enquete sur les moines d'Egypte (Historia monachorum), X I , 2 j und Anm. 4b, ebenfalls X I I I , 20, wo Beispiele für vollständige Nahrungslosigkeit und ebda. V I I I , 42 und 275, X , 52 und X I I , 24, w o Geschichten von wunderbarer Nahrungsbesdiaffung gegeben sind. Das Thema, daß Gott für die Nahrung seiner Diener sorgt, ist besonders eindrücklich und weitschweifig durchgearbeitet in der Erzählung von Brendans Meerfahrt. Zwa.r brauchen die reisenden Mönche da Nahrung, aber nicht nur Brendan und seine Begleiter bekommen, ähnlich wie in der Geschichte vom Tischlein-dedc-dich, immer wieder die nötigen Lebensmittel, auch die Mönchsgemeinschaft des heiligen Albeu erhält ihre Speise oft von Gott selbst; vgl. The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 2 1 , v. 35 jff., S. 40, v. 739fr. und S. 81, v. 1 5 6 9 s . (Bericht des Einsiedlers Paulus über die wunderbare Art seiner Verpflegung) u. a. Bei Theodoret von Cyrus, Mönchsgeschichte, S. 78, spricht Symeon der Ältere zu seinen Gästen, die erstaunt sind, weil ein Löwe zur Bewirtung eine Traube Datteln herbeibrachte: »Leicht ist es dem Schöpfer der Welt, mannigfache Wege für die Versorgung der Seinigen zu finden.« Eine solche Meinung scheint die Vie de saint Gile an dieser Stelle im Bilde zu vertreten. Dom Jean Leclercq, L'érémitisme en Occident jusqu'à l'an mil, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 38, zitiert die Formel aus einer Heiligenvita und fügt bei: »La solitude - on l'a déjà insinué - n'exclut pas les relations humaines. Le véritable ermite est sociable et social. Il a besoin de rencontrer d'autres êtres, de temps en temps.« Der ausführliche Kontext der Formel findet sich bei Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 214, als Formel seinerseits zitiert ebda. S. 318. 191

auch die letzte Spur von Wahrscheinlichkeit genommen wird: wie könnte sonst der Gilles unbekannt gebliebene, in der Waldwildnis verborgene Veredemius auf einmal als weitherum berühmter Thaumaturg vorgestellt werden. Dem Legendenautor kommt es scheinbar momentan nicht auf die Wahrscheinlichkeit der Erzählung, sondern nur auf die Erstellung eines eindrücklichen eremitischen Tugendkatalogs an: Veredemius ist gastfreundlich, er heilt Kranke und wirkt als Ratgeber. Noch unausgesprochen beziehen sich alle diese Tugenden oder eher Charismen auch auf Gilles; Kranke hat er schon geheilt, die Ausübung der hospitalitas und die Gabe des Raterteilens gehören zum Idealbild, das in die Zukunft weist. Im Wirkungsbereich des Felsen-Einsiedlers begegnen somit Kräfte, die im Leben des Protagonisten dann erst in einem späteren Zeitpunkt thematisch werden. Jetzt erscheinen sie erst in einer Vorschau, um zu gegebener Zeit erzählerisch ausgestaltet und ausgenutzt zu werden. § 128. Unterdessen — während Veredemius zur beispielhaften Figur wuchs ist der im wilden Wald wandernde Heilige am Fuße des Felsens angelangt und sucht den Einstieg: Gires veit entur la falaise: N ' i trovet veie, 50 lui paise. A uns degrez s'est ahurtez Ki el rocher sunt entaillez; Par les degrez est munte sus E trove Veredemius: Issi aveit Termite a nun. (vv. 1 2 7 9 - 1 2 8 5 )

Alles bisher vom Einsiedler Gesagte war Antizipation, war Beschreibung aus der Macht und Befugnis des Autors heraus, der die Geschichte ja bis zum Schluß überblickt. Gilles selbst weiß noch nicht, wo er angekommen ist. Damit hat Guillaume de Berneville die Gelegenheit, Veredemius ein zweites Mal, nämlich aus der Sicht Gilles' zu schildern. Die Begegnung wurde durch die Unzugänglichkeit des Wohnorts hinausgezögert; denn kein Weg führt dorthin. Wie einst Benedikt, steht er vor einer Felswand: Ad eundem uero specum a Romani cella iter non erat, quia excelsa desuper rupes eminebat263.

Doch entdeckt Gilles in den Felsen gehauene Stufen. Auch diese Einzelheit hat ihren Vorläufer in einer Schilderung Gregors von Tours. Da heißt es vom Aufenthaltsort des Reklusen Caluppanis: [. . . ] In huius ergo lapidis scissuram quod priscis temporibus quondam propter transitum hostium receptaculum fuit, eremita sanctus ingreditur, & exciso lapide habitacula statuit, in qua: nunc per scalam valde difficilem scanditur: locus 263

Li Dialoge Gregoire

192

lo Pape, Zweites Buch, I, S. j7.

etenim ille tarn difficilis est a d i n c e d e n d u m , v t e t i a m feris bestijs, illuc accedere sit laboris 2 6 4 . Gilles findet also den Einstieg, und die Begegnung kann sidi ereignen. § 1 2 9 . In der ebenfalls hinausgezögerten und nun endlich erfolgten N a m e n s nennung 2 6 5 liegt ein spät erreichtes Ziel. Gilles ist, auf seinem ungewissen G a n g dem Flußufer entlang ins Dickicht, irgendwo angekommen. Die Person des Veredemius erscheint nun hinter dem N a m e n : Cist issit fors de sa meisun, K a r Deus Ii out mustre d e v a n t K ' a lui v e n d r e i t u n son sergant. Q u a n t il le vit, ben le conuit, H o n u r e le si cum il dut, En sa meisun od sei le meine, D e bei ostel fere se paine. (vv. 1 2 8 6 - 1 2 9 2 ) D a m i t erscheint die A n k u n f t auf dem Felsen nicht nur von Gilles aus gesehen als Ziel; sie ist auch f ü r Veredemius eine Erfüllung, denn ihm wurde das E i n treffen Gilles' eigens von G o t t vorausgesagt 2 6 6 . § 1 3 0 . D a s Zusammentreffen Gilles' mit Veredemius hat den Charakter eines von G o t t getroffenen Arrangements; es ist eine höhere Fügung und umschreibt 264

265

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Divi Georgii Florentis Gregorii Episcopi Tvronici Operum piorum pars II, Parisiis M D C X L , C a p u t X L , S. 9 7 1 - 7 2 . Dieser Z u g ist gewiß d e m höfischen R o m a n entlehnt. Z u r H i n a u s z ö g e r u n g u n d absichtlich s p a n n e n d gemachten N a m e n s n e n n u n g vgl. R e t o R . Bezzola, Le sens de l'aventure et de l'amour (Chretien de Troyes), S. 47ff., 202f. u n d passim; ders., Liebe und Abenteuer im höfischen Roman, S. 6}G., 200f. u n d passim. Besucher vorauszusehen ist eine häufige Eigenschaft heiligmäßiger E r e m i t e n . Vgl. beispielsweise Enquete sur les moines d'Egypte (Historia monachorum), S. 84, X I I , w o A l t v a t e r H e l l e Besucher voraussieht; Cyrille de S c y t h o p o lis, Vie des saints Jean l'Hesychaste, Kyriakos, Theodose, Theognios, Abraamios. Theodor de Petra, Vie de saint Theodosios, S. 31, X X I V , 2off., w o J o h a n n e s der Hesychast in einer »vision angelique« einen unliebsamen Besuch voraussieht u n d diesen schriftlich w a r n t , zu ihm zu k o m m e n . N a c h J e a n Mosdios, Le pre spirituel, S. 188-89, I 37> w i r d einem A l t v a t e r N a m e u n d Aussehen eines Besuches v o n G o t t geoffenbart, so d a ß er ihn s o f o r t e r k e n n t bei seiner A n k u n f t . Nach der Vita saneti Romualdi des P e t r u s D a m i a n i , K a p i t e l 32, w e i ß der H e i lige im voraus, d a ß ihn zwei Brüder, v o n einer w e i t e n t f e r n t e n Einsiedelei k o m m e n d , besuchen. Bevor sie in Sicht sind, l ä ß t er f ü r sie das Essen bereiten (S. Pier D a m i a n o , Vita di S. Romualdo, S. 83). In Brendans Meerfahrt e r k e n n t der E r e m i t Paulus B r e n d a n beim N a m e n (vv. 1 5 2 3 - 1 5 2 5 ) , er w e i ß auch die N a m e n aller Begleiter (v. 1529). Ebenso w e i ß der Paradiesesengel in Anspielung auf die Geheime O f f e n b a r u n g des Apostels J o hannes (Apoc. I I I , 12 u n d X X I I , 4) den N a m e n . Allgemein z u m E r k e n n e n v o n u n b e k a n n t e m V e r g a n g e n e n u n d Vorauswissen des Z u k ü n f t i g e n durch den Heiligen vgl. P e t e r T o l d o , Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. I I : Göttliche Weisheit der Heiligen, SvL I (1901), S. 438. 193

das »divino directu« der lateinischen Vorlage 2 6 7 , wodurch Gilles dort den Einsiedler Veredemius findet. Hätte Gilles den Einsiedler Veredemius nicht auf höheres Geheiß hin finden sollen, so hätte Guillaume de Berneville gewiß den weltweiten Ruf des Einsiedlers Veredemius zur Motivation von Gilles' Aufbruch in den undurchdringlichen Wald eingesetzt. Gilles hätte dann beim Bischof Caesarius, den er ja um geistlichen R a t angehen wollte, von dem berühmten Eremiten gehört. § 1 3 1 . Guillaume de Berneville verwendet jedoch das Motiv der f a m a nur teilweise; einerseits vertreibt Gilles' eigene f a m a diesen aus der Stadt Arles, andererseits benutzt der Legendenautor des Veredemius fama, um diesen Einsiedler in den Augen seiner Leserschaft zu erhöhen und zu rühmen. Ein möglichst kompletter Einsatz der Motivik liegt ihm fern, da er nicht auf faktische Wahrscheinlichkeit hinarbeitet und die Ereignisse im Leben des Heiligen auch nicht streng kausal verknüpft. So begründet das Meiden der gefährlichen f a m a den Auszug Gilles' in den unbezähmten Wald nicht restlos, nur notdürftig; entscheidend ist die bestehende Offenheit f ü r ein unvorhersehbares, wunderbar hereinbrechendes Ereignis. In bezug auf Veredemius zehrt Guillaume de Berneville hinwiederum nur insoweit von der Motivik der fama, als diese notwendig ist zur Beglaubigung der Heiligkeit, welche ihrerseits Grundlage des erstaunlichen Vorauswissens ist. Der Anstrich der faktischen Wahrscheinlichkeit ist minimal, die Verknüpfung der einzelnen Ereignisse eher pseudokausal, gerade nur zureichend, um einen einigermaßen geschlossenen, locker zusammenhängenden Erzählablauf zu sichern, in dem das Mirakel, der Zugriff aus einer göttlichen Überwelt jederzeit Zutritt hat. Wichtig ist nur, daß die gestellte Situation letztlich der Erhöhung des Protagonisten dient, daß dessen Heiligkeit in hellstem Licht erscheint. Obschon also die Anlage des Erzählstoffes auf die Begegnung Gilles' und Veredemius' hinzielt, erscheint die Ankunft Gilles' auf dem Eremitenberg über jede Berechnung erhaben. Und die Begegnung ist ein mirakulöser, gnadenhafter Glücksfall. § 1 3 2 . Simpel und zugleich bedeutungsvoll fährt die Erzählung f o r t : Gires e Veredemius Sunt en cele rodie la sus; Entr'els n'out orguill ne buffei: L ' u n aime l'autre si cum sei; Ben entraiment lur compaignie, K a r il demeinent sainte vie. ( v v . 1 2 9 3 - 1 2 9 8 )

Der Berg ist ein jeder Zwietracht und Streitigkeit entrückter O r t ; in der Beschreibung Guillaume's de Berneville jedoch nicht in erster Linie ein Berg der 287

E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A, S. 103, § 9. 194

Kontemplation und geistlichen Versenkung 268 , sondern ein Ort vollkommener Nächstenliebe und gegenseitiger Eintracht. Wenn auch Vorsicht geboten ist bei der Untersuchung eines Textes aus dem 12. Jahrhundert auf seine besondere Spiritualität hin 269 , so scheint diese Hervorhebung der gegenseitigen Liebe und Rücksichtnahme doch ein Indiz für Guillaume's spezifisch kanonikal

geprägtes Denken und Werten

zu

sein 270 . Die lateinische Vorlage läßt Gilles aus Gründen der Erbauung bei Veredemius verweilen: Cujus [des Veredemius] vitam sanctus Aegidius videns esse divinam, aliquantum temporis cum eo asdificationis causa conversatus est 271 . Erst sekundär wird die sozusagen doppelte Kraft der beiden Eremiten gepriesen : 2,8

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270

271

In der monastischen Tradition wurde der Berg zumeist als auserlesener Ort der Betrachtung verstanden, als ein durch Kontemplation fruchtbar gewordener Ort. So schreibt etwa Guillaume de Saint-Thierry, Lettre d'Or aux Frères du MontDieu, S. 3 1 - 3 2 , 3 : »Nous lisions dans les livres, émerveillés, l'antique gloire de la vie solitaire et la magnificence en elle de la grâce divine. Et tout à coup, cette vie, nous l'avons trouvée, dans les clairières de la forêt [nach Anm. 3 des Herausgebers, ebda. S. 160, Anspielung an den Psalmvers C X X X I , 6: Invenimus eam in campis silv«e], sur le Mont-Dieu, sur le mont fertile [ebda. S. 160 Anm. 4: Möns Dei, mons pinguis (Ps. L X V I I , 16)], où les splendeurs du désert déjà sont engraissées par elle et les collines revêtues d'allégresse [ebda. S. 160 Anm. 5: Pinguescent speciosa deserti et exultatione colles accingentur (Ps. L X I V , 13)].« Ebda. S. 34, 12 wird der Berg der Verklärung, der Berg Tabor, zum idealen Ort eremitischen Lebens erklärt, und ebda. S. 40, 25 der geistliche Sinn des Berges expliziert. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 68 Anm. 2 1 , S. 87 Anm. 16 und S. 89 Anm. 26, bringt Zitate aus hagiographisdien Texten und aus einem Brief Y v o s ' von Chartres (PL C L X I I , 202, Epist. 192), aus denen hervorgeht, daß der Berg durchwegs als Ort der geistlichen Ruhe, »quietis suse locus« betrachtet wurde. Dom Jean Leclercq, La spiritualité de Pierre de Celle (mf-1183), S. 143 Anm. 2, warnt vor voreiliger Differenzierung von Ordensspiritualitäten, was gewiß auch für die der monastischen nahen Geistigkeit der Kanoniker gilt: »A vrai dire, il n'y a guère, au X I I e siècle, de >spiritualités< propres à chacun des Ordres monastiques: ceux-ci ont de commun d'être des Ordres de contemplatifs et de cloîtrés; ils ont une spiritualité commune, adaptée à cet état de vie. On notera en particulier, l'accord de spiritualité de Pierre de Celle [Benediktiner, lange Zeit Bischof] avec la spiritualité cartusienne.« Übereinstimmend damit stellt François Petit O. Prœm., La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, Paris 1947 ( = E T H S , X ) , S. 1 9 1 , nach dem Studium des Werkes von Adam Scottus fest: »II n'est pas inutile de remarquer que maître Adam enseigne à la Chartreuse la même doctrine qu'à Prémontré, ce qui n'empêche pas son livre d'être considéré comme un des plus insignes monuments de la spiritualité cartusienne. Et ce seul exemple montre bien qu'au X I I I e siècle les écoles de spiritualité commencent à peine se diversifier.« Zum spezifischen Ideal der stark monastisch geprägten Kanoniker des 12. Jahrhunderts vgl. La réforme des prêtres au moyen-âge, besonders S. 77fr. E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A , S. 103, § 9.

195

O nulli enarrabilis divina dispositio, quœ de tam longe remotis terrarum partibus, haec duo sidéra in unum congregasti, ut alterum ab altero perlustratum splendidius illuminarent 272 . V o n Erbauung spricht Guillaume de Berneville überhaupt nicht, und der rhetorisch gedrechselte, lobrednerische Ausruf bietet ihm die Basis f ü r seine eigene konkrete Auslegung der beiden heiligen Leben. § 1 3 3 . Veredemius übte nicht nur die selbstverständliche eremitische Tugend der hospitalitas 2 7 3 ; er nahm Gilles vielmehr in enge Hausgemeinschaft auf. M a n könnte vermuten, daß es sich bei der Beziehung von Gilles und V e r e demius um das traditionelle, auch in manche Heiligenvita des Mittelalters aufgenommene Altvater-Schüler-Verhältnis 272 273

274

gehandelt habe 2 7 4 . Doch hören

E . - C . Jones, Saint Gilles, Appendix A , S. 103, § 9. Die Gastfreundschaft der Eremiten w a r seit jeher berühmt. Erwähnt wird sie unzählige Male, so beispielsweise in: Die Weisung der Väter, S. 62, N r . 1 5 1 , dazu ebda, die Anmerkung S. 467, w o auf die Hochschätzung der Gastfreundschaft durch die Benediktinerregel (Kapitel 53) und auf den von Clemens von Alexandrien als Herren wort überlieferten Spruch: »Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Herrn gesehen« (Strom. I, 19, 94 und II, 1 6 , 7 0 ) , hingewiesen wird. Von eremitischer hospitalitas erzählen ferner die Vie de sainte Melanie, s. Index S. 290b; Vies des Pères du désert, S. 37 (Antoniusvita), S. 97 und 1 3 2 (Pachomiusvita), S. 148 (Leben des heiligen Marcianus), S. 1 9 3 - 9 4 (Heiliger Theodosius, Abt), S. 224 (Heiliger Abraham, Einsiedler), S. 282 (Heilige Domnina), S. 294 (Paphnucius). A . - J . Festugière, Culture ou sainteté, S. 47, bespricht die Gastfreundschaft der Anachoreten; Beispiele bei Cyrille de Scythopolis, Vie de saint Euthyme, S. 1 1 3 , 59. I ; ders., Vie de saint Sabas, S. 36, X X V und S. 4 2 - 4 3 , X X X I ; ders., Vie des saints Jean l'Hésychaste, Kyriakos, Théodose, Théognios, Abraamios, S. 47, X I I I , S. 1 2 1 , X I I I ; Enquete sur les moines d'Egypte, S. 40, V , 6, S. 6 1 , V I I I , 55, S. 94, X I V , 1 3 . Auch Theodoret von Cyrus, Mönchsgeschichte, S. 59, 99 und 1 5 0 hebt die Tugend der hospitalitas besonders hervor. Vgl. auch Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 85, v. 2553fr. Unverändert findet sich diese Tradition auf dem Berge Athos, vgl. dazu Erhart Kästner, Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, Frankfurt a. M. 1956, passim. Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 1 7 3 - 7 4 , faßt die Stelle in diesem Sinne a u f : »Nachdem Gott den angehenden Heiligen nach Marseille geführt - nicht Gilles selber hat den Ort gewählt - beginnt Gilles seine Lehrzeit bei einem erfahrenen Einsiedler. Seit dem ägyptischen Mönditum w a r es Sitte, sich durch einen Lehrmeister ins Einsiedlerleben einführen zu lassen.« Vgl. dazu die Ausführungen in L'Evangile au désert. Des premiers moines à saint Bernard, Présentation, choix de textes et traduction par Placide Deseille, Paris 1965 ( = Chrétiens de tous les temps, 10), S. 1 3 1 , 9: »La vie spirituelle ne s'improvise pas, ni ne s'apprend dans les livres. L'aspirant à la vie monastique doit se placer sous la conduite d'un ancien [ . . . ] . « Zur geistlichen Vaterschaft durch die Einführung eines Schülers ins asketische Leben vgl. ebda. S. 1 5 6 - 5 7 , 1 1 . Für die mittelalterliche Hagiographie bot wohl die Benediktsvita das Muster: der heilige Benedikt findet auf seiner Flucht vor dem Ruhm in der Einöde einen 196

w i r v o n den üblichen Prüfungen und Gehorsamsübungen nichts. Guillaume de Berneville scheint es gar nicht auf ein solches Abhängigkeitsverhältnis anzukommen. Wesentlich ist die Verwirklichung der concordia, der unanimitas, die er als die E r f ü l l u n g des evangelischen Gebotes der Nächstenliebe versteht. Die in geistlichen Traktaten und anderen monastischen Schriften beliebte Formel >habitare fratres in unum< w i r d Guillaume de Berneville im Sinne gestanden haben. § 1 3 4 . D i e R e d a k t i o n A 2 der lateinischen Aegidius v i t a verwendet zur lobenden Kennzeichnung der beiden Einsiedler Gilles und Veredemius den Psalmvers (Ps. C X X X I I , 1 ) : Ecce quam bonum et quam jocundum habitare fratres in unum275. Guillaume de Berneville muß ihn freilich nicht dort gelesen haben, da sein Z i t a t nicht nur bei den gemeinschaftlich lebenden, beschaulichen Mönchen 2 7 6 ,

275 276

Eremiten, Romanus (monachus), bei dem er eine Zeitlang dienend bleibt (Li Dialoge Gregoire lo Pape, Zweites Buch, S. 57, 1). Noch die Gründung Romualds, auf der benediktinischen Regel fußend, verlangte ursprünglich, daß Meister und Schüler in einer gemeinsamen Einsiedelei lebten; eine Usanz, die im berühmten Fonte Avellana, im Unterschied zu Camaldoli, beibehalten wurde. Vgl. dazu Alberico Pagnani, La Vita di S. Romualdo Abbate, S. 147. Gleich mehrere Beispiele des Zusammenlebens zweier Einsiedler gibt die Vita beati Bernardi de Tironio, P L C L X X I I , 1380C, 1 3 8 2 , 2 3 , 1383,24 und 1 3 9 1 , 38D. Dom Jean Leclercq, >Eremus< et >eremitafamulus< occupait une cellule toute proche, ou même partageait celle de celui qu'il regardait comme son maître, soit au point de vue temporel, soit dans l'ordre spirituel.« Als Beispiele werden in den Anmerkungen ebda. S. 17 die Vita Godrici, die Vita Anastasii Eremita, ein Abschnitt im Kartular von Quimperlé, die Vie de Gaucher de Meulan und die Vie de Guillaume Firmat angeführt. E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix C, S. 116, §§ 16 und 17. Vgl. John Morson, The >De cohabitatione }ratrum< 0} Hugh of Barzelle [zwischen 1145 und 1 1 5 0 ] , in: Analecta monastica, Quatrième série, Rom 1957 ( = SA, 41), S. 119fr., besonders S. 123, wo auf weitere, dasselbe Thema entwickelnde monastisdie Texte hingewiesen wird. Zu dem in Gemeinschaft geführten beschaulichen Leben, das mit Ps. C X X X I I , 1 umschrieben wird, vgl. Dom Jean Leclercq, L'Ecriture Sainte dans l'hagiographie monastique du haut moyen âge, S. 1 1 6 ; und ders., >Eremus< et >eremitamonadiuscor u n u m et a n i m a una< ( A c t . I V , 32) z u einer L e b e n s n o r m 2 7 8 , die z u r A b f a s s u n g s z e i t d e r Vie

de

saint Gile i h r e z ü n d e n d e A k t u a l i t ä t w i e d e r e r l a n g t h a t t e 2 7 8 .

§ 1 3 5 . D a s Vae soli - V x s o l i : q u i a , c u m c e c i d e r i t , n o n h a b e t s u b l e v a n t e m se ( E c c l e s . I V , 10) - ist j e d o c h auch den a u f d a s eremitische L e b e n b e z o g e n e n T e x t e n nicht u n b e k a n n t 2 8 0 . I h m w u r d e o f t d u r c h d a s Z u s a m m e n w o h n e n m i t einem M i t b r u d e r entgegengearbeitet. D a s Ancrene

Riwle

e r i n n e r t z w a r d a r a n , d a ß auch d e r g a n z einsame E r e m i t

nicht v e r l a s s e n ist: Mes isci deuez vus sauoir ke nul homme ne est soul ke deu ne ad a compaignon. e ce est diecun homme ke ueraie diarite euerai amur en soen quer en uers autre 281 .

Repräsentativ für die Auslegung des Psalmverses in Kanonikerkreisen und für die Anwendung des Psalmtextes auf die konkreten Verhältnisse dieser Priestergemeinsdiaften ist eine Predigt des Kanonikers Thomas a Kempis (teilweiser Abdruck in französischer Übersetzung des Sermo I in: La réforme des prêtres au moyen-âge, S. i j 2 f f . ) . Judas v o n K ö l n verwendet das Zitat bezeichnenderweise in seiner Selbstbiographie, um den Eindruck, die ihm eine Kanonikergemeinschaft gemacht hatte, wiederzugeben (La réforme des prêtres au moyen-âge, S. 143, übersetzt aus P L C L X X , 832-833). 279 Der Anfangssatz der Augustiner-Regel lautet: »Das erste Ziel eures gemeinschaftlichen Lebens ist, in Eintracht zusammen zu wohnen und ein H e r z und eine Seele in G o t t zu haben«; zitiert bei A d o l a r Zumkeller, Das Mönchtum des heiligen Augustinus, S. 122-23. Zur Übernahme der Augustiner-Regel durch die regulierten Kanoniker vgl. ebda. S. 118. du IXe 27» Y g ] J a z u Charles Dereine, La >Vita apostolica< dans Vordre canonical au XIe siècle, R M L I (1961), S. 53: »Ce même idéal [cor unum et anima una] était, faut-il le dire, fréquemment revendiqué dans les milieux monastiques, soit chez les clunisiens, soit dans les monastères attachés à la tradition de Gorze. Il prendra néanmoins une importance et une signification nouvelle dans le monachisme de tendance érémitique et chez les chanoines réguliers à l'époque de la réforme grégorienne.« Z u >cor unum et anima una< bei O d o von Cluny, Wilhelm von Volpiano und in der Gründungsurkunde einer Kanoniker-Niederlassung (2. H ä l f t e 11. Jahrhundert) vgl. ebda. S. 52 und S. 53 Anm. 21. Vgl. auch François Petit, La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, S. 209fr. und 249fr., über das Ideal des apostolischen Lebens >cor unum et anima unaaventure< wird ausdrücklich als movens der Geschichte von Guillaume de Berneville eingeführt: Dous anz e plus, men escient, Furent ensemble saintement. Mut fud lur vie e seinte e pure, Meis entr'els surst une aventure Pur quei il furent desevri; Mais unkes meis en nostre hee N'oi pur si feite acheisun Desevrer tel dui compaignun. (vv. 1 3 1 1 - 1 3 1 8 )

U m die selbständige Erfindung zu tarnen und den Eingriff in die überkommene Ereignisabfolge zu legitimieren mimt der Legendenautor Erstaunen über die zu berichtenden Geschehnisse. Ein solches Bekenntnis, das, scheinbar befremdet, die zu erzählende Geschichte als unerhörtes Ereignis kennzeichnet, weckt Neugierde und schafft Spannung. Ließ schon die lateinische Vita dem alleinigen Eindringen Gilles' in die tiefste Wildnis ein Mirakel vorangehen, so steigert Guillaume de Berneville durch die Befremdung über dieses Vorkommnis die Erwartung des Uneingeweihten. § 1 4 1 . Im Grunde genommen leitet Guillaume de Berneville - durch die Zwischenrede von Seiten des Dichters geschickt verzögert - einen neuen Mirakelbericht ein 297 . Dieser hebt mit einem willkürlich gesetzten Neubeginn an: Un jur fud Gire levet mein Pur sei ebatre fors el plein. (vv. 1 3 1 9 - 1 3 2 0 ) 886 287

E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A, S. 104, § 11. Bei E . - C . Jones, Saint Gilles, Appendix A , S. 103, § 10, beginnt der lateinische Text den neuen Abschnitt so: Sed de multis unum succincte referamus, id circo maxime, quoniam virorum Dei corporalis separationis causa fuit.

201

Ebenso unbegründet, wenn auch anders, stellt die lateinische Quelle die Szene; sie beginnt: absente Veredemio 288 . Man ist versucht zu glauben, die beiden Einsiedler seien, ungeachtet ihrer zahlreichen Krankenheilungen, in eine derart tiefe kontemplative Ruhe versunken - der Erzählgang stagniert - , daß sie nur noch durch eine Anstrengung des Erzählers aus ihrer Ruhe gerissen werden können. Guillaume de Berneville muß künstlich etwas in Szene setzen. § 142. Der Legendenautor verwendet die K r a f t der Krankenheilung motivisch, um die Vita wieder ins Rollen zu bringen. Damit ist die Einheit gewahrt, denn die Krankenheilung gehört zum ungestört-ruhigen Leben der Einsiedler auf dem Felsen und kann doch bei geschicktem Einsatz den umwälzenden Einbruch herbeiführen. Zuerst jedoch wechselt der Schauplatz; Gilles begibt sich hinaus in die Ebene. Dahin führt Guillaume de Berneville gleichzeitig eine Gruppe von Bittstellern : Quatre huraes vindrent la errant, Sur dous chevals le quint portant; Pleignant se veneit durement, Ke langui out mut lungement. As quatre ki portent le quint Bele aventure lur avint: Kar el plein unt Gire truve. (vv. 1 3 2 1 - 1 3 2 7 )

Dieses epische Versatzstück trägt dazu bei, daß sich eine Konstellation ergibt, in der endlich etwas passieren kann: »aventure« f ü r Gilles und die anreitende Gruppe zugleich. Daß die anfängliche Zufälligkeit von Gilles' Aufbruch, der ja offensichtlich keine weitere Motivation verlangte, sondern vielmehr sich selbst genügend dem Erzählwillen des Autors entsprang, jetzt wie ein blindes Schicksal waltet, dessen Wirkungen noch gar nicht abzusehen oder zu überblicken sind, stört Guillaume de Berneville überhaupt nicht. Gefällig und ausführlich schildert er das unbegreifliche Zusammentreffen (vv. 1 3 2 8 - 1 4 2 2 ) . § 1 4 3 . Mehrmals in dieser Legendenvita erweist sich Gott selbst als höflicher und höfischer Partner des heiligen Menschen (vgl. v. 1 3 0 0 und v. 137). Auch die Begegnungen unter Menschen unterstehen einem höfisch verfeinerten A n standskodex. So vollzieht sich das Treffen der herbeiziehenden Reiter mit Gilles nach ritterlichem Zeremoniell, in einem Raum höfischer Lebenssphäre: A lui vunt [die Reiter] si l'unt salue; II lur clinet et bei respunt, Puis lur demande ki il sunt. (vv. 1 3 2 8 - 1 3 3 0 )

Schon bei der Begegnung mit den Kaufleuten vollzog Gilles dasselbe Begrüßungsritual: 288

E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A, S. 103, § 10. 202

Il lur encline mult parfunt, Puis lur demande dunt il sunt. ( v v . 8 4 1 - 8 4 2 )

Und noch dreimal findet sich diese Begrüßungszeremonie in der Vie de saint Gilè verkürzt: v. 2430 verneigt sich ein Mönch grüßend vor dem Abt Gilles; v. 2824 und 3176 verneigt sich der König, Karl der Große, vor Abt Gilles. Dieses Grüßen, Verneigen, schön und wohlgeformt Zurückgrüßen, und die Frage an die Reiter, wer sie seien, verrät Guillaume's Geschmack und Freude an der höfischen Verfeinerung der Umgangsformen. § 144. In dem auf die Begrüßung folgenden Dialog stellen sich Reiter und Eremit gegenseitig vor (vv. 1 3 3 1 - 1 3 7 4 ) 2 8 9 . Die Fremden zu Pferd kommen weit her und tragen einen einstmals reichen, langjährigen Kranken, der sein Vermögen an die Ärzte verschwendete, mit sich. Gilles soll sich nun seiner annehmen (eine Invektive gegen die Ärzte, die sich zugunsten des Wallfahrtsortes Saint-Gilles bezahlt machen kann!). In einer langen Replik nimmt Gilles den Hilfesuchenden jede Hoffnung, durch ihn Heilung zu finden. Die Rede ist ein Zeugnis seiner vollkommenen abjectio sui : »Seignurs«, feit Gire, »ço sachez, V u s n'estes mie ben drescez : P u r mei ne venistes vus mie. Fait avez, seignur, grant folie; Travaillé vus fussez en vein: Si vus vuliez k'il fust sain, Aillurs iriez santé querre.« ( v v . 1 3 4 1 - 1 3 4 7 )

Zuerst scheint Gilles sich in der Demut des begnadeten Wundertäters bemüßigt zu fühlen, ein Mißverständnis wegzuräumen. Er sei nicht der rechte Mann, nicht derjenige, den sie suchten : » J o sui un povres d'autre terre, E vinc ici a cest hermite K i en sun cele rodie abite; O d li ai bele péce esté T a n t cum nus juste humilité. K i od bon quer le requerra, Conseillez ert, ja n'i faudra.« ( v v . 1 3 4 8 - 1 3 5 4 )

Gilles läßt Veredemius unbedingt den Vorrang. Er gibt ihn als Meister aus und weist die Reitergruppe an ihn. Das bis dahin möglichst verdeckte Altmeister-Schüler-Verhältnis rückt hier plötzlich in den Vordergrund. § 1 4 5 . Im selben Atemzug bezeichnet sich Gilles als armen Fremdling; gewiß will er sich dadurch in seiner Demut erniedrigen. Guillaume de Berneville 289

Diese Kunst des schönen verfeinerten Dialogs übernahm Guillaume de Berneville wohl dem antikisierenden, altfranzösisdien Roman, eventuell bereits audi Chrestien de Troyes.

203

versucht aber wohl gleichzeitig, einen wesentlichen, bis jetzt zurückgedrängten Zug an Gilles' Leben hervorzuheben, seine freiwillige Fremdlingschaft nämlich. Der Legendenautor greift damit nidit nur auf einige, in dieser Beziehung im dunkeln gelassene Episoden in Gilles' Lebensgang zurück -

auf seine

Flucht aus dem Palast, sein Warten am Meeresufer und Herbeiwünschen eines Schiffes, seine Einschiffung - , die er als Etappen einer asketischen >peregrinatio trans mare< hätte bezeidmen können. E r knüpft bei einer weit zurückreichenden Tradition an, die Eremitenleben und Exil immer im Konnex sah 290 . Es wirkt bloß überraschend, daß sich Gilles erst jetzt als armen Fremdling bezeichnet. Reichlich spät also nennt Guillaume de Berneville in diesem Abschnitt zwei im Mittelalter institutionalisierte asketische Lebensformen, die bisher nur andeutungsweise durchschienen - die Unterstellung unter einen Meister und die selbstgewählte Fremdlingschaft - , beim Namen. § 146. Die Reiter leiten daraufhin eine eigentliche Untersuchung, ein kleines Verhör ein: »Sire«, funt il, »par charité, K a r nus en di la vérité : Cum ad nun cil ki meint la sus?« (vv. 1 3 5 5 - 1 3 5 7 ) Die Frage der Identität der beiden Eremiten, die, mit den Worten der lateinischen Vita, bis jetzt als Doppelgestirn gemeinsam leuchteten, soll nun ge290

Das Ideal der Fremdling- und Pilgerschaft war schon immer eng mit dem Eremitentum verknüpft. Manche Vätersprüche (vgl. Die Weisung der Väter, S. 488 die Stichworte Fremdling(-schaft) und Gast, Pilger) haben das Thema des Exils zum Gegenstand. Einige Sprüche zeigen zwar kein wörtliches, sondern ein übertragenes Verständnis der Fremdlingsdiaft (Xeniteia). Bezeichnend sind aber doch Aussagen wie die, ebda. S. 62, i j 2 : »Altvater Andreas pflegte zu sagen: >Dem Mönch geziemen diese drei Dinge: ein Leben als Fremdling, Armut und Schweigen in Gedulde«; oder ebda. S. 138, 395: »Der Altvater Jakob spradi: >Es ist wertvoller, Fremdling zu sein, als Fremde aufzunehmen^«; oder ebda. S. 251 f., 776, wo, wie in der Vie de saint Gile, von zwei gemeinsam lebenden Eremiten die Rede ist, welche, obsdion nicht aus der selben Gegend stammend, in Eintracht waren; in diesem Apophthegma antwortet Abbas Sisoes auf die Frage, was Fremdlingschaft sei: »Schweige und sprich an jedem Orte, wohin du kommst: das geht midi nichts an: das ist das Leben in der Fremde!« Vgl. ebda. S. 461 die Anmerkung zu 20: »Der Besitzlosigkeit zugeordnet ist die Haltung des Pilgerseins, des Unterwegsseins. Wer Pilger ist, sieht auf leichtes und wenig Gepäck.« (vgl. v. 625ff. der Vie de saint Gile!) Und ebda. S. 476 die Anmerkung zu 395: »Fremdling sein: Xeniteia, ein Grundbegriff anachoretischer Askese. In der Nachfolge dessen, der nichts hatte, wohin er hätte sein Haupt legen können, soll auch der Mensch sich nirgends einwurzeln und sichern. Entsichert, ungeborgen leben, das heißt Glauben. Wie Paulus seinen Christen die Gestalt des Vaters des Glaubens als Urbild hinstellt, Abraham [ . . . ] . « Audi Cassian behandelt das Thema der Fremdlingschaft in seinen, den Wüstenvätern in den Mund gelegten Gesprächen; vgl. Jean Cassien, Conférences, I, S. 140, III. II, S. 142, III. I V , S. 145, III. V I und S. 147, III. V I I , wo Abraham, Antonius der Eremit, schließlich David und Christus als Vorbilder hingestellt werden. Zur Lektüre Cassians im Mittelalter vgl. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 6. 204

klärt werden, was in K ü r z e zu einer unerwarteten Wendung der Sadilage führen wird. Gilles antwortet auf die Frage knapp: »II a nun Veredemius.«

»E vus coment?« »J'ai a nun Gire.« »Graciez en seit nostre sire K e nus ici t'avum t r u v i ! Tai avum quis, la merci De.« (vv. 1358-1362)

Schlag auf Schlag erfolgen Frage und A n t w o r t . Die Situation gerät dadurch in eine dramatische Spannung, welche sich wohltuend dahin löst, daß Gilles, der zufällig Angetroffene, eben der Gesuchte ist. Der sich in Demut hintansetzte, erweist sich nun als der zu der Heilstat Auserwählte. § 147. Der aufgeregte Dialog allerdings bricht damit noch nicht ab, denn da die Reiter gerade Gilles aufsuchten und ihn nun auf beinahe wunderbare Weise auffanden, glauben sie ein Recht auf das Heilungswunder zu haben; sie erwarten es schon mit Gewißheit. Es nützt nichts, daß Gilles sich sträubt, verzweifelt sein Unvermögen bekennt: Certes ne sai pru de mirie (v. 1364; vgl. v. 1100: D e fisike ne sai neent). Der stichomythische, zeitweilig hemistichomythische Disput führt dahin, daß Gilles eine Bedingung stellt und von seinen Bedrängern die Erwirkung des Wunders verlangt: »Or seez dune en oreisun, Kar par vostre bone creance Lui durrat tost Deus l'alegance.« (vv. 1372-1374)

Die rhetorisch dramatisierte Szene gewinnt noch an Heftigkeit durch die Intensität der beschriebenen Gestik. Durch sie soll Gilles gleichsam erpreßt und das Wunder erzwungen werden, denn ihrem eigenen Glauben trauen sie die Wirksamkeit nicht z u : Gires veit e entent tres ben Sun eschiver ne Ii valt ren, Kar il se sunt ben affichez (Cheeit furent tuz a ses pez) N e leverunt meis en lur vie Pur nule ren ke il lur die, Si lur requeste ne lur feit. (vv. 1375-1381)

Eigenartig, wie schwer dem doch schon erprobten und durch Heilungswunder bekannten Eremiten Gilles die Fürbitte für den Kranken und die Erwirkung der Gesundung - oder doch mindestens die Mitwirkung an der Heilung fällt. Guillaume de Berneville zeigt den Heiligen in Furcht und Zittern das Heil des Fremden wirken: es wird ihm zu einer ernsten Prüfung. § 148. Der Legendenautor stellt die Heiligenfigur nun eigens abseits, um z u zeigen, was ihn ein Wunder an innerlicher Arbeit kostet: 20j

A une part en sus se treit Mut anguissus e mut pensis; L'éwe lui curt a val le vis: A grant dute e od grant pour Recleimet il Deu sun seignur Ke veire merci lui fesist E bon conseil lui tramesist. (vv. 1382-1388) D e r a r t v o n Emotionen bewegt, ganz an seine schwierige A u f g a b e hingegeben, geht Gilles diesmal ins Gebet, das, w i e zahllose altfranzösische epische Gebete, mit einer markanten Einleitungsformel beginnt: Deus, reis, [. . .] omnipotent (v. 1 3 8 9 ) 2 9 1 . Diese offizielle Ansprache Gottes mündet dann jedoch in persönliche, v o m Legendendichter ersonnene Gebetsworte ( v v . 1 3 8 9 bis 1 4 1 4 ) und mündet am Schluß in die Bitte, G o t t möge dem weither Gereisten die Gesundheit schenken und ihm dadurch - w i e früher bei der Heilung der Mutter Theotritas - die nötige Zeit zur Buße gewähren. A m K r a n k e n lager in Arles hatte Gilles gebetet: D u n e z lui espace de vie

E repentance de

folie ( v v . 1 1 4 9 - 1 1 5 0 ) ; jetzt bittet Gilles mit ähnlichen Worten: »... Li mais Tat mult affleblié: Ben pot ore estre chastié E repentant de sa folie; Dunez lui espace de vie, K'il puisse prendre penitance De ço ke il ad meserré Encontre vostre volenté.« (vv. 1407-1414) H i e r w i e damals im K r a n k e n z i m m e r v o n Arles w i r k t G o t t das Wunder w ä h r e n d Gilles betet. D i e Bittsteller kehren in ihr L a n d zurück: E Gires remeint pensis (v. 1 4 2 2 ) , w i e nach seinem allerersten Wunder, das ihm im Kindesalter w i d e r f u h r (vgl. v . 1 5 6 ) . § 149. Freilich dankt Gilles f ü r die eben erfahrene Gunst: Graciad Deu nostre seignur Ki ço out feit pur sue amur. (vv. 1423-1424) E r bedenkt nun aber alsogleich in einem bewegten inneren Monolog die so plötzlich eingetretene neue Lage. Denn die Konsequenzen seines unbegründeten Ganges in die Ebene sind erheblich. 291

Zu dieser und zu ähnlichen üblichen Einleitungsformeln in epischen Gebeten vgl. Edmond-René Labande, Le >credo< épique, S. 68 und Anm. 2, wo darauf hingewiesen wird, daß mit einer einzigen Ausnahme alle epischen Gebete mit einer Anrufungsformel an Gott beginnen. Zu den in den epischen Gebeten genannten Attributen Gottes vgl. C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos, S. 3ifF. und 186. 206

Das nach einem Wunder sich vor Gilles aufrichtende Schreckgespenst kennen wir, es heißt fama 2 9 2 . Doch der diesmal auszutragende Konflikt bleibt schwer verständlich (vv. 1 4 2 5 - 1 4 5 4 ) . Gilles sieht nämlich ein künftiges Zusammenleben mit Veredemius durch das vorgefallene Mirakel vereitelt; er wäre aber gerne weiterhin bei dem heiligen Mann geblieben: »... Mut est sa vie a mun talent, K a r mut est sainte e chaste e bele.« (vv. 1430-31) Nach dem eben eingetroffenen Vorfall werde ihn Veredemius jedoch noch mehr ehren und seine ganze Güte an ihn wenden. So gewänne Gilles »los terrien« (v. 1 4 3 5 ) , Welt- und Menschenehre also, womit er seine ganze asketische Mühe verscherzte. Es ist dies ein typisch wüstenväterliches Denken, nach welchem eingeheimste Ehre und Ruhm alles Verdienst zu einem Nichts einschmilzt (vgl. Matth. V I , 5: [. . . ] amen dico vobis, receperunt mercedem suam). Gilles aber will die geistliche Frucht seiner bisherigen Mühe nicht verlieren, und da es offenbar keinen anderen Ausweg gibt, ergreift der Heilige erneut die Flucht: »Or m'en irrai querre autre ostel, K a r ci ne voil plus demurer. En ces gastines voil aler.« (vv. 1440-1442) § IJO. In allen Phasen der Vie de saint Gile bietet das Meiden der fama den Hauptbeweggrund zum Auszug. Flucht vor Ruhm ist ehernes Gesetz, dem sich 292

Daß die Flucht vor Ehre und Ehrung eine alte Mönchsregel ist - Gilles befolgte sie selbst schon mehrmals zeigt beispielsweise Die Weisung der Väter, S. 76, 185: da berichtet Abbas Daniel, daß Anachoreten, die für eine bestimmte Heilung als einzige zuständig gewesen wären, sich aus Furcht vor der nachträglichen Ehrung weigerten, das Wunder zu tun. Ebda. S. 125-26, 353 erzählt Abbas Johannes Kolobos von einem geisterfüllten Greis, der sogar einem Sterbenden seinen Besuch verweigert, um der Ehre zu entgehen. Erst nadits will er sich doch noch auf den Weg machen. Da geschieht ein Liditwunder, das ihn offenbar macht. Johannes Kolobos interpretiert den Vorfall so: »Je mehr er glaubte, der Ehre entfliehen zu können, desto mehr wurde er gefeiert. Darin bewährt sich das Schriftwort: Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Mt. 23, 12).« Ähnlich scheint es Gilles zu ergehen. Ebda. S. 352, 1042 wird ein neuer Aspekt des Ruhmes gezeigt: »Abbas Johannes sprach: > [ . . . ] Die andere Art der Ruhmsucht besteht darin, daß jemand, der zu hoher Tugend gelangt ist, dies nicht ganz Gott zusdireibt, sondern seinen eigenen Mühen und seinem eigenen Streben. Und während er Ruhm bei den Menschen sucht, verliert er den bei Gottaventureaventureaventure< kann sich ans Vergangene nur lose anknüpfen, denn der unter ihrem Zeichen stehende Erzählvorgang erhält durch sie einen gewissen Eigenwert. Dieser besteht darin, daß sich das erzählte Ereignis durch die Schicksalhaftigkeit der >aventure< so verdichtet, daß es sozusagen durch seinen Intensitätsgrad einen Höhe- und Wendepunkt darstellen muß. Die eingelegte Szene ist, gerade weil sie sich aus dem Vorangegangenen keineswegs ergibt, 208

Indiz einer Krisis, in der das gerade Fällige und in die Zukunft verweisende sichtbar werden muß. A n dieser Stelle der V i t a erzwingt die >aventure< eine neue Lebensform des Heiligen, der nun nicht weiterhin an dem sublimen Ort auf dem Felsen verweilen, sondern abschiedslos die Flucht in den tieferen W a l d ergreifen wird. Die >aventure< wirkt wie ein Fingerzeig Gottes, dessen unvermutetes Ergebnis eine Radikalisierung des geistlichen Programms sein wird. § 1 5 3 . Der neue Aufbruch, Gilles' dritte Flucht, stellt sich also als weiteres Vordringen in die Einöde dar; dieses Vordringen geschieht ohne Zutun des Eigenwillens, es hat das Ansehen einer Fügung. Diese Etappe des Heiligenlebens entspricht dem traditionellen Weg in die absolute Einsamkeit, w o selbst der geistliche Lehrmeister oder Mitbruder fehlt. Topographisch sind die Stationen in der Vie de saint Gile durdi Insel, Berg und W a l d bezeichnet 293 . Ihnen entspricht der immer dringlichere Wunsch, jeglichem Menschenlob - wenn möglich endgültig - zu entgehen, die Anachorese im strengsten Sinne des Wortes zu verwirklichen 294 . Erstmals formuliert 293

284

Audi Herbert Grundmann, Deutsche Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hocbmittelalter (10.-12. Jahrhundert), S. 60, systematisiert die Einsiedler nadi diesen dreierlei möglichen Wohnorten: »Einsiedler und Anachoreten in ihrer selbstgewählten Einsamkeit fern der Welt und den Menschen sind schwer aufzufinden - audi von der historischen Forschung. Um allein zu sein mit Gott und ihm allein zu dienen, zogen sie sich in unbewohnte Wälder, auf schwer zugänglidie Berge oder Inseln zurück [. . . ] . « Noch Grimmelshausen kennt diese drei >klassischen< Plätze, die für die Darstellung des eremitischen Lebens unentbehrlich wurden; vgl. Werner Welzig, Beispielhafte Figuren, S. 143 Anm. 1 : »Äußerlich gesehen kennt Grimmelshausen drei verschiedene Formen der Einsiedelei: die im tiefen Wald, die auf aussichtsreichem Berg und die auf einsamer Insel. Ähnliche Formen des einsiedlerischen Lebens finden sich audi bei J . Beer [. . .].« Sogar in Wielands Oheron erscheint ein nach altem Muster beschriebener Einsiedler. Sein Aufenthaltsort stellt sozusagen eine Synthese dar: Insel, Felsenlandschaft, Garten, Quell; vgl. Bruno Golz, Wandlungen literarischer Motive, Leipzig 1920, Kapitel I I : Die Legenden von den >AltväternEremus< et >eremitaWüstenvaters< stellt. Auch er suchte im Laufe seines Lebens mehrmals die Einöde auf 2 9 5 . Sicher ordnete Guillaume de Berneville mit Bedacht die Seesturm-Szene und die Schiffahrt dem heiligen Nikolaus, den extremen Vorstoß in die Waldeswüste dagegen dem heiligen Martin zu. Die Berichterstattung des abermaligen Exodus wird auf den eben voraufgehenden entscheidenden Monolog rückbezogen, indem der Legendendichter die Aussage wiederholt, wonach Gilles eine Einsiedelei sucht, in der er von niemandem behelligt werden könne 296 . 295

896

Zu den Berufungen auf die Martinsvita in der mittelalterlichen monastischen Literatur vgl. Dom Jean Leclercq, S. Martin dans l'hagiographie monastique du moyen âge, in: Saint Martin et son temps, S. 175—87; und ders., Aux sources de la spiritualité occidentale, S. 204 und Anm. 1, wo im Kapitel V : Vocation et séparation du monde, zu Martin bemerkt wird: »Au commencement - c'est-àdire au I V e siècle - , se trouve une série de faits dont le mieux connu est la vocation de saint Martin. Son biographe Sulpice Sévère, ne mentionne pas chez lui la volonté expresse de se séparer du monde; mais il le montre recherchant la solitude, un certain éloignement par rapport aux gens du monde: il se retire d'abord dans l'île Gallinaria, puis il préfère Ligugé à Poitiers et Marmoutiers à Tours.« Diese Vorliebe für das eremitische Leben, nebst der allgemeinen Bewunderung, die Martin im Mittelalter zukam, kann Guillaume de Berneville bestimmt haben, sich hier gerade an Martinus zu wenden. Martinus wurde überhaupt häufig angerufen in der mittelalterlichen Literatur; vgl. dazu Ernest Langlois, Table de noms propres de toute nature compris dans les Chansons de geste imprimés, S. 439-40; und L.-F. Flûtre, Table de noms propres [. . .] figurant dans les Romans du Moyen Age, S. 133. Auf das Hauptziel des Einsiedlers, die Suche der Ruhe und Ungestörtheit macht Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 66, aufmerksam: » [ . . . ] Le premier cas est celui des ermites: qu'ils soient tels de façon provisoire ou intermittente, ou qu'ils le soient de façon durable, ce qu'ils demandent à la solitude est toujours le moyen de se reposer en Dieu.« Vgl. auch ders., Aux sources de la spiritualité 210

occidentale,

Chapitre V : La

voca-

D e r V e r k e h r mit den der Welt verpflichteten und v e r h a f t e t e n Menschen erscheint hinderlich 2 9 7 ; derselbe Ü b e r d r u ß , der in Li Romans

de Caritè

und in

der gesamten mittelalterlichen geistlich ausgerichteten L i t e r a t u r anzutreffen ist, k a n n d a auch aus der Vie de saint Gilè herausgehört w e r d e n . Sie geht mit dem Romans

de Caritè

einig: Si com Ii vens le paille maine Par mi l'aire, en itale paine Est toute le gens seculaire; Mais tu, ki tiens vie hermitaine, En grenier ies, pais as chertaine, Quant aimes vie regulaire 298 .

D e r Einsiedler k a n n sich w e n n immer nötig auf die Suche nach diesem Frieden und nach dieser Ungestörtheit begeben, w e i l er sich keiner anderen R e g e l als der ungehinderten Beschaulichkeit verpflichtet weiß 2 9 9 . § i j 5. D e r nach kürzerer oder längerer W a n d e r u n g gefundene O r t - über die Wegstrecke selbst und ihr A u s m a ß w e r d e n w i r , w i e gesagt, im Ungewissen gelassen - ist der a m eingehendsten beschriebene Schauplatz in der Vie saint

de

Gilè: Tant est alez par la gastine K'il vint a une desertine: Trove une fosse ben cavee; De sus esteit large l'entrée, Bel converser i fust jadis, Meis buissun unt le liu purpris, E eglenter e arbreissal. Devant l'entrée out un duital D'une funtaine ki la surst: Bels est li duiz ki aval curt; Sur la gravele del duitel Est li kersun coluré bel. Gires veit le liu aeisé, Nostre sire en ad gracié : Mut se feit lez k'il l'ad trové; Il n'en changast pur nul cunté. (vv. 1 4 6 1 - 1 4 7 6 )

297

298

299

tion et la séparation du monde, besonders S. 204ff. zum Rückzug aus der Welt und von den weltlichen Geschäften, dem auch der äußerlich örtliche Rückzug der >remoti< in die Einsamkeit entspricht. Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. i o i f f . und I24ÎÎ. besonders, zeigt, daß in geistlichem und hagiographischem Kontext die Rede vom Fliehen des menschlichen Umgangs und Verkehrs immer den Wunsch nach einer ungestörten, unbehinderten vita contemplativa impliziert und sozusagen die dem sprachlichen Ausdruck nach negative Seite der ausschließlichen Aspiration nach einem Leben für Gott darstellt. Li Romans de Caritè et Miserere du Renclus de Moiliens, Tome I, S. 69, C X X I X , 7-12Vgl. dazu die Concordia regularum des Benedikt von Aniane, P L C H I , 1266, Caput L X V , die Anmerkung zu >stabilitas< : der Eremit ist ihr nicht unterworfen, da das eremitische Leben vollkommener ist als das zönobitische Leben, das, die Ortsgebundenheit inbegriffen, nur vorbereitenden Charakter hat. 211

Nicht mehr der Auszug als solcher ist jetzt wichtig; darum kann die Wegbeschreibung wegfallen. Zentral ist nun die mühelos gefundene Einsiedelei, deren örtliche Gestaltung in einer längeren Beschreibung festgehalten wird. Betont ist der unbezähmte, wilde Charakter der waldigen Umgebung und der unbebaute, öde Zustand der wohl leicht felsigen, gruben- oder schluchtartigen Lichtung. Die lateinische Version A 2 umschrieb den Ort ganz unanschaulich so: [ . . . ] desertum locum juxta mare elegit, ubi ferarum solummodo antea habitatio fuerat 300 . Nach der lateinischen Aegidiusvita war Gilles also am Aufenthaltsort nicht mehr der Menschen, sondern der stummen Tiere angekommen. Anders arbeitet Guillaume de Berneville die Beschreibung des abgeschiedenen Wohnortes seines Heiligen aus. § 1 5 6 . Die Ankunft an diesem Ort scheint einen Kulminationspunkt zu markieren, wie ja schon die Suche einer solchen Abgeschiedenheit auf einen E x trem- und Höhepunkt im äußeren und inneren Ablauf des Heiligenlebens hinzielt. Hier endet vorderhand der Lebensweg. Das Itinerarium des einsiedlerisch lebenden Protagonisten ist mutmaßlich an sein Ende gelangt, da mindestens von den äußeren Lebensumständen her eine Steigerung oder Verabsolutierung nicht mehr denkbar ist. Z w a r scheint der Ort früher einmal zugänglicher, vielleicht sogar bewohnt gewesen zu sein. Jedenfalls steht in dieser Wüstenei (desertine) 301 inmitten des 300

301

E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix C, S. 1 1 7 , §§§ 22, 23, 24. Vgl. ebda. S. 104, Appendix A , § 1 1 , wo der ähnliche Wortlaut der Version P gegeben ist: [locum] frutectis et arboribus obsitum, solisque ferarum lustris frequentatum, bewohnt Aegidius. Vgl. zu dieser Thematik weiter unten Anni. 385. Guillaume de Berneville bezeichnet den von Gilles gesuchten Wohnort als »hermitage« (v. 1458) und versteht unter dieser Bezeichnung, wie aus dem Kontext zu erschließen ist, sowohl die eigentliche Unterkunft und Deckung als auch deren Umschwung. Damit, und ebenfalls mit dem Gebrauch von »desertine« (v. 1462), schließt sich der anglo-normannische Autor zweifellos dem Wortfeld von lateinisch (h)eremus und desertum an. Die mittelalterliche Definition dieser Bezeichnungen deckt sich jedenfalls mit dem Sinn der von Guillaume verwendeten Ausdrücke. Vgl. dazu Dom André Wilmart, Un réportoire d'exégèse composé en Angleterre vers le début du XIIIe siècle, S. 325, wo im Abschnitt C X X X des Wörterverzeichnisses heremus folgendermaßen erklärt wird: Heremus idem est quod desertum, et dicitur heremus locus remotus a terra culta et habitata. Der moralischtropologische Sinn von >heremus< wird ebda, so umschrieben: Heremus significat tranquillam vitam et quietam ad quam serui dei fugiunt qui ei piene seruire et piacere cupiunt. Vgl. auch Dom Jean Leclercq, >Eremus< et >eremitaeremus< permet désormais non seulement de désigner un lieu solitaire, mais d'indiquer ce qui caractérise celui-ci. L'>eremus< est d'abord une terre inhabitée, peuplée seulement de bêtes non domestiques, sauvages ou féroces. C'est aussi, et pour cette raison, une terre non défrichée, inculte parce que, ou bien elle n'a jamais été

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wilden Waldes (gastine) 3 0 2 eine H ö h l e oder eher ein felsiger G r a b e n schon bereit, nur daß der Eingang mit Dornen und Sträuchern überwachsen ist. T r o t z der Unkultiviertheit und Verlassenheit erscheint aber der O r t nicht abschreckend oder allzu unwirtlich. In seiner Unberührtheit und Frische w i r k t er paradiesisch. § 1 5 7 . Gilles' Einsiedelei ist ein kleiner >locus amoenus< in der Wildnis 3 0 3 . Wenigstens die rudimentären Zutaten, ein nahebei entspringender Quell, der sich zum eilenden Bache f o r m t und die auf seinem Kiesgrund wachsende Kresse sind eigens genannt und in ihrer Schönheit und Kolorierung hervorgehoben 3 0 4 . Es ist jedoch nicht ein elementarer Natursinn, der Gilles diesen schönen Flecken zu seinem Aufenthalte wählen läßt. D i e Freude an dem lichten P l a t z verbindet sich sofort mit dem Gedanken an G o t t ; ihm dankt er, daß er diesen, f ü r das beschauliche Einsiedlerleben geeigneten Ort, der nicht nur genügend abgelegen, sondern auch angenehm ist 3 0 5 , f a n d . travaillée, ou bien elle a été abandonnée: aussi dit-on que l'on fait passer une propriété de l'état d'>eremus< à celui de terre cultivée; >eremusermuscultumCantabrigia2 juxta Castrum* erbaut wurde] ameno e ridente, e vi scorrevano delle fonti d'aqua limpida e pura, die si chiamavano »fontes puerorum«, anglice B a r n w e l l « , nach dem Beschreib einer Chronik (A. Dodsword/W. Dudgale, Monasticon Anglicanum, London 1662, vol. II, S. 28fT.). Frischer Quell und klarer Fluß wurden sonst gerne mit einem geistlichen Doppelsinn beladen, wie er sich z. B. bei Sankt Zeno, P L X I , 512, 9, Tractatus ¡6, ausgesprochen findet: In eremo aquam bibisti, manna de CEEIO gustasti; oder bei Dom André Wilmart, Un répertoire d'exégèse compose en Angleterre vers le début du XIIIe siècle, S. 322, Abschnitt X C V . De Flvmine: Flumina signifìcant bonos mores seu bene morigeratos. Unde quidam ait: Flumina dulcis aqua: dulcia facta notant; im Unterschied zum bittersalzigen Meer. 214

Ihm genügt die E v o k a t i o n der paradiesischen Sphäre, an welcher er durch einen wiederholten Hinweis auf das fließende Wasser und die Schönheit des Fleckens festhält. J a er verstärkt den idealen paradiesischen Z u g durch eine Anspielung an die Bedürfnislosigkeit des Heiligen: dieser verbringt am erwählten O r t die Nacht, ohne an Essen und Trinken zu denken 3 0 8 . Tute noit ad iloc jeu K'il nen ad mangé ne beu. L'endemain quant vit le jur cler, Si començad ad essarter. Dedenz icele fosse bele Currut l'éwe sur la gravele: A une part sa loge ad feit, Del ramill k'il i ad atreit: De l'herbe coilt, si la covri Pur aver enz greignur abri. (vv. 1477-1486) Nicht gleich nach der A n k u n f t , erst anderntags, beginnt der Heilige mit der Zubereitung des Wohnortes. E r rodet den überwachsenen Platz 3 0 9 und beginnt den einfachen 3 1 0 und sorgfältigen Ausbau einer eigentlich häuslichen Stätte. D a m i t ist der R a u m , in welchem sich die nächste E t a p p e des Heiligenlebens abspielen w i r d , gegeben und fixiert. Die abgekürzte Beschreibung des 308

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Zur satietas-sine-fame-Formel der Paradiesbeschreibungen vgl. Petrus W. Tax, Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg, Berlin 1961 ( = PSQ, Heft 8), S. 122, mit Literaturangaben zum Thema. Zu dieser, von den Einsiedlern oft ausgeführten Tätigkeit vgl. Marianne Stauffer, Der Wald, S. 99-100: »Zugleich bedeuteten diese Ansammlungen von Eremiten in den Wäldern einen nicht zu unterschätzenden Kulturbeitrag. Sie waren die Ausgangspunkte und Zentren der großen Rodungen, die im Laufe des Mittelalters die ausgedehnten Wälder aufteilten und verkleinerten. Die Rodungs- und Bebauungsarbeiten dienten zunächst dem persönlichen Unterhalt der Mönche, erhielten aber dadurch einen besonderen Aufschwung, als verschiedene Klosterrcgeln, in erster Linie dann aber die im achten Jahrhundert sich in Gallien durchsetzende Regel des Heiligen Benedikts, die manuelle Arbeit zu einer der wichtigsten Forderungen mönchischen Lebens machten [ . . . ] . So spricht der Großteil der Eremitenviten von Rodungs- und Bebauungsarbeiten, die die Mönche im Wald vollzogen.« Die Einfachheit der Einsiedlerbehausungen betont auch Dom Jean Leclercq, Problèmes de l'érémitisme, S. 200: »Quant aux habitacles, ils se caractérisent aussi par deux traits qui sont traditionnels: leur exiguité et leur pauvreté (parva arborum corticibus tecta instruunt habitacula): ce sont des cabanes rustiques.« Vgl. dazu auch Jean Hubert, L'érémitisme et l'archéologie, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 462 : »Comme l'ermite se voue à la fois à la prière et à l'exercice de la pauvreté, il se contentera d'aménager le plus simplement du monde ces lieux solitaires. C'est pourquoi l'habitat érémitique ne fut le plus souvent qu'une sorte de prolongement, à travers toute l'époque historique, de formes d'habitat préhistorique ou protohistorique: la grotte, la cabane de bois, la hutte de pierres sèches établie dans un lieu élevé, au milieu d'une forêt ou dans une île.« 2IJ

paradiesischen locus amoenus in der Wildnis, den die Einsiedelei darstellt 311 , erweist sich als eine jener Ortsbeschreibungen, welche den Übergang von einem Erzählabschnitt zum anderen bewerkstelligen und damit meist auch neue Handlung einleiten 812 . § 1 5 9 . Das Idyll an dem glücklich erreichten Ort erscheint vollkommen, ein seliger Zustand ist wiederhergestellt. Die errichtete Laubhütte wirkt ärmlich improvisiert und festlich zugleich. Es ist eine jener aus Ästen, Zweigen und Laubwerk erstellten Hütten, wie sie in der mittelalterlichen Literatur unzählige Male angetroffen werden können. Aus einer Stelle des altfranzösischen Ancrene Riwle ist zu entnehmen, daß sich Hirten ebensolche Unterstände bauten : [ . . . ] e si peisez uos cheuereaus delez les loges as pastureaus. les queus loges sunt fetes de branches des foliis 313 .

Im legendenhaften Roman Guillaume d'Angleterre finden die Söhne Guillaume's nach ihrem dramatischen Auszug aus dem Hause der Pflegeeltern im Walde dieselben Hütten, die gewöhnlich als Jägerstand, ihnen aber als Unterschlupf für die Nacht dienen : Une loge voient dalés [neben einer klaren Quelle] Qui estoit faite de novel [ . . . ] Li loge estoit de rains bien close Et bien coverte por le pluie, (v. 1772 und 1780-81) 3 1 4

Einen laubenähnlichen Verschlag finden wir auf einer Art Festanger neben dem Zelt des Orgueilleus de la Lande: Et loges galesches drechies. (v. 652) 3 1 5

Und notgedrungen baut Tristan eine Laubhütte für sich und Isolde im Walde Morois: Sa loge fait: au brant qu'il tient Les rains trenche, fait la fullie. (vv. 1 2 9 0 - 1 2 9 1 ) 3 1 8 311

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3,3 314 315 319

Dom Jean Leclercq, >Eremus< et >eremitaDeo soli servire< vgl. oben Anm. 69 und ergänzend Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 2 9 - 3 1 , S. 90 und Anm. 80, S. 100 und S. 123 Anm. 10; auch ders., Otia monastica, S. 65 und S. 66 Anm. 15. Volkssprachlich findet die Formel beispielsweise Verwendung in: Li cumpoz de Philipe de Thaün, Herausgegeben von Eduard Mall, Straßburg 1873, S. 58, v v . 1697-1698: Une nen out volente [le fil sainte Marie], / N e mais de servir De. >Creire< muß in diesem Kontext einen über bloßes >glauben< hinaus erweiterten

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Guillaume de Berneville scheint mit seiner konzentrierten Beschreibung der Einsiedelei und des dort geführten Lebens einzig darstellen zu wollen, was das Poeme moral in einem einzigen Satz lapidar aussagt: [ . . . ] K e granz biens est lo mal laissier et Deu servir 325 .

§ 1 6 1 . An diesem friedlichen Ort gelangt die Erzählung, wie ehemals in der Felseneinsiedelei bei Veredemius, an einen Ruhepunkt, von dem aus der Erzählgang nur durch ein von außen herbeigeführtes Ereignis wiederum in Bewegung gebracht werden kann. Guillaume de Berneville versteht es nun, die beschauliche Ruhe an diesem verborgenen Ort durch eine innere Dynamik zu beleben. Die lateinische Vorlage P weiß über den ganzen Lebensabschnitt in der Einöde nur dies zu berichten: Triennio igitur ibidem pro salute populi totius orando manens, solis herbis et aqua vixit, excepto quod ei Dominus quemdam praeparaverat cervam, satis habunde certis horis reficiendi alimoniam lactis prsbentem sibi 326 .

Der anglo-normannische Legendenbearbeiter bemerkt nun sofort, daß in seinem lateinischen Muster die in der Hagiographie topisch verwendete Formel vom Leben von ungekochten Kräutern zusammen mit den stummen Tieren vollständig ist: Er selbst benutzte erst den Formel teil von den Kräutern, die Wendung >cum bestiis< liegt demnach noch brach. Das Thema der Tiergemeinschaft in der Einsiedelei verkörperte sich in der lateinischen Redaktion in der Gestalt der cerva. Guillaume de Berneville hatte zudem die Bemerkung seiner Vorlage, wonach Gilles in der Einöde da lebt, wo früher nur die wilden Tiere hausten, unterschlagen. Jetzt aber geht er an den Ausbau des Themas von den stummen Tieren, das er bei dieser Gelegenheit nicht nur als Nachtrag aufgreift, es vielmehr von seiner Formelhaftigkeit befreit und in einer virtuosen Wendung dazu gebraucht, die geistige und geistliche Eigenart seines Protagonisten zu verdeutlichen. § 1 6 2 . Die großartige und zugleich zart konturierte Variation des Themas vom Leben in der Einsiedelei setzt mit der gewohnten Markierung eines epischen Neueinsatzes ein: Ore oez 327 . Der Erzählabschnitt ist damit deutlich gekennzeichnet:

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Sinn haben, denjenigen von >s'afieronager< (Wildesel) ersetzen 352 , der gewissermaßen das eremitische Wappentier war. E r stellte wie die Hinde die Menschenscheu und die Freiheit des Einsiedlers in der Abgeschiedenheit dar: Onager quippe, quem silvestrem asinum vocamus, monachus est, qui sEecularium rerum vinculis absolutus, ad tranquillam vita; solitaria: libertatem se contulit et, sceculum fugiens, in sxculo non remansit 533 . Polyvalent also ist die Hinde nicht nur an sich durch eine Vielzahl von Bedeutungen, mehrdeutig ist sie sogar in der bestimmten Funktion als Seelentier und Repräsentanz des heiligen Protagonisten. § 1 7 $ . Nicht allein die Gestalt der wunderbaren Hinde, selbst ihre Milch, die sie dem Heiligen als Nahrung spendet, wird auf einen geistlichen Sinn hin transparent, wenn man bedenkt, mit welcher Hartnäckigkeit das meditative Denken im Mittelalter sich mit der Metaphorik der Speisen beschäftigte 354 . Der Versuch, verschiedenen ausgewählten Nahrungsmitteln einen mystischen Sinn abzugewinnen, zeitigte im Falle der Milch weitreichende Ergebnisse, die in ihrem kombinatorischen Reichtum freilich starke Divergenzen aufweisen 3 5 5 . 351

Zur spätantiken und frühchristlichen Tradition, den Heros oder fteïoç àor)p von einem außerordentlichen Tier begleitet darzustellen, vgl. Karl Hauck, Tiergärten im Pfalzbereicb, S. 52-53. 352 Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 36, verweist auf eine ganze Reihe mittelalterlicher Autoren, welche, gestützt auf die Bibel, im Wildesel das Symbol des Eremiten sahen: »On comprend que S. Grégoire, S. Isidor, Raban Maur, Jean de Fécamp, Abélard aient vu en lui le symbole du solitaire: nouveau figurant dans le bestiaire monastique.« Wichtig ist ebda. S. 36 Anm. 26 der Hinweis, daß den mittelalterlichen Schriftstellern die Anschauung des Wildesels fehlte und sie den Wüstenesel zum Waldtier machten. 353 Abœlard, Institutio seu régula sanctimonialium, ediert von T. P. McLaughlin, MSt X V I I I (1956), S. 247. 854 Y g ] ( J a z u di e Studie von Klaus Lange, Geistliche Speise. Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik, Z f d A L X X V I I (1966), S. 8 1 - 1 2 2 . 355 Klaus Lange, Geistliche Speise, weist besonders S. 93 auf die Vielschichtigkeit in der Ausdeutung der Milch hin: »Ähnlich dem Wein kann so die Milch nach Petrus von Capua das Alte Testament, das Neue Testament und die >ewige Schönheit des Jenseits bedeuten [Petrus von Capua, Pitra II, S. 252^].« Schon Origenes hatte, in diesem Bedeutungsstrang verbleibend, die Milch der diristlichen Lehre über den Wein des Gesetzes gestellt (vgl. ebda. S. 95). Auch Bernhard von Clairvaux verglich die »suavitas gratiae« des Neuen Bundes mit dem harten Gesetz des Alten Bundes (PL C L X X X I V , 164A, In Cant. serm. 9, 6). Zur Kontroverse Milch/feste Speise im Anschluß an 1 Kor. III, 2 vgl. vor allem Joseph Ziegler, Dulcedo Dei. Ein Beitrag zur Theologie der griechischen und 230

Eine eindrückliche Kostprobe bietet ein emphatischer, gebetsartiger Ausruf des Petrus von Celle: Utinam mihi peccatori indulgeatur lac ueniae, uobis iam expiatis lac gratis, tandem expiatis lac gloriie! O d a r u m lac! O suaue! O iucundum! Ciarum, quia per veniam transferimur de regione tenebrarum ad lucem gaudiorum. Suaue, quia per suauitatem g r a t i s ab amaritudine tentationum ad dulcedinem deducimur immarcescibilium delectationum [ . . .] 3 5 6 . K a n n im Bilde der Milch-Metapher auch vieles gesagt werden, so treffen doch auf das Leben Gilles' in der Einsiedelei einige Sinnkomplexe besonders gut zu: der Heilige befindet sich in seiner Wüstenei doch endlich in dem verheißenen Land, das von Milch und H o n i g fließt ( E x . I I I , 8), womit das Ende und die Vollendung des gläubigen Lebens bezeichnet ist 3 5 7 ; er genießt die süße und köstliche N a h r u n g der Vollkommenen: Es läßt sich nun nichts Nahrhafteres, nichts Süßeres, nichts Weißeres finden als die Milch. Diese ist süß wegen der Gnade, nahrhaft als Leben und weiß als der T a g Christi 358 . § 1 7 6 . D e r Heilige lebt eine vita angelica 3 5 9 , denn w i e G o t t im Alten Bund das M a n n a zubereitete und als himmlische Speise von oben niederfließen ließ, so läßt er jetzt den Logos niederträufeln 3 6 0 in der »dulcedo E v a n g e l i i « 3 6 1 , welche eine »interna dulcedinis l a c « 3 6 2 darstellt. M i t der Vorherrschaft der dulcedo verliert die Milch-Metapher im 1 2 . Jahrhundert mehr und mehr

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lateinischen Bibel, Münster i. W. 1937 ( = A A , X I I I . Band, 2. Heft), S. 70; auch T. v a n Bavel, L'humanité du Christ comme lac parvulorum et comme via dans la spiritualité de saint Augustin, Augustiniana V I I (1957), S. 2 4 5 - 8 1 . Zur möglichen Ausbeute der Milch-Metapher bei einem einzigen Autor vgl. Aponii in Canticum Canticorum libri duodecim, S. 1 1 , 1 7 , J I , 108, I I J , 1 1 6 , 1 3 1 , 1 5 7 und 23$. Dom Jean Leclercq, La spiritualité de Pierre de Celle (111 ;-II8J), S. 1 3 6 Anm. 5 (Zitat nach P L X L I , 457). Mit dieser Bibelstelle versucht Klemens von Alexandrien zu beweisen, daß die Süße nicht nur eine Sache der A n f ä n g e r im Glaubensleben sei; vgl. Joseph Ziegler, Dulcedo Dei, S. 70. Zitat und Übersetzung eines Textstückes von Klemens von Alexandrien bei Joseph Ziegler, Dulcedo Dei, S. 70. Dom Garcia M. Colombas, Paradis et Vie angélique, passim, verweist auf die durch reduzierte Nahrungsaufnahme praktizierte vita angelica. Nach Klemens von Alexandrien, zitiert von Joseph Ziegler, Dulcedo Dei, S. 70. H a i m o von Auxerre, Hohelied-Kommentar, P L C X V I I , 2 9 5 L ; ähnlich bei Lukas von Mont-Morillon, P L C C I I I , 504-505A. Audi Klemens von Alexandrien versteht unter Milch »die Katechese in Christus«, die wahre »Gnosis«; vgl. Joseph Ziegler, Dulcedo Dei, S. 70. Bernhard von Clairvaux, P L C L X X X I V , 1 6 4 A , im Hohelied-Kommentar; vgl. dazu Klaus Lange, Geistliche Speise, S. 95: »Audi bei ihm [Bernhard von Clairv a u x ] ist die Milch die Gnade des Neuen Testamentes, doch wird Wert auf ihre innere Süße gelegt [. . . ] . « 231

ihren lehrhaften, dogmatischen Zusammenhang, um einen inneren affektiven Zustand auszudrücken 363 : das freudige Verweilen in der Beschauung und im Gebet. Wenn Guillaume de Berneville auf eine explizite Deutung der Milch der Hinde verzichtet, so wird doch deutlich, daß die täglich bereitgehaltene Milch nicht irgendeine Speise ist - wie Kräuter und Kresse sondern ein eigens ihm zugedachtes Geschenk vom Himmel. § 177. Die Erscheinung und nachträgliche ständige Anwesenheit der Hinde wird von Guillaume de Berneville nicht umsonst mit Sorgfalt zu einer in sich geschlossenen, stark stimmungshaften und vom übrigen epischen Verlauf abgehobenen Szene ausgebaut 364 . Die zwar nicht pompöse, aber still bewegte Festlichkeit dieses Erzählabschnittes macht ihn zu einem Höhepunkt der altfranzösischen Vita. Alle die in der Gestalt der Hinde mobilen, sozusagen in Bereitschaft gehaltenen Sinnmöglichkeiten machen den jetzigen Wohnort des Heiligen zu einem quasi-sakralen, ausgesparten Bezirk, in dem das Mirakel alltäglich ist. In dieser unzugänglichen Waldeseinsamkeit, w o die geheimnisvolle, milchspendende Hinde durch ihre Anwesenheit dauernd wunderbare Bezüge wach hält, erfüllen sich auch die asketischen Aspirationen des Heiligen: er kann ohne Störung und Ablenkung durch Menschen, dazu aller Sorgen enthoben, im Gebet verweilen, an das der Legendenautor erinnert. Der gelichtete Wohnort wird beinahe unirdisch. Der Legendendichter weiß nun aber mit demselben Motiv, das die Befriedung sichtbar werden ließ, mit der Gestalt der Hinde, die unerwartete Wende in der Erzählung herbeizuführen. § 1 7 8 . Gewiß geht der Sinn der wunderbaren Tiergestalt über das rein Handlungsmäßige hinaus. Guillaume de Berneville gibt ihr jetzt aber eine narrative Funktion, welche die andere, stofflich-materielle Seite der merkwürdigen Tiererscheinung und ihren formalen Aspekt sichtbar werden läßt. Die Hinde wird nun ein Vehikel der Erzählung, indem durch sie der in sich geschlossene Bezirk durchbrochen und auf die vorübergehend völlig ausgesparte und nicht mehr existente Umwelt geöffnet werden kann. Sie wird ein Verbindungsglied zum verlassenen saeculum. Vorderhand setzt Guillaume de Berneville zu einem reichlich ausgebauten Erzählabschnitt an; er beginnt darin mit dem A u f b a u einer dem eremitischen Idyll fremden und äußerlichen Welt, mit der Geschichte von König Flovenz 863

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Jean Châtillon, Dulcedo Dei, in: Dictionnaire de Spiritualité, Tome III, 2, Paris 1957, Sp. 1789, nennt die Milch jetzt »l'image des douces émotions que l'âme peut éprouver dans le service de Dieu, dans la prière ou dans la contemplation.« Darauf, daß die Hinde im Unterschied zur lateinischen Version in der Vie de saint Gile einen Mittelpunkt bilde, verweist bereits Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 1 6 2 - 6 3 . 232

(vv. i 541-2308) 3 6 5 . Sie wird durch die an die Evangelienberichte gemahnende Formel (In illo tempore) »En icel tens« (v. 1 5 4 1 ) eingeleitet. Das Reich des Königs wird mit großer Gebärde räumlich umschrieben und dem größeren Reich Karls des Großen eingegliedert (vv. 1 5 4 1 - 1 5 4 7 ) . In episdier Breite und mit viel Gefallen beschreibt Guillaume de Berneville die Hofhaltung des reichen Flovenz, besonders die in Gang befindliche Zurüstung und Vorbereitung zur Jagd. Die große winterliche Jagd ist das Vorspiel zu einem königlichen Fest, das auf Weihnachten angesetzt ist (vv. 1548-1582). Der Beschreibungswille bleibt so stark, daß die Erzählung beinahe stagniert, jedenfalls in der Statik der Schilderung verharrt. § 179. Da endlich, wie nach eben gefaßtem Entschluß, setzt mit einer zwar allgemeinen, aber trotzdem einschneidenden Zeitbestimmung ein Erzählabschnitt ein, der mit seinem markierten Beginn die Geschichte vorwärts zu treiben fähig ist. Es ist vom Jägermeister die Rede: Un jur se leve mut matin (v. 1583). Mit verstärkter Meute, mit zwei erlesenen Meuten, geht er geradeswegs auf den Wald zu. Nach langer Sucharbeit erst und tiefem Vordringen entdeckt er eine Hinde nach seinem Wunsch, er löst die Koppel und entläßt die Hunde auf die Fährte: Tute la moete ad descoplee, E leist aler apres la bisse. Or en penst Deus ki la garisse! (vv. 1594-1596)

Welche Hinde hier aufgestöbert wurde, wird trotz der veränderten Optik leicht erfaßt. Die Kollision des wunderbaren Tiers mit der jagdlustigen Gesellschaft wirkt heftig und erschreckend, denn schon lauert Gefahr. § 180. Durch dieses Jagdunternehmen bietet sich Gelegenheit, den weiteren Wohnraum des Einsiedlers Gilles, ohne dessen Wissen und auch für den Zu385

Ober König Flovent berichten Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I I I - X L I V : »Le roi dont il s'agit ici est dans le latin »Flavius, qui tune temporis Gothorum monardiiam tenebat« [ . . . ] . Trouvant d'ailleurs le roi Charles mentionné plus loin, il [Guillaume] concilie tout en faisant du premier de ces deux rois le vassal du second. Il appelle ce premier roi Flovent et non Flavius; la ressemblance des deux noms lui a suggéré l'adoption du second, mais il ne l'a pas inventé: Flovent est le nom du héros d'une chanson de geste aujourd'hui perdue, mais conservée dans des versions ou imitations italienne et Scandinave; il est, dans cette chanson, le premier roi de France, neveu de Constantin de Rome et père de Floovent. Flovent n'est qu'une imitation du poème consacré à Floovent, et Floovent n'est autre que Dagobert, au nom duquel s'est substituée l'épithète de Flodovinc (descendant de Clovis, Chlodoveus ou Floevié), qui était accolé à ce nom dans un vieux poème allemand perdu. Il est intéressant de constater, par l'introduction du nom de Flovent dans le récit de Guillaume, que ce poème de Flovent était connu en Angleterre avant la fin du X I I e siècle; peut-être cependant le Flovent de Guillaume n'est-il qu'une forme contractée de Floovent [ . . . ] . « 233

hörer oder Leser erst ahnungsweise, gleichsam von außen kennenzulernen. Noch w i r d nicht ausgesprochen, um welchen W a l d und um welche H i n d e es sich handelt, und doch ist aus einer erzählerischen N o t w e n d i g k e i t heraus zu spüren, daß hier nur der W a l d des Einsiedlers und dessen H i n d e in F r a g e stehen können. D e r kurz vorher v o n innen geschilderte Bezirk erscheint in vollkommen neuer Perspektive, aus dem Blickwinkel des H o f e s und seiner J ä g e r . Auch der Jägermeister nämlich dringt täglich, wenn auch v o n anderer Seite, in das desertum ein: Chascun jor veit enz el desert, Des bisses k'il trovet el bois Prent les plus beles a sun chois. (vv. 1 5 8 0 - 1 5 8 2 )

Für ihn ist die Ausbeute wichtig, der ungezähmte W a l d ist f ü r ihn der reiche Jagdgrund.

§ 1 8 1 . N u r an diesem einen vorhin besonders bezeichneten T a g scheint der W a l d nichts zu bieten, was immer tiefer ins Dickicht verlockt, bis eben die wunderbare H i n d e aufgestöbert w i r d . D e n genauen H e r g a n g an diesem ersten J a g d t a g erfahren w i r einer Textlücke wegen nicht mehr in seinen Einzelheiten. Erst nachdem der Jägermeister das schöne T i e r entdeckte und die H u n d e auf es losließ, sind w i r wieder dabei. In wilder H e t z j a g d w i r d die H i n d e durch den W a l d getrieben 3 6 6 , bis sie verängstigt und erschöpft in die kleine Schlucht zum Einsiedler findet: La bisse est en la fosse entrée Tute anguisuse e tressuée; Gires la veit, mut fu dolent, Des oilz plure mut tendrement, Deprie Deu pur sa nurice K'il la defende de malice; D'éwe freide l'ad arusée, Tant ke s'aleine ad recovrée; En sa loge la fait entrer, Si la comande a reposer. (vv. 1 6 0 9 - 1 6 1 8 ) 306

Marianne Stauffer, Der Wald, S. 44, bringt Belege bei, aus denen sie abzuleiten versucht, daß >bois< und >forest< den Märchenwald bezeichnen, während >gualt< in der Vie de Saint Gile (v. 1605 verwendet) den realen oder den stilisierten Wald der epischen Dichtung meine. Guillaume de Berneville führt jedoch diese terminologische Unterscheidung nicht durch, die übrigens auch für Chrestien de Troyes nicht zutrifft (vgl. dazu Werner Kaufmann, Die gallo-romanischen Be-

zeichnungen für den Begriff >Waldforet< und >bois< des Atlas linguistique de la France, (Diss.) Zürich 1913, S. 7 5 - 7 9 ; auch >foret< wird in der Vie de Saint Gile nicht für den königlichen Bannwald reserviert). An dieser Stelle der Vie de saint Gile ergäbe sich aus der Stauffer'schen Unterscheidung, daß die Jagd aus dem Märchenwald in den realen oder stilisiert epischen überginge, was sinnlos erscheint und als Differenzierung auch nicht durchgehalten wird.

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Damit ist Unruhe und Unglück in die stille Einsiedelei eingebrochen. Der Aufregung des gehetzten Tieres entspricht das Leid des Einsiedlers, der seinen Kummer in Gebet und Fürsorge aufgehen läßt. Für heute ist die Hinde bei ihrem Einsiedler in Sicherheit, hier können ihr Jäger und Meute nichts mehr anhaben 367 . § 1 8 2 . Diese erste J a g d auf die wundersame Hinde führt die Jagdgesellschaft nicht nur ungewöhnlich weit ab. Das ganze Jagdgeschehen gereicht ans Wunderliche dadurch, daß die besten Hunde der Meute schlußendlich die Fährte verlieren, verzweifelt und nutzlos z w a r jeden Strauch und Fleck absuchen, dann aber ratlos zu bellen und zu heulen beginnen ( v v . 1 6 2 1 - 1 6 4 2 ) 8 6 8 . Die J a g d muß wegen der noch unerkannten Macht des Heiligen, die störend dazwischen tritt, erfolglos abgebrochen werden. Der Jägermeister erträgt nach seiner Rückkehr an den H o f den gezielten Scherz des Königs demütig (vv. 1 6 4 3 - 1 6 6 9 ) . 367

Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. L X I - L X I I , bemerken zu diesem Detail des Jagdmotivs: »Au besoin il [Guillaume de Berneville] aurait pu l'imaginer, mais il la trouvait toute prête. Grégoire de Tours raconte que le noble Arverne Brancion, du temps de Clovis, poursuivait un jour un sanglier à la chasse: l'animal, pressé par les chiens, se réfugia auprès de saint Emilien, qui vivait solitaire et inconnu au fond de la forêt; Emilien eut pitié de la bête hors d'haleine, et, à sa prière, les diiens s'arrêtèrent à quelque distance, aboyant avec fureur, mais sans pouvoir avancer. [ . . . ] Childebert eut presque avec saint Calais la même aventure que Wamba avec saint Gilles: le saint homme s'était retiré dans la forêt du Mans, et, au fond d'un taillis inaccessible, se plaisait dans la société de bêtes sauvages, devenues douces pour lui. Un buffle surtout [. . .] était son familier. Les chasseurs de Childebert le poursuivirent un jour, et, le buffle se réfugia aux pieds du saint, où les chasseurs n'osèrent le frapper; le roi, qui survint ne prit pas d'abord la chose du bon côté [ . . . ] . Ces deux saints vivaient avant saint Gilles, et leur histoire a été écrite avant la sienne: c'est dans ces histoires, et surtout dans celle de saint Calais, que notre auteur aura puisé son récit.« Vgl. ebda. S. L X I I Anm. 1 und 3, wo auf weitere merovingische Heilige hingewiesen wird, die verfolgte Tiere in Schutz nahmen. Vgl. auch Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 223-27, besonders S. 225, zur Inschutznahme des verfolgten Wildes durch Heilige; dazu ebenfalls Joseph Bernhart, Heilige und Tiere, S. 70-72, 78-79, 102-3 u r , d 107. René Aigrain, L'Hagiographie, S. 233, bemerkt präzisierend: »Les saints prennent volontiers sous leur protection les animaux poursuivis par les chasseurs [ . . . ] . [ . . .] Les cerfs jouissent, dans les récits de cet ordre, d'une prédilection marquée. Non seulement ils conduisent à plusieures reprises les chasseurs vers les saints ermites qui devront à cette circonstance la protection de quelque puissant personnage (le trait se promène de la légende de saint Gilles à l'histoire quelque peu altéré de saint Bruno, en passant par le conte de Geneviève de Brabant)

368

Zur Kraft des Heiligen, etwas unbeweglich zu machen, vgl. Peter Toldo, Lehen und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VIII. Unheweglichkeit, S v L I V (1904), S. 83-84; speziell zum Motiv der zum Stillstand gebrachten Jagdhunde ders., Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. XVII: Tiere, S v L V I I I (1908), S. 24. 3 ° . 32. 34. 3 5 . 3 7 u n d 4523J

§ 183. Von nun an steht die Jagd auf die aufgestöberte wunderbare Hinde offiziell im Zeichen des Außerordentlichen. Erstes Anzeichen davon war die Verwunderung des Jägermeisters über seine sich im Walde verlierenden Hunde: Il s'esmerveille ke il unt (v. 1633). Jetzt staunt auch der König über den Ausgang der Jagd: Li reis s'est mut esmerveillé (v. 1670). Er fragt nach dem aufgespürten Tier und bekommt die begeistert übertreibende Antwort, daß die Meute auf die schönste Hindin, die er, der Jägermeister, zeit seines Lebens gesehen habe, losgelassen worden sei (vv. 1673ÎT.). Mit dem festen Vorsatz und dem Plan, anderntags die Jagd nochmals aufzunehmen, fällt der Jägermeister schnell in Schlaf (vv. 1684-1690). § 184. Mit dem Jägermeister, dem König und seinem Hof zusammen ist der Leser der Vie de saint Gile erstaunt, das geheimnisvolle Tier des Einsiedlers auf einmal in derartige Jagdgeschäfte verwickelt zu sehen369. Die wunderbare Hindin, welche als Ernährerin des Einsiedlers und als sinnbildliche Figur zugleich eingeführt wurde, gerät nun unversehens in ein merkwürdiges Zwielicht, indem sie eine Doppelstellung einnimmt. Sie erscheint von zwei entgegengesetzten Bereichen aus betrachtet wunderbar und scheint audi beiden zuzugehören. Vom Hofe her gesehen ist sie ein ins Abenteuer lockendes Jagdwild, von der Waldlichtung des Einsiedlers aus betrachtet bleibt sie die vom Himmel geschickte wunderbare Ernährerin; für die königlichen Jäger und schließlich für die ganze Welt des Hofes, König und Bischof miteingeschlossen, ist sie ein in unbetretenes Gebiet führendes anziehendes Jagdobjekt, für den Einsiedler Gilles eine sich in gefährliches Gebiet vorwagende Wohngefährtin. Von beiden Seiten aus gesehen überschreitet das wunderbare Tier eine Grenze und beiderseits schafft es Spannungen. § 185. Der zweite Jagdtag (vv. 1 6 9 1 - 1 7 5 1 ) bringt den Jägern die Hinde wiederum vor Augen: Sempres virent la bisse pestre (v. 1703); auch die weiDie Verquickung des Motivs der feudal-höfischen Jagd mit der Beschreibung der zum einsamen eremitischen Leben geeigneten Landschaft führt auf die Naturbeschreibung des Basilius zurück, welche auffallenderweise auch die Jagd bis an den Ort der Einsiedelei vordringen läßt. Die Differenz zur Vie de saint Gile soll allerdings nicht übersehen werden; im Text des Basilius zeigt sich eine gelassene schriftstellerische Selbstgenügsamkeit, die wir bei Guillaume vergebens suchten. Der Brief des Basilius bestätigt jedoch die Vereinbarkeit in einer Landschaftsschilderung von Jagdgeschehen und eremitischer Ruhe: » [ . . . ] Mais le plus bel éloge que nous puissions faire de cet endroit, c'est que, naturellement capable de produire tous les fruits grâce à sa situation favorable, il nourrit le plus agréable pour moi de tous les fruits, la tranquillité, non seulement parce qu'il est éloigné du tumulte des villes, mais encore parce qu'il ne laisse pas même passer un voyageur, à l'exception de ceux qui se mêlent à nous pendant leurs chasses. En effet, outre ses autres ressources, le pays nourrit encore des animaux sauvages, non pas vos ours ni vos loups (à Dieu ne plaise!), mais des troupeaux de cerfs et de chèvres sauvages, des lièvres y trouvent leur pâture, ainsi que les autres bêtes qui leur ressemblent.« Auch dem heiligen Romanus kommen in der Waldeseinsamkeit nur wilde Tiere und hie und da Jäger zu Gesicht; vgl. Vie des

Pères du Jura, S. 252,1, 12. 236

teren Umstände sind günstig: Li soleilz luist, le jur fu bel E volentif Ii damoisel (vv. 1 7 1 7 - 1 7 1 8 ) . Und doch kann die prächtige Hinde abermals nicht erjagt werden. Alle Hunde sind aufs Mal von der Koppel gelassen, und trotzdem entkommt die Hirschkuh: La bisse ki la criée ot N e s'en alout mie le trot: Très ke ele out oi l'esfrei E vit venir les chens vers sei, Estent le col, cline l'oreille E fud ignele a grant merveille: Par la forest ad feit treis turs; Puis est venue a sun suceurs, A sun meistre ki l'atendit; Il fud mut lé quant il la vit: Ben sout ke ele esteit diascée; Il l'ad diosée e diastiée, Dit ke veit trop luinz el desert: Mal est bailli si la pert. (vv. 1 7 2 1 - 1 7 3 4 )

Guillaume de Berneville beschreibt hier die Hinde mit scharfer Beobachtungsgabe in ihrem natürlichen Verhalten; wir sehen ihr ihrer Art gemäßes reflexes Gehaben im Augenblick hoher Gefahr. Das Wunderbare an Gilles' Hausgenosse ist im Einsiedler-Bezirk geschwunden; Gilles beunruhigt die Ahnung und die Angst, sein Tier zu verlieren 870 . Dagegen bleibt die Hinde wunderbar in bezug auf die Jäger und ihre Meute, denn beinahe hatten die Hunde ihre Beute erreicht, da bleiben sie jedoch wiederum wie gebannt am Rande der von Gilles bewohnten Schlucht stehen. Von Gilles geht offenbar immer noch eine abwehrende Bewegung aus, die ihm ermöglicht, die Verfolger seiner Ernährerin mit bloßem Willen anzuhalten. § 1 8 6 . So erreichten die Jäger auch am zweiten Jagdtag ihr Ziel nur fast, aber nicht ganz. Wie dieser Jagdbericht dem König zu Ohren kommt, ruft er nicht bloß Erstaunen, sondern geradezu eine Art Grausen hervor: Li reis se comence a seigner (v. 1753). Offenbar fürchtet er die Einwirkung einer bösen Macht oder glaubt an das Spiel einer Zauberkraft 371 . Deshalb schickt er unverzüglich zum Bischof (vv. 1754-1819) 3 7 2 , der auf seinem Zelter straks 370

371

372

August Nitschke, Verhalten und Bewegung der Tiere nach frühen christlichen Lehren, S G X X (1967), S. 261, macht die Feststellung, daß im 12. Jahrhundert neuerdings auch die natürlichen Eigentümlichkeiten hervorgehoben werden; als Beispiel wird die Lebensbeschreibung des Einsiedlers Godridi beigezogen. In Le Montage Guillaume (Seconde rédaction, S. 324, X C I V , 5742) ist Bernhard vor der Pariser Stadtmauer beim Anblick des großgewachsenen Wilhelm erstaunt, und als dieser die enge Unterkunft durch ein Wunder vergrößert, zweifelt er auch, ob er es mit einer heiligen Wundermacht oder mit Zauber zu tun hat, wenn er fragt: Estes vous sains, ou vous estes faés? Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I V , bemerken zu den in diesem Abschnitt vorkommenden geographischen Angaben: »Le roi, quand il apprend de son veneur la merveilleuse disparition de la biche deux fois pour-

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an den Königshof reitet, um sich mit dem ratlosen K ö n i g zu besprechen. Dieser hatte aus den Ereignissen der zwei vergangenen J a g d t a g e den festen Schluß gezogen, es sei wirklich Z a u b e r am W e r k ; darum spricht er zum Bischof: Men escient quant vus l'orrez, A grant merveille le tendrez. Mi veneur li plus preise Unt en cel bois dous jurz diascé, E unt une bisse trovée, N e sai si c'est diose faée. (vv. 1 7 7 5 - 1 7 8 0 )

D e m abermaligen spurlosen Verschwinden der gehetzten H i n d e soll man nun auf die S p u r kommen, weshalb man zu einem dritten J a g d t a g rüstet, bei dem Bischof und K ö n i g dabei sein wollen. § 1 8 7 . Eigenartig w i r k t die dringliche Einladung des Königs an den Bischof; sie nimmt teilweise v o r w e g , w a s erst der weitere V e r l a u f der Geschichte bestätigen w i r d : »Bei sire eveske«, fet li rei, »Kar vus venez dedoire od mei: Jo ai oi sovent cunter K'en bois soleient converser Li seint hume religius; Se Deus aveit ovré pur nus Ke ci fust alkun herbergé, Mut purrium estre heité.« (vv. 1 8 0 7 - 1 8 1 4 )

Die Ahnung des Königs ist nun auf einmal nicht mehr durch irgendeinen Z a u b e r bestimmt und nicht mehr auf eine märchenhaft-wunderbare Welt ausgerichtet. Die prächtige H i n d e erscheint ihm plötzlich als ein Signal des Numinosen; sein anfänglich abergläubischer Schreck wandelt sich in einen andersartigen religiösen Schauer. E r vermutet in der H i n d e einen Boten, der die Anwesenheit eines heiligen, gottgeweihten Mannes in seinem Walde kündet. Dies betrachtete er als einen persönlichen Gunsterweis, als ein an ihn adressiertes Geschenk, das es nur noch sicherzustellen gilt. § 1 8 8 . D e m K ö n i g erscheint die H i n d i n nicht mehr als innerweltliches Z a u berwesen. Sie ist jetzt verbindendes G l i e d zwischen seinem weltlichen Bereich, zu dem auch der J a g d w a l d gehört, und dem Bereich des Heiligen, des Überweltlichen, das sidi in dem »seint hume religius« verkörpert und den es nun aufzufinden gilt 3 7 3 . suivie, appelle auprès de lui l'évêque »Nemausensis urbis, ubi tune forte erat«. Il est arrivé ici à notre bon chanoine, avec Nemausensis, le même accident qu'avec Arelatensem; il ne savait pas que Nemausus est le nom latin de Nîmes, et il a bravement envoyé chercher l'évêque dedenz la cité de Nesmaus (v. 1755) 373

Zur häufigen Verbindung des Jagdmotivs mit der Entdeckung eines Einsiedlers im Wald vgl. E.-C. Jones, Saint Gilles, S. 48-49, wo auf die beiden gekoppelten 238

Die Schilderung dieses dritten Jagdtages beginnt mit neuem Erzähleinsatz. Es wird auffällig retardierend berichtet, in überbetonter Ausführung aller Einzelheiten; die verschiedenen Vorkehrungen und die zahlreichen Bewegungen sind alle vermerkt. Der Auszug an diesem dritten T a g wirkt durch den außergewöhnlichen A u f w a n d befremdend; auch durch den bangen, erwartungsvollen Ernst, mit dem das ganze Unternehmen in die Wege geleitet wird. Man glaubt sich vor einer entscheidenden Schlacht, in der alles gewonnen oder alles verloren wird. Man ist bereit: Meis Ii reis ne moverad mie De ci k'il ait la messe oie: En une chapele petite A d Ii eveskes messe dite; Apres messe furent dignez, Muntent, e sunt en bois alez. (vv. 1829-1834) Der Aufbruch zur J a g d gleicht diesmal einer kultisch-rituellen Handlung; sein Charakter ist jedoch eher magisch und beschwörend, denn liturgisch. Der geschilderte Jagdvorgang (vv. 18 3 5 ff.) erscheint in seinen Ausmaßen übertrieben. E r ist dermaßen hypertrophiert mit der Angabe von Details, daß der Verlauf der Handlung beinahe zum Stehen kommt. Und doch ist die Gliederung scharf: die zahlreichen kleinen Bewegungen und die einzelnen ergriffenen Maßnahmen sind in einem säuberlichen Nacheinander gegeben, je einzeln mit Gewicht belegt und so deutlich voneinander abgegrenzt. Alles hat eine feste, isolierende Kontur, so daß sich keine unübersichtliche, undurchdringliche, vielmehr eine durchgestaltete Häufung ergibt. Themen hingewiesen wird: Ernährung eines Menschen in der Einöde durch ein wunderbares Tier, und die Entdeckung oder Auffindung einer verborgenen Person durch ein gejagtes Tier. Beispiele solcher Entdeckungen sind aufgezählt bei Carl Pschmadt, Die Sage von der verfolgten Hinde, S. 60-61. André Ravier, Saint Bruno, le premier des ermites de Chartreuse, Paris 1967, S. 135, macht wie René Aigrain, L'Hagiographie, S. 233, auf die Verwendung dieses Motivs in der Bruno-Legende aufmerksam: » [ . . . ] D'autres ont créé la légende - gracieuse et d'ailleurs commune dans le folklore érémitique - d'un Bruno en prière dans la forêt qu'aurait surpris, au cours d'une diasse, le comte Roger [ . . . ] . « Cari Pschmadt, Die Sage von der verfolgten Hinde, S. 60, bemerkt, in der Aegidiuslegende habe sich die Hinde als Ernährerin und als Führerin mittels der Jagd erwiesen, sie habe damit zwei Sagentypen verbunden. Zum Hirsch als Führer zu einem Einsiedler in der Chanson de geste vgl. C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos, S. 166, und Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale (des origines à 1230), S. 152 Anm. 39. Audi im Roman de Tristan de Nanteuil führt die Hindin den Bruder des Einsiedlers Gilles an dessen verborgenen Aufenthaltsort; vgl. Paul Meyer, Notice sur le Roman de Tristan de 'Nanteuil, S. 375. Im Tristanroman Gotfrids von Strassburg führt der merkwürdige »vremede hirz« König Marke und seine Jäger zur Minnegrotte, die ohne ihn kaum auffindbar gewesen wäre; vgl. dazu Rainer Gruenter, Der vremede hirz, Z f d A L X X X V I (1955/56), S.235. 239

Der Erzähler schafft durch diese Technik eine eigenartige Spannung durch Verzögerung; durch das Hinauszögern des Geschehens, auf das hin doch im Grunde die ganze Inszenierung tendiert. Nach dem Messehören steigt man auf, geht gegen den Wald und kommt endlich an die Stelle, wo ehemals die Spur der Hinde verloren ging. § 189. Wo man die Hinde zuletzt gesehen hatte, steigt der König vom Pferd. Er läßt nach dem Tiere suchen, das man in einer Lichtung weidend findet. Man zeigt es sich gegenseitig stumm mit dem Finger und kehrt zum König zurück. Man meldet den Fund (vv. 1 8 3 3 - 1 8 4 3 ) &c. Jede einzelne Geste und Handlung gewinnt die Feierlichkeit und Verbindlichkeit einer Zeremonie. Eine solche Umständlichkeit und ein solcher Aufwand bei einem Unternehmen läßt ein großes Ereignis erahnen 374 . Die darauf einsetzende Verfolgung der wunderbaren Hinde ist härter als zuvor: Gires entent cele freiur, Oi la noise ke cil funt Ki par le bois espandu sunt, Mut out grant pour de sa bisse E prie Deu k'il la garisse. Fors est de sa meisun issu Pur prendre garde u ele fu: En l'umbre d'un arbre s'estut, Ke nul hume ne l'aperçut; La bisse vint a lui fuiant, Kar ele n'out autre garant; Par l'entrée ki ert estreite S'est an la loge destoleite. (vv. 1 8 6 4 - 1 8 7 6 )

Diesmal wurde die Jagd systematisch vorbereitet und gut organisiert. Man treibt und hetzt nicht blindlings ins Ungewisse. So hat man im vermutlichen Lebensraum der Hinde Wachen gestellt. Jedenfalls hat ein Jäger seinen Stand dort, wo das Tier jeweils untertauchte. Dieser Jäger sieht jetzt auch die Hinde in ihren Unterschlupf verschwinden : Mut près d'iloc ert un archer E vit la bisse es reins entrer, (vv. 1 8 7 7 - 1 8 7 8 )

Damit ist das Jagdgeschehen auf seinem Höhepunkt. § 190. Ein sonderbares Geschick, ein unerklärliches Jagdversehen - der Schütze zielt offenbar nicht ruhig und genau, er ist wie verhext 375 - läßt nun 374

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Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I I I , machen darauf aufmerksam, daß das Motiv der Jagd von Guillaume de Berneville nodi beträchtlicher amplifiziert wird als dasjenige der Hirschkuh. Der Jagdbericht übertrifft deshalb auch umfangmäßig die Hinden-Erzählung. Obwohl die Situationen vor allem der inneren Ausrichtung nach verschieden sind, erinnert dieser Augenblick der Jagdszene an die Jagdszene im Lai de Guigemar

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den Heiligen selbst anstatt der Hinde zur Jagdbeute werden. Insgeheim war dies ja - wenn wohl auch sdionend - vom König intendiert. Mut près d'iloc ert un ardier E vit la bisse es reins entrer: Il fist un malvéis treit le jur, Unke a sun os ne fist peiur. Si cum la bisse dut entrer, Il descorde, si leist aler E fert Gire par mi le cors Ki de la fosse ert issu fors Pur garder u la bisse fu. (vv. 1 8 7 7 - 1 8 8 5 )

Fürsorge, Mitgefühl und Mitleid, die Gilles von Anfang an auszeichneten, werden ihm nun zum Verhängnis. Seine besten Eigenschaften geben ihn dem Schützen preis. Auf dem Höhepunkt der turbulenten Jagdszene gelangt die Geschichte der wunderbaren Hinde mit der seinigen zur genauen Deckung; so genau, daß Gilles in extremis sogar an die Stelle seiner Ernährerin tritt und das von den Jägern ihr zugedachte Schicksal erleidet. Überdeutlich erscheint in diesem Augenblick, daß die kostbare Hindin des Einsiedlers intimen Lebenskreis versinnbildlicht, den Gilles in dem wunderbaren Tier, gleichsam in einer Verlängerung seiner selbst, überschreitet. Zwar steht die Hinde im Dienst des Eremiten ; oberflächlich gesehen nimmt sie ihm gerade das Ausgehen aus dem innersten Bezirk ab. Doch geht der Heilige jeweils, wie aus der dreifachen Jagderzählung deutlich hervorgeht, zu Redit oder Unrecht mit ihr. Er selbst hat sich, vielleicht mit seinem inneren Trachten, zu weit vorgewagt. Faßlich wird so etwas im wörtlichen Texte Guillaume's jedoch kaum. § 1 9 1 . Gilles ist jetzt von einer fremden, von der von ihm geflohenen und verlassenen Welt getroffen: Grant fu le cop k'out receu: Mut se dout il de la grant plaie, Très k'a Portil le sane lui raie. Nostre seignur ad mercié : (Les Lais de Marie de France, Publiés par Jean Rychner, S. 7 - 9 , v v . 7 6 - 1 2 8 ) . Das Motiv des Fehlschusses auf der Jagd nach einer Hinde findet da ebenfalls Verwendung, wobei allerdings der Pfeil unversehens auf den Schützen selbst zurückprallt. Das wundersame Tier und der Schütze werden dabei verwundet. Von Guigemar heißt es im Anschluß daran: Guigemar fu forment blesciez; / De ceo k'il ot est esmaiez. / Començat sei a purpenser / En quel tere purrat aler / Pur sa plaie faire guarir, / Kar ne se voelt laissier mûrir (vv. 1 2 3 - 1 2 8 ) . Somit ist das Verhalten der Verwundeten grundsätzlich verschieden: Guigemar denkt sogleich nur an Heilung, während Gilles gleich jede Hilfe versdimähen wird. Dagegen gleichen sich die beiden Dichtungen durch die Bösartigkeit der Wunde, denn sie kann in beiden Fällen kaum geheilt werden. Die Verwundung entspricht auch in beiden Fällen einer inneren Wunde, von der sich Gilles jedoch nicht mehr trennen will.

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Arére veit tut de bon gré ; N e s'entremet de l'estancher, Einz leist le sanc del cors aler. Dune met Ii reis corn a sa buche, Par grant vertu le sune e tuche, Quatre moz corne pur sa gent, E il vénent ignelement. (vv. 1886-1896) Fast grotesk wirkt diese Überschiebung: Der König bläst auf seinem H o r n Triumph und feiert Jagdglück, Gilles jedoch ist das Opfer, das die schwere Verwundung willig erleidet. Die Kulmination des aufwendigen Jagdunternehmens lebt von einem tiefgründigen Mißverständnis. Einerseits die freudige Aufregung der Jagdleute und der Hunde beim Signal des Hornes, andererseits der getroffene, blutende Eremit in seiner Behausung. Diese ungleichen Szenen werden simultan dargestellt und intensivieren sich gegenseitig durch ihren Kontrast. § 1 9 2 . D e r König hörnt wegen der angeblich erlegten Hinde. E r hegt aber immer noch weitere, über sein vermeintliches Jagdglück hinausgehende Hoffnungen; er vermutet untergründig die bereits einmal erwähnte Anwesenheit eines heiligen Mannes in seinem Wald. Dies trübt sein Jagdglück nicht, macht es aber zu einem unerfüllten. Guillaume de Berneville erstellt zuerst ein auf Feierlichkeit hin typisiertes Bild, indem er die Jagdteilnehmer v o r dem König erscheinen läßt: Icil sunt desk'al rei venu Ki suz un arbre est descendu, (vv. 1903-1904) Dadurch daß der König unter einen Baum plaziert wird - er steigt dort vom Pferd - , evoziert der Erzähler eine gewichtige epische Szenerie 378 , die landschaftliche Abbreviatur eines locus ameenus 377 . Sie schafft den Raum, in dem sich eine neue Handlung anbahnen kann 3 7 8 . Unter dem Baum beginnt auch so etwas wie eine Amtshandlung, jedenfalls eine ernste Beratschlagung, denn der ungewöhnliche Schuß scheint keinen klaren Sieg erzielt zu haben. 376

Die örtliche Bestimmung »suz un arbre« ist der Vie de saint Gile und mancher Chanson de geste gemeinsam. Vgl. La Chanson de Roland. Oxford Version, Boston 1924, v. 1 1 , 1 1 4 , 165, und dazu Stephen G. Nichols Jr., Formulaic Diction and Thematic Composition in the Chanson de Roland, S. 47, Appendix I, V I I I , v v . 2 3 $ j f f . Der Baum markiert den Raum in La Chanson d'Aspremont. Chanson de geste du XIIe siècle. Texte du manuscrit de Wollaton Hall, Tome I, S. j , 6 v. 126, S. 18, 29, v. 552, S. 1 9 , 3 0 v. 560, S. 66, 1 1 8 v. 2038, S. 65, 1 1 7 v. 2021, S. 95, 161 v. 2942, S. 97, 163 v. 3005, S. 102, 170 v. 3173, S. 1 9 1 , 3 0 7 v. 5977, S. 196, 3 1 1 v. 6 1 2 5 ; Tome II, S. 60, 404 v. 7958, S. 65, 408 v. 8 1 1 2 ; in Gormont und Isembart, S. 2 i f . , X X I I I v. 6y j f f . 377 Vgl d a z u Josef Billen, Baum, Anger, Wald und Garten in der mittelhochdeutschen Heldenepik, S. 1 j f f . , besonders S. 23. 378

Dazu Josef Billen, Baum, Anger, Wald und Garten Heldenepik, S. 146. 242

in der

mittelhochdeutschen

§ 193- Der König ruft den Bischof zu sich, tritt mit ihm etwas abseits und spricht ihn an : »Sire«, feit il, »si cum jo qui Ceste bisse ke nus diasjum A d alkune guarantisun. J o ai une sente trovée P a r unt eie est ici entrée: A paine i pot nuls hom entrer; A l u m veer e esgarder Quel liu est 90 u eie veit.« ( v v . 1 9 0 8 - 1 9 1 5 )

Die gegenseitige Substitution von Einsiedler und Hinde zeitigt an dieser Stelle eine Art Desorientierung; der König ist stutzig. Z w a r kann er gerade jetzt eine genaue topographische Angabe erstmals machen, da er einen ganz schmalen Weg bemerkte, in den die Hinde einbog. Über das wahre Geschehen ist er im unklaren. Erst der Leser weiß, was sich am Wohnort des Einsiedlers und seines Tieres in Wirklichkeit zugetragen hat. Allein der König, obgleich er siegreich in sein Horn blies - vielleicht nicht siegreich, wie sich jetzt herausstellt, als vielmehr im Wunsche nach einer Aussprache - , schwebt weiterhin in seinen noch ungeklärten Ahnungen. Die Jagdgesellschaft ist zusammengerufen, der König aber bespricht sich im geheimen mit dem Bischof über seine Beobachtung des schmalen Einstiegs. In seiner Vorstellung ist aber die gejagte Hinde und das Interesse an ihrem Unterschlupf schon ganz hinter dem Interesse für den aufzufindenden heiligen Mann zurückgetreten. § 1 9 4 . So sind König und Bischof und mit ihnen notwendig die ganze Erzählung endlich auf den schmalen, fast unerkennbaren P f a d zur Klause des Einsiedlers eingespurt: Jus descendent en cel parfunt, L a u Gire e sa bisse sunt; O d grant travaill e od grant peine T r o v e n t la sente kis i meine; Virent le liu durement bei: T u t l'unt purpris Ii arbreisel K i planté furent en virun E portent fruit en lur saisun: Cooinz, permeins, pesdies e fies E alemandes e alies E autres fruiz assez plusurs, K i jettent les bones flairurs. L a dedenz unt Gire trové Pale e teint e descoluré. ( v v . 1 9 1 7 - 1 9 3 0 )

Im ersten Moment gleicht der Anblick, welcher sich den Eindringenden bietet, einer Eröffnung des Gartens Eden. Nicht minder überrascht und erstaunt über die Entdeckung der herrlichen Vegetation ist der Leser, denn ihm wird klar, daß inzwischen, d. h. seit der Ankunft des Heiligen in der Einöde, der zwar mit dem Minimum der Requisiten des locus amoenus versehene, aber dennoch

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eher unwirtliche, wilde Wohnort zu einem paradiesischen Garten geworden ist 379 . Mitten in der unbebauten Waldwildnis, unzugänglich für Fremde, blieb dieser Bezirk ein hortus conclusus: et ponet [Dominus] desertum ejus quasi delicias, et solitudinem ejus quasi hortum Domini (Is. LI, 3). § 1 9 5 . Gilles' Wohnort erscheint als ein locus voluptatis 380 . Als säkulares Pendant steht ihm der weltliche Lustort gegenüber, wie ihn beispielsweise der Roman von Floire und Blancheflor

beschreibt:

Il n'a sous ciel arbre tant chier, Benus, plantoine n'aller, Ente nule, ne boins figiers, Pesdiiers, ne periers, ne noiers, N'autre chier arbre qui fruit port, Dont il n'ait assez en cel ort. Poivre, canele et garingal, Encens, girofle et citoual, Et d'autres espisses assez i a, qui flairent mout soués. (vv. 1761-1770) 3 8 1 Dies ist der orientalische Baumgarten des Emirs von Babylon, der dem viridarium 382 , dem idealen Obstgarten unseres Einsiedlers nicht viel voraus hat. 379

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Wolfgang Sörrensen, Gärten und Pflanzen im Klosterplan, S. 260, stellt grundsätzlich fest: »Hinter dem Baumgarten, dem Anger, dem Lustgarten steht die Paradiesesvorstellung. Nadi der Beschreibung, die das 1. Buch Mosis (2,8fi.) von dem biblisdien Paradiese macht, lag es für den Deutschen [nicht nur für ihn!], der sich früher diese Räumlichkeiten unter dem Bilde einer Wiese vorgestellt hatte, seit den Karolingerzeiten nahe, das Paradies als Ideal eines Ziergartens zu fassen [. . .].« Rainer Gruenter, Der paradisus der Wiener Genesis, Euphorion X L I X (195$), S. 122Îf., weist den Zusammenhang von locus-amoenus-Beschreibung und Paradiesesbeschreibung nach. Typischerweise stellt die Brendansreise das Paradies in Form eines Baumgartens nach der Art des locus amoenus dar (The Anglo-Norman Voyage 0} St. Brendan by Benedeit, S. 89, v. i j j y f f . ) . Von daher erhält der Vergleich des Himmels mit einem duftenden Garten, wie ihn die Mort Aymeri anstellt, seine Richtigkeit (La Mort Aymeri de Narbonne, Publié par J . Couray du Parc, Paris 1884, v. io$6ff.). Im Zusammenhang mit diesem lustvollen, paradiesischen Garten bekommt sogar die Milch der Hindin rückblickend neue Aktualität, denn nach der Brendanslegende ist es die Milch, die durch ihr Fließen in Milchflüssen das Paradies als locus voluptatis mitkennzeichnet, vgl. The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 89, v. I737ff., besonders S. 90, v. 1755: Li flum i sunt qui curent lait. Zitiert als Beispiel einer idealen Gartenbeschreibung bei Edmond Faral, Recherches sur les sources latines des Contes et Romans courtois du Moyen Age, Paris 1 9 1 3 , S. 370; ebda. S. 372 wird Genesis II, 8ff. als Basis dieser Gartenbeschreibungen genannt. Josef Billen, Baum, Anger, Wald und Garten in der mittelhochdeutschen Heldenepik, S. 75ff., weist auf die gegenseitige Abhängigkeit von Lustortbeschreibung, Paradiesesbeschreibung und Baumgarten (viridarium, verger) hin. Die >guten< Bäume des viridarium werden dem unfruchtbaren und daher aus der Beschrei244

Guillaume de Berneville beschreibt unter dem Bild des paradiesischen, lustvollen Gartens den Bereich des beschaulichen Lebens. Es ist der Garten, den Gott selbst pflanzte, wie Figura dem neugeschaffenen A d a m erklärt: Jel plantai e asis Qui i maindra serra mis amis. (vv. 82-83) 3 8 3 Der Baumgarten am Wohnort des Einsiedlers charakterisiert diesen als Ort des Umganges mit Gott und der Gottesfreundschaft, als heile Welt, die nicht die Zeichen des Sündenfalles, Disteln und Dornen, trägt 3 8 4 . § 196. Die geistliche Lebensart des Einsiedlers wandelt die Wildnis, in der einst nur wilde Tiere hausten, gründlich 385 . A m besten beschreibt die V i t a Stephans von Muret diesen brüsken Umschlag: Ubi prius erant ferarum cubilia et qui prius erat locus horroris et vastae solitudinis, factus est locus amoenitatis et quietis 38 '. Die amcenitas konzentriert sich im Baumbestand, in dem die wüstenhafte Einöde zum Blühen gebracht wird. Guerricus von Igny zeigt in einem H i n weis auf den Eremiten Johannes den Täufer, was auch in der Vie de saint Gile vorgeht: Vos hominem miramini commorantem in deserto: sed per istum pinguescent speciosa deserti et florebit solitudo, cum ubique novi cultores eremi de Joannis succrescerent exemplo. Tunc erit desertum quasi delicise paradisi, et solitudo quasi hortus Domini 387 . Der Aufenthalt im Garten wird Inbegriff der eremitischen Kontemplation. So schreibt etwa Stephan von Muret an den Einsiedler Wilhelm: bung ausgeschlossenen Nadelbaum gegenübergestellt; vgl. dazu D . W. Robertson, The Doctrine 0} Charity in Mediaeval Literary Gardens: A Topical approach through Symbolism and Allegory, Speculum X X V I (1951), S.29. 383 Le Mystere d'Adam, S. 7. 384 Le Montage Guillaume, Seconde redaction, S. 2 9 1 - 9 3 ; v v . jooöff., führt der Eremit Guillaume symbolisch den Obergang von der Gott wohlgefälligen in eine Gott widrige Welt vor; im Beisein Anseis' geht er daran, seine angelegten Pflanzungen - darunter Apfel- und Birnbäume - umzuhauen, um wieder Dornen und Brennesseln &c. anzubauen. Der Bericht erhält Nachdruck durch eine spätere Wiederholung im Munde des Anseis, ebda. S. 297, L X X X V , v v . 5093ff. 385 Die lateinische Aegidiusvita selbst, Version P (vgl. oben Anm. 300), bezeichnet den Ort der Einsiedelei als einen solchen, der früher »solisque ferarum lustris frequentatum« war; vgl. auch den Wortlaut von A 2 . Diese Beschreibung ist topisch. Sie findet sich u.a. auch in der Vita des heiligen Richmir (8.Jahrhundert, Mabillon III, 1, S. 230, 6): Ipse enim tunc locus eremus erat, et numquam olim ibi habitatio fuerat, sed ferarum et bestiarum. Zum hagiographischen Topos >einst Wildnis, jetzt schöner Ort< vgl. auch die Angaben bei Gregorio Penco, II senso della natura nell'agiografia monastica occidentale, S. 333. 886 Mit Referenz zitiert bei Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 89 Anm. 26. 387 Guerricus von Igny, Sermo IV, P L C L X X X V , 173 C. 24 J

Post modicam lectionem déambula per cellulam tuam, aut in hortulum egrediens virentibus herbis, qu£e tarnen paucse et rarx, visum refice languentem [ . . . ] . Inter has varietates asperitatem eremi pro deliciis habiturus es paradisi 388 . Das Sitzen des Einsiedlers »in umbra arborum« faßt daher den höchsten Sinn des eremitischen Lebens anschaulich in einem bezeichnenden Bild zusammen 389 . § 1 9 7 . Der topische, der locus-amoenus-Beschreibung zugehörige Baumgarten ist jedoch kein rein rhetorisches Zubehör. Ihm entspricht der reale, von den meisten Einsiedlern gehegte und gepflegte Garten. Guillaume de Berneville erwähnt unauffällig, daß die Bäume gepflanzt w a ren (v. 1 9 2 3 ) , demnach nicht wild wuchsen. Uber den Gärtner verliert der Legendenautor kein Wort, aber auch ungenannt kann es sich nur um Gilles selbst handeln, der sich freilich in der Anbautätigkeit nicht verliert. Jedenfalls ist von der Skepsis Herrads von Landsberg, die ihren Eremiten seiner Pflanzenliebe wegen von der Tugendleiter fallen läßt, nichts zu spüren. Ihn trifft also auch ihre erklärende Inschrift nicht: Hic heremita falsorum heremitarum personam gerit, qui hortum suum excolens et superfluis cogitationibus plantationis suœ intendens, ab oratione retrahitur et divins contemplationis dulcedine sequestratur 390 . Doch reiht sich Gilles durch die diskrete Bemerkung seines dichtenden Biographen in die große Schar jener Einsiedler, die pflanzend zur Schönheit ihres 388

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P L C C X I , 448. Vgl. auch Dom Jean Leclercq, La spiritualité de Pierre de Celle (uij-1183), S. 88 Anm. 2, wo Stellen vermerkt sind, an denen Petrus von Celle die vita contemplativa des Mönches mit dem »locus amcenus«, der »amcenissima prata« und dem »campo amcenissimie lectionis« in Einklang sieht. Etienne Gilson, Sub umbris arborum, MSt X I V (1952), S. 1 4 9 - 5 1 , macht auf eine Stelle im Briefwechsel zwischen Aelred von Rieval und Bernhard von Clairvaux aufmerksam, in welcher der Abt von Clairvaux den Aufenthalt in der abgelegenen Landschaft nicht nur der Abgelegenheit wegen lobt, sondern die landschaftliche Schönheit ins geistliche Leben einbezieht. Herrad von Landsberg, Hortus deliciarum, Herausgegeben von Joseph Walter, Straßburg 1952, Tafel X X X V I I I : Tugendleiter; S. 95 Text. Hier zitiert nach Werner Welzig, Beispielhafte Figuren, S. 153 Anm. 29. Vgl. zur Tugendleiter auch Dom Louis Gougaud, Ermites et reclus, S. 1 5 - 1 6 ; auch Rainer Gruenter, Der paradisus der Wiener Genesis, S. 127, bemerkt hierzu: »Pflanzenkunde, vor allem der Anbau von Heilkräutern und Gartenpflege zählten zu den Vorschriften der Benediktinischen Ordensvorsdirift, und andere Orden übernahmen die verbindliche Land- und Gartenkultur gern in die klösterliche Lebensregel [ . . . ] . Diese klösterliche Baum- und Blumenfreude, die die >sündhafte< Gartenliebe des Eremiten im Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg hübsch veranschaulicht, dürfen wir nicht überhören, wenn auch wiederum diese >sündhafte< Gartenfreude unter einem bestimmten Motivzwang zu stehen scheint, denn schon im salischen Memento mori war der >schöne Baum< das >cluniazensische< Symbol für den verführerischen Anlaß der >Welt< das >Heil< zu vergessen.« Den guten Eremiten hingegen schützt nach den Wüstenvätererzählungen Gott selbst den Garten vor Tierfraß und Dieben. 246

Wohnortes beitragen, den locus amoenus selbst mit herrichten 391 . Ihre Existenz im Schatten dieser Bäume - »in umbra arborum« 392 - macht dann die paradiesische Einfachheit ihrer ganzen Lebensweise sichtbar. Ein solches Bild gibt beispielsweise Gregor von Tours von A b t Martius, der beschaulich im nützlich-fruchtbaren Garten seiner Mönche sitzt: Erat autem monachis hortus diuersorum olerum copia ingenti refertus, arborumque fructuum & amoenus vsibus, Sc fertilitate iocundus: sub quarum arborum vmbraculo susurrantibus aurae sibilo folijs, beatus senex plerumque sedebat 393 .

Guillaume de Berneville überläßt es zwar seinem Heiligen, den Baumgarten anzubauen, er erwähnt, daß die verschiedenen Baumsorten 394 zu ihrer Zeit

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So züchtet der Einsiedler Petrus, der Lehrer Bernhards von Thiron, Obstbäume in seinem Garten. Nach der Vita S. Hilarionis eremita des Hieronymus, P L X X I I I , 46, 31, verbindet sich in der Einsiedelei des Wüstenvaters Antonius auch selbstgewachsener locus amcenus mit angepflanztem Garten: Saxeus et sublimis mons per mille circiter passus, ad radices suas aquas exprimit, quarum alias arena: ebibunt, alise ad inferiora delaps«, paulatim rivum efficiunt; super quem ex utraque ripa palma: innumerabiles multum loco et amoenitatis et commodi tribuunt [ . . . ] . H a s vites, has arbusculas ipse plantavit [ . . . ] . Auch Aetheria berichtet in ihrem Reisetagebudi von Einsiedlern am Berge Sinai, die einen Baumgarten anpflanzen: N a m cum ipse mons sanctus Syna totus petrinus sit, ita ut nec fruticem habeat, tarnen deorsum prope radicem montium ipsorum, id est seu circa illius, qui medianus est, seu circa illorum, qui per giro sunt, modica terrola est; statim sancti monachi pro diligentia sua arbusculas ponunt et pomariola instituunt uel arationes et iuxta sibi monasteria, quasi ex ipsius montis terra aliquos fructus capiant, quos tarnen manibus suis elaborasse uideantur (Etherie, Journal de voyage, S. 106, 3); vom Wohnort des Einsiedlers, der den sogenannten Garten des Heiligen Johannes betreut, berichtet Aetheria: [. . .] Statim ergo coepimus ire cum eo pedibus totum per uallem amoenissimam, donec perueniremus usque ad hortum pomarium ualde amoenum, ubi ostendit nobis in medio fontem aquas optima: satis et puras, qui a semel integrum fluuium dimittebat [. . .] (ebda. S. 152, 15). Zum Garten des Einsiedlers vgl. D o m Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 221-22. D o m Jean Leclercq, >UmbratilisDe diversis ordinibus Ecclesi£e< [PL C C X I I I , 810 C - D , Caput 2] montre que les ermites se caractérisent par la recherche d'une vie simple et naturelle, dont le symbole est leur existence >in umbra arborumc ils se nourissent des produits de la terre tels que Dieu les leur donne, et ils n'ont pas besoin de grandes habitations.« Divi Georgii Fiorentis Gregorii Episcopi Tvronici Operum piorum pars II. C a put X I V . De sancto Martio Abbate, S. 1000-1. Pflanzenkundliche Auskünfte über die einzelnen Arten der aufgezählten Bäume gibt W o l f g a n g Sörrensen, Gärten und Pflanzen im Klosterplan, S. 250 zum Quittenbaum (cotolarius) : »Sehr alte, aus dem Kaukasusgebiet stammende Kulturpflanze, nach der Farbe der Früchte auch Goldener A p f e l genannt. D e r D u f t

247

Früchte tragen, von einem Nutzen jedoch spricht er nicht. Der reale Z u g des einen Garten anlegenden Einsiedlers bleibt nur Reminiszenz an die Garten bebauenden eremitischen Vorfahren von Gilles; der Garten selbst konkretisiert sich nicht zu einem Nutzgarten, er bleibt der paradiesische Ziergarten als Zubehör einer ausgebauten locus-amoenus-Beschreibung. § 198. Die mancherlei, teilweise fruchttragenden Bäume dienen dem Einsiedler in der Vie de saint Gile

keineswegs zum Unterhalt 3 9 5 . Für Nahrung sorgt

die Hinde, wodurch sogar die anfänglich genannten Wurzeln und Kräuter als Speise ausfielen. Der einzige Nutzen des Baumgartens bestünde in seinem Duft 3 9 6 , wenn dieser nicht ausschließlich als Element der paradiesischen Lustortbesdireibung zu werten wäre. So sind w i r nochmals auf die Sinnbildlichkeit und Transparenz dieses Baumgartens zurückverwiesen. Es sind zusammenfassend nochmals die Durchblicke

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SM

wird gerühmt. Die Birnquitte [um die es sich in unserer Vita wohl handeln wird] schätzten die Römer besonders. Manche meinen, die Quitte stamme aus Kreta oder dem Orient, wobei Kreta eine Station gewesen wäre. Die Anfänge verlieren sich im Dunkel. Die köstliche Frucht, die roh ungenießbar ist, gehört zur Herrentafel.« >PermeinsAliseBeaulieuplenitudo summi boni daß also das unter Tränen gesprochene Gebet Gilles' für seine Ernährerin Erhörung fand. Unrecht geschah, indem sie an dem besonderen Schutz des Tieres, ja eigentlich an dem im Gebet des Heiligen geleisteten Widerstand gegen die Entdeckung zweifelten 415 . Die kurze Anrede des Bischofs an den König ist somit das erste Anzeichen einer Zerknirschung, die wohl den Willen zur Wiedergutmachung und Genugtuung im Herrscher in Bewegung setzte.

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waren Bart und Haare des zisterzienser Laienbruders Albert während dessen Einsiedlerzeit verwildert, so daß auch er widerstrebend in die Mönchsgemeinschaft aufgenommen wurde, da er mehr einem wilden Tiere denn einem Menschen geglichen haben soll (vgl. Marianus Gloning, Der hl. Albert [* zwischen 1160-70, f um 1239], Laienbruder und Eremit, Cistercienser-Chronik X X I I I ( 1 9 1 1 ) , S. 164-65). Guillaume de Saint-Thierry, Lettre d'Or, S. 96, 154, bestätigt dies: »Mais oui, à l'âme tendue vers la vie intérieure sied mieux un extérieur sans élégance et négligé. Il signifie que l'âme, hôtesse de cette maison, habite plus souvent d'autres lieux: qu'une intention sainte la retient davantage ailleurs.« Dom Jean Leclercq, L'érémitisme en Occident jusqu'à l'an mil, in : L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 40, verallgemeinert, indem er schreibt: » [ . . . ] le costume simple, rude, inconfortable, adopté par l'ermite, était l'indice à la fois de sa pauvreté et de son austérité [. . .].« Die lateinische Version A 2 ist ausdrücklicher als der altfranzösische Text. Sie berichtet von der Vermutung des Königs nach der mißlungenen Jagd: [. . .] stupefactus ait: »Forsitan aliquis vir Dei inhabitat, qui sua prece nostris conatibus resistit.« (E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix C, S. 1 1 7 , § 27). 2

SJ

§ 204. Daraufhin gehen Bischof und König nur noch mit kleinen Schritten voran (v. 1947); unter dem Eindruck des traurigen Bildes, das sich ihnen im Baumgarten bietet, nehmen sie Rücksicht416. Gilles regt sich nicht. Das hindert den König aber keineswegs, vorzutreten und Gilles in einer langen, erklärenden Rede anzusprechen (vv. 1949-1960). Mit flehenden Worten bittet der König den Heiligen, sich auszuweisen: »Si tu es de part Deu ici, Parole a nus, sue mercie. Di nus, sire, de tun convers, Quele lei tens e quel Deu sers.« (vv. 1 9 5 1 - 1 9 5 4 )

Dieser Ausschnitt aus der königlichen Rede zeigt an, daß der Herrscher, der Veranstalter der Jagd und die indirekte Ursache des unglücklichen Einbruches ins Leben des Heiligen, noch immer vor einem Zauber bangt. Er scheint erneut von etwas Sakral-Numinosem ergriffen zu sein, weiß aber noch nicht, ob er ihm vertrauen darf. Wie ehemals schon am Hof ist in ihm der Aberglaube tätig, der sich vor der Gegenwart unheimlicher Kräfte und Mächte fürchtet. Darum beschwört der König sogar den verwundeten, schwachen Heiligen. § 2 0 5 . Mit besonderer Sorgfalt beschreibt Guillaume de Berneville das Erwachen und Zusichkommen des getroffenen Gilles. Ähnlich wie die Schilderung des Insel-Einsiedlers ist auch die Detailbeschreibung der kleinen Szene vom vorher und nachher Erzählten abgehoben. Das liebevoll und speziell auf sie gerichtete Augenmerk verschafft ihr ein Sonderrecht. Die minutiös ausarbeitende Erzählweise - nebst dem Insel-Einsiedler wurde auch das Erscheinen der wunderbaren Hinde durch eine solche ausgezeichnet - verleiht jeder Bewegung und dann auch jeder Regung des angeredeten Gilles eine eigene Kontur und ein besonderes Gewicht. Was sich während des Erzählens als eine Folge von gesondert beobachteten Gesten abzeichnet, schließt sich darauf zur Figur eines seelischen Vorganges, der letzten Endes in einer hohen Freude ausgeht: Gires se sist, si escutat, Dresce sun chef, sis esgardat. Quant il oi de Deu parier, Les olz Ii pernent a lermer: De la goie, de la dujur, Tut en ublie sa dulur, N e se send puint anguisus. (vv. 1 9 6 1 - 1 9 6 7 )

An dieser Stelle bricht durch die Ruhe des Berichtes eine die Schlichtheit nicht aufhebende Innigkeit durch. Ihr Schlüsselwort ist die »dujur«, die dulcedo, 4ie preilich war es sowieso angebracht, einem vermutlichen Heiligen mit Vorsicht zu begegnen. Die altfranzösische Prosaübersetzung von Brendans Meerfahrt (herausgegeben von Carl Wahlund, S. 8 8 , 2 3 ) hält fest, daß sich Brendan zuerst allein auf die Insel des Eremiten Paulus begab, da ohne »licentia viri Dei« der Wohnort nicht betreten werden dürfe.

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•welche im Schrifttum eben des 1 2 . Jahrhunderts eine ganz neue Intensität und mystische Kraft erlangt hatte und sich literarisch auffallend zu entfalten begann 4 1 7 . § 206. Bevor wir zu verstehen suchen, was in Gilles auf die Ansprache des Königs hin nach der Beschreibung Guillaume's de Berneville vorging, kehren wir für eine Weile nochmals zu dem eben vom Pfeil getroffenen Heiligen zurück. Denn dieser Vorfall, äußerlich ein bloßes Jagdversehen, hat einschneidende und ungeahnte Konsequenzen. Ein Vergleich der altfranzösischen Bearbeitung mit der lateinischen Vorlage erleichtert es, das Verhalten des Heiligen in der unserem Legendenautor eigenen Sicht zu verstehen. Die lateinische Aegidiusvita Version P berichtet die Entdeckung des durch den fatalen Fehlschuß verwundeten Gilles wie folgt: Videntes vero senem habitu monachili vestitum, canitie autem et astate venerabilem sedere, - debilitas enim vulneris adhuc cruore stillantes eum interim orationi parcere compulerat, - cervam quoque admirantes juxta illius genua, solus rex cum episcopo eum pedites adierunt, c«eteris amnibus retro Stare jussit 418 .

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Für die Entwicklung einer eigenen Spiritualität der dulcedo waren die alten lateinischen Bibelübersetzungen und die Vulgata von großer Wichtigkeit, da sie oft die Wörter >dulcis< und >suavis< verwendeten; vgl. dazu Jean Châtillon, Dulcedo Dei, in: Dictionnaire de Spiritualité, Tome I I I , Sp. 1 7 8 1 ; ebda. Sp. 1778 bis 1779 wird Gregor der Große als geistlicher Lehrmeister in Sachen der dulcedo für das Mittelalter angesprochen; er übergab dem Mittelalter augustineisdies Gedankengut und mit ihm das Vokabular und die Leidensdiaft für die dulcedo (ebda. Sp. 1790). Für das 1 1 . und 12. Jahrhundert ergibt sich aus dieser Entwicklung summarisch folgendes: »La spiritualité médiévale reprendra vite ce thème de la douceur intérieure avec une particulière ferveur, en utilisant par cela toutes les ressources que le vocabulaire antique, les métaphores bibliques et les versions latines de l'Ecriture, mettaient à sa disposition, et qui répondaient si bien à quelques-unes des aspirations les plus profondes de cet âge sensible et délicat, tout pénétré de tendresse humaine.« Adam Scottus (gestorben 1 2 1 4 ) beispielsweise schrieb eigens einen heute zwar verlorenen Traktat über die dulcedo Dei; vgl. dazu François Petit, La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, S. 172. Das antikisierend-klerikale Ideal der dulcedo, wie es sich u. a. bei Venantius Fortunatus zeigt, scheint den Aufbruch des 1 1 . / 1 2 . Jahrhunderts vorzubereiten, indem es biblische und antike dulcedo versöhnt. Vgl. die Untersuchung dieser dulcedo an sich und auf ihre Zukunftsträchtigkeit hin bei Reto R . Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en Occident (¡00-1200), Première partie: La tradition impériale de la fin de l'Antiquité au XIe siècle, Paris r 958 ( = B H E , 286), S. 4 J - 1 3 1 passim, besonders S. 1 1 7 - 1 8 und 127. Die in der geistlichen Literatur mit neuer Affektivität belebte dulcedo schließt sich gewiß nicht unmittelbar der nachantikisdien dulcedo des frühen Mittelalters an, welche Karl Langosch, Die europäische Literatur des Mittelalters. Zwei Vorträge und ein Aufriß, Düsseldorf 1966, S. 12, als heiteres, liebenswürdiges Menschentum beschreibt. E . - C . Jones, Saint Gilles, Appendix A , S. 106, § 14. 2J5

D a bietet sich der vom Pfeil verwundete Heilige dem Blick des Königs und des Bischofs im Bilde des Schmerzensmannes; sitzend, mit verhaltenem Leiden und bezwungener Schwäche, in Würde 4 1 9 . Erst später, nachdem ihn der unerwartete Besuch verlassen hat, überkommt ihn das körperliche Weh der Verletzung; vorher w a r er darstellende Statue, Sinnbild des Leidens. § 207. Aegidius versteht in der lateinischen Vita nun sogar den heftig anstürmenden körperlichen Schmerz augenblicklich in seiner geistlichen, ja theologischen Bedeutung. E r objektiviert ihn anhand eines paulinischen Wortes und hebt ihn so durch die Kraft des Erinnerns in den Raum der Meditation. Der Schmerz formt sich zu einer erfahrenen biblischen Reminiszenz und transformiert sich in Gebet. Darin wird das Leiden nicht nur bejaht, vielmehr für die Zeit seines Lebens erwünscht: Interea sanctus confessor suum exteriorem hominem sentiens, inflicto vulnere aliquantisper affligi, reminiscens illius czlicx responsionis, >virtus in infirmitatem perficiturSedereDominiJesuChristiJesus]esu dulcis memoriaduçur< (v. 1965). Das Gottesverhältnis an und für sich konnte im Zeichen dieser Vokabel beschrieben werden 456 . Oft jedoch verstand man die dulcedo als >praegustatio v i t x futura:pra:gustatio vita; futurse< vgl. die Textstellen des Boto von Prüfening und Petrus von Celle bei Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 124 Anm. 46 und S. 125 Anm. 53. Vgl. auch in: Dictionnaire de Spiritualité, Tome III, Sp. 1783, wo der Begriff dulcedo auf den biblisdien Basistext 1 Petr. II, 3 : Si tarnen gustastis, quoniam dulcis est Dominus, zurückgeführt wird und so eine Gotteserfahrung bezeichnet. Guillaume de Saint-Thierry, Méditative orationes, Texte et traduction par M.-M. Davy, Paris 1934, Meditatio III, S. 90, beschreibt das Kosten der suavitas und dessen Bezug auf das künftige Leben so: Sicque gustans et videns quam suavis est Dominus, repente sic totus gustando dulcedinem ejus dulcescit, sie videndo lucem veritatis ejus lucescit; sie de repentina summi boni plenitudine in gaudio Sanctus Spiritus exhilarescit, ut si hoc in eo perficiatur, confidat se vitam obtinuisse seternam. 458 Ygi in: Dictionnaire de Spiritualité, Tome III, Sp. 1792, wo auf Gregor den Großen hingewiesen wird, nach dessen Lehre diese Süße nur vorübergehend (raptim) zu kosten sei. 459

Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale, S. 32-33 und Anm. 59, spricht von drei Kategorien von Tränen, die in der monastischen Spiritualität des Abendlandes unterschieden werden: Reuetränen, Tränen der (Himmels)Sehnsucht und Tränen der reinen Liebe, die Zeichen geistlicher Erleuchtung sind. Ebda. S. 33, wird auf Isidor von Sevilla verwiesen, der vier Gründe zur tränenreichen Zerknirschung nennt: Erinnerung an die vergangenen Sünden, Furcht vor der Höllenstrafe, Überdruss am langen Exil des irdischen Lebens und Sehnsucht nach dem Himmel [Isidor von Sevilla, Sent. II, X I I , 2 und 4, P L L X X X I I I , 613]. Zu den Sehnsuchtstränen vgl. auch Dom Jean Leclercq, L'Amour des lettres et le Désir de dieu, besonders S. 61.

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Sovent et dulcement plorent por D e u amur; Plorent por ce qu'il sunt trop Ione de lor Sanior; Mais teiz dolz, teilz plorers vient de grande duzor, Iteiz larmes descendent de ceste grant dulzor. Bieneüros celui qui teiles larmes a 460 !

Das sehnsüchtige Weinen über das Fernsein von Gott, nachdem die suavitas und dulcedo einmal verspürt wurde, bleibt trostlos, es sei denn, die Gedächtniskraft springe mit dem Erinnerungsvermögen ein. Im 12. und besonders dann im 13. Jahrhundert finden sich Beschreibungen dieses auch in der Vie de saint Gilè zu beobachtenden Sachverhalts in der Terminologie der dulcedo: Domine dulcis, ego renui consolari preterquam a te, sed quando memor sum tui, delector in desiderio et in amore tui, Domine dulcis 461 .

§ 2 2 1 . Das an Gilles beobachtete emotionale Erinnern, der nachfolgende Tränenstrom samt der Freude und ihn erfüllenden dulcedo zeigen also die wie immer geartete Gotteserfahrung des Heiligen und dessen geistliche Höhe an 462 . Die starke Affizierbarkeit seines Gedächtnisvermögens und die hernach erfolgende Aktivität der memoria, die sich in Freude und Tränen äußert, legen die Annahme nahe, Gilles habe in der Einöde seit geraumer Zeit die geistliche, oft mit dem Äquivalent >duçur< bezeichnete Freude gekannt. Dies gibt der Legendenautor im dichterischen Bild des duftenden Baumgartens zu verstehen. Der jetzige Aufschwung nach dem Vernehmen des Namens Gottes - eine Illustration zu Ps. C X L I V , 7: Memoria abundantix suavitatis tua: eruetabunt - bedeutete demnach nidits Neues, eher eine Kumulation des bisher Erfahrenen. Das Erlebnis der Tränen wäre so gesehen ein solches der intensivierten Gottesbeziehung. Petrus Damiani beschreibt in dem Kapitel De laude lacrymarum diesen Aspekt der geistlichen Tränen : O lacrymE deliciae spirituales, super mei videlicet et favum, atque omni nectare dulciores! quse mentes a d D e u m erectas jueunda saporis intimi suavitate reficitis, et arida et tabescentia corda haustu superna: gratiae medullitus irrigatis. Terrenarum namque dapum sapores atque dulcedines superficie quidem palati gustantes oblec460 491

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Le Poème moral, S. 29-30, 94-97, v v . 373-386. Les Œuvres de Marguerite d'Oingt [seit 1288 Priorin in Poleteins, Kartäuserin], Publiées par Antonin Duraffour, Pierre Gardette et Paulette Durdilly, Paris 1965, S. 88. n i . Zur dulcedo als Frucht der Kontemplation vgl. in: Dictionnaire de Spiritualité, Tome III, Sp. 1792: »Finalement [bei Gregor dem Großen] cette suavité intérieure est surtout le fruit de la contemplation dans laquelle l'âme est pénétrée d'une douceur inexprimable, bien que cette grâce lui soit accordée qu'en passant (raptim) et d'une manière transitoire [ . . . ] . « D o m Jean Leclercq, Otia monastica, S. 132-33, stellt allgemein fest: »[. . . ] l'austérité trouve sa compensation dans la suavité, - cette dulcedo qui rappelle le >goût< et la >saveursagesse< dans laquelle nos auteurs ont v u la récompense de ce loisir contemplatif.« Vgl. audi ders., Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 115. 268

tant, viscera autem interiora non penetrant; sapor vero divinae contemplationis omnia interiora nostra replet, vegetat, obdulcat 40 '.

Das von Guillaume de Berneville mit wenigen sinnschweren Begriffen nachgezeichnete Ereignis im Baumgarten ist ein Indiz für das bereits zuvor geführte Leben der Beschaulichkeit. § 222. Die tiefgreifende Erfahrung des Erwachens aus dem Schmerzenskoma folgt einem stufenweisen Ablauf: Gottesname, Erinnerung, Tränenstrom, Freude und >dufurhortus deliciarumcredo< épique, S. 62-80. 497

Ein solches Glaubensbekenntnis - vor dem Tode abgelegt - ist erhalten vom heiligen Bruno, dem ersten Kartäuser (gestorben 1 1 0 1 ) , abgedruckt in: Lettres des premiers chartreux, Tome I, S. 90-93. Von Helden der Chanson de geste abgelegte Glaubensbekenntnisse vor dem Tod finden sich in La Chançun de Willame, S. 30, v v . 904-905, wo Vivien sagt: A la mort me lait ma fei garder, / Deus, ne la mente par ta sainte bunté; ebda. S. 62, v v . 2035ff.: Iço conuis ben que veirs e vifs est Deu / Qui vint en terre pur son pople salver [ . . . ] ; ebda. S. 38, Laisse C X X V I I I , antithetisch das verzweifelte Leugnen des sterbenden Guischard. Gormont et Isembart, S. 2 1 , X X I I I , v. 628ÎÏ., enthält ein dem Gerüst des symbolum fidei folgendes, von Isembart vor dem Tode abgelegtes Glaubensbekenntnis. Vgl. auch Dimitri Scheludko, Über das altfranzösische epische Gebet, Z f S L L V I I I (1934), S. 185; und zu den lateinischen Vorläufern der volkssprachlichen CredoGebete Dom André Wilmart, Auteurs spirituels et textes dévots du moyen âge latin. Etudes d'histoire littéraire, Paris 1932, S. j 5-63,V: La prière du symbole de foi. Berthold von Regensburg (um 1 2 1 0 - 1 2 7 2 ) empfiehlt in einer seiner Predigten das Credogebet schon zu Lebzeiten im Hinblick auf die Todesstunde zweimal täglich, des Morgens und Abends, zu sprechen; vgl. dazu Rainer Rudolf, Ars moriendi, S. 14, audi weiter unten in diesem Kapitel S. 343 Anm. 602.

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Das entspricht der von Edmond-René Labande, Le >credo< épique, S. 63, gemachten Feststellung: »Les thèmes se multiplient et défilent, aux oreilles de l'auditeur, en une succession solennelle, rythmée par les rimes répétées d'une laisse unique [ . . . ] . La composition de tels morceaux ne laisse pas d'être parfois illogique. [•.••]•« Ein Verzeichnis der vorkommenden Themen und ihrer Verteilung auf die einzelnen Credo-Gebete der Chansons de geste findet sich ebda. S. 70-78. Dom Jean Leclercq, La spiritualité de Pierre de Celle, S. 144, betrachtet diesen Frömmigkeitszug als ein Ergebnis vor allem der monastischen Meditation: »Ce que les moines du moyen âge ont ajouté à l'apport des siècles antérieurs, c'est un enrichissement certain de la sensibilité, un véritable raffinement de l'affectivité. A la psychologie morale des ascètes anciens, et à la spéculation des théologiens de la mystique, ils ont uni une dévotion tendre envers le Christ considéré surtout dans les états de sa vie terrestre.«

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Grablegung, Auferstehung; Abstieg zur Hölle 500 ; Himmelfahrt; Anwesenheit Marias in der Glorie als Fürbitterin. Dieser seriellen Anordnung der Glaubensgeheimnisse folgt abschließend eine beschwörende Formel, welche die Leidensbereitschaft des Heiligen verbindlich bekräftigt 501 . Si cum jo crei e ben le sei Ke ço est veirs ke jo dit ai, Tei pri ke de ceste dolur Ne seie meis sein a nul jur. (vv. 2 1 3 3 - 2 1 3 6 )

Die Insistenz der Bitte ist erstaunlich und wirkt pathetisch. Sie verleiht dem Text das Gewicht eines Versprechens, das nicht gebrochen werden darf. § 252. Der Wunsch nach immerwährendem Leiden ist bei Gilles ausdrücklich mit dem Ort der Einsiedelei verbunden; dort, wo er seine vita eremitica führte, will er fortan leidend bleiben. Die Redaktion A 2 der Aegidiusvita ist an dieser Stelle wiederum bestimmter im Ausdruck als die volkssprachliche Bearbeitung. Sie betrachtet das Leiden an der Wunde als Ersatz für das blutige Martyrium : Interea vir Domini Dominum deprecatus est ut vulnus quod acceperat incuratum maneret, quatinus dignus esset per martyrii palmam migrare ad Dominum502.

Guillaume de Berneville rationalisiert seinen Text wiederum nicht durch einen solchen, im geistlichen Schrifttum traditionellen und festen Bezug. Ihm liegt nur an der Intensität des Affektes, den der Heilige durch sein Gebet bezeugt und mit den Worten beschließt: J o n'ai ke fere de guarir : Ja ne quer meis d'ici issir, (vv. 2 1 3 7 - 2 1 3 8 )

Das Verbleiben am Ort wird Ausdruck seines Beharrens im Leiden. § 253. Das Gebet an dieser Stelle des Heiligenlebens erweist sich als Symptom einer Krisis, in welcher der Heilige endgültig seinen äußeren und inneren Standort bestimmen muß. 500

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Edmond-René Labande, Le >credo< épique, der schon S. 63 die Feststellung gemacht hatte : » [ . . . ] la régularité dans l'ordonnance ne répond pas à un besoin fondamental chez les hommes du Moyen Age [ . . . ] «, äußert sich S. 67 zu diesem Teil des Glaubensbekenntnisses: »La Descente aux limbes est, de son côté, tout à fait stéréotypée. De plus, il est remarquable que, partout sans exception, le récit en soit placé a p r è s la Résurrection, ce qui est peu conforme au texte du Credo: l'origine de pareille anomalie serait à rechercher avec soin dans les textes pieux qui ont pu servir de modèle.« Vgl. dazu ergänzend weiter unten Anm. $99 und 60$. Zur Formel »Si c'est veir [ . . . ] « vgl. Dimitri Scheludko, Neues über das Couronnement Louis, S. 448. Die beschwörende Formel darf in unserem Text aber gewiß nicht im Sinne einer magischen Praktik oder als Zauberformel verstanden werden, als welche sie anderwärts gebraucht wird. E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix C, S. 1 1 8 , § 28. 286

Das fast leidenschaftliche Beharren auf dem Leiden an seiner Wunde und der feste Wunsch, in der Einöde unbedingt zu verbleiben, leitet zu einer rückblickenden Darstellung seiner Berufungsgeschichte über: Gilles erhellt sozusagen sein Lebensziel von innen: Pur 50 leissai jo mes amis, E ma grant terre e mun pais Pur ci venir suffreite querre. (vv. 2 1 3 9 - 2 1 4 1 ) Was sich auch zugetragen hat in der Einöde, sie bleibt das Land der Verheißung, was sich auch weiter ereignen wird, hat hier zu geschehen. Es scheint, der Heilige habe eine Ahnung davon, daß der König mit ihm etwas vor hat. § 254. Das Angebot des Königs zur Wiedergutmachung des zugefügten Leides wird nochmals überdacht. Es zwingt Gilles zu einer Stellungnahme in bezug auf den in Aussicht gestellten Reichtum. Wie oft bei wichtigen Erzählpartien greift Guillaume de Berneville zur Technik der Repetition. So wiederholt Gilles, um der Aussage Nachdruck zu verleihen, im Selbstgespräch das, was er den beiden Würdenträgern antwortete: O r volt Ii reis de ceste terre Trover e dras e guarnement. Mut furent ridie mi parent: Assez en orent veir e gris, Pailles, cendals purpres e bis; Si volsisse pailles vestir, N e m'esteust de Grece issir; Meis jo n'ai eure de ridieise D u n t m'enorgoill ne ne m'enveise: Le cors voil jo ke seit doilant. (vv. 2 x 4 2 - 2 1 5 1 ) Diese betonte Klarstellung ist Rechenschaft des Heiligen vor sich selbst und soll wohl der Erbauung des Publikums dienen. Das Bekenntnis zur Armut ist aber sicher zugleich eine Hervorhebung des eigenen Ideals, dem Guillaume de Berneville als strenggesinnter Kanoniker ebenfalls nachlebt 503 . In solcher Perspektive erscheint der König in der Funktion einer allegorischen Figur, die den Reichtum und die weltliche Pracht verkörpert und der der Heilige feierlich absagt. Er hat Leiden und Armut gewählt. Mindestens das 503 Vgl dazu La réforme des prêtres au moyen âge, besonders S. 2 7 , 3 1 und 7 9 , wo der Kanoniker Philipp von Harvengt begeistert die freiwillige Armut preist: » [. . .] N e rien chercher de périssable, ai-je dit, ne posséder que Dieu en guise d'héritage et à leur tour se donner à Dieu pour devenir son héritage. Dieu est leur héritage singulier; ils [die regulierten Kanoniker] sont pour Dieu un héritage magnifique, principal, réservé [ . . .].« Über die freiwillige Armut in Kanonikerkreisen vgl. auch François Petit, La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, S. 141-42. 28 7

Gebet um die Unheilbarkeit der Wunde wird sicher erfüllt; Guillaume de Berneville besteht darauf, indem er sagt: E il si fud tut sun vivant: Unc de la plaie ne guari Des ke a cel jur k'il fini. (vv. 2 1 J 2 - 2 1 5 4 )

IX. DIE K L O S T E R G R Ü N D U N G :

GILLES' L E B E N ALS

ABT

§ 2 5 5 . Die Begegnung des Einsiedlers Gilles mit dem König und dem Bischof, die daran sich anknüpfenden Gespräche und schließlich das lange Gebet des Heiligen beenden die wohl wichtigste Periode der Legendenvita. Was nun folgt, ist, bei noch so breiter erzählerischer Anlage, ein Nachspiel. Es ist eine Entfaltung des Lebens in der Einöde nach außen, die Folge der Ereignisse, die sich in der Einsiedelei abspielten. Der neuen Lebensetappe wird freilich eine eigene Gewichtigkeit zugelegt. Vorerst wird der Gang der Handlung bruchlos wiederaufgenommen. Er wird stark auf die im Gebet gewonnenen Resultate bezogen. Die neue Situation, die sich aus der Entdeckung des heiligen Mannes ergab, besteht vornehmlich in der Spannung zwischen Gilles, der unbedingt weiterhin arm in der Waldeseinöde leben will, und dem entdeckungsfreudigen, >seinem< Heiligen alle Reichtümer anbietenden König. Doch ergibt sich kein andauernder Widerspruch zwischen dem auf seiner Armut beharrenden Heiligen und dem spendefreudigen Machthaber. Guillaume de Berneville versteht es, an dieser konfliktreichen Stelle der Vita einen, wohl seinem eigenen Ideal entsprechenden, harmonisierenden Ausgleich zu schaffen. §256. Trotz des schmerzlich erfolgten innerlichen Bruches mit dem ganz verborgenen Einsiedlerleben, gleitet die Erzählung, ohne den eben beendeten Erzählabschnitt scharf abzugrenzen, anmutig dialogisierend in den neuen, dem Grundmuster der traditionellen Legendenvita entsprechenden Abschnitt über, in die Geschichte einer Klostergründung 504 . In der Rückblende erscheint damit 504

Barbara und Hanno Helbling, Der heilige Gallus in der Geschichte, S. 23, stellen zu diesem Punkt des Vitenschemas allgemein fest: »Ein Höhepunkt der Lebensbeschreibung ist in unzähligen Fällen der Kampf, der den Heiligen erwartet, wenn sein Ruf aus der entlegenen Klause zu den Mäditigen der Welt gedrungen ist. Da sind die Tage der Sammlung und Kontemplation, der stillen Kasteiung zu Ende.« Und Dom Jean Leclercq, Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 220, beobachtet in den von ihm untersuchten Heiligenleben dieselbe Abwechslung der Lebensformen, wie wir sie auch in der Vie de saint Gile finden: »Ziemlich oft stellt man eine Abwechslung zwischen folgenden drei Arten des Lebens fest: die solitudo peregrinans, die solitudo ruralis und das Leben in einem Kloster.« Gilles ist eben bei der dritten Form angelangt. 288

auch die wunderbare Hinde als das häufig führende und leitende Tier der Gründersage 505 . Guillaume de Berneville ist also bemüht, die Kontinuität zu wahren. Abgesehen vom erzähltechnischen Prozedere, das oberflächlich überzeugend den Anschein der Nahtlosigkeit erweckt, versucht der Legendendichter auch die innerliche Durchgängigkeit zu sichern. Er verbindet die beiden verschiedenen Lebensabschnitte vor und nach der Entdeckung durch die Wunden-Thematik. Wie immer man die Wunde verstehen will, sie bleibt der Ertrag des Eremitenlebens und haftet dem Heiligen weiterhin als Stigma an. Die durch sie verursachte Schwäche gibt Gilles paradoxerweise die Kraft, das zu bewältigen, was nun seiner harrt. § 257. Guillaume de Berneville garantiert also die Bruchlosigkeit des Erzählfortganges durch die Wiederaufnahme und Neuverwendung bereits gebrauchter Motive. Aber nicht nur die Wunde setzt er derart leitmotivisch ein. Um den Übergang vom eremitischen in den nun folgenden Lebensabschnitt sanft zu gestalten, kreist der Heilige wiederholt gesprächsweise um das königliche Geschenkangebot. Nach dem monologisierenden Gebet des Heiligen, das ein bereits stattgehabtes Gespräch wiederaufnimmt, arbeitet Guillaume de Berneville noch ein weiteres Mal mit diesem erzählerischen Stoff: er läßt den König im geheimen oft zum Einsiedler kommen und ihm weiterhin Geschenke anbieten (vv. 215J-2178). Motivreimend wird erneut darauf insistiert, daß Gilles, gemäß dem im Gebet gefaßten Entschluß, nichts annehmen will. Der König läßt ihm freilich keine Ruhe, da er durch eine großzügige Vergabung sein Unrecht sühnen möchte. Schließlich greift er zu einer frommen List, indem er dem Heiligen beliebig viel von seinem Reichtum anbietet, um es an die Armen oder sonstwie zu verteilen. § 2j8. Das Festhalten am Problem der Wiedergutmachung des Unrechts durch Reichtum ist ein taktisch geschicktes Vorgehen des Dichters, der in seiner Erzählung dartun will, wie großer Reichtum zu wahrem Nutzen angelegt werden kann. Gilles macht als Sprachrohr des Legendenautors den glücklichen Vorschlag (vv. 2179-2190), der König möge eine Abtei und den Unterhalt für die Mönche stiften, damit diese für des Königs Seelenheil, für das ganze Volk und den Staat beten. Wir erinnern uns, daß in der lateinischen Vita P der Einsiedler ein solch fürbittendes Gebet als seine Lebensaufgabe betrachtet hatte. Guillaume de 505

Die Verbindung des Motivs der verfolgten Hinde mit der Gründersage, wonach nach der Entdeckung eines Einsiedlers am wunderbaren O r t eine Kirche oder ein Kloster gebaut wird, erwähnt C a r l Pschmadt, Die Sage von der verfolgten Hinde, S. 51 ff. Auch E.-C. Jones, Saint Gilles, S. 38, macht darauf aufmerksam: »Le nom du roi écarté, l'histoire de la fondation du monastère par un roi à la chasse, amené auprès d'un ermite par une bête miraculeuse, rentre dans une classe de thèmes hagiographiques.« V g l . ebda. S. 44 Anm. 2.

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Berneville entband seinen Einsiedler von einer solchen Pflicht, auferlegt sie nun aber einem zu bildenden Mönchskonvent, als ob dieser dazu befähigter wäre. Der Vorschlag Gilles' scheint eine Korrektur des königlichen Anerbietens zu sein: nicht einer Einsiedelei, sondern einem Zönobium soll er seine Wohltaten zukommen lassen 506 . Ohne sich länger zu bedenken, geht der König großzügig auf Gilles' Ansinnen ein (vv. 2 1 9 1 - 2 2 0 8 ) 5 0 7 . § 2 5 9 . Sofort ist der König bereit, die Stiftung von Renten, von Ackerland, Wald, Rebbergen und Weideland zu übernehmen. Doch schließt er seine Rede mit einer Bedingung: Si vus dirrai brefment la fin: Si vus volez lur abes estre, Maintenteur e pére e meistre, J o frai feire tost le muster, Dortur, chapitre e bon celer, Hostelerie e refreitur, Meisuns bones de grant atur. (vv. 2203-2208) Damit ist, soweit es am König liegt, die Gründung eines Monasteriums perfekt. Anders liegt die Sache in der Sicht des Heiligen. § 260. Die an das Zustandekommen der Klostergründung geknüpfte Bedingung, daß Gilles das A m t eines Abtes übernehme, kennzeichnet den jetzigen Lebensabschnitt des Heiligen erneut als einen solchen der Auseinandersetzung. Kämpfte Gilles zuerst um seinen Stand der Armut, so gehört es sich nun ein topisches Motiv der Heiligenvita - , daß er sich gegen das hohe, ehrenvolle A m t sträubt 508 . 508

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Tatsächlich wurde es im 12. Jahrhundert zu einer allgemeinen Tendenz, eher Klöster als Einsiedeleien zu begaben; vgl. dazu Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 301 : » [ . . . ] Mais il faut avoir soin de noter que la tendance générale de la noblesse au X I I e siècle porte plutôt vers les fondations monastiques ou canoniales; d'où les donations assez fréquentes aux monastères d'ermitages avec toutes leurs dépendances. [ . . . ] Ces donations ne proviennent donc pas d'une certaine antipathie envers les ermites, mais on préfère un genre de vie dont la stabilité est plus assurée, et qui, par conséquent, donne au fondateur une garantie plus grande que les bienfaits spirituels qu'il attend en retour ne se termineront pas à la mort d'un ermite.« Es scheint, nach unserer Vie de saint Gile zu urteilen, eine getarnte Propaganda von seiten der Kanoniker, vielleicht auch der Mönche, habe diese Tendenz verstärkt. Literarische Belege solcher Schenkungen finden sich gesammelt bei Paul Scheuten, Das Mönchtum in der altfranzösischen Profandichtung (12.-14. Jahrhundert), Münster i. W. 1919 ( = Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens, Heft 7), S. 33fr. und 1 1 2 . Was und wieviel von einem Laienabt oder Stifter für einen Mönchskonvent aufgebracht werden mußte, ist zu ersehen aus Emile Lesne, Histoire de la propriété ecclésiastique en France, Tome I V , Lille 1943, besonders S. 202ÎÎ. Zur topischen Ablehnung der Abtswürde in der mittelalterlichen Hagiographie vgl. Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 4 1 - 4 2 ; auch Die-

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Wie zu erwarten, stürzt der Plan des Königs, besonders die Aussicht auf das schwierige A m t des Abtes, den Einsiedler in schweres Nachdenken. Aus der Alternative, entweder die geistliche Sorge um eine ganze Klostergemeinschaft zu übernehmen oder das gute Vorhaben des Königs zu vereiteln, erwächst ein schmerzlicher Konflikt: Gires out e veit e entent Tel ren dunt Ii pesa forment: Mut dute le feis a porter E la eure d'ames garder, E d'autre part veit e entent K e Ii reis n'en fera neent Se il ne volt estre pastur. (vv. 2209-221 j ) Aus der A n t w o r t Gilles' an den König spricht das an den alttestamentlichen Propheten abgelesene und durch die Demut gebotene Zurückschrecken vor der Übernahme des besonderen Auftrags. § 2 6 1 . Die heftige Demutsbezeugung vor der Übernahme eines Amtes gilt bei wenigen Ausnahmen 509 - als Zeichen einer aszetisch vollkommenen Selbstverachtung. Infolgedessen spricht Gilles: Dirrai vus dune dunt sui pensis E pur quei: jo sui nunpoant; Fehles hom sui e mut dutant Si feite ren de guverner: Sur vus estot le feis turner. (vv. 2222-2226) Während die lateinische Redaktion P den Widerstand des Heiligen gegen die Leitung einer Mönchsgemeinschaft daraus ableitet, daß Gilles eben vir theoricus sei 510 , geht Guillaume de Berneville nunmehr auf die Frage der Beschau-

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ter Hoster, Die Form der frühesten lateinischen Heiligenviten von der Vita Cypriani bis zur Vita Ambrosii und ihr Heiligenideal, S. 78, und Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit, S. 25 {Servatiuslegende Veldekes) und S. 1 3 1 (Georgslegende Reinbots) sowie S. 176. Ebenso widerwillig wie erfolgreich übernimmt beispielsweise auch Bernhardus de Tironio (PL C L X X I I , 1394,45 C) das »officium curie pastoralis«. Grimlaïcus, Regula solitariorum, P L C H I , 605 B, löst das Dilemma zwischen demütigem sich Sträuben und dienendem Sich-zur-Verfügung-Stellen folgendermaßen: Neque enim vere humilis, qui superni nutum arbitrii ut debeat prœesse intelligit et tarnen contemnit. Cum enim sibi regiminis culmen imperatur, si jam donis prasventus est, quibus aliis praìesse et prodesse possit, et ex corde debet fugere, et invitus obedire. Vgl. den Text bei E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix A, S. 107, § 16. Zum Vorkommen des in der hagiographischen Literatur häufigen Fachwortes theoricus, theoria etc. vgl. Dom Louis Gougaud, La vie êrêmitique au moyen âge, S. 238 Anm. 1 4 1 , und Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 74, 81, 82, 86, 91, n i , 1 1 3 besonders. Bei der Häufigkeit der Verwendung dieser termini technici der Kontemplation ist es erstaunlich, daß Guillaume die Stelle seiner Vorlage einfach übergeht. 291

lichkeit gar nicht ein. E r stellt lediglich die Demut und Selbstverachtung, beides wohl als Heilmittel gegen die von Gilles selbst bekannte Überheblichkeit gedacht, als Hindernis für eine Amtsübernahme hin. Konkret äußert sich die heilsame Selbsterniedrigung darin, daß Gilles nun die Bürde teilen, d. h., einen Teil der zu übernehmenden cura animarum dem König und Stifter überbinden will. § 2 6 2 . Gilles kommt mit dem königlichen Abteigründer bald überein, und dieser nimmt mit großem Eifer und offensichtlichem Geschick die gewaltigen Bauarbeiten an die H a n d ( v v . 2 2 3 2 - 2 2 3 8 ) 5 1 1 . Samt den erlesenen Insassen übergibt der Stifter die Abtei dem erst widerstrebenden, nun aber gefügigen Gilles und setzt ihn offiziell in seine Rechte ein. Die Bereinigung der Gründungsangelegenheit, von Guillaume de Berneville gemächlich ausgearbeitet, bildet ein Bindeglied zwischen der Epoche des verborgenen eremitischen Lebens und der nun anhebenden Amtszeit als A b t und Vorsteher einer klösterlichen Kommunität. A u f eine motivische Kohärenz der beiden Lebensabschnitte wurde bereits hingewiesen. Die Darstellung der Bau- und Gründungsgeschichte bleibt aber zusätzlich rein lokal mit dem Einsiedlerleben des Heiligen eng verhängt: dadurch daß keine Translokation notwendig gemacht wird, ist der Anschluß des Lebens in der Abtei an den früheren eremitischen Stand evident 5 1 2 . 511

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Guillaume de Berneville kann sich bei der Abfassung dieses Passus auf seine Erinnerung an die Gründungsgeschichte der kanonikalen, den monastisdien zum Verwechseln ähnlichen Niederlassungen in England stützen. Vgl. dazu J . C. Dickinson, Les constructions des premiers chanoines réguliers en Angleterre, S. 179: »Sous l'influence de l'esprit érémitique si puissant à cette époque [Ende X I . / X I I . Jahrhundert], des chanoines réguliers ont choisi la vie contemplative, loin de la société séculière [ . . . ] . « So lag auch die Priorei, in der Guillaume de Berneville vermutlich lebte; vgl. ebda. S. 1 8 1 : »Contemporain de Huntingdon, le prieuré St. Giles avait été fondé à Cambridge tout près du château sur un site où abondaient les inconvénients. Une vingtaine d'années après sa fondation, ce prieuré fut transféré hors ville, sur un terrain plus grand et bien pourvu d'eau.« Die Bauzeit dieser zweiten Niederlassung muß Guillaume noch aus eigenem Erleben im Gedächtnis gewesen sein. Was unser Legendenautor über die bauliche Anlage des Klosters seines Heiligen erwähnt, wird durch die Feststellung ebda. S. 184 und 197-98, bestätigt, wonach sich die Architektur der Kanoniker Englands an den benediktischen Klosterplan anlehnte: »Dans la généralité des cas, l'architecture des premiers chanoines réguliers en Angleterre n'a pas beaucoup différé de l'architecture des bénédictins contemporains, sauf sur un seul point. Chez les chanoines réguliers, on ne constate rien de comparable à ce qui s'est passé dans les monastères bénédictins de ce pays, anciens et extrêmement riches, qui ont employé une partie de leurs richesses excessives à la construction d'églises énormes« (ebda. S. 197-98). Zur langwierigen Konstruktion der Priorei Barnwell vgl. die Ausführungen ebda. S. 196 und die Bemerkung S. 197. Gerade im 12. Jahrhundert war die Bautätigkeit in England, während welcher anstelle von Einsiedeleien augustinisdi regulierte Prioreien erstellt wurden, rege; vgl. Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 2 8 1 : »[. . .] D'autres prieurés augustiniens [nebst Nostell, vgl. ebda. S. 280] furent fondées au X I I e siècle à 292

Eine delikate motivische Wiederaufnahme bestätigt darüber hinaus die K o n tinuität: zu Beginn der eigentlichen, nun eben beginnenden Klostergeschichte w i r d einleitend nochmals der wunderbaren H i n d e gedacht. D a die lateinische Vorlage nicht mehr v o n ihr spricht, kann das Gedächtnis an das wunderbare Tier nur eine K l a g e über fehlende Nachricht sein ( v v . 2 2 4 9 - 2 2 5 2 ) . Trotzdem verbürgt diese Erinnerung die innere Einheit der scheinbar so verschiedenen Lebensabschnitte, des vergangenen und des jetzt einsetzenden. § 2 6 3 . N a c h dem markierenden Rückblick auf die H i n d i n beginnt der Bericht des klösterlichen Lebensabschnittes mit einer Variation der Baugeschichte (wiederum die beliebte Doppelung einer kleinen epischen Zelle): die A u s staffierung der Abtei w i r d gewürdigt. M i t großem A u f w a n d läßt der K ö n i g eine reiche Bibliothek anlegen, Meßgewänder und -geräte, Lesepulte etc. mit großer Umsicht anfertigen 5 1 3 . V o n kanonikaler A r m u t ist nun nichts mehr zu spüren, eher denkt man an cluniazensische Pracht 5 1 4 . D i e Fülle der luxuriösen l'emplacement d'anciens ermitages, sans qu'on ait de détails: ainsi en 1 1 1 2 , le prieuré de Barnwell (Cambridgeshire); en 1 1 5 6 , Felley (Nottinghamshire); en 1160, Poughley (Berkshire); Bicknacre, ou Woodham Ferrers (Essex), vers 1 1 7 4 / 1 1 7 5 , et probablement Bushmead (Bedfordshire), sous Henri I I (1154-89).« Zu den an der Stelle von Einsiedeleien gebauten Kanoniker-Kirchen vgl. La réforme des prêtres au moyen âge, S. 16. Z u den anstelle von Einsiedeleien gebauten Klöstern vgl. oben Anm. 6.

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Herbert Grundmann, Deutsche Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hochmittelalter, S. 65, weist auf die Möglichkeit hin, daß ein Einsiedler, ohne je einem Kloster angehört zu haben, Klostergründer werden kann. Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. I4if., glaubt feststellen zu können, daß die Erwähnung der Bautätigkeit, der Beschaffung von Meßgeräten und -gewändern in den Heiligenviten von einer beruhigteren Zeit zeuge. Der Bericht von reger Bautätigkeit ersetzte den fehlenden Gedanken des Martyriums, der früher die Krönung der Heiligenvita war. Tatsächlich läßt Guillaume de Berneville den Gedanken des Martyriums, der in der lateinischen Vorlage kurz v o r der Gründung geäußert wurde, fallen und verwendet d a f ü r viel K r a f t zur Schilderung der Bautätigkeit. Zur reichen Ausstattung der Kirche im cluniazensischen Mönchtum vgl. Dom Jean Leclercq, Le monachisme clunisien, S. 4 5 5 f . Die mittelalterliche Dichtung liebte die Beschreibung dieser kirchlichen Pracht. Sie findet sogar Platz in der Chanson de geste; vgl. dazu C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos, S. 147, wo die im Heldenlied erwähnten liturgischen Gewänder und Geräte vermerkt werden. Ähnlich prunkend sind die in der Brendanslegende aufgezählten Abteischätze; vgl. The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 3 7 - 3 8 , v v . 675 bis 688. Auch das altfranzösische Alexiuslied wird ausladend, w o es um die Erwähnung der kirchlichen Gewänder und Geräte geht (Str. 1 1 7 ) . Freude an Prunkgegenständen und liturgisches Interesse verbinden sich - vielleicht ein Ergebnis der cluniazensischen R e f o r m - in diesen Aufzählungen und Beschreibungen. Freilich ist nicht zu vergessen, daß die eben in der Abfassungszeit der Vie de saint Gile aufkommende Verehrung der Eucharistie auch im kanonikalen Praz-

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Gegenstände wird in breiter Aufzählung umfaßt ( v v . 2 2 5 3 - 2 2 6 3 ) ; der verbale Reichtum steht hier für den Wert der Sache. Die Vorzugsstellung gehört der Kirche, sie wurde zuerst gebaut und mit allem notwendig erscheinenden ausgerüstet. Es folgt die Errichtung der Klostergebäulichkeiten und der A u f b a u eines weiteren Bauwerks, das als Abtswohnung dienen soll: Meis petit fu ne gueres grant: En cel fud Ii abbes manant, (vv. 2267-2268) Was den Heiligen selbst betrifft, besteht Guillaume de Berneville also weiterhin auf der Armut und Bescheidenheit. § 264. Trotz der Betonung der Kleinheit, rechtfertigt der Legendenautor den Bau einer alleinstehenden Abtswohnung à part 5 1 5 . E r lenkt aber gleich darauf das Augenmerk auf den Heiligen selbst und geht zu einem mores-Abschnitt, zur Beschreibung der Lebensweise über: Pur l'anfermeté de sun cors Ert Ii seinz hom iloc dehors; En jeunes e en oreisuns, En veilles, en afflictiuns Esteit Gires e jur e nuit; N'entendeit a autre dedoit, En ço se delitout forment, (vv. 2269-2275) In den Augen Guillaume's de Berneville garantiert die Wunde, welche seit dem providentiellen Jagdversehen das Leben des Heiligen bestimmt, die Weiterführung des eremitischen Lebens. Auch als A b t lebt Gilles außerhalb der geregelten Mönchsgemeinschaft und obliegt T a g und Nacht seinen gewohnten Betätigungen 516 .

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monstratenserorden etwa zu großer liturgischer Prachtentfaltung führte; vgl. dazu François Petit, La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, S. 226fr. Als Kanoniker, der das gemeinschaftliche Leben hochschätzen muß, entschuldigt Guillaume seinen Heiligen für die Sonderwohnung. Der heilige Odo von Cluny (878-942) aber beispielsweise lebte im Amt des Abtes in einiger Distanz vom Kloster als Einsiedler. Audi den Camaldulensern, die die Handschrift der Vie de saint Gilè lange bei sich verwahrten, mußte eine solche Rechtfertigung unnötig erscheinen, denn ihr Gründer, der heilige Romuald, obsdion der benediktinischen Regel verpflichtet, wünschte für die durdi ihn reformierten Mönchsgemeinsdiaften, daß der Abt als Eremit in der Nähe des Zönobiums lebe; vgl. dazu Alberico Pagnani, Vita di S. Romualdo Abbate, S. 153, 1 7 1 , 177 und 3 2 j f ï . , auch passim. Zum Nebeneinander von eremitischem und zönobitisdiem Leben grundsätzlich vgl. Giovanni Tabacco, Eremo e Cenobio, in: Spiritualità cluniacense, S. 331 und 334. Belegstellen dafür, daß ein strenges eremitisches Leben auch in der Verbundenheit mit einer Abtei, als >moine ermitePausen< zwischen den einzelnen hervorstechenden göttlichen Aufträgen zu füllen haben. H u b e r t Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 275 und 276ff., weist darauf hin, daß sich im 12. Jahrhundert besonders oft Einsiedlergruppen einem Orden anschlössen und umgekehrt die Klöster der drei großen Orden Einsiedeleien in ihrem Umkreis, oft unter ihrer Obhut, duldeten. François Petit, La spiritualité des Prémontrés aux XIIe et XIIIe siècles, S. 16, vermerkt drei Eremiten, die bei einer von Kanonikern betreuten Kirche lebten, S. 97 sogar eine bei einer Prasmonstratenserkirche lebende Inklusin. Die von Guillaume de Berneville an dieser Stelle gebrauchte Bezeichnung »Ii seinz hom« (v. 2270) wurde zumeist für Einsiedler und nidit für Äbte verwendet; vgl. dazu C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altjranzösischen Heldenepos, S. 222 und Anm. 4. 517 Vgl. dazu vor allem Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 105: »Les armes qui sont le plus souvent nommées sont le jeûne, l'abstinence, les veilles, tous les moyens que l'on a de se faire >suerProvenzalen< beliebt: Tuit lui portèrent reverence; II Ii deveient ben porter E mut chérir e honurer; Mult se poent fere haité Ke Deus lur out tel enveié, Kar grant conseil unt recovré E de confort e de santé, (vv. 2 3 1 6 - 2 3 2 2 )

Solche Lobrednerei macht sich den hagiographischen Topos von der Beliebtheit des Heiligen zunutze, führt aber gleichzeitig das Motiv der Fama neuerdings in den Lebenslauf ein. Diesmal reicht der Ruhm des Wundertäters gar bis nach Rom: La famé vait de ci k'a Rume Ke en Provence ad un seint home. (vv. 2 3 2 3 - 2 3 2 4 )

Guillaume de Berneville hat damit den Verlauf seiner Vita elegant so angelegt, daß sich mühelos die Ereignisse anbahnen können, auf die es ihm nun ankommt. Bei dem großen Raum, den der Ruf jetzt durchdringt, kann er endlich auch zu Ohren Karls des Großen kommen : Mult veit de lui lung la reisun: En duce France al rei Charlun En est la nuvele portée Ki volenters Päd escoltée. (vv. 2 3 2 J - 2 3 2 8 ) 530

Zum Inhalt der mystisch gefärbten, monastischen visitatio-Formel vgl. D o m Jean Leclercq, Oda monastica, S. 1 2 4 - 2 5 : »Pourtant, il y a un niveau supérieur, où Dieu n'apparaît plus du tout comme juge et comme maître: il ne se montre plus que comme époux: c'est le moment de ces visites intimes, rares et brèves, qui laissent le désir de les voir durer davantage. [. . .] Dans l'acte même de cette forme supérieure du repos spirituel, il n'y a place que pour le consentement, et non pour le désir. Mais, on l'a vu, après ces courts moments, jusqu'à ce qu'ils se renouvellent, et dans tout le temps qui les prépare, la disposition habituelle de l'âme doit être le désir: désir de la visitatio, désir de la visio.« Man ermißt die Kühnheit Guillaume's de Berneville, der seinem Heiligen die visitatio häufig zuspricht!

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Die Reminiszenz an die »dulce France« der Chanson de Roland wirkt feierlich und rührend zugleich 531 ; sie mußte das Publikum unbedingt für die folgende Erzählung gewinnen. § 271. War schon die eben beendete laudatio auf den Heiligen und der Bericht von der um sich greifenden Fama breit und gewichtig gehalten, so erzählt Guillaume de Berneville im folgenden noch umständlicher532. Karl will auf das umgehende Gerücht hin Näheres über den vielgerühmten Heiligen erfahren und bekommt folgende Auskunft: Cil lui unt dit e affiché Ke sur le Rodne est herbergé; Une abbeie i ad fundée : Grant terre i ad Ii reis donée E granz tresorz d'or e d'argent, E assemblé unt grant covent, Ke mut demeinent seinte vie. (vv. 2 3 3 1 - 2 3 3 7 )

Erstmals fällt in der Antwort auf die Frage nach Gilles' Woher und Wohin eine Erwähnung des Einsiedlerlebens aus. Karl hört von ihm nur als von einem Klostergründer und Vorsteher einer heiligmäßigen Kommunität. Vorläufig ist Kaiser Karl beeindruckt, ohne daß wir zu wissen bekommen, was er vor hat oder was in ihm vorgeht. Jedoch läßt die minutiöse Schilderung und Aufzählung aller Umstände ahnen, daß ein gewichtiges Ereignis sidi anbahnt. Dann endlich erfahren wir, daß Karl eine Unterredung mit dem berühmten Manne wünscht, da er seine Sünden, die ihn im Grunde beängstigen, erkennt und derentwegen seufzt und stöhnt. Er ist bereit, eine Beichte abzulegen, falls er den Heiligen zu sich dirigieren kann 533 . § 272. Die Gewundenheit des einleitenden Abschnittes ist vorwegnehmend ein Ausdruck des verwickelten Falles, den es nun zu schlichten gilt. Es soll eine königliche Gesandtschaft in Gilles' Abtei beordert werden, mit versiegeltem Brief und mit reichen Geschenken ausgestattet (vv. 2349-2354). 531 j ) ; e Verbindung zum Rolandslied wird durch eine spätere Allusion (vv. 2891 bis 2894) an das für Kaiser Karl gewirkte Wunder der Verdunkelung des Tages verstärkt; vgl. dazu Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I V - X L V . 532

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Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L V , betonen mit Recht, daß der ganze nun anhebende Erzählabschnitt das selbständige Werk des Legendenbearbeiters ist. Das besondere Interesse der auftraggebenden Abtei an der Geschichte mit Karl dem Großen wird ihm den Mut dazu verliehen haben. Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale, S. 52 Anm. 155, gibt eine Erklärung für die mittelalterliche Vorliebe, die Beichte bei Einsiedlern oderMöndien abzulegen: »Cette popularité des moines ou ermites est peut-être justifiée par le fait que les fidèles, plus ou moins consciemment, considéraient que le sacrement pouvait être plus ou moins valide selon la perfection du confesseur.« Dies mag auch die Wahl Gilles' als Beichtvater Karls des Großen bestimmt haben.

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Mit dem Versprechen einer baldigen Rückkehr macht man sich auf den Weg (vv. 2355-2360). Dank ihrer guten Pferde sind die Gesandten schnell in »Munpeller« (vv. 2361-2364) 5 3 4 . Dort erlauben sie sich Rast, nehmen aber ihren Gastgeber bald beiseite, um ihn nach dem berühmten Abt Gilles zu fragen (vv. 2365-2383). Eigens betonen sie, daß sie die »dulce France« (v. 2376) verließen, um den heiligen Mann für Karl den Großen zu suchen. Die Antwort des Gastgebers bestätigt das umgehende Gerücht: Veirs est ço ke de lui oistes: Une meillur hume ne veistes. Deus est od lui verraiement, Kar grant miracle i feit sovent. (vv. 2387-2390)

Der freundliche Gastgeber erteilt weiteren Rat, begleitet die königliche Gesandtschaft und weist ihr den Weg (vv. 2399-2404). § 273. Der Empfang in der Abtei ist überschwenglich (vv. 2405-2414); er zeugt von guter Klosterzucht und zuvorkommender mönchischer Gastfreundschaft535. Wiederum die Nachfrage nach dem Heiligen. Die Fragen und Antworten gehen knapp und lückenlos hin und her (vv. 2415-2426). Der verhandelnde Mönch ist bereit, seinen Abt zu holen: Il veit a la diapelle dreit La u l'abes Gires esteit; Cil l'ad en oreisun trové. (vv. 2427-2429)

Dieses Detail, daß der Heilige aus dem Gebetsraum geholt werden muß, zeigt, wie selbstverständlich ihm die oratio continua war. Abt Gilles wird durch den hostelarius über den Besuch in der Abtei ins Bild gesetzt. An erster Stelle ist der Heilige darum besorgt, ob den Gästen die richtige Gastfreundschaft widerfuhr (vv. 2430-2441), zeigt sich nachträglich betroffen und bekümmert, daß man eigens weither kommt, gerade ihn aufzusuchen. Nach langem Hin und Her und nach mancher Demutsbezeugung läßt sich der Abt herbei, die Gesandtschaft zu empfangen (vv. 2440-2462). § 274. Die Botschafter werden herbeigeholt, dann beginnt mit großem Anstandszeremoniell der Dialog (vv. 2463-2498). Mit erheblichem Aufwand an 534

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Zu dieser Angabe vgl. Gaston Paris & Alphonse Bos, La Vie de saint Gilles, S. X L I f . : »Guillaume nous dit que la forêt où Gilles trouva Veredemius était >entre le Rodne e Munpellers< (v. 1229): Montpellier n'est pas mentionné dans le latin [ . . . ] . Montpellier était, au X I I e siècle, en pleine prospérité, et le nom en était arrivé à notre poète; mais il en ignorait la situation exacte [ . . . ] . « Ein ähnliches Zeremoniell im Umgang mit den Klostergästen, Begrüßung und Bewirtung, wird in der Brendanslegende anläßlich der Ankunft in der Abtei des heiligen Albeu beschrieben. Mit dem Unterschied jedoch, daß dort Schweigen herrscht, während in der Abtei Gilles' ausgiebig und höflich gesprochen wird; vgl. The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 36, vv. 65 jff. 301

Rhetorik wird dem heiligen A b t in schöner Rede mitgeteilt, daß ihn König K a r l in Orleans erwarte. Gilles gibt den Boten in aller Freundlichkeit zu verstehen, daß er ohne Befragung der Mönchsgemeinschaft nicht verbindlich antworten könne. Damit wird erneut deutlich, daß Gilles' Eremitenleben

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mit seinem zu eigenmächtigen Hochmut - endgültig vorbei und er gänzlich von der zönobitischen Mönchsregel, sehr wahrscheinlich der benediktinischen, geprägt und ihr verpflichtet ist 536 . Der Wille Gottes, von dem auch eben die Rede w a r (v. 2460), wird ihm nun im Willen der Gemeinschaft kund 5 3 7 . Guillaume verliert darüber weiter keine erklärenden Worte, er wird aber darin eines der Heilmittel gegen die superbia sehen, von der Gilles in seiner Einsiedelei noch befallen w a r und von der er sehnlichst befreit zu sein wünschte. § 2 7 5 . Z w e i Füllverse, ein rhetorischer Schnörkel (vv. 2 4 9 9 - 2 5 0 0 ) , bilden das Gelenk zum nächsten Abschnitt. Es erfolgt ein Szenenwechsel: Guillaume de Berneville zeigt Gilles in der Privatkapelle im Gebet, worin er R a t und Erleuchtung sucht, um zu wissen, wie er sich der Botschaft der Gesandten gegenüber zu verhalten habe, denn der Entscheid fällt ihm schwer. Das Gebet wird als direkte Rede an Gott wiedergegeben (vv. 2 5 0 5 - 2 5 2 4 ) . Gilles stellt sich vor Gott die Frage, was eine königliche Gesandtschaft an ihn wohl bedeuten möge. 536 Ygi Stefan Hilpisch, Der Rat der Brüder in den Benediktinerklöstern des Mittelalters, S M G B L X V I I (1956), S. 225, wo die Zuständigkeit des Rates, nach dem 3. Kapitel der Benediktinerregel, so umschrieben wird: »Alles, was das Gesamtinteresse des Klosters betrifft, und im besonderen Entscheidungen, die auf Jahre hinaus die Entwicklung des Klosters bestimmen, gehören zur Besprechung im Rat.« Zur Kommentierung der Stelle in der Vie de saint Gile ist folgende Ergänzung belangvoll: »Neben den wichtigen Angelegenheiten haben auch Dinge von geringerer Bedeutung ihren Platz im R a t der Brüder. So besprach Abt Austrulf von Fontanelle (gest. 752) seine Romreise im Konvent. Auch die machtvollen Äbte von Cluny legten ihre Reisepläne im Kapitel vor. So wollte Abt Hugo eines Tages eine längere Reise antreten communi fratrum decreto. Aber der Prior Ulrich riet von der Reise ab, und audi ein nächtlicher Traum warnte den Abt, die Reise anzutreten. E r rief dann am Morgen das consiliarium zusammen und entschied sich zu bleiben (ebda. S. 228).«

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Zwar hatte der Abt das Recht, in eigener Macht zu entscheiden nach dem Anhören des Rates, doch bildete sich im 12. Jahrhundert immer mehr die Auffassung heraus, der Abt bedürfe nicht nur des Rates, sondern der Zustimmung des Konvents. Dieser Meinung scheint auch Abt Gilles zu sein. Zum Niederschlag des Konventrats in der mittelalterlichen weltlichen Literatur vgl. Paul Scheuten, Das Möncbtum in der altfranzösischen Profandichtung (12.-14. Jahrhundert), S. 47. Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfranzösischen Heiligenleben bis Ende des 12. Jahrhunderts, S. 174, glaubt einen Fortschritt und Aufstieg darin zu sehen, daß Gilles nach der Periode der Selbstheiligung eine Aufgabe an der Gemeinschaft und der Welt übernommen habe. In Wirklichkeit geht es jedoch nur um das Tun des Willens Gottes gegen den sich immer wieder vordrängenden Eigenwillen, den es unbedingt zu bekämpfen gilt (: als superbia). Jedenfalls gerät die Legende in ein falsches Licht, wenn versucht wird, ihr mit einer anachronistischen Begrifflichkeit wie: Apostolat geht über Selbstheiligung u. ä., beizukommen. 302

§ zy6. Die jetzige Situation ist dem Heiligen undurchsichtig. D a meldet sich ein altes Bedauern wieder: Las! mult sui jo maleuré: En la fosse u jo f u muscé U n k ne poeie estre cele; O r sui trové pur mon pedié; Par mun peché, las, mei dolenti M'est avenu cest marrement. (vv. 2509-2514)

Den Grund einer Wirrnis, wo immer eine solche sich ergibt, sucht Gilles in seinem eigenen Versagen, in seiner menschlichen Unzulänglichkeit und vielleicht sogar Sündhaftigkeit. Worin Schuld liegt, ist freilich schwer zu erkennen. W a r es Schuld, daß er sich finden ließ, in der Einsiedelei und jetzt? Deutlich ist nur der auftauchende Gedanke an die Einöde und das Heimweh nach dem Eremitenleben. Aber zweimal, in der Einsiedelei und hier in der Kapelle, wurde Gilles in seinem aszetischen Versteck aufgespürt. § 277. A n den traurigen Rückblick auf das verlorene verborgene Leben schließt sich die Beteuerung an, nie eine Einflußnahme auf den H o f gesucht zu haben: Travaill me creist, peine me surt. N'eusse mès ke feire a curt: N e queisse meis curteier, Trop hantai ja icel mester; O r le quidai aver guerpi, Meis par l'agueit de l'enemi M'est avenu cest desturber. ( v v . 2515-2521)

Die Berufung zu K a r l dem Großen erscheint Gilles als Teufelswerk. Der Widersacher hat ihn, wie einstmals der Jäger, aus dem Hinterhalt angefallen. Der Heilige glaubt, mit dem königlichen Stifter zu Rande gekommen zu sein, und nun folgt eine Bitte an den H o f in Orléans. Schließlich glaubt der Heilige, sich auf die Wunde berufen zu können, um sich von einer anstrengenden Verpflichtung zu dispensieren; er übergibt sich jedoch im selben Atemzug dem Belieben Gottes und stellt damit seinen Eigenwillen zurück. § 278. Der Gebetsschluß bezieht seine Intensität aus der Spannung zwischen dem Verlangen nach Verborgenheit und Zurückgezogenheit und dem eventuellen höheren Auftrag, der im vorhinein den Vorrang hat, was es auch koste: La plaie crem pur travailer; Mais or face Deus sun pleisir, U del seigner u del murir. (vv. 2522-2524)

Die Ungewißheit quält Gilles die ganze Nacht über (vv. 2525-2532). Früh morgens nach der Konventmesse - La messe oir a muster v a (v. 2532), wie 3°3

ein Laie - versammelt sich Abt Gilles mit einem Großteil seiner Mönche im Kapitelsaal 538 . Mit sichtlichem Vergnügen und maximaler Weitschweifigkeit beschreibt Guillaume de Berneville die Beratung der Mönche mit ihrem Abt, was nun zu tun sei (vv. 2534-2605). In gewählter Rede wendet sich dabei Gilles an seine Mönche, übergibt ihnen die Gewalt zu entscheiden. Um ihnen den Entscheid zu erleichtern, beschreibt er eingehend den Inhalt des königlichen Auftrages (vv. 2538-2556). Der von den Gesandten herbeigebrachte Brief Karls des Großen wird hereingetragen, das Sigel zerbrochen. Die Mönche erhalten Einblick in das Schreiben. § 279. Kaum hat die Mönchsgemeinschaft vom Inhalt des Briefes Kenntnis genommen, ergreift sie Bestürzung und Trauer, so daß sie keine Worte finden, sich zu äußern (vv. 2557-2562). Endlich legt der Prior seine Ansicht dar (vv. 2563-2581): um den Frieden zu erhalten, gehöre es sich, den Reichen dieser Erde zu gehorchen. Dafür müßte der König von Frankreich den Konvent im Kriegsfalle beschützen. Der Einwand der übrigen Mönche, die Gesundheit des Abtes müsse geschont werden, da bei dessen Tod die ganze Abtei unterginge, fällt nicht ins Gewicht (vv. 2582-2597). Mit der Bitte, er möge nicht zu lange ausbleiben, geben die Mönche ihrem Abt schließlich weinend die Erlaubnis wegzuziehen (vv. 2598-2605). § 280. Diese ganze Beratungs-Szene ist durchdrungen vom Bewußtsein eines Abhängigkeitsbedürfnisses zwischen Herrscher und Konvent. Sie zeugt von der Mentalität einer großen, reichen und daher schutzbedürftigen Abtei. Sorge um die ungefährdete Prosperität der Abtei spiegelt sich in der Rede des Priors. Die anderen Mönche sind eher Statisten, die durch ihre Haltung weniger eine gegensätzliche Ansicht, denn die Anhänglichkeit und Liebe der Gemeinschaft ihrem Abt gegenüber darstellen. Die große Verehrung des Abtes wird noch betont durch den Einwurf des Legendendichters: Sacez k'il out meinte lerme En chapitre plure le jur. (vv. 2606-2607)

Nach der Meinung und dem Willen des Abtes wird nicht mehr gefragt, von der Verwirrung und dem Zögern des Heiligen nicht mehr gesprochen. Der Entscheid des Konventes klärt alle früheren Zweifel, denn der Wille der Mönchsgemeinschaft zeigt unfehlbar den Willen Gottes an. Er stimmt auch mit dem Willen des Herrschers überein. 538 y gl ¿ ¡ e Regula sancti Patris Benedicti, S. 30, Kapitel 3: Quoties aliqua prsecipua agenda sunt in monasterio, convocet abbas omnem congregationem et dicat ipse unde agitur. Im Unterschied dazu spricht auch die Navigatio Sancti Brendani Abbatis, S. 30, Kapitel 2, und S. 84 Anm. 15, nur von einer Auswahl von Möndien, die sich im Kapitelsaal versammeln. Dasselbe in: The Anglo-Norman Voy age of St. Brendan by Benedeit, S. 9, v. 123ÍÍ.

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Daran, daß die Frage der Schutzbedürftigkeit mit dem Reichtum der Abtei zusammenhängt, scheint Guillaume de Berneville sich nicht zu stoßen. Das Armutsideal muß scheinbar nur vom Heiligen selbst hochgehalten und verwirklicht werden. § 2 8 1 . Nach einigen Vorbereitungen macht sich Abt Gilles auf den Weg nach Orléans (vv. 2608-2620). Schon vor Erreichung der Stadt Orléans kommt dem mit der königlichen Gesandtschaft reisenden Gilles die höfische Welt entgegen. Der König, welcher die Ankunft des heiligen Mannes kaum erwarten mochte, geht unverzüglich, ohne auf eine Begleitung zu warten, allein auf Gilles zu und begrüßt ihn überschwenglich mit dem Friedenskuß 539 : A lui veit, si l'ad salué, Set feiz le beise de randun, Les olz, la budie e le mentun. (vv. 2 6 3 2 - 2 6 3 4 )

Mit diesem Begrüßungszeremoniell beginnend, dringt - nicht wider den Willen des Autors - die höfisch verfeinerte, mit einem gewissen Luxus versehene und auf gediegenes Wohlleben bedachte Welt in Gilles' Leben ein, oder vielmehr er läßt sich mit ihr ein. § 282. Der königliche Alltag, festlich erhöht durch die Ankunft des heiligen Abtes, lädt den Legendendichter Guillaume de Berneville ein, ein feudales Zeitgemälde zu erstellen. Es steht gewiß mit dem verzögernd hinausgeschobenen Hauptereignis und Ziel dieses Erzählabschnittes in Zusammenhang und Einklang, wahrt aber dennoch seine Selbständigkeit und Geschlossenheit. Guillaume scheint seiner Schreibfreude und Erzähllust keine Schranken setzen zu wollen und gestattet sich die Schilderung zahlreicher Einzelheiten des höfischen Tageslaufes. Abt Gilles tritt nun widerstandslos in diesen höfisch-königlichen Kreis ein. Er bringt selbstverständlich seine mönchische Welt mit sich und sticht damit ab von seiner jetzigen Umgebung. Je prächtiger die Schilderung der königlichen Ambiance, desto deutlicher setzt sich Gilles in seiner mönchischen Eigenart davon ab. Es entsteht ein Spiel zwischen weltlich-höfischer und geistlichmönchischer Sphäre, deren kontrastierende Elemente geschickt herausgearbeitet und sogar zur Unterhaltung ausgenutzt sind. Versöhnlich - wie der Prior — läßt der Dichter die Begegnung der beiden unterschiedlichen Bereiche auf eine faktische Symbiose hinauslaufen, indem sich ein Zusammenleben zu gegenseitigem Nutzen ergibt.

539 j ) e r j^uß zum Gruß und Abschied, allerdings nur der einfache Friedenskuß, wird auch in der Brendanslegende erwähnt; vgl. The Anglo-Norman Voyage 0} St. Brendan by Benedeit, S. 10 v. 1 5 3 , S. 34 v. 609, S. 37 v. 662, S. 38 v. 693, S. 79 v. 1 5 2 5 und 1 5 3 0 - 3 1 , S. 89 v. 1 7 2 7 . Dieser Brauch findet eine Entsprechung in der Benediktinerregel, Kapitel L I I I ; vgl. Regula sancti Patris Benedicti, S. 122.

3°J

§283. Trotz der unverhohlenen Freude Guillaume's de Berneville an königlichem Brauch und höfischer Umwelt betont er, im Vorfeld der wichtigen Verhandlungen zwischen Abt und König, das monastisch-abtgemäße, ja sogar das eremitisch-strenge Gehaben Gilles'. Audi ist er darauf bedacht, den heiligen Mann nicht vorbehaltlos in der glänzenden Welt des Königs aufgehen zu lassen. So erwähnt er wohlweislich bereits anläßlich des triumphalen Einzuges in die Stadt, daß Gilles die große zujubelnde Zuschauermenge unangenehm war: Gires le vit, lui en pesa E de ço mut se vergunda. ( v v . 2 6 4 3 - 2 6 4 4 )

Was von der Welt her als Ehrung gemeint war, empfindet der Heilige - wie einstmals die wachsende Fama - als Belastung. Doch fällt diesmal die beinahe reflexhafte Fluchtbewegung weg. Abt und König, die mächtigen Vertreter der geistlichen und der weltlichen Gewalt, treten einträchtiglidi und hoheitsvoll in den mit Teppichen herausgeputzten Palast (vv. 2645-265 j). All die Pracht jedoch nimmt den ehemaligen Einsiedler und jetzigen Abt nicht in Beschlag. Bei einer gegenseitigen Kenntnisnahme, da König und Abt sich ins Angesicht blicken, zeigt sich das wahre Gesicht Gilles' : L i reis l'esgarde en mi le vis : Ben pert en lui quel vie il meine, ( v v . 2 6 5 6 - 2 6 5 7 )

Die Heiligkeit ist unbedingt als solche erkenntlich. § 284. In privatem Gespräch erfragt Karl der Große alle Lebensumstände des Heiligen, und wir erfahren ein weiteres Mal, in indirekter Rede verfremdet, das curriculum vita; des Legendenhelden. Das Eremitenleben und die Gründung der Abtei sind erstmals in Gilles' eigener Rede zu einer einzigen, fortlaufenden Geschichte vereint: II [Gilles] ne f u d hum de malice : T u t lui cunte de fil en lice Cornent il vint en l'ermitage, E cornent la bisse salvage L e put treis anz enz el desert, E cornent il f u d descovert, E cum Ii reis la le trovat, C u m feitement il l'en jectat, E ke Ii reis ad estorée U n e abbeie an la contrée, E terre e grant richesce mis E mut grant pan de cel pais. ( v v . 2 6 6 7 - 2 6 7 8 )

Das eremitische Waldleben und das Leben in der neuerstellten, gut dotierten Abtei gehen in dieser Fassung der Lebensgeschichte bruchlos ineinander über. In diesem Rückblick besteht keine Opposition zwischen einsamem und ge306

meinschaftlichem Leben540. Audi das ehedem tiefe Bedauern über die verlorene Einsiedelei hat in diesem Bericht keinen Platz, außer man lege der Bemerkung, der Heilige sei durch die Entdeckung aus dem desertum herausgerissen worden, einen bitteren Ton bei. Der Bericht scheint jedoch eher nahezulegen, daß die Vita eben diese Wendung nehmen mußte. §285. Sicher aber macht Gilles Karl gegenüber einen merkwürdigen Vorbehalt, auf den Guillaume de Berneville eigens hinweist: Tut lui ad dit cum lui esteit, Fors de la plaie ke il out: Unkes par lui le rei nel sout, Meis d'autre ad le veir coneu. (vv. 2680-2683)

Die Wunde bezeichnet demnach ausdrücklich ein geheimnisvolles, in der Diskretion und Zurückhaltung des Heiligen verborgenes und geheimgehaltenes Leiden. Keinesfalls will Gilles die Aufmerksamkeit auf seine heilsame Schwäche lenken, damit er sich nicht mit der unheilbaren Wunde brüste. Ob sie doch den immer noch wachen Schmerz um die verborgene, beschauliche Einsiedelei versinnbildet? Guillaume de Berneville gefällt sich an dieser Stelle in Geheimnistuerei und Mystifikation. Der Autor will wohl an den komplexen Sinn der eigenartigen Versehrtheit Gilles' gemahnen, bemüht, die Innerlichkeit des Heiligen unter dem weit ausholenden und ausschmückend-wortreichen Prunkt der Darstellung nicht untergehen zu lassen. Das gelingt ihm, indem er die Kostbarkeit der Wunde wahrt. § 286. In Wirklichkeit markiert diese Rede einen Engpaß im Leben des Heiligen. Denn zur Zeit der Abfassung der Vie de saint Gile, da sich verschiedene Spiritualitäten herauszubilden und gegeneinander abzugrenzen beginnen, ist auch der Übertritt vom eremitischen zum zönobitischen Status nicht mehr problemlos. Die ganze Aufwendigkeit der Schilderung kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß der Heilige sich in mancher Hinsicht gegen die neue 540

Es scheint ein Charakteristikum vieler Heiligenviten zu sein, daß sie nicht durchgängig an einer Lebensform des Heiligen festhalten, sondern im Wechsel zeigen, daß der Heilige gewillt und befähigt ist, die je neuen Forderungen Gottes zu erfüllen. Vgl. dazu Dom Jean Leclercq, Le monachisme du haut moyen âge, S. 439: »Peu importent, ensuite [nach der >peregrinatiovillae< ; quant aux repas avec les séculiers ils sont sévèrement prohibés tant aux abbés qu'aux moines, hormis le cas imprévu de l'hospitalité sollicitée de leur part.« 309

»Kar mangez dune par charité Iço k'um vus ad aporté, Par nun de sainte obedience Iço k'est en vostre presence. Dunt ne trovez vus en escrit Ço ke seinte escripture dit K e nostre sire comanda A ses apostres e ruva, Kant il alouent prehesdiant, Ço k'um lur mettereit devant Receussent par charité?« L'abbes Gires ad escutè Iço ke Charlemaines dit; Autre part si s'en turne e rit. Il li demande belement. »Sire«, feit il, »cum lungement A v e z vus esté sermoner? Vus savez mut ben preescher.« (vv. 2705-2722) Was sich der Herrscher bei dieser Mahlzeit, wäre es nur spaßeshalber, zu bemerken erlaubt, wirkt anstößig: der König gibt sich nicht nur als weltliche, sondern auch als geistliche Autorität aus 544 .

§ 290. Z w a r verringert A b t Gilles die Tragweite des königlichen Spruches, indem er diskret zur Seite lacht und mit maßvollem Humor repliziert 545 . Nicht ausgeschlossen ist jedoch, daß diesmal der Legendenautor nicht nur durch den Heiligen, sondern auch aus dem Herrscher spricht. Denn K a r l weist in seiner freundlich belehrenden Rede geschickt auf Luc. X , 8 hin: E t in quamcumque civitatem intraveritis, et suseeperint vos, manducate qua: apponuntur vobis. Guillaume de Berneville, als Kanoniker eo ipso auf die vita apostolica verschworen, konnte diesen Text kaum leichtfertig verstehen. E r mußte ihn modellhaft und eigentlich als sein eigenes Ideal zitieren. Wäre die Berufung des Königs auf den Bibeltext bloß eine Finte zur Erprobung des Heiligen, müßte sich dieser widersetzen. E r geht jedoch klug lächelnd darauf ein. D a durch rundet sich das herrscherfreundliche Genrebild glücklich ab. 544

545

Ob Guillaume de Berneville mit dieser Darstellung des Verhältnisses von König und Abt in die seinerzeit aktuellen Auseinandersetzungen über die beiderseitigen Befugnisse eingreifen will oder dem cluniazensischen Monarchismus huldigt, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls ist nicht zu vergessen, daß Thomas Becket, von vier Edelleuten ermordet, am 29. Dezember 1 1 7 0 starb, weil er König Heinrich II. gegenüber die kirchlichen Rechte verteidigte. Auch Le Montage Guillaume, Seconde redaction, S. 190, L V I , v v . 3065-3066, kennt diese witzige Antwort: Dist Macabrins: »Guillaume au vis fier, / Vous aves bien apris a preechier.« Zu den humoristischen Zügen u. a. in der mittelalterlichen Literatur, die Heiligenleben eingeschlossen, vgl. Urban T. Holmes, Realism in Twelfth-Century Literature, E C V (1965), S. 201, auch Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 425fr.: Hagiographische Komik. 310

§ 2 9 1 . U m g ä b e Gilles nicht die gewohnte Milde, noch dazu die immer deutlicher zutage tretende Abgeklärtheit des erfüllten und vollendeten Alters, erschiene sein Verhalten servil. M a n weiß j a auch bereits, daß der K ö n i g das T r e f f e n mit bestimmten Absichten herbeigeführt hat, um die O f f e n b a r u n g eines ihn seit langem bedrückenden Anliegens kunstvoll zu arrangieren. G i n g der Heilige in eine mit feiner List gestellte Falle? D i e F i g u r des Heiligen jedoch läßt sich nicht einfach in die vorbereiteten E r eignisse verflechten. E r ist unverstellten Gemütes anwesend und v e r f ü g b a r , er hält sich von Hintergedanken oder unausgesprochenen Absichten frei. Diese Demut, die sich weder ziert und ängstlich zurückhält, noch in berechnender Bekehrungsabsicht oder mit eifrigem Missionierungswillen vorstößt, umgibt ihn w i e eine zarte Gloriole. Sie hervortreten zu lassen, dazu w u r d e dieser Passus w o h l geschrieben. § 292. Nach der Essenszeremonie beginnen die Vorbereitungen zur Nachtruhe, die ebenfalls breit und mit großer Beharrlichkeit ausgeführt werden (vv. 2725-2780). Endlich zieht sich der K ö n i g müde in sein Gemach zurück, der heilige A b t hingegen, obschon ebenso müde und v o n der weiten Reise strapaziert, geht an sein geistliches W e r k : Quant Ii abes se dut dormir, Matines comence a chanter; Il fud mult près de l'ajurner Einceis ke il eust fini. (vv. 2 7 4 8 - 2 7 5 1 )

D e r ihm zugewiesene Kammerdiener - ein Gegenbild des Heiligen - v e r f ä l l t in Schlaf, sobald er seinen Dienst erfüllt hat 5 4 6 . S o kann Gilles unbemerkt auf sein bequem zurechtgemachtes Nachtlager verzichten und sich selbst, w o h l nach beibehaltener Eremitenart, eine harte Schlafstätte bereiten: Li abes ad l'estreim coilli Ki esteit par cel eir junché, E puis s'i est de sus cuché. (vv. 2 7 5 4 - 2 7 5 6 )

Schlafen auf dem harten Boden, w ä h r e n d das auf A n o r d n u n g des Königs zubereitete Bett unbenutzt bleibt, ist eine Tugend, w i e sie v o n Eremiten 546

Zu lateinisch cantare für rezitieren vgl. Dom Louis Gougaud, La vie êrêmitique au moyen âge, S. 218. Gilles hatte also nicht laut singend gebetet, darum konnte der Diener so leicht entschlafen. Vgl. auch Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 135 Anm. 37: »Quant aux termes recitare et cantare, ils étaient parfois employés indifféremment pour désigner toute prière à laquelle la bouche prenait part [ . . .] «; ebda. S. 135 Anm. 37: »De divers textes il ressort que psallere peut désigner le fait de réciter les Psaumes, mais aussi l'office divin en général ou même toute prière.«

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selbstverständlich und natürlich immer im Verborgenen geübt wird 5 4 7 . D a ß Gilles nun im Verborgenen, im stillen K ä m m e r l e i n ein streng asketisches L e ben f ü h r t , zerstreut den Verdacht, der A b t habe sich bei Tisch vielleicht aus L a x h e i t widerstandslos den königlichen Eßgewohnheiten angeschlossen. § 293. E i n m a l mehr ergibt sich das P a r a d o x o n , daß gerade die geheim im Verborgenen geübte Tugend, wider den Willen des Heiligen natürlich, am lautesten publik w i r d : Li reis s'est levez par matin, Une chemise vest de lin, E quant chaucé est e vestu Vint en la chambre u l'abbes fu: Vit le seint home u il giseit, En l'eir dur u il dormeit. (vv. 2757-2762) Z u denken, A b t Gilles habe die Überraschung leichtfertig zugelassen, verbietet sich. Diesem ungehörigen Gedanken baute Guillaume de Berneville in einer vorhergehenden Passage des Dialogs zwischen K ö n i g und A b t wohlweislich v o r . K a r l der G r o ß e sprach da zu Gilles: »Sire,« feit il, »or de cucher, Kar las estes de chevalcher; Vus leverez einceis de mei.« (vv. 2737-2739 547

Theodoret von Cyrus, Mönchsgeschichte, S. 104, berichtet von Zeno, der auf einem Lager aus Heu schlief, mehrmals wird ebda, passim erwähnt, daß Einsiedler auf ebener Erde schlafen. Dasselbe teilt Rufinus vom eremitischen Prototypen Antonius mit (Auetores Historiée Ecclesiastica Tripartita, Lib. I, S. 279). Dom Louis Gougaud, Ermkes et reclus, S. 3 1 , vermerkt: »Guillaume Firmat passait la plus grande partie de ses nuits à chanter des hymnes, étendu sur une natte de jonc. » [ . . . ] Je n'ai qu'un lit / sans couste purement de fain.« dit l'ermite Jehan le Paulu dans les >Miracles de Notre-Dame< [Miracle de NostreDame par personnages, éd. G. Paris et U. Robert, Paris 1880, Tome V, vv. 455-4*6].« Adolf Miissener, Der Eremit in der altfranzösischen nationalen und höfischen Epik, S. 32, führt aus: »Das Bett ist einfach und anspruchslos: [ . . . ] n'ot colte ne coisin / Ne drap de dhainvre ne de lin [J ouf rois. Altfranzösisches Rittergedicht, herausgegeben von K . Hofmann und Fr. Muncker, Halle 1880, v. 1 9 1 1 ] . Dem Eremiten genügt ein Lager aus Gras [Li Chevalier as deus espees, Herausgegeben von Wendelin Foerster, Halle 1877, v. 3803; Merlin, publié par Gaston Paris et J . Ulrich, Tome II, Paris 1886, S. 107; Robert le Diable, publié par E. Löseth, Paris 1903, v. 763 u. ö.], Heu [Der Roman von Escanor von Gérard von Amiens, herausgegeben von H. Michelant, Tübingen 1886, v. 2 1 3 7 ; Girart de Rousillon, Abdruck der Oxforder Handschrift von W. Foerster, Bonn 1880, v. 7 3 J 2 ] , Blättern [Tristan de Nanteuil, Inhaltsanalyse von Paul Meyer, S. 389; Le Moniage Guillaume, Tome II, Paris 1 9 1 1 , v. 2290], Zweigen [Le Moniage Guillaume, Tome II, v. 2290] oder Minze [Der Roman von Escanor von Gerard von Amiens, v. 2137].« In Le Moniage Guillaume, Seconde rédaction, S. 2 9 3 , L X X X I V , vv. 5036-5037, bereitet der Einsiedler nicht nur für sich, sondern auch für seinen Gast Ansëys ein solches Laubbett: Li quens Ii a son lit apareilliét / D'erbe fenee, de fuelle de ramier.

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Worauf der A b t bestätigend antwortet: »Sire,« feit il, »oil 50 crei: Demain reparlerez od nus.« (vv. 2 / 4 0 - 2 7 4 1 )

Alles ist so gestellt, daß das Beten der Matutin w i e das Schlafen auf dem mit Stroh bedeckten Boden hätte geheim bleiben können. N u r ein unvorhergesehenes Geschick bringt die Kasteiung des Heiligen an den T a g . § 294. U m so ausgiebiger w i r d die nun eingetretene Situation durch den E r zähler ausgekostet. Die Betonung liegt freilich nicht auf deren K o m i k ; im Gegenteil, die befremdende Entdeckung des Königs w i r d zu einer O f f e n b a rung von Gilles' Heiligkeit. K ö n i g K a r l also begibt sich wie abgesprochen und in der Meinung, den A b t wach zu finden, in dessen Zimmer, sieht ihn dort aber noch schlafend: Mut s'est Ii reis esmerveille: Le chamberlenc ad esveille, Si lui demande ke go dut, Pur quei Ii abes iloc jut. »Bei sire,« feit Ii chamberlencs, »Kar il ad verseille tut tens; Tote nuit fud en oreisuns, En veille e en afflictiuns. Quant il se dut aller cudier, Si aunad cel estramer, Puis chuchad sur la dure terre; £ o ne vi mes a hume fere.« (vv. 2 7 6 3 - 2 7 7 4 )

Z w e i m a l erfahren w i r so - in der beliebten Doppelung - v o n dem außerordentlichen Verhalten des Abtes; das erste M a l in deskriptiver Erzählung durch den Dichter, das andere M a l in direkter R e d e aus dem Munde des erstaunten Kammerdieners. Daraus ergibt sich eine besondere Akzentuierung; das Schlafen auf dem Boden w i r d zu einem außerordentlichen wunderbaren V o r f a l l . E t w a s sonderbar und unwahrscheinlich bleibt nur die R o l l e des K a m merdieners: er mußte bald einschlafen, damit Gilles unbemerkt wachen und beten konnte; andererseits ist er Gilles' einziger Zeuge. § 2 9 5 . D e r K ö n i g zeigt Verständnis d a f ü r , daß der Heilige seine Schlafenszeit nach der langen Nachtwache etwas verlängert 5 4 8 . 648

Es ist auffällig, daß im Mittelalter ausgedehnte Nachtwachen auch dann gerühmt und bewundert wurden, wenn der Beter deswegen tagsüber in Schlaf fiel oder, wie Gilles, nicht zeitig aufwachte. Ein Beispiel bieten die Prozeßakten zur Heiligsprechung des Dominikus; vgl. S. Domenico visto dai suoi contemporanei, S. 2 j i , die festhalten: »Essendogli stato chiesto come sapesse queste cose, (il teste) rispose di averlo visto molte volte in chiesa mentre pregava e piangeva, e qualche volta di averlo trovato, vinto dal sonno, addormentato. Per le molte veglie precedenti, spessissimo poi si appisolava anche a tavola.« Das Einnicken zur Unzeit wurde nicht als Fehler angerechnet, sondern als Hinweis auf das Übermaß der Nachtwachen geschätzt.

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»Teis,« feit Ii reis, »ne l'esveiller, Leis le tut en peis reposer.« Li abes les oit parler, De la noise prist a veiler: Garded, si ad veu le rei Ester iloc dejuste sei. (vv. 2775-2780) Weder entschuldigt sich A b t Gilles, noch sucht er eine Rechtfertigung: das nächtliche Wachen und Beten wiegt selbstverständlich das kleine Versäumnis auf. Wichtiger als das frühzeitige pünktliche Aufstehen ist das Sichtbarwerden der heiligmäßigen Lebensweise des Abtes; eine Bestätigung dessen, was der König gleich bei der ersten Begegnung dem heiligen Manne aus dem Gesicht gelesen hatte. § 296. Nach der überraschenden und erbaulichen Morgenbegegnung begeben sich der König und A b t Gilles einträchtig zur Kapelle: Mult fu la messe halte et bele. Quant Ii abbes Gire a chanté, Devotement l'unt escuté Li chevaler et Ii barun K e iloc furent en virun; E quant le mestier fut fini, Gires l'abes se devesti. (vv. 2782-2788) Bei dieser Gelegenheit wird ersichtlich, daß Gilles irgend einmal in seinem Leben, vielleicht bei seiner Einsetzung zum Abt 5 4 9 , eher aber bereits beim Bischof von Arles, die Priesterweihe empfangen haben muß, da er nun plötzlich priesterliche Funktionen ausübt. Guillaume de Berneville sah sich bisher nicht veranlaßt, davon zu sprechen, und auch jetzt stellt er das Priestertum Gilles' unerklärt als Tatsache hin. Nicht zufällig jedoch erscheint gerade an diesem Punkte der Vie de saint

Gile

die priesterliche Vollmacht des Heiligen, denn nach beendeter Messe erfolgt endlich die Beichte Karls, auf die hin der ganze Einleitungsabschnitt gezielt hatte ( v v . 2 7 8 9 - 2 7 9 7 ) 5 5 0 . 549

550

Der mutmaßliche volkssprachliche Bearbeiter der lateinischen Vita, Jean Bethel, spürt den Mangel seiner Vorlage, die an keiner Stelle von der Priesterweihe Gilles' spricht und setzt sie eigenmächtig nach der Gründung des Zönobiums an: Après ce fu seinz Giles oredenez a prestres par la proiere de ses moines et de toz les hauz barons del reigné et mesmement de tot le pueple (E.-C. Jones, Saint Gilles, Appendix E, S. 145). Ein Beicht- und Bußgespräch zwischen einem Abt und einem sündenbeladenen König wurde zwischen 1188 und 1 1 8 9 im Zusammenhang mit dem in königlichem Auftrag erfolgten Mord an Thomas Becket (1170) verfaßt; vgl. R . B. C. Huygens, Dialogus inter regem Henricum secundum et Abbatem Bonevallis. Un écrit de Pierre de Blois réédité, R B L X X I I I (1958), S. 8 7 - 1 1 2 . Möglich, daß ein solches Beichtgespräch nicht unabhängig von der Vie de saint Gile innerhalb der lateinischen Dialogusliteratur entstand, möglich auch, bei späterem zeitlichem Ansatz für die Vie de saint Gile, daß der Dialogus Guillaume als Muster vorlag,

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§ 297- Karl der Große und Gilles bleiben in der Kapelle zurück. D a beginnt der König unvermittelt um Gnade zu rufen: L i reis Ii ad merci crié (v. 2 7 9 2 ; mit Variante, v. 2 7 9 6 : E tut tens ad crié merci), und anschließend bekennt er weinend seine Sünden 5 5 1 . Der A b t ist voller Rührung und Milde, wovon auch der lange Zuspruch durchdrungen ist ( v v . 2 7 9 9 - 2 8 2 3 ) . U m den sündigen König zu trösten, verweist Gilles auf die Apostel, welche schrecklich sündigten, obgleich sie T a g und Nacht in der N ä h e des Herrn lebten. Einzeln aufgeführt werden Judas, der den Herrn verriet, und Petrus, der ihn verleugnete. Sie stellen exemplarisch den geretteten und den verloren gegangenen Sünder dar: L'un est salve par sa creance, L'autre est péri par sa dutance. (vv. 2 8 1 1 - 2 8 1 2 ) Gilles erwähnt im Zusammenhang mit Judas und Petrus 552 das im Mittelalter beliebte Gegensatzpaar creance-dutance, welches Heil und Verdammnis bezeichnete, denn wer an seiner Rettung bei noch so großer Sündigkeit nicht zweifelte, der war immer schon gerettet. § 298. A u f der Basis des Gegensatzes von Vertrauen und Verzweiflung propagiert beispielsweise auch das Poème moral folgende Auffassung: Si poons nos avoir de Deu grande sperance, Car Ii hom, cant il at en Deu vraie creance, Del euer at fait ses ovres et en lui at fiance, Li anemis lo fuit et at de lui dotance. Nuls hons, qui soit al siecle, ne soit en desperance; Sais serat, s'il bien fait, s'il at droite creance. Mais, que plus est li siecle movans et en balance, Tant doit avoir li hons en soi plus grant fiance553.

551

552

553

vielleicht aber legten in beiden Fällen die damaligen jüngsten Ereignisse einen solchen Dialog zwischen Abt und König nahe. Zum hagiographischen Topos des Heiligen als geistlichem Ratgeber vgl. Ludwig Zoepf, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, S. 4 1 - 4 2 . Zu den Tränen als notwendigem Zeichen der aufrichtigen inneren Reue vgl. Paul Anciaux, La Théologie du Sacrement de Pénitence au XIIe siecle, Louvain/Gembloux 1949, S. 1760., besonders S. 184; auch Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale, Einleitungskapitel und häufig passim. Judas und Petrus illustrieren den Weg zum Heil und zum Verderben auch im Poème moral: Deu denoiat sainz Pierres, mais il s'en repentit; / Deu avoit il ameit, et, por, li consentit. / Mais mut mal definat Judas, qui se pendit; / Saveiz por coi ce fut? Car mal ot Deu servit (S. 73, 226, v v . 901-904). Die Zuversichtlichkeit, daß derjenige sicher gerettet ist, der vertraut, hofft, glaubt und bereut, wird am Typus der Bekehrungslegende (Gregorius, Thais &c.) ebenso demonstriert. Dazu vgl. vor allem die Studie von Erhard Dorn, Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters, besonders S. I49ff. und öfter passim. Le Poème moral, S. 28, 91, v v . 361-364 und S. 189, 6jo, v v . 2597-2600; vgl. auch ebda. S. 2 1 7 , 762, v v . 3045-3046.

31$

Henri d'Arci legt die Mahnung zur Hoffnung auf Sündenvergebung einem Engel in den Mund, der verkündet: E ce sacez: ja n'ait l'ume pechie tant, Ne ja ne seit sun pechie si horible grant, Que Deu ne receit chaut pas sa confession, Car il ne vint en terre si pur pechurs nun: Tel est Dampnedeu e tele est sa costume 554 . Darum gilt unumstößlich, was Petrus von Celle in einer prägnanten Formel faßt: Extremum omnium malorum est desperare 555 . § 299. Petrus, des >guten< Sünders Vorbild, geht in sich und weint bitterlich. Diese Zerknirschung erwirkte ihm Verzeihung. Daß Reuetränen Sündenvergebung bewirken, bestätigt gleichfalls das Poeme moral

ausdrücklich:

Grant pechiet fist sainz Pieres, cant il Deu denoia, Et bien savons de fi ke Deus Ii pardona; Bien avons oit dire c'amerement plora, Mais n'est ancor escrit s'altrement l'amenda 556 . Darauf folgen aufmunternde Trostworte, die für Gilles wie für Guillaume de Berneville charakteristisch sind: Pur 50 ne nus desesperum, Meis meintenant merci crium. Deus est funteine de pite, 554

Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 127, v v . 3831-3835. 555 Petrus von Celle, De conscientia, in der Textausgabe von Dom Jean Leclercq, La spiritualité de Pierre de Celle, S. 224, Z. 3-4. 558 Le Poème moral, S. 130,409, v v . 1 6 3 3 - 1 6 3 6 . Ebda. S. 1 3 1 , 4 1 3 , v v . 1649-1652, wo zusammenfassend über die Reue gesagt wird: Si cum j'ai de saint Pierre et del larron conté, / Dont Deus nos at exemple et grant confort doné, / Sen grant torment de cors sunt maint home salve, / K i furent en la vraie repentance trové. Zu den Abschnitten des Poème moral über die Beichte, welche manche Parallelen zum Gespräch König Karls mit Abt Gilles aufweist, vgl. Otto Müller, Theologisches zum altfranzösischen Poème moral, zum Exkurs über Buße und Beichte besonders S. 19-22, wo S. 19 festgestellt wird: »Gerade die Fragen, die die zeitgenössische Scholastik a u f w a r f , werden gestellt und beantwortet, oft in überraschend gleichartigem Gedankenfortschritt, ja manchmal mit nahezu wörtlichen Anklängen. Man hört bald Gratian, bald den Lombarden heraus, bald den pseudoaugustinischen Traktat De vera et falsa poenitentia, der im 1 1 . Jahrhundert entstanden sein muß und seither durch Gratians Dekret die kanonistische und durch Petrus Lombardus die scholastische Literatur stark beeinflußte.« Damit vulgarisiert das Poème moral, was in manchen zeitgenössischen und älteren Traktaten und in den Kirchenväterkommentaren zu Luk. X X I I , 62: Et egressus foras Petrus flevit amare, u. a., enthalten war. Vgl. dazu Paul Anciaux, La Théologie du Sacrement de Pénitence au XIIe siècle, S. 17 und Anm. 8, S. 35 und Anm. 1, S. 176 und Anm. 3, S. 184 und Anm. 3, S. 197 und Anm. 3, S. 207 und Anm. 1, S. 459 und Anm. 5.

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Pardurra vus vostre peche; Pur 50 vus pri del tut gehir, Merci crier e repentir. (vv. 2817-2822) Gilles fordert den König nach dieser stärkenden Rede auf, eine vollumfängliche confessio abzulegen, die das Bekenntnis aller, auch der jetzt noch hintangehaltenen Schuld umfasse 557 . § 300. In drastischer Gestik führte also der König, sobald er sich mit A b t Gilles allein in der Kapelle befand, die Intensität und Größe seiner Zerknirschung vor. In seinem Reueschmerz bekennt er -

wahrscheinlich ziemlich

wahllos - seine Sünden. A b t Gilles jedenfalls scheint diese confessio lediglich als ungenügendes Teilbekenntnis zu betrachten und gibt sich damit nicht zufrieden. E r fordert unbedingt das Bekenntnis aller Sünden 558 . Von da an verselbständigt sich das Beicht-Thema. Guillaume de Berneville setzt von jetzt ab ein Stück weit die Heiligenfigur als die Verlängerung seiner selbst ein. Durch sie stellt er seine bestimmte eigene Auffassung von der V e r gebung der Sünden dar. Selbstverständlich entwickelt der Kanoniker Guillaume keine Privattheorie über den Sündennachlaß; er schließt sich einer damals (vor der endgültigen Definition des Bußsakramentes) vertretbaren Richtung an. § 3 0 1 . Jetzt ist der Stand der Dinge so: Karl der Große hat aufrichtige Zerknirschung (contritio), welche die Grundbedingung des Sündennachlasses ist, 557

558

Zu der im 12. und 13. Jahrhundert immer deutlicher erklärten Notwendigkeit des Bekenntnisses der Sünden vor dem Priester, der den Umfang der Schuld kennen mußte, um die entsprechende Satisfaktion zu bestimmen, vgl. A . Teetaert, La confession aux laïques dans l'Eglise latine depuis le VIIIe jusqu'au XIVe siècle, Wetteren/Louvain/Paris 1926, S. 236: »De l'exposé de la doctrine des théologiens et canonistes de cette époque se dégage une conclusion certaine: tous les docteurs, du X I I e et du début du X I I I e siècle, sans excepter Gratien, tout en enseignant que le pardon est accordé en vertu de la contrition, ont considéré la confession comme obligatoire pour la rémission des péchés.« Und ebda. S. 240 ergänzend: » [ . . . ] l'aveu est nécessaire parce qu'il constitue le signe extérieur de la contrition et même parce qu'il est une partie intégrante de la contrition.« Zur Verpflichtung des Sündenbekenntnisses in der Beichte vgl. auch Paul Anciaux, La Théologie du Sacrement de Pénitence au XIIe siècle, besonders S. 36. E.-C. Jones, Saint Gilles, S. 44, meint lediglich: » [ . . . ] Une grande question de doctrine commençait en effet à préoccuper l'Eglise: celle de la confession obligatoire [ . . . ] . « Nach Dieter Hoster, Die Form der frühesten lateinischen Heiligenviten von der Vita Cypriani bis zur Vita Ambrosii und ihr Heiligenideal, S. 134, wäre Gilles mit nur leichter Modifikation analog zu Ambrosius in die Reihe derjenigen Heiligen zu stellen, welche in der Rolle der alttestamentlidien Propheten den Königen ihre Sünden vorhalten. Der Eremit Paphnutius betont im Beichtgespräch mit der Sünderin Thaïs die Notwendigkeit der Reue, und zwar einer Reue, die unbedingt alle Sünden einschließt und sie auch bekennt; vgl. Le Poème moral, S. 73-74, 227fr.

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gezeigt559. Er hat sie sogar im Bekenntnis (confessio) erhärtet und in ihrer Echtheit ausgewiesen560. Im weiteren Verlauf des Beichtgespräches ergibt sich jedoch eine Komplikation, die sich theoretisch in der Frage fassen läßt, ob die Forderung des vollständigen Bekenntnisses keine Ausnahmefälle kennt und zulassen darf. Gilles, wohl überzeugt, daß an der Forderung des Bekenntnisses nicht zu rütteln sei, pocht auf Vollständigkeit. Der König dagegen gesteht nur, daß er etwas begangen habe, das er niemals einem Menschen sagen werde (vv. 2824-2839). Er werde diese Verfehlung auch nie bekennen, wenn er deswegen ewig verdammt sein sollte. Diese Weigerung des Königs ist gewagt, ebenso sein Ansinnen an den Abt: Pur D e u amur merci vus cri, K a r depreez vostre seignur K e il pur la sue dulçur Me face, si lui pleist, pardun. ( v v . 2836—2839)

Diese Bitte des Königs verweist auf eine weitere Seite des Beichtproblems. § 302. Karl der Große glaubt, Gilles könne durch seine Fürbitte Verzeihung für die geoffenbarten und die geheimgehaltenen Sünden erwirken. Abt Gilles jedoch beschränkt sich darauf, ihm für die bekannten Sünden die deprekative Absolution zu erteilen 561 : [. . .] » N u s en preierum: Deus, si lui pleist, en eit merci! D e ço ke vus avez gehi Penitance vus en durrum, K e ke en venget e quei nun.« ( v v . 2 8 4 0 - 2 8 4 4 )

Mit diesem Ablaß und Vergebung bewirkenden Fürbittgebet Gilles' und der Auferlegung der Buße für die gebeichteten Sünden endet diese erste Szene des Beichtabschnittes : Abt Gilles und der König verlassen nach geraumer Zeit die Kapelle und steigen die Treppe gegen den Palast hinauf. 559

Die Sündenvergebung ist nach der Lehre des 1 2 . Jahrhunderts hauptsächlich eine Folge der contritio; nach Abaelard und den von ihm beeinflußten Nachfolgern ist die contritio überhaupt das Entscheidende; v g l . dazu A . Teetaert, La confession aux laïques dans l'Eglise latine depuis le VIIIe jusqu'au XIVe siècle, S . 8 8 - 8 9 ; und Marie-Dominique Chenu O . P., L'éveil de la conscience dans la civilisation médiévale, Montréal/Paris 1 9 6 9 ( = Conférence A l b e r t - l e - G r a n d , 1968), S. 2 3 - 2 4 . 560 £>; e sündenvergebende K r a f t hat die contritio, die sich aber nicht anders denn in der confessio ausweisen kann. 581 V g l . A . Teetaert, La confession aux laïques dans l'Eglise latine depuis le VIIIe jusqu'au XIVe siècle, S. 9 3 - 9 4 : »De plus, les formules d'absolution étaient généralement déprécatives [bis zum 1 2 . Jahrhundert] ; le prêtre se contentait d'implorer de Dieu la rémission des péchés. A l o r s même que la formule indicative était déjà généralement introduite, on faisait toujours précéder d'une prière adressée à Dieu par le prêtre, en vue d'obtenir le pardon, et on attribuait une plus grande valeur à la formule déprécative qu'à la formule indicative.« 318

Die Frage nach der absoluten Notwendigkeit eines Bekenntnisses jeglicher Sünde bleibt pendent. § 303. Die ausgedehnte Beschreibung des festlichen Lebens im Palast, das einträchtige Mahlhalten von König und Abt am Haupttische der Tafel, all dies wirkt wie eine Verherrlichung der beiden vereinten Machtbereiche, des weltlichen und des geistlichen (vv. 2847-2864). Nach der Mahlzeit freilich bleiben die unterschiedlichen Machthaber allein zurück, und sofort wird die Erzählung wiederum auf das Beichtproblem zurückgelenkt. Es bestimmt noch über viele Verse hin den Dialog und den szenischen Ablauf der Vie de saint Gile, denn der König - nach seinem Belieben auf einer bereits veralteten Beichtlehre beharrend - besteht darauf, eine bestimmte schwerwiegende Sünde nicht zu bekennen (vv. 2840-2876). Vergebung wünscht der König aber trotzdem zu erlangen. Gilles schreibt den Widerstand des Königs teuflischer Gewalt zu; dennoch ermuntert er ihn abermals zu einem Bekenntnis, das er für die Vergebung anscheinend als unumgänglich erachtet. §304. Abt Gilles betrachtet die hartnäckige Weigerung des Königs als Zeichen eines verderblichen Hochmutes. Er verlangt die Verdemütigung des Herzens, die heilsame confusio 562 , um so mehr, da König Karl einstmals nicht aus eigener Kraft den Sieg über die Sarazenen errungen habe, sondern allein durch die Hilfe Gottes. Die eindringliche Mahnrede des Heiligen bleibt erfolglos. Trotzdem beharrt Gilles auf der Forderung eines Geständnisses: L i abes sujurne od le rei Vint jurz e plus, si cum jo crei; E si ad tut tens deprié Ke il gehisse sun péché, (vv. 2 8 9 9 - 2 9 0 2 )

Aber nicht einmal die heraufbeschworene Todesfurcht bewegt den König zu einem Bekenntnis. § 3 0 5 . Ein Mirakel markiert zeitlich eine Etappe in der langwierigen Beichtgeschichte. 502

Gilles zieht sozusagen ein neues Register: er erinnert den König an die allgemein anerkannte Ansicht, daß gerade die Verwirrung und Schande beim Bekenntnis Gnade erwirke und sündentilgend sei. Mit der Lehre von der notwendigen confusio operiert audi Le Poème moral, S. 64, 202. Zur sühnenden confusio in der Beichtlehre des 1 2 . und beginnenden 1 3 . Jahrhun-

derts vgl. A. Teetaert, La confession aux laïques dans l'Eglise latine depuis le VIIIe

jusqu'au XIVe siècle, S. 239, auch ebda. S. 1 0 0 - 1 0 1 und S. 2 4 0 - 2 4 1 . Z u r V e r knüpfung von confusio und Sündenvergebung in der mittelalterlichen Beiditpraxis, wie sie sich aus dem Zeugnis der Profandichtung erschließen läßt, vgl. vor

allem Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française

médiévale, an den im Index unter den Stichwörtern A v e u , Honte und Humiliation verzeichneten Stellen, besonders S. i^6ff. Gilles besteht gleichfalls auf dem Zusammenwirken von confusio und Bekenntnis.

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Am ersten Sonntag nach der unvollständigen Beichte ereignet sich in der Kirche vom Heiligen Kreuz in Orleans ein großartiges Wunder (vv. 290 j bis 2960). Es illustriert die Macht des Teufels, von der Gilles zu König Karl sprach; es manifestiert gleichzeitig die Überlegenheit und Unanfechtbarkeit, kurz, die Heiligkeit Gilles': Satan muß vor ihm weichen. Die Szene der Teufelsaustreibung beginnt mit dem Einzug Gilles' in die Kirche. Ein Besessener verwehrt dem Heiligen den Eintritt ins Gotteshaus: Enz el muster, juste l'entrée Ot un diaitif crier e braire, Lié a un piler, dol faire, (vv. 2 9 1 2 - 2 9 1 4 )

Gilles erfährt im Gespräch mit dem Kranken, das nur in seinem Ergebnis zusammenfassend mitgeteilt wird, daß kein Exorzismus ihn zu heilen vermöge. Wiederum ergreift Gilles beim Anblick des Elends Mitleid: Gires le vit, si out pité: Nostre seignur ad depreie Ke il eust de lui merci, (vv. 2 9 2 1 - 2 9 2 3 )

Das dem Wunder vorangehende Erbarmen des Heiligen verbindet das nun zu berichtende Mirakel mit sämtlichen früheren Wundertaten Gilles'. § 306. Nach der stillen Fürbitte des Heiligen setzt der Erzähler neu ein: Ore escutez de l'enemi (v. 2924). Was darauf folgt, ist deutlich dem Evangelienbericht nachgestaltet, in dem Jesus durch den Mund des Besessenen vom Teufel apostrophiert wird : Et in synagoga erat homo habens daemonium immundum, et exclamavit voce magna, dicens: Sine, quid nobis et tibi, Jesus Nazarene? venisti perdere nos? scio te quis sis, Sanctus Dei. Et increpavit illum Jesus, dicens: Obmutesce, et exi ab eo. Et cum projecisset illum daîmonium in medium, exiit ab illo, nihilque illum nocuit (Luk. I V , 3 3 - 3 6 ) .

Und: Et curavit multos, qui vexabantur variis languoribus, et daemonia multa ejiciebat, et non sinebat ea loqui, quoniam sciebant eum (Marc. I, 34).

Bei der Teufelsaustreibung steht Gilles besonders ausdrücklich in analogischem Bezug zum Sohn Gottes selbst. Er ist, wenn auch in abgeleitetem Sinne, Sanctus Dei. Volkssprachlich bietet das Poème moral eine genaue Parallele zur Vie de saint Gile: Sainz Gregoires lo dist, qu'il [Ii anemis] n'ose a lui venir, Quar, puis qu'il voit en l'omme manoir lo Saint Espir, Com(e)ment l'oseroit donkes li culvers asalir? L a u li sainz hom est, lors l'en covient fuir 5 6 3 . 563

Le Poème moral, S. 28, 92, vv. 265-268. 320

§ 307. Guillaume de Berneville gibt das ausführliche Protokoll der Teufelsaustreibung. Nach dem einleitenden, indirekt wiedergegebenen Gespräch mit dem Besessenen am Eingang der Kirche erreicht die Szene ihren Höhepunkt mit dem Eintritt des Heiligen in das Gotteshaus, denn dagegen wehrt sich der Dämon vehement 564 : Dès ke il sout Gire el muster, Il crie e brait cum ad verser: »Gire, kar me leisses ester; Vens tu ici pur mei rober? Par dreite force e par tolage Me jetes de mun herbergage.« (vv. 2925-2930) Darüber hinaus verwünscht der Dämon den machtvollen Heiligen und den, der ihn sandte; dann bittet er kleinmütig um Unterbrechung des Gebetes, damit er entweichen könne 565 . E r verspricht, nie mehr gegen Gilles anzugehen ( v v . 2 9 3 1 - 2 9 3 8 ) . § 3 0 8 . Entsetztes Erstaunen -

wie im biblischen Bericht, Luk. I V , 3 6 : E t

factus est pavor in omnibus, et colloquebantur ad invicem [ . . . ] — erfaßt die Zeugen des unheimlichen Vorfalles: Tut Ii poples fud esbai De la parole a l'enemi. (vv. 2939-2940) Hier hat das Erschrecken seinen Grund allerdings in den Worten Satans. Der Heilige aber begegnet dem Bösen furchtlos: Gires entent de lui la voiz, Seigne sei de la sainte croiz, Cele part veit sun petit pas. (vv. 2943-2945) 564

565

Eine solche Ansprache des Heiligen durch den Teufel findet sich in der Hagiographie häufig. So berichtet beispielsweise die Vita beati Bernardi jundatoris de Tironio in Gallia, P L C L X X V , 1375 A : [. . .] qui dum quadam die per eremi vastitatem incederei [Garnerius, der eremitisch lebende Mönch], quemdam hominem a demone arreptum conspexit, cujus miseria: compatiens, virtutem Jesu Christi precibus advocans, daemonem quo tenebatur expulit hominemque incolumen remisit. In der Brendanslegende spricht der bedrohte Teufel ebenfalls zum Heiligen: Cheles, Brandan, par quel raisun / Gettes mei fors de ma maisun? (The AngloNorman Voyage of St. Brendan by Benedeit, S. 20, v v . 343-344). Während etwa in der Vita Antonii (Versio Sahidica, S. 30, 48) die Dämonenaustreibung zur Apologie des christlichen Glaubens eingesetzt wird, bestätigt sie in der Vie de saint Gilè, wie in den meisten Heiligenviten, die Heiligkeit des Protagonisten. So kleinmütig sind die Dämonen auch in der Ambrosiusvita; vgl. Vita e meriti di S. Ambrogio. Testo inedito del secolo nono illustrato con le miniature del salterio di Arnolfo, a cura di Angelo Paredi, Milano 1964 ( = F A , X X X V I I ) , S. 1 1 3 - 1 4 , wo die Dämonen in Gegenwart des Heiligen heulen wie Schuldige vor dem Richter; ebda. S. 138 fühlen sie sich durch die Anwesenheit des toten Ambrosius so gequält wie einst vom lebenden.

321

Die mächtige, kühne Anrede Gilles', ein strikter Befehl zu weichen, genügt zur Heilung des Besessenen (vv. 2946-29 5 2) 566 . Wie schon oft, jetzt aber gesteigert, löst das Mirakel eine begeisterte Verehrung des Heiligen aus: Tut eil ki cet miracle virent As pez del saint home chairent. (vv. 2 9 5 3 - 2 9 5 4 )

Wie gewohnt entzieht sich der Heilige sofort der Verehrung; aber die über dreitausend Glocken der Stadt sorgen diesmal unbarmherzig für Publizität, indem sie allesamt zu läuten beginnen. Von weither strömt das Volk zusammen, um Gilles bittend anzugehen (vv. 2955-2960). § 309. Die stattgehabte Begegnung mit dem im Besessenen verkörperten Bösen ließ die Heiligkeit Gilles' in neuem, gesteigertem Glänze erscheinen: sogar Satan mußte weichen, die Macht des Bösen gab klein bei. Damit hat sich die Gebetskraft des Heiligen in ihrer höchsten Wirksamkeit erwiesen: sie ist noch in dem Bereich, da der Erzfeind waltet, durchschlagend und unbezwinglich. Der Fortgang der Beichtgeschichte, die durch das blendende Wunder ja nur unterbrochen ist, rechtfertigt erst recht diesen imposanten und effektvollen Einschub. Gilles erscheint von jetzt ab deutlich als Erlöserfigur und Gegenpart zum Satansreich. Hinterher wird aus dem Folgenden ersichtlich werden, warum eine solche Steigerung und Erhöhung der Person des Heiligen angezeigt war. § 3 1 0 . Nahtlos geht die bewegte Mirakelerzählung in den nächsten Abschnitt, eine noch wunderbarere Mirakelgeschichte, über. Gilles entkommt nach der Dämonenaustreibung der stürmischen Verehrung durch die anwesende Menge nur, indem er ihr durch die Sakristeitüre eilends entschlüpft. Er zieht sich endlich für den zu haltenden Gottesdienst um. Die Würdigung des Heiligen - und durch ihn vermittelt auch diejenige des Königs - steigt im Höchstmaß und findet ihren Ausdruck in der luxuriösen Aufwendigkeit des nun in Gegenwart des Königs anhebenden Gottesdienstes (vv. 2959-2971). Fast ebenso wie der wundertätige Heilige wird die königliche Erscheinung zelebriert, so daß sich an dieser Stelle der Vie de saint Gile Ehre und Ruhm der weltlichen und geistlichen Macht einzigartig überblenden und sich gegenseitig steigern. In solcher Konstellation ereignet sich ein weiteres, ein unerhörtes Mirakel, zu welchem die Dämonenaustreibung lediglich den Auftakt bildete. Vorbereitend berichtet Guillaume de Berneville über Abt Gilles: 566

Dom Jean Leclercq, Etudes sur le vocabulaire monastique du moyen âge, S. 125, bezieht die Teufelsaustreibung auch auf die Heiligkeit des Exorzisten, weni) er schreibt: »L'activité qui symbolise le mieux, dans l'hagiographie, ce rayonnement de la liberté intérieure, est celle qui consiste à liberer les prisonniers ou même les possédés.«

322

Mult acceptable sacrefise A d feit a Deu en icel jur. K a r oez cum nostre seignur Est pleins de grant humilité: A sun serf ad le jur mustré Mut bel miracle e grant vertu, (vv. 2970-2975) Nicht ohne Grund wird beim bevorstehenden Mirakel von der Herablassung, Verdemütigung und H u l d Gottes gesprochen; es wird ein spezieller Gnadenerweis vorerst für den A b t und König sein, wohl wert, daß man die ganze Aufmerksamkeit auf ihn lenke, wie es die erneute, formelhafte Anrede an das Publikum verlangt. § 3 1 1 . Das jetzt zu berichtende, in jeder Beziehung >übernatürliche< Geschehen vollzieht sich während der Sekret, da A b t Gilles in feierlichem Gottesdienst die konsekrierte Hostie in seinen Händen hält und sie in persönlichem Gebet anspricht (vv. 2 7 7 6 - 3 0 1 j ) 5 6 7 . Das Wunder erfüllt also den an sich schon geheimnisvollen Raum der Meßfeier. U n d es fällt in die Zeitspanne, da sowieso Unbegreifliches vor sich geht. In dem Gebet nach der Konsekration gedenkt Gilles nun König Karls. Nach einer langen, gebetshaften und lobenden Würdigung des gegenwärtigen M y 5,7

Die hier gebrauchte Bezeichnung »segrei« (v. 2676 und 3019) umfaßt wohl beides, die eigentliche, heute noch so genannte Sekret und den Kanon. Der gesamte Kontext (v. 1976IÎ.) legt nahe, das Wunder ereigne sich gleich nach der Konsekration der Hostie, wie es übrigens auch die Darstellung auf dem Bildfenster in Chartres zeigt; vgl. dazu auch weiter unten Anm. 569. Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Zweiter Band, Wien/Freiburg/Basel ' 1 9 6 2 , S. 1 1 3 ff., weist nach, daß das Leisesprechen zuerst der secreta (vom Leisesprechen der Name!), dann aber audi des Kanons, sowie das Zusammenfassen der Sekret und des Kanons, nidit im Umkreis der römischen Liturgie, sondern im Norden, also im Gebiet der gallisch-fränkischen Liturgie sich einbürgerte : » [ . . . ] Es waren dies Umbildungsversuche, die zusammengehören mit einer auf fränkischem Boden sdion früh sich vorbereitenden Auffassung des Kanons, derzufolge dieser eben mit der Secreta seinen Anfang nimmt, ja als Ganzes eine einzige secreta darstellt« (ebda. S. 1 1 7 ) . Eine Schwierigkeit bereitet folgende von Jungmann gemachte Feststellung: »Der Kanon, und dieser mehr und mehr verstanden vom ganzen Ablauf von der Secreta angefangen, wurde zum geheiligten Konsekrationstext, der so, wie er lag, objektiv gegeben und getreulich zu vollziehen war, der aber nicht dazu bestimmt schien, e i g e n e n G e b e t s g e d a n k e n und Gebetsanliegen Ausdruck zu verleihen« (ebda. S. 122). Jungmann setzt zwar eine Entwicklungsstufe an, während der innerhalb des Sekret und Kanon umfassenden Messeteils eigene Anliegen zur Geltung gebracht werden durften, jedoch »im Anschluß an die Bereitlegung der Gaben«, »das Darbringen geschieht sofort >für< bestimmte Anliegen [ . . . ] « (ebda. S. 122). Der Umstand aber, wonach Gilles beim Sprechen des fürbittenden Gebetes »le cors nostre seignur« (v. 2977) in Händen hält und in dem Fürbittgebet selbst die Eucharistie erklärende Wendungen gebraucht (vgl. v v . 2987-2990 u. a.), spricht dafür, daß das Mirakel in der Folge der Konsekration gesehen wird. Guillaume de Berneville scheint das Gebet ohne Rücksicht auf den offiziellen liturgischen Brauch an dieser Stelle eingefügt zu haben.

323

steriums geht Gilles - gewiß auch in didaktischer Absicht - zu einem Glaubensbekenntnis über, um knapp anschließend auf die Gnadenbedürftigkeit, aber auch auf die Verdienste Karls des Großen zu sprechen zu kommen. § 3 1 2 . Karls Verdienst ist sein Kampf »Pur eshaucer crestienté« (v. 3008), wie es Guillaume de Berneville in Erinnerung an das Rolandslied

und im

Anklang an andere altfranzösische Heldenepik formuliert 568 . Die Gnadenbedürftigkeit hingegen hat ihren speziellen Grund in der von Karl hartnäckig verschwiegenen Sünde. Gilles betet diesbezüglich: Ne regarder a sa folie, Jesu le filz sainte Marie: Conseillez mei quei jo ferai, Quel penitance lui durrai, Quant il ne volt le feit gehir; Meis, s'il te pleist, nel deis suffrir Ke diable ait de lui saisine, (vv. 3009-3015) Auch hier, wie beim vorigen Mirakel, geht es um die Einschränkung des satanischen Machtbereiches. Im übrigen sieht Gilles in diesem Gebet die verschwiegene Sünde Karls unter dem Aspekt der Buße: ohne Kenntnis der Sünde kann er das Maß der Satisfaktion und Pönitenz nicht feststellen. Im ersten Beichtgespräch ging es noch um die Frage von Heil oder Verderben; das Gespräch kreiste um die Heilsnotwendigkeit des Geständnisses569. Guillaume de Berne588

569

Die Formel »Pur eshaucer crestienté« hat ihre eigene interessante Geschichte, die nachzulesen ist bei Ernst Robert Curtius, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern und München 1960, S. 102-4. Es wird dort auf die Gesta Francorum und auf einen Brief Bohemunds von 1098 verwiesen. Volkssprachlich, d. h. altfranzösisdi, findet sie sidi dreimal im Wilhelmslied, »im Umkreis der älteren Epik findet sich die Formel u. a. im Aliscans (Hallenser Ausgabe) Vers 1029 11 und im Charroi de Nîmes Vers 12« (ebda. S. 103), nicht aber im Rolandslied. So bezeugt die Vie de saint Gile, daß dieses Stück aus dem epischen Formelschatz durch die »lateinische Publizistik des ersten Kreuzzugs« (ebda. S. 103) nicht nur in die Heldenepik, sondern auch in die Legendendiditung aufgenommen wurde. Die Belege der Chançun de Willame, S. 43, v. 1376: Pur eshalcer la sainte crestienté; S. 46, v. 1489: Ne pur eshalcer sainte crestienté; S. 49, v. 1602: Pur eshalcer sainte crestienté. Vgl. auch La Chançun de Guillelme, S. 59, C X L I V , vv. 1489-92: Nen out tel femme [außer Guiburc] en la crestienté / pur sun seignur servir e honorer, / pur eshalcier sainte crestienté / ne pur la lei maintenir e guarder. Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le conte du Graal, S. 244, vv. 8301-8303: Grant joie, dame, vos doinst cil / Qui en terre tramist son fil / Por essalchier crestienté, läßt Gott die Stelle des epischen Helden einnehmen. Die Festsetzung der geeigneten Buße wird als Begründung des notwendigen Geständnisses von jeher beigezogen; vgl. dazu A. Teetaert, La confession aux laïiques dans l'Eglise latine depuis le VIIIe jusqu'au XIVe siècle, S. 239, wo ausgeführt wird: »Toutefois les théologiens ne se sont point arrêtés à des raisons d'ordre scripturaires et patristiques pour justifier l'obligation de la confession, mais ils se sont efforcés de trouver et de développer également des raisons d'ordre théologique et pratique. Pour presque tous, la confession est nécessaire parce 324

ville betrachtet also K a r l s Beichtproblem nicht durchgehend aus demselben Gesichtswinkel. E r versucht, ihm von verschiedenen Seiten aus beizukommen, bis das Mirakel die Schwierigkeit in völlig unerwarteter Weise aufhebt. § 3 1 3 . Anders als Gilles es erwarten konnte, schenkt ihm G o t t Erhörung: Nostre seignur l'ad esculté, K i del conseill ad bien pensé: A l secrei u Ii abbes f u Est un angele a lui descendu, En sa main porte un bref petit, Meis unkes hom mortel nel vit, Fors li abbes ki dignes f u d : Il l'a apertement veud. (vv. 3 0 1 7 - 3 0 2 4 ) D a s übliche Schema, wonach dem Eintritt des Wunders ein Gebet vorangeht, w i r d auch in diesem Falle gewahrt, und doch ist der eben geschilderte geheimnisvolle V o r g a n g nicht irgend ein Mirakel. Schon seine Plazierung innerhalb der Meßfeier, und dort sogar an bevorzugter Stelle 5 7 0 — es wurde bereits darauf hingewiesen - , hebt dieses Mirakel aus der Serie der übrigen Wundertaten heraus. D i e A n k n ü p f u n g an den liturgischen T e x t selbst, w o der vermittelnde Dienst eines Engels von G o t t erbittet wird, verleiht dem neuen Mirakel eine zusätzliche W ü r d e 5 7 1 . que, grâce à elle, les prêtres peuvent imposer une satisfaction proportionnée aux péchés et requise pour le pardon.« Vgl. auch weiter oben Anm. 554. Die strikte Forderung des Geständnisses findet sich auch in volkssprachlicher Literatur, mit der Begründung, das Heilmittel könne nur bei richtiger Kenntnis der Wunde bestimmt werden. Vgl. beispielsweise Le Poème moral, S. 59, 190, v. 759, w o die Sünderin den Einsiedler Paphnutius fragt, ob Sünde auch ohne Beichte vergeben werden könne. Der heilige Mann antwortet: Li hom qui vult mercit envers Deu recovreir, / Il ne doit nés un sol de ses f o r f a i z celeir; / J a tant qu'il ne volrat ce ke lui nuist mostrer, / N e porat mercit ja ne mecine troveir (ebda. S. 6 0 , 1 9 2 , v v . 765-768). Wie schlimm die Wunde auch sei: overtement la die (ebda. S. 6 1 , 193, v. 772). 570

571

Die Stelle der Messefeier scheint als exponiert und f ü r den Einbruch überweltlicher Geschehnisse besonders geeignet betrachtet worden zu sein. Auch der heilige Romuald etwa wird an der selben Stelle, während des Kanons oder der zweiten Sekret, in den Himmel entrückt und bekommt dort den Befehl, die Psalmen schriftlich zu erklären, obschon er illiteratus war. Man glaubte offenbar auch in der Vita sancti Romualdi, Kapitel 50, S. 1 1 6 - 1 7 , den Himmel während des K a nons ebenfalls besonders nahe. Noch heute wird nach vorkonziliarer römischer Liturgie im dritten Abschnitt des Kanons nach der Konsekration gebetet: Supplices te rogamus, omnipotens Deus: jube hxc perferri per manus sancti Angeli tui in sublime altare tuum, in conspectu divinse majestatis t u « : ut, [ . . . ] , omni benedictione aelesti et gratia repleamur. Dieser Meßtext geht auf die Zeit um 380 zurück und ihm widerfuhr von den mittelalterlichen Erklärern besondere Beachtung. »Das hing zumeist mit der unvollkommenen Sakramententheologie jener Zeit zusammen. Remigius von Auxerre hält nach der Vergegenwärtigung von Christi Leib und Blut in den Einsetzungsworten noch einen zweiten A k t f ü r nötig, mit dem der nun jeweils an 3*5

Freilich gewinnt das Mirakel durch den Ort, an dem es sich ereignet, eine erhöhte, ja eine maximale Glaubwürdigkeit. Das Wunder des Engels und des Himmelsbriefes ist z w a r nur dem würdigen Heiligen sichtbar. Die Umstehenden nehmen höchstens die Lichterscheinung wahr: Ilokes u l'angele descent Tute la diapele resplent. (vv. 3025-3026) Trotz dem Spektakulären der außerordentlichen Lichterscheinung geht das Wunder in geheimnisvoller Stille vor sich, die sich nicht nur der Heilige, sondern auch der gewöhnliche Gläubige von Engeln bevölkert vorstellte, und die zur Gewinnung

der >Messefrüchte< für besonders geeignet

gehalten

wurde 5 7 2 . § 3 1 4 . Der Engel tut sein Werk lautlos, und auch A b t Gilles läßt vom Geschehenen nichts durchblicken und sich nichts anmerken (vv. 3 0 2 5 - 3 0 3 2 ) : verschiedenen Orten gegenwärtige sakramentale Herrenleib mit dem erhöhten Herrenleib zur Einheit verbunden wird. Dieser Vorgang würde erbeten und vollzogen im Supplices. In anderer Weise sieht um 1 1 6 5 der Zisterzienserabt Isaak von Stella erst im Supplices unser Opfer: auf einer ersten Stufe, die dem Brandopferaltar des alten Tempels entspricht, haben wir zerknirsditen Herzens Brot und Wein dargebracht als Sinnbild des eigenen Lebens; auf der zweiten, die mit dem goldenen Rauchopferaltar verglichen wird, haben wir Leib und Blut des Herrn geopfert; auf der dritten, die dem Allerheiligsten entspricht, wird unser Opfer durch Engelshände mit dem verherrlichten Christus im Himmel vereinigt und so vollendet« (Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia, Band II, S. 289). Das Mirakel ereignet sich demnach in der Vie de saint Gile an dem Punkte der Meßfeier und an der Stelle des Kanons, da die Handlung ihren Höhepunkt erreicht. Vgl. auch Ute Schwab, Hans Zukunft - Der Priester und die Messe, Annali dell'Istituto Orientale di Napoli, Sezione Germanica, V (1962), S. 128-29, w o Belegstellen aus Bernhards Instructio sacerdotis (PL C L X X X I V , 7 7 i f f . ) und aus Freidanks Bescheidenheit (14, 16 Sandvoss) für den Glauben an die Gegenwart der Engel bei der Meßfeier angeführt und ebda. S. 129 ergänzt werden. Als maßgebliche Basistexte wird auf Ps. C X X X V I I verwiesen: In conspectu Angelorum psallam tibi; weiter auf die Dialogi Gregors des Großen (IV, 58, in: P L L X X V I I , 425): Quis enim fidelium dubium habere possit, in ipsa imolationis hora ad sacerdotis vocem coelos aperiri, in illo Jesu Christi mysterio angelorum (horos adesse 572

Es ist im Zusammenhang mit dieser Stelle der Vie de saint Gile wohl zu bedenken, daß im Mittelalter - vor allem allerdings erst im Spätmittelalter - der Gedanke, daß die Feier der Messe Sündenvergebung bewirke, weit verbreitet war. Vgl. dazu Ute Schwab, Hans Zukunft - Der Priester und die Messe, S. 1 3 1 - 3 2 , wo die spätmittelalterlichen Belege auf Formulierungen Augustins (»[.. .] daß die Messe lebendigen und toten Sündern nützlich sei«, ebda. S. 132) und hauptsächlich auf eine Stelle in Gregors des Großen Dialogi (IV, 58, in: P L L X X V I I , 42$) zurückgeführt werden. Die Aussage Gregors: Ha;c singulariter victima ab sterno interitu animam salvat [ . . . ] , wird in einer Handschrift durdi einen Eintrag folgendermaßen verdeutlicht: Gregorius de sacramento altaris: O quantum donum, quam mirificum bonum, quia nunquam celebrantur divina mysteria, uel ibi occurrantur duo virtuosa opera, videlicet unius peccatoris conuersio siue unius anime a penis liberacio (ebda. S. 132). 326

La messe chante léement, K a r mut est lez de cel present K e li angles lui out porté, (vv. 3033-3035) Mit der Überbringung dieses Himmelsbriefes ist die entscheidende Wendung in Karls Beichtgeschichte eingetreten 573 . Die Konsequenzen jedoch bleiben vorerst noch verhüllt. § 3 1 5 . Erst nach dem Gottesdienst liest A b t Gilles den wunderbaren Brief unbemerkt; dreimal liest er ihn von A n f a n g bis Ende durch (vv. 3 0 3 6 bis 3039) 5 7 4 . Dann endlich gibt Guillaume de Berneville den Inhalt der himm573

574

Die Szene wurde in dem gegen 1200 ( 1 2 1 5 - 1 2 4 0 nach Angabe von Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale, S. 136 Anm. 96) gestifteten, Karl dem Großen gewidmeten Bildfenster der Kathedrale von Chartres im letzten, der Anordnung nach obersten Bildfeld dargestellt. Der Engel bringt da während der Meßfeier die Karl den Großen betreffende Botschaft Gilles auf den Altar. Das Bildfenster ist abgebildet bei Joseph Bédier & Paul H a zard, Histoire de la littérature française illustrée, Tome premier, Tafel I. Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst, Von Hiltgart L. Keller, Stuttgart 1968 ( = UB N r . 10154 bis 10160), S. 19-20 (Aegidius), gibt S. 20 den Hinweis auf die Darstellung des Engels, der den Himmelsbrief bringt, wie sie sich am Karlsschrein in Aachen ( 1 2 1 5 ) und auf einer Nürnberger Altartafel aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Germ. Nat.-Museum, Meister der Pallant-Altäre) findet. Vgl. auch Achille Jubinal, Nouveau recueil de Contes, Dits, Fabliaux [...] des XIIIe, XIVe et XVe siècles, Paris 1839, S. 266-82: Le Dit des trois Chanoines, in dem (S. 271) der Papst beim Messesingen, ebenfalls während der Sekret, erfährt, was für eine Buße er seinem Pönitenten auferlegen soll. Es ist auch da ein Engel, der die Botschaft in einem Brief übermittelt. Jean-Charles Payen, Le motif du repentir dans la littérature française médiévale, S. 1 3 3 , meint zur Beichte Karls des Großen und zum wunderbaren Brief: »Cette légende, qui utilise le thème, assez fréquent dans l'hagiographie, de la révélation miraculeuse d'un crime inavouable [dazu weitere Beispiele ebda. Anm. 38], exprime évidemment une conception de la pénitence où le confesseur est tenu, pour accorder l'absolution, de connaître le péché commis, sans qu'il soit nécessaire pour le pénitent d'en faire l'aveu. Que l'Eglise ait jamais admis officiellement semblable doctrine est fort douteux; mais, ce qui est indiscutable, c'est que les théologiens, à partir du X I I e siècle, insistent sur la valeur de l'aveu, qui est mortification méritoire.« Dieses Urteil darf nicht als abschließend gelten, da es offensichtlich auf einer flüchtigen Lektüre beruht und erheblicher Differenzierung bedarf. Zur Geschichte der Sündenvergebung Karls des Großen und ihrer Einordnung in die hagiographisdie Topik vgl. Peter Toldo, Leben und Wunder der Heiligen im Mittelalter. VI: Himmlische Visionen, S v L IV (1904), S. 7 0 - 7 1 . Le Poème moral, S. 62, 196, vv. 781-84, spricht dem schriftlichen Sündenbekenntnis die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit ab: Tot ce doit regehir, s'il se vult délivrer. / Se, de quant qu'il at fait, soi vult bien délivrer, / Par message nel doit ne par escrit mostrer, / Mais trestot boche a boche li covient deviser. Vgl. auch Le pécheur et la pénitence au moyen-âge, Textes choisis, traduits et présentés par Cyrille Vogel, Paris 1969 ( = Collection >Chrétiens de tous les tempsAd liminaEpitometoz vos amis en alastes jeter< vgl. auch Edmond-René Labande, Le >credo< épique, S. 67 Anm. 3 und S.77 und Anm. 5. Leider stand mir die Studie von Antoinette Saly, Le thème de la descente aux enfers dans le crédo épique, Travaux de linguistique et de littérature (Paris) V I I (1969), S. 47-63, nicht zur Verfügung. Die einzelnen Motive und deren Belegstellen in den Chansons de geste finden sich verzeichnet bei Edmond-René Labande, Le >credo< épique, S. 70-8.

344

§ 34°- D e r angerufene >Deus, reis omnipotent< meint nicht den Vater, sondern ausdrücklich den fleischgewordenen Sohn Gottes, der hier auf Erden zahlreiche Wundertaten vollbrachte, die eindringlich und deutlich auf die A u f erstehung und ein künftiges Leben hinweisen 6 0 5 . Guillaume de Berneville stellt eine ganze Reihe solcher Figuren auf, die typologisch auf T o d , A u f erstehung und ewige Seligkeit bezogen sind: Auferstehung des Lazarus zu Bethanien, die Herausführung des Volkes Israel aus Ä g y p t e n , der Durchgang durchs R o t e Meer, die Befreiung Susannas durch die Einsprache Daniels, die Rettung des J o n a s aus dem Bauch des Fisches ( v v . 3 5 9 4 - 3 6 0 7 ) . A l l e diese Ereignisse sind Präfigurationen der Auferstehung in mannigfaltiger Hinsicht: Befreiung aus der erbsündlichen Verstrickung, Befreiung v o m T o d . § 3 4 1 . Die Thematik der Auferstehung nimmt anschließend in einer innigen Figur Gestalt an, in M a r i a M a g d a l e n a ( v v . 3 6 0 8 - 3 6 1 5 ) . Sie ist die besonders seit dem 1 2 . Jahrhundert mit spezieller Achtsamkeit verehrte Heilige. In ihr sah man ein V o r b i l d f ü r die Auferstehung aus der Sünde, aber auch die bevorzugte Zeugin und Verkünderin der Auferstehung Christi und damit der Auferstehung aller 6 0 6 . Guillaume de Berneville verwendet zur Ausgestaltung seiner Magdalenenfigur eine reiche M o t i v i k : aus M a r i a M a g d a l e n a wurden sieben Teufel ausgetrieben und sie damit bekehrt, sie w a r eine vollkommene Gläubige, sie suchte den H e r r n im G r a b : E de Marie Magdalaine Set diables del cors jestates, De folie la returnastes, Puis crei vus parfitement; Querre veneit al monument; Quant ele vus ne pout trover, Mult tendrement prist a plurer, Dolente fud e esgarrée. (vv. 3608-3615) M i t M a r i a M a g d a l e n a schweift Guillaume de Berneville digressiv ab, um über ihre Funktion als Präfiguration hinaus — aus Vorliebe betrachtend bei ihr im Ostergarten zu verweilen. 605

Erich Auerbach, Typologische Motive in der mittelalterlichen Literatur, S. 10, weist anhand einiger Beispiele darauf hin, daß die historischen Ereignisse des Alten Testamentes »als reale Prophetie eines anderen wirklich vorgefallenen oder als wirklich vorfallend erwarteten historischen Ereignisses« gedeutet wurden, »also etwa [.. .] die Befreiung Josephs aus der Grube oder die Daniels aus der Löwengrube oder die Jonas' aus dem Bauch des Fisches als Figur der Auferstehung Christi oder der allgemeinen Auferstehung«. Vgl. auch Dimitri Scheludko, Über das altfranzösische epische Gebet, S. 192, zu Jonas, Maria Magdalena, Daniel und Lazarus, die auch in der Vie de saint Gile erwähnt sind. 60« Vgl Wiltrud aus der Fünten, Maria Magdalena in der Lyrik des Mittelalters, besonders S. i n f f . Zur Vorliebe der Einsiedler für Maria Magdalena, die durch ein Eremitenleben büßte, vgl. Dom Louis Gougaud, La vie êrêmitique au moyen âge, S. 233. 345

§ 3 4 2 - E i n H i n w e i s auf die Hochzeit zu K a n a a beendet die

figurative

Bild-

serie, v o n Guillaume de Berneville vermutlich als eschatologischer Ausblick auf die mystische Hochzeit am E n d e dieses Aeons verstanden. D a r a u f h i n w i r d unvermittelt der menschgewordene Sohn angesprochen 6 0 7 : El mund fustes tant cum vus plout E cum vostre eher pere volt. (vv. 3619-3620)

In diesem Gehorsam ist der Sohn Gottes das absolute V o r b i l d des Heiligen. Gilles versuchte jedenfalls diese Gehorsamshaltung zu imitieren, w a s an verschiedenen Stellen der V i t a thematisch wurde. Weiter hält sich Guillaume de Berneville bei den Wundertaten des Jesuslebens auf. Auch hierin w a r der Legendenheilige Nachahmer: Assez i fesistes vertuz De surz, d'avogles e de muz, Ki tuz furent gari par vus. (vv. 3 6 2 1 - 3 6 2 3 )

§ 343. D e r Crucifixus-Satz des Glaubensbekenntnisses schließt sich an das stark amplifizierte Bekenntnis zur Inkarnation an. E r w i r d auch durch einen Rückblick auf den Aufstieg nach Jerusalem bereichert. D i e Beschreibung des Einzuges in die heilige Stadt Jerusalem ( v v . 3 6 2 7 - 3 6 5 6 ) gründet sich nicht nur auf den biblischen T e x t ; sie hält sich vielmehr gleichzeitig an die liturgische Ausgestaltung in der feierlichen Palmsonntags-Prozession: der H e r r reitet demütig auf dem Esel, die J u g e n d v o n Jerusalem empfängt ihn freudig, legt ihre K l e i d e r auf den Weg. Sie schmückt Wege und Straßen mit Olivenzweigen und singt im C h o r ein tropiertes >Osanna filio David!Ad liminac le pèlerin médiéval au terme de sa démarche, S. 288 Anm. 41, zitiert einen Text aus dem Codex Calixtinus, in dem auf die apostolische Gewalt Sünden zu vergeben des Apostels Jakobus hingewiesen wird. Ein solcher Text mußte zur Wallfahrt ans Grab des Apostels animieren. Argumentiert wird in dem Text folgendermaßen: Konnte Jakobus, auf Grund der von Jesus verliehenen Gewalt Sünden nachzulassen, zu Lebzeiten Sünden vergeben, so kann er es auch noch nach seinem T o d : Constat ergo quia quibus inclitus apostolus Jacobus delicta remiserit, remittuntur eis a Domino. O quam beati illi qui talem habent apud Deum Intercessorem talemque remissorem! Cur ergo ad locum tardes ire, beati Jacobi amator? Zur Lösung der vincula delictorum am Jakobsgrab vgl. Jeanne Vielliard, Le Guide du Pèlerin de Saint-Jacques de Compostelle, S. 118; nach dem selben Pilgerführer kann Sündenvergebung auch am Grabe von Sainte-Madeleine in Vézelay gefunden werden. Ähnlich konnte Guillaume de Berneville seine Werbung für die Wallfahrt rechtfertigen; denn auch Gilles, sogar ohne Apostel zu sein, bekam zu Lebzeiten die Vollmacht der Sündenvergebung. Warum sollte sie ihm nach dem Tode genommen werden? Klaus Brinker, Formen der Heiligkeit, S. 165, erwähnt das Georgsleben, w o der Heilige vor seinem Tode ebenfalls Erhörung aller an ihn gerichteten Bitten verspricht. Gottes Stimme selbst bestätigt diese Rede seines Heiligen. Luther empfand es als arrogantia, wenn es wahr sein sollte, daß vier Märtyrerinnen vor ihrem Tode versprachen, Gott werde durch sie alle Bitten erfüllen und die A n liegen der zukünftigen Verehrer erhören. Eine solche Geltungssucht lasse sich nicht mit Heiligkeit vereinbaren; vgl. dazu Klaus Schreiner, >Discrimen veri ac falsiaventure< bestimmt in der Legendendichtung Guillaume's de Berneville nicht nur den äußeren Ablauf des Heiligenlebens weitgehend, z. T. sogar ausschließlich; aus dem Mirakel ergibt sich teilweise die Lebensform, welche im vorhinein und an sich keinen Eigenwert zu besitzen scheint. So resultiert etwa aus dem Mirakel der Sturmesstillung der nicht programmierte Aufenthalt in Marseille, aus dem Wunder der Krankenheilung in Abwesenheit des Veredemius die nicht geplante Flucht in die Waldeseinöde &c. Die einzelnen aufeinanderfolgenden Lebensformen sind dadurch nicht - wie noch an manchen Stellen der lateinischen Vorlage - das Ergebnis eines bestimmenden und beschließenden Willens des Heiligen, sondern die Folge des unberechenbaren abenteuerlichen Mirakels, das selbst vom Heiligen (oder vom Legendenautor) nicht einfach manipuliert werden kann. Im Mirakel offenbart sich demnach der über dem Heiligen waltende Wille Gottes, dem sich zu unterstellen wahre Tugend ist. Die für das richtungweisende Mirakel bereite Flexibilität kennzeichnet das in der Vie de saint Gile vorgestellte Heiligenbild auffällig. Nicht diese oder jene Lebensform wird durch das Verhalten des Protagonisten mitteilbar gerühmt oder zur Nachahmung angepriesen; vorbildlich ist die grundsätzliche Option, allein den Willen Gottes zu tun, und die anhaltende Disponibilität, diesen Willen zu erfüllen, durch welch abenteuerliche Wunderzeichen er sich immer zeigen mag. § 367. Obschon Guillaume de Berneville seinen Heiligen vielerlei Lebensformen annehmen und beispielhaft erfüllen läßt - Leben in der familia des Bischofs, Einsiedlerleben zu zweit mit Veredemius, Anachorese in absoluter Einsamkeit, Leben als Vorsteher einer Mönchsgemeinschaft, Leben am Hof als Berater des Königs - , so führt doch diese Unparteilichkeit nicht zu einer

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kompletten Indifferenz einer Rangordnung der Tugenden gegenüber. Der Legendenautor hält an einigen Konstanten fest, denen er durch die gesamte Vita hindurch einen besonderen Wert und ein besonderes Verdienst beimißt, die er jedoch nicht unbedingt von der Lebensform abhängig sein läßt. In jeder Lebensetappe insistiert der Legendenbearbeiter auf dem Gebet des Heiligen. In ihm drückt sich der heilige Gilles aus, und das Gebet formt ihn hinwiederum. Gebet erscheint aber nicht nur als privates Gespräch mit Gott, sondern häufig, geradezu kehrreimartig, als asketische Übung zusammen mit Fasten und Wachen. Alle Gebetsweisen sind am Heiligen vorgestellt: intimes, subjektiv formuliertes Gebet, liturgisch vorgeformtes Gebet, pflichtmäßiges Rezitieren, selbstlose Fürbitte. In dem zum Paradiese gewordenen desertum wird das höchste beschauliche Gebet bildhaft umschrieben. § 368. Nebst dem unablässigen Gebet verwirklicht der Heilige in jeder Lebenslage und Situation die Tugend der Menschenfreundlichkeit, der Güte, des Mitleids, des Erbarmens, der Gastfreundschaft. Gottesliebe, Demut und Armut, alle eher auf sogenannte Selbstheiligung ausgerichteten Tugenden werden selten genannt, jedoch mit weiteren, ungenannten Tugenden stillschweigend vorausgesetzt. Sie sind in der anfänglichen globalen Absage des Heiligen an die Welt inbegriffen und bilden die Grundlage dieses wie jedes anderen Heiligenlebens. D a nicht lediglich zur Illustration eines Tugendkatalogs oder gar -systems erzählt wird, lassen sich die einzelnen virtutes gar nicht sinnvoll vom Erzählganzen abstrahieren. In der Legendendichtung Guillaume's de Berneville bleiben die Zeichen und Werke der Heiligkeit an die berichteten Ereignisse gebunden und in das erzählerische Geschehen eingebettet. § 369. Nicht durch ausdrückliche Hervorhebung oder lehrmeisterliche Betonung, aber durch die Subtilität und Schönheit der Erzählweise wie der Szenerie fällt die Etappe von Gilles' Einsiedlerleben in der Waldeseinsamkeit auf. Man kann sich wohl kaum davon abbringen lassen, sie als Höhepunkt des Heiligenlebens zu betrachten. Die Episode vom Waldesleben ist die verschwiegenste und zugleich bildhaft am stärksten evozierte. In ihr wurde der Versuch gewagt, mystisches Leben dichterisch darzustellen. Guillaume de Berneville, wohl seiner innersten eigenen Überzeugung gemäß, stellt das höchste kontemplative Glück des Einsiedlers jedoch als transitorisches dar. Zudem ist er der Meinung, die sublime Höhe eröffne die abgründige Tiefe, denn im Genuß der Einsamkeit stellt er den Heiligen in die Krisis, während welcher dieser seine Ursünde, Stolz, Eigensinn, Hochmut, erkennen muß. Auf die Einsicht folgt eine A r t Vertreibung aus dem Paradies. Der Heilige indes weiß nun Gott gegenüber Willfährigkeit unter Ausschluß des suspekten Eigenwillens zu üben. Der Umwelt gegenüber wirkt sich die intim erfahrene Demütigung des Heiligen als gedoppelte Milde aus. 359

§ 370. Der Lebensabschnitt, den der Heilige ganz allein in der Waldeseinsiedelei zubringt, erlaubt eine weitere, letzte Bemerkung zum Verhältnis von Mirakel und Abenteuer. Denn vergleichbar dem ritterlichen Romanabenteuer, dem als Korrelat die höfisch-feine Minne notwendig zugehört, verbindet die Vie de Saint Gile Mirakel und Gebet. Dem ähnlich wie ein Abenteuer zu bestehenden Mirakel ist immer mindestens ein Gebet zugeordnet, in dem sich der Heilige in einer Ansprache an Gott, oft im Monolog eröffnet. Wie also im weltlich-höfischen Roman die Erarbeitung und Entfaltung des ritterlichen Abenteuerbegriffs mit der Eroberung des Bereiches der Minne parallel läuft, so stellt in unserer Legendenvita das Mirakel ein abenteuerliches Ereignis dar, mit dem sich die Offenbarung einer literarisch ausformulierbaren Innenwelt verbindet. Gilles' Gebete sind daran, das geistliche fromme Gemüt auszukundschaften und so etwas wie das Seelenleben eines Heiligen stilisiert darzustellen. Was der höfische Roman der Legende an literarisch angewandter Seelenkunde voraus hatte, holt Guillaume de Berneville mit seiner Gestaltung der Monologe und Gebete seines Heiligenlebens reichlich ein.

36c

c. Die Vie de saint Jehan Bouche d'Or

I. ERZÄHLERISCHER

RAHMEN UND

PROLOG

§ i . Die im 13. Jahrhundert entstandene altfranzösische Vie de saint Jehan Bouche d'Or1 beschreibt in einem ausgedehnten Mittelteil, dem Hauptteil, das - zwar nicht freiwillig erwählte - Eremitenleben des Legendenhelden. Dieser mittlere, von einer an Sensationen reichen Rahmenerzählung eingefaßte Abschnitt ist offensichtlich das Zentrum der Erzählung. Er enthält auch die etymologische Namenserklärung des Protagonisten, des Johannes Goldmund. Etymologische Erklärungen waren zwar im Mittelalter beliebt 2 ; ob jedoch in diesem Fall der um den Namen Goldmund sich lagernde explizierende Bericht das Interesse der Hörer- und Leserschaft gebührend zu beanspruchen vermochte, bleibt bei der ganz auf Spannung und drastische Wirkung angelegten Anfangs- und Schlußsituation der Erzählung zweifelhaft. Man konzentrierte sich wohl auf das in der Rahmenerzählung novellistisch gebotene unerhörte Ereignis. § 2. Trotz aller wirksam unterhaltenden und im ganzen pikanten Thematik setzt sich die Rahmenerzählung deutlich vom Schwank ab: sie berichtet die Geschichte eines böswillig verfolgten Unschuldigen und die von Wundern begleitete Rehabilitation einerseits, die gemeine falsche Anklage und deren Bereuung und Wiedergutmachung andererseits. Damit unterscheidet sich die altfranzösische Wiedergabe der Johannes-Goldmund-Legende von ihren italienischen Varianten, welche dem Heiligen selbst die hier lediglich in der falschen Anklage auftretende Schuld tatsächlich überbinden, ihn dann allerdings auch entsprechend, geradezu unmenschlich, büßen lassen3. Die altfranzösische Version zieht also die Umwandlung einer wahr1

2

3

Der Text wird fortan zitiert nach der neuesten kritischen Ausgabe von A.-L. Cohen, La Vie de saint Jehan Bouche d'Or, (Thèse California) Los Angeles 1963. Zur Datierungsfrage vgl. die Ausführungen ebda. S. 4 1 , wo die Festlegung auf Ende 12./Anfang 13. Jahrhundert angenommen wird; zur feingliedrigen Unterteilung der Legendendichtung ebda. S. Jo-54. Zur Namensetymologie in Heiligenviten vgl. Konrad Kunze, Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet, S. 101. Zur Ausbreitung der vielsprachigen Varianten der Johannes-Goldmund-Legende und ihrer Geschichte vgl. La Leggenda di sant' Alhano. Prosa inedita del secolo XIV e La Storia di San Giovanni Boccadoro secondo due antichi lezioni in Ottava rima, per cura di Alessandro d'Ancona, Bologna I86J ( = S C L , LVII), fotomechanisdier Neudruck Bologna 1968, und die Einleitung zur Textausgabe von A . Weber, La Vie de Saint Jean Bouche d'Or, Romania V I (1877), S. 328-30, welche auch die nötigen Richtigstellungen zu den Ausführungen von Alessandro d'Ancona enthält.

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scheinlich primären Reue- und Bußlegende in eine sanfter erbauliche legendarische Erzählung vor, die das Thema von der verfolgten, jedoch schlußendlich erkannten Unschuld abwandelt. § 3. Es schien dem französischen Bearbeiter des Stoffes wohl unangebracht, dem Legendenhelden, einem Heiligen also, die geheime und sündhafte Zeugung eines Kindes als wirkliches Vergehen und nicht nur als Verleumdung aufzubürden. Das hätte sidi vor allem nicht mit dem bewußt erbaulichen Charakter, den der Verfasser - trotz der offensichtlich unterhaltsamen Anlage des Stoffes — seinem Werk ausdrücklich verleihen wollte, nicht vertragen. Gegen rein unterhaltende Literatur wendet sich der Verfasser gleich zu Beginn seiner Erzählung polemisch, wo eine gewiß nicht zur eigenen Abschirmung bestimmte Klage die Stelle eines andersartigen Prologs einnimmt4: Se diil qui les romans ont fais Des outrages et des mesfais Elisent lor sens apresté A dire de divinité, Mult eiisent esploitié mieus. (vv. 1 - 5 )

Mittels der Honig-Galle-Metapher verstärkt der Legendenerzähler Renaut im folgenden seine Aussage, indem er die erbauliche, beispielhafte Literatur gegen die unter dem Bild der Galle zu verstehende weltliche Literatur ausspielt. § 4. Die in der Rahmenerzählung unter dem kennzeichnenden Stichwort Mirakel gebotene Geschichte (Moult en est Ii miracles biaus, v. 20), wonach einem Einsiedler der intime Verkehr mit einer Frau nachgesagt wird in dem Augenblick, da diese der unerwünschten Empfängnis eines Kindes im Umgang mit ihrem heimlichen Freund mit Sicherheit gewahr wird, findet sich bereits im Roman de la Vie des pères unter dem Titel: De la damiselle qui ne volt encuser son ami ou de cele qui mit son enfant sus l'ermite5. Der Bearbeiter der altfranzösischen Goldmund-Legende, Renaut (v. 19 und 860 genannt), bezeichnet die Vita patrum (v. 17) als seine direkte Quelle6. 4

3 6

Alois M. Haas, Laienfrömmigkeit im >Parzival< Wolframs von Eschenbach, G L X X X V I I I (1965), S. 1 1 9 - 2 2 , sammelt und kommentiert Belegstellen, die das geistliche Verdikt über den Artusroman zum Ausdruck kommen lassen. In unserem Falle, allerdings in Übereinstimmung mit der die weltliche Literatur ablehnenden Strömung, handelt es sich um den Topos, den wir auch im Prolog zum Gregorius Hartmanns von Aue finden, wo der Autor sich selbst zu verurteilen scheint, da er zuvor dichtete, was Weltlohn empfing (Gregorius von Hartmann von Aue, herausgegeben von Hermann Paul, Tübingen "1959, besonders vv. 1 - 5 und 3 $-42). Zu der im Prolog in diesem Zusammenhang eingesetzten Honig-und-Galle-Metapher vgl. Werner Fechter, Galle und Honig. Eine Kontrastformel in der mittelhochdeutschen Literatur, BGdSL L X X X (1958), S. 107-42. Vgl. dazu A . Weber, La Vie de Saint Jean Bouche d'Or, S. 328. A . Weber, La Vie de Saint Jean Bouche d'Or, S. 328-29, glaubt zwar, es handle 364

Tatsächlich findet sich eine verwandte Erzählung in den Verba seniorum (PL L X X I I I , 9 5 8 - 5 9 ; Apophthegmata

patrum, P G L X V , 7 1 - 4 4 0 ) 7 , die wohl den

sich hier um eine fiktive Quellenangabe, dem Wunsch nach einer glaubwürdigen Autorität entsprechend. 7 Verba seniorum, P L L X X I I I , 958—59. 25, De vitis patrum liber V: Narravit aliquando de seipso abbas Macarius, dicens: Quando eram juvenis, et sedebam in cella mea in Aegypto, tenuerunt et fecerunt me clericum in vico (Ruff., 1. III. n. 99). Et cum nollem acquiescere ad ministrandum, fugi ad alium locum. Et venit ad me quidam saecularis homo, sed vita religiosus, et tollebat a me opus quod faciebam manibus meis, et ministrabat mihi quae necessaria erant. Contigit autem, tentante diabolo, ut quaedam virgo in vico illo vitiata lapsum faceret. Et cum in utero habere coepisset, interrogatur quis esset de quo in utero haberet; illa autem dixit: Quia hie solitarius est, qui mecum dormivit. Exeuntes autem de vico illo, comprehenderunt me, et adduxerunt ad vicum, et apprehenderunt in Collum meum cacabatas ollas ansas vasorm, et miserunt me circituram in vico illo, per viam caedentes atque dicentes: tollite, tollite eum. Et ceciderunt me pene usque ad mortem. Superveniens autem quidam senum dixit: Quamdiu carditis monachum istum peregrinum? Ille autem qui solebat ministrare necessaria, sequebatur retro cum verecundia: etenim etiam ipsum contumeliis multis affecerant, dicentes: Ecce solitarius monadius, cui tu testificabaris quid fecit? Et dixerunt parentes puells illius: Quia non dimittimus eum, donec fidejussorem probat, quia pascet eam. Et dixi illi qui mihi solebat ministrare, ut fidejussor mihi fieret, et fidedixit mihi. Et reversus sum ad cellam meam et dedi ei quantas habui sportellas, dicens: Vende ea, et da illi mea; mulieri manducare. Dicebam autem in animo meo: Macari, ecce invenisti tibi mulierem, opus habes modo amplius laborare, ut pascas eam. Et operabar non solum in die, sed etiam in nocte, et transmittebam ei. Cum autem venisset tempus infelici illi, ut pareret, traxit plurimis diebus in dolore, et non pariebat. Dicunt ergo ei: Quid est hoc? Et illa dixit: Ego scio, quare torqueor diu. Et interrogata a parentibus suis, Quare? respondit: Quia illi monacho crimen imposui, et fallens implieavi eum, cum iste non habeat causam; sed juvenis ille talis hoc fecit. Audiens autem verba h^c ille minister meus, gaudens venit ad me, et dixit: Quia non potuit parere ille puella, donec confiteretur quia tu nullam causam in conspectu ejus habuisses, sed quia mentita sit adversum te. Et ecce omnes habitatores vici illius volunt venire hic ad cellam tuam glorificaturi Deum, et poenitentiam apud te facturi. Ego autem audiens ista a ministro meo, ne affligerent me homines, surrexi, et fugi hic in Scythi; et hoc prineipium causa: propter quam hic habitare coepi. Eine leicht zugängliche Ubersetzung der griechischen Version dieser Geschichte (nach P G L X V , 71-440) findet sich in: Die Weisung der Väter. S. 159-60, 54: Über Abbas Makarios, den Ägypter. Vgl. ebda. S. 200-201, 563: Über Abbas Nikon. Der Diener des Einsiedlers Nikon auf dem Berg Sinai hatte sich mit einer Tochter vergangen, klagt aber den Einsiedler an. Der Vater der verunehrten Tochter bedroht den Heiligen mit dem Schwert. Der Einsiedler bittet um Zeit zur Buße. Der wirkliche Sünder wird besessen, bekennt dann sein Vergehen öffentlich in der Kirche: die Sünde mit der Tochter und die Verleumdung des willen, Einsiedlers. Stephanus Hilpisch, Die Schmach der Sünde um Christi Z A M V I I I (1933), S. 291-93, nennt außerdem noch Eustathius von Caesarea und Marina, welche dieselbe Anschuldigung aus Askese auf sich nehmen. Vgl. audi Jean-Claude Guy, Les Apophthegmata patrum, in: Theologie de la vie monastique, S. 73 Anm. 1, wo darauf hingewiesen wird, daß die Apophthegmata patrum neben den Vita patrum einen gesonderten Platz einnehmen und im Mittelalter sehr verbreitet waren; global schon festgestellt von Marcel Viller S. J./ Karl Rahner S. J., Aszese und Mystik in der Väterzeit, S. 1 1 6 .

365

Grundstoff und den V o r w u r f zur Rahmenerzählung der Goldmund-Legende abgegeben haben mag und in volkssprachlicher Bearbeitung auch in H e n r i d'Arci's Vitas patrum A u f n a h m e fand 8 . § 5. D e r A u f b a u der Goldmund-Legende orientiert sich am Schema der Legendenvita. Eine Kindheits- und Jugendgeschichte f ä l l t z w a r w e g ; doch ist der grundlegende Dreischritt g e w a h r t : heiliges Leben bis zur Verleumdung und Verbannung, heiliges Leben in der Verbannung, strahlende Rückkehr und T o d . D a s Tugendbild des Heiligen w i r d anhand der Talentenparabel e n t w o r f e n : der Legendenheld, der K a p l a n des Königs, ist bestrebt, G o t t das Doppelte zurückzuerstatten ( v v . 2 4 - 4 5 ) ® . D i e Untadeligkeit, j a die H ö h e seines Lebens, das ein geistliches ist, w i r d in der Formel eingefangen: Ja ne finast de verseillier [ = psalmodier, orer] Ne de juner ne de veiller, (vv. 49-50) D a s vorbildliche Verhältnis v o n Seele und Leib stellt sich im Falle dieses heiligen K a p l a n s unter dem B i l d eines Mißverhältnisses im Sinne der >fine amors< d a r : D a m e iert Ii ame et sers Ii cors (v. 52); die Wohltätigkeit des Heiligen verbirgt sich unter höfischen Manieren: der K a p l a n gibt sidi in Gesellschaft festlich und freudig. D a s E n d e des Tugendkatalogs stellt fest, daß sidi seine Frömmigkeit unter dem Anschein einer frohgemuten Weltlichkeit verbarg. Es ist dies eine Wandlung des Topos v o m Heiligen, der sich unter Mensciien heiter gibt, innerlich aber gesammelt und abgeschieden bleibt, und des Topos v o n der Ruhmesflüchtigkeit: beide Themen sind auf einem Rückzug nach Eine Vita vom Typ der Johannes-Goldmund-Geschichte findet sich ferner bei Palladio, Storia Lausiaca, A cura del P. Gottardo Gottardi, Siena 1961, S. 17980: Un lettore calunniato. Die neueste Auseinandersetzung mit der Makarios-Legende unternahm wohl Walter Nigg, Buch der Büßer. Neun Lebensbilder, Olten/Freiburg i. Br. 1970, S. 57-80, vgl. vor allem S. 65-66. Zu den möglichen Zwischengliedern zwischen den Verba seniorum und dem Dichter der Vie de saint Jehan Boude d'Or von Renaut vgl. La Vie de Saint Jehan Bouche d'Or et la Vie de Sainte Dieudonnee. Textes français du Moyen Age, Door Hermine Diridcx-van der Straeten, Liège 1931, S. 3yfî. Die Legende der Mutter des Johannes Goldmund, Dieudonnee, ist übrigens teilweise dem Alexiusmirakel nachgestaltet (vgl. ebda. S. 148fr.). 8 Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 92-94, vv. 2779fr., gibt das Abenteuer des Makarios nach den Verba seniorum. * Die Talentenparabel ist das Thema in dem ebenfalls nach 1226 anzusetzenden Besant de Dieu, dessen Autor Guillaume de Clerc ist (in der Ausgabe von Ernst Martin wird die Talentenparabel S. 77, vv. 2675ff. erzählt). Eine Liste der Dichtungen, die das Talenten-Thema behandeln, gibt Jean-Charles Payen, Le Dies Ira dans la prédication par la crainte au Moyen Age, Romanía L X X X V I (1965), S. 48-76. La Queste del saint Graal. Roman du XIIIe siècle, Edité par Albert Pauphilet, Paris 1949 ( = CFMA, 33), S. 63L, ist wohl die erlauchteste Dichtung, welche die Talentenparabel verwendet. 366

innen. Das Mißverständnis, in welchem der Heilige seines höfischen Gebarens wegen weltlich eingeschätzt wird, gereicht dem Heiligen zum Ruhm, da dessen Herz, auf welches es ankommt, rein, und die Lebensführung integer ist (vv. 51-65). § 6. Die untadelige Haltung des Kaplans erweckt den Neid und die Mißgunst des Teufels. So leitet der Tugendkatalog unverzüglich zum Thema der Versuchung über: [Diables] N u i t et jor entor lui aloit. (v. 68)

Doch meistert der Heilige den K a m p f , denn: Fois et creance est ses escus. (v. 73) l u

So ist der Dämon in diesem Kampf der Unterlegene (vv. 66-79), er den Angriff auch unternimmt.

immer

§ 7. Das Versagen der teuflischen Angriffe leitet geschickt über zur Geschichte von der verleumderischen falschen Anklage und zum wunderbaren letztlichen Erweis der Unschuld, der eine Mirakelgesdhichte darstellt (vv. 80-200). In bewegtem Dialog rollt sich die Geschichte von der Königstochter, ihrem Freund, vom Leid der peinlichen Schwangerschaft, dann das enthüllende Gespräch mit der Mutter und das Gespräch vor dem zornigen Vater, welchem die falsche Anklage des heiligen Kaplans folgt, vor dem Leser auf. Das Fazit ist klar: der heimlidie Wüstling - hier auf den heiligen Protagonisten gemünzt - ist der schlimmste; er soll entsprechend bestraft werden. § 8. Johannes läßt die falsche Anschuldigung auf sich beruhen; er bekreuzigt sich nur, ein Zeichen, daß er die teuflische Herkunft des Anschlags erkannt hat (v. 199). Audi das Modell aus den Verba seniorum, Makarios, äußerte sich ja zur Anschuldigung nicht. Die vom König verhängte harte Bestrafung für den vermeintlichen Frevel an seiner Tochter besteht in der Verbannung auf eine Insel: De ta deserte aras le droit (v. 205). Johannes wird also wie ein Schwerverbrecher ins Exil auf eine Insel verschickt. Welche Todesart, eine eigentliche Todesstrafe, ihm damit zugedacht war, wird erst aus der Fortsetzung des Lebenslaufes ersichtlich. Vorerst erinnert der Text nur an das Rauschen des Meeres und das Heulen des Windes, von dem die Insel umgeben ist. Von ihm sprach auch der Insel-Einsiedler der Vie de saint Gile mit besonderer Betonung, nämlich, daß er sich davor nicht fürchte: N e criem orage ne tempeste (v. 1010). 10

Zur stereotypen Umschreibung der Versuchung vgl. die Parallele in der Vie de saint Gile, v. 381: [Diable] ki nuit et jur i veit en tur, und v. 1000: Meis nostre sire m'est escu.

367

§ 9- Was folgt, ist in die Rahmenerzählung eingebaute Vorschau auf den Hauptteil der Legende. Der Legendendichter verrät jetzt mehr vom Verbannungsort: das Eiland besteht aus einem vom Meer eingeschlossenen Fels, der ganz mit Wald überwachsen ist. Der Ort ist ein ausgesprochenes desertum, was sogleich bildhaft ausgeführt wird : Trop avoit en la desertine Ours et lions et sauvechine, Guivres, dragons, serpens volans. (vv. 209-211) Dieser furchterregende Tierpark soll dem Leben des angeblich Schuldigen ein grausames Ende bereiten. § 1 0 . Merkwürdigerweise hat der Heilige jetzt schon die Geistesgegenwart, sein vollständiges Schreibzeug, samt Pergament, einzupacken, um es dann mit sich zu nehmen. Damit wird nochmals der Hauptabschnitt des Heiligenlebens mit der vorausgehenden Rahmenerzählung verflochten. Es ist eine Handlung, die in die Zukunft, d. h. auf das spätere namenerklärende Wunder hinzielt, aber vorläufig dadurch motiviert wird, daß Johannes die Absicht hat, auf dem Eiland »alcun bien« (v. 226) zu schreiben und so seine Abgeschiedenheit sinnvoll zu nutzen. Der Einfall des Verurteilten ist plausibel, denn viele Einsiedler - und ein solcher wird er nun notgedrungen - haben gefährliches U n beschäftigtsein und dolce far niente mit dem Schreiben und Kopieren bekämpft 11 . 11

Dom Jean Becquet, L'érémitisme clérical et laïc dans l'ouest de la France, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 192, erwähnt für sein Untersuchungsfeld das Absdireiben von Büdiern durch Einsiedler, allerdings als entlöhnte Arbeit. Dom Jean Leclerq, L'érémitisme en Occident jusqu'à l'an mil, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 40, macht ebenfalls auf die Sdireibertätigkeit der Eremiten aufmerksam: »Notons aussi que l'une des tâches traditionnelles des ermites a été le travail de copiste.« Vgl. dazu auch Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 288, wo vom Einsiedler Wulfric (gestorben 1154) berichtet wird, daß er Handschriften abschrieb, dazu noch einen Schreiber beschäftigte. Dieselbe Beschäftigung übten außer den Einsiedlern auch die Mönche; vgl. dazu Baudouin de Gaiffier d'Hestroy, L'hagiographie et son public au XIe siècle, S. 164-65: »La transcription des manuscrits était une des occupations régulières de la journée du moine. Elle avait ses heures réservées, et pouvait servir de défense contre l'oisiveté aux jours fériés, quand le labeur manuel devait chômer [...].« So berichtet Dom J. M. Besse, La vie des premiers moines gallo-romains, RB X V I I I (1901), S. 27J, von den um den heiligen Martin versammelten Mönchen: »Les religieux de Marmoutiers n'exerçaient ni métier ni art. La transcription des manuscrits était le seul travail auquel il leur fut permis de s'appliquer.« Die Sdireibertätigkeit wurde denn auch vornehmlich von den Eremiten der Großen Kartause geübt; die Consuetudines geben genaue Anweisungen dazu. Zur monistischen Schreibarbeit vgl. auch Dom Jean Leclerq, Etudes sur le vocabu368

§ I i . Diese Vorsorglichkeit des Heiligen muß nicht erstaunen. Sie demonstriert überzeugend, daß der Protagonist, weit entfernt davon, einen baldigen Tod zu fürchten, mit einem längeren, wenn auch nicht freigewählten Einsiedlerleben rechnet. Die Menge der wilden Tiere und Ungeheuer vermag ihn nicht einzuschüchtern; er denkt selbstverständlich an ein Überleben: Car ne doute beste salvage, N e il n'a paor ne doutance Comment qu'il ait sa sostenance, Car en nostre segnor se fie, Qui ses sergans12 pas ne defie, Mais tosjors est près del deflfendre. (vv. 2 2 8 - 2 3 3 )

Hierin gleicht Jehan Gilles, hierin ist er dessen Ebenbild (vgl. Gilles' Eintritt in den ebenso wilden und gefährlichen Wald, dem dieselben getrosten Überlegungen vorhergehen, v v . 1 2 3 9 - 1 2 4 0 ; und v v . 647-648, da ebenfalls Gott für den flüchtigen Gilles aufkommt u. a.) ; beide brauchen sie sich vor den bösartigen Tieren nicht zu fürchten, denn sie vertrauen auf Gott. Aber nicht nur die Furchtlosigkeit vor den Bestien und Ungeheuern ist bei den beiden Heiligen dieselbe, es verbindet sie darüber hinaus die Sorglosigkeit in bezug auf ihren Unterhalt. Zwei Motive, die beide später ausgebaut werden, sind damit angetönt: Furchtlosigkeit vor den wilden Tieren und Sorglosigkeit, was den notwendigen Lebensunterhalt anbetrifft.

II. MITTELPARTIE: VERBANNUNG AUF DIE UND

INSEL

EREMITENLEBEN

§ 1 2 . Vor der endgültigen Verbannung kommt es zu einem kurzen, aber entscheidenden Gespräch zwischen der verleumderischen Königstochter und dem schuldlos verurteilten Heiligen. Die Schuldige schmäht den Unschuldigen und scheint so zu triumphieren. Jehan aber beteuert seine Schuldlosigkeit, von der Gott allein Kenntnis besitzt, schließt dann seine Rede mit einer gemilderten Verwünschung:

12

laire monastique du moyen âge, S. 136 und Anm. 40, S. 141 und Anm. 5, S. 143 und Anm. 10. Es findet sich bereits eine ansehnliche Zahl schreibender Wüstenväter und -mönche; siehe A . - J . Festugière, Culture ou sainteté, S. 24 Anm. 2 und S. 84. Auch Csesarius von Heisterbach gibt in dem zwischen 1 2 1 9 und 1223 verfaßten Dialogus miraculorum als Tätigkeit der Klausner das Abschreiben von Büchern und das Flechten von Körben und Matten an; vgl. dazu Philipp Hofmeister, Eremiten in Deutschland, in: Wahrheit und Verkündigung. Michael Schmaus zum 70. Geburtstag, Band II, München-Paderborn-Wien 1967, S. 1 1 9 3 . 'Serf' und 'sergent' werden in diesem Text semantisch nidit mehr unterschieden wie noch im altfranzösischen Alexiuslied, vgl. dazu K.-J. Hollyman, Le développement du vocabulaire féodal, S. 81. 369

Mult comparras chier ton desroi, C a r je depri al sovrain roi Qu'il te rende ta false plainte, Si que del fruit dont es enchainte A nul jor délivré ne soies, D e si adont que me revoies, (vv. 2 5 1 - 2 5 6 )

Dieser prophetische Ausspruch tendiert auf eine im Augenblick noch unmöglich erscheinende Erfüllung. Denn wie könnte der Heilige je wiedergesehen werden, da er doch den wilden Tieren nicht gerade vorgeworfen, aber doch zu deren Nahrung auf die Insel geführt wird. Die Prophezeiung verweist somit bereits auf einen notwendig wunderbaren Schluß, da anders als durch ein Mirakel die auf Gerechtigkeit zielende Sentenz des Heiligen nicht Wirklichkeit werden kann. § 1 3 . Latent hält von jetzt ab bis zur schließlichen Einlösung des unheimlichen Diktums eine Spannung durch. Über den Bericht vom Inselaufenthalt hinweg verbindet sie den noch unbekannten Schluß mit dem nun endgültig arrangierten A n f a n g . Die Zeit des Inselaufenthaltes tritt aber zugleich schon in Sicht und bleibt, obschon zu einer recht selbständigen Historie sich entwickelnd, doch in den symmetrischen Rahmen eingespannt. Die geschickte Verknüpfung der einrahmenden Anekdote mit dem gewichtigen, namenerklärenden Mittelteil der Erzählung ist jetzt vollendet: so wie die Situation nun einmal gestellt ist, sind beide Teile - die Geschichte von der falschen Anklage und Beschuldigung und die Geschichte vom Eremitenleben des heiligen Johannes, das den Zunamen Goldmund zu erklären vermag aufeinander angewiesen. § 1 4 . Unter demütigenden Mißhandlungen, d . h . unter Schlägen der Schergen 18 , erreicht der Verurteilte das Schiff, das ihn, nach der böswilligen A b sicht des Königs, in den T o d führen soll (vv. 2 5 7 - 2 7 2 ) . Die imminente G e f a h r spiegelt sich deutlich genug in den Vorbereitungen der Urteilsvollstrecker: sie bewaffnen sich umsichtig der Löwen und Bären wegen 1 4 und setzen den Hei13

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Dieser Z u g kam dem Modell entlehnt, freilich auch neuerfunden sein; vgl. den Text aus den Verba seniorum oben Anm. 6 dieses Kapitels. Alberto del Monte, V olgarizzamento senese delle 'Vies des pères', in: Studi in onore di halo Siciliano, Vol. I, S. 3 3 6 - 3 7 , veröffentlicht in Erzählung I V die Geschichte eines einer Frau wegen unschuldig verfolgten Einsiedlers. Auch er wird geschlagen und durch die Stadt vor ein Tor geschleppt, bis die mit dem Tode bestrafte Verführerin aufersteht, um ihre Schuld zu bekennen. E b d a S. 3 3 7 eine altfranzösische Version derselben Geschichte. Hubert Dauphin, L'érêmitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 287 A n m . 58, glaubt, daß der Einsiedler Wulfric (gestorben 1 1 5 4 ) aus asketischen Gründen ein Kettenhemd trug, da sich ja gewöhnlich die Einsiedler vor den wilden Tieren nicht fürchteten, sondern sich im Gegenteil mit ihnen recht gut verstanden. Das Motiv des Tierfriedens ist jedoch gewiß zumeist rein literarisch - wenn auch eine wunderbare Z ä h -

37°

ligen, k a u m auf der Insel angekommen, eilends ab, um sich schnell wieder zurückzuziehen. § 1 5 . Schon v v . 2 6 2 - 2 6 3 weint der willig und friedfertig, arglos ins Schiff eintretende Heilige; er weint wiederum nach dem Betreten des Eilandes (v. 272). Diese Tränen der Frömmigkeit leiten zu einem langen Gebet über, das der Heilige am Orte seiner Verbannung kniend spricht ( v v . 2 7 3 - 3 2 1 ) . Das Gebet beginnt mit einem Gedenken Gottes, mit einer Erinnerung an die hier zur Sonntagsruhe christianisierte Sabbatruhe nach den Schöpfungstagen. Es f o l g t eine K l a g e über den Sündenfall durch das Essen des verbotenen A p f e l s und das daraus folgerichtig hervorgehende Los der Verdammnis. Es schließt sich daran der verschlüsselte Bericht v o n der Verkündigung an M a r i a an; der Bote grüßt diejenige: Qui est voie, vie et salus (v. 294). D a s Wort w u r d e Fleisch an Weihnachten; die Engel verkündigen es den Hirten. D e r Besuch der drei Heiligen K ö n i g e findet E r w ä h n u n g , die Darstellung im T e m pel und die Freude Simeons werden besprochen. Bei ihr steht das Gebet still; so wie Simeon G o t t v o n Angesicht sah, bevor er dem Schrecken des Todes ausgesetzt w a r , so möge nun ihm, dem Ausgesetzten, H i l f e gewährt werden: Si salves vos m'ame et mon cors Et envoies sustance et vie. (vv. 3 1 8 - 3 1 9 )

D e r Heilige erhebt sich und bekreuzigt sich 15 . Erst jetzt verrät der Dichter, daß ihn auch didaktische Absicht bei der A b f a s s u n g des Gebetes leitete. Es soll das Modell eines Gebetes in höchster G e f a h r abgeben und w i r d dem Publikum unter Klarstellung der sprachlichen Verhältnisse nun entsprechend eindringlich angepriesen: L'orison fu en latin dite; Por ce l'ai en romans escrite Que Ii lai le puissent entendre, Fermer en lor euer et aprendre; Ki le dira de bon corage Miex l'en ert a tot son aage. (vv. 3 2 3 - 3 2 8 )

15

mung der wilden Tiere durch Einsiedler und eine besondere Zutraulichkeit der Tiere zum Heiligen damit nicht im Prinzip angezweifelt oder ausgeschlossen werden soll; der zuverlässige Bericht von dem 1 7 5 9 - 1 8 3 3 lebenden russischen Einsiedler Sserafim von Ssarow, dessen Hütte von Füchsen, Wölfen, auch Bären umstanden wurde, um von ihm Nahrung zu erhalten, bestätigt die Realität des hagiographisdien Motivs (vgl. Iwan Kologriwow, Das andere Rußland. Versuch einer Darstellung des Wesens und der Eigenart russischer Heiligkeit, München 1958, S. 361). Es konnte aber doch auch sein, daß ein Eremit kein Charismatiker oder Heiliger war, und dann eben eines Schutzes vor den Gefahren des unbezähmten Waldes bedurfte, wie hier die Ritter, welche Jehan auf der Insel aussetzten, bewaffnet und geharnischt waren. C. Josef Merk, Anschauungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Heldenepos, S. 159, glaubt: a Deu s'est commandez, bedeute nach gemachtem Kreuzzeichen ein besonderes Sidi-unter-den-Schutz-Stellen.

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§ i6. Durch das Gebet steht der Heilige in guter Erleuchtung. Er getraut sich somit auch, in die Wildnis einzutreten; er schaut zum Himmel und kümmert sich um die Tiere nicht. Dieser Mut und diese Sorglosigkeit rufen gerade zu dem Wunder: Ore oies com Dcx Ii dona Grant honor en la desertine: Li dragon et la serpentine, Li lion et les autres bestes, Dont il i ot mult de rubestes, Encontre le saint home aloient, Aorerent et enclinoient Humblement com fuissent oëilles. (vv. 3 3 4 - 3 4 1 ) Das Motiv der Bezauberung der Tiere durch den Heiligen - hier als >hommage< Gottes an den Heiligen verstanden - wird an dieser Stelle wirksam aufgegriffen 16 . Es ist die Verlängerung des zuvor im Gebet angeschlagenen 16

Daß die Tiere, auch die wilden, dem Heiligen nichts anhaben, ihn ehren und ihm zu Diensten stehen, ist schon ein beliebtes Motiv der Väterviten; vgl. die Historia monachorum in Aegypto, S. 4 , VI, S. 10 - 16 , IV, S. 65 3 3 - 3 7 , IX, S. 8 2 - , XII, S. 8 3 84-®7, S. 1 3 2 - . Die Erklärung für die Machtlosigkeit und Friedfertigkeit der Tiere dem Heiligen gegenüber gibt A.-J. Festugière, Culture ou sainteté, S. 5 3 - 5 4 : »II [l'anachorète] séjourne au désert, qui est infesté de bêtes féroces et de serpents. Et cependant, non seulement il n'est pas blessé, mais il a pouvoir sur ces bêtes, il leur commande et elles lui obéissent. Cyrille de Scythopolis en donne l'explication dans sa Vie d'Euthyme ( 2 3 . 4 S S . ) : »Outre les autres grâces que possédait ce divin Euthyme, il avait reçu aussi de Dieu celle de ne subir nul dommage des bêtes carnivores et venimeuses avec lesquelles il vivait continuellement. Cela, qu'on ne vienne pas le mettre en doute si l'on est initié à la Sainte Ecriture, sachant fort bien que, quand Dieu habite en un homme et s'y repose, tous les êtres lui sont soumis, comme ils l'étaient à Adam avant qu'il n'eût transgressé le commandement de Dieu.« [. . .].« August Schulze, Der Heilige und die wilden Tiere, S. 281, gibt eine Zusammenstellung Heiliger, die Macht haben über wilde Tiere. Am nächsten kommt unserem Texte die Begegnung des heiligen Vitus mit dem Löwen; dieser läßt sich, nachdem der Heilige das Kreuzzeichen über ihn gemacht hat, vor ihm nieder und leckt ihm die Füße. August Nitschke, Tiere und Heilige, S. 71, bemerkt » [ . . . ] in dem PseudoMatthäus-Evangelium beten Löwen und Leoparden das Jesuskind an.« Und ebda. S. 78 wird ausgeführt: »Daß die Erscheinung eines vollkommenen Wesens nach damaliger Ansicht [frühchristlicher Zeit] auf Tiere Einfluß ausübt, bezeugt Jesus im apokryphen Matthäus-Evangelium selbst mit den Worten: »Ich bin immer vollkommen gewesen und bin es auch jetzt: alle wilden Tiere müssen mir zahm werden«. - So wenden sich also die Tiere, ohne daß erkenntlich wird, ob sie dazu von Gott besonders veranlaßt wurden, von sich aus dem Heiligen als dem vollkommensten Wesen in ihrer Umwelt zu.« Zur Zutraulichkeit der Tiere zum Einsiedler und zur Freundschaft des vir Dei mit ihnen vgl. auch die beiden Studien von Gregorio Penco, II simbolismo animalesco nella letteratura monastica, S. 7-8, und II senso della natura nell'agiografia monastica occidentale, S. 334; ebenso von L. Junge, Die Tierwunder des heiligen Franziskus von Assisi, Leipzig 1932 ( = Königsberger geschichtliche Forschungen, 5). 3

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3 0

Paradiesesthemas: dem Heiligen sind die Tiere ergeben w i e A d a m v o r dem S ü n d e n f a l l 1 7 , j a w i e Christus in der Wüste 1 8 . Wie Orpheus H e r r der Wildnis ist durch seine Musik 1 9 , so stellt die Heiligkeit die H a r m o n i e der Schöpfungsordnung wieder her; das im T i e r verkörperte Böse ist machtlos und bekehrt 2 0 . Die anbetenden Tiere stehen als Sinnbild f ü r die nun angetretene Rückkehr ins Paradies 2 1 . 17

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Vgl. dazu oben Anm. 15 das Zitat aus der Vie d'Euthyme; aber auch Dom Jean Leclerq, L'Ecriture Sainte dans l'hagiographie monastique du haut moyen âge, S. 1 1 8 : »Dès les débuts de l'hagiographie, et à travers le moyen âge entier, le monde animal est présenté comme domestiqué à nouveau, sous l'influence de la sainteté, comme il avait été, d'après le récit de la Genèse, avant le péché d'Adam.«; und ders., Le monachisme du haut moyen âge, S. 442-43. Herbert Schade, Die Tiere in der mittelalterlichen Kunst, SG X X (1967), S. 228, nennt die Einsiedler Antonius und Paulus als Beispiel für Menschen, in in der Gnade stehen und daher nichts zu fürchten haben, wie Adam vor dem Sündenfall. Dom Garcia M. Colombas, Paradis et Vie Angélique, S. 53, führt dazu aus: »Le parallélisme entre Jésus au désert, se disposant à commencer son ministère messianique, et Adam au Paradis, au commencement de l'histoire humaine, est si frappant qu'il ne peut guère avoir échappé aux évangélistes [ . . . ] . Saint Marc paraît souligner, en disant (1,13) que Jésus >était parmi les bêtes sauvages* (restauration de la domination d'Adam sur les animaux) [ . . .].« Ebda. S. 55 Anm. 1, wird ein Text des heiligen Ambrosius zitiert (In Luc. 4,7), der dieses typologische Verhältnis bestätigt: In deserto Adam, in deserto Christus; sciebat enim ubi posset invenire damnatum, quem ad paradisum, resoluto errore, revocaret. Zur Typologie Adam/Christus in der Wüste vgl. auch Jean Daniélou, Les figures du Christ dans l'Ancien Testament. >Sacramenta futuri< (Rom. d'après St Hilaire), Paris 1950 ( = Etudes de Théologie Historique), S. j, 7, 8-9 und 19. Zur Verchristlidiung des Orpheusmotivs, sogar als Figur für Christus, vgl. Herbert Schade, Dämonen und Monstren, S. 48 und S. 149 zu Abbildung 47: »Orpheus ist Herr über die Wildnis, Gegenbild des Dämonischen.« Zeugnisse zum Thema des Tierfriedens als Ausdruck u. a. der Machtlosigkeit des Bösen linden sich bei Michael Landmann, Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch, München 1966 ( = Sammlung dialog, 8), S. 265ff. Harmonie zwischen Tier und Mensdi herrscht u. a. auch im persischen Roman von Nizami, Leila und Madschnun, Zürich 1963, S. 196fr.; sie scheint vornehmlich ein orientalisches Ideal zu sein. In der Vita saneti Pauli eremitx des Hieronymus, P L X X I I I , 23, 7, erweist sich sogar der sonst als dämonische Verkörperung betrachtete Hippocentauer hilfreich indem er dem Heiligen den Weg zum Eremiten Antonius weist. Ein Wolf und ein Faun erweisen ihm später denselben Dienst; vgl. dazu Jacques Lacarrière, Les hommes ivres de Dieu, S. 96-97, dazu Abbildung 4, welche eine sienesische Malerei des Quattrocento wiedergibt, die die Begegnung mit dem Kentauer u. a. festhält. Zum Thema der Unterwerfung der Tiere in der hagiographischen Tradition und zu seinem Zusammenhang mit dem Thema der Rückkehr zum Paradies, als was das Eremiten- und Mönchsleben betrachtet wurden, vgl. Dom Jean Leclerq, Problèmes de l'érémitisme, S. 206; aber auch Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 224, wo zum Paradiesthema allgemein bemerkt wird: »Les hagiographes et les conteurs prennent plaisir à nous dépeindre cette vie idyllique [des Einsiedlers mit den Tieren] qui rappelle les moeurs du Paradis terrestre.« Diese Lebensart besteht, wie gesagt (s. oben Anm. 16), in dem neuerstellten Ein373

§ IJ.

Wie der H e i l i g e in der Vie de saint Gile

geht J e h a n unentwegt v o r -

w ä r t s , bis er g a n z v o n selbst, w i e z u f ä l l i g , einen geeigneten W o h n p l a t z

findet.

D i e T i e r e hat er in Frieden und in H a r m o n i e hinter sich gelassen, v o n ihnen ist nun lange keine R e d e mehr. Tant ala par le bois Ii sire Qu'il vit .1. arbre en .1. destor, Dont Ii erbe estoit drüe entor; De rains de fueille est bien vestus. La est Ii proudom arestus, Et si Ii plot a remanoir; La voldra faire son manoir. (vv. 344-350) I m Schutze eines mächtigen Baumes läßt J e h a n sich nieder. § 1 8 . D a s dichte, üppige G e ä s t des Baumes soll das D a c h seiner Behausung abgeben. V o n der weiteren U m g e b u n g schließt er sich durch Flechtwerk a b : De rains et de la foille aporte, Closure i fait, entree et porte. (vv. 3 5 1 - 3 5 2 ) E r w o h n t also nicht im oder auf dem B a u m 2 2 , sondern ganz idyllisch und bequem unter dem B a u m 2 3 , w i e schon ein griechisches Gedicht aus dem 8. J a h r hundert v o n gewissen Mönchen sagt:

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vernehmen mit den Tieren: »Während den ersten Adam die Engel aus dem Paradies hinauswiesen, und die Tiere ihn anfeindeten, kommen zum zweiten Adam die Engel und dienen ihm, und die wilden Tiere weilen in seiner Nähe, ohne ihn anzugreifen.« (August Schulze, Der Heilige und die wildenTiere, S. 282). Der Heilige steht dabei analogisch zum ersten und zum zweiten Adam! Vgl. August Nitschke, Tiere und Heilige, S. 85. Die Vorstellung vom tierbevölkerten Paradies übertrug sich auf die säkularen Tiersammlungen der mittelalterlichen Herrscher, vgl. Karl Hauck, Tiergärten im Pfalzbereich, S. 57: »Wir treffen in diesem neuen Zeitabschnitt [12. und 13. Jahrhundert] zahlreiche Züge wieder, die uns bereits vertraut sind: die Vereinigung von Wildpark und Menagerie, die insbesondere im sizilianischen Normannenreich unter arabischem Einfluß ebenfalls als irdisches Paradies interpretiert wurden [. . .].« Vgl. auch ebda. S. 62. Zu den auf einem Baum wohnenden Einsiedler der Frühzeit vgl. Jacques Lacarriere, Les Hommes ivres de Dien, S. 2 1 9 - 2 0 ; zu den eremitischen Bewohnern hohler Bäume vgl. ebda. S. 201. Die Einsiedlerin aus Liebe in Wolframs von Eschenbach Parzival, Sigune, wohnt in einer Linde; dazu vgl. Julius Schwietering, Sigune auf der Linde, S. 152 vor allem zur Dendritenlegende. In den Anmerkungen zu Wolframs Parzivaltext weist E. Martin (Wolframs von Eschenbach und Titurel, herausgegeben und erklärt von E.Martin, II. Teil: Kommentar, Halle a. S. 1903, S. 181 Anm. 185, 28 zu »geleitet« und S. 227 Anm. 249, 14) darauf hin, daß im Mittelalter die Äste der Bäume, in Deutschland vor allem der Linden, künstlich gezogen wurden. Der in der verbreiterten Krone gewonnene Raum wurde oft mit Bretterlagen in einen Sitz, einen Tanzboden oder eine Kanzel verwandelt. Bruder Berthold etwa predigte »sub tilia«, d. h. erhöht in der Linde. Noch zu Goethes Zeit wurden die Bretterlagen als Tanzböden verwendet. Zum >leiten< der Linde, damit sie Schatten spende, vgl. Josef Billen, Baum, Anger, Wald und Garten in der mittelhochdeutschen Heldenepik, S. 63. Die Möglichkeit, im unbezähmten Wald unter einem Baum zu wohnen, bestätigt 374

[ils] ont fait leur refuge d'un arbre au feuillage ombreux qui les nourrit de ses fruits et de ses feuilles 24 . In der Vie de saint Jehan

Bouche d'Or

steckt das Geflecht aus Z w e i g e n den

eingeschränkten U m f a n g des Lebensbezirks dar, die Klausur, welche der H e i lige nicht überschreitet. D a r a u f , daß J e h a n als Inkluse (Klausner) lebte, deutet der spätere, zur Bezeichnung der Behausung verwendete Ausdruck >celle< (v. 363). § 1 9 . Wie in manch anderen besonders wichtigen Augenblicken bekreuzigt sich der Heilige und begibt sich in seine Wohnstatt - mit dem Gedanken, dort etwr.s Nützliches zu schreiben. Doch verscheucht der D r a n g zu erbaulicher schriftstellerischer Tätigkeit den G e d a n k e n an die noch fehlende N a h r u n g nicht: Mais il ne set de coi puist vivre, Ne del quel part socors li viegne. A Deu se lui plaist en soviegne Par sa grâce, par sa pitié, (vv. 356-359) Jehans H a l t u n g ist exemplarisch, indem sie die evangelische Forderung: N o lite ergo solliciti esse dicentes: Quid manducabimus, aut quid bibemus, aut quo operiemur? [. . . ] N o l i t e ergo solliciti esse in crastinum (Matth. V I , 3 1 und 34); auch: [. . .] omnem sollicitudinem vestram projicite in eum [ D e u m ] , quoniam ipsi cura est de vobis (1 Petr. V , 7), in neutestamentlicher Wiederaufnahme des Psalmverses: J a c t a super Dominum curam tuam, et ipse te enutriet (Ps. L I V , 23), ernst nimmt und verwirklicht. § 20. D a ß der Heilige auch in seinem aufgezwungenen E x i l die innere O r d nung, die sich im geregelten Tagesablauf abbildet, nicht verläßt, w i r d v o m Legendendichter besonders betont.

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Erich Hornsmann, Der Wald, S. 9: »Der einzelne Baum tritt überhaupt stark hervor [im unbezähmten W a l d ] . [ . . . ] Ist es eine mehrhundertjährige Fichte, so senkt sie mit einer wundervollen Gebärde ihre untersten, schon fast mannsdicken Äste im Kreise um sich zu Boden. Sie umschließt so ein ganzes Zelt, in das man nur mit Mühe eindringen kann, in dem man aber auf dem trockenen, ganz leeren, nur mit abgefallenen Nadeln bestreuten Boden, völlig geschützt vor Regen, auch verborgen vor jedermann, wie in einer natürlichen Wohnung hausen könnte.« Auch der heilige Romanus beispielsweise nimmt zu Beginn seines Einsiedlerdaseins Wohnung unter einem mächtigen Baum, vgl. Vie des Pères du Jura, S. 246, I, 7 : Cumque oportunitatem domicilii nouus posceret hospes, repperit ab orientali parte sub radice saxosi montis, porrectis in orbitam ramis, densissimam abietem, qua; patulis diffusa comis, uelut quondam palma Paulum, ita texit ista discipulum. Extra cuius arboris orbem fons inriguus gelidissima fluenta prasstabat [ . . . ] ; ebda. S. 246,1, 8 : Hase ergo ei supradicta, ut diximus, arbor a feruore asstuum uel frigore imbrium, tamquam uere meritorum gratia uernans, praebuit iugiter tecta uirentia. Vgl. auch Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 196, vv. $973-5975, wo ebenfalls Baum und Quelle das Ideale der eremitischen Landschaft ausmachen. In dieser Übersetzung zitiert bei Jacques Lacarrière, Les Hommes ivres de Dieu, S. 220. 375

Zuerst erscheint die innegehaltene Disziplin im Gebetsleben des Heiligen (vv. 3 6 0 - 3 8 1 ) . Beim Einnachten kniet Jehan nieder, um in seiner fertig gestellten Zelle die Komplet, die marianischen Hören 2 5 und das Totenoffizium, ein maximales Gebetspensum also, zu verrichten: Li bons us ou il ert amors Voldra se il puet maintenir. (vv. 366-367) Die Befürwortung einer solchen Häufung fixierter, in vorgeschriebener Form zu verrichtender Gebete ist nicht selbstverständlich 26 . Unser Legendenautor Renaut jedoch bezeichnet diesen Brauch geradezu als die vielgerühmte »droite voie« (v. 368). § 2 1 . Doch bedeutet das Ende der Rezitation der formalisierten Gebete noch nicht das Ende des Gebetes überhaupt; der Heilige wacht vielmehr die ganze N a d i t über im Gebet: Fu tote nuit a orison, S'il dormi ce fu a genols. (vv. 372-373) Jehan stellt sich damit in die Nachfolge der nichtschlafenden Wüstenmönche 27 , die auf ihre Weise das Ideal der vita angélica zu verwirklichen suchten28, und beweist damit, daß er der Versuchung zur Trägheit und Schläfrigkeit, die den Klausner speziell und ernsthaft bedroht, nicht erliegt 29 . Beim Morgengrauen verrichtet der Heilige die kanonischen Gebete der Matutin, dann die Hören der Prim, Terz und Sext (= miedi, v. 378). Jehan besinnt 25

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Aelred de Rievaulx, La vie de recluse, S. 66, bespricht diese Gebetsweise, da er sie seiner Schwester, einer Rekluse, besonders empfiehlt. Vgl. ebda. S. 66 Anm. i , wonach die marianisdien Hören im abendländischen Mönchtum seit dem 10. Jahrhundert starke Verbreitung fanden. Oft wird in mittelalterlichen geistlich-unterweisenden Schriften gerade das kurze Gebet empfohlen, da das lange ermüde und so zur Unlust (acedia, tasdium) führe. Aelred de Rievaulx, La vie de recluse, S. 64, rät zu häufigem, aber kurzem Gebet; vgl. ebda. S. 6 j Anm. 7 und 8, wo Textstellen Cassians und die Regula sancti Benedicti, Kapitel X X , angeführt sind, welche beide das häufige kurze Gebet anraten. Vgl. Weisung der Väter, S. 27, J 2 : »Der Altvater Daniel berichtete vom Altvater Arsenios: »Die ganze Nacht durchwachte er, und wenn gegen Morgen die Natur nach dem Schlaf verlangte, sprach er zum Schlaf: >Auf, du sdilechter Knecht!< Und sitzend ruhte er ein wenig. Aber auf der Stelle war er wieder wach.« « Ebda. S. 66, 163: »Derselbe Altvater Besarion sagte: »Vierzig Jahre schlief ich, ohne midi je auf die Seite zu legen, sondern im Sitzen oder im Stehen.< « Zur asketischen Einschränkung des Schlafes vgl. auch Jacques Lacarriére, Les Hommes ivres de Dieu, S. 102. Zum Fasten und Wachen als >engelgleiche< Tätigkeit vgl. Dom Garcia M. Colorabas, Paradis et Vie Angélique, S. 167fr. Der Hortus deliciarum Herrads von Landsberg (Tugendleiter, L V I ) läßt den Klausner (Reklusen) beim Anblick des Bettes von der Tugendleiter fallen: otiositas, besonders wohl Schlafsucht, ist die Versuchung; vgl. dazu Dom Louis Gougaud, Ermkes et reclus, S. 106 und Anm. 5.

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sich darauf, daß er die Messe lesen würde, wenn ihm Meßgewänder zur V e r fügung stünden: S'armes eüst (v. 380) 3 0 . S o begnügt er sich notgedrungen mit einem Wortgottesdienst, indem er nur Evangelium und Epistel liest. § 2 2 . N a c h dem reichhaltigen Gebets-Programm macht sich der Einsiedler an die A r b e i t : Apres .1. des quaiers eslist, Si apresta son escritoire, Commenchier veut .1. saint estoire El nom del poissant roi celestre. (vv. 382-385) Eingedenk der Gefahren des Müßiggangs, arbeitet er schreibend gegen die falsche otiositas 3 1 : 30

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Der Bezeichnung der Meßgewänder als Waffenrüstung liegt eine besondere V o r stellung von der Wirksamkeit der Messe zu Grunde. Vgl. dazu Friedrich Heer, Mittelalter, S. 70: »Honorius Augustodunensis, dessen Kommentare und Schriftauslegungen vorbildlich f ü r das 1 2 . Jahrhundert sind, aber auch später noch weite Verbreitung finden, hält fest: Die Messe ist ein K a m p f gegen den Teufel; der Priester, dessen priesterliche Kleidung eine heilsstarke Streitrüstung ist, führt das Volk dabei in das ewige Vaterland, nadi hartem Streit wider den »alten, bösen Feind«, den Teufel. Als Vertreter Christi kämpft der Priester in der Messe f ü r das V o l k : Johannes Beleth (vor n 6 j ) und später Sicard von Cremona halten als einflußreiche Erklärer des Meßopfers diese volkhafte Auffassung der Messe fest. Die Scholastiker des 1 3 . Jahrhunderts lehnen sie ab, vermögen jedoch nicht, sie aus dem Glauben des Volkes zu verdrängen.« Vgl. auch Otto Müller, Theologisches zum altfranzösischen Poème moral, S. 18 Anm. 4 : »Armes Dieu - kirchliche Gewänder in Brun de la Montagne 1 4 1 8 , Folque de Candie 3575, Doon de Maience 7976.« >Armes de Sainte Eglises »armes Nostre Seignor< ist der Ausdruck f ü r die Meßgewänder auch in L a Queste del saint Graal, S. 6 2 " , S. 81 3 3 , S. 142 2 7 , S. 234 3 0 . Z u m Messelesen der Einsiedler, die Priester waren, vgl. Dom Louis Gougaud, La vie érémitique au moyen âge, S. 215 bis 2 1 8 ; und ders., Ermites et reclus, S. 1 1 2 . Der Legendenautor Renaut scheint seinen Ausführungen nach mit dem Messelesen der ganz allein lebenden Einsiedler im Prinzip einverstanden zu sein, und darüber zu denken wie Petrus Damiani in seinem Liber qui dicitur Dominus vobiscum, P L C X L V , 246, Opus X I , caput 18, der das alleinige Messelesen rechtfertigt und verteidigt. Zum Schreiben als bonum otium vgl. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 106, und ebda. S. 78 zum otium scribendi, von dem Hrabanus Maurus einmal spricht. Zur verderblichen otiositas ebda. S. 94 und passim. Aelred de Rievaulx, La vie de recluse, S. 62-64, urteilt über den Müßiggang scharf: Otiositas quippe inimica est animée, quam prie omnibus cavere debet inclusa. Est enim omnium malorum parens, libidinis artifex, pervagationum altrix, nutrix vitiorum, fomentum acidiae, tristitiœ incentivum. Ipsa pessimas cogitationes seminat [unser »penser foie«!], affectiones illicitas créât, suscitât desideria. Das >sola anima: inimica otiositass eine stehende Wendung, findet sich auch bei Hugo von Barzelle (John Morson, The >De cohabitatione fratrumr of Hugh of Barzelle, S. 129, 27). Guillaume de Saint-Thierry, La Lettre d'Or, S. 2$, 7 und 28, 1 7 , gibt als Grund seines Schreibens ebenfalls nicht das Belehren, sondern die Flucht vor der otio377

Il ne voldra mie useus estre; Qui en huiseuse s'amolie Penser li fait mainte folie, (vv. 386—388) Renaut insistiert mit Nachdruck und Vergnügen auf dem wohl von ihm erfundenen faktischen Inhalt des Schreibens 32 : Jehan nämlich zeichnet, wie er, Renaut, erbauliche Viten auf und steht demnach mit unserem Legendenautor im Bunde, der laut Prolog ja auch seine Zeit mit Absicht dazu verwendet, als Gegengewicht zu den unnützen weltlichen Dichtungen, geistliche und erbauliche Erzählungen niederzuschreiben 33 . In seinen Augen wird das A u f zeichnen von Heiligenleben ein eigentlicher Kampf gegen den Teufel, der ein solch heiliges Werk natürlich mit allen Kräften zu hintertreiben sucht: Son parcemin et penne taille [Jehan] D'entrer en la haute bataille Dont diables a grant envie, Qu'il commence si sainte vie, Ou ot mainte bele aventure, (vv. 389-393) Das ist travestierte Autobiographie, in welcher sich der Autor einen Augenblick lang an die Stelle des Heiligen begibt. § 2 3 . Die Schreibarbeit führt den heiligen Schreiber Jehan in lichte Höhen geistlichen Lebens. Sie bewirkt eine A r t raptus. Das soll wohl damit deutlich

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sitas, der Feindin, der Seele, an. Ebda. S. 65-66, 81, bezeichnet er die otiositas als Weg, auf dem die schlechten Gedanken eindringen. In Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, Herausgegeben von Heinrich Rückert, Quedlinburg und Leipzig 1852, Neudruck Berlin 1965, mit einer Einleitung von Friedrich Neumann, I X . Buch, S. 332ÎÎ., v v . 122230., klagt die Feder wegen Überanspruchung durch den Dichter. Sie wirft dem Schreibenden vor, er sei durch seine Tätigkeit ein Klausner geworden: du bist word ein klôsenasre (v. 12255). Die Bemerkung trifft zu, da sich der Dichter abschloß: du wil vrowen noch rîter sehen (v. 12260) und das Schreiben auch häufig Inklusenbeschäftigung war. Was Divi Georgii Florentis Gregorii Episcopi Tvronici Operum piorum pars II, Caput X X , S. 1069, sagt, wurde im Mittelalter allgemein angenommen: Ecclesia fidelis îedificatur quotiescumque sanctorum gesta deuotissimè replicantur [ . . . ] . Darum standen die Viten dem Gebet und der Meditation wertmäßig nahe. Guillaume de Saint-Thierry, La Lettre d'Or, S. 67, 85, betrachtet in seinem Begleitschreiben die schriftstellerische Tätigkeit als ein Formulieren frommer Gedanken, als ein zum Lesen bestimmter Akt der Betrachtung: »C'est ainsi que, pour l'édification spirituelle, on médite des pensées à écrire, on transcrit une page à lire.« Ders., ebda. S. 104, 172, empfiehlt besonders, den Novizen Heiligen-Viten und -Passionen zur Meditation zu geben, um dadurch zur Gottesliebe und Selbstverachtung anzuspornen. Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 1, v v . 1 5 - 1 8 , wenden sich in direkter Ansprache ans Publikum, in welcher der Ubersetzer und Verfasser, wohl auch der Vortragende des Erbauungstextes, von dem ihm zustehenden himmlischen Lohn sprechen: N e quer del dire de vus or ne argent, / Ne los ne pris, ce sacez veraiemant, / K a r Deu me soudra mun labur pleinement / Quant devant lui vendrum al jugement.

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gemacht sein, daß der Heilige über der Freude am Schreiben, und gewiß ebenso am Gegenstand, den Hunger vergißt 3 4 . D e r geistliche Höhenflug verdrießt den Teufel so sehr, daß er in einem unmutsvollen Monolog ( v v . 4 0 1 - 4 0 3 ) das Tintenfaß als einen wirksam gegen ihn gerichteten Schild empfindet. V o r allem jedoch steigert - neben der am Heiligen erkannten Freude - die Aussicht auf die große Nützlichkeit der geschriebenen V i t a und der folgenden weiteren Produktion des Schreibers die W u t des Teufels: Bien sot [der Teufel] se la vie est escrite, Ou il ore tant se delite, Que soventes fois le lira, Apres cestui altre escrira. (vv. 397-400) Wahrscheinlich möchte Renaut mit dieser Textstelle, in der eine fleißige L e k türe der Heiligenleben suggeriert w i r d , zu solch löblichem T u n anspornen, was ganz der Absicht unseres Legendenprologs entspricht. § 24. Zusammen mit dem verschütteten Tintenfaß tritt der Teufel nun selbst und ungetarnt auf den Plan ( v v . 4 0 1 - 4 5 2 ) . D a s leidige, v o m Heiligen bitter beklagte Ereignis ( v v . 4 0 6 - 4 1 1 ) - der Verlust der Tinte, welcher das Schreiben verhindern soll - ist der Beginn einer unheimlichen Kraftprobe. E i n lebhaftes Gespräch zwischen dem Versucher und dem Heiligen trägt sie aus. Während der heftigen Auseinandersetzung glaubt der Teufel bereits gesiegt zu haben, indem er den heiligen Schreiber zum Müßiggang verurteilte. E r versucht ihn nun auch mit dem H u n g e r und der lauernden G e f a h r der wilden Tiere zu quälen. Beides hatte der Heilige vergessen: 34

Das Vergessen des Hungers zeigt den paradiesischen Zustand an. Schon Figura spricht in diesem Sinne im Paradiesesgarten zu A d a m : J a nauras faim por bosoing ne beueras (Le Mystère d'Adam, S. 7, v. 52). Als hagiographischer Topos findet sich das Vergessen des Hungers durch geistliche Freude in der Lebensgeschichte des heiligen Eugendus: Tantum namque lectione reficiebatur ut, cum lectitaretur ad mensam, sœpissime futurorum uictus adfectu, uelut in exstasi positus, obliviscebatur adpositis [. . .] (Vie des Pères du Jura, S.420, I I I , 169). Von Bernhard heißt es in der Vita beati Bernardi de Tironio, P L C L X X I I , 1384, 27 C : Die et nocte, in oratione, in cordis contritione, et lacrymarum effusione [ w a r Bernhard als Einsiedler auf der Insel] [ . . . ] nec jam multo terreni cibi desiderio asstuabat, quem divinîE contemplationis dulcedo assidue satiabat. Vergessen des Hungers durch himmlische Freude gibt es auch in Henri d'Arci's Vitas patrum, S. 190, v v . 5 7 7 2 - 5 7 7 4 , w o das nächtliche Gebet zu geistlicher Seligkeit führt: Lores aparut le cler jur, e cil s'en levât, / E esleeçat en nostreSeignur kil criat, / E pur joie viande corporele obliat. Sogar im Heldenepos, in Le Moniage Guillaume, Seconde rédaction, S. 160, X L I I I , v v . 2 5 1 0 - 2 5 1 3 , ist dasselbe Phänomen beschrieben: Li quens se coudie [Guillaume in der Einöde] quant il fu avespré; / Cele nuit n'a bëu ne soupé, / Mais de la gloire del ciel est saoulé: / Qui bien sert Dieu ne puet esgarés! V g l . auch Maîtres spirituels au désert de Gaza, S. 8 1 , w o der Eremit Barsanuph durch geistliche Beschäftigung die irdische Nahrung vergißt. 379

Et de quel cose vivras tu? En tel dessert t'ai enbatu Ou il n'a ne pain ne ferine, Mais ors et autres salvagine Dont tes cors est mis en grant perril. (vv. 4 2 7 - 4 3 1 )

Mit H i l f e des Kreuzzeichens hält Jehan den zu ihm sprechenden Teufel in genügendem Abstand und beginnt dann entrüstet mit einer eigentlichen Teufelsvertreibung. Daraufhin flieht der Verruchte. § 2 5 . Nach dieser harten, aber gut bestandenen Bewährungsprobe kann sich das Wunder in aller Natürlichkeit einstellen (vv. 453-465). Der »sains hom« (v. 453) betet in seiner Klause in verneigter Haltung um Beistand und H i l f e Gottes. Den Schaft seiner Feder hält er in der H a n d , die Spitze steckt er in den Mund, bewegt sie dabei unter tiefen Seufzern. Es ist dies ein geradezu magischer Vorgang: En grant torment estoit ses cors. (v. 4 6 1 )

Der ganze Mensch ist an dem unheimlichen Vorgang beteiligt, auch der Leib muß ihn erarbeiten, unter dem Einwirken einer fremden Macht stehend. Jehan zieht die Feder endlich aus dem Mund und findet den Schaft voller Goldfarbe. Sofort vollführt er die probatio penn», und es bestätigt sich: die Lettern glänzen in purem Gold (vv. 4 6 6 - 4 8 1 ) . In seinem freudigen Erstaunen wünscht sich der Heilige nur mehr von dieser goldenen Tinte, um weiterhin prächtige Schriften herstellen zu können. Sein Mund stellt fortan auch tatsächlich die Goldtinte her 3 5 . Mit dem Mirakel verbindet Renaut neuerdings das Motiv von dem aus Freude vergessenen Hunger: Son fain oblie e sa dolor Oblie, Dex le sostenoit; En sa bouche l'enke prenoit, Sa salive devenoit ors, Et quant escopir voloit hors Sa colors muoit a droiture, Si com ançois fu par nature, Et alescrire estoit ors fins. (vv. 482-489) 35

Der Legendenautor hat, wahrscheinlich schon durch die Stoffwahl bedingt, keine Skrupel, Gott selbst, den »fil a la virge pucele« (v. 454), für Goldtinte sorgen zu lassen. Hingegen bezeichnet in dem etwas älteren Dialog zwischen einem Zisterzienser und einem Cluniazenser der Zisterzienser das Schreiben mit Gold als eine verwerfliche Form der otiositas: » [ . . . ] quand on réduit de l'or en poudre et qu'avec lui on peint de grandes lettres capitales«, so entspreche dies eben keiner zwingenden Notwendigkeit und gehöre also zum überflüssigen Luxus (Zitat bei Dom Jean Leclercq, Otio monastica, S. 94-95). Die Prachtliebe unseres Autors verweist, zusammen mit seiner Vorliebe für das Rezitieren zahlreicher Offizien, auf sein gutes Einvernehmen mit dem unter cluniazensischem Einfluß stehenden Mönchtum. 380

Dieses unglaubliche Mirakel hat den Teufel endgültig aus dem Feld geschlagen und verschafft dem Heiligen den Zunamen »bouce doree« (v. 494). § 26. Die Beschreibung des eremitischen Inselaufenthaltes ist damit gewissermaßen an ihrem Ziel angelangt. Es bleibt nur wenig nachzutragen: Johannes Goldmund führt nach diesem Einbruch der höllischen, dann der himmlischen Macht ein >normalesLumière de la foisapor< vgl. u. a. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 1 1 9 , und ders., Un maître de la vie spirituelle au XIe siècle, Jean de Fécamp, Paris 1946 ( = E T H S , I X ) , S. 99 Anm. 3 besonders. Dom Jean Leclercq, Otia monastica, S. 124-25, bringt Texte zu dem durch die visitatio charakterisierten Gnadenzustand bei. 381

Nach vier Jahren noch lebt sie leidend und verstoßen in einem Zimmer des Königspalastes: En une diambre estoit repuse, Enserree conme recluse. (vv. 5 4 1 - 5 4 2 )

Nach sieben Jahren ist noch keine Veränderung eingetreten. § 29. Endlich bewegt die Königin Mutter ihre leidende Tochter zu einem Geständnis 39 (vv. 566ff.). Die Tochter teilt der Mutter auch mit, daß sie gemäß der Vorhersage des Heiligen - von ihrer Leibesfrucht nicht befreit sein könne, bevor sie den Heiligen wiedergesehen habe. Die entsetzte Königin gibt zu bedenken, daß der zu Unrecht verklagte und verurteilte Kaplan längst getötet sei - durch die Menge der auf der Insel lebenden wilden Tiere nämlich. Damit bietet sich an dieser Stelle des Legendenverlaufes die Gelegenheit, die Schrecklichkeit der Insel aufs neue darzustellen. Sie erscheint nochmals als Strafort, an dem schon manche ihr Leben lassen mußten: Dame [spricht die Tochter], qui porroit envoier Sergans en Tille fiers et os, Ii i troveroient des os De ceaus qui iluec sont ocis Car assez en i a on mis. (vv. 596-600)

Wenn der Kaplan also umgekommen ist, so begnügt sich die Tochter in ihrer hoffnungslosen Lage mit dem Anblick der Knochen des Heiligen, mit seinen Reliquien. § 30. Die Fortsetzung der Rede gibt kurz den Blick frei auf die mittelalterliche Medizin und Heilmittelkunde: die Tochter nämlich glaubt, wenn man die gesammelten Knochen, die guten und die schlechten, zusammen in Wasser einlegte, so würde dieses Wasser durch die guten Knochen des Heiligen zum rettenden Pharmakon; wenn das Wasser auch nur einen heiligen Knochen berührte, wandelte es sich in den Heiltrank, der endlich die Geburt ermögliche. Jedenfalls klärt sich durch die Vermittlung der Mutter die Lage. Auf ihr Drängen hin befiehlt der König, die heilbringenden Reliquien von der Insel zu holen (vv. 664-665). § 3 1 . Die Suche nach den Überresten des heiligen Kaplans [ . . . ] qui muh Deu cremoit, E de fin euer loial Tamoit. (vv. 6 3 1 - 6 3 2 ) , 59

Audi die Vorlage Renaut's läßt die sündige Tochter erst nach dem öffentlichen Bekenntnis des Unrechts gebären können, vgl. den Text Anm. 6. Heilung und Geständnis sind in der mittelalterlichen legendarischen Literatur oft voneinander abhängig: die Krankheit ist meist Ausdruck der Sündhaftigkeit, das Bekenntnis die Heilung; vgl. auch die Creszentia-Legende, wie sie die Kaiserchronik wiedergibt. 382

veranlaßt Renaut, zwei Motive des Eremitenlebens wieder aufzunehmen : die wilden Tiere, dazu die Kräuter und Wurzeln. Vorerst beweisen die ausgesandten Knechte durch ihre Ausrüstung nochmals die Lebensgefährlichkeit des Inselaufenthaltes: Cil sont armé isnelement De bones armes por desfendre, De bien faire cascuns estrive Encontre les bestes salvages Dont tos estoit piain Ii boscages Mult les redoutent Ii sergant. (vv. 666-67; 670—73) Die so bewaffnet und voller Furcht die Insel angehenden Knechte sind das wahre Gegenbild des Heiligen. Der von den Bestien unangefochtene Einsiedler steht ahnungslos : Jehans estoit devant sa cele, Si lavoit herbes et racines, (vv. 676-677) Beim Anblick der Bewaffneten, die ihn suchen, ergreift ihn Erstaunen. § 32. Die Szene mag der Spannung und Unterhaltung zuliebe weitläufig und sorgfältig ausgestaltet sein; sie führt aber gleichzeitig ein essentielles neues Thema unerwartet in die Heiligenvita ein, dasjenige des Martyriums. Das Martyrium w a r von jeher die christliche Auszeichnung des Heiligen, der Märtyrer w a r ursprünglich der Heilige, denn das Martyrium offenbarte die größte Gottesliebe von Seiten des Menschen. Deshalb ist der erste Gedanke unseres Heiligen, die Bewaffneten kämen, ihn umzubringen 40 , und alsogleich beteuert er in einem mit erhobenen Händen gesprochenen Gebet (vv. 683 bis 40

Tatsächlich wurden Einsiedler nicht selten von Räubern oder sonstigen Wüstlingen umgebracht. Einige Beispiele gibt Hubert Dauphin, L'érémitisme en Angleterre aux XIe et XIIe siècles, in: L'Eremitismo in Occidente nei secoli XI e XII, S. 287 Anm. 58. Vgl. auch die Meinrads-Vita u. a. m., bereits die Verba seniorum und die Vit te patrum bieten reichlich entsprechendes Material. Vom Thema Räuber/Eremit macht Le Montage Guillaume ausgiebigen Gebrauch. Die erste Redaktion etwa meldet von der Tätigkeit einer Räuberbande: Un hermitage avoient dérobé, / Et les convers orent tous estranglés, / Deniers et robes en orent aporté (Les deux rédactions en vers du Moniage Guillaume, Tome premier, S. 19, X V I I , v v . 468-470). Le Moniage Guillaume, Seconde rédaction, S. 1 4 t , X X X V I I I , v v . 2 1 1 4 - 2 1 1 9 , berichtet: Mais li larron, se l'estoire ne ment, / Lor [den Einsiedlern] font maint mal et menu et sovent, / Prendent lor bestes et vendent a argent, / Lor maisons brisent, saciés certainement, / Lor dras lor tolent et mainent malement, / Ses enkembelent et loient mout forment. Ebda. S. 144, X X X I X , v v . 2 1 7 8 - 2 1 7 9 verriegelt ein Einsiedler seine Tür aus Angst vor Einbrechern. Ebda. S. 148, X L , v v . 2257-2258, erwähnt ein Einsiedler Guillaume gegenüber die Gefahr der Räuber. Ebda. S. 149-50, X L I , v v . 2291fr., wird ausführlich der Überfall auf die Einsiedelei Gaidons geschildert, bei dem sich Guillaume eben als Gast aufhält.

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691) seine Bereitschaft zum Tod, wenn es so in Gottes Willen stände. Unverzüglich eilt der Heilige den Ankömmlingen entgegen und bietet ihnen - wie könnte es bei einem vorbildlichen Einsiedler anders sein - seine Gastfreundschaft an (vv. 696-697). Der Heilige stellt damit seine Furchtlosigkeit unter Beweis. Nach kurzem Gespräch hin und her erfahren die königlichen Diener, daß der K a p l a n unbehelligt von den Tieren am Leben blieb: [. . .] merci al roi celestre, Qui m'a doné vie et peuture. (vv. 7 0 4 - 7 0 5 )

§ 33. Johannes Goldmund packt nun seine Bücher zusammen (v. 7 1 1 ) und folgt den Dienern an den Königshof ( v v . 713fF.)- Seine Rückkehr gleicht einem Triumphzug, der zugleich Freude und Schrecken über die ganze K ö nigsstadt bringt; Schrecken, da man am Heiligen schuldig geworden war. Der eigentliche Zweck der Rückkehr tritt nicht sogleich in den Vordergrund. Der unverhoffte Einzug des Heiligen in die Stadt wird vorderhand ausgekostet, um die leichte Versöhnlichkeit des Heiligen sichtbar zu machen. E r trägt Unrecht nicht nach, sondern segnet den ihm entgegen ziehenden König und die Königin. § 34. Beide königlichen Eltern kommen dem Heiligen als Büßer zu Fuß entgegen, und die langen Reden aller am Unrecht direkt Beteiligten - König, Königin, Tochter - bezeugen die Aufrichtigkeit der von Tränen begleiteten Reue. Das hier erwartete Wunder ist nicht das Mirakel der spezifischen Mirakelerzählungen, welches sich automatisch, also auch an Sündern vollzieht 4 1 . Renaut rückt die Wundertat durch ihre sensationelle Einmaligkeit allerdings in die N ä h e des Mirakels im Sinne der Mirakelerzählung. Die legendarische Kurzerzählung Renaut's bleibt aber doch ihrem Charakter nach Heiligenvita, indem nun nicht Gott demonstrativ in die menschlich verworrene Situation eingreift, sondern den Heiligen selbst das Wunder vollbringen und wirken läßt 42 . Das geschieht aber erst, nachdem die Zerknirschung und Reue der dann vom Wunder Betroffenen vollkommen ist. Hierin beläßt unser Erzähler dem Johannes-Goldmund-Stoff den Charakter der Büß- und Bekehrungslegende. § 35. Jetzt, da alles nach Wunsch und Absicht des Erzählers geordnet ist, beginnt der Heilige auf beiden Knien das entscheidende Gebet (vv. 796 bis 809). Die Verschonung von den Bestien, ein zur Bewahrung des Propheten Jonas typologisch gesehenes Faktum, soll als Unterpfand f ü r das erbetene Wunder dienen: so wie Gott vor dem Verderben bewahrte, so möge er nun heilen. Nach dem ausgeführten Kreuzzeichen gebiert die Königstochter mühelos das siebenjährige K i n d . 41

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Zu diesem Charakteristikum der Mirakelerzählung vgl. Uda Ebel, Das altromanische Mirakel, S. 5 0 - 5 1 : es konstituiert den Unterschied zur Legende. In der Vorlage genügt das Geständnis der falschen Anklage zur Ermöglichung der Geburt, die also ebenfalls medianisch, ohne Zutun des Heiligen, eintritt. 384

Die frohe T a u f e des schönen Kindes auf den N a m e n des Heiligen, das L o b Gottes, die Ehrung des Heiligen, all das ist sekundäre Ausschmückung des nun erfolgten glücklichen Endes. § 36. N u r die wunderbare Namenserklärung muß noch zu Ende gebracht werden. D a s sie begründende Wunder geschah z w a r bereits in der Inseleinsamkeit, jedoch kann es erst jetzt zu seiner vollen A u s w i r k u n g gelangen. Denn in der Abgeschiedenheit konnte es nicht voll in E r f ü l l u n g gehen, da der H e i lige in der Einöde nicht benannt wurde, es fehlte dazu die benennende G e sellschaft. J e t z t erst gelangt das Wunder an sein Z i e l : der Heilige trägt seine Bücher in die Kapelle, die Gesellschaft vernimmt, daß sie mit G o l d geschrieben sind, das ihm sein eigener M u n d bot, und nun heißen sie ihn »Bouce d'or« (v. 842 und 844). D a ß der heilige K a p l a n dank seiner vorbildlichen Lebensführung zum Bischof der Stadt ernannt w i r d , stellt einen nicht ganz zu klärenden Rest dar, der w o h l einfach das T h e m a der Ehrung erweitern soll, ohne das Heiligkeitsbild zu bereichern. § 3 7 . Diese strahlende Rüdekehr des verfolgten und rehabilitierten Heiligen steht in krassem Gegensatz zur Erscheinung des Johannes G o l d m u n d am K ö n i g s h o f , wie sie die italienischen Versionen der Legende bieten. Freilich ist unser Heiliger, im Unterschied zur italienischen Redaktion, wirklich unschuldig, so daß er keiner Buße bedarf. Z u d e m aber ist die altfranzösische E r z ä h lung dermaßen einem verfeinerten höfischen Milieu angepaßt, j a in ein solches hinein versetzt, daß eine Büßergestalt, w i e sie die italienische Legende bietet, dort unvorstellbar und deplaziert w ä r e . In den italienischen Versionen der Legende ist der Heilige ein Büßer, der in freiwilliger, extremer Erniedrigung sozusagen zum T i e r w i r d , ein zweiter Nabuchodonosor : [ . . . ] seuoprono il nuovo Nabuccodonosor, carponi, villoso ed irto, più bestia die uomo43. U n d in der anderen Fassung, w o der N a m e des Heiligen, A l b a n o , durch denjenigen Goldmunds ausgewechselt wurde, heißt es: [. . .] trovano e conducono a corte un monstro a quattro gambe, nudo e villoso 44 . 43

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La Leggenda di sant' Albano [...Je La Storia di San Giovanni Boccadoro, S. 7, wo die Geschichte unter dem Namen Albano erzählt wird. Zur Frage der Anonymität der Legende und der nachträglichen und gelegentlichen Beifügung des Namens Johannes Goldmund vgl. ebda. S. 28-29. La Leggenda di sant' Albano [...] e La Storia di San Giovanni Boccadoro, S. 35, in der Fassung, die den Protagonisten mit Giovanni Boccadoro bezeichnet. Es ist zu vermuten, daß unser Autor Renaut nebst der Makarius-Fassung aus den Verba seniorum bereits eine Fassung der Goldmund-Legende kennen konnte.

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§ 38- Das dunkle Ungeheuer Albano-Johannes-Goldmund nimmt auch am H o f e keine menschliche Lebensart mehr an. Was es in der Einöde zur Buße sich angewöhnte, das behält es bei: Sempre piangendo el suo grave peccato; Erba mangiava, e dell'acqua bevia, Ringraziando Dio glorificato. Così pel diserto cominciò andare, Con le bestie cominciò a praticare. Comandò il re che erba gli sia data Volendo provar sua condizione. Subitamente glie ne fu portata, E quel ne mangia die par un castrone. Acqua bevea e dell'erba mangiava; Con queste cose lui si nutricava 45 . Obschon die italienischen Fassungen teilweise die selben typischen Motive der Einsiedler-Vita verarbeiten wie der altfranzösische Bearbeiter - Ernährung durch Kräuter und Wurzeln, zum Trank bloßes Wasser, frommes Weinen - , könnte der Unterschied zwischen dem schuldverfallenen Büßer und dem schuldlos verklagten heiligen Johannes Goldmund nicht drastischer zum Ausdruck gebracht werden. § 39. In einem 21 Verse umfassenden Epilog nennt der Legendendichter das Anliegen, in dem der heilige Jehan sicher hilfreich ist: Johannes Goldmund erbat sich von Gott, allen schwangeren Frauen beistehen zu dürfen, damit das Kind keinesfalls ungetauft sterbe. Darauf folgt die obligate Bitte um Gebet für den Autor: Por Renaut qui a fait l'estoire En romans si cortoisement. (vv. 858-859) Im Anschluß an die stattgehabten Geständnisse, Bekenntnisse und Reuebezeigungen, erbittet Renaut die wahre Bußgesinnung für sein Publikum, um mit einem doppelten Amen seine V i t a zu beschließen. 45

La Leggenda di sant' Albano [...] e La Storia di San Giovanni Boccadoro, S. 103 und S. 105. Ebda. S. 75, wird unter dem Namen Albano erzählt: » [ . . . ] e che quivi [nel romitaggio] viveva di radici d'erbe e di pomi salvatichi e d'acque di fontane ch'erono in quello scuro vallone.« Und ebda. S. 77: » [ . . . ] e' cani ebbono trovato questo romito che non uomo, ma una spaventevole scura e mostruosa e strana bestia parea [ . . . ] . « Daß es an historisch beglaubigten, real tierähnlichen Eremiten nicht ganz fehlte, beweist der von Joseph Grillon, Bernard et les ermites et groupements érémitiques, S. 254, erwähnte Einsiedler, welcher nackt im Walde lebte und sich ernährte wie ein Tier. Über die hier durchdringende dunkle Seite des Eremitenbildes informiert aufschlußreich Hans D. Mauritz, Der Ritter im magischen Reich. Märchenelemente im französischen Abenteuerroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Diss. (masdi.), Zürich 1970, im Kapitel über den Waldmenschen. 386

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