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German Pages 408 [410] Year 2012
Christiane Nasse Erdichtete Rituale
POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE (PAwB) Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) –––– Band 38
Christiane Nasse
Erdichtete Rituale Die Eingeweideschau in der lateinischen Epik und Tragödie
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10133-2 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Zugleich Dissertation an der Universität Erfurt, 2008 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany
VORWORT Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 2008 von der Philosophischen Fakultät an der Universität Erfurt angenommen wurde. Den Anstoß, mich mit dem Thema zu befassen, erhielt ich beinahe zufällig – falls es so etwas gibt wie Zufall: Nach einer Lehrveranstaltung an der Freien Universität Berlin, in der es einmal um Jesu Opfertod und das jüdische Opferritual gegangen war, brachte mich die eher nebensächlich geäußerte Frage eines Kommilitonen, wie denn das Opfer bei den Römern aussähe, in die Verlegenheit, keine Antwort zu wissen. Das wollte ich ändern. Überaus glücklich schätzen konnte ich mich, daß Prof. Dr. Jörg Rüpke an der benachbarten Universität Potsdam tätig war und die Betreuung meines Projektes übernahm. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank für die Hilfe zur Präzisierung des Themas, die Ermutigungen und fruchtbaren Diskussionen. Dank sagen möchte ich auch den Teilnehmerinnen des kleinen Doktorandenkolloquiums in Potsdam, insbesondere Dr. Anne Glock, Dr. Martina Dürkop und Prof. Dr. Ulrike Egelhaaf-Gaiser, für Anregungen und wertvolle Hinweise. Eine erste Gelegenheit, die Problematik im Ansatz vorzutragen, erhielt ich bei einer Tagung an der Universität Potsdam, zu der die Herren Professoren Pedro Barceló, Peter Riemer, Jörg Rüpke und John Scheid eingeladen hatten. Ihnen als Herausgebern der Potsdamer altertumswissenschaftlichen Beiträge möchte ich herzlich danken für die Aufnahme meiner Dissertation in diese Reihe. Mein damaliger Beitrag im ersten Band der Potsdamer altertumswissenschaftlichen Beiträge „Zum Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)“ ist in veränderter Fassung Bestandteil dieser Arbeit. Weitere Möglichkeiten zur Diskussion wurden mir in Veranstaltungen des Seminars für Religionswissenschaft an der Universität Erfurt gegeben, nachdem Prof. Dr. Jörg Rüpke die dortige Professur für Vergleichende Religionswissenschaft erhalten hatte. Für Zuspruch und Ermunterung nach meinen Vorträgen danke ich vor allem auch Prof. Dr. Katharina Waldner. Ebenso möchte ich meinen herzlichen Dank dem gesamten Promotionsausschuß sagen. Das Zweitgutachten hat in der Spätphase meiner Arbeit freundlicherweise Prof. Dr. Veit Rosenberger übernommen, dafür und für Anregungen und kritische Fragen bin ich ihm sehr dankbar. Finanzielle Unterstützung habe ich durch ein Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung an der Universität Potsdam erhalten. Hierfür schulde ich großen Dank. Weitere finanzielle Förderung wurde mir durch das vom DAAD geförderte Projekt Prokope „Divination im antiken Mittelmeerraum“ der Universität Erfurt und der EHPE Paris zuteil, das mir einen mehrwöchigen Aufenthalt in Paris ermöglichte. Für den freundlichen Empfang und ihre Unterstützung danke ich besonders Prof. Dr. Nicole Belayche und Prof. Dr. John Scheid sowie PD Dr. Virgilio Masciadri für seine Begleitung in das Magazin des Louvre, wo das be-
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Vorwort
rühmte Extispicium-Relief anzuschauen war. Auch den Mitarbeitern des Museums, die ihre Zeit für meinen Besuch opferten, möchte ich danken. Andere freundliche Menschen, die mir auf vielfältige Weise behilflich waren, kann ich nicht namentlich aufführen, dennoch gilt ihnen allen mein aufrichtiger Dank. Die Bürde der Druckkosten wurde mir beträchtlich erleichtert durch einen Zuschuß der „Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften“. Den Damen und Herren des Beirats und den Trägern der Stiftung danke ich sehr für ihre Unterstützung. Ebenso möchte ich dem Verlag Franz Steiner herzlich danken für die so freundliche Betreuung und Publikation meiner Dissertation. Schließlich bleibt mir, Dank zu sagen denjenigen, die ganz unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurden bei meinem Bemühen um Übersicht und Durchblick. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden hat meine immer wohlwollende Zuhörerin Sabine Naujoks auf langen Spaziergängen geduldig zugelassen. Mit wechselnden, aber nie schwindenden Bücherstapeln habe ich das Zuhause meines Freundes Marco Torini verunziert und sein Wohnzimmer zu meinem Arbeitsplatz verwandelt. Hier muß ich Abbitte tun. Darüber hinaus schulde ich ihm Dank für mannigfache technische Hilfe und gehobene Infrastruktur vom WLAN bis zum Laserdrucker. Für praktische Ratschläge und Ermunterungen danke ich vor allem Dr. Heike Wennemuth und Dr. Udo Wennemuth. Meinen Eltern gebührt allerhöchster Dank für ihre fortwährende Zuversicht. Ihnen möchte ich mein Buch widmen.
Berlin-Kreuzberg
März 2012
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG................................................................................................. 13 1 DIE HYPOTHESE VON EINER ETRUSKISCH-RÖMISCHEN DICHOTOMIE DER EINGEWEIDESCHAU ............................................ 17 1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze ........................................................ 1.1.1 Zu einer Klassifizierung von hostiae in ‚animales‘ und ‚consultatoriae‘......................................................................... 1.1.2 Zur Entwicklung von Kriterien einer etruskisch-römischen Dichotomie............................................................................... 1.1.3 Das Interesse an einer Rekonstruktion von Kultsatzungen......... 1.1.4 Das Voraussetzen eines ‚altrömischen‘ Kultes bei den Fratres Arvales ..................................................................................... 1.1.5 Vermischung und Religionsverfall – ein Dekadenzmodell ........ 1.2 Revision der Hypothese ...................................................................... 1.2.1 Das Kriterium des Zwecks ........................................................ 1.2.2 Das Kriterium, wo sich die ‚exta‘ bei der Beschau befinden...... 1.2.3 Das Kriterium, wie das Beschauen genannt wird....................... 1.2.4 Das Kriterium, welche Organe beschaut werden ....................... 1.2.5 Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge nach der Revision.
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2 ZUR PROBLEMATIK EINER SAKRALEN TERMINOLOGIE FÜR DIE EINGEWEIDESCHAU: DAS BEISPIEL ‚CONSULERE‘.................. 50 2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘ ..................................... 2.1.1 Ermittelte Texte zum begrifflichen Umfeld von ‚exta consulere‘ ................................................................................. 2.1.2 Das weitere Vorgehen............................................................... 2.1.3 Zum Vergilischen ‚exta consulere‘ und ‚lucos consulere‘ ......... 2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (MACR. Sat. 3,5,5)..... 2.2.1 Verbreitung und Kontext .......................................................... 2.2.2 Zur wissenschaftlichen Diskussion um die Ausdrücke ‚hostia consultatoria‘ und ‚hostia animalis‘ .......................................... 2.2.3 Quellenkritische Untersuchung ................................................. 2.2.4 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zur Quellenkritik...
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Inhaltsverzeichnis
2.3 Zum vermeintlich sakralen Fachbegriff ‚exta consulere‘ bei SERVIUS (Aen. 4,64) .......................................................................................... 2.3.1. Neuinterpretation von SERV. Aen. 4,64 ..................................... 2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘ ........................................................................................... 2.4.1. Geschichtliche Einführung........................................................ 2.4.2. Das begriffliche Umfeld zum Schlachtritual in den Erlassen ..... 2.4.3. Der Kontext zum Schlachtritual in der Gesetzgebung ............... 2.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zur Frage einer sakralen Terminologie ......................................................................................
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3 METHODEN ZU EINEM NEUANSATZ .................................................. 103 3.1 Quellenermittlung und Quellenauswahl............................................... 103 3.2 Methoden zu einer Neubearbeitung der Quellen .................................. 105 3.3 Bestandsaufnahme .............................................................................. 110
4 DIDO (VERGIL, AENEIS 4,1–129)........................................................... 113 Einführung.................................................................................................. 4.1 Eingeweideschau und Hochzeitsauspizium.......................................... 4.2 Einleitende Skizzierung des Inhalts ..................................................... 4.3 Text und Übersetzung der zentralen Stelle........................................... 4.4 Zum Aufbau des weiteren Kontexts (VERG. Aen. 4,1–129).................. 4.5 Die Hochzeitsthematik in der Dido-Episode........................................ 4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno ....................................................................................... 4.6.1 Der Forschungsstand zu den Gottheiten insgesamt .................... 4.6.2 Eine textimmanente Betrachtung: die Götterreihung ................. Ceres ........................................................................................ Phoebus .................................................................................... Pater Lyaeus ............................................................................. Iuno .......................................................................................... Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen zu den Götterreihungen........................................................................ 4.6.3 Die Gottheiten im einzelnen – historische Bezüge..................... Zu Tellus-Ceres ........................................................................ Zu Phoebus-Apollon................................................................. Zu Pater Lyaeus........................................................................ Zu Iuno..................................................................................... 4.6.4 Die den Gottheiten dargebrachten Tiere – Objekte der Eingeweideschau ...................................................................... 4.7 Zu den Ausführenden im Ritual .......................................................... 4.7.1 Die beiden Frauen: Dido und Anna...........................................
113 114 117 118 120 122 125 125 128 129 130 130 132 132 133 133 134 135 136 137 140 140
Inhaltsverzeichnis
4.7.2 Die Rolle von Anna .................................................................. Die Vertraute – der Forschungsstand ........................................ Anna, eine religiöse Expertin? .................................................. Exkurs: Der Darstellungstyp eines religiösen Experten ............. 4.7.3 Dido ......................................................................................... Die religiöse Kompetenz........................................................... Die Unerreichbarkeit der Götter und das nicht-verlautende Gebet........................................................................................ Träume als Prodigien und ihre Sühnung.................................... Die metaphorische Ebene ......................................................... 4.7.4 Die vates (VERG. Aen. 4,65)...................................................... Vates in der Ritualdarstellung? ................................................. Interpretationen des vates-Satzes – der Forschungsstand........... Die grammatische Struktur von ‚vatum ignarae mentes‘ ........... 4.8 Die Suche nach dem Ergebnis aus der Eingeweideschau – die litatio... 4.8.1 Die Funktion des vates-Satzes – das nicht mitgeteilte Ergebnis . 4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten............................... 4.9.1 Der Forschungsstand zur Frage des Zeitraums .......................... 4.9.2 Der zirkuläre Zeitverlauf und die Zeit der heimlichen Liebe ..... 4.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
9 141 142 144 144 148 148 148 149 150 153 154 155 156 159 161 162 163 167 172
5 CIPUS (OVID, METAMORPHOSEN 15,565–621) ................................... 175 Einführung.................................................................................................. 5.1 Text und Übersetzung ......................................................................... 5.2 Der szenische Aufbau ......................................................................... 5.3 Skizzierung des Inhalts........................................................................ 5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen .............................. 5.4.1 Aspekte zur Priorität der von VAL. MAX. referierten Version (5,6,3)....................................................................................... Zur Porta Raudusculana – Aition und Exemplum...................... 5.4.2 Prodigium und Eingeweideschau eine Kompilation aus VAL. MAX. 5,6,3 und 5,6,4 sowie Livianischen Passagen .................. 5.4.3 Landschenkung, Pflügen, Triumph und freiwilliges Exil: Einflüsse von Livius und Dionysios von Halikarnassos............. 5.5 Die Funktion der Cipus-Episode im narrativen Kontext....................... 5.5.1 Haupt- und Nebenerzählungen.................................................. 5.5.2 Struktur und aitiologischer Stil ................................................. 5.5.3 Die literarische Funktion: Aitiologisierung und Historisierung.. 5.6 Zur erzählten Zeit................................................................................ 5.7 Die Gottheiten..................................................................................... 5.8 Die im Ritus Handelnden: Cipus und ein Haruspex ............................. 5.8.1 Der Haruspex und seine Weisung .............................................
175 176 179 180 182 182 184 186 193 198 199 200 203 205 207 209 209
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Inhaltsverzeichnis
Historische Einordnung ............................................................ Die bedingende Form der Ankündigung ................................... Der Stellenwert der Eingeweideschau ....................................... 5.8.2 Cipus: Triumphator, Selbstanzeigender und Melder eines Prodigiums ............................................................................... Der Triumph............................................................................. Die Anzeige eines Landesverrats .............................................. Das Melden eines Prodigiums................................................... 5.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
209 210 212 214 214 217 218 219
6 ARRUNS (LUCAN, BELLUM CIVILE 1,584–638) .................................. 224 Einführung.................................................................................................. 6.1 Einleitende Skizzierung des Inhalts und der Kontext ........................... 6.2 Text und Übersetzung ......................................................................... 6.3 Der Aufbau ......................................................................................... 6.4 Skizzierung des Inhalts........................................................................ 6.5 Die narrative Zeit ................................................................................ 6.6 Die Götter ........................................................................................... 6.6.1 Iuppiter Latiaris ........................................................................ 6.6.2 Inferni dei................................................................................. 6.6.3 Superi....................................................................................... 6.7 Die Ausführenden ............................................................................... 6.7.1 Arruns ...................................................................................... 6.7.2 Ministri..................................................................................... 6.7.3 Die römische Republik ............................................................. 6.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
224 225 227 229 231 233 237 237 240 240 240 240 243 244 245
7 TIRESIAS UND MANTO (SENECA, OEDIPUS 291–402)....................... 248 Einführung.................................................................................................. 7.1 Einleitende Skizzierung des Inhalts bis zur Eingeweideschau.............. 7.2 Text und Übersetzung ......................................................................... 7.3 Der szenische Aufbau ......................................................................... 7.4 Skizzierung der Eingeweideschau ....................................................... 7.5 Vorlagen und Tradition ....................................................................... 7.6 Das literarische Personal ..................................................................... 7.6.1 Die Fragenden: Oedipus und Kreon .......................................... 7.6.2 Die Interpreten: Tiresias und Manto.......................................... 7.6.3 Die Rolle der Ministri............................................................... 7.6.4 Die verehrten Gottheiten........................................................... 7.7 Die narrative Zeit ................................................................................ 7.7.1 Zur Methode der zeitlichen Analyse im Drama ......................... 7.7.2 Zur Ordnung der dramatischen Handlung .................................
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Inhaltsverzeichnis
7.7.3 Der Handlungsverlauf im deskriptiven Dialog zwischen Tiresias und Manto ................................................................... 7.7.4 Die Deutungsebene in Mantos Reportage.................................. Die Feuer.................................................................................. Das Verhalten der Tiere ............................................................ Die Eingeweideschau und die nachfolgenden Ereignisse........... 7.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
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273 278 278 280 281 285
8 ATREUS (SENECA, THYESTES 641–788) .............................................. 288 Einführung.................................................................................................. 8.1 Skizzierung des Inhalts und der Situation bis zum Ritual..................... 8.2 Text und Übersetzung ......................................................................... 8.3 Der szenische Aufbau des Ritualberichts............................................. 8.4 Skizzierung des pervertierten Schlachtrituals....................................... 8.5 Der Kontext von Sterben und Bestattung............................................. 8.6 Die zeitliche Analyse .......................................................................... 8.6.1 Geschwindigkeit und Ordnung des Erzählten: ferrum – ignis – Thyestes ................................................................................... 8.6.2 Die Frequenz des Erzählten – oder von den drei Söhnen ........... 8.7 Das literarische Personal ..................................................................... 8.7.1 Die Ausführenden..................................................................... Thyestes ................................................................................... Atreus....................................................................................... 8.7.2 Die angesprochenen Mächte ..................................................... Atreus und die impia ira............................................................ Tantalus, der Urahn .................................................................. Die Totengötter......................................................................... Die Himmelsgötter ................................................................... 8.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
288 290 292 298 299 304 305 307 311 313 313 313 314 317 317 317 318 319 319
9 HANNIBAL (SILIUS ITALICUS, PUNICA 1,81–139) ............................. 324 Einführung.................................................................................................. 9.1 Der nähere Kontext und das Prooem ................................................... 9.2 Text und Übersetzung ......................................................................... 9.3 Der Aufbau ......................................................................................... 9.4 Skizzierung des Inhalts........................................................................ 9.5 Die Gottheiten..................................................................................... 9.5.1 Die handelnde Iuno................................................................... 9.5.2 Die Manen der Dido ................................................................. 9.5.3 Numina divae Henaeae – diva triformis .................................... 9.5.4 Nostri numina Martis ................................................................ 9.5.5 Superi.......................................................................................
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Inhaltsverzeichnis
9.6 Die Ausführenden im Ritual................................................................ 9.6.1 Sacerdos Massyla ..................................................................... 9.6.2 Hamilkar .................................................................................. 9.6.3 Hannibal................................................................................... 9.7 Die erzählte Zeit im Ritual .................................................................. 9.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.........................................
340 340 344 346 347 349
10 EIN FAZIT AUS DEN LITERARISCHEN ANALYSEN........................... 352 10.1 Status und Veränderung: Das Überschreiten von Grenzen ................... 10.2 Persönliches Schicksal und Staatswohl................................................ 10.3 Omina oder Prodigien?........................................................................ 10.4 Die Kommunikation mit den Göttern .................................................. 10.5 Die religiösen Experten und Mittelspersonen ...................................... 10.6 Das Ergebnis – Kundtun und Verbergen.............................................. 10.7 Das Motiv der Mantik ......................................................................... 10.8 Zwischen Adaption römischer Kultverhältnisse und literarischer Verfremdung.......................................................................................
353 353 354 358 360 362 364 365
ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................ 371 Literaturverzeichnis .................................................................................... Register ...................................................................................................... Quellenregister.................................................................................... Personen- und Sachregister .................................................................
376 398 398 404
EINLEITUNG Es geht in dieser religionsgeschichtlich-literaturwissenschaftlich gewichteten Untersuchung um den Ritus der Eingeweideschau im römischen Kulturraum. Die Problematik, wie und ob denn dieser Schlachtritus rekonstruiert werden könne, wird auf zweifache Weise entwickelt: Zuerst werden die Ergebnisse und Methoden der religionsgeschichtlichen Forschung zu diesem Ritus überprüft und Fehleinschätzungen aufgezeigt. Im Resultat muß es zu einer Dekonstruktion der Hypothese, daß es eine römische und eine etruskische Eingeweideschau gegeben habe, kommen, einer Hypothese, der seit über einhundert Jahren Gültigkeit zugesprochen wurde. Zum zweiten werden sechs Quellentexte aus der lateinischen Dichtung der frühen Kaiserzeit, die wie wenige einen komplexen Ablauf des Rituals zeichnen, literaturanalytisch untersucht und in ihrem Wert für die historische Forschung relativiert. Die zu untersuchenden Darstellungen einer Eingeweideschau finden sich in Epen und epennaher Literatur bei VERGIL, OVID, LUCAN, SILIUS ITALICUS sowie in zwei Tragödien von SENECA. Es trifft sich, daß diese wenigen in Frage kommenden Texte zugleich einen großen Teil der Belege für die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau enthalten, so daß mit der literarischen Analyse kontextbezogen auch die Sicht auf diese Belege korrigiert werden kann. Da in der älteren Forschung ungenügend auf die Frage nach der Historizität der Quellen eingegangen worden ist und die gebotenen Angaben in einem referentiellen Verständnis als Informationen über einen historischen Ritus aufgefaßt wurden, wird in dieser Arbeit nun die Literarizität der Texte herausgearbeitet mit der Frage, wie der Ritus literarisch überformt ist. Um die Erzählstrategien zu verdeutlichen, wird eine Methode aus der Erzählforschung eingesetzt – entwickelt von dem Romanisten GÉRARD GENETTE. Hierdurch wird nicht nur die Struktur des jeweiligen Textes geklärt werden können, sondern außerdem verdeutlicht, von welchem Personal und welchen Phasen im Ritus erzählt oder eben nicht erzählt ist. Neben dem Zeitverlauf interessiert, welche Personen und Gottheiten in die literarische Handlung eingebunden sind. Zudem ermöglicht die Untersuchung, unter Wahrnehmung literarischer Traditionen intertextuelle Bezüge als Alternative zu historischen aufzuzeigen, so daß die Ereignisse in der Eingeweideschau, die Personen und vor allem auch Gottheiten als stark von der Handlung des Darzustellenden bedingt beschrieben werden können. Eine konsequente Beachtung der Textimmanenz führt unter Abgleich von literaturwissenschaftlicher und religionshistorischer Literatur zu neuen Interpretationsansätzen. Nach den Einzelanalysen können in einem diese Texte miteinander vergleichenden Fazit die Funktionen der Ritualbeschreibungen umrissen werden. Wenn hier von einem Ritus der Eingeweideschau gesprochen wurde, so ist darunter kein eigenständiges Ritual zu verstehen, sondern eine besondere Phase in
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Einleitung
dem komplexen Ritual einer Schlachtung.1 Eine ahistorische, systematische Betrachtungsweise, die Kategorien nach einem Zweck von Opferriten wie Bitt- und Dankopfer, Sühnopfer oder Divinationsopfer bildet,2 ist in der Forschung zugunsten eines historischen Ansatzes zurückgetreten. Wie das Schlachtritual im griechischen Kulturraum anhand von Vasenbildern und Votivreliefs, die in rituellen Handlungen verschiedene Phasen erkennen lassen, rekonstruiert worden ist,3 so werden auch zur Rekonstruktion der Schlachtriten im römischen Kulturraum einzelne Phasen der Rituale in den Blick genommen.4 Unter dieser Maxime stehend gibt es seit einigen Jahren neuere Untersuchungen zu Riten und Kultus in der klassischen Antike.5 Eine unter den vielen Sequenzen des Rituals ist die Beschau der Eingeweide, die in der Antike als eine besondere divinatorische Komponente wahrgenommen wurde. Zwar wurde auch in anderen Phasen des Rituals auf Zeichen, die von den Göttern gesandt gedacht wurden, geachtet, aber der Beschau der Eingeweide kam eine herausgehobene Bedeutung zu. In einer Kommunikation mit den Göttern, die durch Gebet und Darbringung aufgenommen worden war, wurde durch die Zeichen bei der Eingeweideschau eine Antwort erwartet. Mit diesem divinatorischen Moment liegt die Eingeweideschau in zwei Bereichen religionssystematischer Forschung, zum einem dem Opferritus und zum anderen der Divination. Die Divination oder – mit dem griechischen Wort – Mantik ist bestimmt als Kommunikation mit den Göttern mittels eines Zeichensystems.6 Formen der Divination umfassen jedoch nicht nur die Zeichendeutung aus einer umfassenden Anzahl von zumeist Naturereignissen, sondern auch göttliche Verlautbarungen, Aussprüche, die durch religiöse Experten vermittelt werden: Orakelsprüche, Prophetie und Weissagung gehören hierzu.7 Vorzeichen, prodigia und omina, bilden einen weiteren Bereich in der Kommunikation: Sie gehen als Anzeige einer Krise, die als Zorn der Götter aufgefaßt und formuliert wird, religiösen 1 2
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Vgl. SCHEID 1990b, S. 285–757. Ein solcher Ansatz ist dokumentiert in einschlägigen Lexikonbeiträgen vor allem der 1960-er Jahre, wie SCHIMMEL 1960, bes. Sp. 1638; LANCZKOWSKI 1962, bes. Sp. 1167. – Nach einer antiken Einteilung klassifiziert THEOPHRAST, überliefert bei PORPHYR. abst. 2,2–3, die rituelle Schlachtung als ein sogenanntes ‚blutiges Opfer‘. Vgl. VAN STRATEN 1995; weiteres zum Opferritual im griechischen Kulturraum s. ThesCRA 1, 2004, S. 59–134. Vgl. SCHEID 1997a; zu den Opferriten in der römischen Kultur s. ThesCRA 1, 2004, S. 183– 235; PRESCENDI 2007. Zu den Opferriten bei den Etruskern s. ThesCRA 1, 2004, S. 135–182. Hinzuweisen ist auf die Forschungsberichte „Römische Religion“ (ARG 2, 2000, S. 283–345; 5, 2003, S. 297–371; 9, 2007, S. 297–404; 11, 2009, S. 301–411). Die Beiträge des Kongreßbandes GEORGOUDI et al. 2005, beschäftigen sich mit Aspekten des Opfers im antiken Mittelmeerraum von der Zeit der altorientalischen Hochkulturen bis in die Spätantike, wobei diejenigen zum römischen Opfer sich auf das Festmahl konzentrieren. Vgl. GLADIGOW 1990; RÜPKE 2005c, bes. S. 1442–1444. Vgl. zur Mantik in Griechenland ThesCRA 3, 2005, S. 1–51, bes. S. 6 (Schlachten, Leberschau); zur Divination in Etrurien S. 52–78, bes. S. 54–59; zur „Divination romaine“ S. 79– 104. – Vgl. HEINTZ 1997 zu Orakel und Prophetie in der Antike; ROSENBERGER 2001a zu griechischen Orakeln; JAILLARD / WALDNER 2005 und BELAYCHE / RÜPKE 2007 untersuchen vor allem kaiserzeitliche Divinationsrituale und -konzepte.
Einleitung
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Bewältigungsstrategien voraus.8 Den Verdacht des Mißbrauchs von angeblich göttlichen Zeichen zu politischen Zwecken gibt es bereits in der Antike. Untersuchungen zu einer politischen Inanspruchnahme des Machtinstruments von Wissen um die Zukunft zeigen diese Vorgänge.9 Weil in der Antike ebenfalls der Vorwurf der ‚Magie‘ aufkommt, ist eine Verhältnisbestimmung der antiken Formen von ‚Divination‘ zu ‚Magie‘ und ‚Religion‘ ein weiterer notwendiger Bereich wissenschaftlicher Untersuchungen.10 Speziell zur Divination der Etrusker handelt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die vor allem einen Überblick über die Erwähnungen in literarischen Quellen verschafft.11 Der Vergleich der etruskischen Divination mit den Verhältnissen in Griechenland und besonders im Alten Orient ist häufig thematisiert.12 Als frühe Arbeiten zu beiden Themen sind zur Divination in der klassischen Antike zu nennen das vierbändiges Werk Histoire de la divination dans l’antiquité von AUGUSTE BOUCHÉ-LECLERCQ, in dessen letztem Band dieser über die Eingeweideschau handelt,13 und für den Schlachtritus BARNABÉ BRISSON, der einzelne Phasen im Ritus mit antiken Texten dokumentiert.14 Auf diese Weise ist bei BRISSON ein kleines Textcorpus zur Eingeweideschau geboten, auf das häufig verwiesen wird.15 Um die Diskussion über die Dichotomie der Eingeweideschau im römischen Kulturraum zu veranschaulichen und die Quellen auszuwerten, wird folgendes Vorgehen gewählt: In einem ersten Schritt soll in einem Kapitel zur Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie die historische Entwicklung, die zu der genannten Hypothese führte, beschrieben werden, in einem zweiten Teil dieses Kapitels die Argumentation zur Hypothese verfolgt und hinterfragt werden. Ein zweites Kapitel setzt bei der als problematisch erkannten Rekonstruktion an und zeigt ex8
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Zum römisch-etruskischen Bereich von Prodigien vgl. WÜLKER 1903; LUTERBACHER 1904; insbesondere MACBAIN 1982; ROSENBERGER 1998, einen Forschungsüberblick bietend S. 12f.; WILLIAM RASMUSSEN 2003; dazu vgl. RÜPKE 2005c, S. 1444 Anm. 11; ENGELS 2007. Vgl. FÖGEN 1993; RÜPKE 2005a, S. 79; RÜPKE 2005c, S. 1441–1456. Vgl. GRAF 1999a; BREMMER 1999, bes. S. 9–12 zum Verhältnis Religion und Magie; DICKIE 2001; JOHNSTON / STRUCK 2005; BELAYCHE 2005a; BELAYCHE 2005b; jetzt OTTO 2011; zu „Magische[n] Rituale[n]“ vgl. FOWLER / GRAF / NAGY 2005 s. ThesCRA 3, 2005, S. 283–301. La Divination dans le monde étrusco-italique 1985–2005 (Caesarodunum Suppl.), Tours. Vgl. BLOCH 1964; BLOCH 1965; BLOCH 1966; BLOCH 1984; BLOCH 1991. – Zur Divination in Mesopotamien vgl. MAUL 1994; zum babylonischen Leberorakel vgl. LEIDERER 1990. Einen kulturvergleichenden Ansatz zu Orakel und Divination in Antike und Moderne versuchte eine Ausstellung, wobei bezüglich der Eingeweideschau die klassischen antiken Gesellschaften Mesopotamiens, Griechenlands und Etruriens mit den Mentawei im Indonesien der heutigen Zeit verglichen wurden: Orakel. Der Blick in die Zukunft, (Sonderausstellung zur Jahrtausendwende Museum Rietberg), Zürich 1999, bes. Kap. „Aus den Eingeweiden die Zukunft deuten“, S. 56–95. BOUCHE-LECLERCQ 1882, S. 61–74. Erstausgabe BRISSON, BARNABÉ, De formulis et sollemnibus populi Romani verbis libri 8, Paris 1583. – Zu den Problemen, die sich aus späteren Bearbeitungen ergeben, s.u. Kap. 1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze. Beispielsweise MARQUARDT 1878, S. 177 Anm. 5; MARQUARDT 1885, S. 182 Anm. 9.
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Einleitung
emplarisch in vier Untersuchungen, die nach einer proklamierten Sakralsprachlichkeit von consulere fragen, alternative Erklärungsansätze auf. In einem dritten Kapitel sollen Methoden zu einem Neuansatz in der Quellenauswertung vorgeschlagen werden. In den sechs nachfolgenden Kapiteln werden die wenigen komplexen Darstellungen einer Eingeweideschau, die sich in der römischen Literatur finden, untersucht. Daran soll sich ein zehntes Kapitel anschließen, das in einem Überblick die Gemeinsamkeiten der literarischen Darstellungen beschreibt.
1 DIE HYPOTHESE VON EINER ETRUSKISCH-RÖMISCHEN DICHOTOMIE DER EINGEWEIDESCHAU Bei der Eingeweideschau im römischen Kulturraum stellt sich ein Problem als prominent dar: Die Forschung hat zwei unterschiedliche Riten der Eingeweideschau, einen römischen und einen etruskischen, rekonstruiert. Jedoch erlauben die einzelnen Belege keine klare Trennung, so daß auf eine Vermischung der zwei als unterschiedlich proklamierten Riten geschlossen wurde. Dieser Forschungsstand, der vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammt, ist immer noch allgemein gültig.1 Jedoch handelt es sich bei den als Ergebnisse vorgetragenen und in Lexika und Handbücher eingeflossenen Angaben lediglich um unbestätigte Hypothesen. Die Mängel der Hypothese von einer Vermischung zweier Formen der Eingeweideschau, die sich bei einer genauen Durchsicht der Argumentation und der Belege zeigen lassen, sind gravierend. Obwohl die Forschung zur Eingeweideschau seit langer Zeit als abgeschlossen galt, muß sie hier wieder aufgenommen werden. Solange das Bild der Eingeweideschau in der römischen Religion nicht revidiert ist, kann beispielsweise eine komparatistische Arbeit zu diesem Schlachtritual nur erschwert stattfinden. Das Bemühen, bei einer Rekonstruktion einen etruskischen von einem römischen Ritus der Eingeweideschau abzugrenzen, spiegelt die längst überholte Fragestellung nach dem Ursprung wider, in deren Bann die angesprochenen Untersuchungen des 20. Jahrhunderts stehen. Die Ansätze zu einer Scheidung der verschiedenen Nationen sind in die Tradition von Romantik und Historismus einzuordnen. Dieser Ansatz war darauf ausgerichtet, in der Betrachtung von Sprache, Kunst und Religion die Einheit einer Nation zu erkennen und diese gegen andere Nationen abzugrenzen. Als Vertreter dieser Richtung ist CARL OTFRIED MÜLLER zu sehen,2 der mit seiner Preisschrift Die Etrusker die Forschung zu den Etruskern richtungsgebend beeinflußte, ja erst als eigenständiges Forschungsgebiet etablierte. MÜLLERs Darstellung zur Eingeweideschau ist für die Entwicklung, die zu einer Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau führte, entscheidend. Diese Hypothese läßt sich in einer Synthese von mehreren Forschungsmeinungen folgendermaßen formulieren: ‚Es gibt im italischen Raum zwei unterschiedliche Riten der Eingeweideschau, eine etruskische und eine römische. Diese Riten sind unterscheidbar aufgrund von unterschiedlichen lateinischsprachigen sakralen Termini und unterschiedlichen Verfahrensweisen.‘
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CAPDEVILLE 1997, S. 478 Anm. 77; MAGGIANI 1998, S. 146; HAACK 2003, S. 36f. Anm. 144 und Anm. 145; RAFANELLI / DONATI 2004, S. 181; PRESCENDI / HUET / SIEBERT 2004, S. 228; MAGGIANI 2005, S. 55; PRESCENDI 2007, S. 40. Vgl. ISLER-KERÉNYI 1998, bes. S. 264.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
Um die in der Hypothese liegende Problematik zu verdeutlichen, soll die Forschungslage zur italischen Eingeweideschau im folgenden zunächst in ihrer Entstehung skizziert werden. Der Grund für diese Vorgehensweise ist die Unübersichtlichkeit, die im Für und Wider, und dann doch Wieder-gelten-Lassen von Argumenten und Belegen der Hypothese zur Eingeweideschau liegt. Speziell einzugehen ist dabei auch auf verschiedene Sachprobleme: So soll dargestellt werden, inwieweit eine Klassifizierung von Opfertieren in hostiae animales und hostiae consultatoriae die hier in Frage zu stellende Hypothese und Klassifizierung berührt. Im Anschluß daran soll die Entwicklung der vier am häufigsten genannten Kriterien, die angeblich eine Unterscheidung ermöglichen, beschrieben werden. An dritter Stelle ist das implizit vorhandene Interesse an einer Rekonstruktion von Kultsatzungen herauszuheben, das sich in der Diskussion um die Eingeweideschau abzeichnet. Um zu verdeutlichen, inwieweit überholte archaisierende Vorstellungen von Sakralkollegien der in Frage zu stellenden Hypothese zugrunde liegen, wird am Beispiel der Fratres Arvales ein Forschungsstand darzustellen sein, der ein längst revidiertes Bild wiedergibt. In einem letzten dieser Unterkapitel soll das Problem eines Dekadenzmodells, das in der Vorstellung von der Vermischung der hypothetisch zwei Riten mitschwingt, aufgezeigt werden. Nach einem solchen Umreißen von Bereichen, die auf unterschiedliche Weise auf die Hypothese von einer Dichotomie der Riten einwirken und zu ihrer Entstehung beigetragen haben, soll in einem zweiten Schritt eine Revision dieser Hypothese stattfinden. Für diese Form der Auseinandersetzung gibt es zwei Gründe: Erstens hat die Forschung lediglich den Weg beschritten, die Hypothese mit besseren Belegen stützen zu wollen, doch zu einer grundsätzlichen Überprüfung ist es meines Wissens nicht gekommen. Zweitens gibt es Forschungsergebnisse, frühere übergangene und neue, die in die Argumentation einbezogen werden müssen. Zuvor aber soll die Entwicklung und das Fortwirken der Hypothese umrissen werden.
1.1 FORSCHUNGSGESCHICHTLICHE SKIZZE Ein eng begrenzbarer Kreis von Wissenschaftlern – namentlich GEORG WISSOWA, GEORG BLECHER und CARL OLOF THULIN – hat sich zu Beginn des letzten Jahrhunderts, in Veröffentlichungen aus ungefähr den Jahren 1902 bis 1912, mit dem Problem befaßt, wie eine etruskische von einer römischen Eingeweideschau zu trennen sei. Anlaß dafür war, daß man schon seit längerem, wohl insbesondere seit der Entwicklung der Etruskologie zu einem eigenständigen Fach, einen unterschiedlichen Zweck in beiden Riten sah. Die forschungsgeschichtlichen Vorgänge lassen sich folgendermaßen darstellen: Als eine Vorgabe für das Abgrenzen von unterschiedlichen Zwecken bei einer Eingeweideschau lassen sich Äußerungen von KARL OTFRIED MÜLLER auffassen.3 MÜLLER vermutet in seinem im Jahre 1828 erschienenen, für die etruskische For3
MÜLLER 1828, S. 179–187.
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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schung grundlegenden Werk Die Etrusker, daß bei den Etruskern die Divination der eigentliche Zweck des Opfers sei; diese Einstellung scheint ihm als „eine ganz Tuskische Ansicht“ (S. 181). Seine Meinung begründet MÜLLER nicht weiter, so daß lediglich die Behauptung stehen bleibt, es gebe in der etruskischen Eingeweideschau einen von anderen Eingeweideschauriten unterscheidbaren Zweck. Mit seiner Äußerung, „uebrigens ist sicher, daß um die complicirten Regeln der Haruspicin die Römer selbst, Feldherrn und Magistrate, sich um so weniger kümmerten, da sie in der Regel keine speciellen Verkündigungen, sondern nur litiren wollten, und dies durch Herbeischaffen immer neuer Opfer (hostiae succidaneae) am Ende erzwangen“ (S. 185),
liefert er möglicherweise den ersten Baustein für die Vorstellung von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau, die die Leitregeln, die in der etruskischen Haruspizin vorliegen mögen, von einem römischen Interesse bei einer rituellen Schlachtung abgrenzt,4 wo ein litare oder ein non (per)litare, so die Verben, Zustimmung oder Ablehnung, ein Ja oder Nein bei der Frage nach der pax deorum, dem Wohlgesonnen-Sein der Götter durch die rituelle Schlachtung, bedeuten.5 Indem MÜLLER hier einen Zusammenhang von der nicht erreichten litatio mit einer hostia succidanea aufzeigt, eröffnet er ein weiteres Problemfeld, das sich auch in seinen Belegen, bei CICERO, GELLIUS und SERVIUS, abzeichnet.6 In den beiden späteren Nachweisen geben GELLIUS und SERVIUS mit antiquarischem Interesse Worterläuterungen7 zu einer hostia succidanea; gemeint ist ein weiteres Opfertier, mit dem nach einem Nicht-Erreichen der litatio ein weiterer Versuch unternommen wird. In dem früheren, vom Anfang des Jahres 44 v. Chr. stammenden Nachweis bei CICERO geht es in einer philosophischen Erörterung um das logische Problem, wozu für eine Vorhersage zukünftiger Ereignisse ein weiteres Tier zu beschauen nötig ist, wenn doch die Beschau des ersten den Unwillen der Gottheit bereits gezeigt hat.8 Die Problematik zur hostia succidanea hängt gewiß 4
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Direkte Zeugnisse über die Leitlinien der verschiedenen Sakralkollegien – Haruspices, Pontifices und Fratres Arvales sind hier in der Diskussion – fehlen, so daß die Forschung sich um eine Rekonstruktion ihrer jeweiligen Satzungen auf fragmentarischer Basis bemüht (s.u. S. 28). BOUCHE-LECLERCQ 1900, S. 23; LATTE 1914; WISSOWA 1926. An Belegen führt MÜLLER an: CIC. div. 2,15,36; GELL. 4,6; SERV. Aen. 2,140. GELLIUS verfaßte die Noctes Atticae ungefähr im Jahre 170 n. Chr., SERVIUS verfaßte wohl zu Anfang des 5. Jhs. einen Kommentar zu VERGILs Aeneis. CIC. div. 2,15,36 Haec iam, mihi crede, ne aniculae quidem existimant. An censes eundem vitulum si alius delegerit, sine capite iecur inventurum; si alius, cum capite? Haec decessio capitis aut accessio subitone fieri potest, ut se exta ad immolatoris fortunam accommodent? Non perspicitis aleam quandam esse in hostiis deligendis, praesertim cum res ipsa doceat? Cum enim tristissuma exta sine capite fuerunt, quibus nihil videtur esse dirius, proxuma hostia litatur saepe pulcherrume. Ubi igitur illae minae superiorum extorum? Aut quae tam subito facta est deorum tanta placatio? – Dies nun, glaube mir, nehmen dir nicht einmal alte Weiblein ab. Oder meinst du wirklich, hinsichtlich eines und desselben Kalbes verhalte es sich so: wenn der eine Mensch es auswähle, werde er die Leber ohne ‚Haupt‘ vorfinden, wenn ein anderer mit einem ‚Haupt‘? Ist es möglich, daß ein solcher Schwund eines ‚Haup-
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
eng mit dem Verständnis des Ausdrucks litare zusammen. Von daher zeichnet sich eine Ursache für die Schwierigkeiten ab, der die Forschung mit einem Definitionsansatz, dem einer Zweckausrichtung des Begriffes litare – er bezeichne die göttliche Annahme der Darbringung – begegnet. In der 1877 erschienenen und von WILHELM DEECKE überarbeiteten zweiten Auflage von MÜLLERs Die Etrusker finden sich zu den besprochenen Aspekten keine Neuerungen.9 Diese ergeben sich erst, als im selben Jahr, 1877, im norditalienischen Piacenza ein Bronzemodell gefunden wird, das man später als das einer Schafsleber identifizierte, und das zwischen 120 und 80 v. Chr. datiert wird. Einritzungen und etruskische Inschriften von Götternamen stellen einen Zusammenhang von Leberpartien und Regionen her, die bestimmten etruskischen Göttern zugeteilt sind.10 Eine Leberschau der Etrusker erscheint dadurch als eine ausgeformte Technik der Wahrsagung, die die Vermutung MÜLLERs über einen unterschiedlichen Zweck zu bestätigen scheint. Der Veröffentlichung dieses Fundes widmet sich WILHELM DEECKE in mehreren Aufsätzen aus den Jahren 1880, 1882 und 1885.11 Kurz nach der zweiten Auflage von MÜLLERs Die Etrusker erscheint im Jahre 1878 eine Darstellung von Schlachtritualen in der Abhandlung über die römische Staatsverwaltung von JOACHIM MARQUARDT.12 Bei der Darstellung des sogenannten ‚consultatorischen Opfers‘ (S. 182)13 bestimmt er inspicere als ein technisches Wort für die Eingeweideschau. Daß er noch auf andere Ausdrücke verweist, die in der sehr viel älteren Darstellung von BARNABÉ BRISSON zu finden sind, der jedoch ein Bearbeiter die unglücklich gewählten Kapitelüberschriften exta inspici und exta consuli hinzugefügt hat,14 geht in einer Fußnote unter (S. 182 Anm. 9). Als
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tes‘ oder sein Hinzukommen in einem Augenblick stattfindet, zu dem Zweck, daß die Eingeweide sich auf das Geschick des Opfernden abstimmen? Seht ihr denn nicht, daß der Zufall in gewissem Sinn bei der Auswahl der Opfertiere mitwürfelt? – und dabei ergibt es sich doch deutlich aus der Sache selbst. Oft nämlich, wenn die Eingeweide über kein ‚Haupt‘ verfügen – nichts scheint unheilvoller zu sein als dies –, stößt man bei der Opferung des nächsten Tiers auf den günstigsten Befund. Wo sind dann die Drohungen der ersten Eingeweide geblieben? Oder wie wurden die Götter so plötzlich und so erfolgreich besänftigt? (Übers. SCHÄUBLIN). MÜLLER / DEECKE, 1877, S. 180–189. An Literatur zur Bronzeleber vgl. beispielsweise KÖRTE 1905; VAN DER MEER 1979; MAGGIANI 1982, S. 53–88, bes. S. 70–75; MAGGIANI 1985, S. 30f., Nr. 1.7; MEYER 1985, S. 105–120; VAN DER MEER 1987; Die Etrusker und Europa 1993, S. 146 Nr. 195. DEECKE 1880, 1882, 1885. MARQUARDT 1878, bes. S. 176–180, und zweite Auflage 1885, S. 169–186, bes. S. 181–186. Zitiert nach der zweiten Auflage von 1885. In einigen Kapiteln seines Werkes De formulis et sollemnibus populi Romani verbis libri 8, zuerst erschienen Paris 1583 (digitalisiert einsehbar), stellt der französische Gelehrte BARNABÉ BRISSON etliche Texte zum Schlachtritus und speziell zur Eingeweideschau zusammen. Es hat verschiedene Nachdrucke, insbesondere in Deutschland gegeben. In einer Kapitelüberschriften einsetzenden Überarbeitung von FRANZ CARL CONRAD, erschienen in Halle/Leipzig im Jahre 1731 (ebenfalls digitalisiert einsehbar), sind zwei aufeinanderfolgende Kapitel mit „Verba in victimarum extis usitata. Exta inspici dicebantur“ und mit „Exta consuli dicebantur“ überschrieben. Die Überschriften entsprechen jedoch nicht dem tatsächlichen Inhalt und
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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weiteren technischen Ausdruck bezeichnet er litare für das günstige Resultat der Schau. Daß ein litare bei den Fratres Arvales vorkomme,15 ohne daß ein Haruspex erwähnt werde, wie auch sonst oft, hatte MARQUARDT in einer früheren Schrift aus dem Jahre 1856 vermerkt.16 In seiner Darstellung von 1878 grenzt er von den ‚consultatorischen Opfern‘ die ‚hostiae animales‘ ab, die er als ‚Sühnopfer‘ bezeichnet und bei denen keine Eingeweideschau stattfinde (S. 185). Diese beiden Klassen von Tieren für eine rituelle Schlachtung sieht er in Stellen bei MACROBIUS und SERVIUS bezeugt (MACR. Sat. 3,5,1–5; SERV. Aen. 4,56).17 Er schließt sich mit der Inanspruchnahme der Belege für einen römischen Kult der Darstellung Commentationes pontificales von EDUARD LÜBBERT an (S. 185 Anm. 4), dessen Interesse einer Pontifikalreligion18 gilt.19 Eine Inschrift der Fratres Arvales, in der es um die Beschau der Eingeweide und die litatio geht,20 zeigt diesem eine Zugehörigkeit der litatio zu dieser römischen Bruderschaft an (LÜBBERT S. 103). MÜLLER jedoch hatte dieselben literarischen Stellen als Belege für die Haruspizin genutzt.21 An einer späteren Stelle schreibt MARQUARDT die bei MACROBIUS überlieferte Klassifizierung eindeutig den haruspices zu und urteilt zu Recht, was bei der Divination aus den exta als eigentümlich etruskisch anzusehen sei, lasse sich schwerlich ermitteln (S. 414). AUGUSTE BOUCHÉ-LECLERCQ, der im Jahre 1882 unter anderem über die italische Eingeweideschau in dem letzten Band seiner Histoire de la divination dans l’antiquité berichtet,22 wertet das extispicium wie MÜLLER als eine etruskische Art der Divination und sieht in der litatio ebenso einen unterschiedlichen Zweck in der Eingeweideschau bei Etruskern und Römern (S. 62).23 Primärbelege bietet er keine und erwähnt auch MÜLLER nicht. Er geht über MÜLLERs Ansicht hinaus, wenn er sagt, daß es in Rom keine indigene Eingeweideschau gebe, sondern man dort die Haruspices heranziehe (S. 66). Römische wie griechische Eingeweideschau beurteilt er als rudimentäre Form einer originalen etruskischen Technik (S.
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polarisieren die Begrifflichkeit auf inspicere exta und consulere exta, obwohl weitere Ausdrucksmöglichkeiten genannt sind (Kap. 29 und 30, S. 17f.). Zu den Fratres Arvales s.u. S. 30. MARQUARDT 1856, S. 362. Auf diese Texte ist weiter unten gesondert einzugehen; s.u. Kap. 2.2. Zu den Pontifices s.u. S. 28. LÜBBERT 1859, bes. S. 103. Die Inschrift ist datiert auf das Jahr 218 n. Chr. unter Elagabal, CIL 6,2104a, 23 = CFA 100 (danach zitiert) ... agnam / opimam imm(olauerunt) et hostiae litationem inspexer(unt). – sie weihten ein gut genährtes Lamm und ersahen das Geeignetsein des Opfertieres. – Zu wissenschaftlichen Fortschritten bezüglich der Fratres Arvales s.u. S. 30. MÜLLER 1828, S. 178f. BOUCHE-LECLERCQ 1882, S. 61–74. BOUCHE-LECLERCQ 1882, S. 62: „Les Romains savaiant simplement discerner si les victimes avaient satisfait les dieux (litare – perlitare) ou s’il en fallait nouvelles (hostiae succidaneae). L’oligarchie sacerdotale qui avait en Étrurie le dépôt de la science divinatoire avait, au contraire, fait de l’oberservation des entrailles une science fort au-dessus de la portée des profanes: une science si difficile que les Romains, qui pourtant croyaiant en avoir besoin, n’ont jemais pu ou voulu l’apprendre pour le compte.“
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
61f.) und geht auch mit dieser Bewertung weiter als MÜLLER, der die Etrusker mit dieser Form der ‚Opferweissagung‘ als Vermittler kleinasiatischer Kultur einschätzte.24 BOUCHÉ-LECLERCQ wiederholt im Jahre 1892 in seinem Artikel „Divinatio“ im Dictionnaire des Antiquités greques et romaines25 – wiederum ohne Belege – seine Auffassung über den unterschiedlichen Zweck, demjenigen einer Opferung („sacrifice“), nämlich der litatio bei den Römern, und demjenigen einer Befragung („consultation“) bei den Etruskern (S. 299). Er stellt nun auch die Bronzeleber vor und betont, daß ihre Einteilungen besondere Möglichkeiten der Prognostik lieferten (S. 289). In dem Artikel „Haruspices“ in einem späteren Band des Dictionnaire des Antiquités greques et romaines aus dem Jahre 1900 beschreibt BOUCHÉ-LECLERCQ entsprechend seiner früheren Einschätzung die Eingeweideschau der Römer und Griechen als rudimentär.26 Diese Form habe den Zweck, mit einem litare oder kallhierein das Erhören eines Gebetes zu bekunden. Von der einfachen Zustimmung oder Ablehnung einer Bitte, die mit der Opferung übermittelt werde, sei der Übergang zu einer präzisen Art der Ausdeutung, wie sie die Systematik auf der Bronzeleber von Piacenza zu ermöglichen scheint, nicht weit. Obwohl die Einschätzung BOUCHÉ-LECLERCQs eines unterschiedlichen Zweckes in einer römischen und einer etruskischen Eingeweideschau mit derjenigen MÜLLERs und den nachfolgenden WISSOWA, BLECHER und THULIN übereinstimmt, erwähnen diesbezüglich die Gelehrten einander, soweit ich sehe, kaum. Eine Berührung scheint auf ein Mindestmaß beschränkt zu sein, indem BOUCHÉLECLERCQ die Veröffentlichungen DEECKEs zur Bronzeleber nennt, dann THULIN in der Auseinandersetzung mit BLECHERs Ideen einmal auf einen Artikel BOU27 CHÉ-LECLERCQs hinweist und WISSOWA erst in einem 1926 veröffentlichten Beitrag BOUCHÉ-LECLERCQs zur litatio erwähnt.28
24 MÜLLER 1828, S. 186f., sagt: „wahrscheinlich waren die Etrusker die Lehrer, die Griechen die Nachahmer, da bei jenen die Haruspicin Haupttheil der Disciplin, bei diesen anfänglich nur die Weissagung aus dem Brennen des Opfers ... bekannt ... war.“ und vermutet weiter „daß der alte Zusammenhang Kleinasiens mit Etrurien ... auch die Form der Opferweissagung ... aus Zeichen zu bestimmen gedient hat.“ 25 BOUCHE-LECLERCQ 1892, S. 292–319. 26 BOUCHE-LECLERCQ 1900, S. 17–33. 27 THULIN 1905, S. 7; s. Anm. 112. 28 WISSOWA 1926 zitiert BOUCHE-LECLERCQ 1918. Daß WISSOWA und BOUCHÉ-LECLERCQ sich längst kannten, beweist ein Brief, den BOUCHÉ-LECLERCQ an WISSOWA im Jahre 1896 gerichtet hat (Nachlaß WISSOWA, ULB Halle, Sign. Yi 20 I B 534). Dagegen scheint der Austausch zwischen WISSOWA und THULIN mit 2 Karten und 12 Briefen aus den Jahren 1903– 1912 vergleichsweise rege (Sign. Yi 20 I T 6228-6241).
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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1.1.1 Zu einer Klassifizierung von hostiae in ‚animales‘ und ‚consultatoriae‘ Bevor mit den Darstellungen, die dem unterschiedlichen Zweck weitere Kriterien für eine etruskisch-römische Dichotomie der Eingeweideschau hinzufügen, angeknüpft werden kann, muß zum Verständnis der ganzen Diskussion noch ein weiterer Aspekt beleuchtet werden. Es findet sich, wie schon erwähnt, an zwei Stellen der spätantiken, die Aeneis des VERGIL erklärenden Literatur eine Klassifizierung von Schlachttieren (hostiae) in animales und consultatoriae.29 Diesen Bezeichnungen liegt eine Stelle aus den Saturnalia des MACROBIUS (3,5,5) zugrunde, und erklärt ist der Sachverhalt bei MACROBIUS (3,5,1) und im Kommentar zur Aeneis bei SERVIUS (Aen. 4,56).30 In beiden Stellen wird von den Haruspices gesprochen. Ihre Erwähnung bringt somit die dort geschilderten Riten in die Zuständigkeit etruskischer Forschung und folglich sieht MÜLLER für die Klassifizierung, die in beiden Quellen geboten wird, eine etruskische Herkunft (MÜLLER 1828, bes. S. 180). LÜBBERT (1859, S. 103) sieht dagegen aufgrund der SERVIUS-Stelle Aen. 2,118 einen Zusammenhang mit dem römischen Kult. Daß die Forschung sich über eine römische oder etruskische Provenienz nicht einig ist, verwirrt die Sachlage. Die Unklarheiten über die Zuordnung der Bezeichnungen zu einem Pontifikalrecht oder zur Haruspizin, die in diesen widersprüchlichen Angaben bei SER31 VIUS liegen (Aen. 4,56 gegen 2,118), begleiten die Diskussion um die Eingeweideschau beständig. Zur Verwirrung trägt weiter bei (wurde aber offenbar kaum wahrgenommen), daß nicht deutlich ist, ob die gesamte Klassifizierung den Haruspices zuzuschreiben ist oder nur die Benennung der animales hostiae. Diese Problematik resultiert wohl daraus, daß nicht klar ist, wo das Zitat des TREBATIUS TESTA, den MACROBIUS als Gewährsmann nennt, endet, ob vor dem Satz, in dem es um die Benennung der animales hostiae durch die Haruspices geht, oder danach. Auf diesen Aspekt ist in einem gesonderten Abschnitt einzugehen, in dem die betreffenden Texte von MACROBIUS und SERVIUS quellenkritisch untersucht werden.32
29 Vgl. PRESCENDI 2007, S. 117–121; MAGGIANI 2005, S. 56; JANOTT 2005, S. 41: „The Etruscans … distinguished two types of victims. … the haruspices consulted or interrogated one type, which the Latin language designates by the term hostiae consultatoriae. They offered an opportunity to know the divine will.“ – S.u. Kap. 2.2 und 2.3. 30 MACR. Sat. 3,5,1: ... cum enim Trebatius libro primo de Religionibus doceat hostiarum genera esse duo, unum in quo voluntas dei per exta disquiritur, alterum in quo sola anima deo sacratur, unde etiam haruspices animales has hostias vocant ... (5) In his ipsis hostiis, vel animalibus vel consultatoriis, quaedam sunt quae iniuges vocantur, id est quae numquam domitae aut iugo subditae sunt ... – SERV. Aen. 4,56: duo enim genera hostiarum sunt: unum, in quo voluntas dei per exta exquiritur; alterum, in quo sola anima deo sacratur, unde etiam aruspices animales hostias appellant. (Übers. s.u. Kap. 2.2). 31 SERV. Aen. 2,118 nam et animam dixit et litare, verbo pontificali usus ... 32 S.u. Kap. 2.2.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
1.1.2 Zur Entwicklung von Kriterien einer etruskisch-römischen Dichotomie An diese vorhergehenden Untersuchungen – ausgenommen diejenigen von BOU– knüpft GEORG WISSOWA in seinem 1902 erschienenen Werk Religion und Kultus der Römer an. Er kritisiert LÜBBERT und MARQUARDT, sie beanspruchten zu Unrecht den Text des MACROBIUS und die Parallelüberlieferung des SERVIUS für einen römischen Ritus, und er betont – den problematischen Teilsatz dem Zitat des TREBATIUS TESTA zurechnend – die Unterscheidung gehöre ausschließlich der Haruspizin an (S. 353, Anm. 4). Bei seiner Darstellung des Ablaufs einer rituellen Schlachtung (S. 351–354) beschreibt WISSOWA das Beschauen der Eingeweide des Tieres, für das er den Ausdruck inspicere exta anführt, als eine Fortsetzung der probatio, der Begutachtung des noch lebenden Tieres; das positive Ergebnis aus der Beschau werde mit einem Kunstausdruck, der litatio, bezeichnet. Die Feststellung der Wohlgefälligkeit des Opfertieres, das Erreichen der litatio, gehöre zu den Erfordernissen. Die litatio hält WISSOWA, darin LÜBBERT folgend, für eine altrömische Sitte, die in den Arvalakten von 218 n. Chr. dokumentiert sei.33 Beide Wissenschaftler setzen voraus, daß die Riten der Arvalen sich nicht verändert hätten und gänzlich unbeeinflußt von aller kulturellen Entwicklung einen ‚rein gebliebenen‘ frühen römischen Kult dokumentierten. Diese Auffassung ist äußerst problematisch, weil sie eine Projektion eines ‚Idealzustandes‘ in die Vergangenheit darstellt34 und daraus weitere Probleme entstehen.35 Aufgrund zweier unterschiedlicher Ziele, nämlich der Litatio und dem Bemühen um Schlüsse auf zukünftige Ereignisse, die man bei den Haruspices zu erkennen glaubt, und wegen zweier beteiligter Priesterschaften im römischen Kult drängt WISSOWA zu dem Schluß, daß auch zwei Riten vorhanden seien, nämlich ein römischer und ein etruskischer (S. 353). WISSOWA beschreibt als die Eigenart der Haruspizin als Divinationskunst, daß sie die Frage beantworte, was ein Vorzeichen bedeute und welche Ereignisse der Zukunft dieses ankündige, und nicht nur, ob ein Vorzeichen ein günstiges oder ungünstiges sei (1912, S. 547). In seiner im Jahr 1905 erschienenen Monographie De extispicio capita tria verfolgt GEORG BLECHER einen komparatistischen Ansatz zur Eingeweideschau. Dabei kommt er in einem kleinen Abschnitt auf die Abgrenzung eines römischen von einem etruskischen Ritus zu sprechen (S. 219–223). Er geht unter Berufung auf WISSOWA davon aus, daß die Römer einen eigenen Ritus der Eingeweideschau ausführten, der als Ergebnis die litatio erwarte, und bemängelt die Abgrenzung gegen einen etruskischen Ritus, die ihm unzureichend erscheint. Um die Möglichkeiten einer Differenzierung zu verbessern, entwickelt er ein Unterscheidungsmerkmal, das sich auf den Zeitpunkt bezieht, an dem die Eingeweide unterCHÉ-LECLERCQ
33 CIL 6,2104[a, 23f.] = CFA 100, s.o. Anm. 20. – Zu der Auffassung, die Fratres Arvales seien „uralten Ursprungs“ vgl. WISSOWA 1902, S. 486; WISSOWA 1912, S. 561. 34 Vgl. SCHEID 1998b, S. 12, der zu Recht die Vorstellung von einer ‚reinen‘ römischen Religion als einen modernen Mythos bezeichnet. 35 Dazu ausführlich s.u. S. 28 ff.
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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sucht werden: Er nimmt an, daß die Römer die Eingeweide beschauten, während sich diese noch im Körper befänden, die Etrusker aber erst, sobald diese aus dem Körper herausgenommen worden seien.36 Das etruskische Verfahren sieht er in Stellen aus den Metamorphosen OVIDs und aus SENECAs Thyestes dokumentiert (S. 220, Anm. 2), in denen von einem Herausreißen der Eingeweide, ereptae fibrae und erepta exta, gesprochen ist.37 Ein römisches Verfahren meint BLECHER in einer Stelle aus den Worterklärungen des FESTUS zu erkennen, das den Ausdruck adhaerentia inspiciebantur exta bietet (bes. S. 222f.).38 Seine Argumentation, weshalb diese FESTUS-Stelle eine römische Sitte belege, ist kompliziert und durchaus problematisch. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Formulierung adhaerentia exta die Verfahrensweise der Fratres Arvales darstelle, bei der diese eine litatio anstrebten, wie in der von WISSOWA nach LÜBBERT eingebrachten Inschrift aus dem Jahre 218 n. Chr.39 deutlich wird. BLECHER muß jedoch eine Vermischung eines etruskischen Ritus mit einem römischen Ritus der Eingeweideschau feststellen (S. 219; S. 223f.), da die litatio offenbar auch für einen als etruskisch bestimmten Zweck der Zukunftsverkündung relevant ist. Denn nach einer Angabe von SERVIUS kann aus einem kranken Tier, also eines, das keine litatio erreichen würde, auch keine Zukunft vorhergesagt werden.40 Für eine Abgrenzung von griechischen und italischen gegen altorientalische Riten führt BLECHER an (S. 200), in der klassischen Antike würden nur die traditionellen Opfertiere untersucht, nicht jedoch die Vielzahl von Arten, wie sie FRANÇOIS LENORMANT für Babylonien nennt.41 Zudem sei die Art der Einteilung auf der etruskischen Bronzeleber anders als auf babylonischen Lebernachbildungen. Er meint, mit seinen Ausführungen DEECKE zu widerlegen, und kommt zu dem Schluß, daß weder die griechische Eingeweideschau der italischen ähnlich sei, noch daß diese beiden von einer orientalischen abstammten (S. 199–202). Kurze Zeit nach der Veröffentlichung BLECHERs äußert sich CARL OLOF THULIN über die Eingeweideschau in seinem Zeitschriftenbeitrag „Libri haruspicini“ von 1906.42 Er stimmt WISSOWA und BLECHER hinsichtlich eines unterschied36 BLECHER 1905, S. 220: „Quibus verbis [sc. hariuga dicebatur hostia, cuius adhaerentia inspiciebantur exta] alia indicatur sine dubio ratio exta inspiciendi atque Etruscorum fuit extispicium, ubi ereptas viventit pectore fibras inspiciunt.“ – Fälschlich gibt MAGGIANI 2005, S. 55, THULIN als Urheber dieses Kriteriums an. 37 OV. met. 12,127 [!] (muß heißen 15,136) ereptas viventi pectore fibras inspiciunt – sie besehen die dem lebenden Leib entrissenen Fasern; SEN. Thy. 755: erepta vivis exta pectoribus tremunt – die den lebenden Leibern entrissenen Eingeweide zittern. 38 FEST. (100 M = 89 L) hariuga dicebatur hostia, cuius adhaerentia inspiciebantur exta – hariuga wurde das Schlachttier genannt, dessen Eingeweide anhängend betrachtet wurden. 39 S.o. Anm. 20. 40 SERV. georg. 3,489 colligi nisi ex sana victima futura non possunt – das Zukünftige kann nicht aus einem kranken Schlachttier gesammelt werden. 41 LENORMANT 1875, S. 55f.– dt. 1878, S. 451f. – LENORMANT wird mit einer Veröffentlichung von 1873 die Entdeckung der Leberschau bei den Babyloniern zugesprochen (lt. BEZOLD 1905, S. 246). 42 THULIN 1906, S. 1–54. Ein Nachdruck aller von 1905–1909 in drei Teilen erschienenen Beiträge zur etruskischen Disciplin in THULIN, Die etruskische Disciplin, ND Darmstadt 1968.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
lichen Zweckes beider Eingeweideschauen zu43 und folgt dem Ansatz BLECHERs, Elemente einer römisch-etruskischen Dichotomie darzustellen (S. 5–13). Da ihm die Unterscheidungsmöglichkeiten, die WISSOWA und BLECHER bis dahin aufgezeigt hatten, ungenügend erscheinen, strebt er eine Besserung der Belegsituation an, indem er ein weiteres Unterscheidungsmerkmal beschreibt und einem römischen inspicere exta ein etruskisches consulere exta als Ausdrücke für die Tätigkeit des Schauens entgegensetzt. Seinen Beleg, eine Stelle bei SERVIUS (Aen. 4,64), stützt er zunächst durch den Ausdruck ‚hostia consultatoria‘ (MACR. Sat. 3,5,5) und später in einem Artikel über die Haruspices44 durch eine Stelle bei CICERO (div. 2,32). Auf diese Stellen ist weiter unten zurückzukommen (s.u. Kap. 2.2 und 2.3). THULIN beschreibt eine unterschiedliche Art der Ausdeutung bei der Schau: Die Bronzeleber dokumentiere aufgrund ihrer Einteilungen, daß es den Etruskern möglich sei, anhand einer einzigen Leber, d.h. mit nur einem einzigen Tier festzustellen, mit welcher Gottheit sie es tun haben. Die Römer könnten bei einer Schau nur eine einzige Gottheit um Zustimmung fragen. Für die Befragung einer weiteren Gottheit sei auch ein weiteres Tier und damit eine Wiederholung des Rituals erforderlich (S. 8). Zwar geht THULIN grundsätzlich zustimmend auf die neue, von BLECHER gebotene Unterscheidungsmöglichkeit ein, aber erkennt dessen Belege zu einer etruskischen Verfahrensweise, die mit exta rapta bezeichnet scheint, nicht an (S. 6).45 Statt dessen belegt er eine etruskische Form mit einer Stelle bei LUCAN (1,616).46 Auch in dem Punkt einer Vermischung von Riten stimmt THULIN zu.47 Jedoch kritisiert er, daß BLECHER wegen der Vermischung der Riten einige Belege falsch zuordne (S. 8).48 43 THULIN 1905, S. 5: „Die römische Eingeweideschau wollte nur erforschen, ob alles in Ordnung wäre (litare). Wenn dies nicht der Fall war, hielt man es für ein Zeichen, dass die Götter nicht geneigt waren (non perlitatum est); ja wenn etwas ganz Schlimmes zum Vorscheine kam, wurde es sogar für ein Prodigium gehalten. Wenn aber in den römischen Berichten über die Litatio hinaus eine wirkliche Weissagung vorkommt, so ist etruskische Haruspicin zu erkennen, wenn auch die Haruspices nicht ausdrücklich erwähnt werden.“ 44 THULIN 1912, Sp. 2450. 45 Die Kritik THULINs sieht offenbar MAGGIANI 1998, S. 146, nicht, denn er gibt BLECHERS Ansatz und dessen Belege wieder, andere Belege THULINs fügt er hinzu, ohne die von THULIN zurückgewiesenen wegzulassen. 46 Als Bezeugung einer etruskischen Verfahrensweise: LUCAN. 1,616f. palluit attonitus sacris feralibus Arruns / atque iram superum raptis quaesivit in extis (Text und Übers. s.u. Kap. Arruns). 47 THULIN 1906, S. 7: „Auf den Gegensatz zwischen dem altrömischen Ritus und dem neuen etruskischen, der mit den Etruskerkönigen in Rom eingedrungen war“. 48 THULIN 1906, S. 7f.: „Aber den Kern des Unterschiedes zwischen etruskischer und römischer Extispicin hat BLECHER nicht recht deutlich gemacht. Er glaubt nämlich, dass die Römer allmählich die etruskische Lehre (artificiosa doctrina) in die ihrige (litatio) aufgenommen haben und teilt also der römischen Extispicin auch solche Beispiele zu, in denen Weissagungen mitgeteilt werden. Dies ist ebensowenig der Fall wie in der Fulgurallehre, da die Römer nie von selbst einen Blitzschlag zu deuten vermochten. Die Kunst der Weissagung aus den Eingeweiden blieb für alle Zeiten Sache der Haruspices. Durch diese Vermengung etruskischer und römischer Satzungen ist BLECHER verleitet worden, eine echt etruskische Lehre als römisch darzustellen“.
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Mit dieser Kritik an BLECHER berührt THULIN, offenbar ohne daß dies recht wahrgenommen wurde, die Hauptschwierigkeit bei der Konstruktion einer etruskisch-römischen Dichotomie: Man scheint sich zwar über die Kriterien einer Zuordnung einig zu sein, aber es gelingt nicht, die Belege einheitlich und widerspruchslos als etruskisch oder römisch darzustellen. Die Konsequenz, eine nicht nachweisbare Hypothese als falsch zu begreifen, unterbleibt. WISSOWA führt in einer zweiten Auflage von Religion und Kultus der Römer (1912) die im Detail doch uneinigen Ansichten BLECHERs und THULINs als Bestätigung für seine Darstellung in der ersten Auflage an (auf die sich BLECHER seinerseits gestützt hatte), nämlich daß bei einer etruskischen Eingeweideschau eine Vorhersage stattfinde, dagegen bei einer römischen nur die litatio erreicht sein solle.49 Damit sieht es so aus, als sei die ja schon von WISSOWA aus früherer Literatur übernommene Behauptung bestätigt worden. Daß die Diskussion der Ansichten BLECHERs bei THULIN diesen Fortschritt nicht erbracht hat, wird nicht deutlich. Viele Jahre nach der Erweiterung eines Kriterienkatalogs durch THULIN fügt SCHILLING in einem Aufsatz aus dem Jahre 1962 nochmals eine Unterscheidungsmöglichkeit hinzu, wobei er sich jedoch auf irrige Angaben über die Anzahl der beschauten Organe stützt: Er sieht dabei einen Unterschied nicht durch ein Vokabular, sondern in der Anzahl der Schauobjekte in einer etruskischen gegenüber einer römischen Schau.50 Eine Beschränkung in einer etruskischen Praxis auf die Beobachtung von Leber und Galle begründet er – fälschlich und sich auf THU51 LIN berufend – mit einer analogen Verfahrensweise, die in einer babylonischen Schau zu erkennen sei, und setzt dabei eine orientalische Herkunft der Etrusker voraus. Das Verfahren in einem römischen Ritus möchte SCHILLING mit LUCAN. 1,621 ff. belegen.52 Auch SCHILLING konstatiert, daß sich die Belege nicht eindeutig zuordnen lassen, und sein Schluß ist kein anderer als der in den älteren Darstellungen, daß sich die zwei Riten vermischt hätten. Aufgrund des scheinbaren Befundes einer Religionsmischung beurteilt SCHILLING den Vorgang als einen Religionsverfall, der in einer Durchdringung eines ‚reinen‘ römischen Ritus mit ‚magischen‘ Elementen einer fremden etruskischen Verfahrensweise bestehe. Problematisch ist dabei, daß die Komponenten ‚Religion‘ und ‚Magie‘ als feste Strukturen, Realitäten, betrachtet werden, die einen Gegensatz bilden. Schon weil diese Auffassung von Religion und Magie äußerst fragwürdig ist, muß die Darstellung eines Religionsverfalls zurückgewiesen werden. Zudem wird die ganze Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie in Frage zu stellen sein. Zusammenfassend sollen zur Veranschaulichung und die Revision der Hypothese vorbereitend die verschiedenen Kriterien, die zu einer Unterscheidung eines etrus49 50 51 52
WISSOWA 1912, S. 419 Anm. 2. SCHILLING 1962, S. 1373. THULIN 1912, Sp. 2450. Im Gegensatz zu LUCAN. 1,616f. (s.o. Anm. 46) als Bezeugung einer römischen Verfahrensweise: LUCAN. 1,621 ff. (Text und Übers. s.u. Kap. Arruns).
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
kischen von einem römischen Ritus der Eingeweideschau entwickelt worden sind, in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgelistet werden: 1. Der Zweck in einer römischen Eingeweideschau sei das Erreichen der Litatio, das Feststellen des Wohlgesonnen-Seins der Götter; dagegen werde in einer etruskischen Schau eine genaue Vorhersage gegeben. 2. In einer römischen Form würden die Eingeweide noch im Körper befindlich beschaut, der Ausdruck sei exta adhaerentia – die anhängenden Eingeweide, in einer etruskischen würden die Eingeweide rasch aus dem Körper herausgenommen, was mit exta rapta – die herausgerissenen Eingeweide – bezeichnet werde. 3. In einer römischen Schau sage man exta inspicere – die Eingeweide einsehen, in einer etruskischen exta consulere – die Eingeweide befragen. 4. In einem römischen Ritus würden sämtliche Organe auf ihren normalen Zustand hin überprüft, in einem etruskischen nur Leber und Galle begutachtet. Es stellen sich in dem beschriebenen Versuch einer Unterscheidung mehrere Interessen und Voraussetzungen dar, die implizit vorhanden, aber nicht formuliert sind. Geleitet von dem Bestreben, einen ‚Ursprung‘ zu ergründen, das das Geschichtsmodell des Historismus kennzeichnet, wird nach einem ‚ursprünglichen‘ ‚reinen‘ Ritus in den Kulten gesucht. Aus diesem Ansatz ergeben sich weitergehende Probleme, die im folgenden umrissen werden sollen.
1.1.3 Das Interesse an einer Rekonstruktion von Kultsatzungen Als allgemeines Bestreben in der früheren wissenschaftlichen Literatur wird eine Rekonstruktion von verschiedenen sakralen Satzungen deutlich.53 Diese Kultvorschriften sollen beim Thema der Schlachtriten anhand eines als sakral angesehenen Vokabulars inhaltlich näher bestimmt werden. Als satzungsgebende römische Sakralkollegien stehen die Pontifices und die Fratres Arvales in der Diskussion, als etruskische die Haruspices. Diese Kollegien sind zwar dem Namen nach bekannt, jedoch sind die genauen Inhalte der ‚Kultsatzungen‘ nicht eindeutig überliefert.54 Offenbar ist mit dem Etablieren einer Etruskologie als eigenständiges Fach, wie sich seit der Abhandlung MÜLLERs über die Etrusker darstellt, ein Rin53 Allein SCHILLING 1962 arbeitet nicht aufgrund eines sakralen Wortschatzes zur Entwicklung des neuen Kriteriums von einer unterschiedlichen Anzahl der beobachteten Organe. 54 Bis auf die inschriftlichen Protokolle der Fratres Arvales (vgl. CFA), sind die Schriften, die in den verschiedenen Kollegien produziert wurden, nicht direkt, sondern hauptsächlich fragmentarisch in der lateinischen Literatur überliefert (vgl. RÜPKE 2006, S. 213–215; BENDLIN 2005.) – An den etruskischen Kult regelnden Schriften kennt man nach CICERO die libri haruspicini, fulgurales und rituales (CIC. div. 1,72). Vgl. zu weiteren Nachweisen für noch verschiedene andere Bezeichnungen THULIN 1905, S. 1–12; THULIN befaßt sich in allen drei Teilen zur Etruskischen Disciplin (1905, 1906, 1909) mit einer Rekonstruktion von Kultvorschriften der Haruspices.
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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gen um die Belege, die Sakralkollegien entweder römischer oder etruskischer Provenienz bezeugen sollen, entstanden. Die Diskussion um die Nachweise, insbesondere bei SERVIUS und MACROBIUS, verdeutlicht das Bemühen, die Kultsatzungen von einander zu scheiden. Aber nicht nur die Forschung unserer Zeit zeigt dieses Interesse an einer Rekonstruktion, sondern, was hier beispielsweise an SERVIUS deutlich wird, bereits die spätantike antiquarische Forschung. Das Interesse WISSOWAs gilt vor allem einer Rekonstruktion der Kultvorschriften der Pontifices oder allgemeiner dem Sakralrecht.55 Die Pontifices bildeten das höchste Sakralkollegium in Rom, das – zumindest von der mittleren Republik an – die Aufgabe hatte, das religiöse Leben des römischen Staates zu beaufsichtigen. Es bestand die Hauptaufgabe des Kollegiums darin, den Senat, Beamte und Privatleute darüber zu beraten, ob kultische oder private Handlungen die pax deorum, das gute Verhältnis zu den Göttern, beeinflussen könnten. In dieser Weise handlungsfähig waren die Pontifices aufgrund einer Sammlung von Spruchformeln und Vorschriften. Sakralrechtliche Verantwortlichkeit verband sich mit einem Einfluß auf das Profan- und Zivilrecht. Die Spruchformeln für Rechtshandlungen weisen deutliche Ähnlichkeiten mit Sakralformeln auf.56 WISSOWA investiert viel, um die Sprüche und Vorschriften der Pontifices aus einzelnen Überlieferungen wiederzugewinnen. Jedoch muß dieser Versuch einer Fragmentensammlung letztlich als kein weiterführender Weg angesehen werden.57 THULIN beschäftigt sich in seinen Aufsätzen über Die etruskische Disciplin mit einer Rekonstruktion einer Satzung der Haruspices. Bei THULIN stellt die Eingeweideschau nur einen kleinen Ausschnitt der vielfältigen Abgrenzungsprobleme dar. Diese ergeben sich, weil Nachrichten über die etruskische Disziplin sowie Leben und Kultur der Etrusker im wesentlichen in der römischen Literatur überliefert sind.58 Dabei erlaubt die Belegsituation eine scharfe Trennung oft nicht, wie in den angeführten Stellen bei SERVIUS deutlich wird. So kommt THULIN beispielsweise dazu, manche Stellen59 als Beleg dafür zu werten, daß die Lehren beider, der Pontifices und der Haruspices, bisweilen übereinstimmten.60 Der Eindruck einer Vermischung der Riten, der häufiger beschrieben wird, ist meines Erachtens zum Teil durch eine wechselnde Inanspruchnahme von Belegen für einen römischen oder etruskischen Ritus bedingt, wie der Umgang mit den genannten Stellen bei MACROBIUS und SERVIUS in der wissenschaftlichen LiteraVgl. RÜPKE 2003, bes. S. 16; FRATEANTONIO 2003, bes. S. 49. Zu den Pontifices vgl. GORDON 2001; VAN HAEPEREN 2002. RÜPKE 2003, S. 35. Zu den Haruspices vgl. THULIN 1905, S. III; FRATEANTONIO 1998; HAACK 2002 und HAACK 2003. 59 MACR. Sat. 3,2,3 ... nam et e x di sc i pl i na haruspi c um et e x prae c e pt o pont i f i c um verbum hoc sollemne sacrificantibus est. – … denn sowohl nach der Disciplin der Haruspices als auch nach der Vorschrift der Pontifices ist dieser Begriff für denjenigen, der einen Ritus ausführt, ein feierlicher. – CIC. leg. 2,29 iam illud ex institutis pontificum et aruspicum non mutandum est, quibus hostiis immolandum cuique deo, cui maioribus, cui lactentibus, cui maribus cui feminis. 60 THULIN 1906, S. 12. 55 56 57 58
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tur zeigt. Verstärkt wird dieser Eindruck, weil unter der Frage einer Abgrenzung von Kultsatzungen sich die Belege bei einander offenbar ausschließenden Informationen tatsächlich nicht eindeutig zuweisen lassen, wie beispielsweise in den Stellen bei SERVIUS (Aen. 4,56 gegen 2,118, s.u. Kap. 2.3).
1.1.4 Das Voraussetzen eines ‚altrömischen‘ Kultes bei den Fratres Arvales Problematisch ist auch die Vorstellung einer Unveränderlichkeit von sakralen Kollegien. Gerade für die Fratres Arvales, die in den oben vorgestellten Darstellungen als Garanten für einen ‚reinen römischen‘ Kult gelten, können neue wissenschaftliche Ergebnisse aus den letzten Jahrzehnten eingebracht werden. In der älteren Forschung ging man davon aus, daß das Kollegium in seiner Einrichtung sehr alt sei.61 Mehrere archaisch anmutende Komponenten des Kultes lassen an eine frühe Entstehung denken, doch hat inzwischen eine Neubewertung stattgefunden. In einem kurzen Abriß soll diese Entwicklung nachgezeichnet werden: Zum ersten und einzigen Mal in republikanischer Zeit sind die Fratres Arvales62 genannt bei VARRO, in dessen zwischen 47 und 45 v. Chr. verfaßten Werk De Lingua Latina.63 Offenbar hatten sie zu dieser Zeit keine große Bedeutung. Sie waren mit ihrem Kult für das Wachsen der Früchte auf den Feldern zuständig, denn VARRO leitet ihren Namen von arva, Acker, ab. Auch für die spätere Zeit sind die literarischen Zeugnisse über das Kollegium sehr rar. In der kaiserzeitlichen literarischen Überlieferung wird ein Mythos über ihren Ursprung wiedergegeben, daß nämlich Romulus die Bruderschaft eingesetzt habe.64 Seit der augusteischen Restauration kam für die zwölf Mitglieder zählende Arvalbruderschaft eine weitere Aufgabe hinzu, die Kaiserverehrung. Die Fratres Arvales waren mit dieser Reform stark in den Kaiserkult eingebunden. Der Kaiser war immer Mitglied des Kollegiums und wurde gegebenenfalls supra numerum aufgenommen. Die Mitgliedschaft aller Teilnehmer galt lebenslänglich. Hinzugewählt wurde durch Kooptation, wenigstens teilweise auf Empfehlung der Kaiser. Kenntnis über die Fratres Arvales ist aus zahlreichen fragmentarischen Inschriften zu gewinnen, in denen die Fratres ihre Kulthandlungen protokollierten. Diese Protokolle beginnen im Jahr 21 v. Chr. und reichen bis in das Jahr 241 n. Chr.; zuletzt gibt es noch einen Vermerk über die Bruderschaft für das Jahr 304 n. Chr. Die Protokolle über den Festverlauf wurden von der Bruderschaft selbst in Marmortafeln gemeißelt. Somit ist gesichert, daß in den Inschriften dasjenige 61 Noch SCHILLING 1962, S. 1375, vertritt diese Ansicht. 62 Vgl. OLSHAUSEN 1978, S. 820–832. 63 VARRO ling. 5,85,3 Fratres Aruales dicti qui sacra publica faciunt propterea ut fruges ferant arua: a ferendo et aruis Fratres Aruales dicti. Sunt qui a fratria dixerunt. Fratria est Graecum uocabulum partis hominum, ut Neapoli etiam nunc. – Fratres Arvales sind diejenigen genannt, die öffentliche Riten vollziehen, um die Früchte auf die Felder zu bringen: abgeleitet von ferendum und arva heißen sie Fratres Arvales. Es gibt welche, die sie von fratria her benennen. Fratria ist das griechische Wort für einen Teil der Bevölkerung, wie Neapolitaner. 64 PLIN. nat. 18,6; GELL. 7,7,8; FULG. serm. ant. 9.
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überliefert ist, was die Fratres veranlaßt haben. Jedoch liegen die Schwierigkeiten der Erforschung noch in der Ausdeutung der Texte. Bezüglich einer Datierung der einzelnen Inschriften ergeben sich weniger Probleme, da sie zumeist über die Angabe zum Kaiser genau festgesetzt werden kann. Trotz der späten Bezeugung hielt man die Bruderschaft für sehr alt. Wesentlich für diese Einschätzung war ein Lied, das sogenannte carmen arvale,65 das in einer Inschrift jedoch erst aus dem Jahre 218 n. Chr. überliefert ist. Es ist dieselbe Inschrift, die eine litatio erwähnt und deswegen in den oben umrissenen Darstellungen von Interesse war. Das Lied besteht aus unbekannten, aber zumeist für lateinisch gehaltenen Wörtern.66 Daß auch den Arvalbrüdern der Wortlaut dieser Texte unverständlich war, schließt man daraus, daß sie den Text abgelesen haben (libellos acc(eperunt) bzw. libellis acceptis). Wenn die Arvalbrüder das Latein des Kultliedes nicht auswendig lernen konnten, so hat man geschlossen, muß das Kultlied ganz altes Latein bewahrt haben. Die Unverständlichkeit des Liedtextes hat zu einer Einschätzung der Bruderschaft als archaisch geführt. Ebenso muten einige ihrer Riten urtümlich an, wie das Weihen und Zerschlagen von Tontöpfen, die nicht auf einer Töpferscheibe, sondern von Hand geformt sind, und mit Milchbrei gefüllt waren. Auch das Meiden von Eisenwerkzeug scheint auf eine frühe Zeit zu verweisen.67 Vom Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung her war die Aufnahme der Arvalakten noch im vollen Gange, als die Inschrift mit der litatio aus dem Jahre 218 n. Chr. in die Diskussion um die Eingeweideschau eingebracht wurde. Es hatte mit einer Arbeit von WILHELM HENZEN aus dem Jahre 1874 bereits eine umfangreiche Veröffentlichung der Protokolle gegeben.68 Einzelnes wurde nachgetragen, so auch eine 1914 entdeckte Inschrift aus dem Jahre 240 n. Chr., in der ebenfalls von einer litatio berichtet wird,69 so daß damit in zwei Protokollen eine litatio bei einer Schlachtung erwähnt ist.70 Grundsätzliche Zweifel daran, daß „der Kult der Arvalbrüderschaft wie so vieles andere nicht aus der römischen Urzeit stammt, sondern erst später von Griechenland, speciell von Athen, übernommen“ sei, wie ENGELMANN im Jahre 1908 vorbringt, waren von WISSOWA rigoros zurückgewiesen worden.71 65 66 67 68 69 70
CFA 100 = CIL 6,2104a, 33–38. Dagegen wertet PIVA 1993 das Dokument als orientalisierend. OLSHAUSEN 1978, S. 827f. HENZEN 1874. WISSOWA 1917. Inschrift von 218 n. Chr.: CFA 100 = CIL 6,2104 agnam / opimam imm(olaverunt) et hostiae litationem inspexer(unt); weitere Nachweise HENZEN 1874, S. CCII–CCIV; S. 29; = CIL 6,1, S. 568–571; ILS 2,1, [19021], S. 275–277, Nr. 5039. – Inschrift von 240 n. Chr.: CFA 114 = CIL 6,39443 immol(auerunt) agnam op(imam) albm, ad litatione(m) exta inspexerunt et; weitere Nachweise ILS 3,2 [19161], S. CLXVI – CLXVIII, Nr. 9522. 71 Vgl. WISSOWA 1917, S. 342, mit seiner Kritik an ENGELMANN 1908, Sp. 862, welcher allerdings aufgrund der im Kult gebrauchten Töpfe einen Zusammenhang mit den eleusinischen Feiern sehen möchte. Mit seinen Bedenken über die Abstammung aus einer römischen Urzeit hat ENGELMANN sicher recht, irritierend auf seine Zeitgenossen mag seine Behauptung über eine Athenische Abstammung gewirkt haben.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
Neuere Erkenntnisse zu den Fratres Arvales gibt es vor allem seit Mitte der siebziger Jahre durch die Arbeiten von JOHN SCHEID.72 Es läßt sich nach seinen Untersuchungen nicht bestätigen, daß die Fratres Arvales eine alte römische Bruderschaft gewesen sei, die unbeeinflußt alten römischen Ritus bewahrt habe. Wenn auch das Sakralkollegium archaische Züge aufweist, so gewann doch ihre Einrichtung erst mit der Neugründung durch Augustus an Relevanz, denn das Kollegium ist stark von den Beziehungen zum Kaiser geprägt. Daher sind die Fratres Arvales nicht als strikte Bewahrer eines alten Kultus zu sehen.73 Bei einer nachweislichen Entwicklung des Kollegiums können daher die beiden Protokolle aus der Hohen Kaiserzeit von 218 n. Chr. und 240 n. Chr., die das Anstreben einer litatio in den Schlachtritualen bei den Fratres Arvales dokumentieren, keine ‚ursprüngliche‘ Bedeutung des Ausdrucks bezeugen.
1.1.5 Vermischung und Religionsverfall – ein Dekadenzmodell Mit der Vorstellung von einer Vermischung von Riten und einer Projektion eines ‚reinen‘ Zustands in die Vergangenheit entsteht der Eindruck eines Verfalls derjenigen Religion, bei der ein Vermischungszustand gesehen wird und der das Untersuchungsinteresse gilt.74 Die ‚fremde‘ Religion erscheint dabei als negativer Faktor,75 so daß bei einer solchen Bewertung für eine religionsvergleichende Untersuchung keine angemessene Basis gegeben ist. Zu einem Fehlurteil kommt so der amerikanische Orientalist MORRIS JASTROW, der in seinen Veröffentlichungen aus den Jahren 1911 und 1912 für die Eingeweideschau im klassisch-antiken Kulturraum eine orientalische Herkunft der Eingeweideschau voraussetzt und aufgrund dessen Entartung und Religionsverfall feststellen möchte: Der Verfall habe seine Ursache im Entlehnen einer der Weltanschauung der entlehnenden Kultur nicht gemäßen Sitte. Dies führe zu einer Umgestaltung des entlehnten Rituals und seiner Anpassung an die eigenen Glaubensvorstellungen. Für Griechenland nimmt JASTROW eine direkte Entlehnung aus Babylonien an, für Rom eine indirekte durch die Vermittlung der Etrusker.76 Er begründet seine Einstellung mit einer Veränderung, die sich in der Anzahl der beobachteten Organe zeige. JASTROW berichtet für eine babylonische ‚Opferschau‘ 72 SCHEID 1975; SCHEID 1990a; SCHEID 1990b; SCHEID 1998a = CFA; SCHEID 1998b. 73 SCHEID 1997; SCHEID 2005. 74 Vgl. CANCIK-LINDEMAIER 1990, S. 2, mit einem Beispiel aus dem Kult der Vestalinnen: „Von dieser frühen, ‚ursprünglichen‘ Religion aus kann dann die tatsächliche Religionsgeschichte nur noch als permanenter Abfall gedacht werden.“ – Auf ein im allgemeinen implizites Vorliegen eines Dekadenzmodells weist hin SCHEID 1998b, S. 10. – Als Beispiel für die Bewertung als Religionsverfall sei genannt BAILEY 1930, S. 451, dem CORBISHLEY 1951, S. 157, folgt: „Die Beliebtheit der etruskischen Weissagung war ein Schritt abwärts in der Geschichte der römischen Religion; sie vermehrte den Aberglauben und bestärkte die politische Behandlung religiöser Übungen.“ 75 Vgl. SCHEID 1998b, S. 10f. 76 JASTROW 1912, S. 213–415, bes. S. 320f.; zuvor JASTROW 1911, S. 147–201, bes. 195–198.
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nur von einer Beschau der Leber. Tatsächlich beschreiben diejenigen Keilschrifttexte, die er anführt, Zeichen auf Leber und Galle, doch andere Texte, die von der Beschau mehrerer Organe berichten, sind in seiner Darstellung nicht zu finden. Offensichtlich übergeht JASTROW die Forschungsergebnisse des Assyriologen FRANÇOIS LENORMANT, der in seinen Veröffentlichungen aus den Jahren 1875 und 1878 von einer Beschau sehr vieler Organe, auch unter Berücksichtigung ihrer anatomischen Lage, in einem babylonischen Ritus berichten kann.77 In dem von JASTROW vertretenen Konzept vermerkt dieser eine Erweiterung durch Hinzuziehung anderer Organe wie Lunge, Herz usw. in der Haruspizin gegenüber einer babylonischen Schau.78 Diese Erweiterung sei eine Folge der unterschiedlichen Vorstellungen vom Sitz der Seele, wie JASTROW über die babylonische Leberschau in seiner früheren amerikanischen Ausgabe angibt.79 Die Leberschau bei den Babyloniern beruhe auf der Vorstellung, daß die Leber der Sitz der Seele sei80 und über die Seele des Tieres eine Verbindung zur Seele einer Gottheit bestehe.81 Im Zusammentreffen beider Seelen zeige sich der Wille der Gottheit in bestimmten Zeichen auf der Leber des Tieres. Den Willen der Gottheit zu kennen, bedeute, die Zukunft zu wissen.82 Erst mit der den Babyloniern fremden Vorstellung, daß die Seele im Herzen sitze, sei konsequenterweise schließlich bei den Römern auch das Herz geprüft worden. Daß eine Prüfung des Herzens zur vorherigen alleinigen Prüfung der Leber hinzugefügt worden sei, könne aus einer Stelle bei PLINIUS geschlossen werden (PLIN. nat. 11,186, s.u. Anm. 145). Die Prüfung weiterer Eingeweide sei hinzugekommen. Dabei sei ein mehr anatomisches Interesse entwickelt und der ursprüngliche Sinn der Schau überdeckt worden. Mit der unklaren Zuordnung des Sitzes der Seele, nicht etwa in Leber oder in Herz, sondern in beiden gleichzeitig, und mit der Zufügung anderer Organe zur Untersuchung sei der Ritus verändert worden. Es sei bezeichnend, daß eine Erweiterung der Schau-Objekte nicht bei Babyloniern und Assyrern und vermutlich auch nicht bei den Etruskern stattgefunden habe, sondern bei Griechen und Römern.83 JASTROW beschreibt also einen Religionsverfall, der sich bei einer Übernahme des Rituals in der Veränderung der Anzahl der beobachten Organe zeige. Seine Darstellung ist jedoch unhaltbar, weil seine Voraussetzung, daß die Babylonier nur Leber und Galle beschauen würden, als Ausgangspunkt für seine Darstellung einer Entwicklung nicht richtig ist, wie sich vor allem durch die Arbeiten LENORMANTs und andere zeitgenössische Untersuchungen nachweisen läßt. Einen ähnlichen Vorgang wie JASTROW schildert SCHILLING, wenn er aus dem Befund, daß die literarischen Zeugnisse keine ‚reine‘ römische und keine ‚reine‘ etruskische Form einer Eingeweideschau widerspiegeln, den Schluß zieht, daß es außer für die Fratres Arvales inschriftlich bezeugt, eine strikte Trennung der ritu77 78 79 80 81 82 83
LENORMANT 1875 und 1878, s.o. Anm. 41. JASTROW 1912, S. 320 Anm. 3. JASTROW 1911, S. 147–201. JASTROW 1911, S. 195f. JASTROW 1911, S. 148. JASTROW 1911, S. 155. JASTROW 1911, S. 196–198.
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ellen Praktiken nicht gegeben habe, und er den Vorgang einer Vermischung der Riten als Religionsverfall beurteilt. Daß seine Einschätzung der Fratres Arvales nach neuerem Forschungsstand nicht mehr haltbar ist, wurde bereits gezeigt.84 SCHILLING zeichnet eine historische Entwicklung einer Vermischung von einer römischen mit einer etruskischen Eingeweideschau, die aber nicht mehr gelten kann, wenn eine Vermischung eigentlich nicht nachweisbar ist. SCHILLING meint, die Texte verdeutlichten, daß den Römern der klassischen Zeit das Ineinanderdringen von etruskischen und römischen Elementen immer vertrauter geworden sei. Für die Auffassung der Römer bei diesen beiden Formen gebe BOUCHÉ-LECLERCQ eine Erklärung.85 Die litatio sei als einfache Methode der Divination, die Haruspizin dagegen als eine von Spezialisten angewandte Methode mit raffinierter Technik verstanden worden. Aus diesem Grunde sei die Haruspizin vorgezogen worden, während die Eingeweideschau beim Opfer der Römer an Bedeutung verloren habe. Die Konsequenz aus dem Eindringen der divinatorischen Interpretation in das römische Opferritual sei gewesen, daß der Sinn der litatio unklar geworden sei.86 Es zeige sich die Tendenz, den Anteil der divinatorischen Interpretation beim Opfer zu vergrößern, ohne Rücksicht auf die alten Traditionen. Der Hang zur Divination gehe einher mit einer Abnahme religiösen Sinnes, der mit der Zeit divinatorische Tendenzen in sich aufnehme. An dem Beispiel des Sulla zeige sich mit einer divinatorischen Praxis das Einfließen von ‚sympathetischer Magie‘, indem Sulla die Leber, mit für ihn persönlich günstigen Zeichen, nach Anweisung eines Haruspex nicht den Göttern darbringen solle, sondern sie selbst essen.87 Dieses Beispiel zeige bei einem ‚ursprünglich‘ religiösen Sinn des Rituals eine starke Verschiebung. Jedoch lasse sich auch der umgekehrte Weg aufweisen, daß sich eine etruskische divinatorische Interpretation in die römische Opferhandlung einpasse. Das Beispiel der Dido zeige dies, indem in einem römischen Ritual, das eine litatio erfordere, Dido ihr Schicksal erfrage.88 Eine derartige Vermischung sei immer gebräuchlicher geworden, wie auch bei OVID (met. 15,130–137) zu sehen sei. Schließlich habe das Opferritual einen doppelten Zweck bekommen, einen religiösen und einen divinatorischen. Der doppelte Zweck finde in der Überlagerung der zwei Traditionen, nämlich der römischen und der etruskischen, seine Entsprechung. Bei PLINIUS und MACROBIUS fänden sich beide Aspekte einander ergän-
84 S.o. S. 30. 85 BOUCHE-LECLERCQ 1918, S. 1267. 86 Dies zeige das Beispiel des Konsuls Marcellus (LIV. 27,26,13 quod secundum trunca et turpia exta nimis laeta apparuissent). Marcellus habe mit einer hostia succidanea die litatio erreicht, womit er nach römischer Auffassung sich habe zufrieden geben können. Es sei aber ein Haruspex eingeschritten, der den Erfolg des Opfers bestritten habe. 87 AUG. civ. 2,24 Tunc Postumius haruspex ille respondit praeclaram significare victoriam iussitque ut extis illis solus vesceretur. – Dann antwortete jener Haruspex Postumius, daß die Eingeweide einen klaren Sieg anzeigen und befahl, daß er allein die Eingeweide essen solle. 88 VERG. Aen. 4,50f. Tu modo posce deos veniam sacrisque litatis / indulge hospitio; 4,63f. pecudumque reclusis / pectoribus inhians spirantia consulit exta (Text und Übers. s.u. Kap. Dido).
1.1 Forschungsgeschichtliche Skizze
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zend verbunden.89 Hier hätten zwei Rituale, die vorher getrennt gewesen seien und von verschiedenen Priestern („prêtres“) ausgeführt worden seien, einander durchdrungen. Dagegen seien in der Darstellung SUETONs, in der Augustus eine Eingeweideschau ausführt, zwei parallele Methoden verbindungslos nebeneinander gestellt, denn Augustus habe während seines ersten Konsulates zugleich ein Augurium und eine Vorhersage des Haruspex aufgrund der Leberschau erhalten. Als Anhaltspunkt für das endgültige Verschmelzen der beiden Riten der Eingeweideschau sieht SCHILLING die Reform des Kaisers Claudius, der nach Tacitus das 60-Männer-Kollegium der Haruspices den römischen Pontifices unterstellt habe, um die uralte italische Lehre nicht untergehen zu lassen, weil sie wegen anderer fremder Lehren vernachlässigt würde.90 Diese Haltung des Claudius mache deutlich, daß die Haruspizin als etwas anderes begriffen wurde als andere nichtrömische Lehren. Daß die Haruspizin bereits als römische Tradition aufgefaßt worden sei, zeige eben die Reform. SCHILLING stellt unter der Annahme, daß sich die zwei ursprünglich verschiedene Schlachtriten im Laufe der Zeit zu einem einzigen entwickelt hätten, eine historische Entwicklung dieser Vermischung dar. Er stellt einem römischen Schlachtritus das etruskische „sacrifice divinatoire“ (S. 1371) gegenüber und führt verschiedene Kriterien an, die eine Bestimmung entweder als römisches oder als etruskisches Element ermöglichen sollen. Da er jedoch in den meisten Beispieltexten das gleichzeitige Vorkommen beider Arten von Elementen feststellen muß, schließt er darauf, daß ein bereits fortgeschrittenes Stadium der Vermischung („interference“) dokumentiert sei. Aufgrund dieser Vermischung will er ein Eindringen von magischen Vorstellungen in die Praxis einer geschwächten römischen Religion zeigen. Beginn und Ende dieser Entwicklung datiert er auf den Hannibalischen Krieg (S. 1376) und die Claudianische Reform (S. 1378). Wie JASTROW fälschlich einen Ursprungszustand in einer babylonischen Eingeweideschau konstruiert, sieht SCHILLING fälschlich einen Ursprungszustand einer römischen Eingeweideschau bei den Fratres Arvales dokumentiert. Beide Darstellungen gründen auf der Vorstellung, eine ‚fremde‘ Religion verändere durch fremdbleibende und inhomogen wirkende Elemente die Religion des Interesses. Bei SCHILLING rückt mit der Darstellung eines Einfließens von ‚sympathetischer Magie‘ die divinatorische Praxis in die Nähe ‚magischer‘ Riten. Eine historische Entwicklung, die beide Forscher von diesem Ursprungszustand aus darstellen, erscheint auf dem Hintergrund von unhaltbaren Voraussetzungen nicht plausibel. Somit kann ein Religionsverfall nicht nachgewiesen werden. Nachdem im vorhergehenden Problemkreise von grundsätzlicher Art aufgezeigt und mit einer richtungsweisenden Abklärung, daß diese Bereiche forschungsgeschichtlich bedingt sind, verbunden worden sind, muß auf die Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie im Detail eingegangen werden. 89 PLIN. nat. 28,10 Quippe v i c t i mas c ae di sine precatione non videtur referre nec de os ri t e c onsul i ; MACR. Sat. 3,9,9 In eadem verba host i as f i e ri oportet auctoritatemque videri extorum, ut e a promi t t ant f ut ura. (Sperrung im Original). 90 TAC. ann. 11,15 vetustissima Italia disciplina ... quia externae superstitiones valescant.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
1.2 REVISION DER HYPOTHESE Die Forschung hat bisher vor allem in zahlreichen Lexikonartikeln oder Aufsätzen lediglich versucht, die Hypothese mit vielfachen kleinen Verbesserungen zu stützen, im Grundsatz referiert sie sie aber, ohne sie einer gründlichen Revision zu unterziehen. Von den Methoden her ist zu kritisieren, daß die Hypothese eben nie überprüft wurde. Eine Kritik ist lediglich darin zu erkennen, daß einzelne der proklamierten Unterscheidungsmöglichkeiten in verschiedenen Darstellungen einfach nicht genannt werden, ohne daß klar würde, welcher Mangel des betreffenden Kriteriums sein Weglassen begründet. Eine Auseinandersetzung findet nicht statt. Wenig plausibel erscheint auch die Schlußfolgerung, daß, wenn sich in den Texten eine Unterscheidung nicht widerspiegelt, die Quellen einen Vermischungszustand dokumentieren müssen. Zudem wird stillschweigend ein sakraler Wortschatz vorausgesetzt, der jedoch nur implizit bestimmt wird als Wortschatz einer spezifischen sakralen Satzung, um eine Rekonstruktion der entsprechenden Satzung zu erreichen. Und schließlich ist vor allem der Umgang mit den Quellen zu bemängeln, da zu wenig auf die Frage ihrer Historizität eingegangen wird. Für eine Überprüfung der Hypothese, die eine Widerlegung erwarten läßt, ist eine Argumentation zu führen: Dies muß sich so gestalten, daß zu der Hypothese eine Gegenhypothese gebildet und deren Plausibilität begründet wird. Ebenso ist mit Unterpunkten zu verfahren. Diese Unterpunkte ergeben sich aus mehreren Kriterien, die verschiedene Aspekte im Ritus betreffen und die zu dem Unterscheiden von zwei Riten geführt haben. Die einzelnen Unterscheidungsmerkmale sollen zum Überblick noch einmal aufgelistet werden, bevor zur Widerlegung der Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau Thesen und Gegenthesen zu formulieren sind.
1.
2.
3.
4.
vermutete römische Form Der Zweck sei das Erreichen der Litatio, das Feststellen des Wohlgesonnen-Seins der Götter. Die Eingeweide würden noch im Körper befindlich beschaut, der Ausdruck sei exta adhaerentia (anhängende Eingeweide). Für das Beschauen sage man exta inspicere – die Eingeweide einsehen. Sämtliche Organe würden auf ihren normalen Zustand hin überprüft.
vermutete etruskische Form Der Zweck sei eine genaue Vorhersage.
Die Eingeweide würden rasch aus dem Körper herausgenommen, was mit exta rapta (herausgerissene Eingeweide) bezeichnet werde. Für das Beschauen sage man exta consulere – die Eingeweide befragen. Nur Leber und Galle würden begutachtet.
1.2 Revision der Hypothese
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1.2.1 Das Kriterium des Zwecks Auch in der jüngeren wissenschaftlichen Literatur erscheint die Hypothese von zwei unterscheidbaren Formen der Eingeweideschau, die vor allem mit einem unterschiedlichen Zweck begründet wird, als akzeptiert.91 Problematisch ist, daß zwar die Behauptung mindestens seit MÜLLER (1828) wiederholt vorgetragen wird, es jedoch an Nachweisen mangelt.92 Belege, die eine nicht erfolgte litatio mit einer Wiederholung des Rituals verbinden, müssen als Erklärungsansatz für die litatio gewertet werden,93 sie enthalten aber keine Aussage darüber, ob die litatio römischer Kultprovenienz ist. Ebenso erlauben Belege, die eine nicht erfolgte litatio mit dem Fehlen oder einer Mißbildung von Organen erklären,94 keine Zuweisung zu einem römischen, im Gegensatz zu einem etruskischen Kult. Auf diesem Hintergrund erscheint die Zahl der Primärbelege stark eingeschränkt. 1. THESE: ‚Die Formen der Eingeweideschau verfolgen einen unterschiedlichen Zweck: eine römische erstrebt die litatio, eine etruskische ermöglicht eine genaue Vorhersage.‘
Eine Zuweisung der litatio zu einem römischen Kult bietet LÜBBERT (S. 103) mit der Inschrift der Fratres Arvales aus dem Jahre 218 n. Chr.95 Dieser Vorschlag wird aufgegriffen von WISSOWA96 und BLECHER97. Da die Arvalbruderschaft als eine alte römische Institution galt, wurde auch die litatio als Bestandteil eines alten römischen Rituals eingeschätzt, obwohl der Beleg erst aus der hohen Kaiserzeit stammt. Eine weitere Inschrift der Arvalbrüder aus dem Jahre 240 n. Chr., die
91 Beispielsweise PRESCENDI 2007, S. 40; MAGGIANI 2005, S. 55; CANCIK-LINDEMAIER 2000, S. 66f.; MAGGIANI 1998, S. 146, folgt THULIN (vgl. Anm. 43) uneingeschränkt; dann weiter beispielsweise GLADIGOW 1995, S. 350–352; TER VRUGT LENTZ 1986, Sp. 652; PFIFFIG 1975, S. 120; SCHILLING 1969, S. 472; SCHILLING 1962, S. 1372; LATTE 1960, S. 158, S. 388; KRAUSE 1931, Sp. 276, Z. 36–43. 92 Beispielsweise WISSOWA 1902, S. 353: „Dagegen ist die gesamte sehr komplizierte Theorie der Extispicin, die ... aus der Beschaffenheit der exta und speziell der Leber Schlüsse auf zukünftige Ereignisse zu ziehen sich bemüht, durchaus unrömisch und eine spezifisch etruskische, nur von den Haruspices geübte Kunst“ 93 Vgl. die Belege MÜLLERs, s.o. Anm. 6 und 8. 94 Das logische Problem bei einer Wiederholung des Rituals, wenn die litatio nicht positiv ausgefallen ist, und das von geschwundenen Organen und dasjenige einer Zustimmung des einen, aber Ablehnung eines anderen Gottes trägt bereits CICERO vor (CIC. div. 2,15,36–39). 95 S.o. Anm. 20. 96 WISSOWA 1902, S. 353: „Im Sinne einer solchen nochmaligen Feststellung der Tadellosigkeit und Wohlgefälligkeit der Opfertiere gehört die Untersuchung der exta nach altrömischem Ritus zu den Erfordernissen eines jeden Opfers und darum notiert auch das Protokoll der Arvalbrüder am Haupttage ihres Maifestes“ 97 BLECHER 1905, S. 219: „censuit [sc. Wissowa 1902, S. 353] enim, atque hoc sine dubio recte, litationem merum Romanorum usum esse, quoniam apud Arvales fratres invenitur.“ – Wissowa meinte nämlich, und dies ohne Zweifel zu Recht, daß die litatio einen rein römischen Gebrauch darstelle, weil er ja bei den Fratres Arvales zu finden ist.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
eine litatio bezeugt und seit 1914 bekannt ist, nennt WISSOWA in einem jüngeren Artikel zur litatio.98 Einen zweiten Nachweis einer Verbindung zu einem römischen Kult beschreibt WISSOWA (1926) aufgrund einer SERVIUS-Stelle (2,118),99 daß litare ein Ausdruck des römischen Pontifikalrechts sei. Daß die litatio mit Zukunftserkundung, die er als Anliegen der Haruspices sieht, nichts zutun habe, sieht er in einer Bemerkung CICEROs bezeugt, ein Teil der dargebrachten Opfer erreichten die litatio, ein anderer nicht.100 THULIN (1905, S. 5), auf den die meisten späteren Forscher sich berufen, führt als Beleg für eine Zweiteilung eine Stelle aus CICEROs De divinatione an (CIC. div. 2,32 quando ea nos extis exquirimus? aut quando aliquid eiusmodi ab haruspice inspectis extis audivimus). In der Frageform der Römer, die mit nos bezeichnet sind, sieht THULIN eine römische Eingeweideschau dokumentiert, in der Frageform von einem haruspex eine etruskische. Die Deutungsweise von Haruspices belegt er weiter mit einer Stelle aus der Dichtung TIBULLs.101 Ein weiterer Nachweis aus dem Werk TIBULLs kommt sehr viel später hinzu.102 Beide Texte sollen belegen, daß die Etrusker mit der Eingeweideschau ein Verfahren zur Erkundung der Zukunft anwenden. Als Hauptbeleg für eine differenzierte Verfahrensweise bei den Etruskern gilt das Bronzelebermodell. Mit den Einteilungen auf dem Modell scheint die Leber bei einer Beschau besondere Möglichkeiten der Prognostik zu bieten.103 Vermutet wird, daß durch die Felder, die mit Götternamen versehen sind, die Gottheit, die ihren Willen kundgab oder zu versöhnen war, bestimmt werden konnte, so THULIN (1905, S. 8) und ihm folgend (KÖRTE 1905, S. 371). 1. GEGENTHESE: ‚Ein Gegensatz von einer litatio als Zweck in einer römischen Schau und dem Zweck einer Erkundung der Zukunft in einer etruskischen Schau ist nicht nachweisbar.‘
Die litatio kann nicht als Bestandteil eines alten römischen Schlachtrituals angesehen werden, weil die Fratres Arvales, bei denen eine litatio dokumentiert ist, zwar altertümliche Züge aufweisen,104 aber von ihrer Struktur her eine auf den Kaiserkult ausgerichtete, in augusteischer Zeit neu gegründete Institution darstellen. Auch ob die litatio als Ausdruck des Pontifikalrechts, wie SERVIUS angibt (2,118), zu werten ist, ist unklar. Denn die Zuverlässigkeit seiner Mitteilung ist
98 99 100 101
WISSOWA 1926, Sp. 741, s.o. Anm. 70. Text s.o. Anm. 31. CIC. div. 2,15,38, s.o. Anm. 94. TIBULL. 2,5,13 Tuque regis sortes, per te praesentit haruspex, / lubrica signavit cum deus exta notis. – Du [sc. Apollon] lenkst das Losorakel; durch dich ahnt der Haruspex die Zukunft, wenn ein Gott die schlüpfrigen Eingeweide mit Merkmalen versah. 102 Vgl. CAMPOREALE 1993, S.79; TIBULL. 3,4,5–6 Divi vera monent, venturae nuntia sortis / vera monent Tuscis exta probata viris – Götter verkünden die Wahrheit, es künden als Boten des zukünftigen Schicksals Wahrheit die von etruskischen Männern geprüften Eingeweide. 103 BOUCHE-LECLERCQ 1892, S. 298. 104 S.o. S. 31.
1.2 Revision der Hypothese
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fraglich, weil SERVIUS zum Ausdruck ‚hostia animalis‘ in den Stellen zu Vers 2,118 und zu Vers 4,56 auch gegenteilig erscheinende Informationen liefert.105 Der Beleg THULINs (CIC. div. 2,32), in dem er unterschiedliche Frageformen in einer römischen und einer etruskischen Eingeweideschau erkennt, beruht nicht auf unterschiedlichen Verfahrensweisen in zwei Riten, sondern stellt die rhetorische Figur der evidentia, einer detaillierenden Häufung106 in den Ausführungen CICEROs dar. An literarischen Belegen, daß mit den Haruspices auch Aussagen über die Zukunft verbunden werden, fehlt es nicht. Jedoch liegen keine Untersuchungen über die Form der Aussprüche von Haruspices, beispielsweise in der historiographischen Literatur, vor. Die genannten Stellen aus TIBULLs Dichtung107 bringen keine Neuerung. Wie aber eine Vorhersage von zukünftigen Ereignissen aufgrund der Beschaffenheit der Bronzeleber erfolgen soll, ist nicht ersichtlich. Nachvollziehbar ist dagegen die Aussage, daß durch den Vergleich der Leber eines Schlachttieres mit dem Lebermodell Eigenheiten auf der realen Leber den Regionen der mit Götternamen gekennzeichneten Lebermodells zugeordnet werden können und so mit der Leberschau relevant erscheinende Gottheiten bestimmt werden können. Da das Erreichen der litatio nicht als Zweck in einem alten römischen Ritus nachgewiesen werden kann und das Ziel einer Zukunftserkundung bei den Etruskern zwar in den literarischen Quellen mehrfach formuliert, aber die genaue Form einer Weissagung nicht untersucht ist, und auch aufgrund der Bronzeleber keine Form einer Weissagung ermittelbar ist, scheint bei der Unklarheit des Zwecks eine Aufspaltung in römisch und etruskisch nicht plausibel. Es zeichnet sich vielmehr ab, daß das Bedeutungsumfeld von litare abgeklärt und Weissagungen von Haruspices untersucht werden sollten, um das Verhältnis zwischen den beiden Elementen neu zu bestimmen.
1.2.2 Das Kriterium, wo sich die exta bei der Beschau befinden 2. THESE: ‚In einer römischen Eingeweideschau werden die Organe noch im Körper befindlich untersucht, in einer etruskischen werden die Organe außerhalb des Körpers untersucht.‘
BLECHER (1905)108 belegt die römische Verfahrensweise mit einer Verkettung von Texten, die eine Verbindung zu den Fratres Arvales ergibt: Ein römisches Verfahren sieht er dokumentiert in einer Stelle aus den Worterklärungen des FESTUS (100 105 So über den Ausdruck ‚hostia animalis‘, der ihm als Ausdruck des Pontifikalrechts (2,118) und Ausdruck der Haruspices gilt (4,56); s.o. S. 23. 106 LAUSBERG 1963, § 364. 107 S.o. Anm. 101 und 102. 108 BLECHER 1905, S. 220–223, bes. 220: „Quibus verbis [sc. hariuga dicebatur hostia, cuius adhaerentia inspiciebantur exta] alia indicatur sine dubio ratio exta inspiciendi atque Etruscorum fuit extispicium, ubi ereptas viventit pectore fibras inspiciunt.“ – In diesen Worten wird zweifelsohne ein anderes Verfahren, die Eingeweide zu betrachten, angezeigt als das extispicium der Etrusker darstellte.
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M = 89 L).109 Der Ausdruck adhaerentia inspiciebantur exta zeige, daß die Eingeweide untersucht würden, während sie sich noch im Körper befinden. Daß dies eine römische Sitte sei, folgert er durch eine Kombination mit einer Stelle bei VARRO (ling. 5,98)110, indem er das ein bestimmtes Schlachttier bezeichnende Wort ariuga mit hariuga in der FESTUS-Stelle gleichsetzt. Daraus, daß VARRO den Gebrauch des Wortes den Pontifikalschriften zuschreibt, schließt BLECHER, daß bei diesem Tier (hostia / hariuga / ariuga) in einem römischen Ritus die exta adhaerentia beschaut würden.111 Eine noch differenziertere Zuordnung unternimmt er, indem er die beiden bei VARRO genannten Garmethoden aufgreift.112 Das Garen am Spieß erscheint ihm als Methode, die in einer Kriegssituation im Felde angewendet worden sei, das Garen in einem Topf beurteilt er als eine Form, die einen festen Herd erfordere, und somit im Krieg, der größere Mobilität erfordere, ungeeignet sei.113 Da das Kochen im Topf eine örtliche Bindung voraussetze, gehöre sie in den ländlichen Bereich. Als Sakralkollegium, das den ländlichen Bereich vertritt, sieht er die Fratres Arvales und somit werde die Methode, die Eingeweide in einem Topf zu kochen, von den Arvalbrüdern praktiziert. Die Richtigkeit seiner Schlußfolgerung sucht BLECHER mit dem Hinweis auf archäologische Funde von Topfscherben im Arvalhain, die die besondere Rolle von Töpfen bei den Arvalbrüdern dokumentierten, zu belegen. Die differenziertere Zuordnung erschien BLECHER nötig, weil anderes Material das Wort ariuga nicht den pontifices zuordnet, sondern es in 109 FEST. (100 M = 89 L) hariuga dicebatur hostia, cuius adhaerentia inspiciebantur exta – ‚hariuga‘ wurde das Opertier genannt, dessen Eingeweide anhängend betrachtet wurden. – Nach SCHMIDT 1967, Sp. 541, und HELM 1952, Sp. 2316–2319, ist FESTUS SEXTUS POMPEIUS oder SEXTUS POMPEIUS FESTUS ein Grammatiker des 2. Jhs. n. Chr. und Verfasser einer Epitome aus dem Glossar de verborum significatu des VERRIUS FLACCUS, welcher in augusteischer Zeit lebte und schrieb. FESTUS hat eine Auswahl getroffen und dabei offenbar nicht viel an den übernommenen Informationen geändert, so daß man davon ausgehen kann, daß damit die Angaben des VERRIUS FLACCUS vorliegen. Der Text des FESTUS ist zum Teil zerstört und in diesen Teilen nur in einer Epitome des PAULUS DIACONUS überliefert. – Nach SCHMIDT 1997 und BREUKELAAR 1994, S. 60–63, lebte PAULUS DIACONUS von ca. 720/30 bis vielleicht 799 n. Chr. Er war wahrscheinlich Mönch des Klosters Monte Cassino. Für die Bibliothek Karls des Großen schrieb er eine Epitome der von FESTUS verfaßten Epitome zum Werk des VERRIUS FLACCUS. 110 VARRO ling. 5,98 ariugas, haec sunt, quorum in sacrificiis exta in olla, non in veru coquetur, quas et Accius scribit et in pontificiis libris videmus. ... – ‚ariugae‘ sind die, deren Eingeweide bei Opferhandlungen in einem Topf, nicht am Spieß gegart wurden, so schreibt Accius und zu lesen ist es in den Büchern der Pontifices. 111 BLECHER 1905, S. 221. 112 THULIN 1905, S. 7, nimmt für diesen Aspekt keine Unterscheidbarkeit eines römischen von einem etruskischen Ritus an, wie jedoch BOUCHÉ-LECLERCQ 1900, S. 25, darstelle. – LATTE 1914, Sp. 1131, Z. 4f., beschreibt das Kochen im Topf ebenfalls als römischen Ritus, bezüglich des Garens am Spieß als eine etruskische Form äußert er Zweifel. Grundsätzlich stimmt LATTE einer Differenzierung in einen etruskischen und einen römischen Ritus zu, das Beschauen adhaerentia exta wertet er als eine römische Form, ohne jedoch auf den proklamierten gegensätzlichen Gebrauch bei den Etruskern einzugehen. 113 BLECHER 1905, S. 221.
1.2 Revision der Hypothese
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etymologischen Erklärungen mit dem Ausdruck haruspices in Verbindung bringt (S. 220).114 Die Argumentation bezüglich der Garmethoden sollte die Zuordnung zu einem römischen Kult absichern und damit die Nachweise für eine Verbindung mit den haruspices entkräften. BLECHER, der die Garmethode im Topf einer Verfahrensweise mit einem festen Herd zuordnen wollte, trägt eine Textstelle aus LIVIUS vor, um deren Beweiskraft zu widerlegen, denn sie bezeugt gerade das Kochen im Topf während eines Feldzuges.115 Mit dem Argument, daß diese Sitte jedoch aus dem ländlichen Gebrauch übertragen worden sei, sucht er die Beweiskraft dieses Beleges zu entkräften.116 THULIN stützt den Ansatz BLECHERs durch weitere Belege, die auf eine Beschau der Eingeweide im Körper dadurch schließen lassen, daß die Lage der Organe wichtig ist (1905, S. 6).117 Allein eine Stelle bei PLINIUS, die auch BLECHER genannt hatte (S. 222), beurteilt er als einen römischen Ritus dokumentierend.118 Die Darstellung einer turbatus ordo extorum im Oedipus des SENECA wertet er wegen ihrer prodigiösen Erzählabsicht als nicht aussagekräftig.119 Als Dokumentation einer etruskischen Eingeweideschau gilt ihm mit dem Ausdruck erepta inspicere exta einzig eine Stelle bei LUCAN (1,616).120 Zu den Stellen, bei denen THULIN keine Möglichkeit einer Zuordnung zu einem griechischen, römischen oder etruskischen sieht,121 gehören auch die beiden, mit denen BLECHER seinerseits eine etruskische Verfahrensweise belegen will.122 Als archäologische Bezeugungen einer griechischen und etruskischen Technik der Entnahme bewertet THU-
114 DON. Ter. Phorm. 4,4,28 haruspex ab haruga nominatur. Nam haruga dicitur hostia ab hara in qua includitur et servatur. – VELIUS LONGUS (gramm. 7,73,9 Keil) arispex ab ari(u)ga, quae est hostia, non aruspex; – Glosse unbekannter Herkunft (Corp. gloss. V 441, 11) ariuges hostium. 115 LIV. 41,15,1 Cn. Cornelius ... exposuit patribus conscriptis bovis sescenaris, quem immolavisset, iecur defluxisse. id se ... victimario nuntianti parum credentem ipsum aquam effundi ex olla, ubi exta coquerentur, iussisse, et vidisse ceteram integram partem extorum, iecur omne inenarrabili tabe absumptum. 116 BLECHER 1905, S. 221: „atque usus primitivus, qui postea quidem, ut modo e Livio cognovimus, ad bellantes quoque translatus est.“ – ... als der einfachere Gebrauch, der zwar später, wie wir zwar aus Livius wissen, auch auf die Kriegführenden übertragen wurde. 117 PLIN. nat. 11,204 lien in sinistra parte adversus iecori, cum quo locum aliquando permutat sed prodigiose; SEN. Oed. 353 ff. (s.u. Kap. Tiresias und Manto). 118 Es soll erlaubt sein, den Aspekt der Farbe der Organe (BLECHER 1905, S. 222; SCHILLING 1962, S. 1373) nicht weiter zu verfolgen, da auch hier im Endeffekt keine Klärung zu erreichen ist. 119 Ein Hinweis auf die Wendung pectoribus inhians spirantia consulit exta (VERG. Aen. 4,65), der jedenfalls eine Beschau noch im Körper beschreibt, bleibt unerläutert und ohne Bewertung der Aussagekraft. 120 S.o. Anm. 46. 121 VERG. Aen. 12,213; CLAUD. DON. Aen. 12,213; CLAUD. DON. Aen. 11,82. 122 Vgl. BLECHER 1905, S. 220: OV. met. 15,136 ereptas viventi pectore fibras inspiciunt – sie besehen die dem lebenden Leib entrissenen Fasern; SEN. Thy. 755: erepta vivis exta pectoribus tremunt – die den lebenden Leibern entrissenen Eingeweide zittern.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
verschiedene Darstellungen, die BLECHER (1905, Taf. II–III) abbildet.123 Die Abbildung auf Taf. I, das berühmte extispicium-Relief, das sich heute im Louvre befindet, bewertet er demnach als Beleg für eine römische Schau,124 jedoch urteilt WISSOWA anders, der die Darstellung als etruskische Form bezeichnet.125 Auch nachfolgende Bearbeiter des Themas sehen wie BLECHER eine römische Technik der Beschau im adhaerentia inspiciebantur exta (FEST. 100 M = 89 L) belegt.126 LIN
2. GEGENTHESE: ‚Ein Gegensatz von einer römischen Schau, bei der die Eingeweide noch im Körper befindlich beurteilt werden, zu einer etruskischen Schau, bei der die Organe außerhalb des Körpers untersucht werden, ist nicht nachweisbar.‘
Der Beleg für die Verfahrensweise, die Eingeweide anhängend (adhaerentia) zu beschauen, wird den Fratres Arvales zugeordnet. Weil diese für eine alte römische Bruderschaft gehalten werden, die einen reinen römischen Ritus bewahrt hätten, wird auch deren Verfahrensweise für eine alte, rein römische Form gehalten. Daß die Fratres Arvales jedoch keine alte Institution, sondern eine Neugründung durch Augustus darstellen, ist weiter oben bereits erläutert worden. Somit kann durch eine Verbindung zu den Fratres Arvales keine Verfahrensweise, die in einem alten römischen Ritus praktiziert worden sei, nachgewiesen werden. Der Ansatz BLECHERs, die Beweiskraft von anderen etymologischen Erklärungen, die das Wort ariuga mit der Haruspizin verbinden, zu schwächen, ist somit hinfällig. Es stehen deshalb weiterhin Nachweise, die ariuga mit den Pontifices verbinden (VARRO ling. 5,98), und Nachweise, die eine Verbindung zu den Haruspices herstellen, bezüglich einer Zuordnung zu einem bestimmten Sakralkollegium unvereinbar nebeneinander. Die beiden literarischen Belege von BLECHER, die eine etruskische Form der Eingeweideschau bezeugen sollen,127 sind nicht zuletzt wegen ihrer poetischen Provenienz höchst problematisch. THULIN bietet statt dessen einen anderen Beleg, der aus demselben Grund genauso wenig überzeugt128 und schon von BLECHER und BOUCHÉ-LECLERCQ als aussagekräftige Bezeugung zusammen mit der Darstellung im Oedipus abgelehnt worden ist.129
123 Das sind attische Vasen: Würzburg L 507 (A); Brüssel 291 (B); Bronzespiegel: ‚Kalchas‘ Vatikan 12240; Gemme: Berlin, Staatliche Museen 374; Bronzestatuette: Avignon (vgl. REINACH 1904, S. 11 Abb. 8); Urnendeckel: Volterra 136; Marmorstatue ‚Diotima‘ Athen 226. 124 Ebenso LATTE 1914, Sp. 1130, Z. 30f. 125 WISSOWA 1912, S. 418 Anm. 5. 126 PRESCENDI 2007, S. 40; MAGGIANI 2005, S. 55; RAFANELLI / DONATI 2004, S. 181; PRESCENDI / HUET / SIEBERT 2004, S. 229f:, GLADIGOW 1995, S. 352 Anm. 49; PFIFFIG 1975, S. 120; DUMÉZIL 1970, S. 646; LATTE 1914, Sp. 1130, Z. 32f.; 1131, Z. 28f.;WISSOWA 1912, S. 418 Anm. 5. – Zweifelnd dagegen SCHILLING 1962, S. 1373 Anm. 4. 127 S.o. Anm. 122 (OV. met. 15,136; SEN. Thy. 755). 128 LUCAN. 1,616f. 129 BOUCHE-LECLERCQ 1882, S. 68 Anm. 1; BLECHER 1905, S. 222 Anm. 6.
1.2 Revision der Hypothese
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In der Folge gibt es ein buntes Durcheinander der Belege,130 so zieht beispielsweise GLADIGOW wiederum die Belege aus den Metamorphosen OVIDs und aus VERGILs Aeneis, die für THULIN als nicht einzuordnen gegolten hatten,131 für eine Dokumentation einer Verfahrensweise bei Griechen und Etruskern heran132 oder MAGGIANI belegt eine etruskische Technik zuerst wie BLECHER mit den Stellen bei OVID und SENECA und später wie THULIN mit der Stelle bei LUCAN.133 Es sind in der Forschungsliteratur erhebliche Differenzen über die Beweiskraft der Belege für ein etruskisches Verfahren, die Eingeweide außerhalb des Körpers zu beschauen, festzustellen.134 Diese werden jedoch nicht problematisiert, so daß eine sehr unübersichtliche Belegsituation entsteht. Bei dem Befund von nicht gesicherten Belegen für ein etruskisches Verfahren und in erster Linie dem Nachweis, daß ein adhaerentia exta nicht als eine ‚alte römische‘ Form der Eingeweideschau gelten kann, ist die Vorstellung, es bestehe ein Gegensatz von Verfahren in einer römischen und einer etruskischen Eingeweideschau bezüglich der noch im Körper befindlichen oder bereits herausgenommenen Organe, aufzugeben. Als weiteres Argument gegen eine unterschiedliche Provenienz, die durch die Verfahrensweisen im Ritus angezeigt würde, spricht die logische Überlegung, daß das Anschauen im Körper des Tieres und das Anschauen nach einer Entnahme lediglich nacheinander durchgeführte Handlungen sind. Denn zwingend notwendig ist die Herausnahme der Leber, wenn jedenfalls die dorsale Seite, also die zum Körperinneren gewandte Seite, auf der der als bedeutsam eingeschätzte Fortsatz, das caput, liegt, beschaut werden soll.
1.2.3 Das Kriterium, wie das Beschauen genannt wird 3. THESE: ‚Der sakrale Fachbegriff für das Schauen ist in einer etruskischen Schau consulere exta, in einer römischen inspicere exta.‘
THULIN belegt diese Unterscheidung mit SERV. Aen. 4,64, der zu der Vergilischen Wendung consulit exta vermerkt: aruspices enim exta consulere dicuntur cum inspiciunt (denn man sagt von den aruspices, daß sie die Eingeweide befragen, 130 Vgl. PRESCENDI 2007, S. 40, bes. Anm. 171, die mehrere Belege, um deren Ausschluß doch diskutiert wird, anführt (LUCAN. 1,617; OV. met. 15,136; SEN. Thy. 755); MAGGIANI 2005, S. 55 (für einen etruskischen Ritus LUCAN. 1,616f.); MAGGIANI 1998, S. 146 (für einen etruskischen Ritus OV. met. 15,136; SEN. Thy. 755 „und andere“; KRAUSE 1931, Sp. 276 (für einen griechischen oder etruskischen Ritus OV. met. 15,136; SEN. Thy. 755; VERG. Aen. 12,214f.); WISSOWA 1912, S. 418 Anm. 5 (für einen griechischen oder etruskischen Ritus OV. met. 15,136; SEN. Thy. 755; VERG. Aen. 12,214f., die LUCAN-Stelle ist nicht genannt). Zur unterschiedlichen Inanspruchnahme des extispicium-Reliefs s.o. Anm. 123 und Anm. 125. 131 Vgl. Anm. 121 und Anm. 122. 132 GLADIGOW 1995, S. 351 Anm. 48. 133 Vgl. Anm. 130. 134 So hält KÖRTE 1905, S. 372, die beiden Schilderungen der krankhaften Leber zu Recht für „phantastisch und gänzlich unmöglich“.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
indem sie sie anschauen). Als Beleg für die römische Form nennt THULIN die Stelle CIC. div. 2,32: quando ea nos extis exquirimus? aut quando aliquid eiusmodi ab haruspice inspectis extis audivimus? („Wann erfragen wir diese Dinge durch die Eingeweide? Oder wann haben wir irgend etwas dieser Art von einem Haruspex nach dem Einblick in die Eingeweide gehört?“)135 THULIN hat damit seine frühere Darstellung präzisiert, in der er zwar diese Unterscheidung schon beschreibt, aber die beiden Belege noch nicht zusammenstellt.136 Statt dessen belegt er in der früheren Darstellung die bei SERVIUS gegebene Gegenüberstellung von inspicere und consulere mit einer Stelle bei MACROBIUS. Der Ausdruck ‚hostiae consultatoriae‘ scheint ihm eine Verbindung zwischen consulere und einer Sakralordnung der Haruspices herzustellen, so daß THULIN mit diesem Ausdruck eine etruskische Form der Eingeweideschau bezeichnet sieht. In der Folge wird in der Forschung dieses Unterscheidungskriterium häufiger zwar genannt, aber zumeist ohne Hinweis auf THULIN und auch ohne Primärbelege.137 3. GEGENTHESE: ‚Eine sakrale Fachsprachlichkeit für die Ausdrücke inspicere und consulere ist nicht nachgewiesen, sondern beruht auf einer nur hypothetischen Annahme.‘
Da die Belege bisher nicht überprüft wurden, müssen zum einen diejenigen Stellen, mit denen THULIN das von ihm vorgeschlagene Unterscheidungskriterium belegt, in einem eigenen Abschnitt untersucht werden.138 Und zum anderen soll, da eine Analyse einer größeren Anzahl von Texten mit dem Ausdruck exta consulere und exta inspicere bislang noch nicht stattgefunden hat, ein Wortfeld zu consulere ermittelt werden.139
1.2.4 Das Kriterium, welche Organe beschaut werden 4. THESE: ‚In einer etruskischen Eingeweideschau werden nur Leber und Galle betrachtet, entsprechend ihrer babylonischen Herkunft. Dagegen werden in einer römischen Eingeweideschau mehrere Organe auf ihren normalen Zustand hin überprüft.‘
135 THULIN 1912, Sp. 2449: „[sc. CIC. div. 2,32] Der etruskische Terminus heißt deshalb consulere exta, der römische inspicere exta [SERV. Aen. 4,64]“. 136 Vgl. THULIN 1906, S. 5: „Dass wir jedoch eine eigene römische Opferschau neben der etruskischen Haruspicin annehmen müssen, sagt Cicero div. II 32“ und weiter hinten (S. 11f.: „[sc. SERV. Aen. 4,64] Der römische Terminus ist inspicere exta, i. e. zusehen, ob alles in Ordnung und ob der Gott geneigt ist. Die Etrusker dagegen befragen die Eingeweide, wie man ein Orakel befragt, um Weissagungen für die Zukunft hervorzuholen.“ 137 Beispielsweise SCHILLING 1962, S. 1372; PFIFFIG 1975, S. 120; RAFANELLI / DONATI 2004, S. 181; MAGGIANI 2005, S. 55. 138 S.u. Abschnitt 2.2 und 2.3. 139 S.u. Abschnitt 2.1.
1.2 Revision der Hypothese
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Daß die Babylonier nur Leber und Galle beschaut hätten, beschreibt fälschlich JA(1911).140 Dieser stellt eine Übernahme der babylonischen Eingeweideschau durch die Vermittlung der Etrusker nach Rom dar. Er vermerkt eine Erweiterung der beschauten Organe in der Haruspizin gegenüber einer babylonischen Verfahrensweise um Lunge, Herz etc. Daß eine Prüfung des Herzens zur vorherigen alleinigen Prüfung der Leber hinzugefügt worden sei, belegt er mit einer Stelle bei PLINIUS (nat. 11,186, s.u. Anm. 145). Den Unterschied in der Anzahl der Schauobjekte in einer etruskischen gegenüber einer römischen Schau beschreibt zuerst SCHILLING (1962)141 und stützt sich für die Analogie zu einer babylonischen Verfahrensweise auf THULIN (1912, Sp. 2450). Dieser behauptet zwar, daß die Haruspices „wie die Chaldäer, nur die Leber und die Gallenblase“ untersuchten, doch belegt er seine Angaben über das Verfahren bei den Babyloniern nicht. Da THULIN jedoch seine Ansicht, daß speziell in der Haruspizin enge Parallelen zum Orient zu finden seien,142 formuliert und sich an etlichen anderen Stellen auf JASTROW beruft,143 ist anzunehmen, daß auch die (Fehl-)Information über das babylonische Verfahren von diesem stammt. Das Verfahren in einem römischen Ritus belegt SCHILLING mit LUCAN. 1,621 ff.144 PFIFFIG (1975) folgt ihm und fügt mit CIC. div. 1,85 und PLIN. nat. 11,186 weitere Belege für eine Verfahrensweise der Haruspices hinzu, die allerdings keine Beschränkung auf Leber und Galle, sondern eine Beschau der Lunge und des Herzens dokumentieren.145 Der in diesen Belegen wahrnehmbare sachliche Widerspruch zu einer Beschränkung der Etrusker auf die Beschau von Leber und Galle wird als eine mit der Zeit eingetretene Vermischung der Riten von Etruskern und Römern gewertet. Dieser Darstellung einer etruskisch-römischen Dichotomie folgt TER VRUGT LENTZ (1986)146 unter Akzeptanz der Belege, doch indem sie den problematischen Vergleich mit einer babylonischen Verfahrensweise zu Recht unterläßt, ist der Gegenüberstellung, die auf einer angeblich analogen Technik von Etruskern und Babyloniern beruht, die Grundlage entzogen. Auch GLADIGOW (1995) beschreibt eine etruskisch-römische Dichotomie ohne den grundlegenden, STROW
140 JASTROW 1912, S. 213–415, zur Vermittlung und Erweiterung der Anzahl, vgl. dort S. 320. JASTROW 1911, S. 147–201, bes. 195–198. 141 SCHILLING 1962, S. 1373; PFIFFIG 1975, S. 120. 142 THULIN 1905, S. X–XV, bes. S. XIII: „Es fragt sich nur, ob wir diese Berührungen der Etrusker mit dem Orient erst in der Zeit, wo sie Italien schon besiedelt hatten, anzusetzen haben, oder ob schon voritalische Verbindungen anzunehmen sind.“ 143 THULIN 1912, Sp. 2441; 2452; 2453; 2454; 2457. 144 Text und Übersetzung s.u. Kap. Arruns. 145 CIC. div. 1,85 Quid enim habet haruspex, cur pulmo incisus etiam in bonis extis dirimat tempus et proferat diem? – Was nämlich weiß der Eingeweideschauer darüber, warum ein Einschnitt in der Lunge, auch wenn die Eingeweide sonst in Ordnung sind, einen Einschnitt in der Zeit bedeutet und einen Termin hinausschiebt? – PLIN. nat. 11,186 In corde summo pinguitudo quaedam est laetis extis. non semper autem in parte extorum habitum est. L. Postumio L. F. Albino rege sacrorum post CXXVI Olympiadem, cum rex Pyrrhus ex Italia decessisset, cor in extis haruspices inspicere coeperunt. Caesari dictatori, quo die primum veste purpurea processit atque in sella aurea sedit, sacrificanti in extis defuit. 146 TER VRUGT LENTZ 1986, Sp. 652.
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
aber fragwürdigen Vergleich mit den Babyloniern.147 Einen römischen Ritus belegt er nicht mit der genannten LUCAN-Stelle, sondern mit einer Aufzählung bei CICERO148 und beruft sich dabei auch auf WISSOWA, der jedoch für seine Aufzählung keinen Beleg nennt.149 Die etruskische Seite dokumentiert GLADIGOW für diesen Aspekt nicht. 4. GEGENTHESE: ‚Es besteht kein Unterschied in der Anzahl der Beschauobjekte, denn eine initiale Beschränkung der Etrusker auf die Beschau von Leber und Galle ist nicht nachgewiesen.‘
Der oben formulierte Analogieschluß ist – unabhängig von der Frage nach einer babylonischen Herkunft der Etrusker – gar nicht möglich, weil in einer babylonischen Schau nicht nur Leber und Galle, sondern etliche Organe mehr untersucht werden. Diese Verfahrensweise ist mindestens seit der Untersuchung von LENORMANT aus dem Jahre 1875 dokumentiert. Weitere modernere Untersuchungen stimmen damit überein:150 Danach wurden Leber und Galle zwar besonders beachtet,151 aber nicht ausschließlich. Es wurden fast alle inneren Organe untersucht.152 Modelle von Eingeweiden eines Schafes zeigen dies.153 Die Texte154 geben an, daß nach der Begutachtung äußerer Merkmale des Tieres, wie Färbung und Muskelreflexe, dann Lage und Zustand der Eingeweide155 in bestimmter Reihenfolge überprüft wurden156: Brustbein, Lungen157, Herz158, Zwerchfell159, Leber mit Gallenblase, Milz160, Magen, Gedärm161, Nieren162 und Harnblase163. Es ist 147 GLADIGOW 1995, S. 350–352. 148 CIC. div. 2,29 Cum rerum natura tanta tamque praeclara in omnes partes motusque diffusa quid habere potest commune non dicam gallinaceum fel (sunt enim, qui vel argutissima haec exta esse dicant), sed tauri opimi iecur aut cor aut pulmo quid habet naturale, quod declarare possit, quid futurum sit? – Mit der Natur, die so groß und so herrlich in alle Bereiche und Regungen ergossen ist – „was kann mit ihr gemeinsam haben, ich will nicht sagen: die Gallenblase eines Huhnes (es gibt nämlich Leute, die sagen, dieses Organ sei ganz besonders bedeutungskräftig), sondern die Leber eines erlesenen Stieres? Oder ein Herz oder eine Lunge – was gibt es daran Natürliches, das anzeigen könnte, was in der Zukunft sein wird?“ (Übers. SCHÄUBLIN). 149 WISSOWA 1912, S. 418. 150 LENORMANT 1875, S. 55 ff.– dt. 1878; LENORMANT 1878, S. 451–453; MEIßNER 1925, S. 267–275; HUSSEY 1948, S. 22–32; RÖMER 1969, S. 115–194; S. 176f.; LAWRENCE 1979, S. 8f.; JEYES 1989, RICHTER 1992. 151 RÖMER 1969, S. 176. 152 LAWRENCE 1979, S. 8. 153 RÖMER 1969, S. 176; MEIßNER 1925, S. 268. 154 Eine Überprüfung der Texte ist mir wegen fehlender Kenntnis der Keilschriften nicht möglich. 155 LENORMANT 1878, S. 451f. 156 LAWRENCE 1979, S. 8f. 157 LENORMANT 1878, S. 453; HUSSEY 1948, S. 22–32; MACEWAN 1987–1990, S. 170–172; JEYES 1989, S. 76f. §1. 158 LENORMANT 1878, S. 451; HUSSEY 1948, S. 22–32; JEYES 1989, S. 77–79 § 2. 159 JEYES 1989, S. 78 § 2. 160 JEYES 1989, S. 79 § 3.
1.2 Revision der Hypothese
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demnach festzuhalten, daß die Babylonier eben nicht nur Leber und Galle, sondern nahezu alle Eingeweide geprüft und dabei auch Farbe und Lage beachtet haben. Ein Unterschied zu einer römischen Schau besteht aufgrund der Beobachtungsobjekte nicht, folglich läßt sich auch über eine mögliche orientalische Herkunft der Etrusker kein Gegensatz zu einer römischen Schau aufbauen.164 Daß die Stellen bei CICERO einmal als Beleg für eine Verfahrensweise der Haruspices gelten sollen (CIC. div. 1,85) und ein anderes Mal als Beleg für eine römische Schau (CIC. div. 2,29), erscheint wenig plausibel. Es würde sicher einen Fortschritt bedeuten, die Vorstellung einer unterschiedlichen Anzahl von Beschauobjekten aufzugeben und der rhetorischen Technik in CICEROs philosophischem Dialog zu den genannten Stellen Rechnung zu tragen. Als einziger Beleg für eine Beschränkung der Etrusker bei der Schau könnte die Stelle bei PLINIUS gelten, in der von einer Veränderung der Praxis in Rom berichtet wird (PLIN. nat. 11,186).165
1.2.5 Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge nach der Revision Es war bei der Betrachtung der forschungsgeschichtlichen Entwicklung gezeigt worden, welchen großen Einfluß bestimmte Ansätze, die den Historismus kennzeichnen, auf die Entstehung der Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau ausüben. Auf vielen Gebieten hat die moderne Forschung diesbezüglich eine Korrektur der Sicht auf die geschichtlichen Ereignisse erreichen können; auch für die Eingeweideschau ist eine solche Korrektur anzustreben. Vor allem sind Bewertungen, die einem Dekadenzmodell dadurch unterliegen, daß sie von nachweislich falschen Voraussetzungen ausgehen, zurückzunehmen. Bezogen auf den Ritus der Eingeweideschau und insgesamt das Verhältnis von etruskischer und römischer Religion ist bei dem Thema ‚Vermischung‘ oder ‚Interferenzen‘ von Religionen grundsätzlich eine Neuorientierung erforderlich. Daß sich eine Differenzierung in zwei Riten von einer Eingeweideschau entweder etruskischer oder römischer Provenienz nicht überzeugend durchführen läßt, hat eine detaillierte Argumentation zu einzelnen Aspekten ergeben. Als wesentliches Hindernis für eine Zuordnung zu einem römischen oder einem etruskischen Ritual haben sich vor allem die Primärquellen erwiesen, denn unter der Fragestellung nach einer Differenzierung von Kultsatzungen liefern sie zum großen Teil nicht differenzierende, sondern summierende oder gegensätzlich erscheinenJEYES, 1989, S. 80f. § 5. RÖMER 1969, S. 177; MEIßNER 1925, S. 273f.; JEYES 1989, S. 79f. § 4. JEYES 1989, S. 80 § 4. Die Annahme einer orientalischen Herkunft der Etrusker birgt weitere Probleme, die hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden müssen. Über die verschiedenen Theorien zur Herkunft der Etrusker und dem Vorschlag, einen Formationsprozeß zu sehen, vgl. PALLOTINO 1988, S. 77–96. 165 GLADIGOW 1995, S. 352.
161 162 163 164
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1 Die Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau
de Informationen. Die Methode zur Bestimmung einer sakralen Terminologie, die sich bei der Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau abzeichnet, ist dahingehend an ihre Grenzen gestoßen, daß eine genauere Bestimmung, welcher Sakralordnung die einzelnen Begriffe zuzurechnen sind, nicht möglich erscheint. Dennoch muß ein Versuch, eine sakrale Terminologie zu bestimmen, zunächst als ein möglicher Ansatz gesehen werden.166 Dieser gründet sich darauf, daß ein hypothetisch sakraler Ausdruck, der in einem beliebigen nichtsakralen Text begegnet, auf einen Text zurückgeführt wird, der sakrales Recht regelt oder erklärt, nämlich auf die libri pontificum, die Protokolle der Fratres Arvales, die disciplina etrusca oder die Erläuterung des TREBATIUS TESTA.167 Diese Texte, wenn man sie denn alle hätte, sind von sakraler Relevanz, der jeweilige Kultvorstand trägt die Begriffe in sakralen Zusammenhängen vor, diese Texte können somit als Referenzort für den jeweiligen Begriff gelten.168 Hier steht eine formgeschichtliche Methode zur Bestimmung eines ‚Sitzes im Leben‘ dahinter.169 Daß aber zum großen Teil die Referenztexte nur fragmentarisch überliefert sind und erst rekonstruiert werden müssen oder sind, läßt einen solchen Ansatz für diesen Fall kaum praktikabel erscheinen. Generell ist wissenschaftliche Literatur zu einer Theoriebildung über ‚sakrale Ausdrücke‘ oder einen ‚sakralen Wortschatz‘ rar.170 Auf dem Gebiet einer sakralen Terminologie ist ein großes Defizit der Forschung festzustellen. Eine Arbeit, die an eine sakrale Begrifflichkeit zur Eingeweideschau anknüpfte, ist bei dem Fehlen einer theoretischen Basis daher nicht unmittelbar möglich.171 Es wäre nötig, die Begriffsfelder zentraler Ausdrücke systematisch zu erarbeiten. Abzuklären wäre dringend die Verwendung von litare und verbunden damit Ausdrücke, die eine Wiederholung des Rituals bezeichnen, so wären hostia succidanea und instaurare zu nennen.172 Außer den verschiedenen Lexikonartikeln, 166 Definitionen von ‚sakraler Sprache‘ sind in der wissenschaftlichen Literatur kaum zu finden. Mit theoretischen Erläuterungen, nach welchen Kriterien die sogenannten Termini technici als Fachsprache bestimmt werden, sieht es nicht anders aus. 167 Für die Bewertung solcher Quellen als offizielle Dokumente vgl. CANCIK-LINDEMAIER 1990, S. 7. 168 Zu Kriterien für eine Bestimmung von „religiösen Ausdrücken“, vgl. KAEMPFERT 1971, bes. S. 19f. 169 Für die spätere Anwendung der formgeschichtlichen Methode in der biblischen Exegese vgl. beispielsweise CONZELMANN / LINDEMANN 1982, S. 74. Als Initiator gilt HERMANN GUNKEL (1862–1932), der von 1907 bis 1920 als Professor für Altes Testament an der Universität Gießen wirkte. FRIEDRICH DIBELIUS und RUDOLF BULTMANN führten diese Methode in der Arbeit am Neuen Testament weiter. 170 Als jüngerer Ansatz im Bereich der Sakralarchitektur ist EGELHAAF-GAISER 2000 zu nennen. 171 Eine große Nähe von einer ‚Opferschlächtersprache‘ zu einer ‚Chirurgensprache‘ beschreibt BILLERBECK 1988, S. 66f., für einige Ausdrücke aufgrund weniger Parallelstellen in beiden Bereichen. Eine systematische Aufarbeitung ist in dem dort gegebenen Rahmen einer sprachlichen und stilistischen Untersuchung zu den Tragödien SENECAs nicht vorgesehen. 172 Daß hier Bedarf an Bearbeitung besteht, zeigt, daß der ThesCRA zum Ausdruck instauratio lediglich wenige Belegstellen bietet (vgl. PRESCENDI 2004, S. 230).
1.2 Revision der Hypothese
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insbesondere von BOUCHÉ-LECLERCQ und WISSOWA zur litatio,173 und einigen älteren und neueren Stellensammlungen174 bietet der Thesaurus Linguae Latinae viel Material, das bisher unberücksichtigt geblieben ist.175 Wenn sich auch die Verwendung des Ausdrucks litare im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit nicht abklären läßt, soll doch exemplarisch eine Wortuntersuchung zum begrifflichen Umfeld von ‚exta consulere‘ erarbeitet werden, um den Ausdruck auf eine von THULIN vermutete Sakralsprachlichkeit176 hin zu prüfen. Diese Untersuchung wird im anschließenden zweiten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt werden. Da gezeigt werden konnte, wie wenig plausibel eine Zuordnung einzelner Elemente zu einem etruskischen oder einem römischen Ritus ist, sind alternative Erklärungen anzubieten. Gemeinsam haben die unterschiedlichen Aspekte, daß antithetische Verhältnisse vorliegen. Diese Antithesen lassen sich jedoch nicht auf römisch und etruskisch polarisieren. Für den Aspekt, wo sich die Eingeweide bei der Schau befinden (adhaerentia / rapta), läßt sich die Antithese als unterschiedliche Phasen der Schau verstehen. Für das Begriffspaar consulere und inspicere exta läßt sich vermutlich eine Antithese gänzlich auflösen, wenn weitere Ausdrücke, die für das Anschauen nachweisbar sind, die Polarisierung auflösen.177 Der Nachweis, daß consulere nicht spezifisch für die Eingeweideschau verwendet wird, was im folgenden unternommen werden soll, führt zu dem gleichen Ziel. Die Antithese von einer Beschau weniger und aller Organe liegt faktisch nicht vor, lediglich wäre die PLINIUS-Stelle, die von einer Veränderung berichtet, auf ihre Intention hin zu überprüfen. Das Verhältnis von einem Ergebnis, das aus einer Entscheidungsfrage, dem litare oder non litare, resultiert, und einem Ergebnis, das auf die Erkundung zukünftiger Ereignisse ausgerichtet sei, läßt sich als das einer einfachen und einer komplizierten Antworttechnik sehen, nämlich das Verhältnis von einem kurzen Ergebnis und einer ausführlichen Befundung.178 Die problematische Behauptung THULINs, die nicht erreichte litatio sei zuweilen als Prodigium aufgefaßt worden und man könne an einer ‚wirklichen Weissagung‘ die Haruspizin erkennen,179 formuliert ‚Prodigium‘ und ‚wirkliche Weissagung‘ antithetisch. Detaillierte Untersuchungen über Weissagungen im Verhältnis zu Prodigien fehlen jedoch. 173 174 175 176 177
BOUCHE-LECLERCQ 1918; WISSOWA 1926. BRISSON 1583, S. 25f.; BLECHER 1905; PRESCENDI / HUET / SIEBERT 2004, S. 229f. MEIJER, L.C. 1979. Art. „litare“, ThLL VII 2, II, Sp. 1510–1513. S.o. S. 43. Etwa quarere, inquirere, exquirere, disquirere, interrogare, rimari, scrutari, videre, conspicere, aspicere, inspectare, interpretare, probare, explorare, notare, impetrire, impetrare, ciere und fissiculare. 178 Eine Antithese in dieser Form beschreibt BOUCHÉ-LECLERCQ 1900, S. 23, indem er die griechische Form eines kallhierein und die römische einer litatio als rudimentäre Formen einer etruskischen entgegensetzt. – RÜPKE 2005; S. 83, schlägt das Begriffspaar ‚sekundäre Kommunikation‘ und ‚primäre Kommunikation‘ vor. Eine ‚primäre Kommunikation‘ finde in einer Gabe oder einem Gebet statt, eine ‚sekundäre Kommunikation‘ bestehe in einem Divinationsverfahren, das das Gelingen der ‚primären Kommunikation‘ überprüfe. 179 THULIN 1905, S. 5, s.o. Anm. 43.
2 ZUR PROBLEMATIK EINER SAKRALEN TERMINOLOGIE FÜR DIE EINGEWEIDESCHAU: DAS BEISPIEL ‚CONSULERE‘ Daß eine theoretische Grundlage zur Bestimmung einer ‚sakralen Terminologie‘ weitgehend fehlt, wurde im vorhergehenden Teil aufgezeigt. Hier soll nun exemplarisch der Ausdruck ‚exta consulere‘, der von THULIN als sakralsprachlich proklamiert wurde, untersucht werden. Um ein Bild über den Gebrauch von ‚exta consulere‘ in der antiken Literatur zu gewinnen, soll für eine Abgrenzung zunächst nach seinem begrifflichen Umfeld gefragt werden. Für eine Überprüfung sind an erster Stelle relevante Texte zusammenzustellen, da bisher der Gebrauch von exta consulere meines Wissens nicht systematisch untersucht worden ist. Aus dem hier zu entwickelnden kleinen Textcorpus müssen sich die weiteren Schritte ergeben.
2.1 DAS BEGRIFFLICHE UMFELD VON ‚EXTA CONSULERE‘ Um einen Quellenbestand zum begrifflichen Umfeld von ‚exta consulere‘ zu erhalten, muß sich die Auswahl einerseits nach grammatischen und andererseits nach inhaltlichen Kriterien richten; auch soll in die Untersuchung zum Verb consulere sein Frequentativum consultare einbezogen werden. Das Material bietet der Thesaurus Linguae Latinae unter den entsprechenden Lemmata.1 Der Textbefund soll zunächst in einer allgemeinen Betrachtung kurz beschrieben werden: Nach einem ersten Überblick läßt sich sagen, daß in den meisten Texten mit den Verben consultare und consulere im Zusammenhang einer Schicksalserkundung entweder nicht genannt ist, wer befragt wird, oder der Befragte eine Person oder Personengruppe, ein Seher oder ein Gott ist.2 Dies wird beispielsweise in der Wendung senatum consulere bei dem Befragen von Institutionen und deren Vertretern und in oraculum consulere im speziellen Zusammen1
2
Zu consulere: ThLL 4, 1906–1909, Sp. 581–584; zu consultare: ThLL 4, Sp. 593, Z. 57–70. – Für eine erstmalige Einschätzung des Textbestandes sind die Angaben der Druckversion ausreichend; eine Einsicht von evtl. weiteren Fundstellen kann nur Ergänzungen bieten, die jedoch den Gesamtbefund nicht wesentlich verändern dürften. Zu consultare: ThLL 4, Sp. 593, Z. 57–70; als frühestes Beispiel LIV. 1,55,6 ita cecinere vates, quique in urbe erant quosque ad eam rem consultandam ex Etruria acciverant. – So verkündeten die Seher, die in der Stadt waren und die man, um diese Angelegenheit zu erfragen, aus Etrurien hatte herbeikommen lassen. – Zu consulere: ThLL 4, Sp. 581–584; als frühestes Beispiel PLAUT. Amph. 1128 ego Tiresiam coniectorem advocabo et consulam. – Ich werde Tiresias als Deuter zu Rate ziehen und ihn befragen; CATO agr. 5,4 haruspicem, augurem, hariolum, Chaldaeum nequem consulisse velit. – Weissager aus Eingeweiden und Vogelflug, Wahrsager und Astrologen soll er keinen befragen wollen. (Übers. SCHÖNBERGER).
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘
51
hang einer Schicksalserkundung deutlich. Da das Befragen von Personen, Gremien und personal-vorgestellten Göttern nicht ungewöhnlich ist, soll auf diese Texte nicht weiter eingegangen werden, sondern es sollen diejenigen Texte herausgehoben werden, in denen religionswissenschaftlich betrachtet das nichtpersonale Medium für die göttliche Nachricht als grammatisch direktes Objekt eingesetzt ist. Ein Blick auf die Konstruktionsmöglichkeiten von consulere im allgemeinen zeigt, daß die Verbindung mit einem Akkusativobjekt der Sache durchaus ungewöhnlich ist: Als normal erscheint eine Konstruktion, die das Mittel der Befragung im instrumentalen Ablativ oder mit der Präposition per mit Akkusativ angibt.3 Als Akkusativobjekt in der Bedeutung ‚über etwas befragen‘ kann ein allgemeiner Ausdruck wie id, hoc, res stehen.4 Auch ein doppelter Akkusativ, der unbestimmten Sache und Person, kommt vor und bedeutet ‚jemanden über etwas befragen‘.5 Weiterhin gibt es im nichtreligiösen wie im religiösen Bezug eine größere Gruppe von Abstrakta des Denkvorganges und der Wahrnehmung, die als direktes Objekt der Befragung im Sinne von ‚seine Kräfte einschätzen‘ oder ‚eine Meinung erbitten‘, also als inneres Objekt, verstanden werden können.6 Stellvertretend für die Sinneswahrnehmung stehen auch die konkreten Sinnesorgane.7 Daß im nichtreligiösen Bereich ein Ding auch außerhalb des eigenen Körpers das befragte Objekt im Akkusativ bildet, ist eher selten und nicht vor OVID zu finden.8 Nach dieser Sondierung des begrifflichen Umfeldes zu consulere, das durch eine religiöse Thematik und syntaktisch durch ein dingliches äußeres Objekt enger zu definieren ist, muß man in einer statistischen Auswertung feststellen, daß die Belege für den gesamten Ausdruck exta consulere mit einer Anzahl von elf recht
3
4
5 6
7
8
So z.B. LIV. 1,20,7 deumque consuluit auguriis, quae suspicienda essent; LIV. 4,42,10 motique ... numinis causam nullam aliam vates canebant publice privatimque nunc extis nunc per aves consulti; SIL. 1,122 fugientem animam properatis consulit extis; TAC. ann. 14,30 hominum fibris consulere deos; AUG. civ. 4,23 ipsi ... dii si per auguria vel quolibet modo eos posse consuli putant, de hac re consulerentur, utrum ... So z.B. CIC. div. 1,3 cumque magna vis videretur esse et inpetriendis consulendisque rebus et monstris interpretandis ac procurandis in haruspicum disciplina; LIV. 1,21,1 ad haec consultanda procurandaque. So z.B. PLAUT. Men. 700 consulam hanc rem amicos; LUCAN. 6,775 quo, quidquid consulit umbram, scire velit; STAT. Theb. 7,6,29 non vos longinqua, sorores, consulimus. So z.B. SEN. dial. 7,8,1 hanc naturam ratio observat, hanc consulit; PLIN. nat. 33,17 exceperat eos dies consultando adsidue sagaci ingenio; QUINT. inst. 10,2,19 consulat suas vires; APUL. met. 6,5 ipsa suas cogitationes consuluit; TERT. ieiun. 6 conscientiam communem consulamus; AUG. civ. 1,22 si rationem diligentius consulas; 2,10 si pietatem consulas religionis. So z.B. VELIUS LONGUS gramm. 7,51 scribe enim per unum Z et consule aurem; QUINT. inst. 9,4,93 aures ... consulens meas; MARTIAL. 9,59,10 consuluit nares, an olerent aera Corinthon. OV. ars 1,251 consule de gemmis, de tincta murice lana, consule de facie corporibusque diem; OV. met. 4,312 quid se deceat, spectatus consulit undas; LUCAN. 5,72 si murmura ponti consulimus; LUCAN. 10,397 pollutos consule fluctus, quid liceat nobis; CLAUD. cons. Honor. 6,7 consulit ardentes radios aquila.
52
2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
selten sind.9 Die hier und im folgenden genannten 32 Belege sollen in tabellarischer Form und chronologischer Reihenfolge anschließend aufgeführt werden (s.u. S. 54–58). Wegen der geringen Anzahl der Belege scheint es angebracht, die Untersuchung auf Formulierungen auszudehnen, die von der grammatischen Konstruktion und im religiösen Bezug ähnlich sind, wie auf das Frequentativum consultare und dazu auf Objekte, die auf eine Eingeweideschau hinweisen, so fibra, anima properatis extis fugiens, iecur.10 Eine nochmalige Erweiterung der jetzt lediglich sechzehn Belegstellen ergibt sich, wenn als Objekte zu consulere/consultare Dinge genannt sind, die mit anderen Formen einer Divination im Zusammenhang stehen.11 Die nun relativ große Anzahl von 16, also der Hälfte solcher Beispiele, zeigt deutlich, daß consulere keinesfalls auf die Eingeweideschau beschränkt ist, sondern ebenso mit anderen Divinationsformen gebraucht wird. Die hypothetische Annahme, daß in exta consulere eine ‚sakrale Terminologie‘ vorliege, wenn das allgemeinere rem consulere genauso häufig vorkommt, ist somit wenig plausibel. Aber nicht nur die Quantität der Nachweise, sondern auch die Textgattungen weisen auf eine geringe Plausibilität einer ‚sakralen Terminologie‘. Denn auffällig ist bei dem Textbestand, daß ein rem consulere zunächst ausschließlich in der Dichtung seit VERGIL nachweisbar ist (s.u. Texte 1–13), erst PLINIUS verwendet in einem Prosatext, seiner im Jahre 100 n. Chr. gehaltenen Lobrede an den Kaiser Traian, mit consultare aves eine Form dieser Wendung. Dieser Befund deutet eher auf eine poetische Ausdrucksweise, die verschiedentlich imitiert wird, als auf eine spezielle sakrale Fachsprache. Der hohe Stil der initial zumeist epischen Dichtung – acht der dreizehn Texte sind episch – wird in dem panegyrischen Prosatext des PLINIUS fortgeführt. Es sollen kurz die verschiedenen Textgruppen, die ein exta consulere und seine Variationen bieten, vorgestellt werden, um eine Auswahl von relevanten Texten, die sich für eine Untersuchung zu einer ‚Sakralsprachlichkeit‘ eignen, treffen zu können: Erstmals findet sich der Ausdruck spirantia consulit exta bei VERGIL in der Dido-Episode (s.u. Text 1). Den ganzen Vergilischen Ausdruck variiert OVID in der Cipus-Episode nur leicht zu trepidantia consulit exta (s.u. Text 3) und behält
VERG. Aen. 4,63f.; OV. met. 15,575f.; MIN. FEL. 7,1; CHAR. Syn. Cic. p. 442,20; Vulg. Ez. 21,21; HIER. Ez. 21,21; Cod. Theod. 16.10.12,1; CLAUD. DON. Aen. 4,64; SERV. Aen. 4,56; 4,64; MACR. Sat. 3,5,1–5. 10 MANIL. 1,92 consultare fibras; SIL. 1,122 ac fugientem animam properatis consulit extis; ZENO 2,17,3 (1,34) spirantes consulunt fibras; CLAUD. Eutrop. 18,12 consulat ignes; DRAC. Rom. 10,227 consultum det fata iecur. 11 VERG. Aen. 7,82f. lucosque consulit; OV. met. 11,412 consulat ut sacras sortes; OV. fast. 1,180 consulit avem; LUCAN. 6,425 tripodas, consulit antra; 6,775 consulit umbram; STAT. Theb. 3,637 consulti mundi; 4,406 opem tenebrasque consulit; STAT. Ach. 1,516 turiferas consulit aras; PLIN. paneg. 76,7 consultare aves; FEST. 20 L [aves] consulentem iuberent; LACT. inst. 2,7,8 consultis avibus; SOLIN. 2,16 [Sibyllae] librum consultabant; SULP. SEV. 1,45,1 idolum consulerent; SCHOL. STAT. Theb. 4,409 tripudas, consulit antra; AEL. SPART. Hadr. 2,8 sortes consuleret; CORIPP. Iust. praef. 32 astrorum consulit ignes. 9
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘
53
sogar die metrische Stellung bei.12 Speziell die Wendung exta consulere erscheint nach OVID – bis auf eine Ausnahme in einem Glossar (s.u. Text 19)13 und in mehreren Metatexten zur Aeneis (s.u. Texte 26–29) – nur noch in Texten christlicher Orientierung: zum einen in dem Dialog Octavius des MINUCIUS FELIX, der mit der Bekehrung des Gesprächspartners des Octavius endet – Vergil dient darin als Autorität bei religiösen Traditionsbeweisen (s.u. Text 16);14 dann weiter in der Bibelübersetzung und -kommentar des Kirchenvaters HIERONYMUS zu Ezechiel (s.u. Text 22)15 und schließlich in einem Verbot aus dem Jahre 392 n. Chr. im Codex Theodosianus. Dort findet sich mit spirantia exta consulere eine mit der Formulierung der Aeneis beinahe identische Ausdrucksweise (s.u. Text 24). Von der Vergilischen Formulierung entferntere Variationen, die zwar thematisch die Eingeweideschau betreffen, aber im Wortgebrauch stärker abweichen, sind verschiedentlich belegt. So bietet MANILIUS im frühen ersten Jahrhundert den Ausdruck consultare fibras in der Einleitung seiner Lehrdichtung, die über eine andere Divinationsform, die Astrologie, handelt (s.u. Text 6). Stärker variiert SILIUS ITALICUS in seinem Epos mit der grammatisch jedoch unauffälligen Konstruktion ac fugientem animam properatis consulit extis (s.u. Text 13). Syntaktisch wieder sehr der Vergilischen Formulierung ähnlich erscheint der Ausdruck spirantes consulunt fibras, der sich in einem Tractat des um 360 n. Chr. wirkenden und vor 380 n. Chr. gestorbenen Bischofs ZENO VON VERONA findet (s.u. Text 23). Wenige Jahrzehnte später, um 400 n. Chr., ist bei dem Epiker CLAUDIANUS eine wie bei SILIUS ITALICUS kunstvolle Umschreibung der Eingeweideschau geboten (s.u. Text 21). Erst nach einem längeren Zeitraum, um etwa 500 n. Chr., findet sich schließlich in der Romulea des Christen DRACONTIUS mit consultum det fata iecur noch einmal eine Formulierung, die die Eingeweideschau betrifft (s.u. Text 31). Mit anderen Divinationsarten als der Eingeweideschau findet sich consulere schon bei VERGIL selbst verbunden, nämlich in einer Orakelbefragung des Latinus (s.u. Text 2). OVID erweitert die Anwendungsmöglichkeiten auf Losorakel und Vogelschau (s.u. Text 4 und 5). Auch LUCAN wendet die Satzkonstruktion bei Orakelbefragungen (s.u. Text 7) und der Befragung eines Leichnams an (s.u. Text 8: consulit umbram). Diesem Lucanischen Ausdruck, bei dem ja in dem Verstorbenen quasi eine Person befragt wird, ist etwa zeitgleich in einer lateinischen Homer-Übersetzung die Wendung numina divum consulit mit eigentlich einer Befra12 OV. met. 15,576. – Als alternative Ausdrucksweisen bei einem Schlachtritual finden sich in der Ovidischen Pythagoras-Erzählung ein fibras inspicere (15,136f. protinus ereptas viventi pectore fibras / inspiciunt mentesque deum scrutantur in illis); bei den Zeichen für Caesar (15,794f.) ist formuliert victima nulla litat magnosque instare tumultus / fibra monet caesumque caput reperitur in extis; und in einer Pestdarstellung (7,600f.) fibra quoque aegra notas veri monitusque deorum / perdiderat. 13 Im Glossar des FLAVIUS SOSIPATER CHARISIUS AFRICANUS – dessen Wirken man in das Konstantinopel des 4. Jhs. datiert (ca. 350–400 n. Chr.) – im 5. Buch seines Werkes De arte grammatica: Synonyma Ciceronis. 14 Zur Datierung VON ALBRECHT 1994, S. 1232, und zum Vergil-Vorbild, S. 1233. 15 Zur Datierung zwischen 391 und 405 n. Chr. vgl. VON ALBRECHT 1994, S. 1306.
54
2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
gung von Göttern nahe (s.u. Text 9). Der Epiker STATIUS bietet verschiedene Varianten des Befragens im allgemeinen und stellt mit dem Weihrauchverbrennen am Altar einen Zusammenhang mit Schlachtriten her (s.u. Text 10–12). Wie schon erwähnt, ist im Panegyrikus von PLINIUS DEM JÜNGEREN die Wendung mit einer Vogelschau verbunden (s.u. Text 14), ebenso in dem Glossar des FESTUS aus dem zweiten Jahrhundert (s.u. Text 15). Darauf finden sich erst wieder mit Beginn des vierten Jahrhunderts weitere ähnliche Formulierungen: bei dem Kirchenvater LACTANTIUS, der von der Vogelschau spricht (s.u. Text 17), bei SOLINUS, dem Verfasser einer römischen Historiographie, der das Konsultieren der sibyllinischen Bücher erwähnt (s.u. Text 18), und weiter in einer um 400 n. Chr. entstandenen jüdischen Geschichte des Christen SULPICIUS SEVERUS, der das Befragen eines Götterbildes nennt (s.u. Text 20). Gegen Ende des vierten oder Anfang des fünften Jahrhunderts befaßt sich der Kommentator LACTANTIUS PLACIDUS mit einer schon genannten Stelle in der Thebais des STATIUS über ein Orakelbefragen (s.u. Text 25). Um Losorakel geht es bei AELIUS SPARTIANUS in der Historia Augusta (s.u. Text 30), deren Datierung unsicher, aber wohl eher später anzusetzen ist.16 Die Formulierung fulmineos consulat ignes des CLAUDIAN, der die Beobachtung der Flammen vor einer Eingeweideschau umschreibt, findet sich mit astrorum consulit ignes variiert und in den Bereich der Astrologie übertragen bei dem römischen Epiker CORIPPUS, dessen Schrift um 566 n. Chr. datiert wird, und der CLAUDIAN nahe stand (s.u. Text 32).
2.1.1 Ermittelte Texte zum begrifflichen Umfeld von ‚exta consulere‘ (consulere/consultare mit Accusativus ‚rei sacrae‘) Nr. Datierung
consulere/consultare (hostia consultatoria)
Gattung
1
29–19 v.Chr. VERGILIUS, Aeneis 4,63–64: ... pecudumque reclusis pectoribus inhians spirantia consulit exta.
Epos
2
29–19 v.Chr. VERGILIUS, Aeneis 7,81–83: At rex sollicitus monstris oracula Fauni faticidi genitoris adit lucosque sub alta consulit Albunea, nemorum quae maxima ...
Epos
3
vor 8 n.Chr.
historischmythol. Kollektivgedicht
OVIDIUS, Metamorphoses 15,575–579: ... Mactatarumque bidentum quid sibi significent, trepidantia consulit exta. quae simul aspexit Tyrrhenae gentis haruspex,
16 VON ALBRECHT 1994, S. 1103, datiert zwischen 405 und 525 n. Chr.
55
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘ 4
vor 8 n.Chr.
OVIDIUS, Metamorphoses 11,411–413: anxia prodigiis turbatus pectora Ceyx, consulat ut sacras, hominum oblectamina, sortes ad Clarium parat ire deum; ...
historischmythol. Kollektivgedicht
5
vor 8 n.Chr.
OVIDIUS, Fasti 1,178–180: ‚omina principiis‘ inquit ‚inesse solent. ad primam vocem timidas advertitis aures, et visam primum consulit augur avem. …‘
Lehrgedicht
6
9–22 n.Chr. (Anfang 1. Jh. n.Chr.)
MANILIUS, Astronomica 1,91–94: ne vulgata canam, linguas didicere volucrum, consultare fibras et rumpere vocibus angues, sollicitare umbras imumque Acheronta movere, in noctemque dies, in lucem vertere noctes.
Lehrgedicht
7
vor 65 n.Chr. LUCANUS, Bellum civile 6,425: non tripodas Deli, non Pythia consulit antra
Epos
8
vor 65 n.Chr. LUCANUS, Bellum civile 6,775: quo, quidquid consulit umbram, scire velit.
Epos
9
vermutlich neronisch
10
80–92 n.Chr. STATIUS, Thebais 3,637–638: ca. 80–90 ... consulti testor penetralia mundi n.Chr. et volucrum adfatus …
Übers. griech. Epos Epos
11
80–92 n.Chr. STATIUS, Thebais 4,406–408: ca. 80–90 longaevi rex vatis opem tenebrasque sagaces n.Chr. Tireisiae, qui mos incerta paventibus, aeger consulit.
Epos
12
95 n.Chr. STATIUS, Achilleis 1,515–522: ca. 95 n.Chr. nunc sagas adfatur aves, nunc dura sororum begonnen licia, turiferas modo consulit anxius aras flammarumque apicem rapit et caligine sacra pascitur.
Epos
13
ca. 100 n.Chr.
Epos
HOMERUS lat. 53: Calchas numina divum consulit.
SILIUS ITALICUS, Punica 1,120–122: ... raptimque recludit spirantes artus poscens responsa sacerdos ac fugientem animam properatis consulit extis.
56
2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
14
gehalten 100 PLINIUS, Panegyricus 76,7: panegyrin.Chr. Una erat in limine mora consultare aves revererique numinum sche Rede monitus.
15
2. Jh. n.Chr.
FESTUS, De verborum significatione, 20 L: admissivae aves dicebantur ab auguribus, quae consulentem iuberent.
16
wohl Anfang 3. Jh. n.Chr. (160–310 n.Chr.)
MINUCIUS FELIX, Octavius 7,1: philosoph.nec tamen temere – ausim enim interim et ipse concedere et sic christlicher Dialog melius errare – maioris nostri aut observandis auguriis aut extis consulendis aut instituendis sacris aut delubris dedicandis operam navaverunt.
17
(284–337 n.Chr.) * Mitte 3. Jh. n.Chr.
christliche LACTANTIUS, Divinae institutiones 2,7,8: ... in primis illut, quod Attus Navius summus augur cum Tar- Apologie quinium Priscum moneret, ut nihil novi facere inciperet, nisi prius esset inauguratus, eique rex artis eius elevans fidem diceret ut consultis avibus renuntiaret sibi, utrumne fieri posset id quod ipse animo concepisset, adfirmaretque Navius posse, ‚cape igitur‘ inquit ‚hanc cotem eamque novacula dissice‘.
18
3./4. Jh. n.Chr.
SOLINUS, Collectanea rerum memorabilium 2,16: eius (sc. Sibyllae) librum ... pontifices nostri consultabant.
Historio-/ Geographie
19
Mitte 4. Jh. n.Chr.
FLAVIUS SOSIPATER CHARISIUS AFRICANUS, Synonyma Ciceronis p. 442,20: Rem divinam facit. numina propitiatur. deos placat. consulit exta.
Glossar
20
ca. 363–420 n.Chr. 404 n.Chr. absoluto
SULPICIUS SEVERUS, Chronik 1,45,1: qui ministri idolum pro salute eius consulerent
christliche Historiographie
21
ca. 400 n.Chr. 394/5–403/4 n.Chr.
CLAUDIANUS, In Eutropium 18,12–13: pandite, pontifices, Cumanae carmina vatis fulmineos sollers Etruria consulat ignes inmersumque nefas fibris exploret haruspex.
Epos (invektiv)
22a 390–406 n.Chr.
Glossar
Biblia Vulgata, Ezechiel 21,21: Bibelstetit enim rex Babylonis in bivio in capite duarum viarum übersetdivinationem quaerens commiscens sagittas interrogavit idola zung exta consuluit.
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘ 22b 390–406 n.Chr.
(Kommentar des HIERONYMUS): Hier. Ez. 21,21: [rex Babylonis], ritu gentis suae, oraculum consulet … Interrogavit igitur idola, exta consuluit
57 BibelKommentar
23
ca. 380/390 n.Chr.
ZENO VERONENSIS, Tractatus 2,17,3 (1,34): christlicher non solito more ad stupida simulacra concurrunt, non aris Tractat foetentibus funestos excitant ignes, non tura cremant, non merum profundunt nec pecudum inexpectata morte rapti iecoris spirantes consulunt fibras nec per varios avium volatus coniecturis inanibus statum plumeae salutis inquirunt.
24
vom 8.11.392 n.Chr. Codex fertiggestellt 435 n.Chr., veröffentlicht 438 n.Chr.
RechtsCodex Theodosianus 16.10.12,1 (De Paganis, Sacrificiis et Templis): sammlung IMP(PERATORES) THEOD(OSIUS) ARCAD(IUS) ET HONOR(IUS) (Erlaß) A(UGUSTI) AD RUFINUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. (...) Quod si quispiam immolare hostiam sacrificaturus audebit aut spirantia exta consulere …
25
Ende 4./ Schol. Stat. Theb. (LACTANTIUS PLACIDUS) 4,409: Metatext zu Anfang 5. Jh. consulit ille deos: immolationem hostiarum totam hanc STATIUS n.Chr. de Lucano (6,425 f.) mutuatus est: ‚non tripudas Phoebi, non Thebais Pythia consulit antra, nec quaesisse libet, primis quid frugibus altrix aere Iovis Dodona sonet‘.
26
wohl Ende 4. Jh. n.Chr.
27
Anfang 5. Jh. SERVIUS, ad Aen. 4,64: n.Chr. consulit exta proprie dixit; aruspices enim exta consulere dicuntur cum inspiciunt. ...
28
Anfang 5. Jh. SERVIUS, ad Aen. 4,56 (principio delubra adeunt Metatext zu n.Chr. pacemque per aras / exquirunt): VERGILIUS ... dicendo per aras, aruspicalem artem ostendit, unde est (64) Aeneis spirantia consulit exta. ... sed de exploranda voluntate divina hic expressit dicendo spirantia consulit exta.
CLAUDIUS DONATUS, ad Aen. 4,60: quaerebat futura in interioribus pecorum. consulit sic posuit, quasi exta possent revera dare responsum: sed videntur respondere, dum consulentium visibus signa commissae consultationis ostendunt.
Metatext zu VERGILIUS Aeneis
Metatext zu VERGILIUS Aeneis
58
2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
29
Anfang 5. Jh. n.Chr. (402/430 17 n.Chr.)
MACROBIUS, Saturnalia 3,5,1–5: Metatext zu ... utrumque hostiarum genus in carmine suo Vergilius ostendit. VERGILIUS (2) Et primo quidem illud quo voluntas numinum per exta Aeneis monstratur: ... mactat lectas de more bidentes, (4,57) et mox: Pecudumque reclusis (4,63f.) Pectoribus inhians spirantia consulit exta. ... (5) In his ipsis hostiis, vel animalibus vel consultatoriis, quaedam sunt quae iniuges vocantur, id est quae numquam domitae aut iugo subditae sunt. ...
30
wohl 5. Jh. n.Chr.
AELIUS SPARTIANUS, Historia Augusta, De Vita Hadriani 2,8: Quo quidem tempore cum sollicitus de imperatoris erga se iudicio Vergilianas sortes consuleret, …
Historiographie
31
Ende 5. Jh. n.Chr.
DRACONTIUS, Romulea 10,225–227 (Medea): sed nutrix mirata moras ‚dic, virgo, quid haeres?‘ increpat ‚ecce feri. fibrae rapiantur et exta, consultum det fata iecur. Medea, moraris? …‘
mytholog. Dichtung
32
ca. 566 n.Chr.
CORIPPUS, Iust. praef. 30–32: ille etiam, ... solis qui se subiactat amicum, noctivagosque colens astrorum consulit ignes,
christl.panegyr. Dichtung
Zusammenfassend ist nach dieser Untersuchung des Gebrauchs von consulere mit Accusativus rei als direktem Objekt im Zusammenhang von Divination zu sagen, daß diese Konstruktion zwar bei VERGIL zuerst aufgefallen, aber dort nicht allein für die Eingeweideschau verwendet ist, wie die Diskussionen um die Stelle in der Dido-Episode den Anschein geben. Nach VERGIL sind bei OVID, außer in einer deutlichen Imitation des Verses Aen. 4,64, auch Variationen zu finden, die sich, wie ja schon bei VERGIL selbst, auf andere Divinationsarten beziehen. Da ihnen weitere Nachahmungen vor allem bei Epikern und in Schriften christlicher Autoren folgen, kann hier einerseits eine epische Tradition vermutet und andererseits eine Vorliebe im christlichen Schrifttum festgestellt werden. Es ist der Schluß zu ziehen, daß das Vergilische exta consulere eine poetische, häufig zitierte und noch häufiger variierte Wendung darstellt, für deren Gebrauch als sakraler Fachausdruck sich keine Anhaltspunkte ergeben.
17 Zur Datierung auf 402 n. Chr. vgl. DÖPP 1978; zur Datierung in die Zeit nach 430 n. Chr. vgl. CAMERON 1966.
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘
59
2.1.2 Das weitere Vorgehen Gegen die oben geäußerte Schlußfolgerung ließe sich zur Unterstützung der Hypothese eines fachsprachlichen Ausdrucks ‚exta consulere‘ vorbringen, daß dieser als sakraler Ausdruck aus der historischen Umwelt stamme, zuerst bei VERGIL in einem poetischen Kontext gebraucht sei (s.o. Text 1) und sich daher Imitationen in den späteren Texten fänden. Doch spricht dagegen, daß sich auch bei VERGIL selbst mit lucos consulere eine Variante dieser Wendung findet, die sich nicht auf die Eingeweideschau bezieht (s.o. Text 2). Diese beiden Texte sollen zum Abschluß der Untersuchung des begrifflichen Umfeldes zu consulere miteinander verglichen werden. In zwei weiteren Unterkapiteln soll eine Gruppe von vier Texten, die Metatexte zu VERGILs Dido-Episode darstellen (s.o. Texte 26–29) zur Einschätzung einer Sakralsprachlichkeit eigens untersucht werden. Bei den Texten von MACROBIUS, SERVIUS und CLAUDIUS DONATUS ergeben sich zwei Schwerpunkte: Zum einen kann eine Untersuchung des – wie bereits problematisiert wurde – hypothetisch als sakralsprachlich beschriebenen Ausdrucks ‚hostia consultatoria‘ stattfinden; da ist vor allem MACROBIUS zu nennen. Zum anderen kann an den Erklärungen von insbesondere CLAUDIUS DONATUS und SERVIUS die Eigenart der Vergilischen Wendung consulit exta beleuchtet werden. In einem vierten Unterkapitel soll der Ausdruck spirantia exta consulere, der in einem der Erlasse im Codex Theodosianus gebraucht wird (s.o. Text 24) und damit deutlich auf die Vergilische Vorlage verweist, im Kontext anderer Erlasse untersucht werden. Auf die Texte von VERGIL, OVID und SILIUS ITALICUS (s.o. Texte 1, 3, 13) wird ausführlich in einem eigenen Kapitel der hier vorliegenden Arbeit einzugehen sein (Kap. 4 Dido; 5 Cipus; 9 Hannibal). Nicht genauer eingegangen werden kann auf weitere der ermittelten Texte, von denen etliche einen kleinen Katalog von Divinationsverfahren bieten18 und die zum Teil auch christlicher Provenienz zuzurechnen sind.19 Zu den christlichen Texten sei eine kurze Einschätzung erlaubt: Begünstigt ist vielleicht die Häufigkeit der Wendung in christlichen Texten durch den in realistischer Betrachtungsweise absurden Ausdruck – nämlich daß ein Ding befragt wird. In dem neuen Zusammenhang ist das Poetische nicht mehr erkennbar, so daß sich mit dem Absurden gut gegen pagane Riten polemisieren läßt.20 Als Beispiel wäre aus dem hier vorliegenden Quellenbestand der Tractat des ZENO VON VERONA (Text 23) zu nennen, in dem dazu aufgefordert wird, die paganen Riten nicht auszuführen. Eine Untersuchung in diese Richtung kann jedoch in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden, es wäre ein noch anderer Textbestand erforderlich.
18 Text Nr. 4, 5, 6, 7, 10, 12, 16, 21, 22, 23, 25, 32. 19 Text Nr. 17, 20, 22, 23, 32. 20 Beispielsweise kontrastiert die Wendung gegen Formulierungen, die HIERONYMUS bietet, der oft consulere und speziell consulere dominum o.ä. gebraucht (Vulg. gen. 25,22; num. 27,21; [deut. 18,11]; iud. 20,18; 20,28; II reg. 21,1 consuluit David oraculum domini; [IV reg. 1,2; 1,16; I par. 10,13 pythonissam]; II par. 18,4 sermonem domini.
60
2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
2.1.3 Zum Vergilischen ‚exta consulere‘ und ‚lucos consulere‘ Zu der Wendung exta consulere in der Dido-Episode, der sowohl in der spätantiken Kommentarliteratur als auch in der wissenschaftlichen Literatur des letzten Jahrhunderts besonderes Interesse galt,21 findet sich relativ unbeachtet mit lucos consulere22 ein paralleler Gebrauch in der Passage von der Orakelbefragung des Latinus: VERG. Aen. 7,81–83: At rex sollicitus monstris oracula Fauni faticidi genitoris adit lucosque sub alta consulit Albunea, nemorum quae maxima ... Aber beunruhigt von den Vorzeichen sucht der König die Orakel des Faunus, des weissagenden Ahnen, auf und befragt die Lichtungen unter der hohen Albunea, der größten der Haine ...
Die fehlende Wahrnehmung als parallele Konstruktion wird auch deutlich bei den spätantiken Kommentatoren SERVIUS und CLAUDIUS DONATUS. Bei dem Interesse des SERVIUS für historische und Sacherklärungen erläutert dieser lediglich, lucos stehe für in lucis, d.h. er nimmt die Wendung sinngemäß als eine Ortsangabe wahr; die grammatische Konstruktion ist für ihn nicht weiter von Interesse. Auch CLAUDIUS DONATUS, dem mehr an kontextbezogenen inhaltlichen Erläuterungen liegt, geht auf die Konstruktion nicht ein, sondern spricht, obwohl es im VERGILText oracula adire und lucos consulere heißt, sogar von adire lucos.23 Zwar ist oracula adire ein gängiger Ausdruck, doch weil offenbar lucos consulere so ungewöhnlich ist, daß seine Verwendung gar nicht wahrgenommen wird, bietet sich an, hier das Stilmittel der Vertauschung zu sehen, was sich bei CLAUDIUS DONATUS schon abzeichnet: Somit hieße es eigentlich lucos adire und oracula consulere. In diesem zweigliedrigen Satz ist die ungewöhnliche Syntax von lucos consulere wegen des eindeutigen Sinnes und zudem der suggestiven Wortfolge adit lucosque offenbar leicht zu überlesen. Dagegen fällt die Schärfe des Ausdrucks consulit exta in der Dido-Episode wegen seiner isolierten Stellung sofort ins Auge: VERG. Aen. 4,63–64: ... pecudumque reclusis pectoribus inhians spirantia consulit exta ... und da die Seiten des Kleinviehs geöffnet, befragt sie voll Spannung die noch atmenden Eingeweide 21 S.o. Kap. 1.2, insbesondere zur 3. These. 22 ThLL 4, Sp. 582, Z. 38f. – Vgl. PARATORE 1981, S. 143 ad 7,82; BALK 1968, bes. S. 34, äußern sich nicht zur Konstruktion von consulere. 23 CLAUD. DON. ad loc. adiit, inquit, rex patrios lucos, hoc est in quibus ille colebatur et dabat responsa postulantibus – es geht, sagt [Vergil], der König in die Wälder seines Vaters, das heißt, in denen jener verehrt wurde und den Bittenden Antworten gab.
2.1 Das begriffliche Umfeld von ‚exta consulere‘
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Die spätantiken Kommentierungen von CLAUDIUS DONATUS oder SERVIUS und MACROBIUS zeigen, daß erheblicher Erklärungsbedarf besteht, so daß bei der Komplexität wie angekündigt auf diese Texte gesondert einzugehen ist (CLAUD. DON. Aen. 4,64; SERV. Aen. 4,56; 4,64; MACR. Sat. 3,5,1–5). Hier bleibt festzustellen, daß für den Ausdruck exta consulere als poetisches Stilmittel die Metonymie beschrieben werden kann, bei der anstelle einer befragten Gottheit das konkrete Beobachtungsobjekt genannt ist. Zudem läßt sich dieser Satz gegenüber dem Beispiel in der Latinus-Passage als verkürzter alleinstehender Teil eines solchen zweigliedrigen Satzes wahrnehmen.
2.2 ZUM SOGENANNTEN BEGRIFF ‚HOSTIA CONSULTATORIA‘ (MACR. SAT. 3,5,5)24 Die Überprüfung zu einer hypothetisch angenommenen ‚sakralen Terminologie‘ wird fortgesetzt mit der Untersuchung des Ausdrucks ‚hostia consultatoria‘, der in der Forschung als feststehender Begriff verwendet wird.25 Weil in der wissenschaftlichen Literatur diese Wendung als Bezeichnung des Juristen TREBATIUS TESTA für diejenigen Tiere gilt, bei denen in einer rituellen Schlachtung eine Eingeweideschau durchgeführt wurde,26 ist die Verwendung des lateinischen Ausdrucks ‚hostia consultatoria‘ in der antiken Literatur zu untersuchen.
2.2.1 Verbreitung und Kontext Die Wendung ‚hostia … consultatoria‘ ist singulär und erst in einer spätantiken Schrift überliefert, die wohl auf das Jahr 402 n. Chr. zu datieren ist,27 nämlich den Saturnalia des MACROBIUS (3,5,5). Auch der eine Teil, das Adjektiv consultatorius, ist nur noch ein weiteres Mal, zudem mit Varianten, in einem spätantiken Text belegt: AUGUSTINUS verwendet die Formulierung consultatoria quadam disputatione in einem seiner späten Briefe (AUG. epist. 169,13)28. Inhaltlich geht es AUGUSTINUS um das Abwägen von theologischen Aussagen. Ein Bezug zur Man-
24 Dieser Teil ist in ähnlicher Form schon einmal veröffentlicht, vgl. NASSE 1999. 25 In Anlehnung an diese Formulierung wird in der wissenschaftlichen Literatur häufig von einem ‚sacrificium consultatorium‘ gesprochen, das im Gegensatz zu ‚hostia consultatoria‘ die Ritualhandlung und nicht das rituell geschlachtete Tier meint, vgl. beispielsweise MÜLLER 1828, S. 181; MÜLLER / DEECKE 1877, S. 183; BLECHER 1905, S. 235; RIST 1920, S. 3 u.ö.; PFIFFIG 1975, S. 115; MEYER 1985, S. 109; RÜPKE 1990, S. 153. Jedoch ist die Bezeichnung ‚sacrificium consultatorium‘ für die Antike nicht belegt und stellt somit eine Neubildung der Wissenschaft dar. Über die Berechtigung einer solchen Neubildung als beispielsweise metasprachlichen Begriff kann in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden. 26 MARQUARDT 1885, S. 182 Anm. 1. 27 DÖPP 1978; DÖPP 1988, S. 21. 28 An Euodius, Bischof von Uzalis, 415 n. Chr.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
tik besteht nicht. Diese Belegsituation läßt vermuten, daß die Wendung ‚hostia consultatoria‘ eher eine spätantike Bildung ist. Für die Untersuchung des Textes aus den Saturnalia des MACROBIUS soll zunächst der gesamte Textausschnitt mit einer Übersetzung wiedergegeben werden: MACR. Sat. 3,5,1–5: (1) Nec minus de sacrificiorum usu quam de deorum scientia diligentiam suam pandit. cum enim Trebatius libro primo de Religionibus doceat HOSTIARUM GENERA ESSE DUO, UNUM IN QUO VOLUNTAS DEI PER EXTA DISQUIRITUR, ALTERUM IN QUO SOLA ANIMA DEO SACRATUR, unde etiam haruspices animales has hostias vocant, utrumque hostiarum genus in carmine suo Vergilius ostendit. (2) Et primo quidem illud quo voluntas numinum per exta monstratur: ... mactat lectas de more bidentes, (VERG. Aen. 4,57) et mox: ... Pecudumque reclusis Pectoribus inhians spirantia consulit exta. (VERG. Aen. 4,63f.) (3) Alterum illud in quo hostia animalis dicitur, quod eius tantum anima sacratur, ostendit, cum facit Entellum victorem Eryci mactare taurum. Nam ut expleret animalis hostiae causas, ipso usus est nomine: Hanc tibi Eryx meliorem animam pro morte Daretis (VERG. Aen. 5,483) et nuncupata vota signaret, ait, persolvo, quod de voto proprie dicitur; utque ostenderet persolutum dis, signavit dicens: Sternitur, exanimisque tremens procumbit humi bos. (VERG. Aen. 5,481) (4) Videndum etiam ne et illam hostiam ostendat animalem: Sanguine placastis ventos et virgine caesa, Cum primum Iliacas Danai venistis ad oras: Sanguine quaerendi reditus, animaque litandum Argolica. (VERG. Aen. 2,116–119) nam et animam, id est hostiae nomen, posuit, et litare, quod significat sacrificio facto placasse numen. (5) In his ipsis hostiis, vel animalibus vel consultatoriis, quaedam sunt quae iniuges vocantur, id est quae numquam domitae aut iugo subditae sunt. ... (1) Nicht weniger offenbart er seine Sorgfalt in den Opfergebräuchen als in der Kenntnis der Gottheiten. Wenn nämlich Trebatius im ersten Buch ‚Über die Religionen‘ lehrt, DAß ES ZWEI ARTEN VON OPFERTIEREN GEBE, EINE, BEI DER DER WILLE EINES GOTTES DURCH DIE EINGEWEIDE ERFRAGT WERDE, EINE ANDERE, BEI DER ALLEIN DIE ANIMA EINEM GOTT GEOPFERT WERDE, weshalb auch die haruspices diese Tiere animales nennen, führt Vergil beide Arten von Opfertieren in seiner Dichtung vor. (2) Und zwar zuerst jene, bei der der Wille der Gottheiten durch die Eingeweide gezeigt wird: ‚... sie schlachtet nach Brauch ausgesuchte jährige Schafe,‘ (VERG. Aen. 4,57) bald darauf: ‚... da die Brustkörbe des Kleinviehs aufgeschnitten, befragt sie mit angehaltenem Atem die atmenden Eingeweide.‘ (VERG. Aen. 4,63f.) (3) Die zweite Art, bei der das Opfertier animalis genannt wird, weil nur dessen anima geopfert wird, führt er vor, indem er den Entellus als Sieger für Eryx einen Stier schlachten läßt. Denn um die Gründe für eine animalis hostia anzugeben, hat er eine entsprechende Bezeichnung gebraucht: ‚Eryx, diese bessere anima anstatt des Todes von Dares‘ (VERG. Aen. 5,483) und um versprochene Gelübde anzugeben, sagte er, ‚erweise ich dir (persolvo)‘, was man insbesondere bei Gelübden sagt; und um das den Göttern geschuldete anzudeuten, bezeichnete er es, indem er sagte: ‚Niedergestreckt wird er, und entseelt (exanimis) liegt zuckend am Boden der Stier.‘ (VERG. Aen. 5,481) (4) Es scheint ja sogar, daß [Vergil] auch folgendes Opfer als animalis bezeichnet:
2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)
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‚Mit Blut habt ihr die Winde besänftigt und durch ein getötetes Mädchen, dann kamt ihr, Danaer, an die Küsten von Ilium: Mit Blut ist zu erbitten die Rückkehr, und ihr müßt litieren durch eine argolische anima.‘ (VERG. Aen. 2,116–119) Er hat nämlich sowohl anima, das ist das Wort für hostia, gesetzt als auch litare, das meint durch die beendete Opferhandlung die Gottheit besänftigt zu haben. (5) Unter eben diesen hostiae, zum einen den animales, zum anderen den consultatoriae, gibt es einige, die iniuges genannt werden, das heißt, die niemals gezähmt oder unter ein Joch gebracht worden sind. ...
Kurz soll das wesentliche paraphrasiert werden: MACROBIUS läßt seinen Sprecher in einer Unterhaltung sagen, daß TREBATIUS im ersten Buch seiner Schrift De religionibus zwei Arten von hostiae unterscheide. Bei der einen Art werde der Wille eines Gottes durch die Eingeweide des Tieres erkundet, bei der anderen werde allein die anima (Seele) einem Gott geheiligt. Daß daher die haruspices diese animales nennen würden (3,5,1), wird hinzugefügt. Als Beispiele für die beiden Arten werden einige Verse aus der Dichtung VERGILs angeführt. Anschließend (3,5,5) erklärt dann der Sprecher, daß es unter den hostiae, ob animales oder consultatoriae, einige gebe, die iniuges (unbejocht) genannt würden. Darauf läßt er weitere Erklärungen zu iniuges folgen. Der skizzierte Ausschnitt gehört zu einem Gesprächsbeitrag des Praetextatus, den er am Saturnalienfest den anderen Gästen der gelehrten Gesellschaft vorbringt (1,1,1–2). Die Rahmenhandlung zu den Unterhaltungen beim Symposion bildet ein Dialog, in dem ein Postumianus einem Decius über den ganzen Gesprächsverlauf berichtet (1,1,7). Postumianus hatte den Fortgang der Gespräche von einem dritten, Eusebius, der an seiner Stelle am Symposion teilgenommen hatte (1,2,7), erfahren (1,2,9–12). Sein Werk hat MACROBIUS seinem Sohn Eustachius gewidmet, um dessen Sach- und Literaturkenntnis zu erweitern.29 Inhaltlich geht es bei der Unterhaltung am Vorabend und den drei Tagen des Festes um Fragen der geistigen Bildung.30 Das Thema führt schließlich zu VER31 GIL, dessen umfassende Kenntnisse auf den verschiedenen Gebieten dann von einzelnen Gesprächsteilnehmern anhand seiner Dichtung erläutert werden sollen. Die Gebiete sind die Rhetorik, das Pontifikalrecht, das Auguralwesen, die griechische Philosophie, Astrologie und Literatur sowie die altlateinische Dichtung. Auch ist vorgesehen, einzelne unklare Ausdrücke von dem anwesenden VergilFachmann – es ist der Kommentator Servius – erklären zu lassen.32 Das Thema des Praetextatus ist das ius pontificium im Werk des Vergil, und sein Bestreben ist es nachzuweisen, daß Vergil das Pontifikalrecht gut kannte.33
29 MACR. Sat. 1, praef. 2: ... in diversis seu Graecae seu Romanae linguae voluminibus elaboratum est, id totum sit tibi scientiae supellex ... . 30 MACR. Sat. 1,2,17: de doctis quaestionibus colloqui. 31 MACR. Sat. 1,24,1–5. 32 MACR. Sat. 1,24,14–20. 33 MACR. Sat. 1,24,16: [sc. Vergilius] doctissime ius pontificium ... in multa et varia operis sui parte servavit. – FUHRMANN 1997, S. 186.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Mitten in den Darlegungen des Praetextatus setzt der lückenhaft überlieferte Text wieder ein. Aus der Ankündigung der Themen im 1. Buch (1,24,14–20) und der Bestimmung ihrer Reihenfolge (1,24,21) läßt sich erschließen, daß die Ausführungen zur Philosophie und zum Auguralwesen, die vor der Behandlung des Pontifikalrechtes vorgesehen waren, verloren sind. Wie der Anfang fehlt auch der Schluß zum Thema über das Pontifikalrecht.34 Für die fiktiven Gesprächsteilnehmer ist nach den Erläuterungen des Praetextatus und seinem Zitat des TREBATIUS klar, daß mit der Wendung ‚hostia consultatoria‘ das Schlachttier gemeint ist, bei dem die Eingeweide beschaut werden. Vom engen Kontext her betrachtet, verwendet MACROBIUS die Formulierung hostia consultatoria eigens, um das zuvor Gesagte bei den Ausführungen des Praetextatus zu einem weiteren Wort (iniuges) ganz kurz zusammenzufassen.
2.2.2 Zur wissenschaftlichen Diskussion um die Ausdrücke ‚hostia consultatoria‘ und ‚hostia animalis‘35 Gegen die Annahme einer spätantiken Bildung von ‚hostia consultatoria‘, die oben geäußert wurde, spricht, daß MACROBIUS einen Fachterminus der römischen Sakralsprache überliefert haben könnte, weil ihm mit dem Werk des TREBATIUS TESTA aus republikanisch-augusteischer Zeit offenbar eine ältere Schrift vorlag, die sakralrechtliche Quellen – und somit sakralrechtliche Ausdrücke – enthält. Jedoch läßt sich wiederum dagegen einwenden, warum der Begriff nicht schon früher in Texten über diesen besonderen Schlachtritus zu finden sei, z.B. bei LIVIUS oder CICERO, der mit TREBATIUS TESTA gut bekannt war. Der Negativbefund könnte auf eine in klassischer Zeit unübliche Ausdrucksweise hindeuten. Obwohl also ein früher Nachweis für ‚hostia consultatoria‘ eigentlich fehlt, geht man in der wissenschaftlichen Diskussion davon aus, daß mit diesem Ausdruck ein antiker Fachterminus vorliege.36 Einen zweiten Ausdruck ‚hostia animalis‘, den man auch bei MACROBIUS gegeben sieht, stellt man gegenüber.37 Man diskutiert die unvereinbaren Positionen, ob diese Gegenüberstellung der beiden Formen von hostiae zur etruskischen Disziplin38 oder zum Pontifikalrecht39 gehört 34 WESSNER 1928, S. 180. 35 Dieser Ausdruck, den die Forschung wie ‚hostia consultatoria‘ in der attributiven Verbindung gebraucht, kann in der hier vorliegenden Arbeit nicht weitergehend problematisiert werden. 36 So beispielsweise BOUCHÉ-LECLERCQ 1892, S. 298; KRAUSE 1894, S. 27; TOUTAIN o.J., Sp. 973; THULIN 1906, S. 11f.; GRENIER 1948, S. 73; LATTE 1960, S. 379; TÖCHTERLE 1994, S. 337. 37 Vgl. THULIN 1906, S. 11: „Im etruskischen System der Extispicin werden zwei Hauptgruppen, hostiae animales und h. consultatoriae, durch folgende Belege bezeugt: ... Auch der Ausdruck consultatoriae hostiae scheint besonders der Haruspicin eigen zu sein“. 38 MÜLLER / DEECKE 1877, S. 181; BOUCHÉ-LECLERCQ 1882, S. 63; BOUCHÉ-LECLERCQ 1900, S. 24; WISSOWA 1902, S. 353 Anm. 4; THULIN 1906, S. 11–13; LATTE 1914, Sp. 1130; LATTE 1960, S. 379. 39 LÜBBERT 1859, S. 103f.; MARQUARDT 1885, S. 185f.
2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)
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oder ob allein die Bezeichnung der ‚hostia animalis‘ in das römische Recht40 einzuordnen ist.41 Diese Fragen sind weiter unten (Kap. 2.3) insbesondere im Zusammenhang mit der Stelle 4,64 bei SERVIUS wieder aufzugreifen. Für ein Orientieren in den Streitfragen können einige Klarstellungen helfen. So lassen sich leicht Diskrepanzen um eine Zuordnung ins etruskische oder römische Sakralrecht mit dem Wissen bewältigen, daß SERVIUS, wie im folgenden ausgeführt werden wird, die hostiae animales an der einen Stelle der Haruspizin (4,56), an anderer Stelle jedoch dem Pontifikalrecht (2,118) zuordnet. Die in den widersprüchlichen Angaben bei SERVIUS liegenden Unklarheiten über die Zuordnung der Bezeichnungen zu einem Pontifikalrecht oder zur Haruspizin begleiten jedoch in der Folge die wissenschaftliche Diskussion um die Eingeweideschau beständig. Weiter trägt zur Unklarheit bei, daß nicht deutlich ist, ob die gesamte Klassifizierung den Haruspices zuzuschreiben ist oder nur die Benennung der ‚animales hostiae‘. Diese Frage hängt meines Erachtens mit einem Zitat des TREBATIUS TESTA zusammen, das bei MACROBIUS und SERVIUS parallel überliefert ist und auf das nochmals einzugehen ist. An dieser Stelle soll wieder der Text in den Blick genommen werden mit der Frage, ob ‚hostia consultatoria‘ überhaupt als antiker Fachbegriff gelten kann. Für die Überprüfung dieser Hypothese ist zu klären, ob MACROBIUS eine ältere Quelle, aus der er den möglicherweise sakralrechtlichen Begriff ‚hostia consultatoria‘ (3,5,5) hätte entnehmen können, vorliegen hatte oder ob er die Wendung selbst bildet. Wenn er aus einer älteren Quelle schöpft, wäre zu prüfen, ob sie die heute verlorene Schrift De religionibus des Juristen TREBATIUS TESTA sein kann, die er selbst angibt (3,5,1), oder ob er den Ausdruck woandersher bezogen hat.
2.2.3 Quellenkritische Untersuchung Die Quellenscheidung zum Text des MACROBIUS führt mit einer Passage in 3,5,1 wegen des fast gleichen Wortlauts bei SERVIUS (Aen. 4,56) auf eine gemeinsame Vorlage für MACR. Sat. 3,5,1–3a. MACR. Sat. 3,5,1: cum enim Trebatius libro primo de Religionibus doceat HOSTIARUM GENERA ESSE DUO, UNUM IN QUO VOLUNTAS DEI PER EXTA DISQUIRITUR, ALTERUM IN QUO SOLA ANIMA DEO SACRATUR,
unde etiam haruspices animales has hostias vocant;
... SERV. Aen. 4,56: (principio delubra adeunt pacemque per aras/exquirunt): exquirunt autem, id est, sacrificando explorant an dii vellent huic rei consentire. dicendo per aras, aruspicalem artem ostendit, unde est (64) spirantia consulit exta. DUO ENIM GENERA HOSTIARUM SUNT: UNUM, IN QUO VOLUNTAS DEI PER EXTA EXQUIRITUR; ALTERUM, IN QUO SOLA ANIMA DEO SACRATUR, unde etiam aruspices animales hostias appellant. sed 40 SCHILLING 1962, S. 1371f. Anm. 1: „la dernière définition [sc. MACR. Sat. 3,5,1: alterum in quo sola anima deo sacratur] s’appliquerait au sacrifice romain.“ 41 Vgl. THULIN 1906, S. 11f.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘ de exploranda voluntate divina hic expressit dicendo spirantia consulit exta. animalis vero hostiae speciem ostendit ubi Entellum facit Eryci taurum mactantem, dicens hanc tibi Eryx meliorem animam pro morte Daretis persolvo. ‚exquirunt‘ aber, das heißt, sie erforschen durch eine Opferung, ob die Götter dieser Sache zustimmen wollen. Durch den Ausdruck ‚per aras‘ zeigte [sc. Vergil] die Kunst der aruspices an, weshalb es (64) heißt‚ sie befragt die atmenden Eingeweide‘. ES GIBT NÄMLICH ZWEI ARTEN VON OPFERTIEREN: EINE, BEI DER DER WILLE EINES GOTTES DURCH DIE EINGEWEIDE ERFORSCHT WIRD; EINE ZWEITE, BEI DER ALLEIN DIE ANIMA EINEM GOTT GEOPFERT WIRD, weshalb auch die aruspices die Opfertiere animales nennen. Nun bezüglich des zu erforschenden göttlichen Willens verdeutlichte [Vergil] hiernach diesen durch den Ausdruck ‚sie befragt die atmenden Eingeweide‘. Dagegen zeigt er die Auffassung von einem Opfertier als ein animalis, wo er den Entellus der Eryx einen Stier schlachtend darstellt, indem er sagt, ‚diese bessere anima erweise ich dir, Eryx, anstatt des Todes von Dares‘.
Der Annahme, daß die Autoren wegen des Gleichlauts unabhängig voneinander das gleiche Werk, nämlich nach MACROBIUS die Schrift De religionibus des TREBATIUS, benutzt hätten, steht entgegen, daß sie beide dieselben Vergilverse (Aen. 4,64; 5,483f.) als Beispiele anführen. Daß der Jurist TREBATIUS Bezug auf diese Verse genommen hätte, ist unwahrscheinlich. Obwohl wegen der spärlichen Bezeugung42 der Stil der TREBATIUS-Schrift unklar ist, kann man wohl sagen, daß TREBATIUS begriffliche Erklärungen gegeben hat.43 Aber Anzeichen dafür, daß er Vergilverse kommentiert habe, gibt es nicht. Daher ist die Übereinstimmung bei den Versen ein Indiz, das sicher auf einen Vergil-Kommentar als Vorlage deutet. Daß nicht der Kommentar des SERVIUS, sondern ein anderer Kommentar dem MACROBIUS vorgelegen hat, zeigt eben die zusätzliche Information über TREBATIUS. MACROBIUS kann die Angabe über TREBATIUS aus einem älteren Kommentar übernommen haben, während SERVIUS sie in seiner Bearbeitung ausgelassen hat. Die Häufigkeit von Übereinstimmungen in der gleichen Art an anderen Stellen44 bestätigt die Vermutung eines Vergil-Kommentars als gemeinsame Quelle. Über diesen älteren Vergil-Kommentar besteht in der Wissenschaft allgemeiner Konsens, daß er das heute verlorene Werk des AELIUS DONATUS ist.45 Den Schluß, daß MACROBIUS das Werk des TREBATIUS nicht selbst eingesehen hat, sondern nur aus
42 Vgl. SONNET 1932, S. 72f.: SERV. georg. 2,383; SERV. Aen. 11,316; GELL. 7,12,5; ARNOB. nat. 7,31; MACR. Sat. 1,16,28; 3,3,2; 3,3,4; 3,3,5; 3,5,1; 3,7,5–8. 43 SONNET 1932, S. 73. 44 WESSNER 1928, S. 186: MACR. Sat. 3,3,2 par. SERV. Aen. 4,638 und 8,85; MACR. Sat. 3,3,4 par. SERV. Aen. 12,779; MACR. Sat. 3,3,5 par. SERV. Aen. 11,158; MACR. Sat. 3,5,1 par. SERV. Aen. 4,56; MACR. Sat. 3,7,3 par. SERV. Aen. 10,419. 45 WESSNER 1923, Sp. 1839: „Macrobius [hat] für seine Saturnalien nicht den Kommentar des Servius, sondern ältere Vergilerklärung benutzt.“ WESSNER 1928, Sp. 186: „Ziemlich leicht ist für 3,2–12 die Quelle festzustellen: die weitgehende, vielfach wörtliche Übereinstimmung mit Servius und besonders mit den Schol. Dan. läßt keinen Zweifel, daß M. denselben Vergilkommentar benutzt hat, auf den auch jene zurückgehen, d.h. wohl den des Aelius Donatus.“ FUHRMANN 1997, S. 184–186.
2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)
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dem Kommentar des AELIUS DONATUS kennt,46 erlaubt die geringe Zahl der Zitate bei MACROBIUS47 mit Parallelen – allerdings ohne die Namensangabe – bei SERVIUS, da in Anbetracht der für MACROBIUS hohen Relevanz des Themas eine größere Anzahl zu erwarten wäre. Allerdings erweckt MACROBIUS an anderer Stelle (MACR. Sat. 3,7,8) durch die Aufforderung des Praetextatus an seine Zuhörer, die angegebene Stelle bei TREBATIUS nachzulesen, den Eindruck, daß das Werk des TREBATIUS den fiktiven Gesprächsteilnehmern gut zugänglich gewesen sei. Aus der Aufforderung des Praetextatus zu schließen, MACROBIUS selbst habe in der TREBATIUS-Schrift nachgelesen, erscheint dennoch problematisch.48 Eher ist diese Bemerkung als ein literarischer Kunstgriff anzusehen, mit dem MACROBIUS Realitätsnähe und Anschaulichkeit bewirkt. Unter der Voraussetzung einer Abhängigkeit von AELIUS DONATUS läßt sich an verschiedenen Differenzen im Text eine Bearbeitung durch MACROBIUS erkennen.49 Zunächst gibt es einen wichtigen Unterschied im Wortlaut des Zitates. Indem SERVIUS exquiritur verwendet, schließt er an die Formulierung VERGILs pacemque per aras exquirunt (VERG. Aen. 4,56f.) an. Sein Versuch, das Wort exquirere in der Dichtung zu erklären, erfordert durch das Stichwort im Zitat, auch die weiterführenden Erläuterungen über zwei Arten von hostiae einzufügen. Dabei entsteht mit der zweimaligen Erwähnung von spirantia consulit exta eine Doppelung, die auf eine unterschiedliche Provenienz hinweisen könnte. Inhaltlich erscheinen die Ausführungen des SERVIUS jedoch beim Vers 4,56 deplaziert, weil sie auf den Vers 4,64 vorgreifen. In den Saturnalia besteht dagegen keine Stichwortverbindung zu Vers 4,56, weil MACROBIUS disquiritur setzt und den Vers nicht einmal erwähnt. Die Erläuterungen zu den hostiae motiviert er auf andere Weise: Mit einem Rückgriff auf das kurz zuvor Besprochene über die Penaten (3,4,6–13) führt er wieder auf das Thema der Schlachtriten (3,1,1–3,4,5) hin.50 Das Zitat des TREBATIUS leitet die Erörterung zu den hostiae ein (3,5,1–11), und MACROBIUS führt dann die Beispiele aus VERGIL vor, die auch SERVIUS erwähnt. Während SERVIUS trotz des inhaltlichen Mangels offenbar seiner Vorlage wegen der Stichwortverbindung folgt, gestaltet MACROBIUS den Text um und glättet die Unebenheit, da er, anders als ein Kommentator, frei von der Reihenfolge der Verse ist. Daß MACROBIUS den vorgefundenen Text umformt und Widersprüche beseitigt, zeigt sich auch in einer zweiten Parallele zu SERVIUS:
46 Für eine Klärung wäre eine Analyse der Quellenlage zu sämtlichen Trebatius-Zitaten erforderlich (s.o. Anm. 42). 47 Insgesamt führt MACROBIUS jedoch die meisten namentlichen Trebatius-Zitate an. 48 Anders TÜRK 1961, S. 159, 189. 49 Anders TÜRK 1961, S. 181f. 50 MACR. Sat. 3,5,1: Nec minus de sacrificiorum usu quam de deorum scientia diligentiam suam pandit – Nicht weniger offenbart er seine Sorgfalt in den Opfergebräuchen als in der Kenntnis der Gottheiten.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
MACR. Sat. 3,5,4: nam et animam, id est hostiae nomen, posuit, et litare, quod significat sacrificio facto placasse numen. SERV. Aen. 2,118: Animaque litandum argolica quia occurebat occidi potuisse captivum. ergo ideo addidit Argolica, ne non esset triste oraculum. videtur sane peritia iuris pontificalis animalis hostiae mentionem fecisse, cum dicit animaque litandum Argolica; nam et animam dixit et litare, verbo pontificali usus, ‚sacrificiis deos placare‘. litandum offerendum. modo verbum. sed hoc in liquidis fit, id est ‚lito‘, ut libo’. a ‚lito‘ autem fit ‚litus‘ eo, quod interluitur. ‚Mit einer argolischen anima ist zu litieren‘, weil dem entgegenwirkte, daß ein Gefangener hatte getötet werden können. deshalb also hat [sc. Vergil] ‚argolisch‘ hinzugefügt, damit es nicht ein schlimmes Orakel (für die Troianer) wäre. Es scheint, daß durchaus mit Kenntnis des Pontifikalrechts an eine hostia animalis erinnert worden ist, indem [Vergil] sagt ‚und mit einer argolischen anima ist zu litieren‘; denn er hat ‚anima‘ gesagt und ‚litare‘, einen pontifikalen Ausdruck für ‚durch Opferhandlungen die Götter besänftigen‘ gebraucht, ‚litandum‘ heißt ‚darbringen müssen‘. Es ist ein Verb. Jedoch kommt es bei Flüssigkeiten vor, es heißt ‚lito (ich litiere)‘, wie ‚libo (ich gebe eine Trankspende)‘. Von ‚lito‘ aber kommt man zu ‚litus‘, weil weggespült wird.
MACROBIUS fügt nach seinen Bemerkungen zu den oben erwähnten Vergilversen (3,5,2–3) ein weiteres Beispiel (VERG. Aen. 2,116–119) hinzu, das sachlich durch das Stichwort ‚hostia animalis‘ im Kommentar des SERVIUS veranlaßt ist. Diesen Ausdruck bringt SERVIUS hier mit dem Pontifikalrecht in Verbindung, während er ihn zu 4,56 als Ausdrucksweise der haruspices bezeichnet.51 In der unmittelbaren Zusammenstellung dieser Informationen würde MACROBIUS sich ganz offensichtlich widersprechen. Daß das Pontifikalrecht und der Brauch der haruspices jedoch als unterschiedliche Ordnungen verstanden werden können, wird an anderer Stelle deutlich, wo MACROBIUS disciplina haruspicum und praeceptum pontificum gesondert nennt.52 Indem MACROBIUS diejenige Information des SERVIUS, die zu der anderen im Widerspruch steht, wegläßt, harmonisiert er seinen Text.53 Der Grund, weshalb er nicht die Version über die Haruspices ausgelassen hat, könnte darin
51 Die Unklarheit über die Zuordnung der Bezeichnungen zum Pontifikalrecht oder zur etruskischen Disciplin (s.o. S. 65) liegt in den widersprüchlichen Angaben bei SERVIUS. SERVIUS bezeichnet einerseits per aras (VERG. Aen. 4,56) / per exta als aruspicalis ars (SERV. Aen. 4,56); ‚animalis hostia‘ als Bezeichnung der aruspices (SERV. Aen. 4,56); andererseits ‚animalis hostia‘ als Begriff des ius pontificale (SERV. Aen. 2,118). Wie diese Widersprüche zu erklären sind, muß in einem eigenen Abschnitt erfolgen (s.u. Kap. 2.3). 52 MACR. Sat. 3,2,3: nam et ex disciplina haruspicum et ex praecepto pontificum verbum hoc sollemne sacrificantibus est. – Dagegen sieht THULIN 1906, S. 12, hierin einen Beleg, daß die Lehren beider bisweilen übereinstimmten. 53 Dagegen meint LATTE 1960, S. 379 Anm. 1, daß die abweichende Angabe vom Schema des Kommentars, nach dem die Kenntnis des Pontifikalrechts bei VERGIL überall nachgewiesen werden muß, veranlaßt sei. Gegen LATTE kann ein Unterschied jedoch nicht mit diesem Argument begründet werden, weil auch MACROBIUS explizit die Kenntnis des Pontifikalrechts bei VERGIL nachweisen will (s.o. Anm. 33).
2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)
69
liegen, daß MACROBIUS diesen Hinweis als zum TREBATIUS-Zitat gehörend und somit als vorrangig betrachtet hat. Zwischen den beiden Passagen, die inhaltlich mit den Parallelen zu SERVIUS zusammenhängen, geht MACROBIUS auf den Aspekt der vota ein. MACR. Sat. 3,5,3b–4: Hanc tibi Eryx meliorem animam pro morte Daretis (VERG. Aen. 5,483) et nuncupata vota signaret, ait, persolvo, quod de voto proprie dicitur; utque ostenderet persolutum dis, signavit dicens: Sternitur, exanimisque tremens procumbit humi bos. (VERG. Aen. 5,481) (4) Videndum etiam ne et illam hostiam ostendat animalem: [VERG. Aen. 2,116–119]
Er knüpft diesen Gedanken an den auch von SERVIUS genannten Vers, der den Schlachtritus nach dem Sieg des Entellus über Dares (5,483f.) zum Inhalt hat, an. Als Anlaß für seine weiteren Ausführungen läßt er das Wort persolvere (5,484) erscheinen. Zu diesem stellt er vota, obwohl davon in der Szenerie bei VERGIL gar keine Rede ist. Die Gedankenführung zeigt hierin einen leichten Bruch. Erst sein Beispiel (VERG. Aen. 5,481) gibt das Stichwort exanimis, das einen lockeren Zusammenhang mit ‚hostia animalis‘ erkennen läßt. Mit dem nächsten Satz ist er wieder beim vorigen Thema und führt das um zwei einleitende Verse erweiterte Beispiel aus VERGIL an, das auch SERVIUS kommentiert (SERV. Aen. 2,118). Da SERVIUS nicht über vota spricht, ist, um die Komposition des gesamten Abschnittes schlüssig zu verdeutlichen, die Quelle für diesen Einschub zu erfragen. Sehr wahrscheinlich orientiert sich MACROBIUS an dem Vergil-Kommentator TIBERIUS CLAUDIUS DONATUS, der die Wendung anima vota persolvere zu dieser Stelle gebraucht. CLAUD. DON. Aen. 5,483: Hanc tibi, Eryx, meliorem animam pro morte Daretis persolvo: meliorem, inquit, animam quasi melior esset bovis anima quam hominis: non ipse est intellectus: placare enim voluit Aeneae mentem et animos Troianorum, quos in pernicie Daretis laeserat, et potius interiret quam Dares meliusque tibi, Eryx, bovis anima vota persolvi quam hominis; haec enim est hoc loco anima melior quae sine piaculi contagione mactata est. ‚eine bessere anima‘ sagte er (Entellus), als wenn die anima (Seele) eines Rindes besser wäre als die eines Menschen: Nicht unmittelbar ergibt sich das (richtige) Verständnis: nämlich besänftigen wollte er (Entellus) den Sinn des Aeneas und die Gemüter der Troianer, die er durch den Untergang des Dares verletzt hatte, und daß vielmehr sie (die anima des Rindes) als Dares untergeht, und wollte besser dir, Eryx, die anima eines Rindes als die eines Menschen als Gelübde einlösen; denn an diesem Platz ist eine anima besser, die ohne die Befleckung einer Sünde geschlachtet wurde.
Auch im Text zu den rituellen Handlungen der Dido geht CLAUDIUS DONATUS auf deren vota ein. Ähnlich wie in der Szene mit Entellus verwendet er den Ausdruck solvebantur vota.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
CLAUD. DON. Aen. 4,65: ... quid enim quae solvebantur numinibus vota amanti prodesse potuerant ... ... was nämlich hätten die Gelübde, die den Gottheiten gegenüber eingelöst wurden, einer Verliebten nützen können ...
Daß gerade zu beiden Stellen, die als Beispiele für die hostiae relevant sind, CLAUDIUS DONATUS von (per)solvere vota spricht, könnte MACROBIUS veranlaßt haben, diesen Aspekt in seine Darstellung einzubringen. Nach den Ausführungen zu den beiden Genera der hostiae geht MACROBIUS in 3,5,5 zur Erläuterung des Begriffs iniuges über. Ebenso, wie er zu Anfang dieses Abschnitts54 mit einer kurzen Wendung die zuvor behandelte Angelegenheit über die Penaten zusammenfaßt (de deorum scientia) und mit einem Oberbegriff das folgende Thema benennt (de usu sacrificiorum), greift er zu Beginn der anschließenden Passage (3,5,5) mit einem Stichwort auf das gerade abgeschlossene zweifache Thema zurück (vel animalibus ... vel consultatoriis) und führt zur nächsten Sache hin (quae iniuges vocantur).55 Das Adjektiv consultatoria schließt an das von VERGIL für das Ratsuchen der Dido gebrauchte Verb consulit an. Zu dem kurzen Ausdruck animalis, womit im Kontext schon ein Adjektiv vorgegeben ist, bildet MACROBIUS mit der adjektivischen Form consultatoria ein Pendant.
2.2.4 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen zur Quellenkritik Aus den bisherigen Ergebnissen zu den einzelnen Passagen bei MACROBIUS läßt sich die Komposition des ganzen Textes folgendermaßen rekonstruieren: Der einleitenden Bemerkung (3,5,1a), die das Thema usus sacrificiorum angibt, folgt ein zu SERVIUS (SERV. Aen. 4,56) paralleler Abschnitt (3,5,1b–3a), der ein Zitat des TREBATIUS TESTA über hostiae enthält und die zwei im Zitat erwähnten Arten von hostiae an Beispielen aus der Aeneis vorführt. An den Vergilvers (Aen. 5,483f.), der auch bei SERVIUS als letztes Beispiel genannt wird, ist – inhaltlich nicht ganz bruchlos – eine Bemerkung über vota geknüpft (3,5,3b), die vom VergilKommentar des CLAUDIUS DONATUS (CLAUD. DON. Aen. 5,483; 4,65) motiviert ist. In der Wiederaufnahme des Themas der hostiae (3,5,4) findet sich eine zweite Parallele zu SERVIUS (SERV. Aen. 2,118). Eine zusammenfassende Formulierung über die beiden behandelten Arten von hostiae (3,5,5) leitet zu einem anderen Begriff der hostiae über.56
54 MACR. Sat. 3,5,1: Nec minus de sacrificiorum usu quam de deorum scientia diligentiam suam pandit – Nicht weniger offenbart er seine Sorgfalt in den Opfergebräuchen als in der Kenntnis der Gottheiten. 55 Dies bestätigt WESSNER 1928, S. 182, mit seiner Bemerkung „die Überleitung von einem Thema zum andern, die fast regelmäßig durch ein entsprechendes Stichwort angekündigt wird“. 56 Dagegen ordnet WISSOWA 1887, S. 36 Anm. 1 (= 1904, S. 103 Anm. 1) MACR. Sat. 3,5,1–7 einer lexikalischen Abhandlung über die verba pontificalia zu.
2.2 Zum sogenannten Begriff ‚hostia consultatoria‘ (Macr. Sat. 3,5,5)
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Für die Frage der Herkunft des Ausdrucks ‚hostia consultatoria‘ liefert die Analyse des Abschnittes bei MACROBIUS zwei plausible Gründe, den Begriff nicht früh, in klassisch-römische Zeit, zu datieren, sondern seine Bildung erst in der Spätantike anzusetzen: Als erstes ergibt die Quellenscheidung zum Zitat des TREBATIUS TESTA, daß MACROBIUS dessen Schrift De religionibus nicht vorliegen hatte, sondern wohl aus dem heute verlorenen Vergil-Kommentar des AELIUS DONATUS, der ins vierte Jahrhundert n. Chr. datiert wird, schöpft. MACROBIUS kennt somit das Werk des TREBATIUS nicht durch eigene Lektüre und kann keine sakralrechtlichen Begriffe direkt von TREBATIUS übernommen haben. Als zweites zeigt eine einheitliche Struktur von Kapitelüberleitungen, daß MACROBIUS diese selbst formuliert, indem er kurz auf das vorher behandelte Thema zurückgreift und mit einem Stichwort das neue Thema angibt. Bei der Formulierung der Überleitung im Abschnitt 3,5,5 stellt er zum Substantiv hostia als Pendant zum Adjektiv animalis das Adjektiv consultatoria. Zu den Unklarheiten in der wissenschaftlichen Diskussion über die Klassifizierung von hostiae ist zu sagen, daß sie offenbar wesentlich durch Probleme mit dem Zitat des TREBATIUS TESTA bedingt sind. Denn genau genommen werden allein die ‚hostiae animales‘ in einer fast wörtlichen Parallele bei MACROBIUS (3,5,1 unde etiam haruspices animales has hostias vocant) und SERVIUS (4,56 unde etiam aruspices animales hostias appellant) als von den Haruspices bezeichnet beschrieben. Der Grund für die Annahme, die ganze Klassifizierung sei von den Haruspices ausgegangen, liegt wohl in dem unklaren Ende des Zitates: Liest man nämlich diesen Satz über die ‚animales hostiae‘ als zum Zitat gehörend mit, kann TREBATIUS TESTA, der zuvor die zwei Arten von hostiae erläutert hat, als wichtiger Zeuge für die Klassifizierung beider Gattungen durch die Haruspices gelten. Allerdings kann die Information über die Haruspices auch allein auf die ‚animales hostiae‘ bezogen werden. Eben hierin unterscheiden sich SERVIUS und MACROBIUS in ihren Auffassungen, wie weiter unten auszuführen ist (s.u. S. 76). Betrachtet man dagegen das Zitat als vor dem betreffenden Satz für beendet, der in beiden Überlieferungen mit unde etiam eingeleitet ist, gehört dieser Satz in die Kommentarliteratur. Folglich könnte TREBATIUS TESTA nur das Vorhandensein von zwei Klassen bezeugen, aber nicht, daß die Haruspices in irgendeiner Weise an dieser Klassifizierung beteiligt wären, und auch die Benennung der ‚animales hostiae‘ durch die Haruspices könnte er nicht bezeugen. Um hier Klarheit zu gewinnen, wäre die Rekonstruktion der Fragmente, die von TREBATIUS TESTA überliefert sind, zu überprüfen.
2.3 ZUM VERMEINTLICH SAKRALEN FACHBEGRIFF ‚EXTA CONSULERE‘ BEI SERVIUS (AEN. 4,64) Nachdem geklärt wurde, daß die Wendung ‚hostia consultatoria‘ (MACR. Sat. 3,5,5) weder einen sakralrechtlichen Gattungsbegriff klassisch-römischer Zeit noch einen lateinischsprachigen Fachbegriff für eine etruskische Eingeweideschau darstellt, soll in diesem Abschnitt die Wendung exta consulere, auf die SERVIUS
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
eingeht, genauer untersucht werden. Denn bei der Vermutung, ‚hostia consultatoria‘ bilde einen sakralrechtlichen Fachterminus, stützt sich die Forschung auf eine Erklärung des SERVIUS, der die Wendung exta consulere dem Ausdruck exta inspicere gegenüber zu stellen scheint (SERV. Aen. 4,64). Es ist nun zu untersuchen, wie die Gegenüberstellung in der Erklärung des SERVIUS gemeint sein könnte. Einer knappen Vorstellung der VERGIL-Stelle, die in anderem Zusammenhang schon behandelt wurde,57 sollen die SERVIUS-Stelle und die Forschungsmeinung zu ihrer Erläuterung angeschlossen werden, um das Problematische an dieser Interpretation hervorzuheben. VERG. Aen. 4,63–64: ... pecudumque reclusis pectoribus inhians spirantia consulit exta ... und da die Seiten des Kleinviehs geöffnet, befragt sie voll Spannung die noch atmenden Eingeweide
Die Königin Dido sucht den göttlichen Willen zu ergründen und damit Zustimmung für ihr Vorhaben zu erlangen, ein Liebesbeziehung mit Aeneas einzugehen. Mit dem neuen Verhältnis würde sie jedoch das Treueversprechen ihrem verstorbenem Ehegatten gegenüber brechen. Neben anderen Handlungen in dem Ritualkomplex erfolgt die Erkundung durch eine Eingeweideschau. Diese Verse bei VERGIL kommentiert SERVIUS, der sich auf den verlorenen Kommentar des AELIUS DONATUS zurückführen läßt. SERV. AUCT. Aen. 4,64: CONSULIT EXTA proprie dixit; aruspices enim exta consulere dicuntur cum inspiciunt. ... [Vergil] sagt ausdrücklich consulit exta, denn man sagt von den Aruspices, daß sie die Eingeweide befragen, indem sie sie anschauen.
Die Erklärung des SERVIUS, der für die Tätigkeit des Einsehens zwei verschiedenen Verben nennt, hat in der Forschung zu der Vermutung geführt, daß es im lateinischen auch zwei unterschiedliche Fachausdrücke für zwei Riten der Eingeweideschau von unterschiedlicher Provenienz gebe: Wenn bei den etruskischen Haruspices consulere gesagt werde, sei dagegen im römischen Kult inspicere zu sagen.58 Eine Zweiteilung der Eingeweideschau versucht man mit einem Beleg
57 S.o. S. 60, Kap. 2.1.3. 58 Vgl. THULIN 1906, S. 11f.: „Im etruskischen System der Extispicin werden zwei Hauptgruppen, hostiae animales und h. consultatoriae, durch folgende Belege bezeugt: [...] Auch der Ausdruck consultatoriae hostiae scheint besonders der Haruspicin eigen zu sein (Serv. Aen. IV 64 consulit exta] proprie dixit: aruspices enim exta consulere dicuntur cum inspiciunt) Der römische Terminus ist inspicere exta, i. e. zusehen, ob alles in Ordnung und ob der Gott geneigt ist. Die Etrusker dagegen befragen die Eingeweide, wie man Orakel befragt, um Weissagungen für die Zukunft hervorzuholen.“
2.3 Zum vermeintlich sakralen Fachbegriff ‚exta consulere‘ bei Servius (Aen. 4,64)
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aus CICEROs De divinatione zu untermauern, indem das ‚Wir‘ des Römers Cicero der Auskunft eines etruskischen Haruspex gegenübergestellt wird:59 CIC. div. 2,32: quando ea n o s extis exquirimus? aut quando aliquid eiusmodi a b h a r u s p i c e inspectis ex60 tis audivimus? Wann erfragen wi r diese Dinge durch die Eingeweide? Oder wann haben wir irgend etwas dieser Art von einem h a r uspex nach dem Einblick in die Eingeweide gehört?
THULIN deutet die skeptischen Fragen Ciceros (CIC. div. 2,32) über die Wirksamkeit einer Eingeweideschau als Hinweis auf eine Dichotomie und unterliegt in dieser referentiellen Wahrnehmung des Textes einem Mißverständnis. Denn vielmehr ist die Ausdrucksweise als rhetorische Figur einer detaillierenden Häufung61 zu sehen. Das Resultat aus den Interpretationen und dieser Quellenkombination bei THULIN führt zu der eingangs vorgestellten Hypothese. Es ist jedoch fraglich, ob aus der knappen Bemerkung des SERVIUS, der consulere mit inspicere erklärt, auf eine etruskisch-römische Dichotomie geschlossen werden kann. Zudem erscheint der Beleg aus De divinatione, der diese Vermutung stützen soll, problematisch, da nicht explizit von römischen gegenüber etruskischen Kultverhältnissen die Rede ist und die Tätigkeit des Haruspex, ganz entgegen der Hypothese von einer etruskischen Form des Rituals, hier mit inspicere exta bezeichnet ist.62 Weil die Stelle bei SERVIUS im wesentlichen einen Aspekt für die Hypothese einer Dichotomie liefert, soll nun eine neue Interpretation von SERV. Aen. 4,64 vorgelegt werden.
2.3.1 Neuinterpretation von SERV. Aen. 4,64 Das Problematische an der eingangs dargelegten Interpretation ist die Aussage, daß wegen der Nennung von zwei Verben, consulere und inspicere, notwendig zwei eigenständige Riten vorliegen müßten, zumal mit keinem weiteren Wort speziell römische Verhältnisse angesprochen sind. Von etruskischen Verhältnissen spricht SERVIUS erst, indem er bei seiner Erklärung des Vergiltextes die Haruspi-
59 THULIN 1906, S. 5: „Dass wir jedoch eine eigene römische Opferschau neben der etruskischen Haruspicin annehmen müssen, sagt Cicero div. II 32 [s.o.] Mit diesen Worten charakterisiert Cicero auch den Hauptunterschied zwischen der römischen und der etruskischen Eingeweideschau: ...“; sinngemäß wiederholt THULIN 1912, Sp. 2449. 60 Sperrung im Original: THULIN 1906, S. 5. 61 LAUSBERG 1963, S. 119 § 369. 62 Widersprüche dieser Art, die es auch bei anderen Aspekten des Ritus gibt, sind, wie eingangs dargestellt, fälschlich als Hinweis auf eine Vermischung einer etruskischen mit einer römischen Eingeweideschau verstanden worden, so beispielsweise SCHILLING 1962, S. 1374: „Nous verrons que tout se passe comme si une lente osmose avait mêlé progressivement les deux techniques, romaine et étrusque.“
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
ces einführt – VERGIL erwähnt diese eben nicht.63 Es ist zu vermuten, daß SERVIUS gar nicht von zwei Riten spricht, sondern nur von einem, dem etruskischen. Wie ist nun die Erläuterung der Vergilischen Formulierung durch SERVIUS zu verstehen? Anstatt sie mit einer ebenfalls nicht unproblematischen Interpretation der Stelle bei CICERO (De Divinatione 2,32) zu verknüpfen, bietet sich an, den inhaltlich näherliegenden Vergil-Kommentar des CLAUDIUS DONATUS heranzuziehen. CLAUD. DON. Aen. 4,63f.: quaerebat futura in interioribus pecorum. consulit sic posuit, quasi exta possent revera dare responsum: sed videntur respondere, dum consulentium visibus signa commissae consultationis ostendunt. [Sie] fragte nach der Zukunft in den Innereren der Tiere. Consulit hat [Vergil] so gesetzt, als wenn die Eingeweide wahrhaftig Antwort geben könnten: aber sie scheinen nur zu antworten, indem sie den Blicken der Fragenden die Zeichen für den erbetenen Rat darbieten.
Unmißverständlich erklärt CLAUDIUS DONATUS das Paradox einer Befragung von sprechunfähigen Dingen, das VERGIL schildert. Er erläutert, wie man sich den seltsamen Umstand vorstellen soll, daß ein Ding, das nicht reden kann, um Antwort gebeten wird: Es muß angeschaut und ausgedeutet werden.64 Ohne daß an eine Textabhängigkeit zu denken ist, kann den Text des SERVIUS, der auf AELIUS DONATUS (Mitte 4. Jh. n. Chr.) zurückgeht, die Darstellung des späteren CLAUDIUS DONATUS (Ende 4. Jh. n. Chr.) interpretieren. Daß die knappe Bemerkung des SERVIUS auch in älterer Zeit nicht leicht verstanden wurde, zeigen Textvarianten und weitere Erläuterungen in den Scholien.65 Für das offenbar erklärungsbedürftige consulere verwendet SERVIUS mit inspicere ein anschauliches Synonym und formuliert dieselbe Aussage wie CLAUDIUS DONATUS lediglich kürzer, wenn er schreibt, daß die Haruspices die Eingeweide um Antwort fragen (consulere), indem sie sie ansehen (inspicere). Der Befund eines großen Erklärungsbedarfs zeigt, daß die Wortwahl VERGILs kontextbedingt sein muß und keine übliche Ausdrucksweise gewesen ist. Konnte in einem vorhergehenden Abschnitt bei der Wendung ‚consulit exta‘ zusammen mit ‚lucos ... consulit‘ das Stilmittel einer Metonymie beschrieben werden, läßt sich jetzt bei dem verbreiteten Unverständnis für die Formulierung ‚consulit exta‘ das Stilmittel der Verfremdung hinzufügen. Daß SERVIUS diese Stelle zusätzlich mit den Haruspices in Verbindung bringt, erschwert es, die Intention seiner Kommentierung zu erfassen. Anstelle der Personalfrage hebt dagegen CLAUDIUS DONATUS, der wie VERGIL Haruspices nicht erwähnt, den Vorgang der Kommunikation heraus. Dem consulit (Rat suchen), das 63 Wovon aber VERGIL spricht, bleibt von dieser Überlegung unberührt. 64 Dieses Verständnis unterstützt MART. CAP. 1,9 denuntiata pecudum caede fissiculatis extorum prosiciis viscera loquebantur; MART. CAP. 2,151 haec haruspicio exta fissiculant admonentia quaedam vocesque transmittunt auguratisque loquuntur ominibus. 65 THILO 1881, S. 475 ad Z. 21: CONSULIT proprie dixit; quia aruspices tunc dicuntur consulere quando inspiciunt exta ... . – Ausdrücklich sagt [Vergil] consulit, weil man dann von den haruspices sagt, daß sie befragen, wenn sie die Eingeweide anschauen ... .
2.3 Zum vermeintlich sakralen Fachbegriff ‚exta consulere‘ bei Servius (Aen. 4,64)
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VERGIL verwendet, setzt er ein responsum dare und respondere (einen Bescheid geben) entgegen. Auf speziell etruskische gegenüber römischen Kultverhältnissen nimmt CLAUDIUS DONATUS in keiner Weise Bezug. Jedoch verweist der Ausdruck responsum auch auf die historische Wirklichkeit, denn responsa wurden diejenigen Gutachten genannt, die von verschiedenen Sakralkollegien erbeten wurden, wenn die pax deorum gestört schien. Es gab drei Kollegien, die mit einer Prodigiendeutung betraut wurden: die Pontifices, die Decemviri sacris faciundis und die Haruspices.66 Die Haruspices konnten mit einer solchen Befragung aufgrund der realen Umwelt in Verbindung gebracht werden. Da aber weder CLAUDIUS DONATUS noch VERGIL nicht explizit einen Bezug herstellen, ist wegen der inhaltlich größeren Nähe für die Interpretation der Verse die Erklärung des CLAUDIUS DONATUS derjenigen des SERVIUS vorzuziehen. Erst durch die inhaltliche Erläuterung von CLAUDIUS DONATUS wird SERVIUS bezüglich der Erläuterung zum Vergilischen exta consulere verständlich. Es bleibt nun zu fragen, wie SERVIUS dazu kommt, mit der Erklärung von exta consulere zu Vers 4,64 die Haruspices, die weder von VERGIL noch von CLAUDIUS DONATUS genannt werden, in Verbindung zu bringen. Dies kann eine andere Stelle, die schon weiter oben für die Untersuchung zu dem Passus des MACROBIUS wichtig war, verdeutlichen, weil SERVIUS hier die beiden Aspekte Haruspices und Befragung ausführlicher erläutert: SERV. Aen. 4,56 (principio delubra adeunt pacemque per aras / exquirunt): ... exquirunt autem, id est, sacrificando explorant an dii vellent huic rei consentire. dicendo per aras, aruspicalem artem ostendit, unde est (64) spirantia consulit exta. DUO ENIM GENERA HOSTIARUM SUNT: UNUM, IN QUO VOLUNTAS DEI PER EXTA EXQUIRITUR; ALTERUM, IN QUO SOLA ANIMA DEO SACRATUR, unde etiam aruspices animales hostias appellant. sed de exploranda voluntate divina hic expressit dicendo spirantia consulit exta. animalis vero hostiae speciem ostendit ubi Entellum facit Eryci taurum mactantem, dicens hanc tibi Eryx meliorem animam pro morte Daretis persolvo. ‚Sie erfragen‘ aber heißt, sie [sc. Dido und ihre Schwester Anna] erkunden durch rituelles Schlachten, ob die Götter diesem Vorhaben zustimmen wollen. Im Ausdruck per aras [‚durch Altäre‘] bezeichnet [Vergil] die aruspicalis ars [‚Kunst der Haruspices‘], daher heißt es ‚sie befragt die zuckenden Eingeweide‘. ES GIBT NÄMLICH ZWEI ARTEN VON OPFERTIEREN: EINE, BEI DER DER WILLE EINES GOTTES DURCH DIE EINGEWEIDE ERFRAGT WIRD; EINE ANDERE, BEI DER ALLEIN DIE ANIMA DEM GOTT GEWEIHT WIRD, weshalb ja die aruspices diese Opfertiere animales nennen. Aber was die Erkundung des göttlichen Willens betrifft, drückt [Vergil] hierbei in der Formulierung ‚sie befragt die zuckenden Eingeweide‘ aus. Das Beispiel einer animalis hostia aber zeigt er, indem er den Entellus für Eryx einen Stier schlachten läßt, und formuliert, anstelle des Todes von Dares löse ich für dich, Eryx, diese bessere anima.
Im Kommentar zu Vers 4,56 erklärt SERVIUS das Vergilische per aras exquirere mit sacrificando explorare und beschreibt dann einen Bezug zwischen den gleichanlautenden Wörtern ara und aruspicalis ars, der ihm von VERGIL offenbar beab-
66 ROSENBERGER 1998, S. 50–56.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
sichtigt scheint.67 Von hieraus greift SERVIUS auf den Vers 4,64 vor und erklärt die Handlung spirantia exta consulit als zu demselben Ritus gehörend, den er mit dem Wortgebrauch von per aras als Tätigkeit von aruspices erkannt hat. Diese Erläuterung ist bei der nur wenig später folgenden Stelle 4,64 vorauszusetzen, um zu verstehen, warum SERVIUS dort so selbstverständlich von aruspices, ebenfalls mit anlautendem ‚a‘, sprechen kann. Die etymologisch kühne Verbindung,68 die SERVIUS zwischen ara und aruspicalis ars herstellt, ist verknüpft mit einem Zitat, das nach MACROBIUS (Sat. 3,5,1) als Zitat aus der Schrift De religionibus des republikanisch-augusteischen Juristen TREBATIUS TESTA wahrgenommen wird.69 TREBATIUS beschreibt zwei Gattungen von Opfertieren und läßt bei der einen in der Formulierung voluntas dei per exta exquiritur den Ritus der Eingeweideschau erkennen, die den sachlichen Bezug auf die Verse bildet. Die andere Gattung, die TREBATIUS anführt, steht mit den an dieser Stelle von SERVIUS kommentierten Vergilversen nicht in sachlichem Zusammenhang.70 Die an diese zweite Gattung von Opfertieren anschließende etymologische Erklärung unde etiam aruspices animales hostias appellant (SERV. Aen. 4,56)71 ist offenbar von MACROBIUS, der wie SERVIUS aus dem Kommentar des AELIUS DONATUS schöpfte, als zum Zitat des TREBATIUS gehörend mitgelesen worden.72 So läßt sich schließen, daß dieser die Information, die Haruspices nennten diese Gattung animalis, als gut bezeugt übernommen hat, während er die anderslautende Angabe, die bei SERVIUS zu Vers 2,118 zu finden ist, animalis hostia sei ein Begriff des Pontifikalrechts,73 wegläßt. Mit diesem Abwägen der Alternativen bezieht MACROBIUS klar die Information über die Benennung durch die Haruspices allein auf ‚hostia animalis‘ und versteht sie keinesfalls als Angabe über die Urheber der Klassifizierung. Eine andere Intention läßt sich bei SERVIUS feststellen. Ihn interessiert offenbar, Informationen zu historischem Kultpersonal zu übermitteln: Hatte er schon zu 67 Eine ähnliche Junktur bieten verschiedene Glossen: Abba 27, 30. aruspex: qui ad aram sacrificat vel signa corporis intendit; Ansil. 67, 618.aruspex: arae inspector; 274, 105. – Eine andere etymologische Erklärung stellt dagegen haruspex mit dem gleichanlautenden hostia zusammen: AELIUS DONATUS zu TER. Phorm. 4,4,28 Haruspex ab haruga nominatur. nam haruga dicitur hostia ab hara in qua includitur et servatur. – Haruspex ist nach haruga benannt, denn haruga nennt man die hostia (das Opfertier) von hara (kleiner Stall), in dem es eingeschlossen und verwahrt wird. 68 Nach THULIN 1912, Sp. 2431–2432, ist haruspex mit gr. χορδή (chordē), aisl. gorn, lat. hira (Darm) in Verbindung zu bringen, doch gelten Herleitungen aus dem Chaldäischen und Etruskischen als unhaltbar. Daß haruspex mit ara zusammenhinge, ist dort nicht genannt. 69 Das Zitat ist, wie oben gezeigt (s.o. S. 71), durch eine Quellenkritik zu SERV. Aen. 4,56 und MACR. Sat. 3,5,1 zu isolieren. 70 Es geht dort (VERG. Aen. 5,483f.) um eine rituelle Schlachtung eines Rindes, die Entellus nach seinem Sieg über Dares, den er im Zweikampf nicht zu Tode kommen lassen hat, für die lokale Gottheit Eryx vollzieht. S.o. Kap. 2.2. zu ‚hostia consultatoria‘. 71 Vgl. MACR. Sat. 3,5,1 unde etiam haruspices animales has hostias vocant. 72 Wie oben ausgeführt wurde (s.o. S. 68). 73 S.o. S. 68.
2.3 Zum vermeintlich sakralen Fachbegriff ‚exta consulere‘ bei Servius (Aen. 4,64)
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Vers 2,118 vom Pontifikalrecht gesprochen und würde noch zu Vers 4,64 die Haruspices in die Diskussion bringen, zeigt sich in der Stelle zu 4,56 eine Neigung, fehlende Angaben zum Kultpersonal zu vervollständigen. Mit beiden Klassen, die TREBATIUS TESTA anführt, verbindet SERVIUS die Haruspices, zum einen durch die Verbindung von ara und aruspicalis ars74 und zum anderen durch aruspices und animales hostiae. Somit erscheinen bei SERVIUS die Haruspices als Urheber der Klassifizierung. SERVIUS hat offenbar seine Vorlage in der Konsequenz, daß die Haruspices als Kultpersonal in beiden Riten fungieren, ausgelegt, da er die zuerst genannte Gattung von Opfertieren, diejenige für die Eingeweideschau, mit einer kultischen Tätigkeit von Haruspices, die doch erst zu der zweiten Gattung und da nur als Namensgeber erwähnt scheinen, identifizieren kann. Die Kommentierung des SERVIUS zu den Versen 4,56 und 4,64 ist von der Frage nach dem Kultpersonal geprägt. SERVIUS historisiert mit antiquarischem Interesse VERGILs literarische Szenerie, die die kultischen Aktivitäten der karthagischen Königin Dido und ihrer Schwester Anna bei der Erforschung des göttlichen Willens wiedergibt. Mithilfe der Informationen, die SERVIUS von TREBATIUS TESTA, einem Fachmann im Sakralrecht und dazu Zeitgenosse VERGILs, zu erhalten glaubt, rekonstruiert SERVIUS aufgrund etymologischer Erklärungen als Kultpersonal für einen realen Ritus, der bei VERGILs poetischer Umsetzung im Hintergrund stehen mag, die Haruspices. Als Ergebnis zu einem fraglichen sakralen Fachbegriff ‚exta consulere‘ zeigte zuletzt die neue Interpretation von SERV. Aen. 4,64 durch SERV. Aen. 4,56 und CLAUD. DON. Aen. 4,64, daß SERVIUS nicht mit zwei unterschiedlichen Verben eine Existenz von zwei Riten der Eingeweideschau andeutet, sondern mit einer Einführung von Haruspices in seine Kommentierung lediglich den Hinweis auf einen von Haruspices ausgeführten Ritus beabsichtigt, den in der Vergilischen Darstellung Dido ausführt. Das Verhältnis der beiden Verben consulere und inspicere kann, da das eine durch das andere erklärt wird, als synonym betrachtet werden und führt somit nicht zu einer Aufspaltung in zwei Riten, die an unterschiedlichen sakralsprachlichen Ausdrücken erkennbar wären. Die Vielzahl der Ausdrucksmöglichkeiten, die die Erklärer verwenden,75 spricht vielmehr gegen eine Polarisierung der Tätigkeitsbezeichnungen auf consulere und inspicere. Die Hypothese von zwei Eingeweideschauriten, die auf die Erklärung des SERVIUS zu Aen. 4,64 aufbaut, läßt sich aufgrund des hier erneut untersuchten Textes nicht bestätigen. Als unmittelbarer Anlaß für die Erklärungen zu ‚consulit exta‘ ist das Stilmittel der Verfremdung zu erkennen, das den großen Erklärungsbedarf ausgelöst hat. 74 SERV. Aen. 4,56 dicendo per aras, aruspicalem artem ostendit (s.o. S. 75). 75 Eine für die deutende Tätigkeit im Ritus spezifische Ausdrucksweise vermitteln durch die Vielzahl von Wendungen, die geboten werden, weder SERVIUS noch VERGIL oder CLAUDIUS DONATUS. Vielmehr wird das spirantia exta consulere VERGILs (4,64) durch das zuvor von ihm gebrauchte pacem per aras exquirere (4,56f.) erklärbar, wie SERVIUS in 4,56 zeigt. Die Ausdrücke sacrificando explorare; exploranda voluntate divina (SERV. 4,56); voluntas dei per exta exquiritur (TREBATIUS De religionibus bei SERV. 4,56) und futura quaerere (CLAUD. DON. 4,64) führen weitere Alternativen vor.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
2.4 ZUM CODEX THEODOSIANUS UND DEM AUSDRUCK ‚SPIRANTIA EXTA CONSULERE‘ Besonders interessant ist ein Text aus einer Gesetzessammlung der Spätantike, dem Codex Theodosianus, weil sich dort mit spirantia exta consulere eine zu der Formulierung in der Aeneis beinahe identische Ausdrucksweise findet (Cod. Theod. 16.10.12,1). In dem späteren, aus dem Theodosianischen Codex hervorgegangenen Codex Iustinianus ist dieser Ausdruck nicht verwendet, so daß dieser Codex hier unberücksichtigt bleiben kann.76 Der Befund der starken Ähnlichkeit der Formulierungen bei VERGIL und im Codex Theodosianus scheint die Hypothese, daß mit der Wendung exta consulere ein ‚sakralrechtlicher‘ Fachbegriff vorliege, zunächst zu bestätigen. Denn folgt man spätantiker Auffassung, VERGIL habe das Sakralrecht gut gekannt und spiele mit seiner Ausdrucksweise darauf an,77 wäre zu vermuten, daß das Sakralrecht vergilischer Zeit auch in die spätantike Kodifizierung des Rechts eingeflossen sei. Folglich wäre, ohne direkte literarische Abhängigkeit voneinander, im Codex Theodosianus und in VERGILs Aeneis ‚Sakralsprache‘ überliefert und beide Formulierungen rekurrierten auf historische Wirklichkeit. Daß jedoch das Abhängigkeitsverhältnis ein direktes sein muß, zeigt gerade der gleiche Wortlaut: Cod. Theod. 16.10.12,1 (De Paganis, Sacrificiis et Templis) (...) Quod si quispiam immolare hostiam sacrificaturus audebit aut spirantia exta consulere, ad exemplum maiestatis reus licita cunctis accusatione delatus expiat sententiam conpetentem, etiamsi nihil contra salutem principum aut de salute quaesierit. (...) (...) Wenn irgend jemand, der gerade opfern will, es wagen wird, Opfertiere zu schlachten oder die noch atmenden Eingeweide zu befragen, so wird er – nach dem Beispiel eines Hochverräters, der von jedermann vor Gericht gebracht werden darf – der entsprechenden Strafe unterliegen, auch wenn er nichts gegen oder über das Wohl der Kaiser erkundet hat. (...)
Entsprechend der Hypothese von einem Fachbegriff müßte der sakralsprachliche Ausdruck exta consulere heißen, nicht jedoch spirantia exta consulere, wie beide Texte übereinstimmend lauten. Daher ist zu vermuten, daß die Stelle im Codex Theodosianus auf den Vergilvers selbst zurückzuführen ist. Fraglich ist dabei, wie zustande kommen konnte, daß ein Ausdruck aus der epischen Dichtung augusteischer Zeit in einen spätantiken Rechtstext gelangt. 76 Da hier auch keine Verhältnisbestimmung der Gesetze in beiden Codices beabsichtigt ist, ist in diesem Zusammenhang keine Einsicht in den Codex Iustinianus erforderlich (eine Einordnung in die verschiedenen Gesetzescorpora bietet NOETHLICHS 1996); gleichwohl bietet auch der Codex Iustinianus einige lateinisch-sprachige Umschreibungen von Schlachtritualen und Eingeweideschau, insbesondere Cod. Iust. 11.1–8. 77 Vgl. MACR. Sat. 1,24,16 (sc. Vergilius) doctissime ius pontificium (...) in multa et varia operis sui parte servavit; MACR. Sat. 3,5,1 Nec minus de sacrificiorum usu quam de deorum scientia diligentiam suam pandit; SERV. Aen. 2,118 videtur sane peritia iuris pontificalis animalis hostiae mentionem fecisse, cum dicit animaque litandum Argolica; nam et animam dixit et litare, verbo pontificali usus, ‚sacrificiis deos placare‘ (FUHRMANN 1997, S. 186).
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
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Mit dem Codex Theodosianus liegt eine Textgattung vor, die als Gesetzessammlung einen völlig anderen Charakter zeigt als literarische Zeugnisse. Bei literarischen Dokumenten geht man davon aus, daß sie mehr oder weniger die Kultwirklichkeit nur widerspiegeln – wenn man nicht gänzlich literarische Tradition vermuten muß; Gesetze jedoch regeln das Leben und üben einen unmittelbaren Einfluß auf die Kultwirklichkeit aus. Sie haben somit einen hohen Stellenwert als historische Zeugnisse.78 Zur Klärung des Sprachstils in diesem Text des Codex Theodosianus soll der ganze Erlaß untersucht werden. Für diese Untersuchung ist es nötig, Vergleichstexte heranzuziehen, um die Wortwahl in einem größeren Kontext beurteilen zu können. Aber zunächst sollen einige allgemeine Informationen zum Codex Theodosianus gegeben werden.
2.4.1 Geschichtliche Einführung Der Codex Theodosianus wurde auf Veranlassung des oströmischen Kaisers Theodosius II. abgefaßt und konnte 438 n. Chr. im Osten und 439 n. Chr. im Westen, unter Valentinian III., als rechtswirksam veröffentlicht werden. Aufgenommen sind darin Schreiben der Kaiser seit Konstantin an höhere Beamte, den Senat oder das Volk, die leges generales, ab dem Jahr 312 n. Chr.79 Betrachtet man diese Sammlung nicht primär unter dem Aspekt, ob und wo die aufgenommenen Gesetze seit ihrem Erlaß und dann ihrer Veröffentlichung im Codex juristische Anwendung fanden, sondern verfolgt eine Entwicklung der aufgenommenen Verbote und Äußerungen, sind verschiedene Dinge zu bedenken. Zur Zeit ihrer originalen Abfassung muß die Rechtswirksamkeit der Einzelschreiben beschränkt gewesen sein. Denn die Briefe sind meistens an einzelne Verwaltungen des Reiches gerichtet, d.h. an deren amtliche Vertreter, einen Praefekten oder Beamten anderen Grades,80 und beziehen sich auf die örtlichen Angelegenheiten dieses bestimmten Verwaltungsbezirkes. Keinesfalls kann man bei der Größe des Reiches von gleichmäßigen Verhältnissen ausgehen, da die Probleme verschiedener Gemeinwesen sich ebenso unterscheiden mögen wie deren Bevölkerung. Da einzelne Gesetze einander widersprechen, ist schwer einzuschätzen, inwieweit sie – und in welcher Fassung – nach der Veröffentlichung Beachtung fanden. Bezüglich der sakralen Gesetzgebung ist der Anteil von Christen an der Bevölkerung besonders wichtig. Zu Beginn der diokletianischen Christenverfolgung (23. Februar 303 n. Chr.)81 ist, wie man errechnet hat, z.B. Rom weit weniger christianisiert als der griechisch sprechende Osten des Reiches. In Kleinasien, Armenien, auf Zypern und in Edessa ist fast die Hälfte der Bevölkerung christlich, 78 79 80 81
Vgl. CANCIK-LINDEMAIER 1990, S. 7. WENGER 1953, S. 536–541; SCHULZ 1961, S. 398–400. Zu Ämtern und Verwaltung des Kaiserreiches vgl. AUSBÜTTEL 1998. KIENAST 1990, S. 263.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
auch im nördlichen Syrien, Ägypten und im südlichen Balkan ist ihr Anteil sehr hoch. Kaum oder gar nicht christianisiert sind dagegen das nördliche Gallien, Britannien, die westliche Pyrenäenhalbinsel, das westliche Oberitalien und Noricum; wenige Christen gibt es im südlichen Gallien, in Südspanien, im westlichen Africa und in den Provinzen des nördlichen und mittleren Balkans. Lediglich als starke Minderheit kann man die Zahl der Christen in Rom, in kleineren Gebieten Mittelund Unteritaliens und in Africa proconsularis, also Karthago mit Hinterland, bezeichnen.82 Für die Auswertung von einzelnen Gesetzen muß also einerseits der eigentliche Adressatenkreis beachtet werden und andererseits ist zu bedenken, daß im Codex Theodosianus nicht die Originaltexte, sondern die Bearbeitungen von Redaktoren vorliegen. Die Konstitutionen der Kaiser hat man bei der Kodifizierung inhaltlich und unter dem einzelnen Sachtitel chronologisch geordnet. Schreiben, die mehrere Themen berühren, sind bei der inhaltlichen Sondierung getrennt worden. Bei dieser stark kompilatorischen Arbeit ist es häufig zu Verwechslungen oder Interpolationen fehlender Daten, d.h. der erlassenden Kaiser, des Empfängers, des Ortes und des kalendarischen Datums gekommen, so daß trotz ihrer anscheinend urkundlich gesicherten Angaben weiterhin unvermindert Datierungsunsicherheiten bestehen.83 Insbesondere wird dies Problem jeweils am Anfang der Erlasse mit „IDEM“ deutlich, durch das bei einer veränderten Reihenfolge der Texte nicht mehr klar ist, auf welchen oder welche Kaiser sich die Bezeichnung bezieht. Der Text, um den es hier geht (Cod. Theod. 16.10.12), steht im zehnten Kapitel des sechzehnten Buches, das über verschiedene Aspekte des Sakralrechts handelt. Insbesondere mit Bezug auf Opferrituale sind im zehnten Kapitel De paganis, sacrificiis et templis (Über Heiden, Riten und Tempelbezirke, Cod. Theod. 16.10.1–25) mehrere Texte eingeordnet. Die fünfundzwanzig Konstitutionen dieses zehnten Kapitels haben sehr unterschiedliche Länge, zumeist sind sie recht kurz;84 der Text des Cod. Theod. 16.10.12 hebt sich wegen seiner Länge von 27 Zeilen – in der Textausgabe von MOMMSEN – deutlich heraus. Sämtliche Gesetze, die chronologisch aufgeführt werden, sind in die Jahre von 320 n. Chr. bis 435 n. Chr. datiert. Man sieht dabei eine zeitlich ungleiche Verteilung, die anzeigen kann, welchen Kaisern diese Thematik ein Anliegen war. Der erste Text ist im Jahre 320 n. Chr. von Konstantin I. verfaßt, dann folgt mit einem Abstand von 20 Jahren ein Block von fünf Texten einer seiner Söhne, Konstantius II., aus den Jahren 341 bis 356 n. Chr., und wiederum in einem größeren Abstand sechs Texte aus den Jahren 381 bis 392 n. Chr., an denen Theodosius der Große (römischer Kaiser 379–395 n. Chr.) beteiligt war. Nach dessen Tod wurden dann sieben weitere Gesetze aus den Jahren 395 bis 408 n. Chr. unter seinen Söhnen Arcadius (römischer Kaiser im Ostreich 383–408 n. Chr.) und Ho82 BLEICKEN 1992, S. 12f. 83 WENGER 1953, S. 537. 84 Nach der Zeilenzählung der Ausgabe von MOMMSEN 1905: 11 Texte bis 5 Zeilen; 9 Texte bis 10 Zeilen; 3 Texte bis 20 Zeilen; 2 Texte über 25 Zeilen.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
81
norius (römischer Kaiser im Westreich 393–423 n. Chr.) erlassen; an dem letzten Text von 408 n. Chr. war bereits der vermutlich erst siebenjährige Theodosius II., des Arcadius Sohn – wohl nur nominell – beteiligt. Weitere sechs Gesetze von Theodosius II. folgen in diesem Kapitel aus den Jahren 415 bis 435 n. Chr. Ebenfalls Gesetze, die einen Bezug zum Opferritual haben, finden sich im neunten Buch des Codex Theodosianus, in dem es um das Strafrecht geht. Das sechzehnte, für religiöse Thematik wichtigste Kapitel des neunten Buchs ist überschrieben De Maleficiis et Mathematicis et ceteris similibus (Über Schadenzauberer, Astrologen und diesen ähnliche Leute). ‚Ähnliche Leute‘ das sind vor allem die haruspices, die in klassischer Zeit neben anderen Spezialisten vom Staatswesen zur Deutung von Vorzeichen und Abgabe eines Gutachtens im Senat herangezogen wurden.85 Die zwölf Texte beginnen mit drei Gesetzen unter Konstantin von 319 bis spätestens 324 n. Chr. und schließen im Jahre 409 in der Regierungszeit von Theodosius II. ab. Vereinzelte Texte zu sakralrechtlichen Belangen gibt es außer im gesamten Buch 16 des Codex Theodosianus noch in den novellae leges, das sind kaiserliche Gesetze, die nach der Kodifizierung und Veröffentlichung im Jahre 438 n. Chr. erlassen wurden und später der bestehenden Sammlung angefügt worden sind.86 Ein weiterer Fundort zum Thema Religion sind die Sirmondianischen Konstitutionen, die meist, aber nicht ausschließlich, sakralrechtlichen Inhalt bieten. Die Sammlung enthält 16 Kaisergesetze aus den Jahren 333 bis 425 n. Chr. und ist als Anhang zum Codex Theodosianus erstmals im 17. Jahrhundert erschienen und nach dem Herausgeber Jacobus Sirmondianus benannt.87 Diese Sammlung ist ein textgeschichtlich selbständiger Zweig und bietet wegen seines zum Teil ausführlicheren und zum Teil identischen Wortlauts die Möglichkeit – außer daß man zusätzliche Informationen erhält – , die redaktionelle Technik bei der Kodifizierung zu verfolgen. Orientiert an einem Vokabular, das in klassisch-lateinischen Texten für einen Schlachtritus gebraucht wird, lassen sich insgesamt mehrere Erlasse, die sich mit ‚Opfer‘ befassen, ermitteln. Zeitlich umspannen diese Gesetze die Jahre 319–438, das ist beinahe der gesamte Bezugsraum der Konstitutionen des Codex Theodosianus, der von Konstantin bis in die Regierungszeit von Theodosius II. reicht, und zeigt somit ein Dauerthema an, das aber durchaus unterschiedlich gehandhabt wird. Die Konstitution Cod. Theod. 16.10.12 gehört innerhalb der gesamten Zeitspanne von Gesetzen Über Heiden, Riten und Tempelbezirke ins dritte Viertel, ist also eines der späteren Erlasse. Die Datierung auf den 8. November 392 n. Chr. ist unbestritten. Das Schreiben ist von den drei Kaisern Theodosius I. und seinen
85 Durch diese Zusammenstellung mit Schadenzauber „gerät die offizielle Religion selbst in den Geruch von Aberglauben und schwarzer Magie“, so CANCIK 1986, S. 68, der in diesem Akt eine Diskriminierung der römischen Religion erkennt (Anm. 24). 86 WENGER 1953, S. 541. 87 WENGER 1953, S. 542.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Söhnen Arcadius und Honorius an den Praetorianerpraefekten des Orients Flavius Rufinus88 gerichtet. Als Praetorianerpraefekt ist dieser direkt dem Kaiser unterstellt und gilt somit als ranghöchster Beamter.89 Flavius Rufinus hat als Praefectus per Orientem die kleineren Einheiten, Dioecesis Aegypti, Orientis, Pontica, Asiana, Thraciarum,90 die den stark christianisierten Teil des römischen Reiches ausmachen, zu verwalten.91 Er war selbst Christ und genoß das höchste Vertrauen von Theodosius I., der ihm bei seiner Auseinandersetzung mit dem römischen Usurpator Flavius Eugenius92 seinen ungefähr fünfzehnjährigen Sohn Arcadius und mit ihm die Regierungsgeschäfte im Osten anvertraute. Arcadius und Rufinus waren im Jahr 392 n. Chr. gemeinsam Konsuln, wie auch dem Datum des Schreibens zu entnehmen ist. Rufinus geriet mit Flavius Stilicho, der im Kampf gegen Eugenius im Jahre 394 n. Chr. an der Spitze des Heeres gestanden hatte und von Theodosius I. nach dem Sieg zum Oberbefehlshaber im Westen ernannt worden war, nach dem Tod von Theodosius I. im Jahre 395 n. Chr. in starke Konkurrenz, da Theodosius nun dem Stilicho seine Söhne, die beiden jetzt siebzehn- und zehnjährigen Kaiser,93 in Obhut gegeben hatte. CLAUDIAN beispielsweise zeugt mit seiner Invektive In Rufinum über die Streitigkeiten. Rufinus wurde auf Veranlassung von Stilicho am 27. November 395 n. Chr. in Konstantinopel ermordet. Die ungünstig gesonnene Überlieferung sagt ihm Habgier und Korruption nach, durch die er zu beträchtlichem Vermögen gelangt sei.94 An diesen Praetorianerpraefekten und zugleich Konsul, Flavius Rufinus, der sich in einer außerordentlichen Machtstellung in einem wichtigen und stark christianisierten Teil des Reiches befindet, geht von Konstantinopel aus das Schreiben von Theodosius I., dessen Söhne und Mitregenten Arcadius und Honorius erst im Kindesalter sind. Cod. Theod. 16.10.12 (8. Nov. 392) IMP(ERATORES) THEOD(OSIUS), ARCAD(IUS) ET HONOR(IUS) A(UGUSTI) AD RUFINUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Nullus omnino ex quolibet genere ordine hominum dignitatum vel in potestate positus vel honore perfunctus, sive potens sorte nascendi seu humilis genere condicione fortuna in nullo penitus loco, in nulla urbe sensu carentibus simulacris vel insontem 88 PLRE 1971, S. 778–781: Flavius Rufinus Nr. 18: Praefectus Praetorio Orientis von 392–395, Consul 392. 89 Zum Amt des Praetorianerpraefekten vgl. AUSBÜTTEL 1998, bes. S. 16–19. 90 DEMANDT 1989, Tafel 3. 91 Die Anzahl der Praetorianerpraefekten schwankt entsprechend zeitweiliger Zusammenlegung der vier verschiedenen Verwaltungseinheiten, den Praefekturen per Orientem, Illyrici, Italiae et Africae und Galliarum. 92 Flavius Eugenius, ein Christ, war nach dem Tode Valentinians II. am 22. August 392 n. Chr. durch Arbogast zum Kaiser ausgerufen worden und bei des Theodosius Verweigerung der Mitregentschaft schließlich nach seinem Bündnis mit heidnischen Senatoren doch in einer Schlacht besiegt und am 6. September 394 n. Chr. getötet (PLRE 1971, S. 293 (Nr. 6); KIENAST 1990, S. 338; STRAUB 1965; CANCIK 1986, S. 66 Anm. 8). 93 DEMANDT 1989, S. 138. 94 LIPPOLD 1972; LIPPOLD 1975; PLRE 1971, S. 778–881; KIENAST 1990, S. 332–336.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
83
victimam caedat vel secretiore piaculo larem igne, mero genium, penates odore veneratus accendat lumina, inponat tura, serta suspendat. (1) Quod si quispiam immolare hostiam sacrificaturus audebit aut spirantia exta consulere, ad exemplum maiestatis reus licita cunctis accusatione delatus excipiat sententiam conpetentem, etiamsi nihil contra salutem principum aut de salute quaesierit. Sufficit enim ad criminis molem naturae ipsius leges velle rescindere, inlicita perscrutari, occulta recludere, interdicta temptare, finem quaerere salutis alienae, spem alieni interitus polliceri. (2) Si quis veri mortali opere facta et aevum passura simulacra inposito ture venerabitur ac ridiculo exemplo, metuens subito quae ipse simulaverit, vel redemita vittis arbore vel erecta effossis ara cespitibus, vanas imagines, humiliore licet muneris praemio, tamen plena religionis iniuria honorare temptaverit, is utpote violatae religionis reus ea domo seu possesione multabitur, in qua eum gentilicia constiterit superstitione famulatum. Namque omnia loca, quae turis constiterit vapore fumasse, si tamen ea in iure fuisse turificantium probabuntur, fisco nostro adsocianda censemus. (3) Sin vero in templis fanisve publicis aut in aedibus agrisve alienis tale quispiam sacrificandi genus exercere temptaverit, si ignorante domino usurpata constiterit, viginti quinque libras auri multae nomine cogetur inferre, coniventem vero huic sceleri par ac sacrificantem poena retinebit. (4) Quod quidem ita per iudices ac defensores et curiales singularem urbium volumus custodiri, ut ilico per hos comperta in iudicium deferantur, per illos delata plectantur. Si quid autem ii tegendum gratia aut incuria praetermittendum esse crediderint, commotioni iudiciariae subiacebunt illi vero moniti si vindictam dissimulatione distulerint, triginta librarum auri dispendio multabuntur, officiis quoque eorum damno parili subiugandis. DAT(A) (ANTE DIEM) VI. ID(US) NOV(EMBRES) CONST(ANTINO)P(OLI) ARCAD(IO) A(UGUSTO) II. ET RUFINO CON(SULIBU)S. KAISER THEODOSIUS, ARCADIUS UND HONORIUS, DIE AUGUSTI, AN RUFINUS, DEN PRAETORIÜberhaupt niemand jeder beliebigen Herkunft und Klasse menschlichen Standes, der entweder in ein Amt gesetzt ist oder ein Ehrenamt versieht, entweder kraft seiner Geburt, oder von niedriger Herkunft, bei seiner Bestimmung oder seinem Schicksal soll weithin an keinem Ort, in keiner Stadt Bildnissen ohne Wahrnehmungsvermögen entweder ein schuldloses Opfertier schlachten oder – indem er mit einem abgeschiedeneren, die Gottheit versöhnenden Mittel, den Lar mit Feuer, mit reinem Wein den Genius, die Penaten mit Räucherwerk verehrt – Lichter anzünden, Weihrauch hineintun oder Girlanden aufhängen. (1) Wenn irgend jemand, der gerade eine heilige Handlung begehen will, es wagen wird, ein Opfertier zu schlachten oder die sich noch bewegenden Eingeweide zu befragen, so wird er – nach dem Beispiel eines Hochverräters, der von jedermann vor Gericht gebracht werden darf – der entsprechenden Strafe unterliegen, auch wenn er nichts gegen oder über das Heil der Kaiser erfragt hat. Es reicht nämlich für die Schwere des Verbrechens, daß jemand die Gesetze selbst der Natur aufheben, Unerlaubtes erforschen, Verborgenes entschlüsseln, Verbotenes versuchen, das Lebensende eines anderen Menschen erfragen, die Aussicht auf seinen Tod verheißen will. (2) Wenn aber irgendwer bei Weihrauch Bildnisse, die aus vergänglichem Werk gemacht sind und die Zeit zu überstehen beginnen, verehren wird und mit lächerlichem Beispiel plötzlich die Bilder fürchtet, die er selbst geschaffen hat, oder einen mit Bändern umwundenen (heiligen) Baum oder einen aus ausgestochenen Rasenstücken errichteten Altar, nichtige Bilder, mit einem wenngleich niedrigeren Preis eines Geschenkes, dennoch in höchster Rechtsverletzung gegenüber der Religion zu verehren versucht, wird derjenige – wie es nicht anders sein kann – als ein der Religionsverletzung Angeklagter bestraft werden mit dem Verlust des Hauses oder des Besitzes, in welchem er – erwiesenermaßen – mit seiner superstitio gentilicia diente. Denn wir bestimmen, daß alle Stellen, die er erwiesenermaßen mit dem Dunst von Weihrauch beräuchert hat, wenn nur festgestellt werden wird, daß sie im rechtmäßigen Besitz der Weihräucherer sind, unserem Staatshaushalt zu übereignen sind. (3) Wenn aber in öffentlichen Tempelbezirken oder Heiligtümern oder in den Häusern oder auf den Feldern eines anderen jemand versuchen will, eine solche Art einer heiligen Handlung ANERPRAEFEKTEN.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘ auszuüben, wenn erwiesenermaßen (diese Dinge) ohne Wissen des Besitzers in Gebrauch genommen worden sind, wird er gezwungen werden, fünfundzwanzig abgewogene römische Pfund Gold unter dem Titel einer Geldstrafe einzuzahlen, denjenigen aber, der vor diesem Verbrechen die Augen verschließt, wird die gleiche Strafe wie desjenigen, der die heilige Handlung begeht, in Schranken halten. (4) Wir wollen, daß dieses jedoch so durch die Richter und Verteidiger und die zum Kaiserhofe gehörenden der einzelnen Städte überwacht wird, daß auf der Stelle durch die letzteren (die zum Kaiserhof gehörigen) die erfahrenen Angelegenheiten dem Gericht überbracht werden, durch die ersteren (die Richter und Verteidiger) das Überbrachte gestraft wird. Wenn die zum Kaiserhof gehörenden letzteren aber glauben, daß irgend etwas aus Dank zu decken oder aus Unbekümmertheit zu übergehen ist, werden sie der richterlichen Aburteilung unterliegen; wenn aber die Richter ersteren, da sie gemahnt worden sind, den Urteilspruch durch Nachlässigkeit hinhalten, werden sie mit dem Verlust von dreißig abgewogenen römischen Pfund Gold bestraft, auch deren Ämter sind der gleichen Einbuße zu unterwerfen. ERTEILT 6 TAGE VOR DEN IDEN DES NOVEMBER ZU CONSTANTINOPEL UNTER DEN KONSULN ARCADIUS AUGUSTUS ZUM ZWEITEN MAL UND RUFINUS.
Dieser Text stellt ein totales Verbot aller paganen Riten dar: Verboten ist die rituelle Schlachtung (insontem victimam caedere), der Kult für die Laren, Genien und Penaten, dann (1) wiederum eine Schlachtung (immolare hostiam, sacrificaturus, spirantia exta consulere). (2) Verboten ist die Bilderverehrung, der Baumkult und, einen Altar aus Gras zu errichten (erecta effossis ara cespitibus). All dies wird mit dem Argument einer Entweihung des Besitzes durch Enteignung bestraft. (3) Öffentliche Ausübung der Riten oder die auf fremdem Besitz wird mit einer Geldbuße geahndet. (4) Es besteht Meldepflicht für derartige Ereignisse, die Amtsleute sind unter Strafandrohung zu einer Ahndung verpflichtet. Bei diesem Gesetzestext ist die Länge sehr ungewöhnlich. Entsprechend sind, anders als in kurzen Texten, auch mehrere Aspekte angesprochen. Dabei gibt es jedoch Doppelungen, denn zweimal wird das Schlachten von Tieren verboten (insontem victimam caedere) und bei der zweiten Nennung werden sogar drei verschiedene Formulierungen für die Tätigkeiten verwendet (immolare hostiam, sacrificaturus, spirantia exta consulere). Auch die Bemerkung über das Errichten von Rasenaltären (erecta effossis ara cespitibus) weist auf das Verbot einer Schlachtung, die jedoch implizit im Außenraum, unter freiem Himmel stattfindet.95 Zu fragen ist nach dem Grund für diese pleonastische Ausdrucksweise. Eine weitergehende Frage ist, welche Art von Schlachtung mit diesen Ausdrücken verboten wird und ob es sich um mehrere oder eine einzige Art handelt. Für die Klärung sollen Parallelen zu diesen Wendungen im Codex Theodosianus herangezogen werden. Die Auswahl der Texte erfolgt über einen Wortindex zum Codex Theodosianus.96
95 Zu einem „doppelten Opfersystem“, den Schlachtungen in einem Tempel und draußen, vgl. GLADIGOW 2000, bes. S. 95–98. 96 GRADENWITZ 1925 und 1929.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
85
2.4.2 Das begriffliche Umfeld zum Schlachtritual in den Erlassen Es gibt zu spirantia exta consulere – außer in VERGILs Aeneis – keine so enge Parallele wie im Cod. Theod. 16.10.12 aus dem Jahre 392 n. Chr. Der Ausdruck hostiam immolare wird erst in einem sehr viel späteren Text in der Formulierung hostiarum immolationes wiederaufgenommen (Cod. Theod. 16.10.25 vom 14. November 435), so daß er nicht als Vorbild für die fragliche Stelle gedient haben kann, eher verhält es sich umgekehrt. Selbst das Substantiv hostia ist nur noch ein weiteres Mal nachgewiesen (Cod. Theod. 16.10.10 vom 24. Februar 391 n. Chr.).97 In demselben Text jedoch findet dagegen die Wendung insontem victimam caedere eine Parallele.98 Das Verb sacrificare ist mehrfach in diesem Text selbst und in einem weiteren aus dem vorhergehenden Jahr – dem Cod. Theod. 16.10.11 vom 16 Juni 391 n. Chr. – verwendet worden. Recht häufig und fast ausschließlich – bis auf eine Stelle im neunten Buch, in dem es um Strafrecht geht (Cod. Theod. 9.16.7,2 aus dem Jahre 364 n. Chr.) – erscheint das Substantiv sacrificium im sechzehnten Buch, das Erlasse zum Sakralrecht enthält, vor allem in dem sachlich darauf bezogenen zehnten Kapitel über Heiden, Riten und Tempelbezirke.99 Im folgenden sollen bis auf die zahlreichen Stellen zum Substantiv sacrificium, die sich nicht auf Schlachtriten beschränken, sämtliche ermittelten Gesetzestexte vorgestellt werden. Auch sollen hier Texte einbezogen werden, die haruspices erwähnen. Jedoch lohnt es sich in dem hier bestehenden Zusammenhang nicht, die Frage nach derer Rolle hervorzuheben,100 denn hier ist das vordringliche Interesse, einen thematischen Kontext für den zu untersuchenden Wortgebrauch zum Schlachtritual in den Blick zu nehmen. Die juristischen Einschränkungen, die die Tätigkeit der Haruspices betreffen, können jedoch den Anfang einer Entwicklung verdeutlichen, die mit dem totalen Verbot aller paganen Riten endet, wie in dem hier behandelten Gesetz Cod. Theod. 16.10.12 formuliert ist, und letztlich, ungefähr 40 Jahre später zu dem Befehl führt, alle Tempel zu schließen.
97 GRADENWITZ 1925, S. 100: s.v. hostia: 16.10.10.1 (391); 16.10.12.6 (392); 16.10.25.2 (435). – GRADENWITZ 1925, S. 104: s.v. immolatio bzw. immolo: 16.10.12.6 (392); 16.10.25.2 (435). 98 GRADENWITZ 1929, S. 86: Theod. Nov. 3.68 und 3.74 (438); GRADENWITZ 1925, S. 275: s.v. victima: 16.10.10.2 (391); 16.10.12.5 (392). – Nach ThLL s.v. insons ist insons nur an diesen beiden Stellen im Cod. Theod. mit einem Tier verbunden nachgewiesen. 99 GRADENWITZ 1925, S. 221 s.v. sacrifico: 16.10.11.1 (391); 16.10.12.7 (392); 16.10.12.19 (392); 16.10.12.21 (392); – S. 221 s.v. sacrificium. 100 Mit dieser Frage befaßt sich insbesondere FÖGEN 1993.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
2.4.3 Der Kontext zum Schlachtritual in der Gesetzgebung Ein Verbot der Tätigkeit von Haruspices findet sich in zwei Schreiben, zunächst in einem aus dem Jahr 319 oder 320, das an den römischen praefectus urbi, d.h. den ranghöchsten Beamten von Rom, Maximus101 gerichtet ist: Cod. Theod. 9.16.1 (1. Febr. 319 bzw. 320)
102
IMP(ERATOR) CONSTANTINUS A(UGUSTUS) AD MAXIMUM. Nullus haruspex limen alterius accedat nec ob alteram causam, sed huiusmodi hominum quamvis vetus amicitia repellatur, concremando illo haruspice, qui ad domum alienam accesserit et illo, qui eum suasonibus vel praemiis evocaverit, post ademptionem bonorum in insulam detrudendo: superstitioni enim suae servire cupientes poterunt publice ritum proprium exercere. Accusatorem autem huius criminis non delatorem esse, sed dignum magis praemio arbitramur. P(RO)P(OSITA) KAL(ENDIS) FEB(RUARIIS) ROM(AE) CONSTANTINO A(UGUSTO) V ET LICINIO CAES(ARE) CON(SULIBU)S. DER KAISER CONSTANTINUS, DER AUGUSTUS, AN MAXIMUS. Kein haruspex soll sich eines anderen Schwelle nähern auch nicht aus einem anderen Grund, sondern es soll eine wenn auch noch so alte Freundschaft mit derartigen Menschen zurückgewiesen werden; durch Verbrennen jenes haruspex, der sich eines anderen Hauses genähert hat, und Verbannung desjenigen auf eine Insel und nach Einzug seiner Güter, der ihn auf Anraten oder gegen Bezahlung gerufen hat, (ist dies zu ahnden): denn diejenigen, die ihrer superstitio zu dienen wünschen, werden den ihnen eigenen Ritus öffentlich ausüben können. Den Anzeiger des Verbrechens aber halten wir nicht für einen Denunzianten, sondern vielmehr einer Belohnung würdig. VORGESCHLAGEN AN DEN KALENDEN DES FEBRUARS IN ROM UNTER DEN KONSULN CONSTANTINUS AUGUSTUS ZUM FÜNFTEN MAL UND LICINIUS CAESAR.
Das zweite, inhaltlich sehr ähnliche, ging als Edikt an das Volk im Jahr 319: Cod. Theod. 9.16.2 (15. Mai. 319)
103
IDEM A(UGUSTUS) AD POPULUM. Haruspices et sacerdotes et eos, qui huic ritui adsolent ministrare, ad privatam domum prohibemus accedere vel sub praetextu amicitiae limen alterius ingredi, poena contra eos proposita, si contempserint legem. Qui vero id vobis existimatis conducere, adite aras publicas adque delubra et consuetudinis vestrae celebrate sollemnia: nec enim prohibemus praeteritae usurpationis officia libera luce tractari. DAT(A) ID(IBUS) MAI(IS) CONSTANTINO A(UGUSTO) V ET LICINIO CON(SULIBU)S. DERSELBE AUGUSTUS AN DAS VOLK. Wir verbieten, daß haruspices, Priester und jene, die gewöhnlich diesem Ritus dienen, ein Privathaus betreten oder unter dem Vorwand der Freundschaft die Schwelle eines anderen überschreiten. Eine Strafe ist gegen diejenigen festgesetzt, die dieses Gesetz mißachten. Diejenigen, die ihr aber meint, daß euch das zusammenführt, mögt zu öffentlichen Altären und Tempeln gehen und dort die Feierlichkeiten eures Brauchs zelebrieren. Wir verbieten nämlich nicht, daß die Dienste eines vergangenen Brauchs im Licht der Öffentlichkeit ausgeübt werden. ERTEILT AN DEN IDEN DES MAI UNTER DEN KONSULN CONSTANTINUS AUGUSTUS ZUM FÜNFTEN MAL UND LICINIUS. 101 PLRE 1971, S. 590: Valerius Maximus Nr. 48, Praefectus urbi (Rom), vom 1. Sept. 319– 13. Sept. 323. 102 Vgl. FÖGEN 1993, S. 35 und S. 322. 103 Vgl. FÖGEN 1993, S. 34 und S. 323.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
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Es zeigt sich, daß das frühere Verbot nicht eine bestimmte Tätigkeit des Haruspex, sondern die Ausübung in einem Privathaus betrifft. Denn ausdrücklich wird der Ritus in der Öffentlichkeit erlaubt. Aber bereits der freundschaftliche Umgang mit einem Haruspex ist unter Strafe gestellt. Dem Haruspex droht der Tod durch Verbrennen, dem vermutlichen Auftraggeber die Enteignung und Verbannung. Wenig später, im Jahre 320 oder 321, sendet Konstantin wiederum an Maximus, den praefectus urbi von Rom, einen Erlaß, demzufolge die haruspices Gutachten über Blitzeinschläge abgeben sollten: Cod. Theod. 16.10.1 (17. Dec. 320/1 bzw. 320)
104
IMP(ERATOR) CONSTANTINUS A(UGUSTUS) AD MAXIMUM. Si quid de palatio nostro aut ceteris operibus publicis degustatum fulgore esse constiterit, retento more veteris observantiae quid portendat, ab haruspicibus requiratur et diligentissime scribtura collecta ad nostram scientiam referatur, ceteris etiam usurpandae huius consuetudinis licentia tribuenda, dummodo sacrificiis domesticis abstineant, quae specialiter prohibita sunt. (1) Eam autem denuntiationem adque interpretationem, quae de tactu amphitheatri scribta est, de qua ad Heraclianum tribunum et magistrum officiorum scribseras, ad nos scias esse perlatam. DAT(A) (ANTE DIEM) XVI KAL(ENDAS) IAN(UARIAS) SERDICAE; ACC(EPTA) (ANTE DIEM) VIII ID(US) MAR(TIAS) CRISPO II ET CONSTANTINO II C(AESARIBUS) CON(SULIBU)S. KAISER CONSTANTINUS, DER AUGUSTUS, AN MAXIMUS. Wenn gewiß ist, daß irgend etwas an unserem Palast oder einem anderen öffentlichen Gebäude durch einen Blitz berührt wurde, soll unter Beibehaltung des Brauch der alten Beobachtung von den haruspices untersucht werden, was dieser Vorfall anzeigt, und das Ergebnis soll uns auf das genaueste durch einen schriftlichen Bericht zur Kenntnis gebracht werden. Auch anderen Leuten soll es gestattet sein, von diesem Verfahren Gebrauch zu machen, solange sie von häuslichen Sakralhandlungen (sacrificiis domesticis), welche eigens verboten wurden, Abstand nehmen. (1) Auch sollst du wissen, daß die Meldung und Deutung, die über den Einschlag am Amphitheater geschrieben worden ist, und von der du dem Tribun und Magister der Verwaltung Heraclianus geschrieben hast, uns überbracht worden ist. ERLASSEN 16 TAGE VOR DEN KALENDEN DES JANUAR IN SERDICA; ANGENOMMEN ACHT TAGE VOR DEN IDEN DES MÄRZ UNTER DEN KONSULN DEN CAESAREN CRISPUS ZUM ZWEITEN MAL UND CONSTANTINUS ZUM ZWEITEN MAL.
Erlaubt wird, daß in Rom die haruspices über die Bedeutung von Blitzeinschlägen befragt werden – die Blitzdeutung ist eines ihrer Wissensgebiete. Nicht nur bei öffentlichen und, was wohl identisch ist, kaiserlichen Angelegenheiten ist diese Befragung gestattet, sondern auch in privaten Belangen für alle Leute. Nicht erlaubt sind weiterhin sacrificia domestica. Was das bedeuten soll, ist daraus zu erschließen, daß diese Riten in Zusammenhang mit den haruspices erwähnt werden. Man kann daher annehmen, daß sich das Verbot auf andere Spezialgebiete der haruspices bezieht – außer der Blitzdeutung sind das die Eingeweideschau und die Bestimmung von Sühnmitteln nach einem Prodigium. Wie es sich in den dargestellten Texten aus dem Codex Theodosianus darstellt, scheint Konstantin keine der verschiedenen Glaubensrichtungen zu bevorzugen, womit aber nichts über seine Motive gesagt sei. Zum einen schreibt er eine Befragung der Haruspices vor, reglementiert jedoch deren Tätigkeit in gewissem 104 Vgl. FÖGEN 1993, S. 36 Anm. 33 und S. 326.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Maße, und andererseits, wie gleich darzustellen ist, steht er katholischen Gläubigen in ganz bestimmten Angelegenheiten bei. Der Brief wegen dieser Gläubigen aus dem Jahre 323 n. Chr. ist wohl von Konstantin an Helpidius, einem Beamten in Rom,105 geschickt worden: Cod. Theod. 16.2.5 (25. Mai. 323) (De Episcopis, Ecclesiis et Clericis) 106
IDEM A(UGUSTUS) AD HELPIDIUM. Quoniam conperimus quosdam ecclesiasticos et ceteros catholicae sectae servientes a diversarum religionum hominibus ad lustrorum sacrificia celebranda conpelli, hac sanctione sancimus, si quis ad ritum alienae superstitionis cogendos esse crediderit eos, qui sanctissimae legi serviunt, si condicio patiatur, publice fustibus verberetur, si vero honoris ratio talem ab eo repellat iniuriam, condemnationem sustineat damni gravissimi, quod rebus publicis vindicabitur. DAT(A) (ANTE DIEM) VIII KAL(ENDAS) IUN(IAS) SIRMI SEVERO ET RUFINO CON(SULIBU)S. DERSELBE AUGUSTUS AN HELPIDIUS. Weil wir zuverlässig gehört haben, daß gewisse kirchliche Leute und die übrigen, die der katholischen Glaubensrichtung dienen, von Menschen verschiedener Religionen zum Begehen von Lustralfeiern gezwungen werden, verordnen wir durch diese Verordnung, wenn irgendeiner glaubte, Leute, die dem allerheiligsten Gesetz dienen, müßten zum Ritus einer fremden superstitio gezwungen werden, daß er, wenn die Lage es erduldet, öffentlich mit Stöcken geschlagen werden wird, wenn aber die Rücksicht auf den Ehrenstatus eine derartige Strafe von ihm zurückweist, er der Verurteilung zur allerhöchsten Vermögensstrafe, die in öffentlichen Angelegenheiten gerichtlich verhängt werden wird, unterliegen soll. ERLASSEN 8 TAGE VOR DEN KALENDEN DES JUNI IN SIRMIUM UNTER DEN KONSULN SEVERUS UND RUFINUS.
In Rom, wo die Christianisierung der Bevölkerung nicht so weit fortgeschritten ist wie im Osten des Reiches, werden also Christen von verschiedenen Leuten gezwungen, an den traditionell staatlichen Lustralfeiern, d.h. an Schlachtriten teilzunehmen. Konstantin untersagt diesen Zwang und bestimmt eine – wenn man dies mit einem anderen Fall, auf den bald zurückzukommen ist, vergleichen will – verhältnismäßig geringe Prügelstrafe bzw. nur eine Geldbuße für die heidnischen Initiatoren. Von einer besonderen Unterstützung der Christen kann hier nicht die Rede sein. Konstantius II., der Nachfolger und Sohn von Konstantin I., geht gegen Leute wie Haruspices und Astrologen erheblich schärfer als sein Vater vor. Das zeigt sich in einem Edikt an das Volk vom Januar 357 und einer Konstitution vom Juli 357 oder 358 an Taurus, den Praetorianerpraefekten von Italia und Africa.107 Zunächst das Edikt:
105 Vgl. MOMMSEN 1905, kritischer Apparat; vgl. PLRE 1971, S. 431: Helpidius 1 vicarius (urbis Romae) von 321–324 n. Chr.; Identität fraglich mit RÜPKE / GLOCK 2005, s.v. Helpidius (Nr. 1877) und S. 1028; PIETRI, 1999, s.v. Helpidius 1, S. 968. 106 Bei dem Verfasser handelt es sich nach Cod. Theod. 16.2.2 wohl um Konstantin I., auch entsprechend der Abfassungszeit unter den Konsuln [Acilius] Severus und [Vettius] Rufinus (323) kommt nur Konstantin I. in Frage. 107 PLRE 1971, S. 879: Flavius Taurus Nr. 3, Praefectus Praetorio Italiae et Africae von 355– 361, Consul 361, einer der für Constantius wichtigen comites.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘ Cod. Theod. 9.16.4 (25. Ian. 357)
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108
IMP(ERATOR) CONSTANTIUS A(UGUSTUS) AD POPULUM. Nemo haruspicem consulat aut mathematicum, nemo hariolum. Augurum et vatum prava confessio conticescat. Chaldaei ac magi et ceteri, quos maleficos ob facinorum magnitudinem vulgus appellat, nec ad hanc partem aliquid moliantur. Sileat omnibus perpetuo divinandi curiositas. Etenim supplicium capitis feret gladio ultore prostratus, quicumque iussis obsequium denegaverit. DAT(A) (ANTE DIEM) VIII KAL(ENDAS) FEB(RUARIAS) MEDIOL(ANO) CONSTANTIO A(UGUSTO) VIII ET IULIANO CAES(ARE) II CON(SULIBU)S. INTERPRETATIO: Quicumque pro curiositate futurorum vel invocatorem daemonum vel divinos, quos hariolos appellant, vel haruspicem, qui auguria colligit, consuluerit, capite punietur. KAISER CONSTANTIUS, DER AUGUSTUS, AN DAS VOLK. Niemand soll einen haruspex konsultieren oder einen Astrologen, niemand soll einen Hariolen befragen. Die verkehrte Verkündung der Auguren und Weissager soll verstummen. Chaldäer und besonders die magi und die übrigen Leute, die man wegen der Ungeheuerlichkeit ihrer Übeltaten gemeinhin malefici nennt, sollen nichts derartiges unternehmen. Die Neugier auf die Wahrsagung soll bei allen endgültig schweigen! Mit der Todesstrafe durch das rächende Schwert wird nämlich niedergestreckt, wer auch immer den Befehlen den Gehorsam verweigert. ERLASSEN ACHT TAGE VOR DEN KALENDEN DES FEBRUARS IN MAILAND UNTER DEN KONSULN CONSTANTIUS AUGUSTUS ZUM ACHTEN MAL UND IULIANUS CAESAR ZUM ZWEITEN MAL. AUSLEGUNG: Wer auch immer aus die Neugier auf das Zukünftige entweder einen Dämonenbeschwörer oder die göttlichen Leute, die man harioli nennt, oder einen haruspex, der die auguria stellt, befragt, wird mit dem Tode bestraft.
Nun die Konstitution: Cod. Theod. 9.16.6 (5. Iul. 357 bzw. 358)
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IDEM (CONSTANTIUS) A(UGUSTUS) AD TAURUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Etsi excepta tormentis sunt corpora honoribus praeditorum, praeter illa videlicet crimina, quae legibus demonstrantur, etsi omnes magi, in quacumque sint parte terrarum, humani generis inimici credendi sunt, tamen quoniam qui in comitatu nostro sunt ipsam pulsant propemodum maiestatem, si quis magus vel magicis contaminibus adsuetus, qui maleficus vulgi consuetudine nuncupatur, aut haruspex aut hariolus aut certe augur vel etiam mathematicus aut narrandis somniis occultans artem aliquam divinandi aut certe aliquid horum simile exercens in comitatu meo vel Caesaris fuerit deprehensus, praesidio dignitatis cruciatus et tormenta non fugiat. Si convictus ad proprium facinus detegentibus repugnaverit pernegando, sit eculeo deditus ungulisque sulcantibus latera perferat poenas proprio dignas facinore. DAT(A) (ANTE DIEM) III NON(AS) IUL(IAS) ARIMINI DATIANO ET CEREALE CON(SULIBU)S. 110
DERSELBE [CONSTANTIUS] AUGUSTUS AN TAURUS, DEN PRAETORIANERPRAEFEKTEN. Wenn auch die Leiber von Würdenträgern von Folterqualen ausgenommen sind, außer natürlich bei jenen Verbrechen, die durch die Gesetze aufgezeigt worden sind, und wenn auch alle magi, in welchem Teil der Erde auch immer, für Feinde des menschlichen Standes gehalten
108 Vgl. FÖGEN 1993, S. 49 und S. 323; knapp dazu GLADIGOW 2000, S. 100. 109 Vgl. FÖGEN 1993, S. 230 und S. 324. 110 Es muß sich um Constantius handeln, weil dieser in Cod. Theod. 9.16.4 als einziger Augustus genannt wird – der zweite dort genannte ist nur Caesar.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘ werden müssen, greifen dennoch die, weil sie ja an unserem Hof sind, nahezu die Maiestät selbst an. Wenn also ein magus oder jemand, der magische Sudeleien gewöhnt ist, und der gemeinhin maleficus genannt wird, und wenn ein haruspex oder Hariole, Augur oder auch ein Astrologe, oder jemand, der unter dem Deckmantel der Traumdeutung eine gewisse Kunst des Divinierens oder irgend etwas diesen Dingen ähnlichem ausübt, in meinem oder des Caesars Gefolge ergriffen wird, so wird er nicht durch den Schutz seiner Würde der Marter und Folter entkommen. Wenn er eines ebensolchen Vergehens überführt wurde, aber sich denen, die ihn entlarvten, widersetzt, indem er leugnet, so soll er der Foltermaschine mit ihren Krallen, die seinen Körper zerfleischen, übergeben werden und soll die seinem Verbrechen entsprechenden Strafen erleiden. ERLASSEN DREI TAGE VOR DEN NONEN DES JULI IN ARIMINUM UNTER DEN KONSULN DATIANUS UND CEREALIS.
Der Grund für ein Verbot der Befragung von Haruspices und ähnlichen Leuten wird deutlich: Divination jeglicher Art, d.h. die Erkundung von unbekannten Dingen, insbesondere der Zukunft, wird unter Strafe gestellt und gleichbewertet wie die Tätigkeit eines Schadenzauberers. Als besonders sträflich wird die Anwesenheit dieser Personen im Gefolge des Kaisers angesehen. Die Entlarvten sollen, bis sie gestehen, gefoltert und dann mit dem Schwert hingerichtet werden. In gemeinsamer Nennung mit malefici, Schadenverursachern, und der unerwünschten Nähe zum Kaisergefolge wird die Rolle der Haruspices fokussiert auf diejenige von Trägern eines Wissens, das sie durch Divination erlangt haben und gegen den Kaiser richten könnten. Dies stellt sich in dem anfangs genannten Verbot Konstantins, der eine Kontaktaufnahme mit Haruspices untersagt, jedoch die öffentliche Ausübung ihrer Riten vorschreibt, nicht so dar. Die öffentliche Ausübung der Riten – bei Konstantin noch erlaubt – ist unter Konstantius II. nicht mehr möglich, auch hatte dieser im Jahr 341 generell das Verbot, sacrificia zu begehen, bekräftigt, was in einem Schreiben an den Sachwalter Madalianus111 formuliert ist. Cod. Theod. 16.10.2 (wohl Ende 341)
112
IMP(ERATOR) CONSTANTIUS A(UGUSTUS) AD MADALIANUM AGENTEM VICEM P(RAEFECTOP(RAETORI)O. Cesset superstitio, sacrificiorum aboleatur insania. Nam quicumque contra legem divi principis parentis nostri et hanc nostrae mansuetudinis iussionem ausus fuerit sacrificia celebrare, conpetens in eum vindicta et praesens sententia exeratur. ACC(EPTA) MARCELLINO ET PROBINO CON(SULIBU)S.
RUM)
DER KAISER CONSTANTIUS AUGUSTUS AN MADALIANUS, DEN SACHWALTER ANSTELLE DER PRAETORIANERPRAEFEKTE. Die superstitio soll ein Ende haben, der Wahnsinn der Sakralhandlungen soll aufgegeben werden! Denn wer auch immer gegen das Gesetz des göttlichen Princeps, unseres Vaters, und gegen den Befehl Unserer Gnaden Sakralhandlungen zu begehen gewagt haben sollte, gegen den soll eine gebührende Strafe und sofortiger Urteilspruch verhängt werden. ANGENOMMEN UNTER DEN KONSULN MARCELLINUS UND PROBINUS.
Einige Jahre darauf ließ er die Tempel schließen, wie ein Schreiben von 346 oder 354 an den weiter oben zu der Konstitution von 358 (Cod. Theod. 9.16.6) erwähnten Praetorianerpraefekten von Italia und Africa Taurus zeigt: 111 PLRE 1971, S. 530: Lucius Crepereius Madalianus. 112 Vgl. FÖGEN 1993, S. 37 und S. 326f.; knapp dazu GLADIGOW 2000, S. 101.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘ Cod. Theod. 16.10.4 (1. Dec. 346 /354?)
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113 114
IDEM A(UGUSTI) (CONSTANTIUS ET CONSTANS) AD TAURUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Placuit omnibus locis adque urbibus universis claudi protinus templa et accessu vetito omnibus licentiam delinquendi perditis abnegari. Volumus etiam cunctos sacrificiis abstinere. Quod si quis aliquid forte huiusmodi perpetraverit, gladio ultore sternatur. Facultates etiam perempti fisco decernimus vindicari et similiter adfligi rectores provinciarum, si facinora vindicare neglexerint. DAT(A) KAL(ENDIS) DEC(EMBRIBUS) CONSTANTIO IIII ET CONSTANTE III A(UGUSTIS) CON(SULIBU)S. DIESELBEN AUGUSTI (CONSTANTIUS UND CONSTANS) AN TAURUS, DEN PRAETORIANEREs wird verordnet, daß an allen Plätzen und dazu in sämtlichen Städten die Tempel sofort geschlossen werden und, da der Zugang verboten, allen Leuten, die dem Untergang nahe sind, die Möglichkeit einer Verfehlung versagt wird. Auch wollen wir, daß sich alle sakraler Handlungen enthalten. Wenn nun irgendwer zufällig irgend etwas derartiges weiterbetreibt, soll er mit dem rächenden Schwert niedergestreckt werden. Weiterhin entscheiden wir, daß das Vermögen des Getöteten dem Fiscus übereignet wird und ebenso werden die Leiter der Provinzen bestraft, wenn sie unterlassen, die Taten zu ahnden. ERLASSEN AN DEN KALENDEN DES DEZEMBER UNTER DEN KONSULN, DEN AUGUSTI CONSTANTIUS ZUM VIERTEN MAL UND CONSTANS ZUM DRITTEN MAL. PRAEFEKTEN.
Ungefähr um dieselbe Zeit, im Jahr 353, hebt in einem Brief an Cerealis, den Praefekten von Rom,115 Konstantius II. eine vom Gegenkaiser Magnentius116 gegebene Erlaubnis zu nächtlichen Feiern nach dessen Tod auf: Cod. Theod. 16.10.5 (23. Nov. 353) 117
IDEM (CONSTATIUS) A(UGUSTUS) AD CEREALEM P(RAEFECTUM) U(RBI). Aboleantur sacrificia nocturna Magnentio auctore permissa et nefaria deinceps licentia repellatur. Et cete118 ra. DAT(A) (ANTE DIEM) VIIII KAL(ENDAS) DEC(EMBRES) CONSTANTIO A(UGUSTO) VI ET (SC. IULIANO) CAES(ARE) II CON(SULIBU)S. DERSELBE CONSTANTIUS AUGUSTUS AN DEN PRAEFEKTEN VON ROM CEREALIS. Es sollen nächtlichen Sakralhandlungen, die auf Veranlassung des Magnentius zugelassen worden sind, unterbleiben und dann soll die ruchlose Erlaubnis widerrufen werden. (Und weiteres.) ERTEILT 9 TAGE VOR DEN KALENDEN DES DEZEMBER UNTER DEN KONSULN CONSTANTIUS AUGUSTUS ZUM SECHSTEN MAL UND (SC. IULIANUS) CAESAR ZUM ZWEITEN MAL.
Es scheint so, daß nach dem Verbot von sacrificia mit Haruspices als religiöse Experten in häuslicher Atmosphäre und der Unmöglichkeit einer öffentlichen Ausübung unter Konstantius nun sacrificia zur Nachtzeit stattfinden. Wie kann 113 Vgl. knapp dazu GLADIGOW 2000, S. 102. 114 Die Zuordnung der Augusti ergibt sich aus der Angabe der Verfasser am Ende des Schreibens. 115 PLRE 1971, S. 197–199: Naeratius Cerealis Nr. 2, Praefectus Urbis Romae von 352–353, Consul im Jahr 358, er stand zusammen mit Taurus dem Constantius nahe. 116 PLRE 1971, S. 532: Flavius Magnus Magnentius, Augustus von 350–353 n. Chr. 117 Die Zuordnung des Augustus ergibt sich aus der Angabe der Verfasser am Ende des Schreibens, von denen nur Constantius Augustus ist. 118 Wohl redaktionelle Bemerkung über die entsprechend dem Thema erfolgte Teilung des Schreibens.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
man diesen Befund einordnen? Es ist doch wohl nicht davon auszugehen, daß jetzt heimlich, unter Ausschluß der Öffentlichkeit die verbotenen Riten im Dunkel der Nacht, sozusagen im Untergrund, abgehalten werden?119 Es stellt sich zudem die Frage, welche sacrificia denn gemeint sind. Es müssen doch wohl welche von der Art sein, die während der Nacht, nicht in Tempeln und ohne Beteiligung von Haruspices ausgeführt werden. Solche sacrificia fallen nämlich nicht unter die bisherigen Verbote. Die Erlaubnis des politischen Widersachers Magnentius scheint eine Rechtsunsicherheit widerzuspiegeln. Nach der gerade gegebenen Definition kommen als mögliche Feiern traditionelle Riten des Hauskults, die sacra gentilicia, in Frage. Ein Fest, um das es gehen könnte, die zur Mitternacht beginnenden Lemuria, beschreibt OVID in den Fasti 5,419–492. Die Riten gelten den verstorbenen Ahnen, denen mit den Worten ‚manes exite paterni!‘ befohlen wird, das Haus zu verlassen. Könnte Magnentius diesen ähnliche Riten den Römern erlaubt haben? Oder sind Erlaubnis und Verbot als Eingriff in Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen religiösen Gruppierungen, eventuell christlicher Untergruppen anzusehen?120 Das Problem der Feiern zur Nachtzeit, das nun einmal schriftlich fixiert ist, wird in zwei weiteren Schreiben bis in die Zeit von Theodosius dem Großen thematisiert. In demjenigen aus dem Jahr 364 von Valentinian I., Kaiser im Westen, und Valens, Kaiser im Osten, an den Praetorianerpraefekten des Orients, Secundus,121 werden nun Totenriten neben frevelhafte Bitten und magische Machenschaften gestellt und die Ausführung zur Nachtzeit verboten: Cod. Theod. 9.16.7 (9. Sept. 364)
122
IMP(ERATORES) VALENTINIANUS ET VALENS A(UGUSTI) AD SECUNDUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Ne quis deinceps nocturnis temporibus aut nefarias preces aut magicos apparatus aut sacrificia funesta celebrare conetur. Detectum enim adque convictum conpetenti animadversione mactari perenni auctoritate censemus. DAT(A) (ANTE DIEM) V ID(US) SEPTEMB(RES) DIVO IOVIANO ET VARRONIANO CON(SULIBU)S. DIE KAISER VALENTINIAN UND VALENS, DIE AUGUSTI, AN DEN PRAETORIANERPRAEFEKTEN SECUNDUS. Daß nicht demnächst irgendeiner zu nächtlicher Zeit entweder frevelhafte Bitten oder magische Anstalten oder Totenfeiern zu begehen versucht. Mit immerwährender Gültigkeit meinen wir nämlich, daß ein Entlarvter und dazu Überführter in angemessener Strafe getötet wird. ERTEILT 5 TAGE VOR DEN IDEN DES SEPTEMBER UNTER DEN KONSULN DIVUS IOVIANUS UND VARRONIANIUS.
119 Vgl. PHARR 1952, S. 472 Anm. 3. 120 Zu denken wäre an den sog. Arianischen Streit. 121 PLRE 1971, S. 814–817: Saturninius Secundus Solutius Nr. 3, Praefectus Praetorio Orientis von 361–365 und 365–367 n. Chr.; war pagan-religiös und in Chalcedon anwesend, wo 451 ein Konzil stattfand und das im Jahr 365, dem Jahr nach diesem Gesetz, von Valens zerstört wurde. 122 Vgl. FÖGEN 1993, S. 38 und S. 324.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
93
Dieses wegen des Bezuges auf eine Fluchpraxis (preces nefariae), magische Unternehmungen und Totenkult noch irgendwie bodenständig wirkende Verbot wird durch eine später hinzugefügte Erläuterung übersteigert: INTERPRETATIO. Quicumque nocturna sacrificia daemonum celebraverit vel incantationibus daemones invocaverit, capite puniatur. AUSLEGUNG: Wer auch immer nächtliche Feiern für Dämonen unternommen hat oder mit Gesängen Dämonen herbeigerufen hat, soll mit dem Tode bestraft werden.
Wenn man einer Erklärung von nächtlichen Feiern als Totenriten im Hauskult folgen kann, muß man die wohl redaktionelle Deutung, die in die Nähe von Dämonenbeschwörung, um nicht zu sagen Nekromantie führt, für realitätsfern halten. Die Entwicklung in der Gesetzgebung zu einem möglicherweise Reglementieren von Totenkult wäre noch genauer zu untersuchen, was in diesem Rahmen jedoch nicht möglich ist. Unter Valentinian I., Valens und des Valentianus Sohn Gratian – noch Kind – nimmt die Gesetzgebung bezüglich der Haruspices eine einmalige Wendung. Zu bemerken ist, daß es in dem genannten Gesetz keinen Hinweis auf eine Reglementierung der Haruspices gibt. Ganz entgegen sonstiger Nachrichten ist in einem weiteren Schreiben nun eine positive Stellungnahme an den Senat gerichtet: Cod. Theod. 9.16.9 (19. bzw. 29. Mai. 371)
123
IMP(ERATORES) VALENTINIANUS, VALENS ET GRATIANUS A(UGUSTI) AD SENATUM. Haruspicinam ego nullum cum maleficiorum causis habere consortium iudicio neque ipsam aut aliquam praeterea concessam a maioribus religionem genus esse arbitror criminis. Testes sunt leges a me in exordio imperii mei datae, quibus unicuique, quod animo inbibisset, colendi libera facultas tributa est. Nec haruspicinam reprehendimus, sed nocenter exerceri vetamus. DAT(A) (ANTE DIEM ) IIII KAL(ENDAS) IUN(IAS) TREVIRIS GRATIANO A(UGUSTO) II ET PROBO CON(SULIBU)S. DIE KAISER VALENTINIAN, VALENS UND GRATIAN, DIE AUGUSTI, AN DEN SENAT. Ich bestimme, daß die Haruspicin nichts gemeinsam hat mit den Fällen von maleficia, noch halte ich sie – ebensowenig wie irgendeine andere von den Vorfahren anerkannte Religion – für eine Art von Verbrechen. Zeugen dafür sind meine zu Beginn meiner Herrschaft erlassenen Gesetze, durch welche einem jeden die Freiheit zugestanden wurde, das zu verehren, was er in seiner Seele aufgesogen hat. Wir verbieten nicht die Haruspicin, sondern untersagen, daß sie ausgeübt wird, um zu schaden. ERTEILT 4 TAGE VON DEN KALENDEN DES JUNI ZU TRIER UNTER DEN KONSULN GRATIANUS AUGUSTUS ZUM ZWEITEN MAL UND PROBUS.
Ob dieses Gesetz, in Anbetracht der vorigen und nachfolgenden Verbote, jemals angewendet wurde, wird allgemein bezweifelt; auch sind die im Text erwähnten Toleranzerlasse nicht bekannt. Deutlich wird jedoch, warum die Haruspices gefürchtet werden: Sie könnten ihre Fähigkeit verwenden, um Schaden zuzufügen. Dieser Aspekt, der bereits in der Gleichsetzung von haruspices und malefici, die sich unerwünscht sogar im kaiserlichen Gefolge aufhalten, als Grund für das Vorgehen gegen sie zu vermuten war, ist mit dieser Aussage bestätigt. 123 Vgl. FÖGEN 1993, S. 37f. und S. 324f.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Nachdem die nächtlichen Feiern zweimal schon verboten wurden, gibt es unter Theodosius I. im Jahr 381 mit einer mehr nebensächlichen Bemerkung ein weiteres Verbot, in dem auf frühere Bestimmungen, daß sacrificia sowohl bei Tag als auch bei Nacht untersagt sind, hingewiesen wird. Das Schreiben geht an den Praetorianerpraefekten des Orients Florus.124 In der Hauptsache geht es wiederum um die Erkundung von Unbekanntem und die Ausübung der Riten in einem Tempel, also in der Öffentlichkeit: Cod. Theod. 16.10.7 (21. Dec. 381)
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IMP(ERATORES) GR(ATI)ANUS, VAL(ENTINI)ANUS ET THEOD(OSIUS) A(UGUSTI) FLORO P(RAEFECTO) P(RAETORI)O. Si qui vetitis sacrificiis diurnis nocturnisque velut vesanus ac sacrilegus incertorum consultorem se inmerserit fanumque sibi aut templum ad huiuscemodi sceleris executionem adsumendum crediderit vel putaverit adeundum, proscriptione se noverit subiugandum, cum nos iusta institutione moneamus castis deum precibus excolendum, non diris carminibus profanandum. DAT(A) (ANTE DIEM) XII KAL(ENDAS) IAN(UARIAS) CONSTANTINOP(OLI) EUCHERIO ET SYAGRIO CON(SULIBU)S. DIE KAISER GRATIANUS, VALENTINIANUS ET THEODOSIUS, DIE AUGUSTI, DEM FLORUS, PRAEWenn ein gleichsam Wahnsinniger und noch dazu Religionsfrevler, obwohl Sakralhandlungen bei Tag oder Nacht verboten worden sind, sich als Berater über ungewisse Dinge einläßt und glaubt, daß man zur Ausübung eines solchen Frevels ein Heiligtum oder einen Tempel benötige, oder meint, man müsse einen solchen betreten, so soll er wissen, daß er der Verbannung unterliegt. Durch unsere gerechte Vorschrift mahnen wir nämlich an, daß ein Gott durch fromme Gebete verehrt werden muß und nicht durch unheilverkündende Sprüche entweiht werden darf. ERTEILT 12 TAGE VOR DEN KALENDEN DES JANUAR ZU CONSTANTINOPEL UNTER DEN KONSULN EUCHERIUS UND SYAGRIUS. TORIANERPRAEFEKT.
Nach der Vermutung, daß es zu dem Aspekt der nächtlichen Feiern durch die Erlaubnis von Hauskulten, die zum Teil nachts stattfinden, gekommen sein könnte, ist in diesem Gesetz ein kleines allumfassendes ‚Sammelverbot‘ zu sehen: Es werden Divination und sämtliche paganen Sakralfeiern untersagt. Wenige Jahre nach diesem Gesetz geht an den Amtsnachfolger, den Praetorianerpraefekten des Orients, Cynegius,126 im Jahre 385 ein Verbot, das ganz konkrete Informationen über die sakrale Handlung, die es verbietet, liefert: Untersagt ist die Vorhersage aus Leber und Eingeweiden von Schlachttieren. Cod. Theod. 16.10.9 (25 Mai. 385) IDEM A(UGUSTI) CYNEGIO P(RAEFECTO) P(RAETORI)O. Ne quis mortalium ita faciendi sacrificii sumat audaciam, ut inspectione iecoris extorumque praesagio vanae spem promissionis accipiat vel, quod est deterius, futura sub execrabili consultatione cognoscat. Acerbioris etenim inminebit supplicii cruciatus eis, qui contra vetitum praesentium vel futurarum rerum explorare temptaverint veritatem. DAT(A) (ANTE DIEM) VII KAL(ENDAS) IUN(IAS) CONSTANT(INO)P(OLI) ARCADIO A(UGUSTO) I. ET BAUTONE V. C(AESARE) CON(SULIBU)S.
124 PLRE 1971, S. 367f.: Florus Nr. 1, Praefectus Praetorio Orientis von 381–383 n. Chr. 125 Vgl. FÖGEN 1993, S. 39 und S. 327. 126 PLRE 1971, S. 235f.: Maternus Cynegius Nr. 3, Praefectus Praetorio Orientis von 384–388, Consul 388 n. Chr.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
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DIESELBEN AUGUSTI DEM PRAETORIANERPRAEFEKTEN CYNEGIUS. Damit nicht irgendeiner der Sterblichen derart die Kühnheit, eine Sakralhandlung zu begehen, aufbringt, daß er durch Untersuchung von Leber und Vorhersage aus Eingeweiden die Hoffnung auf ein nichtiges Versprechen faßt oder, was schlimmer ist, die Zukunft unter einer fluchwürdigen Befragung erkennt. Nämlich denen, die gegen das Verbot versuchen, die Wahrheit (veritas) der gegenwärtigen und zukünftigen Dinge zu erkunden, wird die Marter einer ziemlich harten Bestrafung bevorstehen. ERTEILT 7 TAGE VOR DEN KALENDEN DES JUNI ZU CONSTANTINOPEL UNTER DEN KONSULN ARCADIUS AUGUSTUS ZUM ERSTEN MAL UND BAUTO CAESAR ZUM FÜNFTEN MAL.
Als das Bedrohliche wird die Fähigkeit, die Zukunft zu erkennen, genannt. Auffällig ist, daß hier nun die Tätigkeit genau beschrieben wird und nicht mehr die zuvor bekämpften Spezialisten für diese Vorhersagetechnik erwähnt werden. Für die Deutung aus Leber und Eingeweiden ist die Beteiligung der Haruspices zu erwarten, weil dieses Gebiet in ihre Kompetenz fällt, doch läßt der Text die Frage des Personals offen. In dichter Folge gibt es aus den Jahren 391/392 unter Theodosius dem Großen verschiedene Schreiben, von denen eines an Albinus, den Praefekten der Stadt Rom,127 und eines nach Ägypten geht. Zunächst dasjenige nach Rom: Cod. Theod. 16.10.10 (24. Febr. 391) 128
IDEM A(UGUSTI) (THEODOSIUS, VALENTINIANUS ET ARCADIUS) AD ALBINUM P(RAEFECTUM) P(RAETORI)O. Nemo se hostiis polluat, nemo insontem victimam caedat, nemo delubra adeat, templa perlustret et mortali opere formata simulacra suspiciat, ne divinis adque humanis sanctionibus reus fiat. Iudices quoque haec forma contineat, ut, si quis profano ritui deditus templum uspiam vel in itinere vel in urbe adoraturus intraverit, quindecim pondo auri ipse protinus inferre cogatur nec non officium eius parem summam simili maturitate dissolvat, si non et obstiterit iudici et confestim publica adtestatione rettulerit. Consulares senas, officia eorum simili modo, correctores et praesides quaternas, apparitiones illorum similem normam aequali sorte dissolvant. DAT(A) (ANTE DIEM) VI KAL(ENDAS) MART(IAS) MED(IOLANO) TATIANO ET SYMMACHO CON(SULIBU)S. DIESELBEN AUGUSTI AN ALBINUS DEN PRAETORIANERPRAEFEKTEN. Niemand soll sich mit Opfertieren besudeln, niemand ein schuldloses Opfertier töten, niemand die Tempelbezirke betreten, die Heiligtümer durchziehen und Bildnisse, die aus vergänglichem Werk geformt worden sind, verehren, damit er nicht durch göttliche und menschliche Verordnungen in Anklagestand versetzt wird. Auch die Richter soll diese Verfügung betreffen, daß, wenn irgend jemand, der einen heidnischen Ritus ausgeführt hat, irgendwo, entweder auf dem Weg oder in der Stadt, einen Tempel mit der Absicht betritt, zu beten, er gezwungen werden soll, sogleich 15 Pfund Gold einzuzahlen, und sein Amt soll die gleiche Summe zur gleichen Zeit zahlen, außer wenn er dem (zuständigen) Richter entgengentritt und sich sofort durch öffentliches Zeugnis zurückwendet. Konsulare sollen sechs, seine Ämter in gleicher Höhe, Korrektoren und Praeses vier und deren Unterbeamte die gleiche Menge mit gleichem Anteil zahlen. ERTEILT SECHS TAGE VOR DEN KALENDEN DES MÄRZ ZU MAILAND UNTER DEN KONSULN TATIANUS UND SYMMACHUS.
127 PLRE 1971, S. 37f. Ceionius Rufius Albinus Nr. 15, Praefectus Urbis Romae von 389–391. 128 Wegen der Unklarheit über die erlassenden Kaiser orientiert an MOMMSEN 1905, textkritischer Apparat ad loc. (S. 899) Anm. 1.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Ein ganz neues Element ist in die Verbote eingefloßen und nimmt sogleich relativ viel Raum ein, nämlich die Bestimmung darüber, wieviel ein Gesetzesbruch kostet. Es kostet nicht mehr das Leben, wie in den früheren Verboten, z.B. mit den Verboten von 357 und 358 unter Konstantius II., sondern höchstens 15 Pfund Gold, eine genau festgesetzte Summe, die der Betroffene selbst zu zahlen hat und die er mit gleichem Anteil auch aus seiner Amtskasse beisteuern muß. Es verwundert, daß ausschließlich für kaiserliche Beamte ein Strafmaß festgesetzt ist. Das läßt darauf schließen, daß sogar diese Personengruppe nicht den Gesetzen Folge leistet, so daß ihr Ungehorsam eine einträgliche Finanzquelle zu werden verspricht. Wie die Verstöße von Leuten aus dem Volk zu ahnden sind, wird nicht erwähnt. Bezüglich der Sakralhandlungen werden Divinationstechniken nicht gesondert aufgeführt. Nur in dem Schlachtverbot könnte eine Eingeweideschau implizit angesprochen sein. Schlachtrituale sind in dem folgenden Schreiben nach Ägypten an den Praefectus Augustalis Euagrius129 und an Romanus, den Comes Aegyptens,130 nicht einmal erwähnt. Das Verbot bezieht sich allgemein auf sakrale Riten und die Hälfte des Textes ist den bei Zuwiderhandlung zu zahlenden Summen gewidmet: Cod. Theod. 16.10.11 (16. Iun. 391) IDEM A(UGUSTI) EUAGRIO P(RAE)F(EC)TO AUGUSTALI ET ROMANO COM(ITI) AEG(YPTI). Nulli sacrificandi tribuatur potestas, nemo templa circumeat, nemo delubra suspiciat. Interclusos sibi nostrae legis obstaculo profanos aditus recognoscant adeo, ut, si qui vel de diis aliquid contra vetitum sacrisque molietur, nullis exuendum se indulgentiis recognoscat. Iudex quoque si quis tempore administrationis suae fretus privilegio potestatis polluta loca sacrilegus temerator intraverit, quindecim auri pondo, officium vero eius, nisi conlatis viribus obviarit, parem summam aerario nostro inferre cogatur. DAT(A) (ANTE DIEM) XVI KAL(ENDAS) IUL(IAS) AQUIL(EIAE) TATIANO ET SYMMACHO CON(SULIBU)S. DIESELBEN AUGUSTI DEM EUAGRIUS, DEM KAISERLICHEN PRAETORIANERPRAEFEKTEN, UND ROMANUS, DEM COMES AEGYPTENS. Keinem soll das Recht zu Sakralhandlungen erteilt werden, niemand soll Tempelbezirke umschreiten, niemand Tempel hochachten. Sie sollen sich soweit in Erinnerung rufen, daß die ungeweihten Zugänge durch das Hindernis unseres Gesetzes abgesperrt worden sind, daß, wenn wer gegen das Verbot irgend etwas in Bezug auf die Götter oder auf sakrale Dinge ins Werk setzen wird, er sich erinnert, daß er aus keinerlei Nachsichtigkeiten (von der Bestrafung) ausgenommen werden darf. Auch ein Richter soll, wenn irgendeiner zu seiner Amtszeit den Eingang und besudelte Plätze mit dem Vorzugsrecht seines Amtes als gottloser Frevler betritt, gezwungen werden, fünfzehn Pfund Gold, in unsere Kasse zu zahlen und auch dessen Amtsstelle, außer es steht der Finanzkraft entgegen, soll die gleiche Summe zahlen. ERTEILT 16 TAGE VOR DEN KALENDEN DES JULI ZU AQUILEIA UNTER DEN KONSULN TATIANUS UND SYMMACHUS.
Das Höchstmaß von 15 Pfund Gold, das der Betreffende zu zahlen hat, soll, wie nun extra betont wird, in die kaiserliche Kasse fließen. Außerdem soll die Amts-
129 PLRE 1971, S. 286: Euagrius Nr. 7, Praefectus Augustalis 391 n. Chr., er unterstützte zusammen mit Romanus den Patriarchen von Alexandria, indem er Tempel zerstören ließ. 130 PLRE 1971, S. 769: Romanus Nr. 5.
2.4 Zum Codex Theodosianus und dem Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘
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stelle einen ebenso hohen Betrag entrichten. Über die Bestrafung einfacher Leute ist wiederum nichts gesagt. Einige der Ungenauigkeiten werden aufgehoben in einem dritten Schreiben, das in den Orient geht und hier eigentlicher Gegenstand der Untersuchung ist, nämlich Cod. Theod. 16.10.12 vom 8. Nov. 392. Wegen der verschiedenen Unterpunkte in diesem Gesetz, könnte dieses wie zuvor ein anderes,131 als eine Art ‚Sammelverbot‘ angesehen werden. Zur Verdeutlichung der Entwicklung soll auf den Text noch einmal zurückgegriffen werden: Dieser Text (s.o. S. 82 ff.) definiert zunächst, wer das ist ‚niemand‘: Leute, die ein Amt versehen, und ‚Normalvolk‘. Verboten ist die (rituelle) Schlachtung, der Kult für die Laren, Genien und Penaten, dann die Schlachtung, bei der in divinatorischer Technik die Eingeweide ausgedeutet werden. Das Strafmaß für die Eingeweideschau ist undeutlich, wird aber mit dem eines Hochverräters gleichgesetzt. Verboten ist die Bilderverehrung, der Baumkult und einen Altar aus Gras zu errichten – hierin ist wohl nochmals der Hinweis auf einen Schlachtritus enthalten, denn ein Altar aus Rasenstücken ist für das Durchführen einer rituellen Schlachtung belegt.132 Auf diese Formulierung ist nochmals einzugehen. Das Strafmaß der Enteignung für ein Zuwiderhandeln wird mit einer Entweihung begründet. Öffentliche Ausübung der Riten oder eine Ausübung auf fremdem Besitz wird mit einer Geldbuße geahndet. Ein Mitwisser – vielleicht ist hier an den Besitzer des Grundstücks, der nichts gewußt haben will, gedacht – erhält die gleiche Strafe von 25 römischen, d.h. genau abgewogenen Pfund Gold. Beamte, es sind nur Richter genannt, haben 30 römische Pfund Gold zu entrichten. Der finanziell positive Aspekt ist bei der Kurssteigerung, einer Zunahme um das Doppelte gegenüber dem vorhergehenden Gesetz (Cod. Theod. 16.10.11), nicht zu übersehen. Es ist auf die oben geäußerte Vermutung zurückzukommen, daß es sich bei den nächtlichen Feiern, die Magnentius zugelassen hatte, um den Hauskult handeln könnte. Daß in diesem ‚Sammelverbot‘ nun mit dem Erwähnen der Laren, Genien und Penaten eindeutig der Kult für Hausgötter einbezogen worden ist, könnte diese Vermutung bestätigen. Eine mögliche ‚Rechtsunsicherheit‘ wäre damit aufgehoben. Ein letztes Gesetz, das hier nicht vorenthalten werden soll, gilt als allen paganen Kulten ein Ende setzend. Es geht über 40 Jahre später, im Jahre 435, ebenfalls an einen Praetorianerpraefekten des Orients, Isidorus,133 und Verfasser sind der oströmische Kaiser Theodosius II., ein Enkel von Theodosius dem Großen, und Valentinian III., Kaiser im Westen.
131 Cod. Theod. 16.10.9. vom 25 Mai. 385, s.o. S. 94. 132 Vgl. SIEBERT 1999, S. 90 Anm. 325, dort sind als Belege für einen Rasenaltar genannt VERG. Aen. 12,118; OV. met. 7,240; 15,573; trist. 5,5,9; fast. 2,645; SIL. 4,701. Auffällig ist hier, daß ein Rasenaltar offenbar sonst nur in der Dichtung und vor allem in der epischen Dichtung belegt ist. Andere Nachweise für einen Rasenaltar nennt LATTE 1914, Sp. 1127 mit H. A. Max. et Balb. 2,5 und SERV. Aen. 12,119. 133 PLRE 1980, Bd. II, S. 631–633: Flavius Anthemius Isidorus (Nr. 9); LIPPOLD 1967, Isodoros Flavius Anthemius: Sp. 1460.
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Cod. Theod. 16.10.25 (14. Nov. 435) IMP(ERATORES) THEOD(OSIUS) ET VAL(ENTINI)ANUS A(UGUSTI) ISIDORO P(RAEFECTO) P(RAETORI)O. Omnibus sceleratae mentis paganae exsecrandis hostiarum immolationibus damnandisque sacrificiis ceterisque antiquiorum sanctionum auctoritate prohibitis interdicimus cunctaque eorum fana templa delubra, si qua etiam nunc restant integra, praecepto magistratuum destrui conlocationeque venerandae Christianae religionis signi expiari praecipimus, scientibus universis, si quem huic legi aput conpetentem iudicem idoneis probationibus inlusisse constiterit, eum morte esse multandum. DAT(A) (ANTE DIEM) XVIII KAL(ENDAS) DEC(EMBRES) CONST(ANTINO)P(OLI) THEOD(OSIO) XV ET VAL(ENTINI)ANO IIII A(UGUSTI) CON(SULIBU)S. DIE KAISER THEODOSIUS UND VALENTINIANUS, DIE AUGUSTI, DEM ISIDOR, PRAETORIANERAllen von verbrecherischem und heidnischem Geist untersagen wir die fluchwürdigen Schlachtungen von Opfertieren und die zu verdammenden heiligen Handlungen und die übrigen durch die Autorität älterer Verordnungen verbotenen und schreiben vor, daß alle ihre Heiligtümer, Tempelbezirke und Hallen, wenn irgendwelche auch jetzt noch unversehrt bestehen, gemäß der Vorschrift der Magistrate zerstört werden und durch das Aufstellen des Zeichens der zu verehrenden christlichen Religion gesühnt werden, allen Wissenden (sc. wird mitgeteilt), daß, wenn irgendeiner diesem Gesetz vor einem kompetenten Richter durch geeignete Prüfungen erwiesenermaßen gespottet hat, er mit dem Tod zu bestrafen ist. ERTEILT 18 TAGE VOR DEN KALENDEN DES DEZEMBER ZU KONSTANTINOPEL UNTER DEN KONSULN THEODOSIUS AUGUSTUS ZUM FÜNFZEHNTEN MAL UND VALENTINIAN ZUM VIERTEN MAL. PRAEFEKT.
Noch intakte Heiligtümer, falls es sie gibt, sollen zerstört und mit dem christlichen Kreuz versehen werden. Bei den Verboten von sacrificia und speziell den immolationes, den Schlachtungen, gibt es keinen Hinweis auf divinatorische Techniken, sondern wegen des Zusammenhangs mit der Kreuzerrichtung scheinen sie den paganen Kult insgesamt zu bekämpfen. Zuwiderhandeln, das heißt hier: nicht christliches Kultverhalten, soll mit dem Tod bestraft werden. Inwiefern dieser Anordnung Folge geleistet wurde, ist allein durch die Existenz dieses Gesetzes jedoch nicht dokumentiert. Ob und in welchen Gebieten die befohlene Schleifung von Tempeln und eine Kreuzesaufstellung stattgefunden hat, wäre durch archäologische Untersuchungen zu überprüfen.
2.5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN ZUR FRAGE EINER SAKRALEN TERMINOLOGIE In der Zusammenfassung, die zunächst die verschiedenen Aspekte, die sich bei dieser Durchsicht von Gesetzestexten ergeben haben, in den Blick nimmt, soll gleich der Aspekt des Strafmaßes wieder aufgenommen werden: Wurde bei Konstantin ein Haruspex mit dem Tod durch Verbrennen bestraft, wird zuletzt jemand hingerichtet, der nicht verheimlicht, daß er kein Anhänger der christlichen Glaubensrichtung ist. Die Motivation für die Tötung eines Haruspex liegt nicht in einer differierenden Glaubensauffassung, sondern in einer als Tatsache begriffenen Fähigkeit eines Haruspex, die Zukunft erkennen zu können. Mit dem Wissen, das ein Haruspex anderen voraus zu haben scheint, bedeutet er eine große Gefahr für die Kaiserherrschaft des einzelnen. Die Furcht vor Intri-
2.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zur Frage einer sakralen Terminologie
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gen und dem Herrschaftsverlust erscheint in Anbetracht der Kämpfe der anerkannten Kaiser untereinander, mit den Gegenkaisern und Usurpatoren durchaus angemessen. Der Machthaber hat ein Interesse, das, was in seinem Herrschaftsbereich vorgeht, zu kontrollieren. Heimlichkeiten, die z.B. im Privathause stattfinden, vergrößern nach der dargestellten Auffassung die Möglichkeit eines Wissensvorsprungs anderer Parteigänger. Im Gefolge des Kaisers wird die Gefahr, daß dieses Wissen Intriganten erfolgreich unterstützt, besonders hoch eingeschätzt.134 Nicht jedoch liegt der Aspekt des Kontrollverlustes und der Herrschaftsgefährdung wohl dem Verbot nächtlicher Feiern zugrunde. Die Entwicklung von womöglich einer Rechtsunsicherheit bei nicht explizit verbotenen Riten zu einem allgemeinen Verbot aller Riten hat eine Wendung gebracht, nach der nun sämtliche paganen Kulte gegenüber dem Christentum in Nachteil geraten sind. Ob für diese Divergenzen, die sich in der Frage zu den nächtlichen Feiern aufzeigen ließen, eventuell ganz andere, eher machtpolitische Motive verantwortlich sind, ist in diesem Rahmen nicht zu klären. Schließlich ist auch ein finanzieller Effekt der kaiserlichen Verbote mit Zahlungsanweisung in die kaiserliche Kasse als Motivation sichtbar geworden. In dem zuletzt dokumentierten Zeitraum ergab sich eine Zunahme der Geldstrafen um das Doppelte des vorhergehenden Maßes. Zu Sprachstil und Wortgebrauch, dem primären Untersuchungsgegenstand, war durch einen Vergleich mit vorhergehenden Gesetzen eine Entwicklung festzustellen. Hatte es zuvor zu einzelnen Aspekten paganer Kulte Verbote in relativ kurzen Schreiben gegeben, war das totale Verbot aller paganen Riten mit Codex Theodosianus 16.10.12 in einem auffallend langen Schreiben erfolgt. Die Länge erklärt sich durch Auffzählungen von verschiedenen Gegenständen paganen Kultes, die verboten sein sollen, so daß hier gegenüber den vorhergehenden Gesetzen jetzt eine Sammlung von Verboten vorliegt. Nachweisbar ist dieses Zusammenführen von Verboten nicht nur aufgrund sachlicher Aspekte, sondern auch durch eine Wiederaufnahme von Formulierungen aus früheren Gesetzen: So findet sich – außer hier im Text, dem Erlaß vom 8. November 392 – das Substantiv hostia nur noch ein einziges Mal in einem früheren Schreiben vom 24. Februar 391 n. Chr.135 und später ein weiteres Mal in dem Ausdruck hostiarum immolationes in der Anordnung zur Schließung aller Tempel vom 14. November 435 n. Chr.136 Aus dem Schreiben vom 24. Februar 391 n. Chr. ist wörtlich die Wendung insontem victimam caedere zitiert. Das Verb sacrificare, das mehrfach in diesem Text gebraucht wird, ist auch in dem zweiten Text aus dem vorhergehenden Jahr, vom 16. Juni 391 n. Chr.,137 verwendet worden, und zwar mit sacrificandi potestas ebenso – wie hier an einer Stelle mit sacrificandi genus – in einer Gerundivkonstruktion. Im Gegensatz zu dem Verb kommt 134 135 136 137
FÖGEN 1993 verdeutlicht die Mechanismen von Wissen und Macht ausführlich. Cod. Theod. 16.10.10 (s.o.). Cod. Theod. 16.10.25 (s.o.). Cod. Theod. 16.10.11 (s.o.).
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
das Substantiv sacrificium so häufig vor, daß hieraus eine Textabhängigkeit nicht unmittelbar erkennbar ist. Aber das Wort delubra, das zwar nicht in dem hier primär behandelten Codex-Text vorkommt, findet sich so selten in dem untersuchten sechzehnten und neunten Buch, daß sich auch durch diesen Wortgebrauch eine Abhängigkeit der Texte von einem sehr frühen, vom 15. Mai 319,138 dann vom 24. Februar 391, 16. Juni 391 und 14. November 435 vermuten läßt. Zudem erinnert der Ausdruck delubra adeat139 stark an das Vergilische delubra adeunt bei der Eingeweideschau der Dido (VERG. Aen. 4,56). Ebenso ließen sich in diesem als ‚Sammelgesetz‘ charakterisierten Text nicht nur mit spirantia exta consulere, sondern auch mit erecta effossis ara cespitibus Ausdrucksweisen aufzeigen, die auf die klassische Dichtung verweisen.140 Fragt man nach dem Grund für diese Wortwahl, ergibt sich folgende Möglichkeit: Da offenbar ein wiederholtes Verbot nötig gewesen war, wie die vielen kleinen Vorgänger-Verbote verdeutlichen, ist vielleicht darauf zu schließen, daß nicht verstanden worden ist, was eigentlich verboten worden war. Aus diesem Grunde hat man in diesem ‚Sammelgesetz‘ jetzt auch zahlreiche Ausdrucksmöglichkeiten genutzt, um sich verständlich zu machen. So läßt sich die pleonastische Ausdrucksweise, die insbesondere für das Schlachtritual aufgefallen ist, erklären. Der Verfasser, oder die verfassende Kanzlei, hat sich eben der klassischen Dichtung bedient, wenn er mit dem Vergilischen spirantia exta consulere das Ritual der Eingeweideschau und mit den weiteren Formulierungen – insontem victimam caedere; immolare hostiam, sacrificaturus, erecta effossis ara cespitibus – rituelles Schlachten in jeder Form als verbotene Handlung gekennzeichnet hat. Dieser Befund zu spirantia exta consulere als Wiederaufnahme einer Vergilischen Formulierung aus der Dido-Episode bedeutet eine Klärung der Frage nach einer ‚Sakralsprachlichkeit‘ des Ausdrucks. Eine ‚Sakralsprachlichkeit‘ – wie auch immer diese genau zu definieren wäre – liegt nicht deshalb vor, weil sich etwa die Wendung, vermittelt durch VERGIL, auf eine ‚sakralrechtliche‘ Ordnung republikanischer Zeit zurückführen ließe. – Daß sich für exta consulere ein anderer Kontext als ein ‚sakralsprachlicher‘ darstellt, ist in den vorhergehenden Abschnitten dargelegt worden. – Der Verlauf ist vielmehr umgekehrt: Die eigentümliche poetische Wendung spirantia exta consulere kann erst mit einer Aufnahme in den Codex, der in einem seiner Teile sakrale Angelegenheiten regelt, aufgrund dieses Kontextes als ‚sakralsprachlich‘ bezeichnet werden. Es hat „eine Okkupation von ehemals ‚rechtsfreiem‘ Sinn, also eine Verrechtlichung“ des Begriffes stattgefunden.141 Es trifft sich die hier verfolgte Fragestellung mit der von MARIE THERES FÖGEN in ihrer Untersuchung zu spätantiken Gesetzen gestellten Forderung, daß bei der Ungeklärtheit des Sprachstils „(es) gilt, den Heimatsitz dieser Wörter (sc.
138 139 140 141
Cod. Theod. 9.16.2 (s.o.). Cod. Theod. 16.10.10 (24. Febr. 391, s.o.). Zu den Rasenaltären s.o. Anm. 132. S.u. Anm. 142.
2.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zur Frage einer sakralen Terminologie 101
im Codex) und ihre Bedeutung an diesem Sitz ausfindig zu machen.“142 Dieses Ziel ist mit der exemplarischen Untersuchung zur Wendung exta spirantia consulere erreicht. Ein Vorschlag zu einer Bestimmung von sakralsprachlichen Ausdrücken soll abschließend erlaubt sein: Für die Bildung einer theoretischen Grundlage ist in der exemplarischen Untersuchung von exta consulere deutlich geworden, daß als ein wesentliches Kriterium der Referenzort gelten muß. Dieser ist für den Einzelbeleg auf dessen Provenienz aus einem sakralen oder sakrale Angelegenheiten regelnden Text zu prüfen, wie mit einem negativen Ergebnis zu ‚hostia consultatoria‘ vorgeführt, aber positiv für die Protokolle der Fratres Arvales oder den Codex Theodosianus zu vermerken. Als ‚sekundäre Referenz‘ könnte man die Angaben aus der antiquarischen Literatur betrachten, die einzelne Ausdrücke bestimmten Sakralordnungen zuweist, wie den libri pontificum oder der disciplina etrusca. Diese Angaben bedürfen jedoch einer Überprüfung, vor allem bei gegensätzlich erscheinenden Aussagen, weil die Referenten mitunter eigene Interessen verfolgen, wie zu MACROBIUS und SERVIUS gezeigt. Daß beispielsweise bei MACROBIUS und SERVIUS von sakralen Angelegenheiten, genauer von kultischen Verhältnissen berichtet wird, erscheint nicht ausreichend für die Annahme, daß auch kultische Wirklichkeit, in diesem Fall der Zeit VERGILs, dargestellt ist. Stützt sich die Untersuchung auf der einen Seite auf einen ‚sakralen Referenzort‘, verspricht auf der anderen Seite eine empirische Untersuchung Gewinn. Auf der Basis einer Untersuchung des begrifflichen Umfeldes läßt die Verteilung eines Begriffes auf die verschiedenen Textgattungen und die zeitliche Verteilung ein Einschätzen der Entwicklung zu. Die Ergebnisse aus allen vier Untersuchungen zur Problematik einer ‚sakralen Terminologie‘ lassen sich nochmals kurz zusammenfassen: Veranlaßt von der starken, aber doch nur hypothetischen Orientierung in der Forschung an einer ‚sakralen Begrifflichkeit‘ wurde exemplarisch der Ausdruck ‚exta consulere‘ empirisch untersucht. Hierbei ließ sich im wesentlichen keine ‚Sakralsprachlichkeit‘ feststellen: Das begriffliche Umfeld zeigte keine Beschränkung auf die Eingeweideschau; die maßgebliche grammatische Konstruktion des Verbs consulere mit einem Akkusativ der ‚sakralen Sache‘ als direktem Objekt im Zusammenhang von Divination ist zuerst bei VERGIL belegt. Für die relevanten Ausdrücke consulit exta (VERG. Aen. 4,64) und lucos ... consulit (VERG. Aen. 7,83f.) konnten poetische Stilmittel nachgewiesen werden: Bei dem zweiteiligen Satz in der LatinusPassage (7,83f.) liegt eine Vertauschung der Verben vor, so daß sich der einteilige Satz der Dido-Episode (4,64) als verkürzter alleinstehender Teil eines solchen 142 Vgl. FÖGEN 1993, S. 230: „(es) gilt, den Heimatsitz dieser Wörter (sc. im Codex) und ihre Bedeutung an diesem Sitz ausfindig zu machen. Denn erst dann ist festzustellen, mit wem ‚der Gesetzgeber‘ kommunizierte, welchen Sinn er in das Gesetz hineinlegte, um dann die Botschaft als Befehl formuliert an die Untertanen weiterzugeben. Systemisch gesehen bedeuten solche Verweisungen auf zuvor fremde Horizonte eine Koppelung zweier zunächst unabhängiger Systeme, also eine Entdifferenzierung. Von der Seite des Rechts gesehen, handelt es sich um eine Okkupation von ehemals ‚rechtsfreiem‘ Sinn, also eine Verrechtlichung.“
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2 Zur Problematik einer sakralen Terminologie: Das Beispiel ‚consulere‘
Satzes denken läßt. Zum zweiten ließ sich durch eine Quellenkritik der Ausdruck ‚hostia consultatoria‘ als eine dem MACROBIUS zuzurechnende Formulierung bestimmen. Drittens konnte eine Neuinterpretation einer Stelle bei SERVIUS (Aen. 4,64) mit seiner Erwähnung von haruspices, dessen eigenes historisierendes Interesse, aber ein vernachlässigter Bezug zum poetischen Kontext nachgewiesen werden. Keinesfalls aber ist seine Verwendung der Ausdrücke exta inspicere bzw. consulere als Differenzierung in zwei Riten unterschiedlicher Provenienz zu verstehen, sondern es konnte verdeutlicht werden, daß die Verben als Synonyme gebraucht sind, denn der von VERGIL verwendete Ausdruck exta consulere weist das Stilmittel der Verfremdung auf und bedurfte einer Erklärung. Viertens konnte für den Ausdruck spirantia exta consulere mit seiner Vergilischen Herkunft ein Text des Codex Theodosianus aus dem Jahre 392 n. Chr. (Cod. Theod. 16.10.12) als sakralrechtlicher Referenzort bestimmt und damit eine Entwicklung von einer poetischen Wendung aus augusteischer Zeit hin zu einem erst in der Spätantike als sakralrechtlich zu bezeichnenden Ausdruck beschrieben werden.
3 METHODEN ZU EINEM NEUANSATZ Es wurde im vorhergehenden gezeigt, daß über eine ‚sakrale Terminologie‘ den Ritus der Eingeweideschau zu rekonstruieren nicht geglückt erscheint, und wie problematisch es ist, eine ‚sakrale Terminologie‘ vorauszusetzen, ohne daß Kriterien zu ihrer Bestimmung bestehen. Damit ist auch klar geworden, daß eine weitere Arbeit zu einer ‚sakralen Terminologie‘ bei der Eingeweideschau nicht unmittelbar möglich ist, da es an theoretischer Grundlage fehlt. Für eine weitere Erforschung der Eingeweideschau ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Dringend notwendig ist, mit modernen Methoden unter neuen Fragestellungen an eine Bearbeitung zur Eingeweideschau im römischen Kulturkreis heranzugehen. Zwar gibt es, wie in der Einleitung knapp beschrieben, grundsätzlich neue Ansätze in der Forschung zu Ritus und Kultus der Antike, doch fehlt es in der hier gestellten speziellen Frage an einem Abgleich zwischen neuen Methoden und alten Ergebnissen.
3.1 QUELLENERMITTLUNG UND QUELLENAUSWAHL An erster Stelle ist eine verbesserte Vorgehensweise nötig, Quellen zur Eingeweideschau zu erschließen. Als großes Manko bei der dargestellten Rekonstruktion des Rituals, die zu einer etruskisch-römischen Dichotomie führte, erscheint, daß in der Konzentration auf die Begrifflichkeit der Kontext zur Eingeweideschau ungenügend untersucht wurde. Kontext ist hier in zweifacher Weise zu verstehen: in erster Linie als der rituelle Kontext mit der Frage nach Gesamtdarstellungen des Rituals; in zweiter Linie als der dokumentarische Kontext mit der Frage, wie eine solche Ritendarstellung in das einzelne Dokument eingebunden ist. Anzusetzen ist, um Gesamtdarstellungen der Eingeweideschau zu suchen, die Informationen über Ablauf und Personal beim Ritus geben, mit einer Revision und Erweiterung der Datenbasis. Summarisch soll die Breite der Quellenbasis umrissen werden, doch können die Zeugnisse hier im einzelnen nicht diskutiert werden. An archäologischem Material lassen sich ca. 40 Objekte zusammenstellen, von denen hier in chronologischer Reihenfolge einige kurz aufgeführt sein sollen: Ein großer Teil bietet Darstellungen von Personen, die man als Haruspices interpretiert1. Inwieweit die Interpretation zutrifft, ist für Einzelfälle noch zu untersuchen. Außer diesen Darstellungen liegen zumeist Bildzeugnisse von einer Eingeweideschau vor. Sie stellen gewissermaßen Momentaufnahmen dar und lassen daher eine Auswertung mit der Frage nach dem Ablauf eines Ritus kaum zu. Einen 1
MAGGIANI 1989; RONCALLI 1981.
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3 Methoden zu einem Neuansatz
besonders großen Anteil, etwa die Hälfte der zusammengestellten Objekte, bilden attische schwarz- und rotfigurige Vasen mit griechischer Bildthematik, die in Etrurien gefunden worden sind und ungefähr in den Zeitraum zwischen 530 und 450 v. Chr. datiert werden.2 Neben zwei etruskischen Handspiegeln, dem sogenannten Kalchas-Spiegel3 und wie Tages den Tarchon in der Eingeweideschau unterrichtet4, sind zwei Lebermodelle – eine Tonleber5 und die 1877 bei Piacenza gefundene Bronzeleber6 – herauszuheben. Als einziges Dokument stellt ein römisches historisches Relief aus traianischer oder hadrianischer Zeit, also aus dem Zeitraum zwischen 98 n. Chr. und 138 n. Chr., eine Eingeweideschau dar. Es zeigt den Magistrat mit dem Kaiser in der Mitte und Kultpersonal mit dem auf dem Rücken liegenden geschlachteten Tier vor vermutlich dem Iuppitertempel. Das Relief ist schon vielfach besprochen worden.7 Es gibt von diesem Relief etliche renaissancezeitliche Skizzen, die aber meistens nur Ausschnitte bieten. Eine von ihnen gibt jedoch eine sehr genaue Gesamtdarstellung wieder, so daß sie zu einer Rekonstruktion des Reliefs beitragen kann.8 Zahlreiche epigraphische Belege, die über das Suchwort haruspex und ähnliches ermittelt werden können, lassen keine Ritenbeschreibung erwarten und werden daher nicht weiter berücksichtigt. In neueren prosopograpischen und sozialgeschichtlichen Studien ist dieses Material erschlossen.9 Es lassen sich drei Inschriften hervorheben, die etwas genauer von einer Schlachtung mit Beschau der Eingeweide berichten, so eine römische Inschrift, die bezüglich einer Ritendarstellung und des Wortgebrauchs vielversprechend erscheint,10 und die Protokolle der Fratres Arvales aus den Jahren 218 n. Chr. und 240 n. Chr.,11 die bereits früher in die Diskussion um die litatio eingeflossen sind. Für eine Ermittlung von literarischen Quellen liegen verschiedene ältere Sammlungen vor, so von GEORG BLECHER 1905 und davor von JOACHIM MARQUARDT 1885, der auch auf das umfangreiche Werk von BARNABÉ BRISSON, zuerst 1583 erschienen, verweist. Hingewiesen werden soll auch auf die Zusammenstellungen von ARTHUR STANLEY PEACE in seinen Kommentaren zu CICEROs De Divinatione 1920–1923 und zu VERGILs Aeneis 1935. Verschiedene Hilfsmittel, die früher nicht zu Verfügung standen, wie Computerkonkordanzen und EDV, haben eine Ermittlung von Quellen aufgrund von Wörtern ermöglicht. Um Texte auszuwählen, die den Ritus der Eingeweideschau darstellen, ist hier nach relevanten Begriffen gesucht worden. Einige dieser Begriffe, aber nicht alle, sollen hier genannt werden: für die Organe nach exta, vis2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Vgl. DURAND / LISSARRAGUE 1979. Vatikan 12240. Florenz 77759. Rom, Villa Giulia 3786. Piacenza 1101. Paris, Louvre MA 978; 1089. Berlin, Kupferstichkabinett, 79 D 1. Vgl. HAACK 2003. Belegstelle: CIL 6,32328; dazu vgl. SCHEID 1995, S. 27f. CFA 100; CFA 114, s.o. Kap. 1.
3.2 Methoden zu einer Neubearbeitung der Quellen
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cera (Eingeweide), fibra (Fasern), iecur, fel, pulmo, cor (Leber, Galle, Lunge, Herz), für die Tätigkeiten bei der Schau nach litare (günstig opfern), inspicere, consulere, quaerere, explorare (hineinschauen, befragen, erkunden), für das Schlachttier nach pecus, hostia, victima oder für den religiösen Experten nach haruspex, vates, sacerdos (‚Seher‘). So läßt sich aufgrund einer Häufung der genannten themabezogenen Ausdrücke eine Auswahl treffen. Aus den ermittelten lateinischen Belegen zur Eingeweideschau in der römischen Kultur eignen sich nur diejenigen für eine Untersuchung zum Ritus, die eine mehr oder weniger genaue Beschreibung des Rituals bieten. Unter dieser Maßgabe kommen insbesondere Stellen wie aus den historiographischen Schriften von LIVIUS, TACITUS oder SUETON oder griechisch schreibender Historiographen nicht in Betracht. Ebenso verhält es sich mit etlichen poetischen Texten: Es finden sich nur knappe Erwähnungen der Eingeweideschau, manchmal innerhalb eines Kataloges von divinatorischen Verfahren, ohne daß eine Ritendarstellung geboten ist.12 Die Anforderung, eine komplexe Darstellung der Eingeweideschau zu bieten, erfüllt eine nur geringe Anzahl von Texten: Die sechs gefundenen Beispiele sind allesamt poetische Texte, Textausschnitte aus dramatischen und epischen oder epennahen Gattungen von VERGIL bis SILIUS ITALICUS: VERGIL mit der Eingeweideschau der Dido in der Aeneis; OVID mit Cipus in den Metamorphosen;13 LUCAN mit Arruns im Bellum civile; SENECA mit Tiresias und Manto im Oedipus und noch einmal SENECA mit Atreus im Thyestes; und an letzter Stelle SILIUS ITALICUS mit dem jungen Hannibal und einer sacerdos in den Punica. Mit dieser Auswahl sind nun gerade diejenigen Texte vertreten, die einen großen Anteil der Belege ausmachen, die schon für die Hypothese einer etruskischrömischen Dichotomie der Eingeweideschau herangezogen worden sind. Dieser Befund hat zur Konsequenz, daß eine neue Bearbeitung zum Ritus der Eingeweideschau nicht aufgrund veränderter Daten, sondern veränderter Methoden stattfinden muß.
3.2 METHODEN ZU EINER NEUBEARBEITUNG DER QUELLEN Abgesehen davon, daß bei der früheren Forschung zur Eingeweideschau der textuelle Kontext zu den hypothetisch ermittelten Begriffen keinerlei Beachtung gefunden hatte, fehlte es auch an einer literaturhistorischen Einordnung. Es war vor12 Beispielsweise PLAUT. Pseud. 334; 449–457; 489f.; VERG. georg. 1,483–486; 2,193f.; 3,489– 493; VERG. Aen. 10,175–177; 12,213–215; TIBULL. 1,8,1–8; 2,1,21–30; 2,5,1–18; 3,4,1–16; PROP. 4,1,17–26; 4,1,103–108; OV. met. 7,600f.; 15,130 ff.; 15,814; fast. 1,178–180; MANIL. 1,91–94; 4,901–914; SEN. Tro. 355f.; VAL. FL. 3,253f.; STAT. Theb. 1,504–508; 2,244–248; 346–350; 3,456–459; 549–555; 4,13–15; 406–418; 461–468; 500; 507–511; 5,174–176; 638– 642; 8,174–181; 10,666–668; 11,12–15; Ach. 1,514–522; 2,12–19; MARTIAL. 3,24; SIL. 3,344f.; 5,162–164; 9,15; CLAUD. Eutrop. 18,1,9–13; SIDON. carm. 1,21; 2,85; 5,131; 9,203; 16,29; DRAC. Rom. 5,129–137; 10,225–227 (Medea); CORIPP. Ioh. 3,80–90. 13 Zur Gattung des Kollektivgedichts und zur Nähe zur epischen Dichtung aufgrund des Hexameters als Versmaß vgl. CONTE 1997, S. 219f.
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3 Methoden zu einem Neuansatz
ausgesetzt worden, daß die Begriffe aus der historischen Wirklichkeit stammten. Daß sie aus der literatur-historischen Wirklichkeit stammen könnten, also auf literarischer Tradition beruhen, wurde nicht in Betracht gezogen, statt dessen sind die Texte „als Fundgrube für Sachliches“ verwendet worden.14 Verstärkt auf die Frage nach der Historizität der Quellen einzugehen wurde auch von anderer Seite angemahnt.15 Kritisiert ist damit zu Recht ein Verständnis, das durch eine referentiell aufgefaßte Informationsübermittlung16 zustande gekommen ist. Konsequenz für eine unverzichtbare quellenkritische Methode muß sein, daß nicht das berichtete Ereignis, sondern an erster Stelle das Dokument datiert wird.17 Mit der Frage nach der Historizität ist zu untersuchen, inwieweit die einzelnen Zeugnisse den Eigenarten eines bestimmten Typs von Quellen unterliegen und inwieweit sie historische Fakten mitteilen. Um ihren Quellenwert zu bestimmen, bieten ihre unterschiedlichen Funktionen und Darstellungsformen eine Orientierung. Der Aspekt der Funktion, die Frage nach dem ‚Sitz im Leben‘ der Zeugnisse hilft, deren Verhältnis zur historischen Wirklichkeit zu bestimmen. Als Kriterium für die Nähe der Quelle zu dem zu erforschenden Gegenstand muß die unmittelbare Wirksamkeit des Dokumentes auf die Zeitgenossen gelten, das heißt, daß durch das Dokument Angelegenheiten des damals gegenwärtigen Lebens geregelt, kritisiert oder kommentiert werden, wie CANCIK-LINDEMAIER fordert.18 Für eine Typologisierung der Quellen postuliert sie drei übergeordnete Gruppierungen: offizielle Dokumente, private Dokumente und literarische Überlieferung. Diese bilden Untergruppen; für die literarische Überlieferung, auf die hier wegen der getroffenen Auswahl zu beschränken erlaubt sein soll, sind gattungsorientiert Fach- und Gebrauchsprosa zu nennen, Dichtung, Historiographie, ‚fiktionale Literatur‘, moraltheologische oder naturphilosophische Spekulationen. Außerdem sei eine ‚Stratifizierung‘ erforderlich, das heißt, die Elemente der Überlieferung sind hinsichtlich ihrer Intention zu beurteilen, ob sie beispielsweise eine historiographische Phantasie darstellen oder politische Tendenz, juristisches oder antiquarisches Interesse zeigen.
14 Dies bemängelt im Zusammenhang mit der Erforschung von Prodigien WEINREICH 1953, S. 1148 Anm. 3, mit Recht. 15 Eine solche Kritik generell an der Erforschung der etruskischen Disziplin äußert CAPDEVILLE 1990, S. 341. Er fordert dringend, da die Forschung seit THULIN keine großen Fortschritte gemacht habe, eine moderne Methodik der Quellenauswertung. Denn bisher, selbst wenn die Quellen nicht von gleichem Wert seien, verbinde man ihre Aussagen und versuche, sie zusammenhängend zu sehen. 16 Zum Begriff des Referentiellen vgl. SCHMITZ 2002, S. 32. 17 An quellenkritischer Methode mangelt es beispielsweise BLECHER 1905, besonders erkennbar in der Anlage seines Quellenkatalogs, S. 173–192, und ENGELS 2007, indem sie, ohne die Entstehungszeit der Dokumente und deren Verhältnis zur Parallelüberlieferung genügend zu berücksichtigen, die berichteten Ereignisse datieren. 18 Zu den methodischen Prämissen vgl. CANCIK-LINDEMAIER 1990, bes. S. 1–7.
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Der Schwerpunkt muß auf einer Bearbeitung eines Quellentyps liegen.19 Eine Bearbeitung darf sich nicht auf ein buntes Durcheinander von Angaben stützen, deren Informationsgehalt wegen der unterschiedlichen Provenienz und nicht geklärter Intentionen verwischt ist. Nimmt man diese Anregungen auf und beachtet die vorgeschlagenen Aspekte, stellt sich bei den hier ausgewählten literarischen Texten eine relative Homogenität in den Gattungen und eine große zeitliche Nähe zueinander dar. Die Texte präsentieren hohe Dichtkunst der Goldenen und Silbernen Latinität und sind in die frühe Kaiserzeit zu datieren, genauer in die Zeit von ca. 29 v. Chr. bis ca. 100 n. Chr. Daß die Texte von ihrer Provenienz her so dicht beieinander liegen, bedeutet einen Vorteil. Denn es schafft die Möglichkeit, die Eigenarten dieses Quellentyps herauszustellen und damit formgeschichtlich relevante Strukturen aufzuzeigen, die sich zum Beispiel von denen in historiographischen Schriften, die, soweit zu sehen, keine komplexen Darstellungen einer Eingeweideschau bieten, abheben mögen. Ebenso verhält es sich mit den genannten inschriftlichen Ritualdarstellungen, die für einen Vergleich der Darstellungsform zu nutzen wären,20 oder mit Darstellungen aus der griechischen Literatur, die wegen der kulturellen Nähe und ihres Vorbildcharakters aufzeigen könnten, inwieweit die römischen Autoren in einer hellenistischen Literaturtradition stehen. Der Vergleich mit griechischen Quellen wäre auch wichtig, um größere Klarheit über eine entweder historische oder eine literaturhistorische Wirklichkeit in griechischen Quellen zu gewinnen, so daß eine Abgrenzung der kulturellen Verhältnisse in Rom und Griechenland gelingen kann. Zu einem weiteren Vergleich in eine Richtung, die jedoch die Ritualforschung verläßt, eignen sich anatomische Fachschriften, hier ist das Werk des CELSUS zu nennen.21 Inwieweit gestiegene Kenntnisse und ihre literarische Zugänglichkeit die Darstellung von Anatomischem beeinflußt haben könnten, wäre zu untersuchen. Mit der unterschiedlichen Form ist jeweils eine andere Funktion eines Textes verbunden, was sich aber erst in einem Vergleich von verschiedenen Gattungen und Quellentypen aufzeigen ließe und hier nicht stattfinden kann. Neben dem Vorteil einer relativen Homogenität in den Gattungen erscheint jedoch die Provenienz der Texte aus der Dichtung auch als Nachteil für eine Bearbeitung. Damit gilt es umzugehen, denn das Interesse an der empirischen Erforschung der Eingeweideschau in der römischen Kultur ist zwar stark, aber führt 19 Als Beispiel für eine Darstellung, die sich an einer Typologie der Quellen orientiert, vgl. VAN STRATEN 1995, seine Grundlage für die Darstellung von Schlachtriten bilden Vasenbilder und Votive. 20 Der Konjunktiv bezeichnet hier Untersuchungen, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden können. 21 Als Vermittler von anatomischen Kenntnissen dient vielleicht (lt. BRISSON 1583, S. 31; BILLERBECK 1988, S. 66) A. AURELIUS CORNELIUS CELSUS, 1. Jh. n. Chr. (tiberisch); Artes 4,1 (medizin. Fachschrift) De pulmone: is spongiosus, ideoque spiritus capax et a tergo spinae iunctus ind duas fibras, ungulae bubulae modo , dividitur. – De Iecore: Iecur a dextera parte sub praecordiis, ab ipso septo ortum, intrinsecus cavum, extrinsecus gibbum, quod prominens leniter ventriculo insidet, et in quatuor Fibras dividitur; oder auch aus dem 7. Buch.
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hier in eine Kategorie von Quellen, bei denen der Anteil an ‚literarischer Fiktion‘ als recht hoch und damit die Historizität als sehr niedrig einzustufen ist. Das Verhältnis zur historischen Wirklichkeit ist eher als entfernt anzusehen. Die historische Forschung ist vor die Aufgabe gestellt, plausibel darzustellen, was als Wirklichkeit der realen Umwelt des Autors bzw. eines Rezipienten seiner Zeit zu werten ist. Oder weniger optimistisch und die hohe Literarizität berücksichtigend formuliert, es gilt, die eingeschränkte Nutzbarkeit dieser Texte, obwohl sie den Ablauf eines historischen Rituals zu beschreiben scheinen, aufzuzeigen.22 Einzelne Elemente bieten jedoch ein Potential für die Bestimmung, ob das jeweilige Element zu einem historischen römischen Ritus gehört. Was bei einer Forschungsperspektive zum Theater SENECAs mit griechischem Sujet als Anachronismus bezüglich sakraler Verhältnisse erscheint, bietet für eine religionshistorische Forschung möglicherweise römische Kultverhältnisse.23 Bei der Problemlage, daß fast ausschließlich ‚fiktionale Texte‘ – von den wenigen epigraphischen Dokumenten abgesehen – mit einer komplexen Darstellung des Rituals vorliegen, muß betont werden: Eine neue Rekonstruktion der Eingeweideschau in der römischen Kultur ist aufgrund der hohen Literarizität der hier ausgewählten komplexen Darstellungen nicht zu leisten. Die hier ausgewählten Quellen dennoch zu bearbeiten ist zum einen damit zu begründen, daß hier der Anfang für einen an einer Typologie der Dokumente orientierten Vergleich gesetzt wird, wie im vorhergehenden Abschnitt beschrieben. Zum anderen werden gerade diese Texte als Belege für eine historische Eingeweideschau genutzt, so daß eine Abklärung bezüglich ihrer Historizität im Einzelfall geraten scheint. Beispielsweise findet sich die Einschätzung, der Abschnitt in SENECAs Oedipus stelle neben dem verwandten bei LUCAN die ausführlichste Beschreibung eines extispicium dar und diene als wichtige Quelle zur Rekonstruktion der etruskischen Disziplin.24 Hinsichtlich der forschungsgeschichtlichen Bedeutung ist diese Darstellung sicher richtig. Jedoch ebenso zu Recht wird von anderer Seite die Belegkraft der beiden Darstellungen wegen der hohen Literarizität zurückgewiesen.25 Zur Rekonstruktion des Rituals scheinen diese Quellen wenig geeignet. Die Frage, die an diese Texte herangetragen werden kann, muß lauten: Wie ist der Ritus literarisch überformt? Als nicht gangbar muß ein Weg beurteilt werden, der über eine Scheidung von Realem und Fiktivem in den Texten einen Anteil an Historizität in den Texten 22 So fordert die Textanalyse RÜPKE 1998, S. 453, denn „Ohne literaturwissenschaftliche Analyse liefern literarische Texte keine religionsgeschichtlichen Daten.“ – Zum Problem einer Auswertung von literarischen Texten für religionshistorische Sachfragen vgl. FEENEY 1998; LEIBINGER 2000; MÜLLNER 2006, bes. S. 19. 23 Vgl. FREYBURGER 1990, S. bes. S. 124, zu einem ‚flagranten Anachronismus‘; WALTER 1975, bes. S. 46–53, sieht unmittelbar römische Kultverhältnisse abgebildet. 24 TÖCHTERLE 1994 (Kommentar zu Oedipus, ad 352 ff.) 25 CANCIK-LINDEMAIER 2000, S. 63 Anm. 20: „Die dramatischen Szenen bei Lucan und Seneca aber schildern gerade nicht ein römisches Normalopfer, sondern prodigiös übersteigerte Divination.“ – Frühere skeptische Einschätzungen beispielsweise von THULIN 1906, S. 5; BLECHER 1905, S. 222 Anm. 6; BOUCHÉ-LECLERCQ 1882, S. 68 Anm. 1.
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erfragt. Ein solcher Ansatz schien vielversprechend aufgrund der Überlegung, daß ein hoher Grad an literarischer Gestaltung die Zuverlässigkeit von Angaben zu historischen Ereignissen, in diesem Falle zu historischen Riten, senke. Gestützt schien dieses Vorgehen von einer Richtung der Literaturwissenschaft, die als ‚Konstanzer Schule‘ bekannt ist.26 Diese zeigt auf, wie mit der Verquickung von Realem und Imaginärem in Texten dieser Art umzugehen wäre. Einig ist man darin: Texte bieten eine Fiktion. Die dargestellte Wirklichkeit ist fingiert, aber zugleich auch fixiert die Darstellung eine Wirklichkeit, nach der zu fragen wäre.27 Die Fiktion, die mit dem jeweiligen Text vorliegt, enthält Reales28 und Imaginäres in unbestimmten Anteilen. Von diesem Verständnis ausgehend läßt sich nun ein Schema entwerfen, das alle denkbaren Bereiche des gebotenen Textes berücksichtigt, nämlich sowohl den Plot, d.h. die erzählte Geschichte, als auch die historische und eben auch die literaturhistorische Wirklichkeit, die in intertextuellen Bezügen deutlich wird: Fiktives (Text) = Imaginäres (erzählte Geschichte) + Reales (hist. und literatur-hist. Realität)
Um dem außertextuellen Realen näherzukommen, scheint zunächst das innertextuelle Imaginäre bestimmt werden zu müssen. Hierfür wäre eine Einzelinterpretation anzufertigen. Weiterhin muß beim Außertextuellen unterschieden werden zwischen historischer und literaturhistorischer Realität. Hierfür müßten die in ihrem Kontext untersuchten Texte auf eine Abhängigkeit von anderen Texten geprüft werden, es wäre also nach literaturhistorischen Bezügen zu fragen. Unter Berücksichtigung von Gattung, Kontext und literaturhistorischen Bezügen könnte dann, so schien es, ein vorsichtiges ‚Ausloten‘ der Angaben zur Eingeweideschau bezüglich ihrer Historizität erfolgen. Gegen diesen Ansatz ist auf theoretischer Ebene einzuwenden, daß auch bei einer starken literarischen Überformung historisch zuverlässige Angaben übermittelt sein können, also ein Gegenrechnen von Literarizität und Historizität nicht aufgeht. Praktisch sind die Informationen zu dem jeweils dargestellten Ritus so spärlich und so allgemein gehalten, daß keine genauere Differenzierung möglich ist. Das Hauptgewicht muß bei der hohen Literarizität jedoch auf einer Interpretation der einzelnen Texte liegen. Um die Erzählstrategien zu verdeutlichen sollen die mit narrativen Mitteln stark ausgestalteten Darstellungen mit einer literaturwissenschaftlichen Methode analysiert werden, die am modernen Roman exemplarisch vorgeführt, aber mit Bezug auf antike Beispiele entwickelt wurde. Die Grundlage für das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug bildet hier das Werk von GÉRARD GENETTE, Die Erzählung, München 1998. Die Frage nach dem zeitlichen Verlauf und dem Personal in der Erzählung trifft sich mit der Frage nach dem zeitlichen Verlauf und dem Personal in einem möglichen historischen Ritus. 26 WOLFGANG ISER 1983 sei stellvertretend genannt. 27 HENRICH / ISER 1983, bes. S. 9. 28 ISER 1983, S. 123 Anm. 2: „Das Reale ist ... als die außertextuelle Welt verstanden, die als Gegebenheit dem Text vorausliegt und in der Regel dessen Bezugsfelder bildet. Diese können Sinnsysteme und Weltbilder genauso sein wie etwa andere Texte, in denen eine je spezifische Organisation bzw. Interpretation von Wirklichkeit geleistet ist.“
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In der zeitlichen Analyse lassen sich Differenzierungen unter drei verschiedenen Aspekten erfassen, die sich auf Ordnung, Frequenz und Geschwindigkeit des Erzählten beziehen.29 Vereinfachend gesagt, fragt man mit dem Aspekt der ‚Ordnung‘ nach der Reihenfolge der Handlungen, mit dem Aspekt der ‚Frequenz‘ nach der Häufigkeit des Berichteten und mit dem Aspekt der ‚Geschwindigkeit‘ nach der Dauer oder zeitlichen Erstreckung des Erzählten. Die Untersuchung zur Ordnung kann den chronologischen Ablauf für den erzählten Ritus herstellen. Der Aspekt der Frequenz stellt heraus, wenn Handlungen im Ritus mehrfach ablaufen. Die Frage nach der Geschwindigkeit verdeutlicht verschiedenes: erstens Lücken, wo etwas nicht berichtet wird, das aber stattgefunden haben muß,30 zweitens kann ein langsames Erzähltempo, das in dialogischen Situationen vorliegt,31 den Ablauf des Ritus recht genau wiedergeben, drittens vermittelt das rasche Tempo in einem summary einen knappen Abriß vom Ritus.32 Viertens läßt sich das Verlassen des Handlungsberichtes mit einer Handlungspause kennzeichnen, die sich beispielsweise in einem Erzählerkommentar findet.33 Die zeitliche Analyse des Erzählten hilft, einen zeitlichen Ablauf des Ritus zu beschreiben.
3.3 BESTANDSAUFNAHME Die ausgewählten Texte sollen für eine Einschätzung, in welchen Gattungen und in welchem Umfang Informationen direkt über den Ritus der Eingeweideschau vorliegen, kurz im Überblick beschrieben werden: Als Tragödien heben sich die beiden Werke SENECAs, Oedipus und Thyestes, von den übrigen hier vorzustellenden Beispielen ab, die überwiegend episch sind. Doch mit Blick auf Darstellungen einer Eingeweideschau in der griechischen Dichtung bildet als Gattung vielmehr das Epos die Ausnahme und nicht die Tragödie. Denn beide bekannten poetischen Darstellungen einer Eingeweideschau in der griechischen Literatur finden sich in Tragödien.34 Auf diesem Hintergrund steht SENECA mit der Wahl der Gattung stärker in einer literarischen Tradition. Auch mit der Wahl seiner Themen und Schauplätze (Theben bzw. Mykene) stellt er einen starken Bezug zur griechischen Mythologie her. Der Umfang der Ritualdarstellungen zeigt sich insgesamt recht beschränkt. Die weitaus längsten sind mit über 90 Versen diejenigen in den beiden Dramen
29 30 31 32 33 34
Zugrunde liegt das Konzept von GENETTE 1998, S. 22 und 213. GENETTE 1998, S. 76–78, spricht von einer Ellipse. GENETTE 1998, S. 78–81, spricht von Szene. GENETTE 1998, S. 68–71, nennt dies summary. GENETTE 1998, S. 71–76, bezeichnet dies als Pause. Vgl. AISCHYL. Prom. 486–501 (innerhalb eines Kataloges von Fertigkeiten und Weisheiten: Seherkunst: Träume, Laute, Vorzeichen bei Fahrt, Vogelkunde, Eingeweideschau unter Beachtung von Milz, Leber, Adern, Farbe). – Vgl. EUR. El. 800–843 (Schilderung des Rituals: Orestes tötet Aigisthos während des Rituals nach einer für Aigisthos ungünstig ausgefallenen Eingeweideschau).
3.3 Bestandsaufnahme
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von SENECA, dem Oedipus (Vv. 299–392) und dem Thyestes (Vv. 682–775).35 Diese Länge ist sicher auch gattungsbedingt, weil in den Dramen ein Erzähler fehlt und daher der Ritus im Thyestes durch einen Botenbericht und im Oedipus durch sozusagen eine ‚Teichoskopie‘ für den blinden Seher Tiresias wiedergegeben ist. Beide Berichte sind zudem in ein Wechselgespräch eingebunden. Der Zustand der Organe, die bei dem geschlachteten Tier beschaut werden, ist mit 29 Versen ausführlich nur im Oedipus geschildert, davon beziehen sich 9 Zeilen auf die Beschau von Leber und Galle. Dagegen wird im Thyestes gar kein anatomischer Bericht geliefert, die 4 Zeilen, in denen es um die Beschau geht, betonen die Tätigkeit. Daß diese ‚Ritualdarstellung‘ trotzdem vergleichsweise lang ausfällt, liegt daran, daß der Akt des Tötens mit seiner Grausamkeit und das Zerkleinern und Zubereiten eines Mahles stark hervorgehoben ist: In Pervertierung einer rituellen Schlachtung ermordet Atreus die drei Söhne seines Bruders Thyestes und setzt sie ihm anschließend zu einem angeblich versöhnenden Mahl, das zu dessen Inthronisation stattfindet, vor. Wesentlich kürzer mit 27 Versen ist die Ritualdarstellung in dem Epos Bellum civile von LUCAN (Vv. 1,608–634).36 Eine Organschau umfaßt 14, davon die Beschau von Leber und Galle 2 x 3 Zeilen. Allein LUCAN an dieser Stelle und SENECA im Oedipus schildern eine Beobachtung von Leber und Galle innerhalb einer komplexen Darstellung des Rituals. – Durchaus gibt es andere Quellen, die von der Beobachtung von Leber und Galle und auch anderer Organe berichten, jedoch fehlt bei diesen die Einbindung in die Ritendarstellung.37 – Auch mit der relativ ausführlichen Beschreibung der gesamten Organe von immerhin noch 14 Zeilen hier und 29 Zeilen im Oedipus heben sich diese Darstellungen von den anderen ausgewählten ab,38 die eigentlich keine anatomischen Einzelheiten mitteilen. Schon aufgrund der ähnlichen Struktur des Dargestellten und der Tatsache, daß die beiden Verfasser als Neffe und Onkel in gutem Kontakt standen, ist mit einer gegenseitigen Beeinflußung, einer literarischen Imitation zu rechnen. Noch die längste von den drei verbleibenden Ritualdarstellungen ist mit 19 Versen diejenige von SILIUS ITALICUS in seinem Epos Punica; darin werden dem jungen Hannibal seine militärischen Erfolge vorausgesagt (Vv. 1,119–137). Die Darstellung zu Cipus in OVIDs Metamorphosen, einem Kollektivgedicht, beträgt noch 16 Verse (Vv. 15,570–585). Die kürzeste mit nur 9 Versen findet sich zu Dido in dem Epos VERGILs, der Aeneis (Vv. 4,56–64). In allen drei zuletzt genannten Beispielen sind so gut wie keine anatomischen Einzelheiten mitgeteilt. Lediglich eine nach der Tötung fortbestehende Bewegung des Tier-Inneren ist jeweils erwähnt (Dido: spirantia exta; Cipus: trepidantia exta; Hannibal: spirantes 35 SEN. Oed. Vv. 299–392: 94 Zeilen, davon Organschau 29 (352–380), Leber-Galleschau 9 Zeilen (357–365); SEN. Thy. Vv. 682–775: 94 Zeilen, davon das Schauen 4 Zeilen (755–758). 36 LUCAN. Vv. 1,608–634: 27 Zeilen, davon Organschau 14 Zeilen (616–629); Leber-Galleschau 2 x 3 (621–623; 627–629). 37 Zu nennen wäre vor allem CICERO in De Divinatione (2,28) oder PLINIUS DER ÄLTERE in der Naturalis historia und etliche historiographische Schriften (vgl. vor allem BLECHER 1905, S. 173–192). 38 Vorlage hierfür ist vielleicht CELSUS, Artes.
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artus). Diese kurzen Passagen mit dem Hineinschauen umfassen nur 2 bzw. 2½ Zeilen.39 Daß die Ritualdarstellungen zu Hannibal und Cipus vergleichsweise lang ausfallen, ist durch Blöcke von wörtlicher Rede bedingt: Die Weissagung für Hannibal beträgt bei einem Gesamtumfang des Rituals von 19 Versen immerhin 12½ Zeilen,40 bei Cipus umfassen zwei Reden zusammen 7½ Zeilen in dem 16zeiligen Abschnitt vom Ritus.41 An sachlichen Informationen ist als Ergebnis der Eingeweideschau die litatio wichtig. Diese ist nur bei VERGIL zu Dido und bei LUCAN erwähnt. Ein Haruspex als Träger etruskisch-religiösen Fachwissens erscheint nur bei OVID in der CipusEpisode, bei LUCAN gibt es mit Arruns einen etruskischen Seher, der jedoch als vates bezeichnet wird. Eine Weissagung ist formuliert in der Cipus-Episode und in der Darstellung zu Hannibal, die jedoch ihre Eigentümlichkeiten haben. Für die beiden Darstellungen von LUCAN und OVID ist Rom der Schauplatz; für diejenigen von VERGIL und SILIUS ITALICUS ist es Karthago, bei SENECA die beiden griechischen Städte Theben und Mykene. Zu konstatieren ist, daß schon der Umfang der Ritualdarstellungen, deren Anteil noch durch erzählerische Elemente wie wörtliche Rede reduziert ist, kaum erlaubt, aufgrund dieser Texte eine detaillierte Rekonstruktion einer historischen Eingeweideschau zu leisten. Auch zu Sachfragen wie der anatomischen Begutachtung oder zu der litatio oder einer Weissagung oder dem Einsatz eines speziellen etruskischen Fachmannes werden nur spärlich Informationen geliefert. Um ein Bild davon zu gewinnen, wie weit jede der Darstellungen ihrem Kontext verpflichtet ist, soll eine Bearbeitung der Einzeltexte in klassischer Weise ausgeführt werden mit Text und Übersetzung, Gliederung, Beschreiben des Kontextes, Interpretation. Auf Einzelprobleme in den Texten muß in dem dortigen Zusammenhang eingegangen werden, denn diese beeinflussen die Gestaltung der jeweiligen Kapitel stark, so daß eine allzu schematische Struktur nicht geraten erscheint. Die Reihenfolge der Einzeltexte wird im wesentlichen bestimmt von der Entstehungszeit der Werke, so daß auch literarische Traditionen erkennbar werden.
39 Dido: VERG. Aen. 4,63f.; Cipus: OV. met. 15,576f.; Hannibal: SIL. 1,120b–122. 40 SIL. 1,125–137a. 41 OV. met. 15,571–573a; 581–585.
4 DIDO (VERGIL, AENEIS 4,1–129) EINFÜHRUNG Als früheste komplexe Darstellung einer Eingeweideschau soll hier die Zeichnung VERGILs aus dem vierten Buch der Aeneis untersucht werden. Das Werk, in dem VERGIL von der Eingeweideschau erzählt, ist ein Epos und hoch literarisiert. Seine Abfassungszeit ist durch das Lebensende des Autors begrenzt auf die Zeit vor 19. v. Chr., also auf die augusteische Epoche.1 Wie in vorhergehenden Kapiteln dargelegt, gilt diese Darstellung in der Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau mit dem Ausdruck ‚exta consulere‘ als Beleg für eine etruskische Form, die von Haruspices ausgeübt würde. Daß diese Annahme nicht haltbar ist, wurde in einer exemplarischen Untersuchung auf ‚Sakralsprachlichkeit‘ eines Ausdrucks ‚aliquid consulere‘ gezeigt. Aber nicht nur für eine Rekonstruktion der Eingeweideschau generell wird die Darstellung VERGILs herangezogen, sondern auch zur Rekonstruktion von Hochzeitsriten im römischen Kult.2 Die Eingeweideschau, die die Königin Dido unternimmt, als sie sich in Aeneas verliebt hat, gilt in der Forschung manchem als Beleg, daß zu einem römischen Hochzeitsritus eine Eingeweideschau als eine Form des Auspiziums gehöre.3 Jedoch ist die gesamte Belegsituation nicht unproblematisch und die Forschung zeigt sich uneins. Wie es zu den Diskrepanzen kommt, soll im folgenden in einem Forschungsüberblick zum sogenannten Hochzeitsauspizium dargestellt werden. Dies kann nur einem Überblick dienen. Eine Untersuchung zu Hochzeitsriten kann an dieser Stelle nicht stattfinden. Die beiden Bereiche ‚Hochzeitsauspizium‘ und ‚etruskisch-römische Dichotomie der Eingeweideschau‘ stehen, soweit ich sehe, in der Forschung unverbunden nebeneinander.
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Vgl. VON ALBRECHT 1994, S. 531 ff.; S. 1461. Allgemein zu römischen Hochzeitsriten BECKER 1838, S. 13–24 (dort auch Hinweise auf die ältere Literatur); BECKER / REIN 1849, S. 20f.; ROßBACH 1853, S. 253–389; ROßBACH 1871; BECKER / GÖLL 1882, S. 31 ff.; MARQUARDT / MAU 1886, S. 39–57; FOWLER 1908, S. 135– 167; BLÜMNER 1911, S. 349–361; CARCOPINO 1950, S. 132–138; LATTE 1960, S. 96–98; BALSDON 1963, S. 181 ff.; HUMBERT 1972, S. 3–30; TREGGIARI 1991, S. 161–170; HERSCH 2010, S. 114–134. Jüngst als Beispiel von philologischer Seite vgl. PANOUSSI 2009, S. 46–49, und von seiten der Archäologie vgl. REINSBERG 2006, bes. S. 114 Anm. 942.
114
4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
4.1 EINGEWEIDESCHAU UND HOCHZEITSAUSPIZIUM Bei der Darstellung von römischen Hochzeitsriten nennen etliche Forscher eine Eingeweideschau als Hochzeitsauspizium, ganz ohne Primärquellen anzugeben.4 Einige wenige Forscher erwähnen eine Eingeweideschau als Bestandteil von römischen Hochzeitsriten gar nicht.5 Wenn man jedoch die Primärtexte zum Hochzeitsauspizium, die von wieder anderen angeführt sind,6 begutachtet, zeigt sich, daß die Quellenlage alles andere als einfach ist. Es findet sich nämlich kein eindeutiger Nachweis dafür, daß als Hochzeitsauspizium eine Eingeweideschau stattfand. Nur durch Schlußfolgerung und Kombination von Quellen kommt man überhaupt zu einem Urteil. Die Urteile fallen jedoch unterschiedlich aus: Die einen meinen, es sei eine Eingeweideschau unternommen worden und die Eingeweideschau habe die aus der Mode gekommene Vogelschau ersetzt.7 Dagegen gehen andere in ihrem Schluß weniger weit, nämlich daß aus der Mode gänzlich das Einholen von Auspizien vor der Hochzeit gekommen und nur noch der Name der ursprünglichen Funktionsträger, nämlich auspices, beibehalten worden sei.8 Diese beiden einander widersprechenden Positionen stützen sich im wesentlichen auf dieselben Nachrichten bei CICERO und VALERIUS MAXIMUS. CICEROs Schrift De Divinatione ist ungefähr auf das Jahr 44 v. Chr. und das Werk von VALERIUS MAXIMUS in den Zeitraum zwischen 28 und 32 n. Chr., also in die späte Republik bzw. frühe Kaiserzeit zu datieren.9 Beide Autoren teilen übereinstimmend mit, es sei nicht mehr üblich, vor der Hochzeit das Auspizium einzuholen, lediglich die Bezeichnung für die bei der Hochzeit besonders wichtigen Personen werde weiterhin gebraucht: 4
5
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7
8 9
CARCOPINO 1950, S. 134f.; CARCOPINO 1959, S. 103; BALSDON 1963, S. 181f.; GROß 1967, Sp. 1195; BONO 1984, S. 23 Anm. 14 (nicht spezifisch althistorisch orientiert); BLANCK 1996, S. 123; OSWALD 1998, Sp. 651. Vgl. WISSOWA 1896, Sp. 2581f.; WISSOWA 1912, S. 386f.; LATTE 1960, S. 96–98, bes. S. 264 Anm. 2. (Zu Hochzeitsauspizien in diesem Sinne läßt sich, soweit ich sehe, bei BECKER 1838; SAMTER 1901, SAMTER 1911, überhaupt nichts finden). BECKER / REIN 1849, S. 20f.; ROßBACH 1853, S. 294–298; ROßBACH 1871, bes. S. 54f.; BECKER / GÖLL 1882, S. 31f.; MARQUARDT / MAU 1886, S. 47f.; FOWLER 1908, S. 141f.; BLÜMNER 1911, S. 354f.; HECKENBACH 1913, Sp. 2131–2133; HUMBERT 1972, S. 12–15; TREGGIARI 1991, S. 164. ROßBACH 1853, S. 298; ROßBACH 1871, S. 55f. Anm. 99; MARQUARDT 1879, S. 45f.; BECKER / GÖLL 1882, S. 31f.; MARQUARDT / MAU 1886, S. 47; COLLIGNON / LÉCRIVAIN 1904, S. 1655; FOWLER 1908, S. 142; BLÜMNER 1911, S. 354; HECKENBACH 1913, Sp. 2130; HUMBERT 1972, S. 12; TREGGIARI 1991, S. 164. – Ein Verweis von ROßBACH 1853, S. 295 Anm. 932 auf BECKER („Becker identificirt die eigentlichen Auspices mit den Haruspices, welche auch Auspices genannt werden und die Eingeweide des Opferthiers besahen“, Gallus 2, S. 20), läßt sich anhand der Ausgabe von 1838 nicht nachvollziehen, lediglich anhand der Ausgabe von BECKER / REIN 1849, S. 21, ließe sich die Formulierung „Es waren also bei der confarreatio der Pontifex max., Flamen dialis und Auspices nothwendigerweise zugegen (...), welche das Opfer vornahmen“ in diesem Sinne interpretieren, was mir allerdings als ein Mißverständnis erscheint. WISSOWA 1896, Sp. 2581; WISSOWA 1912, S. 386 Anm. 7; LATTE 1960, S. 264 Anm. 2. VON ALBRECHT 1994, zu CIC. S. 414 ff., bes. S. 427; zu VAL. MAX. S. 852 ff.
4.1 Eingeweideschau und Hochzeitsauspizium
115
VAL. MAX. 2,1,1: Apud antiquos non solum publice, sed etiam privatim nihil gerebatur nisi auspicio prius sumpto. Quo ex more nuptiis etiam nunc auspices interponuntur, qui, quamvis auspicia petere desierint, ipso tamen nomine veteris consuetudinis vestigia usurpantur. Bei den Alten wurde nicht nur öffentlich, sondern auch privat nichts unternommen, wenn nicht vorher ein Auspizium vorgenommen worden war. Nach dieser Sitte bei den Hochzeiten sind auch jetzt noch die Auspiziensteller dabei, die, obwohl sie aufgehört haben, Auspizien einzuholen, dennoch in derselben Bezeichnung als Spuren der alten Gewohnheit gebräuchlich sind. CIC. div. 1,16,28: Nihil fere quondam maioris rei nisi auspicato ne privatim quidem gerebatur, quod etiam nunc nuptiarum auspices declarant, qui re omissa nomen tantum tenent. (...) Beinahe nichts von Wichtigkeit wurde einst ohne Auspizien unternommen, nicht einmal im Privaten, was auch jetzt noch die Auspiziensteller bei den Hochzeiten deutlich zu erkennen geben, die, da die Sache selbst aufgegeben ist, nur noch den Namen tragen (…). (Übers. SCHÄUBLIN).
Zu dem Unterschied in den wissenschaftlichen Positionen führt hauptsächlich ein weiterer Satz bei CICERO, der sich direkt an die bereits zitierte Stelle anschließt und von den einen in die Argumentation nicht miteinbezogen, aber von den anderen mitgelesen wird: CIC. div. 1,16,28: (...) nam ut nunc extis (quamquam id ipsum aliquanto minus quam olim) sic tunc avibus magnae res impetriri solebant. (…) denn wie jetzt mithilfe der Eingeweide (obwohl selbst dies in eher geringem Maße als einst), so pflegten damals mithilfe der Vögel wichtige Angelegenheiten erkundet zu werden. (Übers. SCHÄUBLIN).
Noch dazu verstehen offenbar diejenigen, die den anschließenden Satz bei CICERO mitlesen, die Bemerkung über die Eingeweideschau, um die es dabei nur nebensächlich geht, nicht allgemein, sondern beziehen sie ebenfalls auf die zuvor genannten Riten bei der Hochzeit. Als Konsequenz aus dieser Interpretation ist zudem die Aussage zu finden, daß ja bei Ausdrücken wie auspicium und ähnlichen im Zusammenhang mit Hochzeit wegen der Beibehaltung der alten Bezeichnung nun eine Eingeweideschau verstanden werden müsse.10 Von der Auffassung, daß man als Hochzeitsauspizium ganz sicher eine Eingeweideschau annehmen könne, kommt man dahin, die Eingeweideschau der Dido als Beleg für diesen Hochzeits10 Diese fragwürdige Position formuliert prägnant ROßBACH 1853, S. 298: „ … so waren auch bei den Hochzeiten an die Stelle der Auspices Haruspices getreten. Dies war schon zur Zeit des Cicero der Fall, aber nicht einmal die Haruspicien beobachtete man damals so genau wie früher, die Befragung der Götter war überhaupt eine Form geworden. Nur der Name der Auspices erhielt sich noch fortwährend, wenn man auch in der That Haruspices darunter verstand.“ und nochmals ROßBACH 1871, S. 55 Anm. 99.
116
4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
ritus und für die beschriebene Entwicklung zu sehen, entweder als literarisiertes Beispiel oder als historischen Beleg, wie es einige tun.11 Andere, die ebenfalls eine Eingeweideschau als Ersatz für ein Hochzeitsauspizium werten, führen die VERGIL-Stelle jedoch nicht an.12 Bei denen, die in der Grundaussage übereinstimmen, die Eingeweideschau habe die Vogelschau im Hochzeitsbrauch abgelöst, zeigt sich jedoch weitere Uneinigkeit in der Bewertung der Quellen. Und dies dadurch, daß man die unsichere Belegsituation zu verbessern sucht.13 Ebenfalls Zweifel an der Hypothese läßt die Tatsache aufkommen, daß die Informationen aus divergierenden Zeugnissen kombiniert werden müssen, wenn doch die Eingeweideschau bei VERGIL ein Paradebeispiel sein sollte. Dabei ist auffällig, daß sich Bemerkungen zu Auspizium und Hochzeit in dem spätantiken Kommentar des SERVIUS zur Aeneis14 zu verschiedenen anderen Stellen finden,15 aber gerade zu den hier interessierenden Vergilischen Versen steht nichts von einem Hochzeitsritual. Man muß konstatieren, daß die Belegsituation zum Nachweis einer Eingeweideschau als Hochzeitsauspizium insgesamt sehr unsicher erscheint. Auch helfen archäologische Zeugnisse in dieser Frage wenig. Das einzige archäologische Zeugnis einer römischen Eingeweideschau, das bekannte historische Relief aus 11 In poetischer Brechung verstanden ROßBACH 1853, S. 310 Anm. 1017, zu VERG. Aen. 4,56: „Dies ist zwar kein wirkliches Hochzeitsopfer, aber die ganze Situation ist von einem solchen entlehnt, worauf auch die Worte de more hinzuweisen scheinen.“ – ROßBACH 1853, S. 298; als „das gewöhnliche der Ehe vorausgehende consultative Opfer“ – KARLOWA 1868, S. 8; ROßBACH 1871, S. 122; als „Auspicienopfer“ MARQUARDT 1879, S. 46 Anm. 2; MARQUARDT / MAU 1886, S. 47f. Anm. 8; „zum Zwecke der Consultation“ BECKER / GÖLL 1882, S. 32; NOAILLES 1939, S. 392f.; als „témoignage de Virgile“ HUMBERT 1972, S. 13. 12 COLLIGNON / LÉCRIVAIN 1904, S. 1655; FOWLER 1908, S. 142; HECKENBACH 1913, Sp. 2130; BLÜMNER 1911, S. 354; TREGGIARI 1991, S. 164. 13 So führt TREGGIARI 1991, S. 164 Anm. 29, CIC. div. und VAL. MAX. (s.o. S. 115f.) – ganz richtig – nur als Beleg für die Beibehaltung der Bezeichnung an und zusätzlich VARRO bei SERV. AUCT. Aen. 4,45 auspices in nuptiis appellatos †[ab] auspiciis, quae a marito et nova nupta per hos auspices captabantur in nuptiis. (Cf. HUMBERT 1972, S. 14). Als Nachweis, daß eine Eingeweideschau stattfand und diese die Vogelschau ersetzt habe, gelten ihr (Anm. 31): VELL. 2,79,2 hac classe Caesar, cum prius despondente ei Nerone, cui ante nupta fuerat, Liuiam auspicatis rei publicae ominibus duxisset [eam] uxorem, Pompeio Siciliaeque bellum intulit. – Caesar, der sich zuvor noch, unter glücklichen Vorzeichen für den Staat, mit Livia vermählt hatte, nachdem Nero, ihr früherer Gatte, sie ihm durch Scheidung abgetreten hatte, begann mit dieser Flotte den Krieg gegen Pompeius und Sizilien. – STAT. silv. 1,2,229f. Vixdum emissa dies, et iam socialia praesto / omina, iam festa fervet domus utraque pompa. – Kaum ist der Tag angebrochen, da sind schon die ersten Vorzeichen der Hochzeit da: Schon sind beide Häuser erfüllt vom festlichen Trubel. – SERV. Aen. 3,136 ‚Operata iuventus‘ perfecit sacrificia propter conubia et novas sedes, quia apud veteres neque uxor duci neque ager arari sine sacrificiis peractis poterat, ut alibi laetis operatus in herbis, item Iuvenalis (12,92) et matutinis operatur festa lucernis. 14 GUGEL 1975, Sp. 145f. 15 Z.B. SERV. Aen. 4,45 nuptiae enim captatis fiebant auguriis und VARRO (s.o. Anm. 13); SERV. Aen. 3,136 (s.o. Anm. 13); SERV. Aen. 4,340 maiores omnia auspicato gerebant; SERV. Aen. 1,346 nihil nisi captatis faciebant auguriis et praecipue nuptias; SERV. Aen. 4,166; 4,339.
4.2 Einleitende Skizzierung des Inhalts
117
der Zeit Traians oder Hadrians, bildet keinen Hochzeitsritus ab.16 Allerdings sind mehrere Hochzeitssarkophage aus dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert, also der mittleren Kaiserzeit, bekannt, die ein Schlachtritual bei der Hochzeit dokumentieren sollen.17 Zur Frage des ‚Hochzeitsauspiziums‘ insgesamt wäre es nötig, die einzelnen in die Diskussion eingebrachten Textstellen genauer zu untersuchen.18 Dabei wäre jedoch nicht explizit die Eingeweideschau das Thema, um das es in der vorliegenden Arbeit geht. Eine eingehende Bearbeitung jenes Themenbereiches muß somit zurückgestellt werden. Es bleibt hier die Aufgabe, zu untersuchen, auf welche Weise die hier vorliegende komplexe Darstellung einer Eingeweideschau mit dem Thema Hochzeit in Zusammenhang gebracht ist. Da die Darstellung in der Aeneis als einzige in der römischen Literatur einen solchen Ritus, der aus Anlaß einer Hochzeit ausgeführt würde, mehr oder weniger genau zu beschreiben scheint, soll eine literarische Analyse einer größeren Passage Aufschluß darüber geben, inwiefern das Erzählte mehr literarisch motiviert ist. Soweit zu sehen, fehlt ein literarisches Vorbild für die Situation, so daß die literaturhistorische Wirklichkeit keinen Bezugspunkt für die Eingeweideschau bietet. Da sowohl ein direkter historischer als auch ein literaturgeschichtlicher Bezug wohl nicht vorhanden ist, läßt sich in der Darstellung der Eingeweideschau und dem Kontext, in den diese gestellt ist, ein großer Anteil an literarischer Gestaltung vermuten.
4.2 EINLEITENDE SKIZZIERUNG DES INHALTS VERGIL schildert eine Eingeweideschau, die die Protagonistin dieser Episode, die karthagische Königin Dido, unternimmt. Das Interesse der Königin ist dabei vor allem ein privates: Da sie ein Liebesverhältnis mit Aeneas eingehen möchte, will sie erkunden, wie die Götter ihrem Wunsch gegenüber eingestellt sind. Das Dilemma besteht für sie darin, daß sie bei einer Verbindung mit Aeneas ihren Schwur, nach dem Tod ihres Gatten keine weitere Beziehung mehr einzugehen (15–29), brechen müßte. Dido wendet sich vertraulich an ihre Schwester Anna. 16 Paris, Louvre MA 978; 1089; Collection Valentin de Courcel. 17 BLÜMNER 1911, S. 354 Anm. 2; vgl. ROßBACH 1853, S. 376–389, und 1871. – Mit dem Zeugniswert der sog. Hochzeitssarkophage setzt sich REINSBERG 1984 und 2006, S. 114 (Anm. 944: Vatikan, S. Muse; Orvieto; Rom, Ant. Com.; St. Petersburg und Vatikan, Belv.) auseinander und kommt zu dem Schluß, daß das gemeinsam ein Tieropfer darbringende Paar als eine Fiktion anzusehen ist (1984, S. 307f.; 316f.). 18 REINSBERG 1984, S. 292 Anm. 10, nennt als Belege für ein der Hochzeit vorausgehendes „konsultative[s] Auspizienopfer“ TAC. ann. 11,27; 15,37; CIC. div. 1,16,28; STAT. silv. 1,2,229f.; SUET. Claud. 26; SERV. Aen. 1,346; 4,45. Dadurch, daß nach ihrer Darstellung ein solches Ritual der eigentlichen Hochzeit vorausgehe, helfen ihre Ergebnisse zu den sog. Hochzeitssarkophagen nicht weiter. Noch dazu wertet sie das „Kuhopfer der Dido … eindeutig [als] Auspizienopfer“ (2006, S. 114 Anm. 942), ohne ihre Behauptung zu belegen.
118
4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Diese rät ihr zu der Verbindung und fügt ein politisches Motiv an, indem sie auf die besseren Verteidigungsmöglichkeiten gegen die kriegerischen Nachbarvölker hinweist, wenn Aeneas und seine Leute blieben (31–44). Ihr scheinen die Troianer durch göttliche Gunst gesandt zu sein (45f.), insbesondere durch Iuno, die später als die Schutzherrin der Ehe bezeichnet wird (59). Anna führt das Bild einer mächtigen karthagischen Herrschaft vor Augen, die ihrer Ansicht nach von den Göttern gewünscht wird. Sie fordert Dido auf, das Ihre zur Sicherung und Vergrößerung des Reiches beizutragen und sich mit den Göttern in Verbindung zu setzen (50 tu modo posce deos veniam ...)19 und, wenn diese Pflicht erfüllt ist (... sacrisque litatis), den Möglichkeiten, die sich durch gastliche Aufnahme bieten, Raum zu lassen (51 indulge hospitio). Somit endet der vertrauliche Dialog zwischen Dido und Anna. Die Textwiedergabe nun setzt nach Didos Liebesklage zum Ende der Gegenrede Annas ein.
4.3 TEXT UND ÜBERSETZUNG DER ZENTRALEN STELLE VERG. Aen. 4,45–89
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[Anna spricht zu Dido:] ‚(...) dis equidem auspicibus reor et Iunone secunda hunc cursum Iliacas vento tenuisse carinas. quam tu urbem, soror, hanc cernes, quae surgere conconiugio tali! Teucrum comitantibus armis regna Punica se quantis attolet gloria rebus! tu modo posce deos veniam sacrisque litatis indulge hospitio causasque innecte morandi: dum pelago desaevit hiems et aquosus Orion, quassataeque rates, dum non tractabile caelum.‘ His dictis incensum animum flammavit amore spemque dedit dubiae menti solvitque pudorem. principio delubra adeunt pacemque per aras exquirunt: mactant lectas de more bidentis legiferae Cereri Phoeboque patrique Lyaeo, Iunoni ante omnis, cui vincla iugalia curae. ipsa tenens dextra pateram pulcherrima Dido candentis vaccae media inter cornua fundit, aut ante ora deum pinguis spatiatur ad aras instauratque diem donis pecudumque reclusis pectoribus inhians spirantia consulit exta. heu vatum ignarae mentes! quod vota furentem, quid delubra iuvant? est mollis flamma medullas interea et tacitum vivit sub pectore vulnus.
19 Übers. s.u. Kap. 4.3. 20 Textausgabe GEYMONAT 1973; Absätze eingefügt von der Verf.
4.3 Text und Übersetzung der zentralen Stelle
68 70
74 75
80
85 86
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45
50
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119
uritur infelix Dido totaque vagatur urbe furens, qualis coniecta cerva sagitta, quam procul incautam nemora inter Cresia fixit pastor agens telis liquitque volatile ferrum nescius: illa fuga silvas saltusque peragrat Dictaeos, haeret lateri letalis harundo. nunc media Aenean secum per moenia ducit Sidoniasque ostentat opes urbemque paratam, incipit effari mediaque in voce resistit; nunc eadem labente die convivia quaerit, Iliacosque iterum demens audire labores exposcit pendetque iterum narrantis ab ore. post ubi digressi, lumenque obscura vicissim luna premit suadentque cadentia sidera somnos, sola domo maeret vacua stratisque relictis incubat – illum absens absentem auditque videtque – aut gremio Ascanium genitoris imagine capta detinet, infandum si fallere possit amorem. non coeptae adsurgunt turres, non arma iuventus exercet portusve aut propugnacula bello tuta parant: pendent opera interrupta minaeque murorum ingentes aequataque machina caelo. [Anna spricht zu Dido:] ‚(...) Unter göttlichem Schutz gewiß, mein ich, und von Iuno begünstigt haben mit dem Wind die ilischen Schiffe den Kurs hierher genommen. Welch eine Stadt, Schwester, welch ein Reich, wirst du erstehen sehen durch solch eine Ehe! Gemeinsam mit den Waffen der Teukrer, um wieviel wird Punischer Ruhm sich vergrößern! Du nur bitte die Götter um ihre Gunst und, wenn die heiligen Pflichten erfüllt, gib der Gastfreundschaft Raum und nenne Grund für Grund zum Bleiben: solange auf dem Meer der Wintersturm tobt und dann der regenreiche Orion, und Schiffe zerschellt sind, solange der Himmel nicht klar.‘ Da dies gesagt, entflammte sie das in Liebe schon brennende Herz, gab Hoffnung dem zweifelnden Verstand und nahm die Bedenken wegen des Treuspruchs. Solcher Ursach’ besuchen sie Tempel und ersuchen Beistand an den Altären: sie schlachten erlesene, der Sitte entsprechend herangewachsene Tiere für Ceres, durch die mit dem Treuspruch gebunden, für Phoebus und Pater Lyaeus und Iuno vor allen, da ihre Sache die ehelichen Bündnisse. Selbst, die Opferschale in der Rechten, gießt die herrliche Dido der hellschimmernden Kuh mitten zwischen die Hörner oder geht, vor Augen der Götter, feierlich zu den schon reichen Altären und beginnt den Tag mit neuen Geschenken und, wenn die Brust der einzelnen Tiere geöffnet, befragt sie, gespannt die Luft anhaltend, die noch Atem holenden Eingeweide. Ach, daß der Seherinnen Verstand unwissend! Was helfen die Gelübde der, die rasend ist, was die Tempel? Es brennt eine zarte Flamme im Innersten derweil und unbemerkt wächst unter dem Herzen die Wunde.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Es brennt die unglückselige Dido und durch die ganze Stadt wird sie getrieben, die Rasende, wie eine vom Pfeil getroffene Hirschkuh, die arglos Kretas Haine durchzog, als aus der Ferne sie traf ein Hirt, Geschosse werfend, und ließ zurück das flugschnelle Eisen ohn daß er‘s gewußt, aber jene, die Flucht noch versuchend, durcheilt Kretas Wälder und Schluchten, doch sitzt ihr ja schon in der Seite das tödliche Rohr.
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Bald durch die Mitte der Mauern führt sie Aeneas mit sich und zeigt ihm Sidonische Bauten und wie die Stadt angelegt, sie fängt an zu sprechen und mitten im Wort bricht sie ab, bald bei sich neigendem Tage erbittet sie eben seine gastlich Gesellschaft, und von Ilischen Gefahren erneut zu hören, verlangt sie, die ohne Verstand, und hängt erneut am Mund des Erzählers.
74 75
79 80
Dann, wenn die Gäste gegangen, und sein Licht birgt wiederum der dunkle Mond und es raten die sinkenden Sterne zum Schlummer, trauert sie einsam im leeren Palast und liegt auf verlassenem Lager – ist jener nicht bei ihr, meint sie, ihn dennoch um sich zu haben – oder sie hält Ascanius auf dem Schoß, gefangen von des Vaters Ebenbild, als wenn sie so die Liebe, die nicht zu sagen ist, täuschen könnte.
85 86
Weder wachsen die begonnen Türme, noch übt sich die Jugend in Waffen, und Häfen oder sicheres Bollwerk für den Krieg bereitet man nicht: es ragen die unterbrochenen Bauten und die riesigen Mauerzinnen und die gleichhohen Gerüste hinauf in den Himmel.
89
4.4 ZUM AUFBAU DES WEITEREN KONTEXTS (VERG. AEN. 4,1–129) Der Aufbau der gesamten Passage läßt sich grob gliedern in diesen ersten Abschnitt, in dem Dido und Anna zuerst miteinander sprechen und dann ausführen, was sie beschlossen haben (1–89). In einem zweiten Abschnitt sprechen dann Iuno und Venus miteinander und beraten, was zu tun ist (90–128). Durch ihre planende Unterredung wird ein Spannungsbogen erzeugt, der zu den vom Erzähler anschließend geschilderten Ereignissen bei der Jagd führt, bei der Dido und Aeneas zueinander finden (129–172).21 Mit der Schilderung der Vereinigung wird verdeutlicht, daß Iuno und Venus ihren Plan umsetzen und Didos Wunsch erfüllt scheint. Im weiteren der Vergilischen Darstellung kommt es zum Bruch zwischen Dido und Aeneas, weil Aeneas seiner Bestimmung gemäß nach Italien weiterfahren muß, und bei seiner Abreise nimmt sich Dido das Leben. 1–89 1–5
Dido und Anna im Dialog und Ausführung des Geplanten Feiner gegliedert beginnt der erste Abschnitt mit einer allgemeinen Beschreibung von Didos emotionalem Zustand (1–5).
21 In der Grobgliederung vergleichbar mit WLOSOK 1976, S. 249.
4.4 Zum Aufbau des weiteren Kontexts (Verg. Aen. 4,1–129)
6f. 8–30 31–53 54f. 56–64
65f.
67 68–73 74–79
80–85
86–89
90– 128
93– 104
105– 114
121
Dann leitet eine Zeitangabe (6f.)22 auf eine konkrete Situation hin, nämlich den eben beschriebenen Dialog zwischen Dido und Anna. Zunächst steht Dido im Fokus (8–30), dann die ihr Antwort gebende Schwester (31–53). Danach führt eine kurze Beschreibung, wie Annas Rede sich auf Dido auswirkt (54f.), zu einer Verfolgung23 verschiedener ritueller Tätigkeiten, die die beiden Frauen in einem unbestimmten Zeitraum ausführen. Principio markiert knapp das Gesagte als den Grund für die folgenden Tätigkeiten um die Gunst der Götter (56–64). Besonders betont wird die Tätigkeit Didos durch ipsa bei einem Weiheguß an der Kuh. Welches Ergebnis die an letzter Stelle genannte Eingeweideschau und die vorhergehenden Bemühungen haben, ist nicht explizit formuliert. Lediglich stellen der bedauernde Ausruf heu, vatum ignarae mentes und die rhetorische Frage quid vota furentem, quid delubra iuvant (65f.) einen Kommentar dar, der die Sinnlosigkeit dieser Unternehmungen ausdrückt. Die Zeitangabe interea (67) lenkt die Aufmerksamkeit von den äußeren rituellen Handlungen zur inneren gefühlsbetonten Welt der Dido, deren Seelenlage – und Schicksal – durch das Bild einer tödlich verletzt umherirrenden Hirschkuh veranschaulicht wird (68–73). Ein abrupter Schnitt läßt mit der Zeitangabe nunc wiederum eine Verfolgung der Tätigkeiten Didos einsetzen: Nach der Kontaktaufnahme mit den Göttern sind nun die Bemühungen um die Gäste geschildert (74–79). Von den äußeren Handlungen lenkt dann wieder eine Zeitangabe (80 post) hin zur Innenwelt der Dido, die durch ihre Trauer und ihre Wachträume beschrieben ist (80–85). Ohne Überleitung werden zum Abschluß die von der Königin vernachlässigten Pflichten aufgezählt (86–89), die das Ausmaß ihrer Verwirrung bezeichnen. Iuno und Venus im Dialog Im Anschluß an die Darstellung der Beratung zwischen Dido und Anna und ihren Unternehmungen findet ein Wechsel von der irdischen zur himmlischen Ebene statt (90–128). Entsprechend dem Dialog zwischen den beiden menschlichen Frauen beraten sich hier zwei Göttinnen: Venus und Iuno vertreten jeweils ihr eigenes Interesse, die von ihnen bevorzugte Stadt Rom bzw. Karthago zu stärken. In einer ersten Rede der Iuno (93–104) und der Gegenrede der Venus (105–114) scheinen sich die Göttinnen dabei über das zukünftige Schicksal genauso unklar zu sein wie die beiden Frauen, die sich doch auf die vermuteten Absichten Iunos stützen (45f.). Die Entscheidungsgewalt über die Zukunft liegt aber nicht bei Iuno und Venus, sondern sie wird auf eine noch höhere Ebene verlegt: Fortuna und Iuppiter gelten als diejenigen,
22 Zu der Zeitangabe s.u. Anm. 221. 23 ‚Verfolgung‘ ist hier, wie der vorhergehende Ausdruck ‚Fokus‘, ganz in einem kameratechnischen Sinne zu verstehen.
122
114– 128
129
4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
deren Wollen für das Schicksal entscheidend ist (109f.).24 Wie die Frauen Einfluß auf die Götter nehmen, um ihre Angelegenheiten in ihrem eigenen und dem vermeintlich von den Göttern vorgesehenen Sinne voranzubringen, sind es hier nun die beiden Göttinnen, die es für notwendig halten oder hinstellen, Einfluß auf Iuppiter zu nehmen (113).25 In Parallele zu dem Ratschlag Annas, was zu tun sei (50–53), gibt jetzt Iuno an, was getan werden soll (114–127), und Venus stimmt ihr zu (128 adnuit). Mit der Beschreibung ihres Vorhabens wechselt das Thema und leitet auf die Jagd hin, wodurch das dramatische Geschehen vorangetrieben wird. Beginn der Jagd Wie am Anfang des Buches die Handlung mit Sonnenaufgang einsetzt (6f.), markiert wiederum ein Sonnenaufgang den Beginn neuer Ereignisse (129)26 und schließt somit die vorhergehende Passage ab.
4.5 DIE HOCHZEITSTHEMATIK IN DER DIDO-EPISODE Es ließ sich anhand des vorgestellten Textabschnittes beobachten, daß nicht deutlich ausgedrückt ist, daß die Eingeweideschau im Rahmen von Hochzeitsvorbereitungen ausgeführt würde. Wenn hier eine Art Hochzeitsauspizium abgebildet sein sollte, muß diese jedenfalls durch eine allegorische Deutung vermittelt sein.27
24 VERG. Aen. 4,109f. [Venus entgegnet der Iuno:] si modo quod memoras factum fortuna sequatur / sed fatis incerta feror, si Iuppiter unam esse velit ... urbem – Wenn nur dem, was du als getan erwähnst, Fortuna folgt! Durch Schicksalssprüche bin ich aber verunsichert, ob Iuppiter eine einzige Stadt ... will). – Über die entscheidende Rolle Iuppiters und des Fatums HEINZE 1915, bes. S. 294 und 300f., und ausführlich STEINKÜHLER 1989, S. 4–133. 25 VERG. Aen. 4,113 [Venus zu Iuno:] tu coniunx, tibi fas animum temptare precando – Du bist seine Gemahlin, dir ist es erlaubt, seine Gesinnung durch Bitten zu beeinflußen. 26 VERG. Aen. 4,129 Oceanum interea surgens Aurora reliquit – Den Ozean hat inzwischen die aufsteigende Aurora zurückgelassen. 27 KRUMMEN hat versucht, für das Thema ‚Hochzeit‘ eine Bilderkette zu entwerfen (KRUMMEN 2001, S. 8 ff. u.ö.; KRUMMEN 2004, S. 35 ff. u.ö.), indem das Erzählte umgedeutet wird zu Elementen, die zu einer Hochzeit gehören mögen oder nur auf Hochzeit anspielen. Methodisch ist allerdings zu bemängeln, daß bei dieser Bilderkette nicht deutlich herausgestellt ist, welche Form von Information jeweils die Grundlage für ein Wiedererkennen und Umdeuten bildet: Ob ein literaturhistorischer Bezug vorliegt, entweder auf griechische oder lateinische Referenztexte, oder ob der Erfahrungsbereich der historischen Umwelt vorausgesetzt ist, entweder der griechischen oder der römischen Umwelt. Die literarischen Reminiszenzen nachzuvollziehen ist relativ unproblematisch – wenn auch zum Teil die Vergleiche als wenig treffend angesehen werden müssen, doch gerade wenn es um die zu erschließende historische Umwelt geht, zeigt sich große Unsicherheit in der Zuordnung. Die Unsicherheit wird dadurch recht deutlich, daß in der späteren Veröffentlichung von 2004 einige Aspekte, die sich auf die historische Umwelt – die griechische wie die römische – beziehen, nicht mehr enthalten sind.
4.5 Die Hochzeitsthematik in der Dido-Episode
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Bezugstext für eine Hochzeit wäre die sogenannte Höhlenhochzeit (4,165– 172). Aber ob es sich bei dieser Verbindung, die Dido und Aeneas eingehen, um eine Ehe handelt, ist nicht leicht und eher negativ zu beantworten – gerade diese Frage bildet ja im Zusammenhang mit der Treuefrage den Konfliktstoff, der das ganze vierte Buch durchzieht. Es finden sich zwar Elemente, die das Bild einer Hochzeit entwerfen, aber auch solche, die dieses konterkarieren: VERG. Aen. 4,165–172: Speluncam Dido dux et Troianus eandem deveniunt, prima et Tellus et pronuba Iuno dant signum: fulsere ignes et conscius aether conubiis, summoque ulularunt vertice nymphae. ille dies primus leti primusque malorum causa fuit. neque enim specie famave movetur nec iam furtivom Dido mediatur amorem: coniugium vocat, hoc praetexit nomine culpam. Zu derselben Höhle Dido und der troianische Fürst gelangen; es geben als erste Tellus und als Brautführerin Iuno das Zeichen: gestrahlt haben Blitze und der Himmel mitwissend der Beilager; und vom höchsten Gipfel heulen die Nymphen. Jener Tag war der Beginn des Todes und der erste als Grund für die Übel. Denn weder von Ansehen und Ruf zeigt sie sich berührt, noch überdenkt Dido die schon gestohlene Liebe: Ehe nennt sie es und bemäntelt mit diesem Namen die Schuld.
Das semantische Feld, das durch Ausdrücke wie pronuba, fulgere ignes, conubium, nymphae ululare gebildet wird, verdeutlicht, daß die Darstellung einer Hochzeit in der erzählerischen Absicht liegt. Diese Hochzeit findet – in Reminiszenz an das literarische Vorbild des APOLLONIOS RHODIOS, der Hochzeit von Jason und Medea,28 – ebenfalls in einer Höhle statt. Die allgemein wahrgenommene dunkle Färbung in der Darstellung resultiert daraus, daß die freudige Szenerie, die das Vorbild bietet, bis in einzelne Motive hinein ins Grauenvolle verkehrt ist.29 Es umgibt das Paar keine freundliche Natur, sondern ein Aufruhr der Gewalten – die Atmosphäre in der Höhle hat nichts mehr vom Bukolischen des Vorbildes, sondern ist stark vom Chthonischen geprägt: Die Erde hat sich für Dido aufgetan (24 mihi vel Tellus ... ima dehiscat) und somit wird die Erfüllung ihres Eides angezeigt.30 Das Ululare der Nymphen kann im Bilde der Hochzeit als festlicher Gesang verstanden werden, aber im Bilde des Todes als Klagelaute. Ebenso lassen sich die Blitze zweideutig als Hochzeitsfackeln oder als Fackeln bei der Totenfeier beschreiben. 28 APOLL. RHOD. 4,1128–1200 (das Vorbild beschreiben beispielsweise PEASE 1935, S. 204f.; NELIS 2001, S. 125 ff.). 29 Beispielsweise DE WITT 1907, S. 61f.; DI CESARE 1974, S. 21; PÖSCHL 1977, S. 106f. – Ansonsten werden die Nymphen ganz allgemein als Hochzeitsgottheiten interpretiert (PEASE 1935, S. 209). 30 Zum Eid und der Bedeutung von Tellus s.u. S. 129.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Nach der Negativzeichnung des Geschehens und bei dem distanzierenden Urteil des Erzählers, Dido nenne die Verbindung Ehe und bemäntele so eine Schuld (4,172 coniugium – culpa), ist eine die Rechtmäßigkeit dieser Hochzeit eindeutig negierende Haltung formuliert: Dies Ereignis wird Tod und viel Übles bringen, denn die Liebe ist gestohlen (furtivus amor) und Dido bemerkt ihr Unrecht nicht (169–172).31 Die Art der Darstellung, bei der die Suggestion entsteht, es finde eine Hochzeit statt, vermittelt die subjektive Sicht der Dido und bewirkt Empathie für sie. Demgegenüber steht die als objektive Wahrheit deklarierte moralische Korrektur durch den Erzähler, daß diese ‚Hochzeit‘ als nicht rechtmäßig anzusehen ist. Bei der Disparität im Erzählten ergibt sich nun die Schwierigkeit, die Elemente den beiden Seiten, Hochzeit ja oder nein, zuzuordnen. Mit dem Blick auf die Eingeweideschau interessiert hieran insbesondere die Rolle der beiden Göttinnen, Tellus und Iuno. Welche Bedeutung kann man ihnen für diese Hochzeit, die doch unrechtmäßig ist, zuschreiben? In welchem Zusammenhang sind sie mit der Eingeweideschau zu sehen? Das Zweischneidige an der ‚Hochzeit‘ ist schon in einem der Höhlenhochzeit vorangehenden Teil, beim Pakt der Göttinnen Iuno und Venus (4,90–128), zu beobachten: Es fällt auf, daß in den Redeteilen Iunos, nicht jedoch in denen der Venus, ebenfalls das semantische Feld ‚Hochzeit‘ angegeben ist mit Ausdrücken wie pactus hymenaeus, paribus auspiciis, Phrygius maritus, dotalis; conubio iungere, dicare, Hymenaeus. Somit läßt sich auch hier nicht nur die tendenziöse, auf Hochzeit ausgerichtete Darstellung des Erzählers erkennen,32 sondern es ist auch der Wille der Figur Iuno zur Hochzeit des Paares und die Gegenposition der Venus durch das Fehlen entsprechender Ausdrücke in ihrer Rede gekennzeichnet. Mit ähnlichem Vokabular und in einem Für und Wider wird im Gespräch zwischen Anna und Dido operiert: In ihrer Unterredung ist durch Dido das Thema Ehe erstmals offen vorgetragen. Formuliert ist ihr Streben, auf eine Hochzeit und damit auf die Verbindung mit Aeneas zu verzichten.33 Es finden sich Ausdrücke wie vinclo sociare iugali (im Ehebündnis vereinen), thalamus (Brautgemach), taeda (Hochzeitsfackeln). In Annas Gegenrede erscheint die Begrifflichkeit dann eine Hochzeit bejahend mit dis auspicibus (unter göttlichem Schutz) und coniugium tale (ein solches Ehebündnis). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Hochzeitsthematik in wichtigen Passagen zusammen mit dem Thema des Treuekonfliktes transportiert ist. Daher 31 Über die vom Erzähler angezeigte Unrechtmäßigkeit z.B. KRUMMEN 2001, S. 10, 12; MUECKE 1983, S. 139. 32 Daß nach der Absprache der beiden Göttinnen die Geschehnisse in der Höhle als Hochzeit aufzufassen sind und insbesondere von Dido so aufgefaßt werden können, hebt WILLIAMS 1968, S. 381f., hervor. Doch, weil eine römische Ehe auf dem Einverständnis zwischen den beiden Parteien beruhe und nicht an eine Zeremonie oder Formalität gebunden sei, werde hier eine Ambiguität entwickelt (S. 382f.). BOWIE 1998, S. 69, betont diesen Aspekt ebenfalls. 33 VERG. Aen. 4,15 ff. si mihi non animo fixum immotumque sederet, / ne cui me vinclo vellem sociare iugali, postquam ... – wenn mir nicht fest und unerschütterlich im Herzen stünde, daß ich mich nicht mit jemandem durch eheliches Bündnis vereinen wollte, nachdem ...
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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finden sich solche Elemente, die eine Hochzeit vor Augen führen, und auch solche, die ihre Unrechtmäßigkeit betonen und einer Hochzeit somit entgegenstehen. Für eine Beurteilung der Eingeweideschau muß damit gerechnet werden, daß sich auch hier Elemente beider Seiten nachweisen lassen. Insbesondere bei der Frage nach der Funktion der dort genannten Götter ist dieses Ergebnis über die literarische Gestaltung zu berücksichtigen.
4.6 DIE IM RITUAL ANGESPROCHENEN GOTTHEITEN: CERES, PHOEBUS, PATER LYAEUS, IUNO Es war bei der Beschreibung der Kontextes zu erkennen, daß der Zweck der Eingeweideschau nicht ausdrücklich formuliert ist. Somit kann man nur indirekt erschließen, weshalb Dido die Eingeweideschau ausführt.34 Anhaltspunkte für ihre Motivation ergeben sich aus den Angaben über die Gottheiten, die in der Ritualdarstellung erwähnt sind. Es muß daher untersucht werden, welche Funktionen den Gottheiten in diesem Zusammenhang zugewiesen werden können. Da die Forschung in dieser Frage sehr uneins ist, soll vor diesem Schritt zunächst der Forschungsstand bezüglich der dort erwähnten Gottheiten dargestellt werden.
4.6.1 Der Forschungsstand zu den Gottheiten insgesamt In der Forschung herrscht der Ansatz vor, die in der Ritualdarstellung genannten Gottheiten auf einer intertextuellen Basis näher zu bestimmen.35 So gibt es verschiedene Versuche, für die drei in ein und demselben Vers erwähnten Götter, Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, eine historische Göttertrias nachzuweisen. Dabei vermutet man hinter den römischen Bezeichnungen Parallelen zu punischen, griechischen oder auch orientalischen Gottheiten.36 Ansonsten finden sich im wesentlichen Erklärungen, die an die spätantike antiquarische Tradition anschließen. Dabei orientiert man sich vor allem an den unterschiedlichen Informationen, die SERVIUS mit seinem Interesse an historischen
34 Die Erklärung, daß Dido günstige Zeichen für die Zukunft erflehe (beispielsweise JOHNE 1987, S. 27; BARRETT 1970, S. 21), ist zu allgemein. – WEST 1975, S. 232, stellt dar, daß Dido für den Eid, den sie nicht einhält, um Vergebung bittet, also ihre Schuld sühne: „With the sacrifices to the gods Dido removes the external restrictions to her union with Aeneas.“ – Zur Frage einer Sühne s.u. S. 148 (Abschnitt 4.7.3 Dido) 35 Über die verschiedenen Erklärungen zu den Gottheiten ausführlich PEASE 1935, S. 134 ff., ad 58f. – Zu der Auffassung, Vergil stelle römische Riten und die römische Götterwelt dar z.B. PEASE 1935, S. 108 ad 25: „Other divinities to whom she [sc. Dido] alludes or sacrifices are [Aufzählung von Göttern], and in these cases we are doubtless to think of Virgil as transferring to Carthage the beliefs of his own land“, oder S. 134 ad 57: „Virgil is here, as elsewhere, transferring a contemporary Roman rite to the heroic age of Carthage.“ 36 Ausführlich dazu PEASE 1935, S. 134.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Erläuterungen bringt.37 Der Kommentar des CLAUDIUS DONATUS ist weit weniger beachtet, wohl weil er, wie so häufig, eine mehr an literarischen Aspekten interessierte Erklärung bietet.38 Bei MACROBIUS findet sich zu der Frage nach den Gottheiten nichts wesentliches, weil die Überlieferung in MACR. Sat. 3,12,10 ohne Antwort abbricht.39 In Anlehnung an die Erklärung SERV. Aen. 4,58 werden die drei Gottheiten Ceres, Phoebus und Pater Lyaeus als Stadtgottheiten und Iuno als Ehegottheit aufgefaßt.40 Doch findet sich auch die Verbindung aller genannten Gottheiten mit Ehe und Ehegesetzgebung stärker betont.41 Dabei werden die Gottheiten zum einen als negativ eingestellt gegenüber Heiraten betrachtet,42 zum anderen als diese gerade unterstützend.43 37 Text und Übersetzung zu SERVIUS und CLAUDIUS DONATUS werden im folgenden ausführlich angegeben, weil keine Übersetzungen oder Erläuterungen existieren, die den Zugang zu diesen Quellen erleichtern würden. 38 CLAUD. DON. Aen. 4,55 ff. ... mactantes sollemniter ea animalium genera quae diis ad causam necessariis convenirent et primum Cereri legiferae, propterea quod populorum consensus nisi legibus teneri non possit, Phoebo, ut in futuris prosperiora perficeret quae optabantur, Libero patri, ut praestaret laetitiam sempiternam, Iunoni vel maxime, quae coniugiorum teneret potestatem, et ne Troianis invidens expugnaret Didonis adfectum. quam splendida dictio, quam artificiosa, quae in ordinatione verborum novissimam posuit Iunonem nec tamen novissimae sacrificatum memoravit: addendo enim ante omnis ostendit ipsi primo sacrificiorum honores exhibitos. – ... sie sind welche, die feierlich diejenigen Arten von Tieren schlachten, die den zu diesem Anlaß erforderlichen Göttern zukommen, so zuerst für Ceres legifera, deswegen weil Übereinstimmung in den Völkern nicht ohne Gesetze erzielt werden kann, für Phoebus, damit er in Zukunft das Glücklichere, das erwünscht wurde, verwirklicht, für Liber pater, damit er ewige Freude gewährleistet, für Iuno am allermeisten, da sie über Ehebündnisse Macht hat, und damit sie, die den Troianern mißgünstig gegenübersteht, nicht Didos Gefühl zunichte macht. Wie glänzend die Ausdrucksweise, wie kunstvoll, die in der Wortfolge als letzte Iuno aufführt, aber nicht meint, daß ihr als Letzte geopfert worden sei: nämlich im Hinzufügen von ante omnis zeigt sie, daß eben dieser an erster Stelle die Ehrenbezeigungen durch die Opferungen dargebracht worden sind. 39 Das Abbrechen der Überlieferung vermerkt CONINGTON 1876, ad 58. Die Scholien lassen jedenfalls vermuten, daß auch hier nichts Neues vorgebracht wurde. 40 SERV. Aen. ad loc. ... et communis hoc habet sensus: sacrificabat ... primo numinibus quae urbi praesunt, quasi nuptura pro utilitate rei publicae; deinde Iunoni, cui curae sunt nuptiae. – ... und allgemein hat es diesen Sinn: sie opferte zuerst für die göttlichen Mächte, die der Stadt vorstehen, quasi im Begriff stehend, zum Nutzen des Gemeinwesens zu heiraten; dann für Iuno, die sich um die Ehen sorgt. 41 Die Zuordnung schwankt jedoch, wie sie wohl von den verschiedenen Erklärungen bei SERVIUS provoziert ist (Text s. Anm. 40; 42; 43; 44): zustimmend zu beiden Möglichkeiten, die Göttertrias als Hochzeitsgötter und als Stadtgötter zu sehen, CONINGTON 1876, ad 58; als Hochzeitsgötter ablehnend PEASE 1935, S. 135; als Hochzeitsgötter beurteilend ROßBACH 1853, S. 301–307; HENRY 1878, S. 596; AUSTIN 1955; als Stadtgottheiten aufgefaßt: HEYNE (bei CONINGTON 1876); GLOVER 1904, S. 190f.; LEHR 1934, S. 87f.; LE BONNIEC 1958, 80f.; MONTI 1981, S. 31f.; Iuno als Stadtgottheit ablehnend: CONINGTON 1876 ad 59. 42 SERV. Aen. ad loc. ... est enim sensus altior: nam facturi aliquid ante adversos placamus deos, et sic propitios invocamus, ut 3,120 nigram Hiemi pecudem, Zephyris felicibus albam. ergo modo nuptura placet ante Cererem, quae propter raptum filiae nupturas exsecratur; Apollinem, qui expers uxoris est; Liberum, qui nisi raptam coniugem habere non potuit:
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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Im einzelnen ist Phoebus mit dem Argument als Stadtgottheit dargestellt, weil er den Auspizien, durch die die Städte regiert würden, vorstehe. Pater Lyaeus gilt als Stadtgottheit, weil er für Städte als Gott der Freiheit passe und in kultischer Einheit mit Marsyas, Symbol der Freiheit, zu sehen sei.44 Ceres soll die Gesetze eingeführt haben und ihre Feiern seien nach ihrer Funktion als Gesetzesbringerin benannt, denn mit dem Getreideanbau seien dann Gesetze über die Teilung des Ackergutes notwendig geworden. Mit der Bezeichnung des Festes als ‚Thesmophoria‘ bietet Servius die Identifikation der Göttin Ceres mit der griechischen Demeter.45
et sic Iunonem conciliat. – ... Doch gibt es noch einen tieferen Sinn: denn wenn wir im Begriff sind, irgend etwas zu tun, wollen wir die Götter, die vorher dagegen sind, besänftigen, und so rufen wir die Geneigteren an, wie z.B. ‚ein schwarzes Lamm dem Wintersturm, den freundlichen Westwinden ein weißes.‘ Also sie, die heiraten will, besänftigt vorher Ceres, die wegen des Raubes ihrer Tochter diejenigen, die heiraten wollen, verflucht; den Apollon, der keine Ehefrau hat; den Liber, der nur eine geraubte Ehefrau haben konnte: und so macht sie Iuno geneigt. – Es weist in dieselbe Richtung, nämlich, daß die Götter besänftigt werden müssen, weil sie überhaupt gegen das Heiraten sind, ein Einschub SERV. AUCT. (alii dicunt ... felicibus albam), der zwischen den beiden eben aufgeführten Passagen liegt. 43 SERV. AUCT. ad loc. (in Fortsetzung an felicibus albam, s. Anm. 42): ... alii dicunt favere nuptiis Cererem, quod prima nupserit Iovi et condendis urbibus praesit, ut Calvus docet et leges sanctas docuit et cara iugavit corpora conubiis et magnas condidit urbes: nam ideo et aratri sulco clauditur civitas: vel quod eandem terram volunt et in eadem urbes exstructas. similiter et Liber propter Marsyam, sicut supra dictum est; merito et Apollo; nam et in arce coli solet, et muros Troianis instituit: iure ergo in nova urbe his sacra fiunt. Iunoni duplici causa, quia et Carthagini praeest et matrimonia dat. – … Andere sagen, daß Ceres Heiraten befördere, weil sie als erste dem Iuppiter angetraut gewesen sei und Gründungen von Städten vorstehe, wie Calvus lehrt, sie hat die heiligen Gesetze gelehrt, die lieben Körper durch Eheschließungen verbunden und große Städte gegründet: denn daher wurde durch die Furche des Pfluges die Bürgerschaft abgegrenzt: ja weil sie eben dieses Land wollen und die in eben diesem errichteten Städte. Ebenso auch Liber wegen Marsyas, wie oben erläutert [s.u. Anm. 44]. Aus gutem Grunde auch Apollo, denn er wird gewöhnlich in einer Burg verehrt und er hat für die Troianer Mauern aufgestellt: also werden mit recht in der neuen Stadt für diese Opfer gemacht. Für Iuno aus doppeltem Grund, weil sie zum einen Karthago vorsteht und zum anderen die Ehen schenkt. 44 SERV. Aen. ad loc.: ... ‚Phoeboque‘ qui praeest auspiciis, quibus urbes reguntur. ‚Patrique Lyaeo‘ qui ... apte urbibus libertatis est deus; unde etiam Marsyas, eius minister, est in civitatibus libertatis indicium. – ... ‚und dem Phoebus‘, der den Auspizien voransteht, durch die die Städte regiert werden. ‚Dem Pater Lyaeus‘, der ganz passend für Städte ein Gott der Freiheit ist; woher auch Marsyas, sein Diener, in den Bürgerschaften ein Zeichen der Freiheit ist. 45 SERV. Aen. ad loc. ‚Legiferae Cereri‘ leges enim ipsa dicitur invenisse: nam et sacra ipsius thesmophoria vocantur. sed hoc ideo fingitur, quia ante inventum frumentum a Cerere passim homines sine lege vagabantur: quae feritas interrupta est invento usu frumentorum, postquam ex agrorum divisione nata sunt iura. – ‚Der gesetzbringenden Ceres‘ man sagt nämlich, sie selbst habe die Gesetze erfunden: denn auch ihre Opferfeiern werden ‚thesmophoria‘ (Gesetzgeber-Feste) genannt. Aber dies stellt man sich deshalb vor, weil, bevor das Getreide von Ceres eingeführt worden, überall die Menschen ohne Gesetz herumgezogen sind: diese Wildheit ist unterbrochen worden, als der Gebrauch von Getreide eingeführt worden ist, nachdem aus der Teilung der Äcker die Gesetze hervorgegangen waren.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Den Ansatz, beim Ausdruck Ceres legifera von einer Übertragung von Demeter thesmophoros (z.B. HDT. 6,91) auszugehen, verfolgt PEASE, wie einige andere vor ihm und nach ihm.46 So gehöre die als Begründerin zivilisierten Lebens aufzufassende Gottheit Ceres dann auch zu den Gottheiten, die die ehelichen Verbindungen überwachten.47 Noch weiter führt man die Identifikation der Gottheiten, da sich das Epitheton thesmophoros auch für Dionysos findet (z.B. Orph. Hymn. 42,1). Im Zusammenordnen von Demeter und Dionysos thesmophoros ergibt sich dann eine Interpretation des Götterpaares Ceres und Pater Lyaeus als Gesetzesgeber. Insgesamt ist festzuhalten, daß die Forschung im wesentlichen diejenigen Aspekte referiert, die SERVIUS vorbringt. Da dieser unvereinbare Positionen versammelt, stellen sich in der Nachfolge notwendigerweise auch die Forschungsmeinungen kontrovers dar. Über den Stand bei SERVIUS gehen lediglich die Schlußfolgerungen zu Dionysos thesmophoros hinaus. Sowohl bei dem spätantiken Antiquar als auch in der modernen Forschung ist ein historisierendes Interesse darin erkennbar, daß vornehmlich mit historisch gesichert erscheinenden Kultzusammenhängen und Funktionsbereichen der Gottheiten argumentiert wird. Thematisch bewegt man sich dabei zwischen zwei Aspekten: dem der Stadtgottheiten und dem der Hochzeitsgottheiten. Diese Bipolarität steht jedoch, wenn man den größeren Kontext beachtet, nicht im Vordergrund des Erzählten;48 es hatte sich vielmehr gezeigt, daß die Themen ‚Hochzeit‘ versus ‚Treue‘ bestimmend sind. Da, soweit ich sehe, bisher die Einschätzungen über die Gottheiten hauptsächlich auf intertextueller und archäologischer Basis beruhen, ist jetzt zu untersuchen, welche Funktionen für die Gottheiten aus dem Kontext heraus ermittelt werden können.
4.6.2 Eine textimmanente Betrachtung: die Götterreihung Für die vier im Ritual angesprochenen Gottheiten Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus und Iuno soll die Bedeutung, die sie im Erzählten haben, mithilfe rein kontextueller Kriterien dargestellt werden.49 Auf dieser Grundlage können dann Schlußfolgerungen über den Zweck der geschilderten Eingeweideschau gezogen werden.
46 Ad VERG. Aen. 4,58: LADEWIG 1857; CONINGTON 1876; AUSTIN 1955; MONTI 1981, S. 31f. 47 Primärstellen für beide Aspekte vgl. PEASE 1935, S. 135f. 48 Lediglich in der Rede Annas sind diese Aspekte angeschnitten (bes. VERG. Aen. 4,47–49), weiteres s.u. S. 141 ff. 49 Die kontextuelle Bedeutung von Götterreihungen (bei Horaz) betont RÜPKE 1998, bes. S. 442–444 und S. 453, wo er auf das antike Modell der theologia tripertita, insbesondere auf das genus mythicon, hinweist.
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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Ceres Eine Identifikation von Ceres mit Tellus wird durch strukturelle Übereinstimmungen nahegelegt: Im Gespräch mit Anna spricht Dido eine Selbstverfluchung aus, indem sie die Gottheit Tellus anruft: Tellus solle den Abgrund für Dido öffnen, wenn sie die ihrem Gatten versprochene Treue nicht halte: VERG. Aen. 4,24–27: sed mihi vel Tellus optem prius ima dehiscat vel Pater omnipotens abigat me fulmine ad umbras, pallentis umbras Erebo noctemque profundam, ante, pudor, quam te violo aut tua iura resolvo. mir aber, wünschte ich, soll eher entweder Tellus die größten Tiefen aufreißen oder mich der allgewaltige Vater mit seinem Blitz zu den Schatten schleudern, zu den bleichen Schatten im Erebus und in tiefste Nacht, als daß ich Dich, pudor, verletze und Deine Rechte aufhebe.
Tellus ist hier zur Wächterin über das Versprechen aufgerufen. In der Zusammenstellung mit Iuppiter (Pater omnipotens) und Erebus erhält sie einen chthonischen, auf die Totenwelt bezogenen Charakter.50 In dieser Totenwelt, die Dido für sich im Eid (vor-)bestimmt, befindet sich bereits Didos ermordeter Gatte. Ganz konkret auf das nochmals erneuerte Treueversprechen (27 tua iura) bezieht sich meines Erachtens die Bezeichnung legifera Ceres (58 rechttragende Ceres). Wie Tellus in der ersten Götterreihung an erster Position (24–27) steht Ceres dann in der zweiten Götterreihung (58f.) an gleicher Stelle. Diese strukturelle Übereinstimmung befürwortet eine Identifikation von Tellus und Ceres. Tellus-Ceres wacht über das alte Ehe-Bündnis und dieses durch den pudor. Einen Gegenpart bildet Iuno, die in der zweiten Reihung an letzter Position steht. Sie unterstützt das neue Bündnis mit Aeneas. Diese beiden Gottheiten, Tellus-Ceres und Iuno, konkurrieren auch bei der Höhlenhochzeit miteinander: Bezeichnenderweise ist es Tellus, die zuerst erwähnt ist, als sie und Iuno das Zeichen über den Vollzug der – vermeintlichen – Ehe geben.51 Aus der dargestellten subjektiven Wahrnehmung von Dido und Iuno scheint dies eine rechtmäßige Verbindung zu sein, doch gemessen an den Ansprüchen, die Dido im Eid der Tellus zuerkannt hat, und nach dem Wahrheit beanspruchenden Urteil des Erzählers bedeutet diese Verbindung den Ehebruch. Und diesen signalisiert Tellus.
50 Dagegen sieht AGRELL 2004, S. 99, Tellus in der Rolle eines auspex bei der Hochzeit. 51 Lt. PEASE 1935, S. 205 ad 4,166, interpretiert man prima einerseits als eine Vorrangigkeit der Tellus, andererseits wird aber eine bloße Reihenfolge gesehen, bei der Tellus und Iuno gemeinsam den Nymphen gegenübergestellt sind.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Phoebus An zweiter Stelle in der Götterreihung bei der Eingeweideschau ist PhoebusApollon positioniert, der in dem Bericht des Aeneas über die Irrfahrten als derjenige Gott erscheint, der den Troianern den Weg weist. Er ist deshalb auch an dieser Stelle als der Orakelgott zu verstehen und insbesondere als der Gott, der den Schicksals-Weg des Aeneas kennt und lenkt.52 Dido wendet sich aus dem Grunde an Phoebus, damit er ihrem dringenden Anliegen entsprechend Einfluß auf das Schicksal des Aeneas nimmt und keinen weiteren Aufbruch fordert. Vertritt Ceres die Ordnung, der Dido untersteht, so bedeutet Phoebus die Ordnung, der Aeneas verpflichtet ist.
Pater Lyaeus Nach den beiden Gottheiten, die Dido und Aeneas binden, ist Pater Lyaeus genannt, was wörtlich ‚der Löser‘ bedeutet. Eine parallele Bezeichnung, in der vom Essen und Trinken die Rede ist,53 läßt auf eine Bedeutung des Ausdrucks Pater Lyaeus als Gott des Weines, Liber Pater, schließen.54 Im Zusammenhang mit einem Gastmahl, einem hospitium, erscheint diese Ausdrucksweise unverfänglich, aber es lassen sich weitere Bedeutungsebenen aufweisen. Die Bezeichnung laticem Lyaeum ist Venus in den Mund gelegt, als sie Cupido den Auftrag gibt, in Dido eine leidenschaftliche Liebe zu wecken (bes. 1,664–688).55 Durch ihre Intervention wird die Haltung, die Iuppiter für Dido vorgesehen hatte, nämlich die einer ruhigen Gastgeberin,56 verändert: Ihrer Pflicht 52 DE LA VILLE DE MIRMONT 1894, S. 514 (lt. PEASE 1935, S. 136), sieht in einem methodisch guten Ansatz, nämlich unter literarisch betontem Aspekt, Phoebus als wegweisenden Gott, den Dido aus der Erzählung des Aeneas als dessen Helfer und Lenker kennengelernt habe. Allerdings scheint mir seine Folgerung, daß Dido diesen deshalb um Schutz für den Geliebten bitte, nicht überzeugend. Die Bedeutung der Erzählbücher 2 und 3 als Gelegenheit, den Einfluß des Apollon zu verdeutlichen, betont z.B. JOHNE 1987, S. 26. 53 VERG. Aen. 1,686 regalis inter mensas laticemque Lyaeum – an den königlichen Speisetischen und beim Lyaeischen Trunk. 54 Die Erläuterung SERV. AUCT. 4,58, in der das Wort Lyaeus mit lyein, dem Lösen der Glieder durch den Wein in Verbindung gebracht ist (dictus Lyaeos apò tou lýein, quod nimio vino membra solvantur), findet im allgemeinen für die Funktionsbestimmung des Gottes an dieser Stelle wenig Beachtung. Pater Lyaeus kann als Bacchus-Liber, der Kraft des Weines lösende Gott, aufgefaßt werden. – PEASE 1935, S. 136 (ad 58 patrique Lyaeo), führt zwar diese Stelle an, bringt aber keine Hinweise auf eine Auswertung. 55 VERG. Aen. 1,688 occultum inspires ignem fallasque veneno; 1,720–722 paulatim abolere Sychaeum / incipit et vivo temptat praevertere amore / iam pridem resides animos desuetaque corda. 56 Folgendes geschieht im Anschluß an den Dialog von Iuppiter und Venus (VERG. Aen. 1,297– 304): Haec ait et Maia genitum demittit ab alto / ut terrae utque novae pateant Karthaginis arces / hospitio Teucris, ne fati nescia Dido / finibus arceret. volat ille ... ponuntque ferocia Poeni / corda volente deo in primis regina quietum / accipit in Teucros animum mentemque benignam. – So sprach er und schickte den Sohn der Maia vom hohen Himmel herab, / damit
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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als Gastgeberin wird Dido zunächst noch gerecht, als sie im Gebet Iuppiter als Wahrer des Gastrechts anspricht (1,731 Iuppiter, hospitibus nam te dare iura locuntur – Iuppiter, von dir nämlich sagt man, du habest den Gastfreunden die Gesetze gegeben).57 Aber schon löst sie sich unter dem Einfluß der Venus aus dieser Rolle, als sie gleich darauf Bacchus und Iuno um ihre Gegenwart bittet (1,734 adsit laetitiae Bacchus dator et bona Iuno – nahe sei Bacchus, Spender der Fröhlichkeit, und die gütige Iuno). Auch hier erscheint die Nennung vordergründig unverfänglich, denn Iuno hat als Stadtgottheit Karthagos Bedeutung, wie die Szenerie vor dem Iunotempel zeigt,58 und Bacchus gehört standartmäßig zu einem Festgelage. Durch die Einflußnahme der Venus ist das Verhältnis von Dido und Aeneas verunklärt: Es schwankt schließlich zwischen einem hospitium und einem coniugium59 und dessen Bestimmung liefert in der Folge reichlich Konfliktstoff innerhalb des Erzählten. Wenn man nun den Begriff latex Lyaeus (1,686) mit Bacchus (1,734) und Pater Lyaeus (4,58) in Beziehung setzt, muß für die Frage nach der Funktion der Gottheit noch eine andere Bedeutungsebene angenommen werden als die eines Weingottes beim Fest: Nicht das Lösen durch den Wein ist gemeint, sondern das Lösen von den Fesseln der Verpflichtung.60 Für Dido bedeutet es das Lösen von
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die neuen Länder und Burgen Karthagos den Teukrern in Gastfreundschaft / offenstehen und nicht im Unwissen über die Schicksalssprüche Dido / die Grenzen sperre. Er fliegt ... und die Punier bezwingen / ihre wilden Herzen nach Willen des Gottes und insbesondere die Königin nimmt / gegenüber den Teukrern eine ruhige Haltung und einen wohlwollenden Sinn an. – Die von Iuppiter nicht vorgesehene und von Venus veränderte Haltung Didos wird deutlich zu Beginn des vierten Buches (4,1–5): At regina gravi iamdudum saucia cura / volnus alit venis et caeco carpitur igni. / multa viri virtus animo multusque recursat / gentis honos, haerent infixi pectore voltus / verbaque, nec placidam membris dat cura quietem. – Aber die Königin, längst schon verletzt von schwerwiegender Sorge, / speist die Wunde aus ihren Adern und wird von blindem Feuer verzehrt. / Vielmals durcheilt die Tugend des Mannes ihren Sinn und vielmals / der Ruhm des Stammes; es hängen fest in der Brust sein Antlitz / und seine Worte, und nicht gibt die Sorge den Gliedern erquickliche Ruhe. HAHN 1934, S. 145, weist auf diese Diskrepanz zwischen dem Gebet der Dido und ihrem Verhalten hin. VERG. Aen. 1,441–505, bes. 441–446. Über die Probleme, die sich ergeben, da die Regeln eines hospitium ein Liebesverhältnis mit einem Gast verbieten, GIBSON 1999. Als Indiz dafür, daß VERGIL auch Aeneas eine Schuld zuschreibt, ist zu werten, daß Aeneas, während die Liebesbeziehung mit Dido besteht, kein einziges Mal pius genannt wird (FERGUSON 1970–71, S. 60). KRUMMEN 2001, S. 8 ff., äußert sich ebenfalls über die Verquickung der Verhaltensweisen bei Gastmahl und Hochzeit. Aus den Untersuchungen von KRAUSE 2006 und STARR 2009 stellt sich ein Konflikt zwischen den Geschlechterrollen dar, indem Dido mit dem „Verweben“ von Gründen (4,51 causasque innecte morandi) der weiblichen Rolle, nämlich der webenden Ehefrau, zugeordnet wird, während Dido im Gewähren eines hospitiums als dux femina (1,364) eine männliche Rolle einnimmt. Diese Auffassung kommt nahe der Erklärung von WEINREICH 1929 [1968], S. [120–128] Dionysos Lysios, der von Fesseln Lösende, seit EURIPIDES, Bakchai 725f. – In übertragener Bedeutung als ‚Sorgenlöser‘ erklärt den Namen Liber SEN. dial. 9 (De tranquilitate animi), 17,8 Liber non ob licentiam linguae dictus est inventor vini, sed quia liberat servitio curarum
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
ihrem Eid, ihrem ermordeten Ehemann die Treue zu halten,61 und für Aeneas das Lösen von seiner Bestimmung, nach Italien zu ziehen. Erst dieses Lösen aus den alten Bindungen kann das Eingehen einer neuen Verbindung verwirklichen.
Iuno Für das neue Bündnis steht zuletzt genannt Iuno, deren Wichtigkeit für die erwünschte Ehe besonders hervorgehoben ist (59 cui vincla iugalia curae – da ihre Sache die ehelichen Bündnisse).62 Deren Funktion einer Ehestifterin ist einzig explizit formuliert (59) und bei der Höhlenhochzeit wird Iuno dann auch als pronuba bezeichnet. Als Ehegottheit soll Iuno die beiden Personen in ein neues, ein gemeinsames Verhältnis zusammenbringen. Iuno wird von Dido, wie gezeigt, gemeinsam mit Bacchus-Pater Lyaeus um ihre Gegenwart gebeten (1,734). Dabei kann Pater Lyaeus als der Befreier von alten Banden und Iuno als Förderin der neuen Bindung gelten. Diese beiden Gottheiten erscheinen als die einer von Dido erwünschten neuen Ordnung.
Schlußfolgerungen aus den Ergebnissen zu den Götterreihungen Es zeigte sich, daß die Funktion jeder einzelnen Gottheit aus dem Kontext der Dido-Episode heraus erklärt werden kann. Als Götter einer alten Ordnung, der Dido und Aeneas verpflichtet sind, erscheinen Tellus-Ceres für Dido und PhoebusApollon für Aeneas. Weil Dido beider Verpflichtung sieht, wendet sie sich an diese Götter. Als Vertreter einer neuen Ordnung, die Dido erwünscht, spricht sie Pater Lyaeus und Iuno an. Pater Lyaeus, der ‚Löser‘, kann als der Gott gelten, der ein Lösen aus den Verpflichtungen der alten Ordnung ermöglicht. Iuno, die die neue Verbindung unterstützt, ist betonend an das Ende dieser Götterreihung gesetzt. Die Aufzählung der angesprochenen Gottheiten zeigt sich als nicht beliebig, sondern stellt kontextuell betrachtet eine logische und zielgerichtete Götterreihung dar, die den Zweck der Eingeweideschau umreißt. Gegenüber einem Forschungsstand, der eine historische Göttertrias zu rekonstruieren versucht, der Iuno als besonders wichtige Göttin an vierter Stelle angefügt ist, und der die Diskussion über die Funktionsbereiche auf Stadt- und Hochzeitsgottheiten polarisiert, stellt sich auf kontextueller Basis ein anderes Bild dar: Hierbei läßt sich keine Trias von weniger wichtigen und einer besonders wichtigen Gottheit nachzeichnen, sondern es ergeben sich zwei Zweiergruppierungen,
animum – Der Erfinder des Weines wurde nicht aufgrund der Ungebundenheit der Rede Liber genannt, sondern weil er den Geist aus der Knechtschaft der Sorgen befreit. 61 Hierdurch läßt sich die von C. KNAPP, in HAHN 1934, S. 149 Anm. 62, geäußerte Vermutung bestätigen und vor allem präzisieren, Dido wolle mit den Opfern von ihrem Eid entbunden werden. (KNAPP in eigenen, mit C.K. markierten Anmerkungen). 62 So CLAUDIUS DONATUS (s.o. Anm. 38).
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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die mit jeweils einer weiblichen und einer männlichen Gottheit eine alte bzw. eine neue Ordnung repräsentieren. Es erscheinen dabei alle Gottheiten in ihrer Funktion als gleichberechtigt; keine ist wichtiger als die anderen, sondern jede bedeutet einen notwendigen Schritt auf das Ziel einer neuen Eheschließung hin. Aufgrund des Fortschritts durch die textimmante Untersuchung kann die auf SERVIUS zurückgehende Hypothese einer Göttertrias, bei der eine zivilisationsund damit stadtkonstituierende Bedeutung vermutet wird, aufgegeben werden. Auch die sich an SERVIUS orientierenden Versuche, bei allen Gottheiten einen nur allgemeinen Bezug zur Ehe nachzuweisen, können vernachlässigt werden.63 Vielmehr ließ sich kontextuell ein sehr differenzierter Bezug der Gottheiten zur Eheangelegenheit der Dido nachweisen.
4.6.3 Die Gottheiten im einzelnen – historische Bezüge Zu Tellus-Ceres In dem Bestreben, eine gemeinsame Funktionalität für alle genannten Götter zu definieren, vermutet die Forschung auch für Ceres entweder eine Funktion als Hochzeitsgöttin oder als Stadtgottheit oder beides zugleich, wie oben beschrieben.64 Insbesondere das Epitheton legifera, das wie eine Übersetzung des griechischen thesmophoros wirkt, scheint einen zivilisations- und damit stadtkonstituierenden Zusammenhang anzudeuten. Dieses Epitheton für die Gottheit Ceres ist meines Wissens kein weiteres Mal bezeugt und zudem erscheint das Adjektiv legifer erstmals in dieser Vergilischen Formulierung.65 Bei der Ungewöhnlichkeit und Neuheit des Ausdrucks ist auch ein neuer Sinngehalt zu vermuten. Dieser Sinn ist darin zu suchen, daß man hier nicht Gesetze als allgemein stadt- oder gesellschaftskonstituierend versteht, sondern spezifiziert bezieht auf das Gesetz, das ganz konkret die Eheangelegenheit der Dido, nämlich die eidlich verbürgte Treue gegenüber dem toten Ehemann, betrifft. Wie die kontextuelle Untersuchung ergeben hat, kann Ceres als Unterstützerin der ersten ehelichen Verbindung und damit aber als Gegnerin einer zweiten, nämlich derjenigen mit Aeneas verstanden werden. Ceres erscheint in dem speziellen Fall der neuen Ehe vielmehr als Verweigerin der angestrebten Verbindung.66 Da jedoch in der historischen Forschung, soweit ich sehe, gerade diese Stelle (4,58) als Nachweis für Ceres als Schützerin der Ehe generell gilt,67 bedarf es in dieser Sache einer Klärung. Eine Revision der Nachweise für Ceres in der Funktion als Ehegottheit – die oh-
S.o. S. 126f. S.o. Anm. 42. ThLL 7,2,2 (1970–1979) Sp. 1105 s.v. legifer. Ceres als Verweigerin der Ehe ist bei SERV. Aen. 4,166 ebenfalls belegt (Text s.o. Anm. 42); die Frage des Unterstützens oder Ablehnens durch Ceres-Tellus diskutiert HERSCH 2010, S. 275–278. 67 S.o. Anm. 41 und 47.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
nehin nicht unumstritten sind68 – ist aus meiner Sicht wünschenswert, kann jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. Auch für Tellus trifft man auf dieselbe Problemlage: Zwar ist Tellus durch die Parallelstellen, vom Eid und von der Vereinigung (VERG. Aen. 4,24 bzw. 4,166), im Zusammenhang mit Ehe zu sehen, aber stärker differenziert geht es beim Eid um das Festhalten an der ersten Ehe und bei der Vereinigung um ein Verweigern dieser zweiten Verbindung. Die wichtigere Stelle, die Höhlenhochzeit mit ihren negativen, todbedeutenden Anzeichen, wird meistens jedoch positiv als Zeichnung einer Eheschließung gesehen und als Beleg für die Beteiligung der Tellus bei der römischen Eheschließung gewertet.69 Da auch in der Forschung eine Zurückhaltung darin zu bemerken ist, Tellus trotz der Identifikation mit Ceres als Ehegottheit zu bezeichnen,70 wird deutlich, daß es hier ebenfalls einer erneuten Durchsicht der Belege bedarf.71 Es ist wohl bei der hier vorliegenden Stelle angebracht, die Aufmerksamkeit für andere Funktionen als die einer Ehegottheit von Tellus und Ceres zu erhöhen, da auch eine Identifikation beider aufgrund von chthonischen Aspekten beschrieben ist.72 Deshalb ist der chthonische Aspekt der Göttinnen stärker zu beachten. Der Eid mit der Selbstverfluchung und der Aufenthaltsort des ermordeten Gatten stellen ebenso eine Verbindung zur Totenwelt her wie die Höhle bei der vermeintlichen Hochzeit, die in negativer Wendung und Rückbezug auf den Eid als ‚Erdschlitz‘ (24 tellus ... dehiscat) interpretiert werden kann.
Zu Phoebus-Apollon Auch bei Phoebus ist vom Kontext her eine Funktion als Stadt- oder Hochzeitsgott, die die spätantiken Antiquare und im Anschluß an diese auch die moderne Forschung diskutiert, nicht gegeben. Vielmehr erscheint Phoebus aufgrund der 68 Beispielsweise ist Ceres lt. WISSOWA 1912, S. 194, nur einmal bei der römischen Eheschließung erwähnt (FEST. 87 L), in diesem Beleg sei sie jedoch an die Stelle der Tellus getreten. Explizit wertet LE BONNIEC 1958, S. 80, die Stelle legifera Ceres als eher schwer dem Bereich der Ehe zuzuordnen. 69 Beispielsweise sieht WISSOWA 1912, 191–201, bes. S. 194, die Anrufung der Tellus bei der römischen Eheschließung „gut bezeugt“ mit VERG. Aen. 4,166 und SERV. Aen. 4,166; OPELT 1962, bes. Sp. 1130, wertet VERG. Aen. 4,166 als Beleg für Tellus als Beschützerin der Ehe; RADKE 1975, Sp. 574, sieht mit SERV. AUCT. Aen. 4,166 eine Anrufung der Tellus in auspiciis nuptiarum, also als Hochzeitsauspizium bezeugt. 70 PHILLIPS 2002, bes. Sp. 101, beschreibt einen chthonischen Charakter der Tellus und eine Identifikation mit Ceres, aber nennt nicht die Ehe als ihren Funktionsbereich; LATTE 1960, S. 71, erwähnt Tellus und Ceres nur als Schutz für die Saat, im Zusammenhang mit der römischen Hochzeit ist keine der beiden Gottheiten genannt. 71 GRAF 1997, bes. Sp. 1073, führt zu Ceres und der kultisch engen Zusammenstellung mit Tellus für den privaten Kult die Verbindung mit Ehe und den Toten an. RADKE 1975, Sp. 574, bietet mehrere Belege für eine gemeinsame Verehrung von Tellus und Ceres (u.a. OV. fast. 1,671). – GHISELINI 1994. 72 Z. B. LE BONNIEC 1958, S. 88–107; GRAF 1997, Sp. 1073; PHILLIPS 2002, bes. Sp. 101.
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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apollinischen Weisung als Gott der Mantik, als der er historisch vor allem durch die Kultorte präsent ist.73
Zu Pater Lyaeus Untersucht man den Gebrauch des Beinamens ‚Lyaeus‘ in der lateinischen Literatur,74 läßt sich dieser bereits vor VERGIL nachweisen: In dem Drama Athamas des Dichters Ennius, der bis 169 v. Chr. lebte und dessen Werke nur fragmentarisch überliefert sind,75 findet sich in den wenigen noch existierenden Versen der Name Lyaeus neben Bromius und Bacchus.76 Da es im Athamas um einen griechischen Heros geht, der durch seine zweite Ehe in Raserei und Unglück gerät,77 kann man eine Reminiszenz an dieses Drama im Text VERGILs vermuten. Es zeichnet sich hierin ein literatur-historischer Bezug ab. Nachvergilisch ist der Name recht häufig zu finden.78 Eine Übertragung vom griechischen ‚Lyaios‘ und ähnlicher Formen wie ‚Lysios‘ wird diskutiert. Jedoch gehen die meist lexikalischen Darstellungen über ein kurze Einschätzung nicht hinaus.79 Zumindest erlaubt ein Überblick über verschiedene Stellensammlungen, zu bemerken, daß es sich fast ausschließlich um poetische Belege handelt,80 selbst die inschriftlich überlieferten.81 Die Bedeutungsfacetten reichen bei dem Namen ‚Lyaios‘ von einem direkten Bezug von Liebe und Wein bei den Anakreontikern, der von den römischen Dichtern übernommen worden ist,82 über ‚Dionysos Lyaios‘, der als der Gott, der die Fesseln der Sorgen löst, gedeutet wird. ‚Lysios‘ kann als der Sorgenlöser gelten oder als der aus der Gefangenschaft Befreiende oder auch als der Befreier der Seele aus der Unterwelt.83 Die Beinamen des hellenischen Gottes Dionysos ‚Lysios‘ sowie ‚Eleutherios‘ sind im Namen des römischen Gottes Liber Pater in Überset-
73 GRAF 1996c, Sp. 865; SIMON 1985, S. 118–146, bes. 122. 74 FORCELLINI 1871, S. 135, s.v. Lyaeus; CARTER 1902, S. 60f.; FORCELLINI 1920; OLD s.v. Lyaeus; ThLL ohne Eintrag. 75 VON ALBRECHT 1994, S. 106 ff. 76 ENN. scaen. 123–127, bes. 124 His erat in ore Bromius, his Bacchus pater, / illis Lyaeus vitis inventor sacrae – Den einen war Bromius auf der Zunge, den anderen Bacchus Pater, wieder anderen Lyaeus, Finder der heiligen Weinrebe (Text nach VAHLEN 1928, 138f.) (Hinweis OLD s.v. Lyaeus). 77 ENGELSING 1983, S. 2; VON GEISAU 1964, Sp. 679. 78 Per stichprobenartiger PC-gestützter Text-Recherche ergaben sich über 100 Belege (bei CARTER 1902, S. 60f. ca. 92); noch weniges weitere s.o. Anm. 74. 79 BRUCHMANN 1893, s.v. Dionysos, bes. S. 87f.; SCHLESIER 1997, Sp. 657 bes. zu Epiklesen; CARTER 1902, Sp. 2163, s.v. Lyaios. 80 FORCELLINI 1920 bemerkt nicht ganz richtig: „Absolute apud poetas“, jedoch gibt es nur wenige nichtpoetische Belege: neben etwa PETR. 41,4 vielleicht eine Inschrift (HEp–06,685). 81 Laut CARTER 1902, S. 60. 82 Laut KRUSE 1927, S. 2110. 83 Laut KRUSE 1928, Sp. 41f.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
zung eingeflossen.84 Der gesamte Ausdruck ‚Pater Lyaeus‘ ist lediglich noch nachvergilisch belegt, zweimal in der lateinischen Dichtung85 und zweimal in nichtpoetischen Fachschriften.86 Wie der Name ‚Lyaeus‘ insgesamt zu bewerten ist und ob er nicht nur als poetisches Synonym für ‚Wein‘ steht, bedarf bei der Menge der Nachweise einer eigenständigen Untersuchung, insbesondere da Bearbeitungen zu einer Epiklese ‚Lyaeus‘ fehlen. Um den Aspekt des Lösens von einer Verpflichtung, der kontextuell für die hier vorliegende Stelle ermittelt wurde, auf intertextueller Basis zu stärken, müßten andere Aspekte, wie der des Gesetzgebers durch die moderne Identifikation mit ‚Dionysos thesmophoros‘ oder der von SERVIUS mythographisch begründetete Zusammenhang mit Hochzeit, zurücktreten.
Zu Iuno Iuno, von der bei Didos erstem Erscheinen am Tempel bereits das Bild einer Karthago schützenden Stadtgottheit entworfen wurde, ist an der späteren Stelle betont in ihrer Funktion als Hochzeitsgöttin genannt. Zweifellos kann Iuno auch historisch als Stadtgottheit von Karthago gelten;87 der starke Bezug soll nur mit der Information angedeutet werden, daß Karthago – wohl im Jahre 123 v. Chr. auf Antrag des C. Sempronius Gracchus – als römische Kolonie unter dem Namen ‚Colonia Iunonia Carthago‘ wiederbesiedelt werden sollte.88 Nach dem Scheitern des Antrages kam es zum Aufschwung jedoch erst in vergilischer Zeit vor allem unter Augustus – dies mag die Aktualität und politische Relevanz in der Dichtung VERGILs beleuchten. Der Aspekt der Stadtgottheit soll hier aber nicht vertieft werden, sondern derjenige einer Hochzeitsgöttin. Angelehnt an die Formulierung cui vincla iugalia curae (59) wird die Epiklese in ‚Iuno iugalis‘ oder ‚Iuno Iuga‘ für die Göttin der ehelichen Verbindung leicht verständlich.89 Diese Bezeichnungen sind hauptsächlich von Antiquaren übermittelt.90 Die Funktion der Iuno als Ehegöttin im römischen Kult gilt aufgrund zahlreicher Textnachweise und Reliefdarstellungen auf Hochzeitssarkophagen als gesichert:91 In Anlehnung an den Vergilischen Wortlaut pronuba Iuno
84 SCHUR 1926, Sp. 68. 85 Nach CARTER 1902, S. 61: Poet. Lat. Min. 4,224 (d) (Carm. Verg.); SIL. 7,201 ff. 86 COLUM. 10,1,1,429; MYTH. VAT. 2,102 (1987) = MYTHOGRAPH. II, fab. 80 (ed. MAI, 1831), jeweils mit Bezug auf den Wein. 87 HÄUSSLER 1995, S. 33 ff., beschreibt, daß die Burggöttin von Karthago, die punische Gottheit Tanit, wohl hervorgegangen aus der phönizischen Astarte, römisch interpretiert wurde als Iuno Caelestis. 88 PEASE 1935, S. 163, ad 91 (lt. PLUT. C. Gracchus 11; SOLIN. 27,11); HUß 1999, bes. S. 296. Von einer Wiederbesiedlung geht aus FELLMANN 1965, Sp. 1495. 89 FABIAN 1978, S. 85. 90 FEST. 92 L = 104 M; SERV. Aen. 4,16; MART. CAP. 1,31 ff., 1,39. 91 GRAF 1999b, Sp. 73; LA ROCCA 1990, bes. 839f. zu ‚Iuno pronuba‘; NOAILLES 1939; PEASE 1935, S. 206 ad 166; WISSOWA 1912, S. 186; ROßBACH 1871 und 1853.
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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(166)92 wird eine weibliche Gestalt, die sich in den Darstellungen der Hochzeitssarkophage an einer Hochzeitszeremonie beteiligt, mit Iuno identifiziert.93 Häufig versteht man ‚Pronuba‘ als Beiname der Iuno.94 Dagegen, daß ‚pronuba‘ als ganz spezieller Kultname nur für Iuno anzusehen wäre, spricht der Nachweis der Bezeichnung auch für andere Göttinnen in klassischen Texten.95 Abschließend kann den spätantiken und modernen Auffassungen zugestimmt werden, daß Iuno – in Übereinstimmung mit der dargestellten kontextuellen Zeichnung – historisch zum einen als Stadtgottheit und zum anderen als Ehegöttin anzusehen ist.
4.6.4 Die den Gottheiten dargebrachten Tiere – Objekte der Eingeweideschau Versucht man eine genauere Bestimmung der Gottheiten und ihrer Funktionen über die Tiere, die ihnen dargebracht werden, ist zunächst die literarische Darstellung zu berücksichtigen. Rein nach der Syntax des Satzes sind die herangewachsenen Tiere (bidentes) gekennzeichnet als Gaben an alle vier der genannten Gottheiten (4,57–59). Die weiße Kuh läßt sich jedoch syntaktisch nicht zuordnen (61 candens vacca). Eine Bestimmung, welcher Gottheit diese dargebracht wird, erfolgt eher assoziativ und orientiert an der Ordnung des Erzählten. Danach kann Iuno als die Empfängerin gelten, denn von ihr wurde zuletzt und mit besonderer Betonung gesprochen, bevor der Opferguß geschildert ist, den Dido an der Kuh ausführt (4,59/60f.). Im weiteren finden sich keine Tiergattungen differenziert, es wird lediglich mit einem Sammelbegriff und im Plural von pecus (‚einzelnes Stück Vieh‘) gesprochen, als es um die Eingeweideschau geht. Einzugehen ist auf den Ausdruck bidentes,96 der in der vorgelegten Übersetzung zurückhaltend mit ‚herangewachsene Tiere‘ wiedergegeben ist und nicht, wie so häufig, bereits als ‚Schafe‘ interpretiert.97 Wörtlich bedeutet bi-dens ‚zweizähnig‘ und wird erklärt – allerdings nicht einhellig98 – als Bezeichnung für sol92 Text und Übersetzung s.o. S. 123. 93 Siehe insbesondere LA ROCCA 1990, bes. 839f.; ROßBACH 1871 und 1853. 94 FABIAN 1978, S. 86. Als Beispiele sind zu nennen für pronuba Iuno: OV. Her. 6,43; OV. met. 6,428; OV. met. 9,762; AUSON. Cent. nupt. 7,83; ANON. carmen contra paganos 87; MART. CAP. 1,26f.; MART. CAP. 9,11. 95 Z.B. VERG. Aen. 7,319: Bellona; OV. Her. 2,17: Tisiphone; LUCAN. 8,90: Erinys; CLAUD. carm. min. 29,38: Natura; CLAUD. rapt. Pros. 2,362f.: Nox; CLAUD. Paneg. 8,645: Nox; MART. CAP. 9,6; MART. CAP. 9,8: Venus. 96 ThLL 2 (1900–1906) s.v. bidens, Sp. 1972f. 97 Lt. PEASE 1935, S. 133 ad loc., wird bidentes meist von Schafen gesagt (nach z.B. SERV. Aen. 4,57), aber nicht ausschließlich. Belege für die Abweichungen außerdem bei KRAUSE 1931, Sp. 247; KRAUSE 1894, S. 6–8. 98 Sich berufend auf FEST. 4 L: „ambidens sive bidens ovis appellabatur, quae superioribus et inferioribus est dentibus (nach KRAUSE 1894, S. 7) – ‚beidzähnig‘ oder ‚zweizähnig‘ wurde ein Schaf genannt, das oben und unten Zähne hat.“ PRESCENDI / SIEBERT / HUET 2004, S. 199; (LÜBBERT und MARQUARDT s. KRAUSE 1894, S. 7).
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
che Tiere, die sich im Zahnwechsel befinden und daher als herangewachsen gelten.99 Bidens ist somit eigentlich keine Bezeichnung für eine Tiergattung, sondern eine Altersangabe.100 Sie kennzeichnet das Erreichen einer Altersnorm. Ein ‚bidens‘ ist ein Tier, das die ersten beiden neuen Schneidezähne hat. Der Ausdruck wird offenbar nur für Opfertiere verwendet und ist zunächst vorwiegend in der Dichtung nachweisbar.101 Es konzentrieren sich die Darstellungen auf den sakralen Bezug und verbunden damit auf etymologische antike und spätantike Erklärungen.102 Bei einer Klassifizierung der Opfertiere nach dem Entwicklungsstand in solche, die noch Milch saugen (lactentes), und solche, die entwöhnt sind (maiores), sieht man die bidentes als Untergruppe zu den maiores an.103 Hierbei ergibt sich jedoch eine Doppelung, so daß zu fragen wäre, warum überhaupt zwischen bidentes und maiores unterschieden werden muß. Könnte es nicht sein, daß die bidentes neben den lactentes und vollständig entwöhnten Tieren (maiores) noch eine eigenständige Gruppe der herangewachsenen, aber im zweiten Lebensjahr noch nicht ausgewachsenen Tiere bilden?104 Etymologische Versuche deuten mit der 99 Zu Recht vorgezogen wird die Erklärung des IULIUS HYGINUS bei GELL. 16,6,14 (nach NEHRING 1893, S. 64) bidentes hostiae, quae per aetatem duos dentes altiores habent ... quae bidens est ... hostia oportet habeat dentes octo sed ex his duo ceteris altiores, per quos appareat ex minore aetate in maiorem transcendisse – ‚bidentes‘ sind Opfertiere, die entsprechend ihrem Alter zwei höhere Zähne haben, ... und dieses ‚bidens‘ ist ein Opfertier, das eigentlich acht Zähne hat, aber zwei von denen sind höher, so daß durch diese angezeigt wird, daß sie von einem geringeren Alter zu einem höheren gewechselt haben. – Dementsprechend folgt die moderne Forschung (nach PEASE 1935, S. 133f. mit weiterer Literatur zum Alter von Opfertieren) meist den Beobachtungen von HENRY 1878, S. 595, der sich bezüglich des Zahnwechsels bei Schafen veterinärmedizinisch kundig zeigt: So beginnen Ende des ersten Lebensjahres die ersten von acht vorderen Milchzähnen auszufallen, im zweiten Lebensjahr erscheinen als erstes die zwei Frontzähne. Da diese größer sind als die verbliebenen Milchzähne, entstehe der Eindruck, das Schaf habe nur zwei Zähne. Wenn der Zahnwechsel im dritten Jahr weiter fortschreitet, verliert sich der Eindruck von ‚zweizähnig‘. Somit ist ein ‚bidens‘ ein Tier, das bereits die ersten beiden neuen Zähne hat, aber noch keine weiteren, es befindet sich dann in seinem zweiten Lebensjahr, ist also bereits 1 Jahr alt, aber noch keine zwei. Bestätigt ist diese Erläuterung durch z.B. NEHRING 1893. 100 Die Gebißentwicklung, nach der das Alter bestimmt wird, stellt NEHRING 1893 dar: Schafe haben als Wiederkäuer im Unterkiefer 6 Schneidezähne und 2 Eckzähne, im Oberkiefer fehlen diese. Die je Kieferhälfte 6 Backenzähne, also insgesamt 24 Backenzähne, sind nur schwer zu sehen und spielen bei der Altersbestimmung keine Rolle. Wenn von 8 Zähnen gesprochen wird, können nur die Schneide- und Eckzähne im Unterkiefer gemeint sein. Der Wechsel vom Milchgebiß zu den bleibenden Zähnen geht über mehrere Jahre vor sich: Der Wechsel des ersten, mittleren Paares vollzieht sich im Alter von 1–1½ Jahren, der der Nachbarzähne im Alter von 1½–2¼, das dritte Paar mit 2¼–2¾, das vierte und letzte Paar mit 3–4 Jahren. Ausgewachsene Schafe sind somit mindestens 4 Jahre alt. 101 KRAUSE 1931, Sp. 247, ThLL 2 (1900–1906) s.v. bidens, Sp. 1973. 102 Die etymologischen Erläuterungen stellt ausführlich dar KRAUSE, 1894, S. 6–8. 103 Mit Belegen KRAUSE 1894, S. 5f., KRAUSE 1931 Sp. 246f. 104 Den Befund einer mittleren Altersstufe des Tieres kann man dokumentiert sehen bei IULIUS HYGINUS (GELL. 16,6,15 = MACR. sat. 6,9,7; ISID. orig. 12,1,9 ex minore aetate in maiorem transcendisse (s.o. Anm. 99) und SERVIUS (Aen. 4,57) quia neque minores, neque maiores li-
4.6 Die im Ritual angesprochenen Gottheiten: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno
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Verbindung zu bi-ennis u.ä. (im zweiten Jahr befindlich) in diese Richtung.105 Andere Erläuterungen, die das ‚bi‘ nicht auf zwei Zähne, sondern auf beide Kiefer beziehen (ambidentes), spiegeln möglicherweise ein Problembewußtsein für die Doppelung in der Klassifizierung wider, indem sie für die bidentes eine vollständige Zahnentwicklung beschreiben und so mit den maiores harmonisieren.106 Beruft man sich nicht auf die vermutete sprachliche Gepflogenheit, daß bidens in der Regel ein Schaf bezeichne, muß die Frage, mit welchen Opfertieren die Gottheiten in dem hier dargestellten Ritus bedacht werden, zum großen Teil offen bleiben: Es sind jedenfalls Tiere in einem ganz bestimmten Alter; aber welcher Gattung die bidentes angehören, ist unbestimmt, ebenso welches Geschlecht und welche Farbe sie haben. Nach der Syntax des Satzes erhalten alle genannten Gottheiten diese Tiere als Opfer. Einzig die Kuh kann nach Gattung, Geschlecht und Farbe zugeordnet werden. Dagegen ist für sie zumindest syntaktisch kein bestimmter Empfänger definiert, jedoch kann nach der Ordnung des Erzählten Iuno als die Adressatin gelten.107 Das allgemeine Interesse an dieser Textstelle gilt weniger dem genauen Erfassen des Dargestellten auf literarischer Ebene als der Frage nach der Vereinbarkeit der Angaben mit historischen Daten. Einzelne Äußerungen dazu erweisen sich jedoch als unbefriedigend.108 Lediglich in Bezug auf die weiße Kuh gibt es genügend Angaben, die verwertbar erscheinen: Die weiße Farbe, die auf ein Opfer für eine Himmelsgottheit deutet, wie Iuno eben,109 und, daß für Iuno öfter und vor allem auch inschriftlich das Opfer einer Kuh belegt ist,110 sowie die Darstellungen
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cebat hostias dare – weil es weder erlaubt ist zu kleine, noch zu große Opfertiere darzubringen. KRAUSE 1894, S. 6f.: (GELL. 16,6,15; MACR. sat. 6,9,5; SERV. Aen. 4,57: ‚bidentes‘ autem dictae sunt quasi biennis). Vervollständigt ist der Wortlaut SERV. Aen. 4,57: ... moris enim fuerat, ut ad sacrificia eligerentur oves, quibus nihil deesset. ‚bidentes‘ autem dictae sunt quasi biennis, quia neque minores, neque maiores licebat hostias dare. Sunt etiam in ovibus duo eminentiores dentes inter octo, qui non nisi circa bimatum apperent: nec in omnibus, sed in his quae sunt aptae sacris, inveniuntur. – … es ist nämlich Sitte gewesen, daß für die Opferschlachtungen Schafe ausgewählt wurden, denen nichts fehlte. Sie wurden aber ‚bidentes‘, gleichbedeutend mit zweijährig [bi-ennis], genannt, weil es weder erlaubt ist zu kleine, noch zu große Opfertiere darzubringen. Zudem gibt es bei Schafen zwei stärker aus den acht hervortretende Zähne, die nicht weniger als ungefähr ein Alter von zwei Jahren anzeigen: nicht bei allen werden sie gefunden, sondern bei denen, die für heilige Handlungen geeignet sind. Vgl. FEST. 4 L (s.o. Anm. 98). Die Kuh erwähnt KADLETZ 1976 gar nicht und gibt nur Schafe an (für Apollo S. 208, Ceres S. 210, Iuno S. 236 und Liber S. 255). Problematisch erscheint seine Vorgehensweise, wie sich zumindest an dieser Stelle hier zeigt, weil die Quellentexte aus dem Kontext gelöst, die Ausschnitte zum Teil zu knapp gewählt sind, so daß die Kuh nicht berücksichtigt wird, und die so unzureichend ermittelten ‚Fakten‘ dann lediglich statistisch ausgewertet werden. – KRAUSE 1894, S. 31–43, übergeht bei seiner Auflistung die Angaben hier ganz. So vermerkt LE BONNIEC 1958, S. 81 Anm. 1, die Opfertiere („brebis et vache“) würden normalerweise der Iuno dargebracht, passten aber für die anderen drei Gottheiten nicht. Worauf er seine Aussage stützt, gibt er leider nicht an. PEASE 1935, S. 138 ad 4,61. Nach KRAUSE 1894, S. 38f., überwiegend in den Arvalakten.
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eines Rindes auf den Hochzeitssarkophagen mit der sogenannten Iuno pronuba.111 Das alles vermittelt den Eindruck, daß hier historisch korrekte Informationen vorliegen. Bei der dritten Erwähnung von Tieren (4,63 pecudes) schwindet die relative Konkretheit wieder, die sich zu Iuno und der Kuh fand. Es ist nicht klar, an welchen Tieren eine Eingeweideschau stattfindet, ob bei allen dargebrachten Tieren oder nur bei der Kuh.112
4.7 ZU DEN AUSFÜHRENDEN IM RITUAL Uneinigkeit besteht in der Forschung darüber, wer das Ritual ausführt. Denn außer Dido und Anna ist noch, aber nur ein einziges Mal, von Sehern die Rede, und zwar in dem schwer zu interpretierenden Satz heu vatum ignarae mentes (65). Wegen dieser Angabe geht ein Großteil der Interpretationen davon aus, daß mit vates spezielles Personal für das Ritual dargestellt sei, das in irgendeiner Form ein Ergebnis der Eingeweideschau bekannt gäbe. Auf die Fragen, die mit dem Ergebnis der Schau zusammenhängen, ist weiter unten in einem eigenen Abschnitt einzugehen. In diesem Abschnitt hier soll der Aspekt des Personals im Vordergrund stehen. Es gilt zu klären, durch welche Figuren die Handlung im Erzählten konstituiert ist, also welche Personen als im Ritual tätig dargestellt sind, und in welcher Rolle sie im ganzen erscheinen und wer mit vates bezeichnet sein könnte. Darzustellen ist weiterhin, wie von den Tätigkeiten im Ritual erzählt ist.
4.7.1 Die beiden Frauen: Dido und Anna Als handelnd erscheinen die beiden Frauen Anna und Dido, anfangs im Gespräch. Ihnen sind – ebenso im Gespräch – die Göttinnen Iuno und Venus in einem zweiten Abschnitt gegenübergestellt. Bei den rituellen Tätigkeiten sind zunächst die Schwestern Dido und Anna als agierende Personen beschrieben, denn sie bilden das Subjekt der Sätze. Darauf findet eine Verengung des Blickes auf Dido allein statt, indem nur noch sie als Handelnde dargestellt ist: Nachdem zuvor Anna mit ihrer Rede im Fokus gestanden hat, geht eine Beschreibung, wie ihre Rede auf Dido wirkt, zu einer Beobachtung ihrer gemeinsamen Tätigkeiten über. Anfangs sind dabei mit dem Plural noch beide Frauen genannt (56f. adeunt; exquirunt;
111 S.o. Anm. 91. 112 Lt. PEASE 1935, S. 139 ad 63, zieht HENRY 1878, S. 598, die bidentes als Objekte einer Eingeweideschau gar nicht in Betracht. HENRY setzt eine an der Ordnung des Erzählten orientierte Sichtweise fort und bezieht deshalb die Eingeweideschau nur auf die Kuh, von der kurz zuvor erzählt wurde. – Nach den Angaben bei KADLETZ 1976 (s.o. Anm. 107), der ja die Kuh nicht erwähnt, dürfte eine Eingeweideschau nur an den bidentes stattfinden.
4.7 Zu den Ausführenden im Ritual
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mactant), dann erscheint mit dem Singular einzig Dido (60–64 ipsa tenens ... fundit; spatiatur; instaurat; inhians ... consulit).113 Anna ist über die Aufzählung, welche Gottheiten mit Darbringungen bedacht werden (58f.), aus dem Blick geraten, so daß der Fokus jetzt auf Dido liegt. Annas Funktion als Dialogpartnerin und Impulsgeberin für den weiteren Handlungsablauf ist erfüllt. Neben dem Subjektswechsel bezeugt auch die starke Betonung durch ipsa, nämlich daß Dido sich eigenhändig am Ritus beteilige (60 ipsa tenens dextra ... Dido), die Konzentration auf sie.114 In der Beschreibung ihres seelischen Zustandes wird die Konzentration auf Dido konsequent fortgesetzt (68f. uritur; vagatur ... furens). Bei den nachfolgenden Tätigkeiten – wie sich Dido um die Gäste bemüht – tritt diese ebenfalls alleine auf (74–85 ducit; ostentat; incipit; restitit; quaerit; demens ... exposcit; pendet). Auch bei der weiteren Schilderung der Gefühlswelt ist die Aufmerksamkeit einzig auf Dido gerichtet, die auch hier das Subjekt aller Handlungen bildet (82–85 sola ... maeret; incubat; absens ... auditque videtque; detinet; possit). Auch die Strukturierung des gesamten Abschnitts weist auf die Hervorhebung der Figur Dido hin. Denn es lassen sich in etwa gleichmäßig lange Passagen erkennen, in denen Dido allein erscheint: vom Anfang bis Vers 30 hauptsächlich redend, darauf ab Vers 60 mit dem Wechsel zum Singular wieder allein, jetzt aber handelnd. Mit Vers 90 ist Dido abgetreten und es erscheint Iuno redend.
4.7.2 Die Rolle von Anna Es ist zu fragen, in welcher Rolle Anna erscheint und welche Bedeutung sie insbesondere für das Ritual hat. Da sie nämlich diejenige ist, die zu den rituellen Handlungen rät (50f. tu modo posce deos veniam sacrisque litatis ...) und sich an der Ausführung beteiligt, muß geprüft werden, ob etwa Anna in der Rolle einer religiösen Expertin zu sehen ist. Jedoch kann sie wegen ihres Ratgebens, wie der Stand der Forschung dokumentiert, auch einfach in der klassischen Rolle einer Vertrauten gesehen werden.
113 So SWALLOW 1951, S. 147. Dagegen nimmt diesen Wechsel PEASE 1935, S. 132 im Anschluß an SABBADINI 1930, ad loc., nicht wahr und geht davon aus, daß vates anwesend sind: „Whether the subject of adeunt is Dido and Anna or Dido and the vates (cf. 4,65) is ambiguous.“ 114 So SWALLOW 1951, S. 147. Dagegen vermerkt PEASE 1935, S. 137 nicht eine Fokussierung, sondern lediglich eine Kontrastierung: „Dido is here contrasted, by the use of ipsa, with her sister or the vates, as Sabbadini (ad loc.) observes.“
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Die Vertraute – der Forschungsstand In der wissenschaftlichen Literatur wird Anna einhellig als Vertraute der Dido beschrieben.115 Die Frage, ob sie als Expertin für Religiöses zu betrachten wäre, hat in der Diskussion – soweit ich sehe – keinerlei Relevanz. Zu der richtigen Einschätzung, Anna habe die Rolle einer Vertrauten, ist man über einen Literaturvergleich gelangt. Für das Schwesternpaar VERGILs wurden dabei Vorbilder aus der griechischen Literatur herangezogen: Annas Rolle ist zum einen vergleichbar mit derjenigen von Chalkiope, der Schwester Medeas in den Argonautica des APOLLONIOS RHODIOS (3,636 ff.). Dort will Medea wegen ihrer Liebe zu Iason mit ihrer Schwester sprechen. Für den Aspekt des Liebesgeständnisses kann man daher Chalkiope als Vorbild betrachten. Der Aspekt der besseren Verteidigungsmöglichkeiten durch die Gäste, den Anna bei ihrem Zureden einbringt (VERG. Aen. 4,47–49) und in ihrem Rat anfügt (50f. ... indulge hospitio causasque innecte morandi), begegnet jedoch nicht in demselben Zusammenhang, sondern an anderer Stelle in den Argonautica. Das Vorbild dafür liefert das Verhältnis der Amme Polyxo gegenüber der Herrscherin Hypsipyle in der Lemnos-Episode. Dort rät die Amme – allerdings nicht im vertrauten Gespräch, sondern in einer öffentlichen Sitzung – dazu, Iason mit seinen Leuten in die Stadt zu bitten, weil Hypsipyle durch sie die Verteidigungsmöglichkeiten gegen die Thraker verbessern könne (APOLL. RHOD. 1,675 ff.). Auf diesem Hintergrund erscheint die Figur Anna als Kompilation aus den Figuren der Schwester Chalkiope und der Amme Polyxo.116 Als weitere Vertrauensverhältnisse lassen sich das schwesterliche zwischen Antigone und Ismene, Elektra und Chrysothemis,117 Pasiphae und Ariadne118 sowie dasjenige zwischen der Amme und Phaedra im Hippolytus des EURIPIDES (bes. 433–497)119 anführen. Daß es gerade auf den Rat der Vertrauten hin doch zu den Ereignissen kommt, die vermieden werden sollten, gilt als Element des Dramas.120 Eben dieses Element der tragischen Hilfe findet sich auch in der Dido-Episode VERGILs. Hier läßt sich eine Entwicklung auf das Ende hin aufzeigen, bei der unterschiedliche Gewichtungen in der Rolle Annas deutlich werden: Anna wird ins Vertrauen gezogen. Dem moralisch guten und religiös verankerten Argument der Treue Didos, das an der Vergangenheit orientiert ist, setzt sie eine Haltung entgegen, die auf die Möglichkeiten des gegenwärtigen Lebens ausgerichtet ist. Sie rät zur Familiengründung und Akzeptanz der aktuellen Liebe (33 nec dulcis natos Veneris nec praemia noris – willst wissen weder von süßen Kindern noch
115 CONINGTON 1876, S. 258; HEINZE 1915, S. 126f., 417; KOSTHORST 1934, S. 72–82, bes. 78 ff.; PEASE 1935, 49f.; SWALLOW 1951, S. 145; BARRETT 1970, S. 22; WEST 1975, S. 267; WLOSOK 1976, S. 235; D’ANNA, 1984, S. 180; NELIS 2001, S. 136–146. 116 NELIS 2001, S. 136–146, bes. 139: „Anna is therefore a fusion of Polyxo and Chalciope“ 117 AUSTIN 1955, ad 8. 118 KOSTHORST 1934, S. 79. 119 PEASE 1935, S. 50; NELIS 2001, S. 138 Anm. 58. 120 NELIS 2001, S. 138.
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von Geschenken der Venus?)121 und entspricht damit den tieferen Wünschen Didos. Diese Position vermag sie mit dem politischen Interesse, daß mit dem Bleiben der Gäste die Verteidigungsmöglichkeiten verbessert würden, zu verstärken.122 Das Problem, daß das Gastrecht durch das Eingehen eines Liebesverhältnisses womöglich verletzt wird, was die Forschung diskutiert, entgeht ihr offenbar.123 Korrespondierend zu Didos religiösen Bedenken argumentiert Anna auch auf religiöser Ebene. Dabei unterliegt sie jedoch einem Irrtum, weil die Troianer eben nicht, wie sie meint, begünstigt von Iuno gekommen sind (45 Iunone secunda), sondern ganz im Gegenteil, die Landung der Troianer ist ein Resultat aus der Feindschaft Iunos.124 Denn diese hat aus Mißgunst gegenüber Aeneas dessen Landung dort durch einen Sturm verursacht, wie im 1. Buch erzählt ist.125 Diese Fehleinschätzung Annas in religiöser Hinsicht126 und auch ihre ins Ironische zu verkehrende Formulierung von den praemia Veneris (33) ist für den Rezipienten klar zu erkennen. Wegen solcher Irrtümer Annas muß schließlich auch ihr Rat zu einem religiösen Handeln fragwürdig erscheinen. So weist gleich am Anfang die subtile Formulierung des Erzählers sic unanimam adloquitur male sana sororem (so spricht sie, die nicht bei Verstand, zur Schwester, die gleicher Verfassung, 8) darauf hin, daß es nicht nur Dido, sondern auch Anna an Urteilsvermögen mangelt.127 Im weiteren erscheint Anna erst wieder gegen Ende des Liebesverhältnisses. Während sie am Anfang in der zweifachen Funktion als Ratgeberin in der Liebesangelegenheit und der rituellen Frage aufgetreten war, erscheint sie beim zweiten Mal allein im Zusammenhang der Liebesangelegenheit. Sie hat die Aufgabe einer Botin und Mittlerin, um die bevorstehende Abreise vom Geliebten und seiner Leute zu verhindern (416 ff.). Bei ihrem dritten Erscheinen geht es dagegen einzig um rituelle Angelegenheiten (474 ff. und 634–637)128. Anna ist von Dido beauftragt, Vorbereitungen für ein magisches Ritual zu treffen – das Dido jedoch gar nicht auszuführen gedenkt, sondern hinter dem angeblichen Vorhaben ihre Selbstmordabsicht verbirgt. In diesen beiden Fällen ist Anna im Gegensatz zum Anfang nicht eine Ratgebende, sondern lediglich eine Auftragsempfängerin.129
121 Annas Argumente sind formuliert bei z.B. CATULL. 61,61–75, worauf AGRELL 2004, S. 96, hinweist. 122 KNORR 1898, S. 22; HEINZE 1915, S. 128; PEASE 1935, S. 87; WLOSOK 1976, S. 241. 123 S.o. Anm. 59. 124 AUSTIN 1955, ad 45f.; SWALLOW 1951, S. 146. 125 VERG. Aen. 1,29–49, bes. Iunos Rede. Dem auf Befehl der Iuno entfachten Seesturm (1,65– 70) sind die Troianer erst durch das Eingreifen Neptuns entronnen (bes. 1,130). 126 WEST 1975, S. 273. 127 ADKINS 1974, S. 44f. 128 VERG. Aen. 4,634–637 dic corpus properet fluviali spargere lympha / et pecudes secum et monstrata piacula ducat – sag ihr [sc. Anna], sie solle eilen, ihren Körper mit Flußwasser zu besprengen und Tiere und die bezeichneten Sühnopfer mit sich bringen. 129 WEST 1975, S. 281.
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Erst in der Schlußszene ist Anna wieder aus dieser Rolle gelöst (672 ff.). Aber die ehemals eng Vertraute, die Eines-Sinnes-Schwester (8 unanima soror) findet sich jetzt als eine Betrogene.130 Im Unwissen über die wahren Absichten Didos hat Anna auf tragische Weise zu deren Tod beigetragen,131 indem sie letztendlich den Scheiterhaufen errichtete und sogar die Waffe des Aeneas, die Dido dann für die Selbsttötung benutzt, auf den Scheiterhaufen legte.132 Zusammenfassend läßt sich bei der Beobachtung des Kontextes mit der Frage, in welcher Rolle Anna auftritt,133 und im Vergleich mit literarischen Vorbildern feststellen: Die Rolle der Anna ist die einer Vertrauten, die durch ihren Rat und ihre tragische Hilfe zum unglücklichen Ausgang beiträgt. Ihre Rolle in rituellen Angelegenheiten erscheint, bis auf den Rat zu Anfang, zweitrangig. Als vornehmlich Auftragsempfängerin von Dido kann sie hiernach lediglich als eine Helferin und nicht als kompetente Ratgeberin in religiösen Angelegenheiten gelten.
Anna, eine religiöse Expertin? Auch wenn man eine Gegenprobe unternimmt und nicht die Rolle einer Vertrauten untersucht, sondern vergleicht, wie religiöses Fachpersonal, insbesondere Seherfiguren, sonst in der Aeneis dargestellt sind, zeigt sich kein anderes Ergebnis, als daß Anna diesem Darstellungstyp nicht entspricht. Um ein Bild dieses Darstellungstyps zu vermitteln, sollen hier einige Beispiele – von zwei männlichen und zwei weiblichen Figuren – vorgebracht werden.
Exkurs: Der Darstellungstyp eines religiösen Experten Sucht man nach diesem Darstellungstyp, insbesondere dem eines Sehers, lassen sich sowohl knappe Erwähnungen als auch längere Darstellungen eines quasi berufsmäßigen Sehers anführen: 1. Asilas, der Etrusker: Zu den knappen Erwähnungen gehört die Vorstellung des Etruskers Asilas. In den italischen Büchern wird dieser in einer Reihe von Heeresführern, die Verbündete des Aeneas aus dem Gefolge des Etruskers Tarchon sind, genannt (VERG. Aen. 10,175–180). Asilas wird als Mittler zwischen Menschen und Göttern, hominum divomque interpres, und als Experte 130 VERG. Aen. 4,675 me fraude petebas – unter einem Vorwand batest du mich. 131 WEST 1975, S. 274–276. 132 Hier liegt jedoch zumindest eine Ungenauigkeit vor zwischen Didos Auftrag an Anna, diese möge Kleidung und Waffen des Aeneas und das gemeinsame Bett auf den Scheiterhaufen bringen (4,495f.), und der Darstellung, daß Dido Waffen, Kleider und ein Bild dann selbst auf den Holzstoß legt (4,507f.). 133 SWALLOW 1951, S. 145, beschreibt die Rollen ähnlich: die Vertraute (4,1–9) – die Botin (4,416–438) – die Helferin im vorgeblich magischen Ritual (4,474–503) – die Verlassene (4,663–692).
4.7 Zu den Ausführenden im Ritual
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für Eingeweideschau, Beobachtung der Sterne, für die Sprache der Vögel und für Vorzeichen durch Blitze bezeichnet.134 Diese Aufzählung von Techniken dient hier allein der Personenbeschreibung, ohne daß eine Ausübung geschildert wird. 2. Helenus, der Troianer: Eine umfassendere Darstellung erfährt in dem Bericht des Aeneas der aus Troia stammende Helenus, Sohn des Priamus (VERG. Aen. 3,358–380). Er wird mit einer ähnlichen Bezeichnung wie Asilas, nämlich interpres divom, angesprochen und ebenfalls mit einem Katalog von Techniken vorgestellt: als Mittler der Götter, der das Wollen des Phoebus, insbesondere desjenigen von Klaros, kennt, der sternenkundig ist und die Sprache und Vorzeichen der Vögel versteht.135 In dessen Repertoire kommt die Eingeweideschau allerdings nicht vor. Im Gegensatz zur knappen Darstellung des Asilas folgt dem Katalog bei der Vorstellung des Helenus dann auch eine Weissagung. Denn weil Aeneas die Vorhersage der Harpyie Celaeno136 nicht versteht, hat er Helenus um Erläuterung gebeten. Nach den Vorbereitungen, einem Opfer von jungen Rindern, die die Götter gnädig stimmen sollen (369f.),137 läßt Helenus inspiriert von Phoebus an dessen Tempel die Weissagung des Gottes verlauten.138 Ähnlich wie die wörtlich angeführten Gebete des Aeneas, die, wie weiter unten erläutert,139 allesamt Erfolg haben, ist auch diese Weissagung quasi zum Zeichen ihrer Wahrhaftigkeit in wörtlicher Rede wiedergegeben. 3. Deiphobe, die Sibylla von Cumae: Die Darstellung der Sibylle ist ebenfalls sehr ausführlich (insbesondere VERG. Aen. 6,35–102). Mehrfach wird sie als vates, seltener als sacerdos bezeichnet.140 Mit dem Ausdruck Phoebi Triviaeque sacerdos141 sind ihre zwei großen Zuständigkeitensbereiche angegeben, den der Prophetie und den der Unterwelt. Ein dezidierter Katalog ihrer Fähigkeiten findet sich dagegen nicht. Statt dessen werden die besonderen Fähig-
134 VERG. Aen. 10,175–177 (Asilas): ille hominum divomque interpres Asilas / cui pecudum fibrae, caeli cui sidera parent / et linguae volucrum et praesagi fulminis ignes. – Dann jener Mittler zwischen Menschen und Göttern, Asilas, dem des Viehs Fasern, dem des Himmels Sterne gehorchen und die Stimmen der Vögel und des voraussagenden Blitzes Feuer. 135 VERG. Aen. 3,358–380, bes. 3,359–361 (Helenus): Troiugena interpres divom, qui numina Phoebi, / qui tripodas, Clarii laurus, qui sidera sentis / et volucrum linguas et praepetis omina pennae. 136 VERG. Aen. 3,247–257. 137 VERG. Aen. 3,369f. hic Helenus caesis primum de more iuvencis / exorat pacem divom – Helenus erbittet, nachdem zuerst nach Brauch junge Rinder getötet worden sind, den Frieden der Götter. 138 VERG. Aen. 3,373 canit divino ex ore sacerdos – es singt aus göttlichem Munde der Priester. 139 S.u. Anm. 151. 140 Vates für die Sibylle von Kumae: 6,65; 78; 82; 125; 161; 189; 211; 259; 372; 398 Amphrysia vates; 415; 419; 562; und zuvor in der Weissagung des Helenus 3,443 und 3,456. Sacerdos: 6,35; 41; 244; 321 longaeva sacerdos; 544 magna sacerdos; 628 Phoebi longaeva sacerdos (nach WACHT 1996). 141 VERG. Aen. 6,35: des Phoebus und der Trivia Priesterin.
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keiten der Sibylle von Aeneas im Gespräch mit ihr direkt angesprochen.142 Nachdem ihre sozusagen prophetische Arbeitsweise zuvor in der Weissagung des Helenus beschrieben worden ist (3,443–452), wird sie nun in diesem Zusammenhang demonstriert, überwiegend in einem sehr langsamen Erzähltempo (6,45–53; 77–102). Das größere Interesse des Aeneas gilt jedoch dem anderen Bereich der Zuständigkeit, nämlich der Kenntnis über die Unterwelt. Bevor Aeneas die Sibylle um ihre Hilfe, die Unterwelt aufzusuchen, bittet, gibt sie ihm eine Vorhersage. Nach von der Sibylle angeordneten Stier- und Schafopfern (6,38–41) spricht Aeneas, ebenfalls von ihr aufgefordert, ein Gebet, worauf die Sibylle dann weissagt.143 Sowohl das Gebet als auch die Weissagung sind in wörtlicher Rede angeführt, was den Erfolg bzw. die Wahrhaftigkeit des Gesagten unterstreicht. Wie Helenus zeigt sich die Sibylle durch ihre Wesensveränderung und ihr Gebaren als dem Phoebus besonders nahe, quasi als sein Medium.144 4. Sacerdos Massylae gentis: Als letztes folgt das Beispiel der sacerdos Massylae gentis (4,474–498; 509–516). Das Bild, das von ihr entworfen wird, steht in gewisser Weise konträr zu den anderen Beispielen, denn diese sacerdos wird keineswegs positiv dargestellt. Auch tritt mit ihr keine Seherin auf, sondern sie ist diejenige, die das Ritual anleitet, das Dido als Vorwand für ihren Selbstmord dient. Dieses Ritual soll entweder Aeneas an Dido binden oder Dido von Aeneas lösen (479). Diese Expertin für das spezielle Ritual wird einige Male als sacerdos bezeichnet (483; 498; 509). Ihre Fähigkeiten sind katalogartig beschrieben zum einen von Dido, als diese ihrer Schwester die Macht der sacerdos preist (484–491), und zum anderen in der Darstellung des Rituals (509–516). Durch die Beschreibung, welche Götter die sacerdos am Beginn des Rituals anruft, nämlich unter ihnen Erebus, Chaos und Hekate, wird sie konkret in die Nähe zu unterweltlichen, dunklen Mächten gerückt. Angedeutet findet sich diese Nähe auch schon durch den Katalog, den Dido gibt, insbesondere durch die Angaben, daß die sacerdos Flüsse am Fließen hindern könne, Sterne rückwärts drehen, bei Nacht die Manen beschwöre, Erdbeben hervorrufe und Bäume von den Bergen herabsteigen lasse.145 Eine negative Konnotation wird kenntlich, wenn nicht schon durch derlei Angaben,
142 VERG. Aen. 6,65f. sanctissima vates, praescia venturi – heiligste Seherin, das Kommende vorauswissend; 6,109 doceas iter et sacra ostia pandas – zeige den Weg und öffne die heiligen Pforten; 6,117f. potes namque omnia nec te / nequiquam lucis Hecate praefecit Avernis – denn du kannst alles und nicht umsonst hat Hekate dich in den Avernerhainen vorangestellt. 143 VERG. Aen. 6,56–76 Gebet des Aeneas, 6,83–97 Weissagung der Sibylle. 144 VERG. Aen. 6,47–51; 6,77–82; 6,98–102. 145 VERG. Aen. 4,487–491: promittit ... sistere aquam fluviis et vertere sidera retro / nocturnosque movet manis, mugire videbis / sub pedibus terram et descendere montibus ornos – sie verspricht, ... das Wasser in den Flüssen zum Stehen zu bringen und die Sterne rückwärts zu drehen und nachts beschwört sie die Manen, du wirst sehen, daß unter den Füßen die Erde brüllt und von den Bergen die Eschen herabsteigen.
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die als literarisches Motiv gelten können,146 dann in distanzierenden Äußerungen sowohl des Erzählers als auch in denen von Dido: so am deutlichsten in Didos Ausruf, sie lasse sich nur ungern auf magische Künste ein,147 und der anzweifelnden Bemerkung des Erzählers über das beim Ritual versprengte Wasser, das angeblich aus Avernischen Quellen, d.h. aus der Unterwelt stamme.148 Obwohl die Berichterstatter, Dido und der Erzähler, sehr distanziert von der sacerdos Massylae gentis sprechen und insgesamt die Darstellung eine düstere Stimmung vermittelt, ist sie formal doch vergleichbar mit den anderen Darstellungen von religiösen Experten. In einer Zusammenfassung diese Beispiele und die Rolle Annas betrachtend, zeigt sich, daß die religiösen Experten jeweils besonders bezeichnet sind: als sacerdos, die Seher zusätzlich als vates oder interpres.149 Es sind verschiedene Orakeltechniken, dessen der Seher fähig ist (Helenus, Asilas), in einem Katalog aufgeführt, ebenso andere spezielle Fertigkeiten (sacerdos Massylae gentis). Für die Sibylle sind statt eines solchen Katalogs ihre zwei großen Zuständigkeitsbereiche angegeben. Den Experten wird eine besondere Nähe zu einer Gottheit zugeschrieben – ausgenommen Asilas, für den sich keine Angabe findet, aber für Helenus und die Sibylle zu Phoebus, für die Sibylle zusätzlich zu Trivia-Hekate, und bedingt zu Hekate auch für die sacerdos Massylae gentis. Anna entspricht diesem Typ nicht, weil sich die herausgearbeiteten Kriterien in der Darstellung ihrer Person nicht finden. So gibt es keinen Katalog, der ihr divinatorisches oder allgemeiner religiöses Expertentum zuspräche. Auch fehlt ihr die Nähe zu einer Gottheit, denn ihr Berufen auf Iunos begünstigende Absichten zeigt sich ja als Fehleinschätzung. Anna kann keineswegs als Expertin für Religiöses gelten, sondern sie ist – in Übereinstimmung mit dem Forschungsstand – als Vertraute Didos aufzufassen, der sie, befangen (8 unanima soror), in Herzensangelegenheiten beizustehen sucht und tragischerweise gerade dadurch wesentlich zu deren Verderben beiträgt. Auf beiden Ebenen, der religiösen und der persönlichen, erscheint Anna als Didos Helferin.
146 LUCK 1990 versammelt etliche Quellentexte; allgemein zu diesen besonderen Fähigkeiten z.B. GRAF 1996a, S. 38–46, S. 55f., S. 159–171; FAUTH 1999, bes. S. 124–128, S. 169–171; OGDEN 2001, S. 128–148, bes. S. 138f. und S. 142f., weiteres KRUMMEN 2004, bes. S. 57–61. 147 VERG. Aen. 4,493 magicas invitam accingier artis. 148 VERG. Aen. 4,512 sperserat et laticis simulatos fontis Averni. 149 Sacerdos: Helenus 3,73; Sibylle 3,344; 456; 6,65; 78; 82; 125; 161; 189; 211; 259; 372; 398; 415; 419; 562; sacerdos Massylae gentis 4,483; 498; 509. vates: Helenus 3,358; 3,433; 3,463, 3,712; Sibylle 6,35; 41; 244; 321; 544; 628. interpres: Helenus; 3,359 (interpres divom); 3,475 (Phoebi interpres); Asilas 10,175 (hominum divomque interpres) – Sonst finden sich diese Bezeichnungen auch für Chloreus (vates 11,768; sacerdos 774), Allecto-Calybe (vates 7,419; sacerdos 435); für Mercurius interpres divom 4,356; 4,378.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
4.7.3 Dido Die religiöse Kompetenz Die Rolle Didos im Ritual ist dagegen anders als diejenige Annas zu bewerten. Zwar treffen die Merkmale, die sich in einem Vergleich von Seherfiguren in der Aeneis ermitteln ließen, auch auf Dido nicht zu, aber als Königin nimmt Dido die hervorgehobene Position eines religiösen Oberhauptes ein. Ihr fällt kraft ihrer politisch-sozialen Funktion religiöse Kompetenz zu.150 Ihre Position ist beispielsweise vergleichbar mit der des Königs Latinus oder Aeneas, deren persönliches Schicksal mit dem des Volkes verbunden ist. In der Rede Annas ist diese Bedeutung mit ihrem Hinweis auf die Didos persönliches Glück und ihre Verantwortung für ihr Volk betont (4,47–49).
Die Unerreichbarkeit der Götter und das nicht-verlautende Gebet Es war bei der Untersuchung zu den angesprochenen Gottheiten aufgefallen, daß der Zweck für die Eingeweideschau nicht genau benannt ist. Das Anliegen Didos bleibt diffus und schemenhaft zum einen dadurch, wie von den rituellen Tätigkeiten erzählt ist. Dieser Aspekt gibt Hinweise auf eine Unerreichbarkeit der Götter, denn syntaktisch sind als Objekte nicht etwa Götter, sondern Dinge angegeben. Formulierungen wie sacra litare (50), delubra adire, pacem per aras exquirere (56f.), spatiari ad aras (62), instaurare diem donis (63) und schließlich consulere exta (64) kennzeichnen in einer ‚Versachlichung‘, daß die Kommunikation nicht glückt. Ein weiterer Aspekt liegt darin, daß keine konkrete Bitte formuliert ist – es fehlt ein Gebet. Was ergibt sich aus dieser Art der Darstellung? Welche Funktion läßt sich zeigen für Gebete, von denen zwar erzählt ist (4,56f.), aber keines angeführt? Diese Frage zieht die Frage nach sich, wie denn Gebete sonst in der Aeneis geschildert sind. Man hat festgestellt, daß die meisten Gebete von den Göttern erhört werden.151 Daß diese Gebete Erfolg haben ist mit literarischen Mitteln provoziert, indem sie in wörtlicher Rede angeführt werden. Vor allem Aeneas ist mit sehr vielen Gebeten in wörtlicher Rede dargestellt. Seinen Widersachern jedoch sind keine Gebete in den Mund gelegt, statt dessen wird deren Anliegen erzählend vorgetragen. Dido erscheint auf diesem Hintergrund, weil VERGIL sie hier kein Gebet sprechen läßt, als Gegnerin des Aeneas und auf das Erfolglos-Bleiben ihrer Bitten weist das nicht-verlautende Gebet deutlich voraus. Daß aber Bitten Didos Erfolg 150 Vgl. RÜPKE 1996, S. 256. 151 Im Anschluß an frühere Darstellungen DINGEL 2000, S. 283f. Anm. 11. DINGEL hebt hervor, „daß VERGIL den Protagonisten [sc. Aeneas] nicht nur viele, sondern auch inhaltlich bedeutsame Gebete sprechen läßt ... den Gegenspielern jedoch kaum Gelegenheit gibt, die Götter ausdrücklich um Gedeihen für sich und ihre Sache zu bitten.“
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haben können, ist an zwei anderen, allerdings negativen ‚Bitten‘ zu sehen, die dann beide im Wortlaut angeführt sind: Zum einen ist dies der Treueeid (4,24– 27), der wie häufig mit einer Selbstverfluchung im Falle des Eidbruchs verbunden ist.152 Zum anderen – was für die epische Geschichtsdarstellung von höchster Wichtigkeit ist – hat Dido Erfolg mit der Verfluchung des scheidenden Aeneas und seiner Nachkommen (4,615–629). Diese beiden Bitten führen zu Didos eigenem und auch des Aeneas Verderben. Daß also keines der Gebete, die Dido bei der Eingeweideschau spricht, wörtlich angeführt ist, erweist sich als literarisches Mittel, Dido als Kontrahentin des Aeneas zu charakterisieren, zum einen versteckt, indem ihre Gebete nicht formuliert sind, und zum anderen offen, indem insbesondere ihr Fluch gegen Aeneas und seine Nachkommen in wörtlicher Rede wiedergegeben ist.
Träume als Prodigien und ihre Sühnung Wegen des Treuekonflikts wird die Eingeweideschau gelegentlich als Sühneritus eingeschätzt, den Dido zur Entsühnung ihres Eidbruchs ausführe, weil ja Anna zum poscere deos veniam rate.153 Dieser Auffassung wird jedoch zu recht entgegnet, daß die Sühnung für eine Tat stattfände, die noch gar nicht begangen ist,154 denn Dido wird bereits von schlimmen Träumen gequält, bevor sie den Eid ausspricht und diesen etwa gebrochen hätte. Vielmehr sind es die Träume, die ein poscere veniam erfordern.155 Denn Alpträume gelten als besondere Zeichen, die den Zorn der Götter anzeigen, so daß dann der Grund für ihren Zorn erforscht werden muß. Aber von einem Zorn, den eine Gottheit gegen Dido wegen eines Vergehens hegte, ist in der erzählten Geschichte an keiner Stelle die Rede. Lediglich Venus ist als Widersacherin deutlich, deren Haltung sich jedoch primär gegen Iuno richtet. Dido ist als ein Objekt des Machtkampfes zwischen den beiden Göttinnen zu sehen. Auf literarischer Ebene läßt sich das kurze Anreißen von Traumbildern in einen Bezug zu einem späteren Katalog von Unglückszeichen (4,450–468) bringen. Die Klimax, die mit der unglückanzeigenden dezenten Andeutung beginnt und fortgeführt ist in sehr viel deutlicher werdenden Skizzen, endet mit dem Bild von Didos Tod als einer Sühneleistung.156 Dieser Tod, dem ja die Selbstverfluchung 152 GRAF 1998, Sp. 573–574. 153 Z.B. WEST 1975, S. 232: „Anna suggests a compromise. ... why not ask pardon of the gods for those broken vows?“; und S. 268: „Anna ... finally suggests sacrificing for the gods for Dido’s broken vows.“ 154 Z.B. DI CESARE 1974, S. 21. 155 CONINGTON 1876, ad 50: „to avert the anger portended by the illomened dreams of v. 9.“ (VERG. Aen. 4,9 Anna soror, quae me suspensam insomnia terrent – Anna, Schwester, welche Traumbilder schrecken mich Furchtsame!) 156 Der Tod Didos erscheint als Sühnetod, den sie erleidet, um die Selbstachtung (pudor) wieder zu erlangen, die sie durch die Verbindung mit Aeneas verloren hat, so etwa WEST 1975, S. 275: „Dido feels she must die in order to regrain her self-respect.“
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am Anfang des Buches vorausgeht und somit schon auf das Ende hindeutet,157 ist erzählerisch als Sühnung der Schuld konstruiert.158 Die Eingeweideschau an sich ist dagegen nicht als Sühneritus zu bewerten, sondern stellt sich hiernach als ein durch Traum-Prodigien veranlaßter sondierender Akt dar,159 der einen Sühneritus, Didos Tod, nach sich zieht.
Die metaphorische Ebene Neben der Selbstverfluchung im Eid weist auch ein Vokabular von Verwundung und Flamme160 schon auf Didos Tod voraus.161 Vielfach ist dieses zur Beschreibung des Verliebtseins verwendet, und eröffnet somit die Ebene einer metaphorischen Deutung. Denn die Wunde und das Feuer, die als Liebesmetaphorik eingesetzt sind, werden zu einer wirklichen Wunde und zu einem wirklichen Verbrennen.162 Noch unmittelbar bevor sich für den Rezipienten ein Schlachtritual abzeichnet, ist von Verwundung und Verbrannt-Werden (4,1f. vulnus alit, carpitur igni)163 gesprochen und später, kurz vor dem Ritual, vom In-Brand-Setzen oder Entflammen (4,54 flammare). Dann, im Anschluß an die Beschreibung des Rituals, wenn das Bild dieses rituellen Geschehens noch ganz stark ist, wird in derselben Ausdrucksweise wiederum vom Zustand Didos gesprochen: Die Flamme ist ja nicht die auf dem Opferherd, das Innerste ist nicht das des beschauten Tieres und auch das Herz nicht, die Wunde hat ja nicht das Opfertier empfangen. Aber erst zum Ende der Sequenz läßt sich das Vokabular als auf Dido bezogen erkennen (est flamma; medulla; sub pectore vulnus; uritur infelix Dido 4,66–68). Metaphorisch wird Dido hier als ein ‚Opfer‘ bezeichnet, was sich auch insbesondere 157 PÖSCHL 1977, S. 100. 158 HEINZE 1915, S. 125f.: „VERGIL hat die von der Überlieferung gegebene Treue gegen den ersten Gatten benutzt, um einen Konflikt in Dido selbst zu schaffen, ... Damit Didos Tod poetisch gerechtfertigt erscheine, muß sie eine Schuld auf sich laden; diese Schuld besteht darin, daß sie die Pflicht der Treue, die sie als bindend anerkennt, wissentlich verletzt. Der pudor ist es, der ihr den neuen Ehebund verbietet und den sie, ... außer acht läßt.“ 159 Vgl. RÜPKE 2005b, S. 83, der die Bezeichnung „sekundäre Kommunikation“ zur Überprüfung einer primären Kommunikation, wie sie ein Gebet oder eine Darbringung darstellt, vorschlägt. 160 VERG. Aen. 1,659f. incendat reginam atque ossibus inplicet ignem; 688 occultum inspires ignem; 713 ardescit Phoenissa (Übers. s.u. Anm. 199); 4,1f.; 23; 54; 65–69; 300; 360; 364; 669–671. 161 KRUMMEN 2001 stellt eine fortlaufende Bildhandlung heraus, die ausdrückt, daß „das Geschehen nur einer Katastrophe zutreiben kann“ (S. 8). So kann sie u.a. zeigen, wie sich bereits im ersten Buch die Ereignisse auf die illegitime Hochzeit und Didos Tod hin entwickeln. Die Hochzeitsthematik sei mit der Todesthematik verbunden. Didos Tod versteht KRUMMEN letztlich als eine Reinigung und zugleich das Verbrennen der Sachen des Aeneas auf dem Scheiterhaufen als ein Löseritual (S. 14f.). Die Frage, ob Didos Tod als eine Leistung zur ‚Wiedergutmachung‘ zu sehen ist, berührt sie jedoch nicht. 162 NELIS 2001, S. 171f. 163 Text und Übersetzung s.o. Anm. 56.
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am Schluß des Buches bei ihrem Tod bestätigt, der mit ihrer physischen Verwundung und ihrem physischen Verbrennen als ein ‚Opfertod‘ erscheint. Dadurch, daß das Vokabular einerseits bildlich und andererseits konkret aufzufassen ist, sind hier, im Ritual der Eingeweideschau, zwei Themenbereiche miteinander verknüpft: Der Themenbereich ‚Verliebtsein und Hochzeit‘ trifft mit dem Themenbereich ‚Opfer und Tod‘ zusammen. Somit läßt sich nach meiner Einschätzung eine von literarischen Kriterien bestimmte Darstellung der Eingeweideschau beschreiben: An die Stelle eines historischen Hochzeitsauspiziums ist in der literarischen Umsetzung, in der es ja um keine legitime Hochzeit geht, verfremdend eine andere Divinationsform getreten, die die Verbindung von ‚Hochzeit‘ und ‚Tod‘ erlaubt, nämlich ein divinatorisches Tötungsritual. Auf dieser metaphorischen Ebene lassen sich dem literarischen Personal verschiedene Rollen zuweisen: Dido selbst ist diejenige, die als ‚Opfer‘ ihr Leben gibt.164 Dieses Leben wird von Venus zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt. Es lassen sich zwei Helferinnen benennen, nämlich Anna und Iuno. Anna ist zwar sozusagen auf Ebene der Real-Darstellung als eine Vertraute der Dido zu sehen und nicht als Seherin oder Kultdienerin, aber sie kann im übertragenen Sinne als Helferin bei der Darbringung betrachten werden: Erst durch Annas Zureden setzt sich Dido über ihren Treueschwur hinweg. Annas Hilfe setzt sich konkret fort im Aufbauen des Scheiterhaufens, von dessen wahrer Bedeutung diese jedoch nichts ahnt.165 Dann trifft Anna auf Didos Bitte hin die nötigen Vorbereitungen, wie ein Reinigungsritual, und sorgt für Sühnemittel.166 Und schließlich ist die Waffe, die Dido für die Selbsttötung benutzt, von Anna geliefert, weil sie diese zuvor auf den Scheiterhaufen gelegt hat.167 Gleichsam konterkariert ist die beschriebene Rolle Annas als Vertraute dann auf der metaphorischen Ebene: Hier erscheint Anna letztlich nicht als Vertraute der Dido, sondern als eine von Dido Betrogene, denn diese hat ihrer Schwester nicht gesagt, daß sie ihren eigenen Tod plant. Anna hatte für Dido besseres beabsichtigt. Sie kann Didos Sterben nur noch erleichtern, indem sie ihr in den letzten Lebensmomenten Geborgenheit zu geben versucht, die in Gesten der Fürsorge, wie das Blut mit dem Kleid abwischen (4,686f.), ausgedrückt sind. Wie Anna die von Dido Betrogene ist, so erscheint Iuno als eine von Venus Betrogene. In dem Aspekt der Betrogenen und den Betrügenden zeigt sich ein
164 NELIS 2001, S. 94; MOORTON 1990; BONO 1984 (Parallele zum Tod Hektors und dem Fall Troias), S. 20f., 37; WLOSOK 1976, S. 239; WEST 1975, S. 272; ESTEVEZ 1974 (Parallele Brand Didos und Karthagos); FERGUSON 1970–71, S. 57f.; 61f.; FENIK 1959, S. 13–15; 22f. weist überzeugend u.a. auf die Parallele zwischen Dido und den Brand Troias hin; PEASE 1935 ad 4,2. 165 VERG. Aen. 4,474 ff., bes. 494 ff. 166 VERG. Aen. 4,634–637 dic corpus properet fluviali spargere lympha / et pecudes secum et monstrata piacula ducat. – sag, sie möge mit Flußwasser schnell ihren Körper besprengen, Tiere und die ihr gezeigten Sühnmittel mitbringen. 167 WEST 1975, S. 274–276. Bei aller Brandmetaphorik wird schließlich auch vom Auslöschen gesprochen (682 extinguere).
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weiteres Mal die Gruppierung der Frauen und der Göttinnen bedeutsam.168 Mit Iuno ist Venus nur zum Schein einen Pakt eingegangen, denn sie wußte schon von Iuppiter, daß Aeneas nach Latium kommen wird (1,257–296). Iuno wird durch den Pakt dazu veranlaßt, die fragwürdige Hochzeit zu inszenieren. Sie erscheint als die Ahnungslose, die ganz andere Absichten mit Dido verfolgte, indem eine Heirat mit Aeneas das ‚Rom-Projekt‘ der Venus boykottiert hätte. Genau wie Anna ist auch Iuno beim Tod Didos relativ machtlos, denn auch sie konnte ihn nicht verhindern. Sie kann nichts weiter tun als Anna, nämlich Dido den Tod nur noch erleichtern, indem sie deren Haar dem Pluto weiht (4,693–705). Beide, Anna und Iuno, kann man metaphorisch als Helferinnen bei der Darbringung Didos betrachten. Venus ist diejenige, die dieses Leben darbringt,169 denn Dido, die von Iuppiter zur Rettung des Aeneas bereits entgegenkommend gestimmt worden war,170 stirbt durch den Beschluß der Venus, diese mit starker Liebe an Aeneas zu binden,171 um dadurch Iunos romfeindliche Machenschaften zu untergraben.172 In einem Konkurrenzkampf mit Iuno hält Venus hier die bessere Position.173 Zusammenfassend läßt sich zum einen in einer historisch orientierten Betrachtungsweise Dido in der Rolle einer Herrscherin als religiöses Oberhaupt beschreiben, in deren Kompetenz die Durchführung von Ritualen liegt. Zum anderen erfährt auf literarischer Ebene die Figur Dido verschiedene Charakterisierungen: Durch ein Gebet, das nicht im Wortlaut angeführt ist, sondern von dem nur erzählt wird, wird sie bereits im Ritual als Widersacherin des Aeneas kenntlich. Im Fluch am Ende der Episode wird ihre Gegnerschaft offen formuliert. Daß die Kontaktaufnahme mit den erwünschten Göttern nicht glückt, impliziert auch die Ausdrucksweise bei den rituellen Tätigkeiten, indem nicht Götter, sondern Sachen syntaktisch relevant sind, wie etwa bei dem viel diskutierten consulit exta (64). Mit dem Treuekonflikt, in den Dido gerät, ist eine Schuldfrage inszeniert, die Didos Tod poetisch gerechtfertigt erscheinen läßt. Als literarisches Instrumentarium 168 S.o. S. 140. 169 Im Gegensatz zu meiner Einschätzung, daß Iuno als Helferin erscheint, wird Dido gelegentlich als ‚Opfer‘ beider Göttinnen betrachtet: So meint BONO 1984, S. 19, Dido verfalle in die Rolle eines Opfers der erotischen und dynastischen Machenschaften der Venus und Iuno; und es meint NELIS 2001, S. 93 Anm. 95, Dido könne als Opfer der Listen von Juno und Venus verstanden werden, aber er sieht sie auch als Werkzeug der Venus allein (S. 96). Auch wird ganz allgemein von den Göttern gesprochen, die mit Dido Karthago genauso opfern wie sie Troia geopfert haben, um Rom entstehen zu lassen, so FENIK 1959, S. 11 ff.; LESUEUR 1975, S. 98f, bes. „Didon est la victime des Vénus-Aphrodite“. 170 VERG. Aen. 1,297–304, bes. 299 ne fati nescia Dido und 303f. in primis regina quietum / accipit in Teucros animum mentemque benignam (Text und Übersetzung s.o. Anm. 56). 171 VERG. Aen. 1,660–675; bes. 673f. cingere flamma / reginam – mit einer Flamme umgürten die Königin; 712 praecipue infelix, pesti devota futurae – vor allem die Unglückliche, geweiht kommendem Unheil. 172 VERG. Aen. 1,661f. bes. urit atrox Iuno – es brennt die grimmige Iuno; zur Notwendigkeit für Venus, gegen Iunos Ränke (1,670–672) Vorkehrungen zu treffen vgl. HEINZE 1915, S. 125. 173 FENIK 1959, S. 12; SEGAL 1990, S. 8.
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dienen zum einen die Träume, die als Prodigien ein poscere veniam in einem sondierenden Akt erfordern. Und zum anderen ist über die Liebesthematik mit diesen Bestandteilen eine andere religiöse Kausalkette, bestehend aus dem Eid, dem Eidbruch in der Höhlenhochzeit und dem Selbstmord als Einlösung des Eides, verquickt. Der sondierende Akt, die Eingeweideschau, bildet einen Kreuzungspunkt, an dem Dido um ein Entlassen aus der eidlichen Verpflichtung bittet. Als Tötungs- und Verbrennungsritual dient die Eingeweideschau dazu, in einer Liebesmetaphorik den seelischen Zustand Didos darzustellen. Dies geschieht insbesondere, bevor überhaupt von einem Schlachtritual gesprochen ist (4,1–5), dann als Wirkung der Rede Annas direkt vor dem Ritual (54f.) und im Anschluß an das Ritual (66–68). In der Eingeweideschau sind die Themen ‚Verliebtsein und Hochzeit‘ und ‚Opfer und Tod‘ miteinander verbunden. Nach meiner Einschätzung bietet diese Kombinationsmöglichkeit eine literarische Motivation, von einer Eingeweideschau quasi als Hochzeitsauspizium zu erzählen. Da die Hochzeit jedoch als nicht legitim aufzufassen ist, findet hier wohl eine Verfremdung römischer historischer Hochzeitsriten statt. Wiederum auf einer metaphorischen Ebene stellt sich eine klare Rollenverteilung zwischen den beiden Frauen und den beiden Göttinnen dar. Venus setzt das Leben Didos ein, Dido stellt das ‚Opfer‘ dar, Anna und Iuno, die beide von ihrem Gegenüber betrogen werden, sind Helferinnen bei dieser Darbringung.
4.7.4 Die vates (VERG. Aen. 4,65) In der Frage, welches Personal für das Ritual geschildert ist, ist bereits deutlich geworden, daß allein Dido und Anna bei den rituellen Handlungen in Erscheinung treten. Aber da ein Großteil der Interpretationen davon ausgeht, daß in der Formulierung heu vatum ignarae mentes noch zusätzlich Seher (vates) als handelnde Personen eingeführt seien, ist auf diesen Punkt gesondert einzugehen. Durch eine Analyse der erzählten Zeit kann der Ausdruck, in dem das Wort vates erscheint, genauer bestimmt werden. Diese Untersuchung zielt darauf, zu unterscheiden, welche Textteile des Erzählten überhaupt Handlung wiedergeben, also das Tätigsein von literarischem Personal beschreiben, und welche Textteile dagegen keine Handlung darstellen. Es liegt dieser Untersuchung eine Methode zugrunde, bei der sich verschiedene Aspekte erfassen lassen, die sich auf Ordnung, Geschwindigkeit und Frequenz des Erzählten beziehen.174 Für die Untersuchung hier ist die Frage nach der Geschwindigkeit relevant. Dabei läßt sich eine Spanne der Geschwindigkeiten beschreiben, die von einer unendlich großen Geschwindigkeit der erzählten Zeit bis zu ihrer absoluten Langsamkeit reicht. Auf dieser langsamsten Stufe vergeht in der erzählten Geschichte keine Zeit und dies bedeutet eine Pause in der Hand-
174 Zugrunde liegt das Konzept von GENETTE 1998, S. 22 und 213.
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lung.175 Das Bestimmen einer Handlungspause ist entscheidend für die Frage, ob denn etwa die vates als weitere Teilnehmer am Ritual aufzufassen sind.
Vates in der Ritualdarstellung? Für die Beantwortung dieser Frage soll in der Hauptsache nur der Textausschnitt betrachtet werden, in dem von Didos Aktivitäten die Rede ist (56–89). Vorauszuschicken ist als Kontrast zum Nachfolgenden der Dialog zwischen Dido und Anna: Für Rede und Gegenrede kann das recht langsame narrative Tempo einer ‚Szene‘ bestimmt werden.176 In der Gegenrede Annas ist in einer Aufforderung an Dido zum ersten Mal vom Ritual gesprochen (50). Es schließt sich in knapper Form und damit einer viel rascheren Darstellung der Ereignisse die Beschreibung der rituellen Tätigkeiten an (56–64). Die Geschwindigkeit in diesem Abschnitt ist als die eines ‚summarischen Erzählens‘ zu bezeichnen.177 Dann folgt ein Textteil, in dem nicht die literarische Handlung fortgeführt wird, sondern die gerade geschilderten Begebenheiten kommentiert werden. Zum besseren Verständnis könnte man sich dies visualisieren und gleichsam einen Filmausschnitt betrachten, der Dido bei den rituellen Tätigkeiten zeigt und bei dem eine Stimme aus dem off erklingt, die sich über ihr Tun äußert und dessen Nutzen in Frage stellt (65f. heu vatum ... quod delubra iuvant). Dieser Teil ohne Handlung kann als ‚reflexive Pause‘ bezeichnet werden.178 Fortgesetzt unterbrochen ist die Handlung mit einer Beschreibung des Verliebtseins von Dido – das schon mehrmals vorher Thema war179 und hier mit interea (67) aktualisierend wiederaufgenommen wird (66f. est mollis ... pectore volnus). Dieser beschreibende Teil ist als eine ‚deskriptive Pause‘ zu betrachten.180 Diese Pausen haben ein retardierendes Moment, weil man sich die zuvor beschriebene Handlung währenddessen fortgeführt denken kann. Nach der Handlungspause im ganzen (65–67) werden ganz kurz Didos weitere Aktivitäten ins Bild gesetzt, nämlich wie sie wie ein Feuer ziel- und rastlos durch die Stadt zieht (68f. uritur ... vagatur). Dies ist wie die rituellen Tätigkeiten im Tempo eines ‚summarischen Erzählens‘ wiedergegeben. Darauf folgt eine weitere und jetzt längere ‚deskriptive Pause‘, in der Dido mit einer tödlich verwundeten Hirschkuh verglichen wird (69–73). Durch diese Beschreibung wird die Vorstellung hervorgerufen, daß währenddessen die Handlung weiterläuft und Dido weiter durch die Stadt irrt. Der Hindinnenvergleich illustriert und variiert Didos Umherschweifen und vermittelt durch seinen Umfang den Eindruck einer längeren Dauer ihres rastlosen Tuns, das ja nur ganz knapp dargestellt wurde.
175 176 177 178 179 180
GENETTE 1998, S. 67. GENETTE 1998, S. 78–80. GENETTE 1998, S. 67–71, spricht von einem ‚summary‘. GENETTE 1998, S. 215 mit Anm. 6 und S. 67 mit Anm. 11. VERG. Aen. 4,1–5; 8 male sana; 54f. GENETTE 1998, S. 67f.
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Darauf sind Didos weitere Aktivitäten, wie sie sich um ihre Gäste kümmert (74–79), ebenso wie die Aktivitäten zuvor im Tempo des ‚summarischen Erzählens‘ vor Augen geführt. In demselben narrativen Tempo ist auch ihr Handeln dargestellt, das ihr seelisches Leiden verdeutlicht (80–85). Die Passage endet mit einer beschreibenden Aufzählung dessen, was Dido vorher alles ins Werk gesetzt hatte, dessen Fortführung jetzt aber unterbleibt und daher still steht (86–89). Diese Beschreibung ist wiederum als eine ‚deskriptive Pause‘ anzusehen. Die Handlung wird nicht vorangetrieben, sondern ein Retardieren in der Pause führt dazu, daß das zuletzt entworfene Bild – Didos Leiden des nachts, wenn die Gäste gegangen – stehen bleibt. Es läßt sich also durch eine Untersuchung narrativer Geschwindigkeiten verdeutlichen, daß von vates nicht in der Handlung des Erzählten die Rede ist, sondern in einem das Geschehen kommentierenden Teil, einer Handlungspause. Somit kann man ausschließen, daß mit vates etwa weitere Personen bezeichnet sind, die in dem geschilderten Ritual tätig wären. Es bleibt zu fragen, wenn nun mit vates kein zusätzliches Personal im Ritus beschrieben ist, worauf sich dann diese Bezeichnung bezieht und wie ihre Verwendung zu bewerten ist.
Interpretationen des vates-Satzes – der Forschungsstand Um zu klären, wie der Gebrauch des Wortes vates einzuschätzen ist, muß auf den gesamten Ausdruck heu vatum ignarae mentes eingegangen werden. Hierfür bieten sich einige wenige, meist ältere Interpretationen an. Auf den weitaus größeren Anteil an Interpretationen zu rekurrieren, die seit der Spätantike bis in die jüngste Zeit hinein vorgebracht werden,181 verbietet sich, weil sie dem oben erzielten Ergebnis nicht entsprechen. Der in diesen allgemein bevorzugten Interpretationen vertretenen Auffassung, in der erzählten Geschichte seien zusätzlich zu Anna und Dido noch vates anwesend, die ein Ergebnis aus der Eingeweideschau verkündeten, wäre insofern eine Berechtigung zuzugestehen, wenn man lediglich die Ordnung des Erzählten berücksichtigte. Danach sieht es so aus, als ob – zwar unvermittelt – neues Personal eingeführt würde,182 weil ja direkt im Anschluß an die Beschreibung der rituellen 181 Eine Anwesenheit von vates nehmen beispielsweise an die spätantiken Kommentatoren CLAUD. DON., SERV., SERV. AUCT. ad loc., auch eine Illustration aus SEBASTIAN BRANTs Straßburger VERGIL-Ausgabe von 1502, S. CCXI, (s. BINDER 1997, S. 73, auch digital einsehbar), dann z.B. LADEWIG 18573, ad 60–67; HEYNE nach CONINGTON 1876, ad loc.; HENRY laut CONINGTON 1876, ad loc.; SCHAPER 1877, ad loc.; KVÍCALA 1881, S. 82; KNORR 1898, S. 22; FORBIGER nach KNORR 1898, S. 22; HEINZE 1915, S. 129 Anm. 1; PEASE 1935, S. 140 ff. ad 4,64; AUSTIN 1955, ad loc.; PHARR 1964, S. 202; QUINN 1965, S. 18; QUINN 1968, S. 138; PÖSCHL 1977, S. 102f., bes. Anm. 131; SHATZMAN 1974, S. 52, problematisierend, aber dennoch unentschieden mit seiner Bemerkung: „One cannot know for sure the exact identity of the sacrificers, Dido and Anna, or Dido and the vates.“ 182 So etwa PEASE 1935, S. 140 ff. ad 4,64: „Here it seems to be Dido who is the subject of the verb, though vatum in the next line implies that she had the aid of haruspices in the process.“
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Tätigkeiten, wenn man die Bekanntgabe eines Ergebnisses erwartet, vates erwähnt sind. Vates als konkrete eigenständige Personengruppe zu interpretieren, erlaubt jedenfalls auch die grammatische Auflösung, da vates ein Substantivum commune ist. Daher ist es möglich, das Wort entweder im Femininum Plural nur auf Dido und Anna zu beziehen oder mit dem Masculinum Plural zusätzliche vates bezeichnet zu sehen – was favorisiert wird. Vertreten wird auch, daß mit dem Masculinum Plural beide Personengruppen, vates und Dido zusammen mit Anna, gemeint seien. Unter der Voraussetzung, die vates seien eine eigenständige Personengruppe und gäben mit einem Ergebnis den Ratsuchenden eine Handlungsanweisung, stellt sich ein weiteres, ein inhaltliches Problem heraus. Denn an der Antwort dieser vates kann irgend etwas nicht richtig sein, weil von ignara mens (der Verstand [ist] unkundig) gesprochen ist. Zu Recht wird ein Widerspruch darin empfunden, daß Leute, die die Zukunft kennen müßten, offenbar irren.183 Man sucht daher nach Erklärungen, beispielsweise, wie denn diese vates der fragenden Dido zu etwas Falschem haben raten können und ob die Fachleute von Dido über den wahren Grund der Eingeweideschau getäuscht worden seien und ähnlichem mehr.184 Die Notwendigkeit zu erklären, warum diese Fachleute ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, entfällt bei dem Befund, daß keine zusätzlichen vates für das Ritual beschrieben sind, gänzlich.185 Weiterhin erklärungswürdig bleibt die als widersprüchlich und schwierig wahrgenommene Wortfolge von vatum ignarae mentes.
Die grammatische Struktur von ‚vatum ignarae mentes‘ Um sich einer Interpretation dieses Ausdrucks zu nähern, ist zunächst seine grammatische Struktur zu beschreiben. Neben den Divergenzen, die vates als Substantivum commune bietet, birgt sie weitere Möglichkeiten der Auflösung in sich: Zum einen können zwei der Wörter, mentes und ignarus, einen Genetiv nach sich 183 Seher, die die Zukunft nicht kennen, werden als ein Paradox verstanden, wie SERV. ad loc. zeigt: non sacerdotes vituperat quasi nescios futurorum – VERGIL tadelt nicht die Seher, als wenn diese die Zukunft nicht kennen würden. 184 Derartige Überlegungen bieten etwa CLAUD. DON. ad loc. qui ... non intellegebant Didonis ardorem; SERV.; SERV. AUCT. ad loc. „sacerdotes – ignarae ergo amoris reginae“ und z.B. KVÍCALA 1881, S. 82: „Die Seher, an die sie [Dido] sich wendet, sehen ihre Aufregung und Unruhe, aber sie kennen bisher die Ursache derselben nicht.“ – HEINZE 1915, S. 130; – KOSTHORST 1934, S. 52 Anm. 54: „VERGIL hat sich wohl absichtlich über den Zweck der Opfer und den Befund der Priester nicht klarer ausgedrückt, da außer Anna niemand wissen durfte, was Dido bewegte“; – PEASE 1935, wie Anm. 181; weitere Meinungen vgl. PÖSCHL 1977 S. 102f. Anm. 131. 185 Daß etwa vates als am Ritus beteiligt geschildert seien – die doch am meisten vertretene Auffassung – weist auch PRESCOTT mit Nachdruck zurück, ohne sich jedoch zur grammatischen Auflösung des Satzes zu äußern (vgl. PRESCOTT 1927, S. 274f.: „The poet has not represented any prophets, any inspector of entrails, as present at the ceremony; Dido herself conducts the ceremony; she herself inspects the entrails; the mention of prophets (vates) in vs. 65 is part of a broad generalization, and does not imply that any prophet was present save Dido herself“).
4.7 Zu den Ausführenden im Ritual
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ziehen, so daß es zu entscheiden gilt, ob der Genitiv vatum als Genitivus possessivus von mentes oder als Genitivus obiectivus von ignarus abhängt. Wörtlich wäre zu übersetzen bei dem Gen. poss. ‚die Sinne der Seher‘, bei dem Gen. obi. ‚unkundig der Seher‘. Es kommt hinzu, daß ignarus durchaus ohne einen Gen. obi. stehen kann, also absolut. Dann wird meistens das fehlende Objekt vom Sinn her ergänzt, und für den Ausdruck vatum ignarae mentes bieten sich etliche Ergänzungsmöglichkeiten. Wenn man sich entscheidet, ignarus als absolut stehend zu betrachten, bleibt nur, den Genitiv vatum als Gen. poss. zu mentes zuzuordnen. Dies wäre zu übersetzen ‚die Sinne der Seher [sind] unkundig‘ und dem Sinn nach könnte man ergänzen ‚in einer Sache‘. Entscheidet man sich dagegen für ignarus mit vatum als Gen. obi. müßte es heißen ‚die Sinne [sind] unkundig der Seher‘. Beide Versionen erscheinen von sich aus nicht verständlich und bedürfen weiterer Erklärungen. Die erste Variante – mit dem Gen. poss. ‚die Sinne der Seher [sind] unkundig in einer Sache‘ – liegt zumeist denjenigen Interpretationsvorschlägen zugrunde, die eine Erkärung dafür suchen, weshalb wohl die vates als Fachleute zu einer falschen Deutung gelangt sind. Alternativ zu diesen Interpretationen, bei denen vates ja als Masculinum aufgefaßt wird, ist vates auch als Femininum zu verstehen. Dann sind Dido und Anna gemeint und es ist zu sagen ‚die Sinne der Seherinnen sind unwissend‘186 und zu ergänzen ist ‚unwissend in welcher Sache?‘187 Als Antwort auf diese Frage wird ‚unwissend in der Kunst der Haruspizin‘ (was heißen müßte ‚ignarae artis haruspicinae‘) in Betracht gezogen, aber für unwahrscheinlich gehalten.188 Als Ergänzung ließe sich auch ‚futuri‘ denken, das hieße, ‚die Sinne der Seherinnen sind unkundig der Zukunft‘. Eine Ergänzung in dieser Weise würde kontrastierend korrespondieren mit dem Ausdruck haud ignara futuri (‚nicht unkundig der Zukunft‘, 4,508), wo wiederum von Dido die Rede ist und auf den bevorstehenden, von ihr verheimlichten Selbstmord vorausgewiesen.
186 Z.B. GOSSRAU 1876, ad loc. „Vatum i.e. Didonis et Annae ignarae sunt mentes, non quod nesciant artem haruspicinam, sed quia cupiditate abripiuntur, ut nolint intellegere deos monitis suis ab amore revocare. Itaque nihil iis prodest, quod delubra adeunt et faciunt vota. Atque interea crescit amor.“ – Der Seher Verstand, das heißt Didos und Annas Verstand, ist unwissend, nicht weil sie die Kunst der Haruspizin nicht kennten, sondern weil sie von Wunschdenken gepackt werden, so daß sie nicht erkennen wollen, daß die Götter durch ihre Mahnungen von dieser Liebe abraten. Daher nützt es ihnen nichts, daß sie Heiligtümer besuchen und Gelübde geben. – KAPPES zitiert nach KNORR 1898, S. 22: „vatum ignarae mentes bezieht sich auf die beiden Schwestern, oder vielmehr auf Dido allein ... Sie besorgt die extispicia selbst, ist selbst vates, aber ihr Sinn ist von Leidenschaft verblendet: sie erkennt nicht mehr die gegenteiligen Zeichen, sondern sieht nur, was sie gern sehen will.“ – WAGNER, zitiert nach SCHAPER 1877, Anhang S. 255, s.u. Anm. 192. 187 Zu der unweigerlichen Ergänzung bei dem absolut gebrauchten Gen. obi. KVÍCALA 1881, S. 83, (der allerdings vates als Masculinum betrachtet): „Dieser absolute Gebrauch ist allerdings nur ein scheinbarer; in Wirklichkeit ist nämlich immer das betreffende Object leicht aus dem Contexte zu ergänzen. So bezeichnet an unserer Stelle ignarae mentes den Geist der Seher, der die bei ihm vorausgesetzte Kenntniss nicht hat.“ 188 GOSSRAU 1876, ad loc. „non quod nesciant artem haruspicinam “; s.o. Anm. 186.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Bei der zweiten Variante – mit dem Gen. obi. ‚die Sinne [sind] unkundig der Seher‘ – ist vates nicht konkret, sondern metonymisch aufgefaßt.189 In diesen Fällen fehlt eine possessive Bestimmung zu mentes und man stimmt stillschweigend darin überein, daß von Dido und Anna gesprochen ist. In einem Beispiel ist für vates die Bedeutung von ‚fata‘ (‚Schicksalssprüche‘) angeregt, vergleichbar der Formulierung haud vatum ignarus (‚gut vertraut mit Sehern‘, 8,627) und ignarus wird der Bedeutung nach mit immemor gleichgesetzt, vergleichbar mit veterumque ignara deorum (‚nichts mehr wissend von den alten Göttern‘, 8,187). Eine Übersetzung müßte in etwa lauten ‚o daß die Sinne vergessend der Schicksalssprüche‘. Damit sieht man ausgedrückt, Dido wolle in ihrer leidenschaftlichen Verblendung nichts von dem wissen, „was sie als göttlichen Willen aus der Erzählung des Aeneas kennen mußte, daß Aeneas nämlich wiederholt durch Schicksalssprüche nach Italien gewiesen sei.“190 In einem anderen Vorschlag bedeutet vates ‚Zukunft‘, so daß ‚unkundig der Seher‘ lautet ‚unkundig der Zukunft‘. „Die Zukunft, welche Dido nicht kennt, ist nach dem Zusammenhang speciell die Untreue des Aeneas und ihr eigenes Verderben.“191 Ein weiterer Ansatz erklärt vates in der Bedeutung ‚die Sinne sind in Bezug auf Seher unwissend‘.192 Damit sei gemeint, daß nicht erkannt werde, daß mit Sehern und Eingeweideschau das Problem Didos nicht zu bewältigen sei. Man könnte formulieren ‚der Verstand von Dido und Anna ist unwissend in Bezug auf den unangemessenen Einsatz von Sehern‘. Die vorgestellten Möglichkeiten der Interpretation bewertend ergibt sich, daß diejenigen Interpretationen, die vates metonymisch verstehen (vatum als Gen. obi. zu ignarus) und dabei als possessive Bestimmung zu mentes Dido und Anna implizieren, sich in gewisser Weise ähneln. Vates erhält hierbei die Bedeutung von fata oder futura und es ist somit von dem vorbestimmten Schicksal oder zukünftigen Geschehnissen die Rede, von denen Dido nichts wissen will oder weiß. Die Untreue des Aeneas und Didos eigenes Verderben ist in dem einen Fall gemeint (futura), das Verkennen oder die Mißachtung der Grundaussage in den Berichten 189 PÖSCHL 1977, S. 102f. Anm. 131, entscheidet sich für vatum als Gen. obi. und ergänzt zu mentes ‚hominum‘: „O daß doch der Menschen Geist die Sprüche der Seher nicht versteht!“ Somit enthält seine Übersetzung außer der Ergänzung der possessiven Bestimmung ‚der Menschen‘ ebenfalls die metonymische Auffassung von vates als fata, also Sehersprüche. – Warum PÖSCHL den Genitiv, den ich als possessive Bestimmung einordne, also als Gen. poss., in Alternative zum Gen. obi. als einen Genitivus subiectivus beschreibt, kann ich allerdings nicht nachvollziehen (vgl. KÜHNER / STEGMANN 1997, S. 414f.). 190 Nach SCHAPER 1877, Anhang S. 255: KRAZ im Würtemb. Corresp. 1870, S. 17–20. – Es sind sechs Prophezeihungen, von denen Aeneas erzählt: Traumbild Hektors 2,268–297; Creusa 2,771–789; Apollonorakel 3,94–98; Penaten 3,154–171; Celaeno 3,247–257; Helenus 3,374– 462. Keine von ihnen erwähnt Karthago (BONO 1984, S. 33 Anm. 23). 191 Nach SCHAPER 1877, Anhang S. 255: HAUG ZGW 1875, S. 500. 192 WAGNER, zitiert nach SCHAPER 1877, Anhang S. 255: „Noli iungere mentes vatum, sed ignarae vatum, quippe non videntes, quae tali cupiditate obstricta sit, ei non esse opus vatibus atque extispicio, nihil igitur prodesse suspecta vota, nihil adita delubra.“ – Ich möchte nicht mentes vatum zusammenstellen, sondern ignarae vatum, weil sie nicht sehen, da sie [Dido] von großer Leidenschaft gefangen ist, daß sie keine Seher und Eingeweideschau braucht, also daß gegebene Gelübde und Besuche von Heiligtümern nichts nützen.
4.8 Die Suche nach dem Ergebnis aus der Eingeweideschau – die litatio
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des Aeneas, nämlich die apollinische Weisung nach Italien, in dem anderen Fall (fata). Diese zweite Deutung hat der einfacheren ersten etwas voraus wegen der sinnvollen Einbindung der zwei rückblickenden und damit wegweisenden Erzählbücher. In eine ähnliche Richtung zielt die Interpretation, Dido und Anna erkennten nicht, wie unangemessen der Einsatz von Sehern in diesem Fall sei – weil ja durch die apollinischen Weisungen schon etwas anderes vorbestimmt ist, als daß Aeneas in Karthago bliebe, und außerdem Dido sich durch den Treueeid anderweitig verpflichtet hat. Bei einer konkreten Auffassung von vates, wobei vates als Gen. poss. zu mentes konstruiert ist, sind Dido und Anna bezeichnet und man ergänzt unweigerlich dem Sinn nach, in welcher Sache ihnen ein Wissen fehlt. Ergänzen läßt sich futuri. Damit rückt dieser Vorschlag in die Nähe der metonymischen Auffassung, bei der vates in der anderen Konstruktion, mit dem Gen. obi. zu ignarus steht. Die weitere Idee einer Ergänzung, die Seherinnen seien ‚unwissend in der Kunst der Haruspizin‘, wird zu Recht verworfen. Es geht auch meines Erachtens nicht darum, ob den beiden Frauen Fehler bei der rituellen Ausübung unterliefen, der Ausdruck de more (57) spricht klar dagegen. Der Widerspruch im Ausdruck vatum ignarae mentes, der in einer Interpretation, daß professionelle Seher fehl gingen in ihrer Deutung, nach weiteren Erklärungen verlangt, verliert an Schärfe, wenn man Anna und Dido als Seherinnen bezeichnet sieht. Es liegt jedoch eine Ironie darin, daß gerade die Frauen, die die Lage nicht recht deuten und stärker von ihren Wünschen als von ihrem Wissen geleitet sind, vates genannt sind. Einer solchen Art von Seherinnen, einer Verliebten und ihrer Vertrauten, was im Ausdruck unanima male sana soror (4,8) formuliert ist, fehlt es an Verstand, die Möglichkeiten für die Zukunft richtig einzuschätzen.193 Daß es völlig überflüssig ist, mit rituellen Übungen noch weitere Auskunft über das Geschick einzuholen, entgeht den beiden – so gibt die fortgesetzte Kommentierung quod vota furentem, quid delubra iuvant zu erkennen.
4.8 DIE SUCHE NACH DEM ERGEBNIS AUS DER EINGEWEIDESCHAU – DIE LITATIO Fragt man nach einem klaren Ergebnis aus der Eingeweideschau, sieht man sich in einer schwierigen Lage. Man erwartet am Ende der rituellen Tätigkeiten die Mitteilung, aber kann sie den Worten ‚Ach, was schauen die beiden wie Seher in die Eingeweide! In dieser Sache nützt es doch nichts!‘ nicht entnehmen.194 Versu193 Daß sich Didos Unwissenheit von einer unschuldigen Haltung zu einer willentlichen Unklugheit entwickele, beschreibt MUECKE 1983, S. 143–146. – GOSSRAU 1876, ad loc. „sed quia cupiditate abripiuntur, ut nolint intellegere deos monitis suis ab amore revocare“ – KAPPES zitiert nach KNORR 1898, S. 22: „ihr Sinn ist von Leidenschaft verblendet: sie erkennt nicht mehr die gegenteiligen Zeichen, sondern sieht nur, was sie gern sehen will.“ (voller Wortlaut bzw. Übersetzung s.o. Anm. 186). 194 Ähnlich übersetzt O’HARA 1990, S. 180 Anm. 12: „Oh prophets! Oh ignorance!“ und O’HARA 1993, S. 109: „Oh, prophets! Oh ignorant minds! How can vows, how can shrines
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
che, ein positives oder ein negatives Ergebnis aus dem Kontext heraus zu erschließen, müssen scheitern, weil sich beides mit gleicher Berechtigung behaupten läßt. Denn wenn das Ergebnis positiv ausgefallen ist, warum verläuft dann Didos Angelegenheit so unglücklich? Oder wenn die Eingeweideschau negativ ausgegangen ist, warum finden Dido und Aeneas dennoch zusammen? In beiden Möglichkeiten liegt eine Spannung, die sich nicht auflösen läßt. Wiederholt ist auf diese Aporie hingewiesen worden,195 doch bleibt sie häufig unbeachtet.196 Der Befund, daß kein Ergebnis mitgeteilt ist, wirkt sich darauf aus, was man über ein historisches Ritual zu erfahren hoffte: woran die Annahme des Opfers, das Erreichen der litatio zu erkennen wäre. Der Ausdruck sacris litatis, ein Ablativus absolutus, setzt mit seiner Vorzeitigkeit zur Handlung des Hauptsatzes eigentlich voraus, daß die litatio erreicht worden ist, bevor ein indulgere hospitio und causas innectere morandi möglich wären (50f.). Da später beschrieben wird, wie Dido die Gastfreundschaft für ihr Interesse nutzt (74–79), müßte man von einem Erlangen der litatio ausgehen. Daß Iuno den Ehebund stiften will (126 conubio iungam stabili propriamque dicabo – zu dauerndem Bund und ganz ihm zu eigen werde ich sie geben), spräche ebenso für einen positiven Ausgang. Andererseits, der negative Ausgang ist bekannt. Bliebe noch zu vermuten, Dido habe sich über die Vorgabe hinweggesetzt und sich ohne eine litatio intensiv den Gästen gewidmet, vorsätzlich oder aus Unwissen über einen ‚negativen Bescheid‘; ignarae mentes scheint letzteres anzudeuten. Beides wäre mit der Willenserklärung der Iuno zu entkräften. Auch wirft der Erzähler nirgendwo Dido eine Betrugsabsicht im Rituellen vor. Daß Dido sich etwa nicht an die Regeln im Ritual hielte, ist überhaupt kein Thema; der Ausdruck de more (57) formuliert deutlich positiv.
help her in her madness?“ – Als ein entferntes literarisches Vorbild, dessen Bezugspunkt in der Ironie von heu, vatum ignarae mentes liegt, wäre – wie NELIS 2001, S. 140, beschreibt – die Scheltrede an den Seher Mopsus vor der Begegnung von Medea und Iason am Heratempel zu sehen, insofern nämlich daß Seherfähigkeiten bei Liebesangelegenheiten überflüssig seien (APOLL. RHOD. 3,932–937, bes. o, kakómanti – o du Möchtegern-Seher). 195 HEINZE 1915, S. 129: „Künden die Eingeweide Günstiges oder Ungünstiges? Vergil sagt nichts darüber, und so ist denn von den Interpreten beides mit gleicher Bestimmtheit und mit gleicher Berechtigung behauptet worden. In Wahrheit liegt die Sache wohl so, daß Vergil sich etwas gewaltsam einer Schwierigkeit entzogen hat. Denn, wie der schließliche Ausgang lehrt, können die Opfer nicht günstig gewesen sein: sonst hätten ja die Götter getrogen oder die Seher geirrt. Aber andererseits: wenn Juno unmittelbar darauf den Ehebund, um dessentwillen sie befragt wurde, selbst stiften will, so kann der Dichter unmöglich erzählen, daß sie die Annahme des Opfers verweigert habe. So läßt er dann die Sache geflissentlich im dunkeln“; PRESCOTT 1927, S. 274f.: „Modern commentators find a defect in the action here. They object that we do not learn the issue of the sacrifices, the result of the inspection of entrails“; AUSTIN 1955, ad 65; HENRY 1989, S. 17; O’HARA 1990, S. 180 Anm. 12; O’HARA 1993, S. 109. 196 Ein positives Ergebnis sieht beispielsweise NELIS 2001, S. 139. Lt. PEASE 1935, S. 139 ad 63, nimmt HENRY 1878, S. 598, an, daß die Eingeweideschau an einer ersten Kuh nicht positiv ausgefallen sei und Dido daher eine weitere opfere.
4.8 Die Suche nach dem Ergebnis aus der Eingeweideschau – die litatio
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Man muß konstatieren, daß sich aus dieser Darstellung keine Kriterien für das Erreichen einer litatio in einer historischen Eingeweideschau ableiten lassen. Lediglich ist der Formulierung posce deos veniam sacrisque litatis indulge hospitio etc. ein Ziel und eine Reihenfolge zu entnehmen: beim Bitten um die Gunst der Götter ist erst der rituellen Pflicht zu genügen, dann entsprechend zu handeln. Ein Zustandekommen der litatio oder ihre Verweigerung ist nicht erzählt und läßt sich nicht erschließen.
4.8.1 Die Funktion des vates-Satzes – das nicht mitgeteilte Ergebnis Fragt sich jetzt, warum ein Ergebnis aus der Eingeweideschau vorenthalten wird. Welcher Effekt oder welche Funktion lassen sich dafür bestimmen? Der als verunklärender Kommentar erkannte vates-Satz verursacht jedoch einen besonderen Effekt. Denn gerade diese Indifferenz, daß von der Grammatik her nicht zu entscheiden ist, wie der Satz aufgelöst werden muß, versetzt den Rezipienten in eine ähnliche Lage, in der Dido sich befindet: Man sieht sich vor der Schwierigkeit, zwischen den Möglichkeiten, die gegeben scheinen, entscheiden zu müssen. Der Rezipient wird in die Rolle eines Mitleidenden gezwungen, er wechselt von der Sicht eines Außenstehenden in die Perspektive Didos. Auf diese Weise wird vom Rezipienten Empathie eingefordert.197 Den größeren Kontext umfassend läßt sich dann die literarische Funktion eines Spannungsaufbaus beschreiben: Mit der offenen Frage entsteht vom Erzähltechnischen her ein Spannungsbogen, der sich bis zum Ende der Liebe, dem Zerwürfnis erstreckt. Erst dort wird Dido als die Zukunft kennend beschrieben (508 haud ignara futuri), worauf weiter oben hingewiesen wurde,198 und es folgt ein düsteres Ritual, mit dem Dido ihre Selbstmordabsicht verschleiert. Im Gegensatz dazu, so läßt sich schließen, kennt Dido bei dem früheren Ritual, der Eingeweideschau, die Zukunft nicht. Auf den letztlich unglücklichen Ausgang lassen sich zahlreiche Hinweise in der Dido-Episode finden, die im einzelnen schon oft beschrieben wurden.199 Durch die Erzähltechnik der Hinweise wird der Rezipient in 197 Vgl. O’HARA 1990, S. 180 Anm. 12: „My translation [sc. Oh, prophets! Oh ignorance!] is deliberately vague. (...) the real question here is, why has Vergil chosen such relentlessly ambiguous language? The ambiguity here is deliberate, and thematically appropriate: the reader’s difficulty with the syntax of the word vatum is analogous to the difficulty both Dido and the reader have in interpreting the language of the entrails translation“; O’HARA 1993, S. 109f. 198 S.o. S. 157. 199 Beispielsweise durch den Ausdruck infelix Dido (MUECKE 1983, S. 138) oder durch den Hinweis auf ihren furor (FENIK 1959, S. 9; FERGUSON 1970–71, S. 62). Beide Ausdrücke finden sich schon im 1. Buch, so besonders prägnant VERG. Aen. 1,658–660 ut ... Cupido ... furentem / incendat reginam atque ossibus inplicet ignem. – daß ... Cupido ... die rasende Königin in Brand stecke und in ihrem Mark Feuer entfache; und dann 1,712–714 praecipue infelix pesti vota futurae ... ardescitque ... Phoenissa – vor allen die Unglückliche, die geweiht dem Verderben, ... und entbrennt, die Punierfürstin. – Oder quasi als nachgetragenes Ergebnis der Eingeweideschau im Gleichnis vgl. PÖSCHL 1977, S. 105: „Das Gleichnis gehört gleichsam zwei Sphären an: es erhellt einen gegenwärtigen Zustand und enthüllt ein Schicksal.“
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
einen Vorteil gegenüber der Figur versetzt, indem ihm ermöglicht wird, ‚Vorwissen‘ zu erlangen. Wissen gilt als literarisches Mittel, das Spannung erzeugt. Genau genommen entsteht die Spannung durch die Diskrepanz, die zwischen dem Wissen des Rezipienten und dem Nichtwissen der Figur liegt. Die Spannung bleibt dadurch erhalten, daß der Ausgang der ungewissen Sache nicht explizit formuliert wird, sondern sich ein Hinweis an den anderen reiht.200 Der Kommentar zu Didos rituellen Tätigkeiten, über Unwissen und Nutzlosigkeit, zählt zu diesen Elementen, die zwar das ‚Vorwissen‘ vergrößern, aber kein volles Wissen sichern. Es springt der Erzähler hierbei über einen Moment hinweg, der eine spätere Aufklärung des Sachverhalts, ein Nachliefern der beiseite gelassenen Information erfordert.201 Ein solches Nachliefern könnte man in eben der Bemerkung haud ignara futuri sehen. Jedoch an der Stelle, an der man eine eindeutige Aussage, nämlich ein Ergebnis aus der Eingeweideschau erwartet, steht sozusagen nur ein Platzhalter. Dieser kleinere Spannungsbogen ist Teil eines größeren, der schon im ersten Buch einsetzt, wenn beispielsweise Dido infelix genannt wird und bereits von ihrem Verderben gesprochen ist.202 Der große Bogen wird über den Fluch – dort bezeichnet Dido sich schließlich selbst als infelix (4,596) – und letztlich in dem von ihr selbst herbeigeführten Tod zu Ende geführt. In der Zusammenfassung lassen sich für den Ausruf heu, vatum ignarae mentes literarische Funktionen bestimmen. Nicht die inhaltliche Frage, wie die Eingeweideschau ausgeht, ist hier relevant, sondern, warum ein Ergebnis verdunkelt wird. Zum einen ergibt sich der Effekt, daß durch den grammatisch uneindeutigen Kommentar der Rezipient in dieselbe Lage versetzt wird wie Dido: obwohl man genau hinschaut, sieht man nicht klar. Zum anderen bildet die Formulierung quasi einen Platzhalter für das nicht-mitgeteilte Ergebnis der Schau. Dieses Vorenthalten eines expliziten Ergebnisses dient der Spannung, dem Weiterführen und Steigern eines Spannungsbogens, der bereits im ersten Buch einsetzt und letztlich am Ende des vierten Buches im Selbstmord Didos endet.
4.9 DER ZEITLICHE RAHMEN FÜR DIE RITUELLEN TÄTIGKEITEN Außer den Angaben zum Personal und über das Ergebnis interessiert in Bezug auf eine historische Eingeweideschau, was über den zeitlichen Ablauf des Rituals zu erfahren ist. Daher ist zu untersuchen, wie die rituellen Tätigkeiten geschildert werden. Bei der Untersuchung des zeitlichen Ablaufs scheinen sich die rituellen Handlungen, die Dido und Anna ausführen (56–64), in einen linearen Zeitverlauf einzupassen – jedenfalls auf einen ersten Blick, der auf den Abschnitt selbst be200 Vgl. FUCHS 2000, S. 32 ff. und 128 ff. 201 Für das Beiseitelassen eines Faktums GENETTE 1998, S. 34. 202 VERG. Aen. 1,712 praecipue infelix pesti devota futurae – vor allem die Unglückliche, geweiht kommendem Unheil.
4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten
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schränkt ist. Erweitert man jedoch die Sicht auf größere Passagen, läßt sich dieser Sachverhalt nicht mehr so eindeutig darstellen. Es ergeben sich bei den Ereignissen, die zu Beginn des vierten Buches geschildert sind, Diskrepanzen, die der Forschung Schwierigkeiten bereiten, den Zeitverlauf und die Zeitspanne klar zu beschreiben. Um die rituellen Handlungen zeitlich einordnen zu können, ist es notwendig, den größeren Kontext zu betrachten. Zunächst soll der Forschungsstand über die zeitlichen Vorstellungen geschildert, dann mit einer weiteren Analyse zur erzählten Zeit der Verlauf der Handlungen beschrieben werden.
4.9.1 Der Forschungsstand zur Frage des Zeitraums Zu der Frage, innerhalb welcher Zeitspanne die Ereignisse um Dido stattfinden, zeichnen sich im wesentlichen zwei Richtungen ab. Die eine von ihnen stützt sich auf die vielen, aber indifferenten zeitlichen Hinweise – auf die später noch einzugehen ist – und geht deshalb davon aus, daß eine längere, unbestimmte Zeit vergeht. Die andere Richtung differenziert das Erzählte durch eine Tageszählung, die sich an den Sonnenaufgängen und -untergängen orientiert, so daß dann die Ereignisse von Didos Liebesgeständnis an bis zum Ende des Paktes der Göttinnen während eines einzigen Tages – von einem Sonnenaufgang (6f.) bis zu einem nächsten (129) – stattfänden.203 So beschreibt HEINZE einen zeitlichen Verlauf von vier Tagen für die Zeit von Aeneas’ Abfahrt von Sizilien und Landung in Karthago bis zur Verbindung mit Dido. Der Tag mit dem Eingeständnis der Liebe am Morgen wäre danach als der dritte Tag anzusehen204. Diese zeitliche Darstellung erscheint jedoch HEINZE selbst unrealistisch und er beurteilt diejenigen zeitlichen Angaben, die für andere zu einer anderen Zeitauffassung führen, als Nachbesserungsversuche VERGILs.205 In das Konzept der Tageszählung paßt sich die allgemein akzeptierte Vorstellung ein, Aeneas erzähle alle seine Erlebnisse während der ersten Nacht in Karthago und es liege nur noch die restliche kurze Nacht zwischen dem Ende der Erzählung des Aeneas bis zur Aussprache Didos mit Anna. Viele Interpretationen setzen eine solche Auffassung implizit voraus.206 Hierbei zeigt sich, daß die Frage
203 Beispielsweise HEINZE 1915, S. 340f., ihm folgend PEASE 1935, S. 90 ad 6, und NELIS 2001, S. 172. 204 Einen solchen zeitlichen Verlauf sieht mit HEINZE 1915, S. 341ff., bes. S. 343 Anm. 2, PEASE 1935, S. 139 ad 63, der den Tag, der 4,6 beginnt, mit 4,77–85 enden lassen möchte. 205 HEINZE, 1915, S. 343, fällt auf: „daß Vergil nicht selten an einem Tage weit mehr geschehen läßt als in Wirklichkeit möglich wäre. Es ist unwahrscheinlich, daß zwischen des Aeneas Ankunft in Karthago und seiner Vereinigung mit Dido in der Grotte nur ein Tag liegt: und wenn es gleich zweifellos scheint, daß Vergil das ursprünglich so beabsichtigt hat, so sind ihm doch offenbar nachträglich selbst Bedenken gekommen und er hat Zusätze gemacht, die es nahe legen, einen längeren Zwischenraum anzunehmen.“ 206 Stellvertretend für sehr viele andere vgl. BENTLEY / STACHELSCHEID 1880, S. 313; KNORR 1898, S. 21; HEINZE 1915, S. 124f.; DE WITT 1907, S. 284, oder WORSTBROCK 1963, S. 44 und WLOSOK 1976, S. 234; HARRISON 1980, S. 364.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
nach der zeitlichen Konzeption des Erzählten mit einer strukturellen Frage, die die Erzählbücher betrifft, verbunden sein muß. Hinweise darauf, daß das Modell der Tageszählung nicht glatt aufgeht, liefert wie gesagt HEINZE selbst: Etliche Formulierungen passen sich nicht ein, da sie Wiederholungscharakter tragen oder das Verstreichen eines längeren Zeitraums voraussetzen (63 instaurat diem; 74/77 nunc ... nunc; 82–84 sola domo maeret vacua stratisque relictis / incubat ... aut gremio Ascanium ... detinet; 86–89 non coepta ...). Insbesondere für den angenommenen dritten Tag glaube man, so HEIN207 ZE, bis zu Vers 83 den Bericht über nur einen einzigen Tag zu hören, als eben mit den Worten illum absens absentem auditque videtque von Didos Sehnsuchtsgefühlen bei Abwesenheit des Aeneas die Rede ist. HEINZE sieht hierin deutlich die Illusion einer Tagesdarstellung durchbrochen. Die scheinbaren Widersprüche in der Darstellung VERGILs, nämlich daß einerseits ein einziger Tag beschrieben zu sein scheint und andererseits durch bestimmte Ausdrücke das Vergehen eines längeren Zeitraumes suggeriert ist, interpretiert MEHMEL harmonisierend. Er folgt zwar der Tageszählung, die sich, wie er beschreibt, an die Argonautika des APOLLONIUS RHODIUS anlehne, sieht aber anders als bei APOLLONIUS RHODIUS bestimmte Zeiträume zu „Situationen“ ausgeweitet, die sich einer genauen Zeitzählung entzögen: daß Dido bald dies, bald das tut (74/77 nunc ... nunc), wie die Bauten stillstehen (86–89), daß Dido ihre Liebe nicht mehr versteckt (169–172), wie die Fama tätig ist (bes. 193).208 Von der Grundidee her urteilt MEHMEL ganz richtig, daß in der Aeneis nicht die lineare zeitliche Kontinuität des Geschehens oberstes Darstellungsprinzip ist und man keineswegs annehmen dürfe, daß jedesmal nur die einfachste Zeiteinheit, ein Tag, gemeint sei.209 Schwierigkeiten mit der Zeitvorstellung hatten offensichtlich auch schon die spätantiken Kommentatoren. So sieht SERV. Aen. 4,63 in instaurat, was ‚erneuern‘ bedeutet, lediglich das Übermaß der Darbringung ausgedrückt (iam supra sacrificaverat – schon übergenug hatte sie geopfert), das SERV. AUCT. 4,62 ganz richtig in pingues aras ‚von Fett triefende Altäre‘ findet. Die Möglichkeit, von mehreren Tagen auszugehen,210 ist nicht diskutiert, obwohl SERVIUS AUCTOR eine Erklärung für die Frage sucht, wie denn Didos Anwesenheit und das Umhergehen an den Altären mit ihrem Umherschweifen in der Stadt (62 spatiatur ad aras; 68 tota 207 HEINZE 1915, S. 343 Anm. 2. – Den Ansatz HEINZEs verwirft PÖSCHL, ohne jedoch eine andere Erklärung zu bieten, indem er auf eine Formulierung hinweist, die auf einen längeren Zeitraum während des Winters deutet. Vgl. PÖSCHL 1977, S. 101 Anm. 130: nunc hiemem inter se luxu, quam longa, fovere Regnorum inmemores turpique cupidine captos – jetzt schon den ganzen Winter lang schwelgten sie in Luxus, vergäßen ihre Reiche und seien von schändlicher Begierde erfaßt (4,193f.). Ebenso wenig kann OTIS 1963, S. 78f., klare Zeitverhältnisse beschreiben. 208 MEHMEL 1940, S. 92f. 209 MEHMEL 1940, S. 94. – Ähnlich urteilt PÖSCHL 1977, S. 172, daß es eine Art innerer Verknüpfung gebe, die über die Beschreibung des Tagesanbruchs weit hinausgehe. 210 MACKAIL 1930, ad 4,63, bietet zwei Möglichkeiten, instauratque diem donis zu verstehen: entweder als Wiederholen über den Tag oder an mehreren Tagen hintereinander.
4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten
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urbe vagatur) zusammenzubringen sei: Nach seiner Version211 gehe Dido vor Liebe unruhig zwischen den Altären umher. Wie SERVIUS hat auch CLAUD. DON. 4,63 Probleme mit der Zeitvorstellung, indem er Dido zuschreibt, sie wolle durch die häufigeren Darbringungen den einen Tag verlängern.212 Diesen Positionen, die mehr oder weniger an einer Tageszählung festhalten, stehen auf der anderen Seite Lösungsansätze gegenüber, die von einem längeren Zeitraum ausgehen. Diese beziehen sich allerdings auf einen viel kleineren Textausschnitt und gehen auf die Gesamtstruktur nicht ein, die die Tageszählung zu erfassen sucht. So findet sich spätestens seit CONINGTON die Meinung vertreten, daß man mit Bezug auf die abendlichen Ereignisse (77–85) nicht voraussetzen dürfe, VERGIL beschreibe die Ereignisse eines einzigen Tages.213 CONINGTON zieht jedoch keine weitergehenden Schlüsse, die eine Parallelität der abendlichen Handlungen mit den rituellen Handlungen am Morgen betonen würden. Dies bietet dann explizit KVÍCALA, der schreibt: „Der Dichter will das fortwährende Opfer bezeichnen, indem er sagt, dass mit Anbruch des neuen Tages die erste Handlung wieder im Opfern besteht. (...) ich glaube, dass die Verse 54 ff. nicht bloss auf einen einzigen Tag sich beziehen, sondern dass hier an mehrere Tage zu denken ist, wie dies später V. 77/80/86 ff. deutlich hervortritt. Es ist also aus diesem Grunde die Berechtigung vorhanden, anzunehmen, der Dichter habe sagen wollen, dass Dido es bei 214 den Opfern des einen Tages nicht bewenden ließ.“
Die – allerdings meist auf die abendlichen Ereignisse eingeschränkte – Sicht, die zu der Auffassung führt, daß es eine Folge von abendlichen Gastmählern gibt, nehmen nur wenige andere ein, wie etwa GLOVER.215 In der nachfolgenden Zeit gibt es in der Forschung manchen Fortschritt, aber auch wieder Rückschritte bei der Beurteilung der zeitlichen Verhältnisse: So sieht BÜCHNER ganz richtig HEINZE mit seiner Tageszählung im Irrtum und beurteilt den Zustand Didos insgesamt als eine längere Zeit anhaltend.216 BÜCHNER bezieht neben der Darstellung der Leidenschaft (68–89) auch die rituellen Handlungen (56–67) mit ein. Daß ab dem Bericht über das Stadtbesichtigen (74–89) nicht etwa die Ereignisse eines zweiten 211 Die Ereignisse, auf die SERVIUS AUCT. sich bezieht (62 spatiatur; 68 vagatur), liegen jedoch nicht nur erzählerisch, sondern auch zeitlich getrennt. 212 Der Ausdruck instaurare gilt in der Forschung als Fachbegriff für die Wiederholung des Rituals, wenn keine litatio erreicht worden ist; vgl. CONINGTON 1876, S. 265 ad 63; AUSTIN 1955, ad 63; PRESCENDI 2004, S. 230. 213 CONINGTON 1876, S. 268 ad 84: „But the whole perplexity [sc. daß Ascanius offenbar in Abwesenheit seines Vaters von Dido geherzt wird] vanishes if we do not tie down Virg. to a narrative of the events of a single day. In saying ‚Nunc ... nunc‘ vv. 74, 77, he does not necessarily mean the morning and the evening of the day succeeding Aeneas‘ arrival, (...); and there is nothing to show that ‚illum absens absentem auditque videtque‘ is to be restricted to the night after they have parted.“ 214 KVÍCALA 1881, S. 80f. 215 GLOVER 1904, S. 191: „Then evening by evening, again and again, she [Dido] recurs to the story of Troy. (...), and they part, he [Aeneas] to sleep, she to return to the couch on which he had lain in the banqueting-room, to see and hear him once more in imagination. She takes Ascanius to her heart to find her way to his father’s. So the days pass.“ 216 BÜCHNER 1955, Sp. 46, Z. 11–20.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Tages nach dem Ankunftstag beschrieben sind, sondern diejenigen eines längeren und unbestimmten Zeitraumes, stellt ein weiteres Mal QUINN heraus. Aber ebensowenig wie CONINGTON überträgt er den Darstellungsstil der Wiederholungen auch auf den Abschnitt mit den rituellen Handlungen (56–64).217 Dies holt er jedoch später nach, indem er in instaurat diem donis das Morgen-für-MorgenOpfern erkennt.218 Diese Konsequenz, die ja KVÍCALA schon gezogen hatte, findet sich dann wiederum bei SCHRIJVERS, der in seiner Untersuchung zur Erzähltechnik auf die Passage der Riten- und Abendbeschreibung (56–89) zu sprechen kommt.219 SCHRIJVERS konstatiert für die beschriebenen Handlungen einen unbestimmten Zeitraum von mehreren Tagen oder Wochen, denn die unterlassenen Sicherungsmaßnahmen ließen sich nur für einen längeren Zeitraum denken. Und er argumentiert – wie CONINGTON – mit einer Unstimmigkeit, die sich, wenn man den Verlauf von nur einem Tag seit dem Beginn des vierten Buches annehmen müßte, in Bezug auf den in Vers 83f. erwähnten Ascanius ergibt.220 Verglichen mit KVÍCALA fehlt es bei ihm jedoch an Deutlichkeit, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wenn nämlich die rituellen Handlungen an mehreren Tagen hintereinander zu denken sind. Allerdings liegen bei seiner Untersuchung zur Erzähltechnik Schlußfolgerungen zu dieser Frage nicht in seinem Interesse. Insgesamt die Lage beurteilend muß vermerkt werden, daß nur einzelne die Meinung vertreten, daß sich an bestimmten Abschnitten – meist denen über die abendlichen Ereignisse und über die unterlassenen Tätigkeiten – wegen des Aufzählungscharakters ein Zeitverlauf von mehreren Tagen zeigen läßt. Ganz wenige sehen einen solchen Zeitverlauf auch bei den rituellen Handlungen gegeben. Nur vereinzelt wird eine Konsequenz aus den Beobachtungen gezogen und zwar nur auf inhaltlicher Ebene: Dido führe die rituellen Handlungen über einen längeren Zeitraum an jedem neuen Morgen aus. Weitergehende Überlegungen gibt es meines Wissens nicht. Es erscheint mir jedoch naheliegend, zum einen zu fragen, wie man sich den Zeitverlauf insgesamt vorstellen soll, wenn die genannten Ereignisse nicht nur diejenigen eines zweiten Tages sind, sondern an mehreren aufeinander folgenden Tagen immer wieder stattfinden. Da hier der Zeitverlauf nicht linear, sondern zirkulär zu denken ist, ergibt sich weiter die Frage, welche Erzählstrukturen in einen solchen zirkulären Verlauf eingebunden sind. Zum anderen ist eine Erklärung zu suchen, was es mit 217 QUINN zuerst 1965, S. 18f.: „Then comes a passage of brilliant, condensed narrative (74–89), in which a series of images dissolve into one another, ... What interval of time ... do these scenes represent? It is impossible to tell. Virgil wants the illusion of days that slip by unnoticed.“ 218 QUINN 1968, S. 138f.: „The priests are mystified when she starts each day with a fresh sacrifice.“ 219 SCHRIJVERS 1971, S. 202: „de verteltijd van 34 versen omslaat een niet nader bepaald aantal dagen vertelde tijd.“ 220 CONINGTON beschreibt, man habe in der Bemerkung, daß Ascanius auf Didos Schoß sitze, nachdem alle gegangen seien (80 post ubi digressi; 84f. Ascanium ... detinet), eine Verkehrung wahrgenommen, die durch Umstellung der Verse zu verbessern sei. Dies lehnt er zu Recht ab und, wie beschrieben, schlägt er die alternative Interpretation vor, daß man von mehreren Tagen auszugehen habe.
4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten
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der von HEINZE – wenn auch mit Bedenken seinerseits – vorgeschlagenen Tageszählung auf sich hat, die ja eine lineare Darstellung der Zeit festlegt und einem zirkulären Verlauf widerspricht.
4.9.2 Der zirkuläre Zeitverlauf und die Zeit der heimlichen Liebe Die Schwierigkeit, die sich bei dem Vorschlag einer Tageszählung ergibt, läßt sich leicht auflösen, wenn man die Sonnenaufgänge, an denen sich HEINZE bei der Tageszählung orientiert, nicht als die des nächsten Tages, sondern als die irgendeines neuen Tages versteht.221 Entsprechendes gilt für die Sonnenuntergänge. Somit entsteht eine lockere lineare Zeitfolge von Morgenden und Abenden. Daß eine Tagesspanne als Strukturelement eingesetzt wird und somit inhaltliche Geschlossenheit suggeriert, ohne daß ein realistischer Zeitraum bezeichnet wird, zeigt SCHWINDT in seiner Untersuchung über das Motiv der Tagesspanne, deren Ergebnisse sich auf die hier diskutierte Stelle übertragen lassen.222 Der Annahme eines zirkulären Verlaufs steht also die Erwähnung von Sonnenauf- und -untergängen nicht entgegen, sie fast die Abfolge von Tagesanfängen und Tagesausklängen lediglich weniger streng. Zur Klärung der Frage, wie man sich den Zeitverlauf insgesamt vorstellen soll, wird wiederum eine Methode zeitlicher Analyse zugrunde gelegt.223 Hier ist, um den Verlauf zu beschreiben, die Frage nach der Frequenz des Erzählten maßgeblich. In der Frage nach der Frequenz der erzählten Handlung wird unterschieden – was hier relevant ist – zwischen nur einmal erzählten, aber häufiger stattfindenden Ereignissen – diese werden in iterativer Frequenz dargestellt – und dem nur einmal erzählten und auch nur einmal vorkommenden Ereignis – was in singulativer Frequenz dargestellt ist.224 Um eine solche Unterscheidung treffen zu können, sind Indizien herauszustellen, die einen Wiederholungscharakter tragen. Die wesentlichen solcher Indizien sind schon bei der Beschreibung des Forschungsstandes zur Sprache gekommen, werden aber in der folgenden Darstellung im Gesamtzusammenhang nochmals angeführt. Ziel dabei ist, den Zeitverlauf für die rituellen Handlungen zu bestimmen. Dazu ist es jedoch notwendig, diese Handlungen in ein umfassendes zeitliches Konzept einzuordnen, das sich stimmig beschreiben läßt.
221 Speziell VERG. Aen. 4,6f. postera (auch Lesart postea) Phoebea lustrabat lampade terras / umentemque Aurora polo dimoverat umbram – Wiederum erleuchtete mit dem Licht des Phoebus die Lande Aurora und hatte vom Himmelspol vertrieben das feuchte Dunkel. – Zwar heißt postero die ‚am folgenden Tag‘ – das Wort posterus gibt dabei die unmittelbare Folge an, jedoch läßt sich die Wendung – jetzt wörtlich: ‚mit dem folgenden Licht des Phoebus‘ gar nicht konkretisieren, weil zuvor von dem seelischen Zustand der Dido die Rede ist. Dieser ist aber zeitlich nicht genauer als durch iamdudum (schon längst 4,1) bestimmt. 222 Vgl. SCHWINDT 1994. 223 GENETTE 1998, S. 22 und 213. 224 GENETTE 1998, S. 81–83.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Vor den rituellen Vorgängen ist das Gespräch zwischen Dido und Anna dargestellt (6–55). Diese Reden finden nur einmal statt und werden auch nur einmal erzählt. Für die Szene des Dialoges läßt sich somit eine singulative Frequenz nachweisen. Im Kontrast dazu zeigt das anschließende Erzählen von den rituellen Tätigkeiten (56–64) iterative Frequenz. Diese läßt sich nicht allein durch den Plural erkennen: mehrere Tempel (delubra) werden aufgesucht und mehrfach wird geopfert (per aras; lectas ... bidentis) für mehrere Gottheiten (Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus, Iuno).225 Verschiedene Handlungen der Dido illustrieren ihren Einsatz: sie weiht Opfertiere selbst (ipsa ... fundit) oder sie ist umhergehend an den Opferplätzen anwesend (62 aut ante ora deum ... spatiatur). Von ihren häufigen Besuchen quellen die Altäre schon über (62 pinguis ... ad aras). Jeden Morgen finden neue Opferungen statt (63 instauratque diem donis), bei denen sie selbst die Eingeweide beschaut. Der Kommentar des Erzählers (65–67) sowie der Vergleich mit der Hirschkuh (69–73) liegen außerhalb erzählter Handlung und sind deshalb hier nicht relevant. Das nur knapp zwischen diesen Teilen Erzählte, nämlich daß Dido herumirrt, hat ebenfalls iterativen Charakter (68f. totaque vagatur urbe furens). Wiederum iterative Frequenz läßt das summarische Erzählen über Didos Bemühungen um die Gäste erkennen: Mehrfach führt Dido Aeneas durch die Stadt und mehrfach lädt sie ihn abends zum Gastmahl (74 nunc ... per moenia ducit; 77 nunc eadem labente die convivia quaerit).226 Immer wieder, und über die Dauer der Zeit inzwischen nicht mehr bei Verstand,227 verlangt sie, von den Taten zu hören (78f. Iliacosque iterum demens audire labores / exposcit pendetque iterum narrantis ab ore). Von diesen äußeren Handlungen lenkt dann eine weitere Zeitangabe hin zur Innenwelt der Dido: Nach dem immer späten Ende der Zusammenkünfte (80f. post ubi digressi, lumenque obscura vicissim / luna premit) ist Dido traurig und verbringt lange Nächte schlaflos. Ihr schwebt dann beispielsweise das Bild des Aeneas vor Augen (83 illum absens absentem auditque videtque), dessen verlassenen Platz sie eingenommen hat (statisque relictisque incubat), oder sie ist von der Ähnlichkeit des Ascanius beeindruckt, den sie bei den Gesellschaften auf den Schoß zu nehmen pflegt (84 aut gremio Ascanium ... detinet). Die Fortführung ihres Handelns bei den Gastmählern wird wie zuvor bei den rituellen Handlungen mit aut angeschlossen (62/84)228 und unterstreicht so den zeitlichen Gleichtakt der Abendgesellschaften mit den morgendlichen Riten. Der Hinweis auf Ascanius bringt nun weitere Klärung über den Handlungsablauf und zugleich über die Erzählstruktur. Wie angedeutet, wurde der vermeintlich 225 Zu den Gottheiten s.o. S. 125 ff. 226 Im Gegensatz zur Argumentation, daß mit nunc ... nunc ein längerer Zeitraum bezeichnet ist (s.o. S. 165f.), weist PEASE 1935, S. 149, lediglich auf den Wiederholungscharakter im Ausdruck hin, weitergehende Überlegungen zum zeitlichen Konzept stellt er nicht an. 227 Den fortschreitenden Realitätsverlust Didos markiert eine Kette von Ausdrücken: 1,712 infelix – 718 inscia – 740 infelix; 4,1 saucia – 8 male sana – 55 dubia mens – 65 ignarae mentes – furens – 68 infelix – 69 furens – 91 nec obstare furori. 228 Auf die Parallele von aut ... aut weist beispielsweise AUSTIN 1955, ad 84, hin und SCHRIJVERS 1971, S. 202: „de versnelling wordt bereikt doordat alleen een opsomming van Dido’s handelingen wordt gegeven (aut ... nunc ... nunc ... aut).“
4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten
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nächtliche Aufenthalt des Ascanius mehrfach als Unstimmigkeit in der Darstellung wahrgenommen.229 Seine Erwähnung ist auch als Schlüssel für manche anderen Probleme zu nutzen. Das Stichwort ‚Ascanius‘ in der Beschreibung der abendlichen Gastmähler leitet zurück an den Beginn dieser abendlichen Veranstaltungsreihe, nämlich zu dem ersten Gastmahl, bei dem sich Cupido anstelle von Ascanius eingefunden hat (1,697 ff.).230 Die Schilderung dieses früheren Abends ist detailreicher. Seine singulative Darstellung kann als paradigmatisch für die nachfolgenden summarisch und iterativ beschriebenen Abende des vierten Buches gelten.231 Bei dem ersten Gastmahl beginnt Aeneas nach Didos Aufforderung von den Irrfahrten zu sprechen. Die Darstellung über seine Fahrten wird nicht unterbrochen, so daß man meinen könnte, daß Aeneas alles an einem Abend berichtet. Jedoch zeigt der Wechsel der Frequenz von einer singulativen Narration, die sich am Beginn seiner Erzählung findet, zu einem Iterativ am weit entfernten Ende, daß man sich mehrere derartiger Abende vorstellen muß (2,1–13 inde ... sic orsus; 3,716–718 fata renarrabat). Auch die wörtliche Wiederholung der Mahnung des Aeneas in der Beschreibung der abendlichen Trennungen stellt die Verbindung zwischen diesen Gastmählern her (2,9 und 4,81 suadentque cadentia sidera somnos).232 Ein weiteres Indiz ist die Wendung illum absens absentem auditque videtque (83), die sich nicht recht verstehen ließe,233 wenn man nicht davon ausgeht, daß hier die Ereignisse mehrerer Abende geschildert sind. Der Morgen des Gesprächs zwischen Anna und Dido schließt sich irgendeinem dieser Abende an.234 Die Formulierung At regina ... iamdudum ... saucia (4,1) zeigt sich jetzt als das Bindeglied in einer zeitlichen Schleife der Geschichte über die heimliche Liebe der Dido: Am Abend Gastmahl und Beginn des Erzählens des Aeneas (1,749–[Ende Buch 3]) – seit dem nachts gesteigerte Liebe und Kummer (4,1–5) – eines morgens ganz früh Aussprache mit Anna (6–55) – danach immer morgens Opferungen (56–64) – tagsüber Unruhe, Verwirrung und Stadtbesichtigungen (68–76) – abends Gastmähler und fortgesetztes Erzählen (77–79) – nachts weiterhin gesteigerte Liebe und Kummer (80–85). 229 Beispielsweise versteht PHARR 1964, S. 203, die Auswechslung nicht und meint, wie HEINZE 1915, S. 454, daß VERGIL versäumt habe, über den Rücktausch zu berichten. Dagegen sehen hierin ein Indiz für einen nichtlinearen Zeitverlauf CONINGTON 1876, S. 268 ad 84, und SCHRIJVERS 1971, S. 202. 230 Obwohl HEINZE 1915, S. 452, äußert, daß man bei der Komposition von Buch 1 „Einheit vermissen könnte“, ist ihm (S. 394; bes. S. 454) ein Bezug zwischen den Büchern 1 und 4 durch die Auswechslung von Ascanius und Cupido aufgefallen, jedoch sieht er in dem stillschweigenden Tausch ein Manko. Andererseits erkennt er die zwei Bücher als Rahmung für die Irrfahrterzählung (S. 458 Anm. 2). Zu einer integrierenden Schlußfolgerung kommt er nicht. 231 Zum paradigmatischen Gebrauch eines singulativen Erzählens GENETTE 1998, S. 83 Anm. 6. – Auf die zahlreichen Parallelen zwischen den Büchern 1 und 4 weisen beispielsweise hin WORSTBROCK 1963, S. 87 ff., und KOCH 1966. 232 PÖSCHL 1977, S. 188, sieht, daß diese Wiederholung auf den ersten Abend zurückweist. 233 So HEINZE, s.o. S. 164. 234 Vgl. gegenteilige Meinungen in Anm. 206.
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Das summarische Erzählen über die Gastmähler mit iterativer Frequenz wird fortgesetzt mit dem Katalog, der in einer Handlungspause die versäumten Pflichten der Dido beschreibt (86–89).235 Auch in dieser Beschreibung besteht ein Bezug zum ersten Buch, in dem der Stadtbau und die Gestaltungskraft Didos geschildert wird (1,421–429; 503f. 507f.).236 Der große Abschnitt der Dialogszene zwischen Iuno und Venus (90–128) kehrt dann mit einer durchgängig singulativen Frequenz zu einem linearen Zeitverlauf zurück. Dadurch, daß Iuno zu Beginn ihrer Rede an die früheren Ereignisse des ersten Buches erinnert, als Venus Cupido zum Fest sandte (1,657–688),237 ist auch inhaltlich ein Bezug hergestellt und das Thema der abendlichen Feste findet seinen Abschluß. Für die Hypothese eines zirkulären Verlaufs, die zuletzt unter inhaltlichen Gesichtspunkten verdeutlicht wurde, gibt es Unterstützung aufgrund von Diskussionen über einzelne strukturelle Aspekte. Zunächst ist auf Überlegungen direkt zu den Erzählbüchern einzugehen, den Berichten des Aeneas in den Büchern 2 und 3. Seine Berichte sind zwar ohne Unterbrechung in einem einzigen Block wiedergegeben, das muß aber nicht heißen, daß sie während einer einzigen Nacht vorgetragen zu denken sind. Vielmehr bilden sie vor allem einen inhaltlichen Zusammenhang und dann erst einen zeitlichen, und diesen eher insofern, daß sie immer wieder zur Nachtzeit stattfinden,238 nämlich wie herausgestellt, nach den wiederholt stattfindenden abendlichen Gastmählern. WORSTBROCK, der allerdings von einem linearen Zeitverlauf ausgeht, liefert dennoch einen wichtigen Hinweis mit seiner Beobachtung, daß „die Betonung des Schweigens in der ersten Zeile des zweiten und der letzten Zeile des dritten Buches hier wie dort ihre Bedeutung [hat] ... im Schweigen der Zuhörer tritt die Gegenwart des karthagischen Festes ab und vollzieht sich fiktiv der Wechsel der Szene“.239 Wertet man unter Annahme eines zirkulären Verlaufs diese Darstellung um, so bedeutet das Schweigen der Zuhörer nicht nur eine Abgrenzung der Berichte des Aeneas von der karthagischen Handlung, sondern zugleich ein Herauslösen des Berichtens aus einem linearen Zeitverlauf. Auch eine Beobachtung SUERBAUMs, daß die Wirkung bestimmter Passagen auf die Zuhörer, vor allem auf Dido nicht beschrieben werde,240 unterstützt den Gedanken, daß mit dem Fortgang des Erzählens nicht etwa eine konkrete Nacht geschildert ist, sondern daß das Berichten quasi in einem ‚situationslosen Raum‘ 235 S.o. S. 155. 236 QUINN 1965, S. 19. 237 VERG. Aen. 4,92–94: egregiam vero laudem et spolia ampla refertis / tuque puerque tuus; magnum memorabile nomen, / una dolo divom si femina victa duorum est – Wahrlich, herrlichen Ruhm erwerbt ihr, prächtige Beute, du und dein Knabe: wie groß und unvergänglich der Name, wenn ei n sterbliches Weib der List zweier Götter erlegen. (Übers. GÖTTE). 238 PEASE 1935, S. 153, nimmt wahr, daß wichtige Teile der Dido-Episode während der Nacht stattfinden, ohne jedoch in Betracht zu ziehen, daß bestimmte Nächte der Bücher 1 und 4 (1,697; 4,5; 4,80–85) in der beschriebenen Weise zusammengehören könnten. 239 WORSTBROCK 1963, S. 44. – Das conticuere omnes (VERG. Aen. 2,1) und conticuit (3,718) thematisiert ANZINGER 2007 nicht. 240 SUERBAUM 1999, S. 50.
4.9 Der zeitliche Rahmen für die rituellen Tätigkeiten
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schwebt. Eine Beschreibung der Wirkung auf Dido und die Konkretisierung der Situation findet sich ja dann nach dem Ende des Berichteten, nämlich zu Beginn des vierten Buches mit At regina gravi iamdudum saucia cura usw.241 Das adversative At regina zu Beginn des vierten Buches beendet das Thema ‚Aeneas‘ und wendet sich dem Geschehen um die Königin zu.242 Zugleich nimmt die zeitliche Darstellung wieder einen linearen Verlauf an, aber nur kurz, im wesentlichen für die Szene des Dialogs zwischen Dido und Anna. Bei der Einbindung der Erzählbücher in einen zirkulären Verlauf ist die das vierte Buch einleitende Beschreibung von Didos Zustand genauer zu erfassen, bei der die Zeitangabe ‚schon längst‘ (iamdudum) verwendet ist. An dieser Wortwahl hat man unter dem Voraussetzen einer Tageszählung und eines linearen zeitlichen Verlaufs – also bei einer einzigen vergangenen Erzählnacht – eher Anstoß genommen.243 Aber unter der Annahme eines zirkulären Verlaufs gewinnt dieser Ausdruck: Mit iamdudum ist ein allmähliches Intensivieren der Liebesgefühle über eine längere Zeit hinweg – und nicht nur bis zum nächsten Tag – intendiert. Wie es zu der Steigerung kommt, ist kurz darauf beschrieben,244 nämlich indem verschiedene Eigenschaften des geliebten Mannes Dido immer wieder durch den Sinn gehen (3f. multa viri virtus animo multusque recursat gentis honos – vielmals durcheilt die Tugend des Mannes ihren Sinn und vielmals der Ruhm der Herkunft).245 Die ersten Zeilen des Dido-Buches lassen sich als eine kurze Rückblende beschreiben,246 in der nachgetragen wird, was SUERBAUM in den Erzählbüchern vermißt, nämlich wie die Reden des Aeneas auf Dido wirken. Auf diese
241 Text und Übersetzung s.o. Anm. 56. 242 Zum Themenwechsel beispielsweise SERV. Aen. 4,1; PEASE 1935, ad 4,1. – Das adversative Verhältnis in ille bezieht dagegen SERV. auf die Ruhe, die Aeneas nach seiner Erzählung findet, doch die Königin nicht, ebenso CONINGTON 1876, ad 1, und WORSTBROCK 1963, S. 44f. – Themenwechsel und Ruhelosigkeit vereinend AUSTIN 1955 ad 1. Gänzlich unpassend erscheint die Verwendung eines adversativen Ausdrucks HARRISON 1980, S. 364: „Instead of overlap and integration, then, the poet employs here a strongly adversative juxtaposition.“ – Bezüglich der Komposition hat man zwar zwischen den Büchern 1 und 4 vielfache Korrespondenzen gesehen, aber diese nur inhaltlich bezogen und unter das Hauptthema Dido geordnet. So z.B. QUINN 1968, S. 67: „Books 1 to 4 form a closely cohering structure, organized around the long flashback of Books 2 und 3 – the dramatic moment of the beginning of Book 4 is the same that at the end of Book 1; though the narrative ranges over the whole of Aeneas’ wanderings, Carthage remains the dramatic setting.“ 243 PEASE 1935, S. 84, entscheidet sich mit seiner Äußerung: „that iamdudum is awkward, when only one night has elapsed, need not force us to any particular theory of the composition of the books of the Aeneid“ nicht dazu, die Vorstellung von einer einzigen Erzähl-Nacht aufzugeben, doch kommt er mit seiner zwar als Ablehnung formulierten Idee der hier vorgestellten Alternative am nächsten. – Dagegen interpretiert AUSTIN 1955, ad 1, bildlich, daß nämlich der Dido die Zeit der unerfüllten Liebe so lang nur erscheine. 244 SERV. Aen. 4,3. 245 ‚Multa‘ und ‚multus‘ als ‚saepe‘ gedeutet, CONINGTON 1876 ad 3. 246 GENETTE 1998 S. 34, beschreibt einen solchen kurzen Nachtrag als kompletive Analepse, als eine Rückblende, „die jene retrospektiven Segmente umfaßt, die nachträglich eine frühere Lücke der Erzählung füllen.“
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
Rückblende findet dann eine Konkretisierung der Situation statt, die zu dem Dialog der beiden Frauen und dem Fortgang der Geschichte führt.247 Zusammenfassend ist für die Frage nach dem zeitlichen Ablauf des geschilderten Rituals festzuhalten, daß die Tätigkeiten, die zwar nur einmal erzählt sind, nicht nur einmal stattfinden, sondern sich wiederholen. Sie sind eingebunden in einen zirkulären Zeitverlauf, der einen größeren Rahmen umspannt und die Ereignisse in Karthago vom Ende des ersten bis zum Anfang des vierten Buches einbezieht. Die Erzählbücher, das zweite und dritte Buch, geben hierbei nicht das Erzählen in einer einzigen Nacht, sondern an mehreren Abenden über einen längeren Zeitraum hinweg wieder. Das dagegen einen linearen Verlauf voraussetzende Konzept einer an den erzählten Sonnenauf- und -untergängen orientierten Tageszählung, das in der Forschung stark vertreten ist, aber in einigen Aspekten Probleme verursacht, erscheint, da ein zirkulärer Verlauf diese Probleme auflöst, wenig plausibel. Der zirkuläre Zeitverlauf, bei dem die Anzahl der Tage zwar unbestimmt bleibt, aber implizit zu erschließen ist, reicht somit vom Tag des ersten Gastmahls, bei dem Cupido anstelle des Ascanius anwesend ist (1,697 ff.), bis zur Planung der Göttinnen, was weiter geschehen solle (4,90–128). In diese Zeitspanne sind die an mehreren Tagen über einen längeren Zeitraum stattfindenden rituellen Handlungen eingeordnet, die am Morgen der Aussprache beginnen (4,6) und vor dem Tag der Jagd enden (4,129). Auf dem Hintergrund der abendlichen Festmähler für die Gäste sind die Schlachtungen, bei denen von den Eingeweideschauen erzählt ist, als Vorbereitungen zu sehen. Der Befund, daß hier kein nur einmal ablaufendes Ritual geschildert ist, muß bei Rückschlüssen auf den Ablauf eines historischen Rituals, insbesondere des in Frage gestellten römischen Hochzeitsauspiziums, berücksichtigt werden.
4.10 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Mit der Frage, wie der Ritus der Eingeweideschau überformt ist, ließ sich durch eine literarische Analyse verdeutlichen, daß bei der starken literarischen Funktionalität von Personal und Zeit einer Rekonstruktion des Ritus in dieser Hinsicht enge Grenzen gesetzt sind. Beim Personal ist in der Darstellung auf zwei Personen fokussiert: Außer der Protagonistin und ihrer Vertrauten, Dido und Anna, ist für das Ritual kein weiteres Personal erwähnt. Die Annahme, daß spezielle vates zugegen wären, konnte durch eine Klarstellung, daß vates nicht in der Handlung des Dargestellten, sondern in einer Handlungspause erwähnt sind, als unzutreffend herausgestellt werden. Lediglich weist eine als Ironie zu verstehende An247 Wirkung: 4,1–5 At regina gravi iamdudum saucia cura etc. (Text und Übersetzung s.o. Anm. 56); Konkretisierung der Situation: 4,6–8 postera Phoebea lustrabat lampade terras ... Aurora ... cum sic unanimam adloquitur [Dido] male sana sororem – eine kommende Aurora erhellte mit dem Licht des Phoebus’ die Lande ... als diejenige, die schlechter Verfassung, die Schwester, die gleicher Verfassung, folgendermaßen ansprach.
4.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
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spielung über die Unwissenheit der sich hier als vates Betätigenden, nämlich Dido und Anna, darauf hin, daß in der historischen Realität spezielle Experten für sakrale Angelegenheiten eingesetzt waren. Deren Zuständigkeit lag gewiß in einer Bekanntgabe des Ergebnisses aus der Eingeweideschau, so daß der Gebrauch des Wortes vates an dieser Stelle den Rezipienten ein Ergebnis erwarten läßt. Ein Ergebnis wird jedoch nicht formuliert, auch nicht implizit. Dafür gibt es logische Gründe. Denn wäre die Eingeweideschau positiv ausgegangen, hätte dies nicht Didos Unglück bedeutet, wäre sie jedoch negativ ausgegangen, so hätte es nicht mit Iunos Unterstützung zu der problematischen ‚Hochzeit‘ kommen können. Für das Offenbleiben des Ergebnisses lassen sich erzähltechnische Gründe vorbringen, die in einem Spannungsaufbau liegen. Dadurch, daß in der literarischen Darstellung kein Ergebnis geschildert ist, kann man nicht auf Kriterien schließen, die in einer historischen Eingeweideschau ein Ergebnis – positiv oder negativ – anzeigen könnten. Wie über das Personal so sind auch Angaben über die rituellen Tätigkeiten sehr lückenhaft. Gleichsam in einem Schnelldurchgang sind punktuell und überwiegend sehr allgemein verschiedene Tätigkeiten aus den rituellen Vorgängen erwähnt. Auffällig sind dabei Formulierungen, die durch eine Verdinglichung die Unerreichbarkeit der Götter implizieren; das consulit exta ist in diesem Rahmen einer Literarisierung zu sehen. Eine etwa protokollartige Auflistung der in einem historischen Ritual notwendigen Schritte liegt hier nicht vor. Zudem können die zeitlichen Verhältnisse in der Ritualdarstellung als nicht linear, sondern als eben zirkulär beschrieben werden. Nicht eine einfache Reihenfolge der Tätigkeiten ist hier geschildert, sondern ein Wiederholt-Tätigsein über einen längeren Zeitraum. Der zirkuläre Verlauf umspannt eine Zeit der heimlichen Liebe, in die Dido durch das Eingreifen der Venus beim ersten Gastmahl fällt (1,697 ff.) und die letztlich mit der ‚Höhlenhochzeit‘ (4,165–172) beendet ist. In dieser Zeit finden abends Gastmähler statt, während derer Aeneas von den zurückliegenden Ereignissen berichtet, die in den Erzählbüchern 2 und 3 wiedergegeben sind. Die morgendlichen Schlachtungen mit den Eingeweideschauen sind von daher als Vorbereitungen für diese hospitia zu sehen. Das unklare Verhältnis zwischen Dido und Aeneas ist in deren Auseinandersetzungen über coniugium oder hospitium thematisiert. Erklärungen zu den Göttern, für die die Tiere geschlachtet werden, gründet die Forschung vornehmlich auf intertextuelle Basis mit dem Interesse an historischen Sachverhalten und ist darin nicht schlüssig. Kontrovers wird die Funktion der einzelnen Gottheiten als Stadt- oder als Hochzeitsgottheiten bestimmt. Als Gruppierung sieht man vornehmlich eine Triade, der besonders hervorgehoben Iuno als einzelne, vierte Gottheit angefügt ist. Dagegen konnte in der literarischen Analyse textimmanent eine Götterreihung aufgezeigt werden, die die Funktion der einzelnen Gottheiten und die Bezüge zwischen ihnen erklärt: Die Götter lassen sich zwei Gruppierungen zuordnen. Auf der einen Seite – und erzählerisch zuerst – stehen Götter einer alten Ordnung, die durch Tellus-Ceres und Phoebus-Apollon repräsentiert sind. Auf der anderen Seite – und zum Schluß dieser Götterreihung – stehen als Vertreter einer neuen Ordnung Pater Lyaeus und Iuno. Die alte Ordnung stellt die jeweilige Verpflichtung dar, die Dido bzw. Aeneas obliegt; die
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4 Dido (Vergil, Aeneis 4,1–129)
neue Ordnung besteht in der Unterstützung der neuen Liebesverbindung. Die Göttinnen Tellus-Ceres und Iuno erhalten im Treuekonflikt durch Eid, Eingeweideschau und Eidbruch in der Höhlenhochzeit eine erzählerisch tragende Rolle. Ebenso bildet Iuno zusammen mit Venus einen eigenen Erzählstrang, der im ersten Buch einsetzt und mit dem Gespräch der Göttinnen vor Jagd und Höhlenhochzeit endet. Die Göttin Iuno erscheint für die Darstellung der Geschehnisse in Karthago als konstitutives Element. Die Rolle von Anna kann in Übereinstimmung mit der Forschung als die einer Vertrauten gelten. Die Frage, ob Anna wegen ihres Rates zu einem poscere veniam als religiöse Expertin anzusehen ist, war durch einen typologischen Vergleich mit anderen Seherfiguren in der Aeneis zu negieren, denn Anna fehlen entsprechende Kennzeichen. Religiöse Kompetenz ist dagegen Dido wegen ihrer Position als Herrscherin zuzusprechen. Charakterisiert aber ist Dido aufgrund ihrer nichtverlautenden Gebete in der Ritualdarstellung als Widersacherin des Aeneas. In ihrem Fluch wird dies Verhältnis letztlich expliziert. Im Grunde steht Dido in einem Konflikt, der ihr persönliches Glück gegen das Wohl für den Staat setzt. Zu bewerten war das Ritual der Eingeweideschau nicht etwa als Sühneritus für ein zudem noch gar nicht begangenes Vergehen, dem Treuebruch, sondern als ein sondierender Akt, dem Prodigien bestehend in schlimmen Träumen als Konfliktanzeige vorausgehen. Als Sühneleistung war dagegen der Selbstmord Didos zu erkennen, der den Schlußpunkt einer Kausalkette von Eid und Eidbruch bildet. Den vergleichsweise dezenten Traum-Prodigien folgt als weitere potentielle Konfliktanzeige die Eingeweideschau, woraus jedoch keine Deutung unmittelbar gelingt; ein unguter Ausgang für Didos Vorhaben wird dem Rezipienten in dem sich anschließenden Hindinnengleichnis und in der düsteren Darstellung der Höhlenhochzeit angezeigt. Ein Katalog von todanzeigenden Prodigien, die Dido nicht mehr dezent in Träumen, sondern in extremer Deutlichkeit in ihrer äußeren Umgebung wahrnimmt, setzt die Linie von Vorzeichen fort. Die Eingeweideschau bildet einen Kreuzungspunkt bei den beiden Motivketten ‚Vorzeichen‘ und ‚Eid‘, sie verbindet die Themen ‚Hochzeit‘ und ‚Tod‘. Diese zwei wichtigen Themen der Dido-Episode sind mit der Eingeweideschau als einerseits einem divinatorischen und andererseits einem Tötungsritual markiert. Die Eingeweideschau kann insbesondere aufgrund der Liebes- und Opferbrandmetaphorik als Instrumentarium für eine hochliterarisierte Darstellung herausgestellt werden. Nach meiner Einschätzung ist hier anstelle eines Hochzeitsauspiziums, das nach CICERO und VALERIUS MAXIMUS schon in spätrepublikanischer Zeit wohl nicht mehr ausgeübt wurde, aus den literarischen Gründen, daß sich die Themen ‚Hochzeit und Tod‘ verbinden lassen, verfremdend eine Eingeweideschau dargestellt.
5 CIPUS (OVID, METAMORPHOSEN 15,565–621) EINFÜHRUNG Die Episode von Cipus, der als Feldherr siegreich zurückkehrt und die ihm vorausgesagte Königsherrschaft ablehnt, gilt seit längerem als Dokument einer Kritik OVIDs an Augustus.1 Leitendes Interesse dabei ist die Frage nach dem Grund der Verbannung OVIDs durch Augustus. Diese Frage wird mit ihrer Konzentration auf nur einen Teilaspekt dem Gehalt der gesamten Episode nicht gerecht.2 Weil das in dieser Arbeit bestehende Interesse vor allem dem von Cipus ausgeführten Ritus der Eingeweideschau gilt, braucht auf die Diskussion, inwiefern sich eine antiaugusteische Haltung OVIDs zeige, nicht explizit eingegangen zu werden, jedoch läßt sich dieser Aspekt nicht ausklammern. Festzustellen ist jedenfalls, daß die Episode mit dem Thema des siegreichen und friedenbringenden Imperators einen starken Bezug auf Augustus herstellt.3 Eigens zum Thema der Eingeweideschau in der Cipus-Episode ist, soweit ich sehe, nicht gearbeitet worden. Lediglich steht die Wendung exta consulere und das Beteiligtsein eines Haruspex mit der Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie in Verbindung.4 Wie die Ovidische Darstellung einer Eingeweideschau als historische Quelle zu bewerten ist, soll hier untersucht werden. Jedoch ist anzunehmen, daß die Historizität der Darstellung recht gering ist und sich entsprechend ein hoher Grad an literarischer Überformung nachweisen läßt. Mit dem dennoch positiv formulierten Ziel, die Historizität zu bestimmen, ist eine zeitliche Einordnung des Erzählten angestrebt, um anzugeben, über welche Zeit der Text zu berichten scheint. Eine Alternative zeitlicher Einordnung liegt darin, anzunehmen, OVID habe einen Ritus seiner Zeit beschrieben. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien für eine zeitliche Bestimmbarkeit zu suchen und Angaben, die diese nicht leisten, auszuschließen. Um den Informationsgehalt bei der Eingeweideschau zu verdeutlichen, soll dargestellt werden, welches Personal, genauer welche Gottheiten und welche das Ritual ausführenden Personen beschrieben sind. Für die Frage nach dem Ablauf des Rituals soll die zeitliche Darstellung untersucht werden. Auch hier muß wie 1 2
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Dazu s.u. S. 215. So VON ALBRECHT 1981, S. 2341: „die Vermutungen zum Augusteertum oder zur Augustusfeindlichkeit der ‚Metamorphosen‘ [entspringen] einer schiefen Perspektive. ... Der Weltherrscher hat darin [sc. im Ovidischen Entwurf einer Welt] seinen festen Platz, ganz unabhängig davon, wie der Poet persönlich zu dem Mann Augustus steht.“ SCHMITZER 1990, S. 278f.: „Sämtliche Ereignisse der römischen Geschichte werden von Ovid nicht im Hinblick auf ihre allgemeinhistorische Relevanz ausgewählt, sondern auf ihre Verwendbarkeit als Folie für die Herrschaft des Augustus“, und öfter (S. 285, 302f.). Vgl. Kap. 1.2, bes. zur 3. These.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
bei der Frage nach der Datierbarkeit des Rituals von einer starken literarischen Überformung ausgegangen werden, deren Ausmaß es zu beschreiben gilt, damit nicht eine bloße Behauptung stehen bleibt. Weiterhin ist zu schildern, in welchen Zusammenhang das extispicium gestellt ist, welcher Schauplatz, welcher Anlaß, welches Ergebnis, welche Situation beschrieben wird. Aus der Art der Darstellung sollte auf eine literarische Funktion der Eingeweideschau zu schließen sein. Auch welche literarischen Techniken zu erkennen sind, ist zur Verdeutlichung des hohen Grades an Literarizität zu beschreiben. Über die Funktion kann der Stellenwert, den die Eingeweideschau im Dargestellten hat, und welche Bedeutung ihr als ethische Richtlinie zugesprochen wird, beurteilt werden. Darüber hinaus ist nach Funktion und Bedeutung der ganzen Episode, in der das extispicium ein nicht unwichtiges Element darstellt, zu fragen, da diese auf den Schlußteil der Metamorphosen, eine Glorifizierung von Iulius Caesar und Augustus, hinleitet. Zur Beantwortung dieser Fragen wird man sich von den klassischen Mitteln der Textbeobachtung führen lassen müssen: Text, Übersetzung und eine Inhaltsangabe machen mit der Materie vertraut. Gliederung und Untersuchung des Kontextes, des narrativen und desjenigen der Überlieferung, also intra- und intertextuelle Bezüge, verdeutlichen die Probleme, die die Forschung vor allem mit der Funktion der Episode verbindet. Die Untersuchung zur narrativen Zeit und dem literarischen Personal wendet sich dann dem Ritus direkt zu. Für die historischen Bezugnahmen setzt die Abfassungszeit der Metamorphosen eine zeitliche Grenze: Geschrieben wurde das Werk wohl zwischen 2 und 4 n. Chr., wahrscheinlich ist auch eine Überarbeitung letzter Hand bis zum Jahr 8 n. Chr., dem Jahr der Verbannung OVIDs.5
5.1 TEXT UND ÜBERSETZUNG OV. met. 15,565–621 565
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aut sua fluminea vidit Cipus in unda cornua (vidit enim) falsamque in imagine credens esse fidem digitis ad frontem saepe relatis, quae vidit, tetigit, nec iam sua lumina damnans restitit, ut victor domito veniebat ab hoste, ad caelumque oculos et eodem bracchia tollens ‚quicquid‘ ait, ‚superi, monstro portenditur isto. seu laetum est, patriae laetum populoque Quirini, sive minax, mihi sit!‘ viridique e caespite factas placat odoratis herbosas ignibus aras vinaque dat pateris mactatarumque bidentum, quid sibi significent, trepidantia consulit exta. Datierung RIEKS 1980, S. 102; VON ALBRECHT 1994, S. 625, datiert zwischen 2 und 8 n. Chr. Text nach ANDERSON 1993, geändert in Vers 593 von priscoque deos e more; Übers. in Anlehnung an RÖSCH und FINK.
5.1 Text und Übersetzung 577
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quae simul adspexit tyrrhenae gentis haruspex, magna quidem rerum molimina vidit in illis, non manifesta tamen. cum vero sustulit acre a pecudis fibris ad Cipi cornua lumen, ‚rex‘ ait, ‚o salve! tibi enim, tibi, Cipe, tuisque hic locus et Latiae parebunt cornibus arces. tu modo rumpe moras portasque intrare patentes adpropera! sic fata iubent namque urbe receptus rex eris et sceptro tutus potiere perenni.‘ rettulit ille pedem torvamque a moenibus urbis avertens faciem ‚procul, a, procul omina‘ dixit ‚talia di pellant, multoque ego iustius aevum exsul agam, quam me videant Capitolia regem!‘ dixit et extemplo populumque gravemque senatum convocat; ante tamen pacali cornua lauro velat et aggeribus factis a milite forti insistit priscosque deos e more precatus ‚est‘ ait‚ ‚hic unus, quem vos nisi pellitis urbe, rex erit. is qui sit, signo, non nomine dicam: cornua fronte gerit; quem vobis indicat augur, si Romam intrarit, famularia iura daturum. ille quidem potuit portas inrumpere apertas, sed nos obstitimus, quamvis coniunctior illo nemo mihi est. vos urbe virum prohibete, Quirites, vel, si dignus erit, gravibus vincite catenis aut finite metum fatalis morte tyranni.‘ qualia succinctis, ubi trux insibilat curus, murmura pinetis fiunt, aut qualia fluctus aequorei faciunt, siquis procul audiat illos, tale sonat populus; sed per confusa frementis verba tamen vulgi vox eminet una ‚quis ille est?‘ et spectant frontes praedictaque cornua quaerunt. rursus ad hos Cipus ‚quem poscitis‘ inquit ‚habetis‘ et dempta capiti populo prohibente corona exhibuit gemino praesignia tempora cornu. demisere oculos omnes gemitumque dedere, atque illud meritis clarum (quis credere possit?) inviti videre caput nec honore carere ulterius passi festam inposuere coronam; at proceres, quoniam muros intrare vetaris, ruris honorati tantum tibi, Cipe, dedere, quantum depresso subiectis bubus aratro conplecti posses ad finem lucis ab ortu, cornuaque aeratis miram referentia formam postibus insculpunt longum mansura per aevum. Oder wie Cipus [staunte], als er in des Stromes Fluten sah seine Hörner – denn er sah sie, – und glaubend, es sei ein Trugbild, hebt er wieder und wieder die tastenden Finger zur Stirn und fühlt, was zuvor er gesehn. Seinen Augen nicht weiter mißtrauend,
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621) stand er fest, wie als Sieger, der eben zurück vom bezwungenen Feind kam, und zum Himmel die Augen und ebenso die Arme hebend, rief er: ‚Was auch immer, ihr Götter, durch dies Wunderzeichen angekündigt ist, sei es gut, so gelte das Gute dem Vaterland und dem Volk der Quiriten, sei es schlecht, so gelte es mir!‘ Die aus grünendem Rasen erbauten kräuterbewachsenen Altäre versöhnt er mit duftenden Feuern, und gibt Wein den Schalen und, was ihm geschlachteter Schafe zuckende Eingeweide anzeigen, fragt er. Als auf diese geblickt hat ein tyrrhenischer Haruspex, sieht er zwar ein gewaltiges Wandeln im Staate in ihnen, jedoch nicht sicher faßbar. Doch, als von den Fibern der Tiere jetzt die Schärfe der Augen er hebt zu den Hörnern des Cipus, ruft er: ‚König, o Heil! Dir nämlich, Dir, Cipus, und deinen Hörnern werden der Ort hier und Latiums Burgen gehorchen. Brich dein Zaudern und, die offenen Tore zu durchschreiten, eile! So befehlen die Schicksalssprüche, denn sobald dich empfangen die Stadt, wirst König du sein und sicher das Szepter zu ewigem Besitz gewinnen!‘ Zurück tritt jener und von den Mauern der Stadt abwendend sein verzerrtes Gesicht sagt er: ‚Fern, ah, fern mögen die Götter solche Zeichen halten, und viel gerechter will ich mein Leben als Verbannter verbringen, als daß mich das Kapitol als König sieht!‘ So sprach er und sofort ruft er das Volk und den ehrwürdigen Senat zusammen. Doch verhüllt er zuvor mit dem Friedenslorbeer die Hörner, tritt auf den Wall, den hierzu der kräftige Krieger geschichtet, betet dem Brauche gemäß zu den alten Göttern und redet: ‚Einer ist hier, der wird, wenn ihr ihn nicht vertreibt aus den Mauern, König sein. Wer es ist, nenne ich durch ein Zeichen und nicht durch den Namen: Hörner trägt seine Stirn. Er wird, so verkündet der Augur, Knechtesgesetze euch geben, sobald die Stadt er betreten. Jener hätte zwar bereits durch die Tore, die offenen dringen können, ich widerstand ihm jedoch, obgleich mir enger als er kein andrer verbunden. Doch ihr, Quiriten, haltet der Stadt ihn fern, oder schließt den Mann, verdient er’s, in lastende Ketten, oder endet die Furcht mit dem Tod des künftigen Tyrannen.‘ Wie sich im Walde ein Rauschen erhebt, wenn der trotzige Südwind sausend bricht in die Kronen der kahl aufragenden Föhren, wie von den Fluten der See, wenn einer von ferne sie hört, so klang es aus dem Volk. Doch wird aus der murmelnden Menge wirren Worten das eine vor allem vernehmlich: ‚Wer ist es?‘ Und sie schauen nach den Stirnen und suchen die Hörner. Zu ihnen wieder gewandt, sprach Cipus: ‚Hier habt ihr den, den ihr fordert!‘ und nahm vom Haupte, obgleich das Volk ihm wehrte, den Kranz und zeigte die Schläfen frei vom Paare der Hörner gezeichnet. Alle senkten den Blick und ließen ein Seufzen vernehmen. sahen das Haupt, das berühmt durch Verdienste – wer mochte es glauben? – sahen sein Haupt mit Schmerz. Daß es weiter der Ehre ermangle, dulden sie nicht und setzten ihm wieder den festlichen Kranz auf. Aber die Edlen haben dir, da der Weg in die Stadt dir verwehrt ist, so viel Landes, o Cipus, als Ehrengabe verliehen,
5.2 Der szenische Aufbau
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wie du, drückend den Pflug, mit dem Paar der Rinder im Joche könntest vom Aufgang des Lichts bis zum Ende des Tages umpflügen. Und Hörner, die die wundersame Erscheinung in Erinnerung rufen, lassen sie in die ehernen Torpfosten schneiden; lange Zeit sollten diese bleiben.
5.2 DER SZENISCHE AUFBAU Die Episode von 57 Versen läßt sich in vier größere Abschnitte gliedern, die Cipus in dialogischen Situationen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern zeigen:7 Nach der einleitenden Vorstellung seiner Person nimmt Cipus zuerst den Dialog mit den Göttern auf (565–576). Es folgt sein Gespräch mit dem Haruspex (577– 589) und das mit dem römischen Volk schließt sich an (590–615).8 Der Dialog des Erzählers mit Cipus schließt die Episode ab (616–621). Der erste Abschnitt von 12 Versen, Cipus im Dialog mit den Göttern, ist untergliedert in jeweils 6 Verse: Zunächst nimmt Cipus seine Hörner als Botschaft von den Göttern wahr (565–570) und antwortet darauf mit Gebet und Eingeweideschau (571–576). Der zweite Abschnitt, Cipus im Dialog mit dem Haruspex, umfaßt 13 Verse und ist dreifach untergliedert in 4, 5 und 4 Verse: Die ersten 4 Verse zeigen den Haruspex bei seinem Bemühen um Deutung (577–580). Die anschließenden 5 Verse enthalten seine Deutung (581–585), wobei hervorgehoben genau in der Mitte seine Weisung an Cipus steht (583–584a tu modo … / adpropera). In den nächsten 4 Versen ist die Erwiderung des Cipus formuliert (586–589). Der dritte und längste Abschnitt, Cipus im Dialog mit dem römischen Volk, umfaßt 26 Verse. Jeweils 13 Verse stellen das Verhalten von Cipus (590–602) und die Reaktion des römischen Volkes (603–615) dar. In beiden Unterabschnitten wird mit jeweils 4 Versen die Volksversammlung ein- bzw. ausgeleitet (590– 593; 612–615), wobei das Motiv des Bekränzens einen Bezug herstellt. In seiner insgesamt 9 Verse umfassenden Rede berichtet Cipus zuerst in 4 Versen von der Vorhersage einer Tyrannis, aber verschweigt sein Involviert-Sein. In den nächsten 5 Versen versichert er seinen Widerstand und fordert auch das Volk dazu auf. Wie die Weisung des Haruspex, Cipus solle die Stadt erobern, mittig in einem Block von 5 Versen steht, so ist auch die Aufforderung von Cipus an das Volk, es solle den Tyrannen von der Stadt fernhalten (600b vos urbe virum prohibete, Quirites) entsprechend mittig plaziert und dadurch hervorgehoben. Der zweite Unterabschnitt, demjenigen über die Reaktion des Volkes, ist – die 4 schon erwähnten ausleitenden Verse berücksichtigend – in den verbleibenden 9 Versen dreigeteilt: Die ersten 3 Verse enthalten einen Vergleich des aufkommenden Gemurmels mit 7
8
Daß die Redesituationen als Gestaltungsprinzip anzusehen sind, erkennt LUNDSTRÖM 1980, S. 73, offenbar nicht, indem er lediglich äußert, die Darstellung OVIDs sei gegenüber der von VALERIUS MAXIMUS durch eindrucksvolle Reden belebt; ihm folgen GRANOBS 1997, S. 135, und URBAN 2005, S. 122 Anm. 608. GRANOBS 1997, S. 133, gelangt bei seiner Gliederung ebenfalls zu Einheiten von 12–13–13– 13 Versen; den Schlußteil von 6 Versen spaltet er nochmals auf.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Waldes- und Meeresrauschen (603–605), in dem zweiten Block von 3 Versen ist die Suche nach dem Tyrannen geschildert (606–608), die letzten 3 Verse haben zum Inhalt, wie Cipus der Forderung des Volkes nach Aufklärung nachkommt, indem er sich durch das Abnehmen des Kranzes zu erkennen gibt. Die Schilderung der Betroffenheit des Volkes und das Wiederbekränzen (612–615) leiten, wie erwähnt, den Passus von der Volksversammlung aus. Der vierte und kürzeste Abschnitt von 6 Versen, Cipus in dialogischer Situation mit dem Erzähler, wird durch eine Apostrophe gebildet: Der Erzähler spricht seine Figur an und informiert den Rezipienten dabei über das Resultat der Verhandlungen, nämlich das Exil des angekündigten Tyrannen und die beiden Formen seiner Ehrung, Landschenkung und Erinnerungsmal. 565–576 565–570 571–576
Cipus im Dialog mit den Göttern 12 V Vorstellung der Hauptperson und des Problems, spontane Reak- 6 V 6V tion von Cipus Dialog mit den Göttern: Gebet, Eingeweideschau
577–589 577–580 581–585 586–590
Cipus im Dialog mit dem Haruspex Deutungsunsicherheit: irgendwelche Veränderungen im Staat Vorhersage beim Anblick der Hörner des Cipus und Weisung Des Cipus Weigerung zugunsten des Staates
13 V 4V 5V 4V
590–615 590–602 590–593
26 V 13 V 4V
603–615 603–605 606–608 609–611 612–615
Cipus im Dialog mit dem römischen Volk Cipus stellt dem Volk das Problem dar Einleitend: Cipus beruft den Rat ein und bekränzt sich, sein Gehörn verdeckend, in Vorbereitung für seine Rede Er berichtet über die Ankündigung einer Tyrannis, ohne seine Beteiligung zu nennen Er versichert seinen Widerstand und fordert auch den des Volkes ein Reaktion des Volkes Vergleich des Gemurmels mit Waldes- und Meeresrauschen Suche nach dem Tyrannen Erkennen von Cipus nach dem Abnehmen seines Kranzes Ausleitend: Betroffenheit des Volkes und Wiederbekränzung
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Cipus in dialogischer Situation mit dem Erzähler
594–597 598–602
4V 5V 13 V 3V 3V 3V 4V 6V
5.3 SKIZZIERUNG DES INHALTS 565– 576 565– 570
Cipus im Dialog mit den Göttern Der aus dem Krieg siegreich nach Rom heimziehende Cipus bemerkt an seinem Spiegelbild im Fluß, daß ihm Hörner gewachsen sind. Cipus erkennt die Hörner als ein Wunderzeichen der Götter (monstrum), dessen
5.3 Skizzierung des Inhalts
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571– 576
Qualität – ob gut oder schlecht – er aber nicht zu bestimmen weiß (571 quicquid ... monstro portenditur isto). Spontan setzt er in einer Anrufung der himmlischen Götter (superi) die zwei Alternativen fest, es solle ein gutes Vorzeichen (laetum) etwas Gutes für den Staat (patria populusque Quirini), ein schlechtes Vorzeichen (minax) jedoch seiner Person gelten. Die Bedeutung versucht er durch das Mittel der Eingeweideschau zu erfragen: Auf Rasenaltären entfacht er wohlriechende Feuer aus Kräutern, gießt Wein in die Schalen und schlachtet jährige Schafe9, deren Eingeweide er beschaut (575f. mactatarumque bidentum, / quid sibi significent, trepidantia consulit exta).
577– 589
Cipus im Dialog mit dem Haruspex Unvermittelt ist ein Haruspex anwesend, wie er die Eingeweide betrachtet (577 quae [sc. exta] ... adspexit ... haruspex). Dieser vermag zunächst nichts genaueres als große Veränderungen für den Staat zu erkennen (579 non manifesta tamen). Doch plötzlich ist ihm eine sehr präzise Deutung möglich, als er Cipus anschaut und dessen Hörner wahrnimmt (580). Seine Handlungsanweisung lautet, Cipus möge in die Stadt eilen, denn er werde mit der Rückkehr in die Stadt König werden (583f. tu modo rumpe moras portasque intrare patentes / adpropera). Es stellt sich ein Dilemma heraus, das sich aus den Vorgaben, die Cipus zuvor formuliert hat, und der Antwort des Haruspex ergibt, mit der Folge, daß Cipus bei seinem Wohlwollen gegenüber dem Staat nicht vermag, die Handlungsanweisung aus der Deutung des Sehers anzunehmen. Er widersetzt sich und findet eine eigene Handlungsmaxime: Statt Herrscher zu werden, scheint es ihm gerechter, wie er dem Haruspex erwidert, der Stadt fernzubleiben und ein Leben als Verbannter zu führen (588f. aevum ... / exsul agam, quam me videant Capitolia regem).
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Cipus im Dialog mit dem römischen Volk Darauf wendet sich Cipus an das römische Volk und den Senat, die er über die Weissagung einer Königsherrschaft informiert, aber zunächst nur so weit, daß er sich nicht als den angekündigten Herrscher zu erkennen gibt, indem er sein Gehörn unter einem den Frieden symbolisierenden Lorbeerkranz verbirgt (590–602). Er selbst bezieht in seiner Ansprache Stellung gegen eine Königsherrschaft und fordert auch vom Volk Widerstand ein. Er schlägt den Bürgern drei Möglichkeiten eines Entscheides vor: Sie mögen entweder dem Mann den Zugang zur Stadt verbieten (600 vos urbe virum prohibete) oder ihn gefangen halten (601 gravibus vincite catenis) oder den vom Schicksal bestimmten Tyrannen rechtzeitig töten (602 finite metum fatalis morte tyranni). Auf die Reaktion des Volkes, das nun unter sich nach der von Cipus beschriebenen Person sucht, nimmt Cipus den Lorbeerkranz ab, so daß die
Zu bidens s.o. Kap. Dido 4.6.4, S. 137–140.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Hörner zu sehen sind, die ihn als den unerwünschten Machthaber kennzeichnen. Mit Betroffenheit erkennt das Volk die Situation des hochgeachteten Mannes und läßt ihm weiterhin Ehrenbezeugung zuteil werden, indem ihm der Siegerkranz wieder aufgesetzt wird. Diese Handlung des Volkes symbolisiert seine versöhnliche Haltung, die einen glimpflichen Ausgang des Entscheides erwarten läßt (603–615). 616– 621
Cipus in dialogischer Situation mit dem Erzähler Welche Lösung gefunden wurde, teilt der Erzähler mit, indem er Cipus in einer scheinbar dialogischen Situation anspricht (616–621): Diesem sei zwar künftig der Weg in die Stadt verwehrt gewesen, aber er habe als Ehrenbezeugung soviel Land erhalten (517 rus honoratum), wie er an einem Tag mit dem Pflug habe umrunden können. Außerdem sei ein Abbild des Gehörns an die ehernen Pfosten eines Stadttores angebracht worden und sollte noch lange zu sehen sein.
5.4 FUNKTIONSWANDEL IM KONTEXT DER ÜBERLIEFERUNGEN Zu fragen ist nach der Funktion und, warum in dieser Passage vom Ritus erzählt wird. Vor einer Analyse der Cipus-Episode an sich soll eine Klärung zunächst über zweierlei Untersuchungen zum Kontext erfolgen: Zum einen durch die Untersuchung des narrativen Kontextes mit der Frage, wie paßt sich die Cipus-Episode in das Arrangement von kleineren Episoden, in die sie in den Metamorphosen plaziert ist, ein? Welcher Aussagegehalt läßt sich über die Einordnung der Passage bestimmen? Der andere Weg, der zuerst beschritten werden soll, führt über einen intertextuellen Vergleich und zeigt, wie die Ovidische Darstellung durch Auswahl von Informationen und Vorlagen ihren eigenartigen Charakter erhält.
5.4.1 Aspekte zur Priorität der von VAL. MAX. referierten Version (5,6,3) Die größte Ähnlichkeit mit der Darstellung OVIDs bietet eine Passage bei VALERI10 US MAXIMUS (Facta et Dicta Memorabilia 5,6,3). Obwohl diese später über11 liefert ist, kann man in ihr wohl die ursprüngliche Version sehen,12 denn sie ist erzählerisch stimmig, während die Version OVIDs logische Brüche aufweist und
10 Einen Vergleich der beiden Passagen bietet GUILLAUMIN 2008. 11 VAL. MAX. aus den Jahren zwischen 28 und 32. n. Chr. (VON ALBRECHT 1994, S. 852); OV. met. um 4 n. Chr. beendet (s.o. Anm. 5). 12 So beispielsweise WISSOWA 1904, S. 135f.; GALINSKY 1967, S. 184; VERSNEL 1970, S. 395f.; LUNDSTRÖM 1980, S. 68, 112 Anm. 94; BÖMER 1986, S. 403; GRANOBS 1997, S. 131– 133; MARKS 2004 S. 114 Anm. 25. Zweifel äußert SCHMITZER 1990, S. 263 Anm. 67; URBAN 2005, S. 120, geht stillschweigend von einer Priorität der Ovidischen Fassung aus.
5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen
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stärker gestaltet erscheint.13 Die Frage nach der Priorität zu klären ist wichtig, um die Schilderung der Eingeweideschau, die allein OVID bietet, als historische Quelle einschätzen zu können. Viel allgemeiner als OVID ist bei VALERIUS MAXIMUS nämlich von einem prodigium (Vorzeichen) und einem responsum (Bescheid) gesprochen; eine spezielle Technik des Verfahrens ist nicht genannt. Es ist nun zu fragen, ob bei VALERIUS MAXIMUS die Informationen, die sich bei OVID finden, verallgemeinert sind14 oder ob OVID die Darstellung an dieser Stelle konkretisiert hat. Doch für diese quellenkritische Untersuchung soll die bei VALERIUS MAXIMUS referierte Version zunächst vorgestellt werden: VAL. MAX. 5,6,3
15
(Der Praetor Cipus)
(1) Genucio Cipo praetori paludato portam egredient noui atque inauditi generis prodigium incidit. Namque in capite eius subito ueluti cornua erepserunt, (2) responsumque est regem cum fore, si in urbem reuertisset. (3) Quod ne accideret, uoluntarium ac perpetuum sibimet indixit exilium. (4) Dignam pietatem, quae, quod ad solidam gloriam attinet, septem regibus praeferatur. (5) Cuius testandae gratia capitis effigies aerea[e] portae, qua excesserat, inclusa est † (6) dictaque Raudusculana, olim aera raudera dicebantur. (1) Dem Praetor Genucius Cipus ward, als er im Feldherrngewande [sc. ein Heer ins Feld führend] das Tor durchschritt, ein außerordentliches und unerhörtes Wunderzeichen zu Teil. Plötzlich erschienen an seinem Haupte Erhöhungen, wie Hörner, (2) und der Bescheid lautete, es würde Derselbe König werden, wenn er in die Stadt zurück käme. (3) Um dieses unmöglich zu machen, ging er freiwillig in eine ewige Verbannung. (4) Dies war eine Vaterlandsliebe, welche mehr wert ist, als sieben Kronen, wenn es sich um eine eigentliche Ehre handelt. (5) Zum bleibenden Gedächtnis dieser Tat ward das Haupt des Genucius in Erz an jenem Tore angebracht, durch welches er ausgezogen war. (6) Und dasselbe erhielt von diesem Umstande den Namen Raudusculana, weil ehedem das Erz Raudus hieß.
Als Intention bei VALERIUS MAXIMUS ist das Beispielgeben für moralisch-gutes Verhalten zu erkennen (Abs. 4). Die Wahrhaftigkeit dieses exemplum wird bekräftigt durch eine aitiologische Erklärung16 (Abs. 5 und 6) nach dem Schema: Weil man in Rom das Stadttor, die Porta Raudusculana, sehen kann, und zudem die etymologische Erklärung plausibel ist, kann auch das Beispiel Wahrheitsgehalt beanspruchen.
13 WISSOWA 1904, S. 135, bewertet diesen Unterschied negativ: Er spricht von rhetorischer Ausschmückung und Verschlechterungen sowie Abweichungen gegenüber der Darstellung des VALERIUS MAXIMUS. 14 Vgl. HANO 1993, S. 147f., der in seiner Überblicksdarstellung die Tatsache, daß VALERIUS MAXIMUS nur von einem responsum und nicht von haruspices spricht, damit erklärt, daß das Interesse für VALERIUS MAXIMUS in den exempla und nicht in der Darstellung religiöser Riten gelegen habe. Implizit präferiert er mit diesem Urteil die Version OVIDs als Vorlage für VALERIUS MAXIMUS. 15 Textausgabe KEMPF 1854. Übers. in Anlehnung an HOFFMANN 1829. – Einteilungen (1–6) von der Verf. 16 Zur Definition von Aitiologie vgl. BINDER 1988, S. 263f.; CANCIK-LINDEMAIER 1988, bes. S. 393; GRAF 1993; GRAF 1996b; ausführlich zur Forschungsgeschichte LOEHR 1996, S. 3–38; RÜPKE / BENDLIN 2002.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Zur Porta Raudusculana – Aition und Exemplum Die Angaben bei VALERIUS MAXIMUS zum Stadttor sind durch weitere Quellen nachvollziehbar und verdeutlichen die Intention des Autors, mittels eines Aitions ein exemplum zu liefern: So hat man die Lage der Porta Raudusculana als eines der südlichen Tore in der Servianischen Mauer am Aventinus Mons bestimmen können.17 Zur Etymologie bietet zuerst VARRO in seinem Werk De Lingua Latina, das zwischen 47 und 45 v. Chr. entstanden ist, eine Erklärung (5,163).18 Dessen Erklärung, daß raudus gleichbedeutend mit aeratus sei, schließt sich VALERIUS MAXIMUS an (Abs. 6). Jedoch bleibt bei unterschiedlichen Lesarten seines Textes unklar, ob das Abbild (effigies aerea ...) oder die Tore (... aereae portae) als ehern zu gelten haben (Abs. 5).19 Auch FESTUS, dessen Zeugnis man seiner Provenienz wegen wenig später als das des VALERIUS MAXIMUS ansetzen kann,20 referiert die Wortbedeutung von raudus als ehern und bezieht den Ausdruck – wie VARRO und OVID – auf eine Verkleidung des Tores.21 Bei den Nachweisen22 und etymologischen Erklärungen gibt es geringfügige Unterschiede in der Nennung des genauen Namens23 – der Name ‚Porta Raudusculana‘ wird in der Forschung favorisiert.24
17 Aufgrund von Hinweisen von VARRO zur Etymologie als eines der südlichen Tore in der Servianischen Mauer (SÄFLUND 1932, S. 199; COARELLI 1989, S. 6f.: dort Nr. 3 (südlich des Aventinus Mons) und aufgrund einer hadrianischen Inschrift (CIL 6,975 (= ILS 6073) S. b, Sp. 1, Z 52: VICO PORTAE RUDUSCULANAE) aus dem Jahre 136 n. Chr. Der älteste Mauerring der Servianischen Mauer ist wohl im 6. Jh. v. Chr. entstanden. Die jüngeren, heute erhaltenen Reste stammen aus dem 4. Jh. v. Chr. 18 Die Porta heiße Rauduscula, weil sie mit Erz verkleidet gewesen sei (aerata) und aeratus, das mit aes (Geld) zusammenhängt, und raudus (roh, ungemünzt) das gleiche bedeuten. Den Wortgebrauch belegt VARRO mit einem alten Sprichwort, das eine Geste bei einem Kaufabschluß beschreibe: mit einem Stückchen Erz (raudusculum) solle an die Waagschale geschlagen werden. VARRO ling. 5,163 (ed. KENT 1938): Sequitur Porta Naevia ... Deinde Rauduscula, quod aerata fuit. Aes raudus dictum; ex eo veteribus in mancipiis scriptum: Raudusculo libram ferito. 19 WISSOWA 1884, Sp. 909, und 1904, S. 135, geht von einer ehernen Maske aus (effigies aerea). LUNDSTRÖM 1980, S. 69, verwirft die Konjektur von KEMPF 1854 und zieht den Wortlaut aereae portae vor. 20 Das Werk ist benannt nach FESTUS SEXTUS POMPEIUS, der im 2. Jh. n. Chr. mit seinem Glossar eine verkürzte Fassung eines Glossars erstellte, dessen Verfasser VERRIUS FLACCUS, ein Grammatiker der frühen Kaiserzeit, war. Von dem Glossar des FESTUS fertigte PAULUS DIACONUS, der im 8. Jh. n. Chr. lebte, Exzerpte an. Somit könnte trotz einer späteren Überlieferung ein Kenntnisstand vermittelt sein, der als etwa gleichzeitig mit dem bei VALERIUS MAXIMUS gelten kann. 21 FESTUS bietet als erstes eine andere Erklärung, bei der er den Namen Rodusculana porta auf rudis (roh) zurückführt und dieses Adjektiv auf einen rohen und ungeglätteten Zustand des Tores bezieht: FEST. 339 L (= M 275): Rodusculana porta appellata, quod rudis et inpolita sit relicta, vel quia raudo, id est aere, fuerit vincta. 22 Vgl. BÖMER 1986, ad 15,620f. Vermutlich ist das Tor in dem beschriebenen Zustand zur Zeit der Bezeugungen nicht zu sehen gewesen; ebenso LUNDSTRÖM 1980, S. 69f. 23 Dazu KEMPF 1854, S. 437 ad 3, und GAGÉ 1972, S. 122f. 24 RICHARDSON 1992, S. 308; SÄFLUND 1932, S. 175f., 199.
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Auf diese Unterschiede einzugehen ist hier jedoch nicht notwendig. Auch Zweifeln an der Richtigkeit der Erklärung nachzugehen25 ist hier nicht relevant. Wichtig ist die zweigliedrige Form, in der über die Porta Raudusculana berichtet wird: Es gibt ein römisches Stadttor und dessen Name wird erklärt. Die Darstellung bei VALERIUS MAXIMUS (Abs. 5 und 6) unterscheidet sich von diesen etymologischen Erläuterungen darin, daß zu der Erwähnung des Stadttors und der Erklärung des Namens ein drittes Element tritt: das Abbild des Cipus. Über dieses Abbild, das sich nach der Darstellung am Tor befinden soll (Abs. 5), gelingt die Verknüpfung der etymologischen Aitiologie mit der zuvor geschilderten Begebenheit. Diese Verknüpfung spricht für eine redaktionelle Tätigkeit, durch die in der bei VALERIUS MAXIMUS überlieferten Vorlage die zwei Komponenten – Cipus und die Etymologie zum Stadttor – verbunden werden, die OVID übernehmen kann. Außer VALERIUS MAXIMUS berichtet nur noch OVID von einem Abbild des Cipus, das behornt gewesen sei.26 Diese Übereinstimmung läßt auf eine besonders enge Abhängigkeit der beiden Texte schließen. Ausschlaggebend für die Frage nach der Priorität bei den beiden Versionen ist, daß OVID zwar die aitiologische Erklärung im Ansatz noch verfolgt, indem er ein Stadttor mit Erinnerungscharakter erwähnt, aber gerade den Namen des Stadttores und die Etymologie nicht bietet.27 Dieser Befund spricht sehr stark dafür, daß der Text des VALERIUS MAXIMUS mit seiner vollständigen etymologischen Erklärung die ursprüngliche Version wiedergibt.28 Für die weitere vergleichende Untersuchung kann nun davon ausgegangen werden, daß gegenüber der Version des VALERIUS MAXIMUS in der Ovidischen Darstellung stärkere Umformungen vorliegen. War bei VALERIUS MAXIMUS die Intention zu erkennen, ein exemplum zu geben und die Wahrhaftigkeit des Erzählten durch eine aitiologische Erklärung zu bekräftigen, kann diese Funktion für die Fassung OVIDs nicht mehr voll gelten; sie
25 Zweifel bestehen insofern, daß die Erklärung für gelehrte Spekulation gehalten wird, daß nämlich dem Tor erst wegen seines Namens eine eherne Beschaffenheit zugesprochen wurde (so JORDAN in HAUPT / EHWALD [18761] 1966, ad OV. met. 15,621). 26 Einzig die Formulierung bei OVID läßt zu, an eine behornte Darstellung zu denken (15,620 cornua ... miram referentia formam ... insculpunt), VAL. MAX. spricht dagegen nur von einem Bild des Kopfes (capitis effigies, Abs. 5). – Welcher Art die Hörner gewesen sein mögen, ob etwa Ziegen-, Widder- oder Rinderhörner – gar von einem Geweih spricht SCHMITZER 1990, S. 263, – ist bei beiden Autoren nicht formuliert, aber wird in der Forschung viel diskutiert; auch die rationalistische Erklärung, daß die ‚Erscheinung‘ mit einem besonderen Helm mit Hörnern, cornicula, in Verbindung zu bringen sei, wird vorgetragen (vgl. LIV. 10,44,5 centuriones militesque quia primi portam murumque Aquiloniae ceperant; equites omnes ob insignem multis locis operam corniculis armillisque argenteis donat; HAUPT / EHWALD [18761] 1966, ad 15,565 ff.) Weitere Hinweise zur Diskussion über die Hörner und die damit verbundenen Vorstellungen vgl. BÖMER 1986, S. 403f., 416; SCHMITZER 1990, S. 270–272. – Zu den Hörnern s.u. S. 189 und S. 216. 27 Daß VAL. MAX. mit der Namensangabe zum Stadttor genauer ist, beschreibt beispielsweise MARTIN 2009, S. 270f. 28 Die Zweifel SCHMITZERs (s.o. Anm. 12) zeigen sich hiermit als unbegründet.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
ist durch das Herauskürzen des Erklärungsmoments vermindert.29 Dennoch läßt sich für die positive moralische Bewertung des Verhaltens, die VALERIUS MAXIMUS kurz kommentierend abgibt (Abs. 4), und die knappe Information über das freiwillige Exil (Abs. 3), eine Entsprechung in der Gestaltung OVIDs darin aufzeigen, daß dieser die Vorgänge und Reaktionen in der Versammlung breit angelegt schildert30 (‚Cipus im Dialog mit dem römischen Volk‘, 590–615).31 Die ausgeweitete Darstellung zum Aspekt ‚vorbildliches republikanisches Verhalten‘, die fast die Hälfte der gesamten Episode einnimmt,32 gibt diesem Abschnitt ein besonders großes Gewicht.
5.4.2 Prodigium und Eingeweideschau eine Kompilation aus VAL. MAX. 5,6,3 und 5,6,4 sowie Livianischen Passagen In den Anfangspassagen, die über das Vorzeichen und die Befragung handeln, zeigen sich weitere Veränderungen: Den Abschnitten (1) und (2) bei VALERIUS MAXIMUS können in der Version OVIDs die Abschnitte unter den Gliederungspunkten ‚Cipus im Dialog mit den Göttern‘ und ‚Cipus im Dialog mit dem Haruspex‘ zugeordnet werden. Trotz einer vordergründigen Ähnlichkeit weicht OVID in der Situationsbeschreibung für das Prodigium entscheidend von seiner Vorlage ab: Denn während bei VALERIUS MAXIMUS die Umstände so beschrieben sind, daß der Feldherr aus der Stadt rückt (paludatus – im Feldherrenmantel),33 und darauf knapp über das Wunderzeichen informiert wird, verfährt OVID umgekehrt. Er stellt zunächst Cipus vor, wie dieser das Zeichen, seine Hörner, in einem Fluß gespiegelt sieht.34 Der Akt des Wahrnehmens ist erzählerisch ausgestaltet (565– 568). Erst dann geht OVID auf die Situation des Feldherrn als victor (Sieger) ein und stellt sie damit in einen anderen Rahmen: Cipus kehrt siegreich zurück vom Feind (569)35 und seine Rückkehr nach Rom steht somit bevor. Da Cipus eben
29 Zur veränderten aitiologischen Form der Episode s.u. S. 202f. 30 Dagegen meint SCHMITZER 1990, S. 264, VALERIUS MAXIMUS habe diesen Passus von der Versammlung weggelassen. Sein Urteil, VALERIUS MAXIMUS habe den OVID-Text zur Vorlage gehabt und umgestaltet, erscheint wenig plausibel, zumal jede Begründung fehlt. 31 S.o. S. 179 ff. 32 Der Anteil bei OVID beträgt 26 Verse gegenüber verbleibenden 31 Versen bei insgesamt 57 Versen (à ca. 7 Wörter = ca. 400 Wörter); dagegen beträgt der Anteil bei VAL. MAX. (Abs. 3 und 4) 20 Wörter von insgesamt 66 Wörtern. Somit beträgt der Anteil bei OVID etwas weniger als die Hälfte (45,54 %), bei VALERIUS MAXIMUS kaum ein Drittel (30,3 %). 33 Zum Aufbruch in den Krieg vgl. RÜPKE 1990, S. 125 ff. 34 Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, daß das Motiv der Wasserspiegelung sich noch öfter in den Metamorphosen findet, z.B. Io (1,639f. novaque et conspexit in unda / cornua – und sie sieht in den Wellen die neuen Hörner); Actaeon (3,200 ut vero vultus ut cornua vidit in unda – und sieht wahrhaftig Gesicht und Hörner in den Wellen); Opferrind (15,134f. [victima] cultros / inficit in liquida praevisos forsitan unda – die Messer benetzt es, die in klaren Wassern vielleicht vorhergesehen). 35 Vgl. zu Horatius Cocles bei DION. HAL. 5,23–25; Par. LIV. 2,10,12 (s.u. S. 193).
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nicht in die Stadt zurückkehrt, wie etliche Formulierungen zu verstehen geben,36 läßt sich hierin wiederum die Bearbeitung nachweisen. Wenig schlüssig ist nämlich in der Version OVIDs, daß ein Abbild an ein Stadttor angebracht wird, wenn doch der Geehrte dieses gar nicht hat durchschreiten dürfen.37 Es zeichnet sich hier wiederum als Vorlage deutlich die Version bei VALERIUS MAXIMUS ab, dessen Schilderung stimmig darin ist, daß sich das Abbild an dem Tor befindet, durch das der Geehrte die Stadt verließ. Daß bei diesem Mißverhältnis OVID die Angaben zum Stadttor am Ende seiner Darstellung so stark zurücknimmt (s.o. S. 185), hat auch einen harmonisierenden Effekt. Weiterhin reduziert OVID seine Vorlage um Teile des Namens seiner Figur. VALERIUS MAXIMUS gibt zusätzlich zum Namen Cipus noch den Gentilnamen Genucius und die Amtsbezeichnung Praetor an.38 Dadurch, daß OVID hierin wie in der Bezeichnung des Stadttores weniger konkret ist, vermindert er die historische Identifizierbarkeit; aber die Episode gewinnt an Assoziationsmöglichkeiten, die Darstellung ist offener. Die Eingeweideschau muß man nach den bisherigen Erkenntnissen ebenso für eine Einfügung OVIDs in seine Vorlage halten. Dieser Vorgang läßt sich an Unstimmigkeiten in seiner Darstellung nachweisen: Der Ritus ist bei OVID zweiteilig präsentiert. Im ersten Teil ist die Anfrage formuliert, im zweiten wird eine Antwort gegeben. Während bei VALERIUS MAXIMUS keine Anfrage formuliert ist und lediglich der Inhalt eines Bescheides, das responsum,39 mitgeteilt wird (Abs. 2), läßt OVID in seinem zweiten Teil einen Haruspex auftreten, allerdings völlig unvermittelt. Dieser Bruch im Erzählten kennzeichnet deutlich, daß hier eine Einfügung vorliegt.40 Anleihe für die Figur des Haruspex und dazu für seine Ankündigung nimmt OVID wiederum bei VALERIUS MAXIMUS, und zwar in dem sich direkt an die Pas36 Ein Außerhalb-der-Stadt voraussetzend OV. met. 583f. portas intrare patentes adpropera; 584f. urbe receptus rex eris; 586f. a moenibus urbis avertens / faciem; 589 exsul agam, quam me videant Capitolia regem; 592 aggeribus factis ... insistit; 594 vos nisi pellitis urbe; 597 si intrarit; 599 nos obstitimus; 600 urbe virum prohibete; 616 muros intrare vetaris – ebenfalls ein Außerhalb und kein Innerhalb: 598 potuit portas inrumpere apertas – er hätte die offenen Tore durchdringen können (ein Irrealis der Vergangenheit bei einem Verb des Könnens steht nur mit dem Indikativ – Übersetzung RÖSCH korrigiert durch Übersetzung FINK). – vgl. SANTINI 1987, S. 293, zur Bedeutung der Mauer. 37 Dazu BÖMER 1986, S. 405; GRANOBS 1997, S. 136 Anm. 192; MARTIN 2009, S. 272. 38 BÖMER 1986, S. 403; dazu vgl. LUNDSTRÖM 1980, S. 71f. – Weil OVID den Gentilnamen Genucius, den VALERIUS MAXIMUS bietet, eben nicht nennt, sollen Versuche, den Sitz der Gens Genucia am Aventin, also in der Nähe des Tores, festzumachen, hier nicht verfolgt werden. – URBAN 2005, S. 121 Anm. 602, erklärt etwas banal die Auslassung damit, daß das Interesse OVIDS psychischen Ausnahmesituationen, nicht jedoch Namen und politischen Ämtern gegolten habe. – Daß VAL. MAX. mit der Namensangabe wiederum genauer ist, beschreibt beispielsweise MARTIN 2009, S. 271f. 39 Daß der Ausdruck responsum für Gutachten gebraucht wird, die bei Prodigien von bestimmten sakralen Gremien erbeten werden, ist weiter oben bereits beschrieben worden (Kap. 2.3. zu CLAUD. DON. Aen. 4,64). 40 GRANOBS 1997, S. 135, spricht von einer Einschaltung einer Szene. Die Hinzufügung eines Haruspex beschreibt beispielsweise MARTIN 2009, S. 272.
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sage über Cipus anschließenden exemplum von dem Praetor Aelius (VAL. MAX. 5,6,4).41 Ganz ähnlich wie Cipus zieht dieser den eigenen Nachteil zugunsten der Republik vor: Das Zeichen, das dem Praetor in Ausübung seines Amtes, der Rechtsprechung, widerfährt – ein Specht setzt sich ihm auf den Kopf (Abs. 1) – wird von Haruspices gedeutet, indem sie die Alternativen formulieren, es bedeute Gutes (felicissimum) für seine Familie, wenn der Vogel am Leben bliebe, zugleich aber bedeute es Schlechtes (miserrimum) für den Staat. Wenn dagegen der Specht stürbe, gelte das Gegenteil (Abs. 2). Aelius handelt sofort im Beisein des Senats und bringt den Specht um (Abs. 3). In der Situationsbeschreibung, daß der Praetor öffentlich handelt, liegt eine der Parallelen zum Ovidischen Cipus, der zuletzt vor Volk und Senat spricht (15,590).42 Aber vor allem die komplizierte logische Form der Ankündigung (Abs. 2) entspricht beinahe derjenigen, die OVID für seinen Cipus konstruiert. Während dem Praetor Aelius die Ankündigung absolute Handlungsfreiheit zugesteht (in contrarium utrumque cessurum), erreicht OVIDs Cipus Handlungsfreiheit durch eigene Initiative, indem er sich der klaren Anweisung des Haruspex, in die Stadt zu eilen, verweigert. Auch liegt in der Passage zu Aelius die uneindeutige grammatische Form einer passivischen Partizipialkonstruktion vor, die erst konditional aufzulösen ist (conservato eo … occiso) und zudem das handelnde Subjekt offen läßt. Während nämlich in der Cipus-Version bei VALERIUS MAXIMUS ein si-Satz die konditionale Form eindeutig kennzeichnet (si ... revertisset), bietet die Fassung OVIDs lediglich eine Partizipialkonstruktion (urbe receptus). Hier jedoch ist als logisches Subjekt mit der vollen Wendung urbe receptus rex eris ganz klar Cipus als Handelnder bestimmt. Die weiteren Alternativangaben, die in der Ankündigung für Aelius mit statum felicissimum und miserrimum vorgegeben sind, variiert OVID in Cipus’ Ausruf an die Götter mit seu laetum … seu minax (15,572f.). Daß OVID neben dem Passus VAL. MAX. 5,6,3 auch VAL. MAX. 5,6,4 als Vorlage verwendet, um das Prodigium, das Cipus widerfährt, zu gestalten, kann nach den aufgezeigten Parallelen und Umformungen als sicher gelten.43 Eine weitere Unstimmigkeit in der Darstellung OVIDs, die eine Einfügung anzeigt, liegt in einer logischen Diskrepanz zwischen dem Anlaß für die Eingewei-
41 Vgl. MARTIN 2009, S. 273f. – VAL. MAX. 5,6,4 (Der Praetor Aelius): (1) Genucius laudis huius, qua maior uix cogitari potest, successionem tradit Aelio praetori. cui ius dicenti cum in capite picus consedisset, (2) aruspicesque adfirmassent conseruato eo fore ipsius domus statum felicissimum, rei publicae miserrimum, occiso in contrarium utrumque cessurum, (3) e uestigio picum + morsu suo in conspectu senatus necauit. – … (2) und die Haruspices versicherten, daß, wenn dieser [der Specht] wohlbehalten bliebe, der Status seines eigenen Hauses höchst glücklich sein werde, der der Republik maßlos elend, [doch] wenn dieser gestorben sei, werde für beide das Gegenteil eintreten, (3) … (Zählung (1–3) von der Verf.). 42 URBAN 2005, S. 133 Anm. 663, beschreibt den Befehl des Fatums, die Rede an Volk und Senat und die siegreiche Rückkehr als Erfindungen OVIDs. 43 Die direkte Abhängigkeit der Ovidischen Cipus-Episode von den beiden Episoden bei VAL. MAX. erkennt dagegen ENGELS 2007, S. 717f., nicht und sieht die Episoden von Cipus und Aelius als patriotische Sagen durch „gleichsam wie ein Wandermotiv“ verbunden (S. 718).
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deschau und dem Ergebnis. Denn das Ergebnis ist gar nicht durch die Eingeweideschau, sondern durch den Anblick der Hörner möglich geworden. Der Haruspex findet seine Antwort aufgrund eben desjenigen Vorzeichens, das doch den Anlaß für die Befragung gebildet hat.44 Hierzu läßt sich über die Verknüpfung der Motive Vorhersage, Hörner als Zeichen der Macht über Rom45 sowie eine Schlachtung eine Episode bei LIVIUS (1,8,45), die Legende vom Sabinerrind, als Vorlage aufzeigen46: Die Darstellung bei LIVIUS transportiert eine aitiologische Erklärung, nämlich warum im aventinischen Dianatempel, für dessen Errichtung sich der König eingesetzt hatte, ein Bukranion angebracht gewesen war.47 Die Formulierung fixa per multas aetates cornua in vestibulo templi Dianae monumentum ei fuere miraculo (LIV. 1,8,45,4) korrespondiert mit dem Ovidischen cornuaque aeratis miram referentia formam / postibus insculpunt longum mansura per aevum (620f.): Es wird an ein Wunderzeichen erinnert (miraculum bzw. mira forma) und der Erinnerungsgegenstand, die Hörner, sei lange Zeit zu sehen gewesen (per multas aetates bzw. longum mansura aevum).
44 Vgl. GRANOBS 1997, S. 135 Anm. 190. 45 Für die Hörner als Zeichen der Macht wird in der Forschung überwiegend ein Bezug zu behörnten Gottheiten und ihrer politischen Interpretation hergestellt, so z.B. mit AmmonAlexander, s.o. Anm. 26 und s.u. S. 216. 46 Einen Bezug vermuten LUNDSTRÖM 1980, S. 72 Anm. 84; PORTE 1985, S. 194. 47 LIV. 1,8,45 ... (4) Bos in Sabinis nata cuidam patri familiae dicitur miranda magnitudine ac specie; fixa per multas aetates cornua in vestibulo templi Dianae monumentum ei fuere miraculo. (5) Habita, ut erat, res prodigii loco est, et cecinere vates cuius civitatis eam civis Dianae immolasset, ibi fore imperium; (6) idque carmen pervenerat ad antistitem fani Dianae Sabinusque ut prima apta dies sacrificio visa est, bovem Romam actam deducit ad fanum Dianae et ante aram statuit. Ibi antistes Romanus, cum eum magnitudo victimae celebrata fama movisset, memor responsi Sabinum ita adloquitur: ‚Quidnam tu, hospes, paras?‘ inquit, ‚inceste sacrificium Dianae facere? Quin tu ante vivo perfunderis flumine? infima valle praefluit Tiberis.‘ (7) Religione tactus hospes, qui omnia, ut prodigio responderet eventus, cuperet rite facta, extemplo descendit ad Tiberim; interea Romanus immolat Dianae bovem. Id mire gratum regi atque civitati fuit. – (4) Im Sabinischen nämlich wurde einem Hausvater ein [sc. weibliches, Verf.] Rind von wunderlicher Größe und Schönheit geboren, sagt man; sein Gehörn, viele Generationen lang im Vorhof des Dianatempels angebracht, gab Zeugnis von jenem Wundergeschöpf. (5) Die Sache wurde mit Recht als sehr bedeutsam angesehen, und die Seher raunten, dem Staat, aus dem ein Bürger diese Kuh der Diana opfere, winke die Herrschaft. (6) Dieser Spruch nun war bis zum Vorsteher des Dianatempels gedrungen. Der Sabiner nun trieb am ersten Tag, der für ein Opfer geeignet erschien, besagtes Rind nach Rom, führte es zum Dianaheiligtum und brachte es vor den Altar. Dort spricht der römische Vorsteher, da ihn die vom Gerücht gerühmte Mächtigkeit des Opfertiers aufmerksam gemacht hatte, des Spruches eingedenk, den Sabiner so an: ‚Was denn, Gastfreund? Was hast du vor? Unrein der Diana ein Opfer darbringen? Warum reinigst du dich nicht vorher im rinnenden Wasser? Da unten im Tal fließt der Tiber!‘ (7) Der von religiöser Scheu berührte Fremde, der alles richtig zu machen wünschte, damit das Ergebnis der Prophezeiung entspräche, steigt sogleich zum Tiber hinab; währenddessen opfert der Römer der Diana das Rind. Das ist dem König [sc. Servius Tullius] und der Bürgerschaft hochwillkommen gewesen. (Übers. FEGER 1981).
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
LIVIUS stellt in dieser Episode dar, wie der König Servius Tullius mit dem gemeinsamen Bau des Heiligtums, nach dem kleinasiatischen Vorbild der Diana Ephesia, eine Stärkung des Bündnisgedankens zwischen Römern und Latinern verfolgt (1,8,45,1–3). Mehrfach ist von Latinern und der Vormachtstellung Roms die Rede (inter proceres Latinorum; populi Latini cum populo Romano; ex omnium cura Latinorum), womit der Ovidische Ausdruck hic locus et Latiae parebunt ... arces (582) korrespondiert. Der Ausdruck Latiae arces, der sich in die Ovidische Darstellung nicht gut einpaßt,48 zeigt die literarische Abhängigkeit von LIVIUS an. Auch der Ausdruck proceres, der sich bei LIVIUS auf die Latiner bezieht, ist wohl im proceres (616) bei OVID wiederaufgenommen. Als Zeichen der Macht galt nach der Darstellung des LIVIUS das Bukranion im aventinischen Dianatempel aufgrund einer Vorhersage (cecinere vates), daß demjenigen Staat, aus dem ein Bürger ein ganz besonders schönes Rind (bos), das einem Sabiner gehörte, der Diana darbringe, die Herrschaft winke (fore imperium).49 Als ein Sabiner den Ritus ausführen und dadurch die Herrschaft für die Sabiner erreichen wollte, wurde dieser vom Vorsteher des Tempels, der ein Römer war, überlistet: Der Römer schlachtete das Rind und sicherte so die Vormachtstellung des römischen Volkes. Über diese Entwicklung seien der König und das Volk überaus dankbar gewesen. Weitere Parallelen zur Ovidischen Darstellung zeigen sich im Prodigiencharakter des wundersamen Objektes50 und der quasi ‚offenen‘ Machtvergabe im Prodigium.51 In beiden Fällen dient eine rituelle Schlachtung der Aufklärung. Der Machtträger ist jeweils durch Hörner gekennzeichnet, jedoch besteht ein unterschiedliches Kausalverhältnis: Das Rind, das aufgrund seiner außerordentlichen Kraft einen Entscheid über die Macht bringen soll, trägt natürlicherweise Hörner, dagegen ist von den ungewöhnlichen Hörnern des Cipus ein Rückschluß auf sein Machtpotential nötig.52 Als Nutznießer des Prodigiums erscheinen der König und das römische Volk bzw. Cipus als potentieller König oder das römische Volk. Die Dankbarkeit des Volkes und seiner Repräsentanten wird besonders betont; jedoch gilt die dankbare Haltung in dem einen Fall, bei LIVIUS, eher dem Ereignisverlauf, in dem anderen aber der Person Cipus für den geleisteten Verzicht. In beiden Dar48 Latiae arces setzt die Forschung zumeist mit dem Capitol und dem Tarpeiischen Felsen des doch zuvor schon genannten Rom (hic locus) gleich; vgl. BÖMER 1986, S. 408; anders LUNDSTRÖM 1980, S. 74, dann aber mit Anm. 91 leider einlenkend. 49 LIV. 1,8,45 (5) cuius civitatis eam civis Dianae immolasset, ibi fore imperium (Übers. s.o. Anm. 47). 50 LIV. 1,8,45 (5) res prodigii loco est; (7) prodigio responderet eventus; Ov. met. 15,571 quicquid monstro portenditur isto; 587 omina. 51 LIV. 1,8,45 (5) cuius civitatis eam civis Dianae immolasset, ibi fore imperium; Ov. met. 15,572f. seu laetum, patriae laetum populoque Quirini, / sive minax, mihi sit; 584f. namque urbe receptus / rex eris et sceptro tutus potiere perenni; 588f. multo ego iustius aevum / exsul agam, quam me videant Capitolia regem; 594f. est ... hic unus, quem vos nisi pellitis urbe, / rex erit; 596 si Romam intrarit, famularia iura daturum. 52 LIV. 1,8,45 (4) bos ... nata ... miranda magnitudine ac specie; (6) magnitudo victimae; Ov. met. 15,565–569 Cipus ... cornua ... victor; 580–582 ad Cipi cornua ... rex; ... tibi, Cipe, tuisque ... parebunt cornibus arces; 595f. signo ... cornua fronte gerit.
5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen
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stellungen ist das gute Verhältnis des Königs bzw. des potentiellen Königs zum Volk hervorgehoben.53 Wie der Passus zu Aelius bei VALERIUS MAXIMUS (5,6,4) den ‚Senat‘ als literarisches Motiv der Öffentlichkeit bot, kommt mit dieser Stelle das Element ‚Volk‘ für die Version OVIDs hinzu. Der merkwürdige Umstand der Vorhersage – aufgrund der Hörner und nicht durch die Eingeweideschau – ist wohl durch die Einarbeitung dieser Sequenz des LIVIUS zu erklären. Die Anklänge in der Erinnerungsformel und in den Äußerungen zu den Latiae arces und den proceres unterstützen diese Vermutung. Stärker vertreten sind die Elemente Prodigium und rituelle Schlachtung mit den Motiven Triumph, Diktator, Exil und Ehrung wiederum in einer Episode bei LIVIUS über Marcus Furius Camillus, dem legendären Eroberer von Veji.54 Auch Camillus handelt wie Cipus aufgrund eines Schicksalsspruches, ein Schicksal, das sich – ähnlich wie bei dem Rind des Sabiners55 – zudem durch ein Manipulieren bei einer Darbringung erfüllt: Im Vorfeld der Eroberung wird von einem Prodigium und der Deutung berichtet, wie Veji zu besiegen sei.56 Die Prophezeiung, was das Ansteigen des Albaner Sees, das als Prodigium begriffen wurde, bedeute, liefert ein Haruspex, den die Römer aus Mangel an Sehern bei den Feindlichkeiten mit den Etruskern von diesen entführt hatten: Bevor nicht das Wasser aus dem See abgeleitet sei, könnten die Römer Veji nicht besiegen.57 Nachdem die Stadt Rom notwendige Sühneleistungen erbracht hatte und Camillus zum Diktator ernannt worden war,58 ging dieser als der von den Schicksalssprüchen bedeutete Anführer (fatalis dux) daran, Veji zu erobern.59 Das Wasser des Sees war, wie angewiesen, abgeleitet, als Camillus einen Tunnel für einen heimlichen Überfall in die feindliche Stadt graben ließ. Durch diesen Tunnel konnten die Römer zufällig dabei lauschen, wie dem König von Veji bei einer rituellen Schlachtung angekündigt wurde, es werde demjenigen der Sieg gehören, der die Eingeweide des dargebrachten Tieres zerkleinere.60 Daraufhin hätten sie kurz entschlossen die Eingeweide entwendet und sie Camillus gebracht. LIVIUS selbst äußert sich über die Glaubwürdigkeit der Sache skeptisch und kennzeichnet diesen Passus als Einschub.61 Camillus, so geht die Darstellung weiter, errang den Sieg über Veji. Über die reiche Beute höchst erfreut, habe Camillus, die Götter anrufend, geäußert, die reiche Beute möge Rom gehören, aber der Neid, der darüber aufkommen könnte,
53 LIV. 1,8,45 (7) id mire gratum regi atque civitati fuit; Ov. met. 15,612–621 [sc. omnes] nec honore carere ... / proceres ... dedere ... insculpunt. 54 Hinweis auf Camillus bei GAGÉ 1972; SCHMITZER 1990, S. 268f.; MARTIN 2009, S. 274. – Zu Camillus vgl. MÜNZER 1910. 55 S.o. S. 189. 56 Zum Ritus der evocatio vgl. FERRI 2010a und 2010b. 57 LIV. 5,15,1–12 ... priusquam ... numquam; Par. DION. HAL. 12,10,1–12,1; CIC. div. 1,100; 2,69. 58 LIV. 5,19,1–3; DION. HAL. 12,12,3. 59 LIV. 5,21,1–22,2; DION. HAL. 12,13,4–14,2. 60 LIV. 5,21,8–9 … qui eius hostiae exta prosecuisset, ei victoriam dari … – … demjenigen, der die Eingeweide dieses Opfertieres zerkleinert habe, sei der Sieg gegeben … . 61 LIV. 5,21,8 Inseritur huic loco fabula – An dieser Stelle wird eine Geschichte eingeflochten.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
solle ihn selbst treffen.62 Froh über das Ende des zehnjährigen Krieges strömten ihm bei seiner Ankunft in Rom alle Stände entgegen.63 Der Triumph sei in einer nie dagewesenen Pracht gefeiert worden, die jedoch wegen der Anmaßung von göttlichen Symbolen – weißen Pferden – auch Mißbilligung hervorgerufen habe.64 In einer späteren Phase kam es zu einem Prozeß gegen Camillus, und da ihm seine Leute, die er zusammengerufen hatte, nur beschränkt Unterstützung zusicherten, ging er in die Verbannung.65 Als Rom erneut seiner Hilfe bedurfte, und Camillus, wieder zum Diktator ernannt, die Feinde besiegt hatte, wurde er beim Triumph mit Ehrentiteln wie ‚Romulus‘, ‚Vater des Vaterlandes‘ (parens patriae) und ‚Zweiter Gründer Roms‘ (conditor alter urbis) bedacht. Wie auch bei der Vorhersage zum Rind des Sabiners ist der Ausgang nach der Ankündigung relativ offen, indem es darauf ankommt, wer bestimmte Handlungen ausführt oder nicht ausführt. Im Gebet von Camillus mit den Alternativen Beute für Rom und Neid für ihn selbst könnte ein logisches Vorbild für OVIDs Cipus beim Gebet liegen. Das Entgegenziehen der Bevölkerung, der Auftritt als Triumphator und die Ehrung bei dem späteren Triumph bilden weitere Parallelen zur Darstellung OVIDs. Einen wörtlichen Anklang an das Ovidische fatalis tyrannus (15,602) kann man im fatalis dux bei LIVIUS (5,19,2) erkennen.66 Explizit die Verbindung Haruspex, Eingeweideschau, Militär und Triumph findet sich bei LIVIUS an drei Stellen,67 bei denen OVID für seine Darstellung ebenfalls Anleihe genommen haben könnte.
62 LIV. 5,21,8 … dicitur manus ad caelum tollens precatus esse ut si cui deorum hominumque nimia sua fortuna populique Romani uideretur, ut eam inuidiam lenire quam minimo suo priuato incommodo publicoque populi Romani liceret. 63 LIV. 5,23,4 adventus quoque dictatoris omnibus ordinibus obviam effusis – auch die Ankunft des Diktators, dem alle Stände entgegen strömten, ... – zum Adventus s.u. Anm. 194. 64 LIV. 5,23,6 Iovis Solisque equis aequiperatum dictatorem in religionem etiam trahebant – Daß der Diktator sich mit seinen Pferden Iuppiter und Sol gleichstellte, fand man bedenklich. (Übers. HILLEN). 65 LIV. 5,32,8–9. 66 Vgl. SCHMITZER 1990, S. 268f.; BÖMER 1986, S. 400 ad 15,554 (zu Tages), bezieht fatalis auf etruskische Ritualbücher, die libri fatales. 67 Vgl. RÜPKE 1990, S. 130 Anm. 40: LIV. 31,53,7 … cum renuntiassent consules rem diuinam rite peractam esse et precationi adnuisse deos haruspices respondere laetaque exta fuisse et prolationem finium uictoriamque et triumphum portendi …; 36,1,1–5 … ea omnia sacrificia laeta fuerunt, primisque hostiis perlitatum est, et ita haruspices responderunt, eo bello terminos populi Romani propagari, uictoriam ac triumphum ostendi …; 42,30,8 Consules … maioribus hostiis immolassent, inde preces suas acceptas ab diis immortalibus ominati, senatui rite sacrificatum precationemque de bello factam renuntiarunt. haruspices ita responderunt: si quid rei nouae inciperetur, id maturandum esse; uictoriam, triumphum, propagationem imperii portendi.
5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen
193
5.4.3 Landschenkung, Pflügen, Triumph und freiwilliges Exil: Einflüsse von Livius und Dionysios von Halikarnassos Als weitere Hinzufügung OVIDs gegenüber VALERIUS MAXIMUS läßt sich die Landschenkung mit dem Ritus des Abgrenzens beschreiben (616–619). VALERIUS MAXIMUS nennt lediglich das Abbild am Tor als Ehrung für die freiwillige Verbannung – ganz auf der Linie zur Erklärung des Tornamens. Die Verknüpfung der Elemente Abbild, Landschenkung und Umpflügen könnte OVID aus einem Bericht des LIVIUS übernommen haben,68 wo es allerdings um einen anderen Empfänger, Horatius Cocles,69 geht: Dieser erhielt nach seinem Kampf70 außer einer Statue auf dem Comitium auch so viel Ackerland, wie er an einem Tag hatte umpflügen können.71 In noch größerem Maße aber ist eine Ähnlichkeit zur Cipus-Episode OVIDs in der Parallelüberlieferung bei dem ebenfalls augusteischen72 Historiographen DIONYSIOS HALIKARNASSOS festzustellen: Dessen Version bietet neben der siegreichen Rückkehr vom Feind und den Ehrengaben zusätzlich die Parallelen im Bekränzen des Retters und einem Verwehrtsein von angesehenen Ämtern.73 Die ganze Geschichte stellt durch die Situation, daß die junge Republik gegen das überwundene etruskische Königtum zu verteidigen
68 Vgl. LUNDSTRÖM 1980, S. 76; GRANOBS 1997, S. 141 Anm. 214 und S. 133 Anm. 180. 69 Zur Überlieferung der Sage von Horatius Cocles, bei der die Landschenkung und das Ehrenmal als Anhang erscheinen, vgl. MÜNZER 1913: MÜNZER stellt das Ehrenmal, das dem Horatius Cocles gilt, als den eigentlichen Anlaß für die aitiologische Darstellung seiner Taten heraus. 70 Zum Aspekt, daß Cipus bei OVID siegreich nach Rom zurückkehrt, während er bei VALERIUS MAXIMUS erst in den Kampf zieht, s.o. S. 186. 71 LIV. 2,10,12 grata erga tantam virtutem civitas fuit; statua in comitio posita; agri quantum uno die circumaravit, datum. – Dankbar war wegen der so großen Tapferkeit die Bürgerschaft; eine Statue wurde auf dem Comitium aufgestellt und so viel an Ackerland, wie er [sc. Horatius Cocles] an einem einzigen Tag umpflügte, gegeben. (Par. DION. HAL. 5,23–25; POLYB. 6,1–4). – In dieser Version des LIVIUS verteidigte Horatius Cocles im Kampf gegen die Etrusker, mit denen sich der vertriebene frühere König Roms, Tarquinius Superbus, verbündet hatte, eine Brücke über den Tiber nach Rom allein. Als diese, um den Feinden den Weg abzuschneiden, zum Einsturz gebracht worden war, konnte sich Horatius Cocles schwimmend ans Ufer zu den Seinen retten. Jedoch nach der Version des POLYBIOS (6,1–4) hat Horatius Cocles den Kampf nicht überlebt und ist beim Einsturz der Brücke umgekommen. 72 LIVIUS begann sein Werk wohl 27 v. Chr. (lt. VON ALBRECHT 1994, S. 661) und DIONYSIOS VON HALIKARNASSOS war von 30 bis 8 v. Chr. tätig (lt. NESSELRATH 1997, S. 269). 73 In der Version DION. HAL. 5,23–25, die gegenüber der Version des LIVIUS als ausgeschmückt beurteilt wird (vgl. GUNDEL 1967; MÜNZER 1913) wird der schwer verwundete Horatius Cocles bei seinem Rettungstransport, dem ‚Einzug‘ in die Stadt von der Bevölkerung bekränzt und besungen (hymnoutes hos ton heroon hena). Nach seiner Genesung erhält er eine Ehrenstatue auf dem Forum und so viel Land geschenkt, wie er an einem einzigen Tag umpflügen kann. Jedoch hindern ihn die Folgen seiner Verletzungen, in der Zukunft ein öffentliches oder militärisches Amt zu übernehmen.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
ist, das Verhalten von Cipus mit der Abwehr des Königtums in eben diesen Rahmen.74 Von einer Landschenkung – allerdings ohne Umpflügen, auch das Abbild als Ehrengabe fehlt – wird für Mucius Scaevola wiederum parallel bei LIVIUS und DIONYSIOS HALIKARNASSOS berichtet.75 Die Episode steht in demselben historiographischen Zusammenhang wie diejenige von Horatius Cocles.76 Zu seiner Ehrung kommt Mucius jedoch nicht durch einen Kampf, sondern durch einen Friedensschluß. Die Ähnlichkeit liegt hier im wesentlichen im Aspekt einer Landschenkung für die Verdienste. Daß dieses Land, das später ‚Mucische Wiesen‘ genannt worden sei,77 sich jenseits des Tibers befunden haben soll, also außerhalb der Stadt Rom, ließe sich dazu als dezenter motivischer Anknüpfungspunkt an das freiwillige Exil von Cipus deuten. OVIDs Gewinn bei der gegenüber VALERIUS MAXIMUS zusätzlichen Ehrenbezeugung der Landschenkung ist, daß die Landschenkung mit dem Umpflügen die Skizze eines Stadtgründungsritus transportiert (618f.). Insbesondere wenn man Informationen von VARRO zu Grenzsteinen, den cippi, die beispielsweise Aricia und Rom umgeben, heranzieht,78 assoziiert diese Skizze – zugleich mit der kultisch wichtigen latinischen Nachbarstadt Aricia – die sakrale Grenze Roms, das pomerium,79 als bedeutendes Element römischen Kultes. Mit wenigen Worten wird hier die kulturelle und politische Umgebung Roms imaginiert und durch das Einflechten der Legenden von Horatius Cocles und Mucius Scaevola eine scheinbare Historisierung des Erzählten erreicht, die in die Zeit der frühen Republik führt. Wesentlich mehr noch als die Mucius-Episode bieten Anknüpfungspunkte für das freiwillige Exil zwei Passagen aus Leben und Umfeld von Quinctius Cincin74 Auch PLINIUS, dessen Darstellung die jüngste von den hier diskutierten ist, weiß von Landschenkungen mit Abgrenzen als Ehrenbezeugung (vgl. BÖMER 1986, S. 416): PLIN. nat. 18,9 dona amplissima imperatorum ac fortium civium quantum quis uno die plurimum circumaravisset – Reiche Geschenke für Feldherren und tapfere Bürger, wieviel einer an einem einzigen Tag hat umpflügen können. – Es ist jedoch zu vermuten, daß er auf die genannten Darstellungen über Horatius Cocles und Cipus rekurriert; insbesondere weist auf eine Abhängigkeit von OVIDS Metamorphosen eine andere Stelle hin, in der PLINIUS die beiden Behornten, Actaeon und Cipus nennt, von denen OVID berichtet (zu Actaeon Ov. met. 3,131–252), (PLIN. nat. 11,123 quae iure cornua intellegantur, quadripedum tantum generi; Actaeonem enim et Cipus in Latia historia fabulosos reor). 75 (Vgl. BÖMER 1986, S. 416); LIV. 2,13,5 Patres C. Mucio virtutis causa t rans Ti be ri m ag rum dono de de re , quae postea sunt Mucia prata appellata. – Die Senatoren haben dem C. Mucius wegen seiner Tapferkeit ein Feld jenseits des Tibers zum Geschenk gegeben, das später ‚Mucische Wiesen‘ genannt wurde.‘ (Par. DION. HAL. 5,27–35 ‚Mucius Cordes‘). 76 Es ist eine Dreiergruppe von exempla gebildet: Horatius Cocles – virgo Cloelia, die eine Ehrenstatue erhält – Mucius Scaevola. 77 Ähnlichkeit mit der Version von VALERIUS MAXIMUS zeigt sich auch in der aitiologischen Form des Erzählten: Taten – Ehrung – etymologische Erläuterung. 78 Es weist auf diese Parallele hin LUNDSTRÖM 1980, S. 76: VARRO ling. 5,143 Cippi pomeri stant circum Ariciam et circum Romam, ... Oppida condebant in Latio Etrusco ritu multi, id est iunctis bobus ... aratro circumagebant sulcum ..., ut fossa et muro essent muniti. – Zu Cipus als Grenzstein s.u. zum Triumph, bes. Anm. 176. 79 Vgl. RADKE 1972, Sp. 1015–1017. – Weiteres zum beschriebenen Ritus BÖMER 1986, S. 416.
5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen
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natus, die ebenfalls in der annalistischen Exempla-Literatur tradiert werden. Die Darstellung über Cincinnatus selbst verbindet die Elemente Diktator, siegreiche Heimkehr, Triumph, Versammlung, Machtverzicht, Landschenkung – die er allerdings nicht angenommen hat – und Rückkehr an den Pflug, ein quasi freiwilliges Exil.80 Die Darstellung der Begebenheiten um dessen Sohn, Quin(c)tius Caeso, bietet mit den Themen der bedrohten Freiheit, den – konkurrierenden – Versammlungen von Volk und Senat, den drei Möglichkeiten seiner Bestrafung, seinem freiwilligen Exil und dem Rückzug seines Vaters aufs Land weitere Parallelen.81 Als literarisches Vorbild für einen siegreichen Feldherrn, der die ihm zugestandene Befehlsgewalt wieder abgibt, kann die Darstellung über den genannten legendären Diktator Quinctius Cincinnatus82 gelten. Die weiteren motivischen Parallelen lassen sich knapp skizzieren: Das Pflügen ist in der Legende ein wichtiges Element, denn beim Pflügen auf seinem Land jenseits des Tibers, also außerhalb Roms, soll Cincinnatus unterbrochen und zur Rettung des Gemeinwesens zum Diktator ernannt worden sein. Seine Ankunft in Rom gestaltete sich besonders, indem nicht nur Verwandte und Freunde des Cincinnatus, sondern auch der größte Teil des Senates und eine Menge Volk ihn empfing (LIV. 3,26,11–12). Den Kampf gegen die Aequer beendete der Diktator siegreich mit großer Beute, so daß man ihm einen goldenen Kranz zusprach und ihn patronus titulierte. Ungewöhnlich rasch gewährte man Cincinnatus einen Triumph, denn er konnte gerade aus dem Felde kommend direkt mit seinem Heer und seiner Beute in die Stadt einziehen. Noch vor Ende seiner vorgesehenen halbjährigen Amtszeit legte Cincinnatus, da alle Gefahr überstanden war, bereits nach 16 Tagen sein Amt als Diktator nieder. Die Überlieferung bei DIONYSIOS HALIKARNASSOS (10,25,3) läßt zudem Cincinnatus sein Amt in einer Versammlung, die er einberufen hatte, niederlegen. Der Senat habe ihm Land, Sklaven und Geld schenken wollen, doch habe Cincinnatus abgelehnt. Auch seine Freunde haben ihm Geschenke geben wollen, die Cincinnatus ebenfalls zurückwies. Statt dessen sei er zu seiner Landarbeit zurückgekehrt und habe dieses bescheidene Leben dem reichen eines Königs vorgezogen. Die wichtigsten Elemente, die aus der Legende über Cincinnatus in die Ovidische Cipus-Episode eingeflossen sind, sind der außergewöhnliche Triumph und die große Beliebtheit beim römischen Volk, die sich schon bei seiner Amtsübernahme abzeichnet. Cincinnatus erscheint als das positive Vorbild für Cipus. Vor allem wegen des Motivs der drei verschiedenen Strafformen, die Cipus zur Auswahl vorträgt, lassen sich die Begebenheiten um Quin(c)tius Caeso, dem Sohn des Cincinnatus, anführen.83 Caeso bietet mit seinem festen Charakter, aber gewalttätigem Verhalten und Machtgehabe gegenüber der Plebs ein eher negatives Beispiel eines Senatsmitgliedes.84 Die bedrohte Freiheit der Bevölkerung und die 80 LIV. 3,26–29; Par. DION. HAL. 10,23–25. 81 LIV. 3,11–13; Par. DION. HAL. 10,5–8. 82 Einen knappen Hinweis auf Cincinnatus gibt PORTE 1985, S. 194. – Zu Cincinnatus vgl. GUNDEL 1963. 83 LIV. 3,11–13; Par. DION. HAL. 10,5–8 84 Vgl. LIV. 3,11 (7) Hic cum in medio patrum agmine constitisset, eminens inter alios, velut omnes dictaturas consulatusque gerens in voce ac viribus suis, unus impetus tribunicios po-
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Streitigkeiten in den Versammlungen von Volk und Senat auf Comitium und Forum, in denen es um einen Gesetzesantrag zur Beschränkung der konsularischen Amtsgewalt geht, bilden das eine Vergleichsmoment. Das andere liegt in dem weiteren Schicksal von Caeso: Er wird vor Gericht gezogen. Der Anklage führende Tribun Verginius hält im Vorfeld des Prozesses mehrfach Ansprachen vor dem Volk, in denen er das Machtgehabe von Caeso anprangert und davor warnt, wie sich dieser in einem höheren Amt, etwa als Konsul oder Diktator, verhalten könnte.85 Wie die Rede des Cipus führt diese Rede dem römischen Volk eine Gewaltherrschaft vor Augen, die es abzuwenden gilt. Wie Cipus erhält auch Verginius viel Zustimmung beim Volk. Die Stimmung ist aufgeheizt, das Volk verlangt, Caeso ins Gefängnis zu werfen.86 Aber Caeso entgeht dieser Maßnahme, weil ihm bereits eine Verurteilung wegen einer Schlägerei mit Todesfolge – einem Kapitalverbrechen – bevorsteht,87 es müssen jedoch Bürgen gestellt werden. In dieser Situation entzieht sich Caeso einer Verurteilung, indem er nach Etrurien ins Exil geht.88 In der Folge gibt es noch Gerüchte, Caeso würde sich für eine Verschwörung heimlich in der Stadt aufhalten (3,15,3). Die Darstellung um Caeso vermittelt eine Atmosphäre von bedrohter Freiheit der römischen Bürger durch einen Mann, der ein politischen Amt innehat. Insbesondere die Rede des Verginius gegen Caeso, dann die drei Formen der Strafen – Todesstrafe, in Ketten legen und freiwilliges Exil – sowie die Unsicherheit, ob sich der Feind nicht doch in Rom aufhalte, spiegeln sich in dem Negativbild eines Potentaten und in den Gegenmaßnahmen wider, die Cipus bei OVID den Römern vor Augen führt. Die beiden Cincinnati, Vater und Sohn, bilden Folien für die positive bzw. negative Seite eines Imperators in der Cipus-Darstellung OVIDs.
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pularesque procellas sustinebat. (8) Hoc duce saepe pulsi foro tribuni, fusa ac fugata plebes est; qui obvius fuerat, mulcatus nudatusque abibat, ut satis appareret, si sic agi liceret, victam legem esse. – (7) Wenn er inmitten der Senatorenschar fest dastand, die anderen überragte, widerstand er als einziger, gleichsam in Stimme und Stärke alle Diktaturen und Konsulate in sich bergend, den Attacken der Tribunen und dem Rasen des Volkes. (8) Unter seiner Führung wurden die Tribunen oftmals vom Forum vertrieben, wurde das einfache Volk verjagt und in die Flucht geschlagen; wer sich ihm in den Weg gestellt hatte, kam übel zugerichtet gerade mit dem nackten Leben davon; klar genug ergab sich daraus, daß der Gesetzesantrag [sc. zur Beschränkung der consularischen Amtsgewalt (LIV. 3,9,5)] gefallen sei, wenn einer sich so verhalten dürfe. (Übers. FLADERER). Vgl. LIV. 3,11 (12) Et A. Verginius identidem plebi: ‚Ecquid sentitis iam, vos, Quirites, Caesonem simul civem et legem quam cupitis habere non posse? (13) Quamquam quid ego legem loquor? Libertati obstat; omnes Tarquinios superbia exsuperat. Exspectate dum consul aut dictator fiat, quem privatum viribus et audacia regnantem videtis.‘ – (12) Und A. Verginius sprach mehrere Male zum Bürgervolk: ‚Merkt ihr nun wohl, Römer, daß ihr einen Caeso zum Mitbürger und das Gesetz, nach dem ihr verlangt, nicht gleichzeitig haben könnt? (13) Und überhaupt, was spreche ich noch von einem Gesetz? Der Freiheit steht er im Weg, überragt alle Tarquinier an Hochmut. Wartet nur ab, bis er Konsul oder Diktator wird, den ihr jetzt als Privatmann mit Macht und Dreistigkeit wie einen König herrschen seht!‘ (Übers. FLADERER). LIV. 3,13 (4) in vincula duci; (5) in vinculis esse; (6) in vincula conici. LIV. 3,13 (4/5) indemnatus; (5/5) supplicium summere. LIV. 3,13,8–9.
5.4 Funktionswandel im Kontext der Überlieferungen
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Zusammenfassend ergibt sich aus der Untersuchung zu den intertextuellen Bezügen, daß OVID aus verschiedenen Texten kompiliert und seine Cipus-Darstellung gegenüber der Version bei VALERIUS MAXIMUS in ihrer Funktion umgestaltet. Seiner Vorlage, die bei VAL. MAX. 5,6,3 überliefert ist, paßt er ein weiteres exemplum ein, das sich dort direkt anschließt. Die Stelle VAL. MAX. 5,6,4 – über den Praetor Aelius – liefert zwei wesentliche Komponenten, nämlich die Beteiligung von Haruspices nach einem Prodigium und die in ihren Alternativangaben auffällige Form der Vorhersage, die der betreffenden Person eine gewisse Handlungsfreiheit zugesteht. Mit einer Änderung der Marschrichtung bei OVID kommt das Motiv des Triumphes und der Bedrohung Roms durch das vor der Stadt liegende Heer hinzu. Gleichzeitig verliert das Stadttor, weil es eben nicht durchschritten wird, an Bedeutung, so daß der aitiologische Aspekt zur Porta Raudusculana, der bei VALERIUS MAXIMUS als bekräftigendes Moment für die Wahrhaftigkeit seines exemplum vom Praetor Genucius Cipus im Vordergrund steht, durch das Weglassen des Namens bzw. von Namensteilen herausgekürzt wird. OVID ,ent-aitiologisiert‘ hierin seine Vorlage und verändert damit die Funktion seiner Darstellung wesentlich. Zugleich löst er seinen Cipus aus dem historischen Zusammenhang, in den dieser bei VALERIUS MAXIMUS gestellt ist. Den Abschnitten (1) und (2) bei VALERIUS MAXIMUS entsprechen in der Version OVIDs die Abschnitte ‚Cipus im Dialog mit den Göttern‘ und ‚Cipus im Dialog mit dem Haruspex‘. Als Vorlage für die wichtige Motivverbindung von Haruspex und Eingeweideschau mit Militär und Triumph, die ja bei VALERIUS MAXIMUS fehlt, lassen sich drei Stellen bei LIVIUS (s.o. Anm. 67) anführen. Auch das emphatische Gebet von Cipus hat bei LIVIUS, in der Camillus-Episode nach der Eroberung von Veji, eine Parallele. Den Abschnitten (3 und 4) bei VALERIUS MAXIMUS entspricht die Passage bei OVID unter dem Gliederungspunkt ‚Cipus im Dialog mit dem römischen Volk‘. Seine Cipus-Version bereichert OVID in einigen Aspekten: Ausgeweitet oder ergänzt sind Züge, für die LIVIUS und DIONYSIOS VON HALIKARNASSOS Parallelen bieten: Hörner als Zeichen der Macht, Triumph als Bedrohung für die Stadt und freiwilliges Exil als eine von drei Strafformen sowie das Entgegenziehen der Bevölkerung und Ansprachen vor Volk und Senat. Der Abschnitt (5) in der Darstellung des VALERIUS MAXIMUS korrespondiert mit dem Ovidischen Passus ‚Cipus in dialogischer Situation mit dem Erzähler‘. Hierin bietet OVID einen Zusatz, den der Landschenkung, für die LIVIUS und DIONYSIOS VON HALIKARNASSOS mit den Episoden von Horatius Cocles, Mucius Scaevola und Cincinnatus ebenfalls Vorlagen bieten. Mit dem Thema des Pflügens bei der Landschenkung wird bei OVID zudem der römische Stadtgründungsritus transportiert, wodurch die Assoziation mit der römischen Frühzeit eine scheinbare Historisierung des Erzählten erreicht. Dagegen hat der Abschnitt (6) in der Version des VALERIUS MAXIMUS, mit dem Namen des Stadttores, wie erwähnt, keine Entsprechung bei OVID. Indem OVID seine Cipus-Darstellung zuerst durch Weglassen von Informationen zu dessen Person enthistorisiert, re-historisiert er sie mit dem Einpassen von Legenden aus der Zeit der frühen Republik, vor allem aus der ersten Pentade bei LIVIUS, die den Zeitraum bis zum Galliersturm, d.h. 387 v. Chr., abdeckt. Suggeriert scheint damit, daß die Ereignisse um Cipus ungefähr in diesem Zeitraum stattgefunden hätten.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
5.5 DIE FUNKTION DER CIPUS-EPISODE IM NARRATIVEN KONTEXT In der Forschung wird die Komposition der Passagen, in die die Cipus-Episode eingebettet ist, als mißglückt angesehen. Argumentiert wird mit einer Unterbrechung des carmen perpetuum, das OVID vorzulegen doch versprochen habe (met. 1,4),89 und mit einem Neuansatz, den man in einem Musenanruf zu erkennen glaubt (622–625).90 Wie die Passagen, zu denen die Cipus-Episode zählt, miteinander verbunden sind, wird meines Erachtens unzureichend beschrieben91 und zumeist als Mangel begriffen.92 Festzustellen ist, daß der Aufbau hier in großen Teilen nicht mit einem Schema von Rahmen- und Binnenerzählung zu erfassen ist.93 Eher behelfsmäßig spricht man bei dem Ensemble von einem Übergang.94 Welche Episoden jedoch zu diesem Übergang zu rechnen sind, wird kontrovers angegeben.95 Abhängig von der Entscheidung, welche Passagen als Übergang gesehen werden, ist, welche Passagen dieser Übergang als zur Haupterzählung gehörend
89 OV. met. 1,3–4 ... primaque ab origine mundi / ad mea perpetuum deducite tempora carmen – und leitet mein stetig fließendes Lied vom ersten Ursprung an der Welt bis herab zu unseren Tagen. (Übers. RÖSCH). Vgl. RIEKS 1980, S. 87 Anm. 12, mit Hinweis auf LAFAYE, [1904], S. 76–95. 90 Positiv zeigt RIEKS 1980, bes. S. 95–103, eine Bücher übergreifende strukturierende Funktion von drei Musenauftritten in den Metamorphosen auf (ad 15,622 S. 101). 91 KRAUS 1942, Sp. 1942f., sieht die Unterbrechung zunächst nach dem Egeria-Part, später (KRAUS 1968, S. 112) nach der Cipus-Episode, also vor der Aesculapius-Episode mit dem einleitenden Musenanruf (zum Musenanruf BÖMER, 1986, bes. S. 418f.). Einen Bruch zwischen der Cipus-Episode und der Aesculap-Geschichte beschreiben z.B. SCHMIDT 1938, S. 85, lt. GRANOBS 1997, S. 35f. WILKINSON 1955, S. 220f., übergeht die Abschnitte über Egeria, Tages und Lanze des Romulus gänzlich. LUDWIG 1965, S. 99 Anm. 88, erwähnt immerhin die Dreiergruppe Tages–Romulus–Cipus, doch eine Chronologie verfolgend sieht er lediglich „anhangsweise [...] noch drei Sagen aus Roms Frühzeit [...] gestreift“. VERSNEL 1970, S. 395, grenzt die Cipus-Episode von dem Abschnitt über Tages nicht ab und benennt daher den Haruspex fälschlich als Tages. LUNDSTRÖM 1980, geht auf die Abschnitte Tages und Lanze des Romulus nicht ein. 92 So beispielsweise KRAUS (wie Anm. 90); FRÉCAUT 1969, S. 249; BARTENBACH 1990, S. 294–298; GRANOBS 1997, S. 32. 93 Folgerichtig behandelt GIESEKING 1965 in seiner Untersuchung zur Rahmenerzählung die Cipus-Episode nicht. Lediglich ein Nichterfüllen dieses Schemas konstatiert BARTENBACH 1990, S. 294–301; positive Vorschläge, die narrative Form zu beschreiben, finden sich, soweit ich sehe, nicht. 94 Die Funktion eines Überganges ist unstrittig (z.B. KRAUS (wie Anm. 90), GALINSKY 1967, S. 182). – FABRE-SERRIS 1991, S. 77–81, ordnet die vier Geschichten von Egeria, Tages, Lanze des Romulus und Cipus aus syntaktischen Gründen, wegen des Verwandlungsmotivs, zu Recht zusammen, aber interpretiert diese Zusammenstellung, GALINSKY (1967) folgend, politisch. – GRANOBS 1997, S. 21, hält die Egeria-Episode für einen Bestandteil einer Haupthandlung, neben der nur eine einzige Ebene der Erzähleinlage, nämlich mit der Geschichte über Hippolytus, stehe. Auch die nachfolgenden Episoden – Tages, Lanze des Romulus, Cipus, Aesculapius – klassifiziert er wie die Abschnitte über Caesar und Augustus als Haupthandlung. Trotzdem schreibt er den Geschichten von Cipus und Aesculapius die Funktion einer Überbrückung von der Königszeit bis zur Apotheose Caesars zu (S. 40). 95 Über die Diskrepanzen knapp MARKS 2004, S. 107f., bes. Anm. 2 und 3.
5.5 Die Funktion der Cipus-Episode im narrativen Kontext
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miteinander verbindet und wie dann das Thema lautet, das man den als Hauptoder Nebenerzählung bestimmten Abschnitten zuschreibt.96 Im folgenden soll der Aufbau der die Cipus-Episode umschließenden Passage analysiert werden, mit dem Ziel, über den Kontext die Thematik und Funktion der Cipus-Episode zu definieren.
5.5.1 Haupt- und Nebenerzählungen Die Geschichte von Cipus steht an einer wichtigen Stelle im dritten und letzten der sogenannten Geschichtsbücher der Metamorphosen. Sie bildet einen Übergang von einem Thema der Haupterzählung zu dem nächsten. Diese Haupterzählung ist in einer Genealogie der Herrscher Roms zu sehen: Nach einem größeren Block über Aeneas, der im dreizehnten Buch beginnt (13,625–14,608), und über Romulus, der mit dem Ende des vierzehnten Buches abschließt (14,778–828), befaßt sich das fünfzehnte Buch in einem ersten großen Teil mit Numa (15,1– 621). Fortgesetzt wird die genealogische Grundlinie mit dem Thema Iulius Caesar (15,747–851) und schließlich endet sie mit Augustus (15,852–870).97 Die Cipus-Episode ist die letzte von einigen kleinen Episoden, die in starker Verschachtelung dem Thema Numa angebunden sind. Die Darstellungen unter den genealogischen Themen von Aeneas bis zu Numa kann man als sagenhistorisch bezeichnen.98 Aber mit den Themen über Iulius Caesar und Augustus gelangt man in die jüngste Zeitgeschichte des Autors OVID. Die Beschäftigung mit dieser nichtmythologischen Geschichte, die stark mit der aktuellen politischen Situation unter Augustus verbunden ist, muß als nicht unproblematisch für die Person OVIDs angesehen werden.99 An diesem heiklen Übergang von mythologischen Themen zur Zeitgeschichte steht die Cipus-Episode. Aber nicht nur die Qualität des Erzählstoffes ändert sich nach dem Numa-Abschnitt, sondern es ist auch eine große zeitliche Lücke zwischen Numa und Iulius Caesar auszufüllen,100 die im wesentlichen die Zeit der römischen Republik umfaßt. Die Überbrückung der Lücke gelingt mit einer Verschachtelung von Nebenerzählungen und dadurch, wie von Cipus erzählt wird. Die Gestaltung des Abschnitts über Cipus zu erläutern, ist Hauptinteresse dieser Untersuchung und wird schwerpunktmäßig im späteren ausgeführt. Hier soll vorerst die Verknüpfung der Nebenerzählungen, beginnend mit dem Passus zu Egeria (15,485 ff.) und der 96 So sieht mit einigem Recht SCHMITZER 1990, S. 260, die drei Episoden (Tages, Lanze des Romulus, Cipus) als Übergang vom Numa-Pythagoras-Komplex zum Finale (Aesculapius, Iulius Caesar, Augustus; jedoch abweichend davon vgl. das Folgende). 97 RIEKS 1980, S. 100, beschreibt die Großteile der Metamorphosen in einem chronologischen Dreischritt von der musisch-götterzeitlichen über die orphisch-heroenzeitliche zur pythagoreisch-historischen Weltoffenbarung, die OVID im fünfzehnten Buch darstelle. 98 GRANOBS 1997, S. 131, bes. S. 12f. 99 Die Einschätzung, daß Zeitgeschichte ein schwieriges Thema im frühen Prinzipat ist, äußert z.B. SCHMITZER 1990, S. 278. 100 BÖMER 1986, S. 399; GRANOBS 1997, S. 131.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Übergang zur Zeitgeschichte mit dem auffälligen Schlußteil der Cipus-Episode (616–621), verdeutlicht werden.
5.5.2 Struktur und aitiologischer Stil Die Haupterzählung über Numa wird mit der Darstellung seiner über seinen Tod trauernden Frau Egeria und deren Verwandlung durch die Göttin Diana verlassen (485–551). In den Part über Egeria ist eine Episode ihres Gesprächspartners Virbius-Hippolytus eingebettet (497–546).101 Auf gleicher Erzählstufe wie die des Hippolytus sind der Egeria-Passage weitere drei Geschichten untergeordnet, wie sich in einer Tabelle der Erzählebenen darstellen läßt (s.u. S. 201). Diese Geschichten – über Tages, die Lanze des Romulus und Cipus102 – sind untereinander und mit der übergeordneten Erzählebene über das Motiv des Verwunderns103 verknüpft: Als die weinende Egeria in eine Quelle verwandelt wird, zeigt sich Hippolytus verwundert (552–553a). Als Tages aus einer Erdscholle auftaucht (553b– 559), zeigt sich der sein Feld pflügende Etrusker verwundert. Romulus und seine Leute sind verwundert, als sich dessen Lanze in einen Baum verwandelt (560– 564). Cipus erstaunt, als er sein Gehörn bemerkt (565–621). Die Verbindung zum Thema Iulius Caesar wird durch eine bemerkenswerte Technik hergestellt: Indem im Schlußteil der Cipus-Episode der Erzähler eine Figur seiner Erzählung, nämlich Cipus, anspricht,104 wechselt er von der Zeit seiner Erzählung in seine eigene Gegenwart und zugleich vom narrativen Adressaten, dem Rezipienten, zu Cipus. Den nachfolgenden neuen Abschnitt beginnt er mit einem nochmaligen Adressatenwechsel, indem er die Musen anruft, ihm bei dem Bericht, wie der Aesculapkult auf die Tiberinsel in Rom kam, zu helfen (622– 625).105 Die Darstellung über Aesculap (626–746) wird mit einer kurzen Bemerkung an ihrem Schluß (745f.)106 nachträglich der Haupterzählung mit dem Thema
101 Zum Verhältnis der beiden Geschichten als Rahmen- und Binnenerzählung z.B. GIESEKING 1965, S. 47, 61; BARTENBACH 1990, S. 294–298; GRANOBS 1997, S. 21. 102 HAUPT / EHWALD [18761] 1966, S. 465 ad 552 ff;. LUDWIG 1965, S. 99 Anm. 88; GALINSKY 1967, S. 183; FRÉCAULT 1968, S. 249; BÖMER 1986, bes. S. 399; SCHMITZER 1990, S. 260; PAIRAULT-MASSA 1990, S. 289f.; BARTENBACH 1990, S. 294–298; GRANOBS 1997, bes. S. 35, S. 75–80, MARKS 2004, bes. S. 107f. 103 Daß dieses Motiv zur Anknüpfung dient, vgl. VIARRE 1964, S. 293, 333, 392; BÖMER 1986, S. 399; URBAN 2005, S. 121, und GRANOBS 1997, S. 35; aber indem GRANOBS dieses Mittel als oberflächlich bewertet (bes. Anm. 70) und dieses vertieft (S. 75–79), verkennt er seine strukturierende Bedeutung (dazu s.u. S. 202.) 104 KORTE 1987, bes. S. 177. 105 GRANOBS 1997, S. 36, verkennt auch hier die strukturierende die Bedeutung der Anredetechnik: er hält den Einsatz eines Musenanrufs für nicht gerechtfertigt, weil hier keine zentrale Partie eingeleitet werde. Dagegen positiv LOEHR 1996 (s.u. Anm. 110). 106 OV. met. 15,745f. Hic tamen accessit delubris advena nostris / Caesar in urbe sua deus est – Er ist als Fremdling hierher zu unseren Tempeln gekommen, Caesar ist Gott in der eigenen Stadt. (Übers. RÖSCH).
5.5 Die Funktion der Cipus-Episode im narrativen Kontext
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Iulius Caesar (747–851) untergeordnet.107 Das Thema Augustus (852–870) schließt diese eine genealogische Grundlinie der Herrscher Roms verfolgende Darstellung ab. Bei den Verknüpfungen lassen sich somit verschiedene Erzählebenen aufzuweisen, die zur Aufklärung einiger merkwürdig anmutender Erzählformen beitragen und die der Bestimmung der Cipus-Episode dienen: Betrachtet man die Ebene des Erzählers in Ich-Form (Cipusanrede, Musenanruf) als die erste, liegt die einer Haupterzählung, nämlich die der Herrschergenealogie (Numa), auf zweiter Ebene darunter. Mit Egeria wird auch diese Ebene verlassen und man ist auf eine dritte gelangt. Von Egeria als einer Rahmenhandlung – auf dritter Erzählstufe – ist die Binnenhandlung über Hippolytus auf vierter Stufe abhängig. Auf gleicher Stufe, nämlich der vierten, sind der Egeria-Geschichte über das Motiv des Erstaunens die drei Geschichten (Tages, Lanze des Romulus, Cipus) angereiht. Die Anrede von Cipus im Schlußteil der Episode bietet auf erster Erzählstufe einen Übergang zur Aesculap-Geschichte mit dem Musenanruf. Es findet mit der Apostrophe an Cipus ein extremer Stufenwechsel von einer vierten Ebene auf die erste Ebene des Erzählers statt. Von hieraus gelangt die Erzählung über die dritte Ebene mit der Aesculap-Geschichte wieder auf die zweite Ebene zur Herrschergenealogie (Caesar, Augustus) zurück, was sich in Tabellenform verdeutlichen läßt: 3. Ebene 4. Ebene 1. Ebene 2. Ebene IchHaupterzählung Nebenerzählung eingebettet/angereihtes Verwunderungsmotiv Erzähler Genealogie 1–621 Numa 485–551 Egeria 497–546 Hippolytus–Virbius 552–553a Egeria–Quelle 553b–559 Tages–Erdscholle 560–564 Lanze–Pflanze 565–615 Cipus–Tier 616–621 Cipus– Anrede 622–625 Musen– Anruf 626–746 Aesculap 747–851 Caesar 852–870 Augustus Die beiden großen Blöcke, die durch das Verlassen des Erzählrahmens (Cipusanrede, Musenanruf) schon miteinander verbunden sind, werden zudem gerade durch Formulierungen, die in der Forschung meist kritisiert werden, als Erzählun107 Lediglich als fehlende Rahmung stellt BARTENBACH 1990, S. 300f., die Anknüpfung der Aesculap-Geschichte mit dem Musenanruf und heraus.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
gen aitiologischen Stils kenntlich: Der erste Block (Egeria – Tages – Lanze des Romulus – Cipus) ist durch das Motiv des Verwunderns über eine Verwandlung und durch das Themengebiet ‚Natur‘ als eine Aitiologie in der Tradition des Nikander zu sehen.108 Im einzelnen kristallisieren sich für die vier kleinen Passagen die Motive Wasser – Erde – Pflanze – Tier heraus.109 Die Hippolytus-Episode ist als Binnenerzählung zu Egeria auszunehmen. Der zweite Block, über die Einführung des Aesculapius in Rom, ist durch den Musenanruf und die Wahl des Themas ‚Kult‘ als aitiologische Erzählung im Stile des Kallimachos gekennzeichnet.110 Für den ersten Teil (gezählt ab dem Egeria-Passus, Vers 485) ergibt sich eine Länge von 137 Versen und für den zweiten eine mit 124 Versen annähernd gleiche. Aufgrund der aitiologischen Form in einem jeweils eigenen Stil und einer nahezu gleichen Länge sind die beiden Abschnitte als parallel zueinander gehörend zu betrachten. Es läßt sich sagen, daß eine chronologische Ordnung, die zumeist insbesondere für den ersten Block von Geschichten erwartet wird,111 aber wegen der Wiederaufnahme des Themas Romulus als durchbrochen erkannt wurde,112 zu Recht zu negieren ist. Als strukturierendes Element erscheint vielmehr die Form der Aitiologie in zwei unterschiedlichen Ausprägungen. Insbesondere bildet das Ensemble von aitiologischen ‚Klein-Geschichten‘ im ersten Block keine chronologische Abfolge, sondern eine Sachgruppe zum Thema Natur.113
108 Vgl. LOEHR 1996, S. 50f., 56f., 145 Anm. 229: Zuordnung von Hippolytus-Virbius (durch Stichwort mirabere 499), Egeria (durch nova res 552), Cipus (durch miram formam 620); Tages und die Lanze des Romulus sind nicht angeführt, müßten sich aber auch einpassen (zur Lanze des Romulus wohl durch das Stichwort admirantibus 564, zu Tages jedoch unklar, vielleicht durch pri mum 555). – Mir scheint jedoch die Hippolytus-Episode wegen der Form einer Binnenerzählung von den anderen vier Geschichten abzugrenzen zu sein. 109 Eine Einheit von Tier-Bezügen in den Episoden bei VAL. MAX. 5,6,2 (Curtius/Pferd), 5,6,3 (Cipus/Rind) und 5,6,4 (Aelius/Specht) beschreibt BRIQUEL 2007, S. 35. 110 LOEHR 1996, bes. S. 134: „Der Musenanruf ... ist indes typisch episch: Anruf (‚pandite nunc, Musae‘ [622]), hymnische Prädikation (Allwissenheit [623]), Frage [s.c. unde] (624f.).“ LOEHR, S. 138, bietet nicht nur eine überzeugende Erklärung für die Formulierung, sondern wertet den Einsatz einer kallimacheisch-traditionellen Form an dieser Stelle, nämlich vor der Apotheose des Caesar, zu Recht hoch (s.o. Anm. 105). 111 WILKINSON 1955, S. 221, erwartet eine chronologische Anordnung, die er, da sie nicht geboten wird, als Mangel beschreibt: „Cipus takes us at one bound into Republican times, more than a century beyond Numa. Ovid does not even try to carry us over the next bound to the year 292 B.C., when we assist at the migration of Aesculapius to Rome; and there is only the connexion of contrast to bridge the next two hundred and fifty years and bring us to Iulius Caesar. It looks very much as if his delight in invention was flagging, as well it might by now, so that he made haste to his designed conclusion.“ 112 KRAUS 1942, Sp. 1942f.; SCHMITZER 1990, S. 260f.; GRANOBS 1997, bes. S. 31f., 35, 41. 113 Dagegen sieht MARKS 2004, bes. S. 111f., als das Gemeinsame in den drei kleineren Episoden die Divination (Tages: etruskische Weissagung, Romulus: augurium, Cipus: extispicium) und das Pflügen (Tages, Cipus). URBAN 2005, S. 122, betont, wie GRANOBS 1997, S. 135, die motivische Verklammerung über fatum in der etruskischen Weissagung (Tages: 15,554 fatalis glaeba; 15,557 ventura fata) und beim extispicium (Cipus: 584 fata iubent; 602 fatalis tyrannus). Zu fatalis s.u. Anm. 66.
5.5 Die Funktion der Cipus-Episode im narrativen Kontext
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5.5.3 Die literarische Funktion: Aitiologisierung und Historisierung Die beschriebene diffizile Erzähltechnik in Verbindung mit den Nebenerzählungen überbrückt die Diskrepanz zwischen der mythologischen Geschichtsdarstellung und der Zeitgeschichte: Von Numa ausgehend sind in 137 Versen mehrere kleine Geschichten angefügt, die mit ihrer Fünfzahl – einschließlich der Binnenerzählung von Hippolytus – und mit ihrer thematischen Fülle ein zeitliches Fortschreiten suggerieren. Dem Thema Iulius Caesar vorgeschaltet bildet mit 124 Versen eine einzige längere Darstellung – über den Aesculapkult – den parallelen Block. Diese Funktion eines Übergangs zeigt sich an mehreren weiteren Aspekten, die sich sicher noch vermehren lassen. In unterschiedlicher Weise verbinden sie vorwiegend die Passagen auf literarischer Ebene114 und auch somit wird das Versprechen eines carmen perpetuum eingelöst: So kann man den Musenanruf über das Stichwort der Camenen, zu denen Egeria zählt und die mit den Musen identifiziert werden,115 vorbereitet sehen. Darüber hinaus verweist die Figurenkette Egeria, Virbius-Hippolytus, Diana-Trivia, Aesculapius auf die Hippolytus-Episode VERGILs (VERG. Aen. 7,761–782), in der dieselben Figuren genannt sind. Es liegt mit dieser Kette offenbar eine Imitatio Vergiliana vor, bei der die vorgegebenen Elemente in eigenständige Partien gesplittet sind. Weiterhin schafft das Motiv des Lorbeers in der Cipus-Episode (591 pacali ... lauro) über die Aesculap-Geschichte (634 laurus) eine Verbindung zu dem Friedenslorbeer der Kaiser (832 pace data) und weist zurück auf die Verwandlungsgeschichte der Daphne, in der der Lorbeer als Schmuck für das Haus des Augustus und Zeichen für siegreiche römische Feldherren vorbestimmt wurde (1,559– 562).116 Auch mehr auf die der Cipus-Episode angeschlossenen Darstellungen schauend läßt sich eine Gruppierung in den zu neuem Dasein erweckten Figuren Hippolytus, Aesculapius und Iulius Caesar sehen.117 Darüber hinaus markiert gerade der Musenanruf118 den Beginn eines göttlichen Figuren gewidmeten Schlußparts: 114 LUDWIG 1965, S. 84, urteilt über die literarische Technik OVIDs im allgemeinen treffend: „[Ovid] ... gruppierte seinen überreichen Stoff gemäß bestimmten Intentionen zu einem tektonisch vielfältig gegliederten Gebilde. Er verwischte zugleich aber auch wieder die Grenzen der Teile und gestaltete so das Ganze zu einem einheitlichen carmen perpetuum“. 115 EISENHUT 1964a, Sp. 1028. 116 OV. met. 1,559–562 tu ducibus Latiis aderis, cum laeta triumphum / vox canet et visent longas Capitolia pompas / postibus Augustis eadem fidissima custos / ante foros stabis, mediamque tuebere quercum – Römische Feldherren wirst du begleiten, wenn ‚Triumph!‘ das fröhliche Volk ihnen zujauchzt und wenn das Capitol den langen Festzug betrachtet. Du sollt, Lorbeerbaum, dich als treuester Hüter vor Augustus’ Pforten erheben und über dem Eichenkranz in der Mitte schützend die Zweige breiten. (Übers. FINK). – Zur Symbolik des Lorbeers s.u. Anm. 188. 117 Nach RIEKS 1980, S. 101, läßt sich die Verbindungslinie mit dem pythagorischen Thema des todüberwindenden Wandels in den Auferstehungsmythen von Virbius-Hippolytus, Aesculapius und Iulius Caesar in der Apotheose ziehen. 118 Zum epischen Kolorit des Musenanrufs s.o. Anm. 110.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Der Gott Aesculapius, ein Sohn des Apollon, dann der vergöttlichte Herrscher Iulius Caesar und der gottgleiche Herrscher Augustus, der ebenfalls als Sohn des Apollon gilt, bilden den krönenden Abschluß der Metamorphosen.119 Fragt man noch weiter nach thematisch Verbindendem zwischen den Episoden, läßt sich bei dem vorgestellten Konzept von Haupt- und Nebenerzählungen und ihrer Verknüpfung folgende Möglichkeit beschreiben: Sämtliche Episoden bieten eine Verbindung im Bereich kultisch-römischer Realität: Mit dem EgeriaHippolytus-Komplex ist auf Aricia und den Nemus Dianae verwiesen. Die Stadt ist als municipium seit dem Latinerkrieg (338 v. Chr.) Rom zugehörig120 und der nahe der Stadt, am Albanerberg liegende Kultort mit dem Nemus Dianae fungiert als Zentrum des latinischen Bundes. Auf dem Mons Albanus fanden die Feiern für Iuppiter Latiaris statt,121 an dessen Heiligtum auch ein Triumph als Ersatz für den stadtrömischen Triumph am Kapitol gefeiert werden durfte.122 Die Assoziation über den Kultort an den Ritus der Triumphfeiern verklammert diesen Komplex mit der Cipus-Episode. Auch der zwischen diesen beiden liegende kurze Abschnitt über den Etrusker Tages bietet mit der Einführung der etruskischen Weissagung einen Zusammenhang im kultischen Bereich. Ebenso paßt sich die Geschichte über die in einen Kornelkirschbaum verwandelte Lanze des Romulus ein; dieser auf dem Palatin wachsende Baum wurde noch zur Zeit Caligulas dort besonders verehrt,123 und mit dem Speerwurf mag zugleich auf den Ritus der Fetialen zur Eröffnung eines Krieges angespielt sein.124 In der Cipus-Episode ist dann auf ein römisches Stadttor hingewiesen,125 an dessen Erwähnung gleich mehrere Riten und Institutionen angeknüpft sind (Eingeweideschau, Prodigiendeutung, Weissagung, kapitolinischer Triumph als Abschluß eines Krieges, Stadtgründung; sakrale Gruppierungen der Haruspices und der Augures, Senats- und Volksversammlung). Und schließlich stellt das Aesculap-Heiligtum auf der Tiberinsel, das OVID nach einer Gesandtschaft zum apollinischen Orakel nach Delphi eingerichtet sein läßt,126 ein weiteres Element dar, das zeitgeschichtliche kultische Relevanz vermittelt. Mit allen diesen Elementen – kultischen Orten, Einrichtungen, Riten und Kollegien sowie den republikanischen Institutionen von Volks- und Senatsversammlung – sind römische Verhältnisse adaptiert und lassen die jüngere Geschichte Roms den Zeitgenossen näher und damit faßbar erscheinen. Die historische Lükke, die im Erzählten zwischen Numa als zweitem König Roms und Iulius Caesar 119 120 121 122 123 124
Vgl. SCHMITZER 1990, S. 260. RADKE 1964, Sp. 546. EISENHUT 1967, Sp. 537. KÜNZL 1988, S. 100. Nach PLUT. Rom. 20,6; dazu BÖMER 1986, 402; SCHMITZER 1990, S. 261. RÜPKE 1990, zu der erst Augusteischen Gründungslegende des Collegiums der Fetialen S. 97–117, zum Speerwurf bes. S. 105–117. 125 Das Weglassen der etymologischen Erklärung zur Porta Raudusculana (dazu s.o. S. 187) ermöglicht auch die Eingliederung in den Komplex von aitiologischen Episoden im Stile Nikanders (s.o. S. 202). 126 Die Einrichtung des Kultes ist auf das Jahr 292 v. Chr. datiert (dazu BÖMER 1986, S. 418).
5.6 Zur erzählten Zeit
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erscheint und im wesentlichen die Zeit der römischen Republik umfaßt, wird überbrückt nicht durch Erinnerung an zumeist doch eher krisenhafte politische Ereignisse in chronologischer Form,127 sondern durch Imagination einer geregelten kultischen Gegenwart der augusteischen Epoche, indem ihre Verwurzelung in der Vergangenheit geschildert wird. Mittel der Darstellung ist eine ‚Montage‘ von verschiedenen kultischen Einrichtungen. Eine solche ‚Montage‘ bewirkt, daß in einem relativ kurzen Text sehr viele Elemente von historischer und zeitgeschichtlicher Relevanz Erwähnung finden. Bei dem Ensemble von kleinen Episoden, die die Cipus-Episode umgeben und deren Zusammenstellung allgemein als mißglückt angesehen wird, läßt sich der Effekt einer sozusagen ‚rapid-progressiven‘ oder intensiven Historisierung des Erzählten aufzeigen. Die zahlreichen Anspielungen auf die historische Umwelt des Rezipienten, Gegenwart wie Vergangenheit, die sich für beide Abschnitte nachweisen lassen, bewirken ein Verorten des Erzählten in der eigenen römischen Welt. Wie OVID seine Cipus-Episode gegenüber der Version bei VALERIUS MAXIMUS erst ent-historisiert und im Einpassen verschiedener Legenden re-historisiert, und sie dabei vage in die Zeit der frühen Republik versetzt, so verändert er die bei VALERIUS MAXIMUS vorgegebene etymologisch-aitiologische Form und gestaltet aitiologische Formen im Stile von Nikander und Kallimachos. Der Befund über die verbindende Form und symmetrische Komposition dieser zwei aitiologischen Passagen, die die Funktion eines Überganges definieren, muß zu einer Revision des negativen Urteils führen, OVID habe mit dem Musenanruf, den man als einen Neuansatz betrachtet, seinen Anspruch, ein carmen perpetuum zu liefern, nicht erfüllt. Weiter kann die Frage nach der Struktur im Ensemble der Nikandrischen Aitiologien, die bisher als ungeklärt gelten mußte, weil eine erwartete chronologische Ordnung sich doch als durchbrochen zeigt, nun positiv so formuliert werden, daß hier eine Reihung von Naturmotiven vorliegt. Dieses Ergebnis bedeutet, daß eine zeitliche Bestimmung der Cipus-Episode keinesfalls aufgrund ihres Verhältnisses zu den sie umgebenden Passagen zu leisten ist; vielmehr wäre dann das ganze Ensemble als Einheit zeitlich einzuordnen, was allerdings bei der verdeutlichten Fiktionalität schwerlich machbar scheint.
5.6 ZUR ERZÄHLTEN ZEIT In welchem Maß etwa Aussagen über den Ablauf einer historischen Eingeweideschau getroffen werden können, soll eine Untersuchung klären, die sich auf die narrative Zeit gründet. Auf literarischer Ebene läßt sich die innere Struktur der Episode verdeutlichen: Bei der Ordnung des Erzählten zeigt sich der Fortgang der Handlung häufig unterbrochen. Es entsteht eine kleinteilige Struktur, die die kurze Episode um127 SCHMITZER 1990, S. 273, weist darauf hin, daß sowohl in der Cipus-Episode als auch in der daran anschließenden Aesculapius-Darstellung wichtige politische Ereignisse mit Stillschweigen übergangen werden.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
fangreicher wirken läßt. Die Unterbrechungen, die hier meistens von Rückblenden gebildet werden, liefern fehlende Informationen nach. Eine einzige dieser Rückblenden geht über die Basiserzählung hinaus, sie berichtet von etwas, das vor der erzählten Geschichte liegt, nämlich vom Sieg des Cipus (569b). Alle anderen Rückblenden greifen sehr kurz zurück und erzählen von Geschehnissen, die sich gerade erst ereignet haben.128 Diese Art der Darstellung bewirkt eine hohe Dichte des Erzählten. Innerhalb der linearen Grunderzählung werden durch den Gebrauch unterschiedlicher Tempora zwei Passagen herausgehoben: Während die Haupthandlung überwiegend im Perfekt steht, ist im Präsens zum einen von den rituellen Tätigkeiten des Cipus (574–576 placat, dat, consulit)129 und zum anderen von seinen Unternehmungen, der Rede an das römische Volk und dessen um Aufklärung bemühte Reaktion (590–594 convocat, velat, insistit, ait; 606–608 sonat, eminet, spectant, quaerunt), gesprochen. Bei den Geschwindigkeiten des Erzählten, die hier in allen vier Stufen vorkommen, läßt sich ein häufiger Wechsel zwischen dem Tempo einer Szene130 und dem einer summarischen Darstellung beschreiben.131 Insbesondere sind die rituellen Tätigkeiten des Cipus summarisch (573b–576), die Situation mit dem Haruspex ist jedoch szenisch geschildert (577 ff.). Dem recht langsamen Tempo in diesem Dialog folgt eine Ellipse, ein sehr rasches Fortschreiten der Zeit, so rasch, daß Geschehenes nicht berichtet wird.132 Hier betrifft die Auslassung das ZuEnde-Führen des Rituals nach der Weissagung, etwa mit einem Mahl. Derartige Wechsel im Tempo erhöhen die Lebendigkeit des Dargestellten. Dazu gibt es eine Unterbrechung, die ein Retardieren des Erzählten bewirkt: Nach der die Gefahr ankündigenden Rede an das Volk bildet der Vergleich des Gemurmels mit dem Waldes- und Meeresrauschen eine Pause in der Handlung (603–605).133 Die narrative Frequenz ist in drei Typen vertreten, was die Vielfältigkeit des Dargestellten ein weiteres Mal unterstreicht. Beherrschend ist der Typ, daß ein 128 Kurze Rückblenden: Altäre erstellen (573f. factas ... aras; 575 mactatarumque bidentum), Hörner verbergen, einen Wall errichten und ein Gebet sprechen (591–593) ante cornua velat; aggeribus factis; precatus; Kranz abnehmen (610) dempta corona. 129 Es zeigt sich mit der Darstellung zu Dido eine Übereinstimmung: Auch dort sind die rituellen Handlungen durch das Präsens hervorgehoben (s. Kap. Dido). 130 Tempo einer Szene: Cipus bemerkt seine Hörner (565–566a); steht erstarrt (568b–569a); betet (570–573a); der Haruspex beschaut die Eingeweide, sieht Cipus an, deutet, dann Gegenrede von Cipus (577–589); Rede an das Volk (594–602); Enttarnungsrede mit Enttarnung (609– 611); Rede des Erzählers an Cipus (616–621). 131 Tempo des summarisch Erzählten: sehen, sich wundern, an den Kopf fassen, sehen, berühren (566b–568a); rituelle Tätigkeiten (573b–576); Vorbereitung der Volksversammlung (590– 593); Volk bei der Suche (606–608); Reaktionen (612–615). 132 GENETTE 1998, S. 76–78. 133 Als literarisches Vorbild wird die Homerische Rede des Agamemnon (HOM. Il. 2,144 ff.) gesehen. Entsprechungen liegen in einem retardierenden Gleichnis und der Situation vor, daß ein Anführer eine Täuschungs- oder Tarnrede hält, mit der er die Gefolgschaft seiner Leute prüfen möchte (vgl. HAUPT / EHWALD [18761] 1966, ad 15,603; BÖMER 1986, S. 413; GRANOBS 1997, S. 139f.; MARKS 2004, S. 115f.)
5.7 Die Gottheiten
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einmaliges Ereignis auch nur einmal geschildert wird. Er findet sich kurz im Anfangsteil, wie Cipus sich im Fluß spiegelt (allerdings 3 x vidit), dann wie er betet (565/570–573a), und – von einer Ausnahme abgesehen – ab der Szene mit dem Haruspex bis zum Ende (577–621). Die Ausnahme bildet, wie Cipus die Vorhersage des Haruspex dem Volk mitteilt (596f.). Dieses Ereignis der Vorhersage, das nur einmal stattgefunden hat, wird somit ein zweites Mal erzählt.134 Der dritte Typ, der darin besteht, daß wiederholt stattfindende Ereignisse nur einmal erzählt werden, läßt sich für die Handlungen beschreiben, die ein Wiederholen anzeigen: das Wieder-und-wieder-Nachfühlen (567 digitis saepe relatis) und das rituelle Handeln, bei dem durch den Plural die Mehrmaligkeit bezeichnet ist (573b–576 factas aras placat; odoratis ignibus; vina pateris dat; mactatarum bidentum; consulit trepidantia exta). Zusammenfassend läßt sich auf literarischer Ebene in der Episode eine hohe Dichte des Erzählten durch häufige Rückblenden mit doch sehr kurzer Reichweite feststellen. Auch die häufigen Tempowechsel, insbesondere von einer summarischen zu einer szenischen Darstellung, und die Vielfalt in der narrativen Frequenz trägt zu dem Eindruck von Inhaltsreichtum bei. Zwei Passagen sind durch das Präsens als besonders wichtig herausgehoben: die rituellen Handlungen des Cipus, die in der Gliederung als Dialog mit den Göttern erscheinen, und dessen Handlungen vor der Rede an das Volk und die um Klärung bemühte Reaktion des Volkes nach seiner Rede. Die rituellen Handlungen des Cipus bei der Eingeweideschau sind in summarischer Narration wiedergegeben und die Darstellung bricht mit der Befragung ab und muß somit als wenig differenziert gelten. Für die Frage nach dem Ablauf eines historischen Ritus enthält diese Art der Darstellung sehr wenig Informationen.
5.7 DIE GOTTHEITEN Mit dem Interesse an einem historischen Ritus der Eingeweideschau soll die Darstellung darauf untersucht werden, welche Götter zur Befragung genannt sind und welche Personen den Ritus ausführen. Es ist wiederum mit einer starken literarischen Überformung zur rechnen, die sich lediglich auf das für das Erzählen der Geschichte relevante Personal beschränkt und sich mit genauen Angaben zu Realia der Kulthandlung sehr zurückhält. Im Gebet wendet sich Cipus ganz allgemein an die superi, an mehrere Himmelsgötter. Entsprechend der größeren Anzahl von Göttern werden auch mehrere Altäre errichtet und mehrere Darbringungen getätigt. Der Plural in factae herbosae arae, odorati ignes, vina pateris und mactatae bidentes drückt dies aus und bezeichnet, wie die Untersuchung zur Frequenz des Erzählten ergab, ein Wiederholt-Tätigsein an den verschiedenen Altären. Mit der Anzahl von mehreren Tieren, die geschlachtet werden (mactatae bidentes), stimmt der Plural in quid ... significent trepidantia exta (576) überein. Jedoch liegt ein Bedeutungswechsel vor, 134 Vom Aspekt der Ordnung bildet dieser Satz einen Rückgriff.
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wenn dann ebenfalls im Plural von denjenigen exta gesprochen wird, die der Haruspex gerade beschaut (577 quae adspexit): Nach der summarischen Darstellung der rituellen Handlungen, die Cipus ausführt, findet eine Fokussierung auf diese Szene statt.135 Hier bezieht sich der Plural auf die exta eines einzelnen Tieres wie der Singular in pecus (580) klar angibt.136 Im ganzen Ritual sind außer in der Anrede im Gebet (superi) nicht Götter erwähnt, sondern Sachen: Cipus hebt Augen und Arme zum Himmel, er versöhnt die Altäre, den Wein gibt er den Schalen und er befragt die Eingeweide. Als Antwort gebendes Subjekt sind Schicksalssprüche genannt (584 sic fata iubent). Der Stil der Ritualdarstellung läßt sich als von Göttern entpersonalisiert beschreiben.137 Entgegen der Einschätzung, die Wendung exta consulere stelle als Fachbegriff in einer etruskischen Eingeweideschau historische Wirklichkeit dar,138 erscheint die Formulierung in diesem Kontext vom literarischen Stil bedingt. Zudem läßt sich mit der Frage nach einer literatur-historischen Wirklichkeit VERGILs Eingeweideschau der Dido mit seinen verdinglichten Ausdrucksweisen als Vorbild erkennen. Insbesondere die Ovidische Wendung trepidantia consulit exta läßt sich als eine Variation dem bei VERGIL an gleicher Versstelle befindlichen Ausdruck spirantia consulit exta im Ritual der Dido und, etwas entfernter, der Vergilischen Formulierung oracula adit … lucos consulit beim Faunus-Orakel in der Latinus-Passage (7,81–83) darstellen.139 Dadurch, daß keine Namen für die Götter genannt sind, ist ein genaues ‚Verorten‘ in der religiösen Landschaft nicht möglich; die Darstellung erscheint zeitgelöst und somit universell einsetzbar.140 Später aber, zu Beginn der Volksversammlung, werden die angebeteten Götter als Götter alter Zeit, prisci dei (593), bezeichnet und damit wird das Geschehen in eine vage Frühzeit versetzt: Die Darstellung zeigt sich als archaisierend.141 Diesen Befund einer Archaisierung unterstützend ist auf die Rasenaltäre hinzuweisen, auf denen Cipus seine Gaben darbringt (573f.). Es ist zu vermuten, da Altäre aus Grassoden offenbar nicht speziell 135 BÖMER 1986, S. 406f., erkennt diese Erzähltechnik nicht: Er interpretiert den Plural von arae, vina, paterae usw. lediglich als poetisch und betont, den Plural glättend, daß es sich in Wirklichkeit nur um ein einziges Tier handele. 136 Pecus, pecudis, f. bezeichnet im Gegensatz zu pecus, pecoris n. das einzelne Stück Vieh (vgl. ThLL 10,1,957, Z. 56). 137 Nicht als literarischen Stil, sondern als Dynamismus bewertet dies WAGENVOORT 1947, S. 28 (lt. BÖMER 1986, S. 407). 138 Zu consulere s.o. Kap. 2. 139 S.o. Kap. 2.1.3. 140 Der verallgemeinernde Effekt bei dem Auslassen von Namen war weiter oben (S. 187) schon bemerkt worden. 141 Die Junktur priscosque deos stellt, wie BÖMER 1986, S. 411, angibt, eine lectio difficilior dar, während die ebenfalls überlieferte Variante priscoque deos e more als eine Korrektur zu betrachten ist. Für die Annahme einer Archaisierung haben die unterschiedlichen Lesarten jedoch keine Bedeutung, weil priscus, ob auf die Götter oder auf den Brauch bezogen, in jedem Fall auf eine vergangene Epoche zu beziehen ist. BÖMER verkennt die archaisierende Bedeutung, wenn er – offenbar mit historisierendem Interesse – sagt, es bestehe kein Grund, gerade diese Götter (dei prisci) anzurufen.
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zum militärischen Leben gehören, daß auch diese Bezeichnung als Mittel für eine Archaisierung des Erzählten genutzt ist.142
5.8 DIE IM RITUS HANDELNDEN: CIPUS UND EIN HARUSPEX Die rituellen Handlungen bei der Eingeweideschau sind im wesentlichen im ersten Abschnitt, dem Dialog des Cipus mit den Göttern, geschildert. Der zweite Abschnitt, der Dialog mit dem Haruspex, enthält mehr den Teil mit der Vorhersage und weniger über Handlungen beim Ritus. Als literarisches Personal im Ritus treten allein Cipus und ein Haruspex143 auf: Zunächst erscheint Cipus allein, die Aufmerksamkeit der Darstellung gilt ihm und seinem Problem. Dann, als Cipus offenbar allein die vorbereitenden rituellen Handlungen ausgeführt hat und schließlich die Eingeweide beschaut, ist plötzlich der Haruspex anwesend, der zugleich mit Cipus die Eingeweide betrachtet.144 Lag zunächst der Fokus der Darstellung auf Cipus (565–576), wechselt er dann auf den Haruspex (577–579),145 bevor diese beiden Personen zusammen in einer Szene, dem Dialog, gesehen werden, in der der Haruspex eine Zeichendeutung leistet. Gelegentlich ist durch eine passivische Ausdrucksweise, so in factae arae und mactatae bidentes (573f., 575), vermieden, weiteres ausführendes Personal, das für einen historischen Ritus relevant wäre, näher zu bezeichnen.
5.8.1 Der Haruspex und seine Weisung Historische Einordnung Die Anwesenheit eines etruskischen Haruspex (577 Tyrrhenae gentis haruspex) ist insofern nicht verwunderlich, weil Cipus als victor mit einem Heer unterwegs ist, und Haruspices schon früh als religiöse Experten zum Personal eines Heeres gehörten.146 Die einem Heer angehörenden Haruspices begutachteten die Eingeweide der Schlachttiere, um einen günstigen Moment für eine Schlacht oder eine Flußüberquerung zu bestimmen. Ein derart detailliertes Ergebnis, wie es in der Cipus-Episode dargestellt ist, wurde in den rituellen Schlachtungen beim Heer gar 142 Vgl. FAUTH 1964, Sp. 280; vgl. SIEBERT 1999, S. 90 Anm. 325, zu den Rasenaltären. Möglicherweise liegt in dem Ausdruck, der überwiegend poetisch nachgewiesen ist, eine Archaisierung vor, (s.o. Kap. 2.4.). 143 Der Haruspex ist nicht identisch mit Tages, wie VERSNEL 1970, S. 395, fälschlich annimmt (s.o. Anm. 91). 144 LUNDSTRÖM 1980, S. 112 Anm. 90, sieht nicht Cipus als denjenigen, der befragt (consulit), sondern entgegen dem literarisch Dargestellten erwartet er einen Haruspex. 145 Der logische Bruch in der Darstellung, wie oben beschrieben (S. 188), erscheint hier als Wechsel in der Fokussierung. 146 RÜPKE 1990, S. 148f.; 244: „Die Experten gehören zur persönlichen Begleitung des Generals.“
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nicht erwartet.147 In der Forschung werden die Haruspices beim Heer häufig eingestuft als von niedrigem Stand und von Haruspices höheren Standes, deren Aufgabe die Prodigiendeutung war, unterschieden.148 Auf diesem Hintergrund erscheint dieser Einsatz des Haruspex ungewöhnlich, weil dieser hier zur Deutung eines Prodigiums, der Hörner des Cipus, zu Rate gezogen wird149 und ihm somit beide Rollen zukommen. Daß an eben dieser Stelle in der Ovidischen Darstellung erzählerisch ein Bruch vorliegt, ist gezeigt worden.150 Daß die Haruspices ausnahmslos etruskischer Herkunft gewesen seien,151 kann nicht mehr als sicher gelten.152 Wenn wenig später der Haruspex in der Rede des Cipus als Augur bezeichnet wird (596)153, liegt darin ein Widerspruch, denn als Experte für Divination war ein Augur nicht für Eingeweideschau oder Prodigienprokuration, sondern für die Vogelschau zuständig.154 Die Erwähnung des Augurenamtes, die sachlich jedenfalls unpassend ist, könnte wiederum der besonderen Erzähltechnik OVIDs, einer Montage, zuzurechnen sein.
Die bedingende Form der Ankündigung Die Form der Ankündigung, die in einer Bedingung besteht, war weiter oben als auffällig herausgestellt worden (S. 188). Da die Version bei VALERIUS MAXIMUS (5,6,3) mit einem si-Satz155 für die Fassung OVIDs, der eine erst konditional aufzulösende Partizipialkonstruktion (receptus) verwendet, sich nicht als Vorlage anbietet, konnte in der Formulierung der Aelius-Episode bei VAL. MAX. (5,6,4 (2) conservato eo … occiso) ein Vorbild gefunden werden. Zu fragen wäre nun, ob für eine solche bedingende Form nach einer Stelle bei MACROBIUS156 eine Prove-
147 ROSENBERGER 1998, S. 10. 148 Vgl. ROSENBERGER 1998, S. 10; 52f.; MACBAIN 1982, bes. S. 43–59; WISSOWA 1912, S. 543–549, bes. 548f. 149 Zur Deutung von Prodigia vgl. RÜPKE 1990, S. 125–132, bes. S. 125f. 150 S.o. S. 188. 151 LATTE 1960, S. 158f. 152 Zu den Haruspices vgl. HAACK 2002; HAACK 2003; FRATEANTONIO 1998, Sp. 168. Dagegen gibt es Hinweise, daß seit der früheren Kaiserzeit jedoch auch Römer – und noch dazu von höherem Stand, dem Ritterrang, – Mitglieder eines ordo haruspicum Augustorum waren, das seine Entstehung wohl Claudius verdankt (TAC. ann. 11,15). Vermutlich hat es in Municipalstädten nicht nur einzelne Haruspices, sondern ganze collegia haruspicum gegeben (vgl. MARQUARDT 1878, S. 398, und vermehrt 1885, S. 414f.) 153 Dagegen sieht GALINSKY 1967, S. 187, hierin eine Anspielung auf die gemeinsame Etymologie mit augustus; LUNDSTRÖM 1980, S. 122, findet in der Bezeichnung eine Geringschätzung ausgedrückt. SCHMITZER 1990, S. 267, sieht in der Erwähnung des Augurs eine Brücke von der Cipus-Sage zu der monarchischen Komponente des augusteischen Prinzipates, zur Romulus-Nachfolge, geschlagen. 154 ROSENBERGER 1998, S. 48f.; WISSOWA 1912, S. 523–534. 155 Text s.o. S. 183, Abs. (2). 156 MACR. Sat. 3,7,2; Par. SERV. ecl. 4,43.
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nienz aus etruskischen Ritualschriften angenommen werden kann,157 so daß OVID, wie auch VALERIUS MAXIMUS, sie hier adaptiert haben könnten.158 Eine Beantwortung bedürfte jedoch einer genaueren Untersuchung der Form(en) von Ankündigungen, die etruskischer Provenienz zugewiesen werden. Daß die Aussprüche oder vermutlichen ‚Zitate‘ in lateinischer Sprache und Literatur überliefert sind, stellt ein größeres quellenkritisches Problem dar, denn schwerlich sind wirkliche Aussprüche von Haruspices in der literarischen Überformung, die zumeist ein vaticinium ex eventu darstellt, zu identifizieren.159 Bei einer Untersuchung, wie sich die sprachliche Form der vermuteten etruskischen Vorhersagen darstellt, könnte zugleich der Frage nachgegangen werden, auf welcher Grundlage von Textbelegen die in der Wissenschaft oft wiederholten Aussagen beruhen, die Etrusker würden – im Gegensatz zu den Römern – genaue Vorhersagen bei der Eingeweideschau liefern.160 Beide Fragen erfordern die Bearbeitung eines größeren Quellenbestandes, was jedenfalls den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit überschreiten würde.161 Für die Frage nach einer historisch bedingten Abhängigkeit der Eingeweideschau im römischen Kulturkreis von einer Eingeweideschau im Vorderen Orient scheint außer den Lebermodellen, die in beiden Kulturkreisen vorkommen,162 die konditionale Form einer Ankündigung einen Ansatzpunkt zu bieten.163 Aber zum einen, wie eben gesagt, fehlen weitestgehend Untersuchungen über die sprachlichen Formen von Ankündigungen im römischen Kulturkreis164 und daher sind derartige kulturvergleichende Fragen derzeit nicht zu beantworten. Zum anderen wäre zu klären, welche Art einer Abhängigkeit vom Orient man dokumentiert sieht. Es wird in der Forschung einerseits eine Abhängigkeit vom babylonischen 157 Vgl. THULIN 1909, S. 76; ROSENBERGER 1998, S. 203. 158 Eher sind in dieser Hinsicht Zweifel angebracht, denn, wie schon die quellenkritische Untersuchung zu dem Begriff ‚hostia consultatoria‘ ergeben hat (s.o. Kap. 2.3; vgl. NASSE 1999), sind manche Formulierungen vielmehr dem MACROBIUS zuzurechnen. Eine quellenkritische Untersuchung wäre daher auch zu den beiden genannten Parallelstellen (s.o. Anm. 156) auszuführen. Zu bedenken ist zudem, daß die Quellenlage in der Überlieferung bei VAL. MAX. sehr schwierig ist und nicht klar ist, ob die beiden Episoden über Cipus und Aelius, die VAL. MAX. im Nacheinander bietet, auch OVID zusammen vorgelegen haben. 159 WISSOWA 1912, S. 547 Anm. 2, weist auf eine solchen Ansatz THULINs hin (1909, S. 78; 80; 85 ff.), der schon früher (THULIN 1906a) zu dem Ergebnis gekommen war, nur in CIC. resp. har. 40 ließe sich ein wirklicher Ausspruch von Haruspices fassen. Demnach erscheint bei einem Vergleich von Formen der Ankündigung eine Suche nach historischen ‚HaruspicesWorten‘ nicht sinnvoll. 160 S.o. Kap. 1. 161 Für die Zeit von Augustus bis Domitian hat VIGOURT 2001 eine Untersuchung zu Vorhersagen vorgelegt. 162 Zu einem Vergleich der Lebermodelle s. insbesondere MEYER 1985. 163 ROSENBERGER 1998, S. 203, vermutet aufgrund der konditionalen Form bei MACROBIUS eine Übernahme. 164 Beispielsweise befaßt sich GUITTARD 2007, S. 289–341, mit der Prophezeiung der Vegoia und den responsa der Haruspices aus dem Jahre 56 v. Chr. – CHAMPEAUX 1997 befaßt sich mit dem Gegensatz von schriftlichen und mündlichen Prophezeiungen; zur Eingeweideschau S. 434.
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Divinationswesen als sehr direkt beschrieben – die Hypothese einer babylonischen Herkunft der Etrusker steht dahinter – dabei liegt jedoch ein Zeitraum von mindestens 600 Jahren zwischen den Bezugspunkten, der schon wegen des großen zeitlichen Abstandes, bei dem man zudem einen unveränderten kulturellen Fortbestand voraussetzt,165 Skepsis hervorrufen sollte.166 Eher – aber nicht nur – wäre nach Einflüssen aus hellenistischer Zeit, d.h. im wesentlichen aus der Umwelt des Alten Testaments und in der orientalisierenden Epoche zu suchen. Neben dieser kulturvergleichenden Fragestellung läßt sich in literarischer Hinsicht diese besondere Form bei OVID auch als literarische Finesse werten, denn mehrfach finden sich Bedingungs- oder Folgesätze und auch ein Irrealis verwendet,167 die mit der Fülle der dargebotenen Möglichkeiten die Episode sehr lebendig gestalten. Zudem ist nochmals auf einen intertextuellen Bezug zu der Episode bei LIVIUS mit dem Macht verleihenden Rind hinzuweisen (s.o. S. 189), da die Ankündigung in allen verglichenen Darstellungen mit einem offenen Ende formuliert ist.
Der Stellenwert der Eingeweideschau Welchen Stellenwert die Eingeweideschau in der Ovidischen Darstellung einnimmt, zeigt, wie der Ritus in den Handlungsverlauf integriert ist, obwohl er auf quellenkritischer Basis als sekundäre Einfügung gelten muß.168 Gegenüber der Version bei VALERIUS MAXIMUS ist die Weissagung bei OVID beträchtlich erweitert, denn bei VALERIUS MAXIMUS ist das responsum in einem einzigen Satz mitgeteilt und in einem weiteren dann die Konsequenz, daß Cipus in die Verbannung geht.169 Dagegen zeichnen sich in der Ovidischen Darstellung mehrere Phasen ab: Noch unklar ist die Vorhersage aus dem extispicium, es werde große Veränderungen im Staat geben (578f. magna quidem rerum molimina vidit in illis / non 165 Eine konservative Haltung bezüglich der sprachlich-sakralen Tradition bei Römern und Etruskern zeigt z.B. BREYER 1998, S. 314 Anm. 5, und begründet ihre Einstellung mit den Beispielen der Fratres Arvales und den Fetialen, deren Institutionen, anders als BREYER es darstellt, als zwar archaisierende, aber erst Augusteische Gründungen anzusehen sind. BREYER übergeht hier einen neueren Forschungsstand (vgl. RÜPKE 1990, S. 97–117, zu den Fetialen (s.o. Anm. 124) und zu den Fratres Arvales (vgl. SCHEID s.o. Kap. 1.). – Gegen eine unberechtigte Erwartung des Statischen in der etruskischen Kultur vgl. z.B. AIGNER-FORESTI 1998, S. 17. 166 Vgl. die berechtigte Kritik von BRIQUEL 1990, S. 15, der bezüglich des methodischen Ansatzes auf die richtungsändernde Arbeit von MASSIMO PALLOTINO L’origine degli Etruschi, Rom 1947, appellierend hinweist. PALLOTINO 1988, S. 77–96, beschreibt in der Frage der Herkunft der Etrusker einen Formationsprozeß: Vorläufer für die Eingeweideschau seien in der mesopotamischen Welt zu sehen (S. 314f.). 167 OV. met. 15,572 seu laetum ... , sive minax; 584f. s.o.; 588f. multo ... iustius ... quam; 594f. nisi ..., rex erit; 597 si Romam intrarit, famularia iura daturum; 598f. ille ... potuit ... , sed nos obstitimus; 600ff. prohibete ... , si dignus erit, ... vincite ... aut finite. 168 S.o. S. 187. 169 Text und Übersetzung s.o. S. 183, Abs. (2–3).
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manifesta tamen). Präzise ist dann die Handlungsanweisung des Haruspex, die aus seiner gerade gewonnenen Kenntnis beim Erblicken der Hörner resultiert, Cipus solle ohne Zögern in die Stadt einziehen, um König zu werden (583f. rumpe moras; intrare adpropera).170 Erst nach seiner Anweisung gibt der Haruspex den genauen Schicksalsspruch wieder, markiert durch sic fata iubent, daß nämlich, wenn die Stadt Cipus wiederaufgenommen habe, dieser König werde. Die Klimax, in der das Vorhergesagte, die Alleinherrschaft, durch die Anrede ‚rex‘ und das Futur (parebunt) zunächst als unausweichlich erscheint, gipfelt in der Eröffnung zweier Alternativen, die in der ‚bedingenden‘ Verkündigung göttlichen Willens liegen. Cipus erkennt diese und weist souverän Auslegung und Anweisung des Haruspex zurück (587f. procul ... di pellant). Mit seiner Willensäußerung, lieber werde er ins Exil gehen als König werden (588f. multoque ego iustius aevum / exsul agam, quam), setzt die Antiklimax ein und leitet zu der Versammlung von Volk und Senat hin, der Cipus den letzten Entscheid überläßt. Das Verbot des Senates, Cipus dürfe die Stadt nicht betreten (616 at proceres ... muros intrare vetaris), bringt die definitive Klärung der Situation und bildet das Ende des Spannungsbogens. Mit dem Nachzeichnen des Spannungsverlaufs aus der Weissagung heraus wird die Eingeweideschau insgesamt als wichtiges konstitutives Element der Episode kenntlich. Bestätigen läßt sich dieser Befund auch durch die Gliederung, da sich die dialogischen Situationen, auf denen die Gliederung basiert, aus dem extispicium entwickeln: (1) Befragen der Götter und Formulieren von Alternativen; (2) Verdoppelung der Befrager-Rolle (Cipus / haruspex), Verdoppelung der Ankündigung (haruspex / fata), Erkennen von Alternativen, persönlicher Entscheid des Cipus; (3) öffentliche Alternativendiskussion und Entscheid des Volkes; (4) Mitteilung über Beschluß des Senates. Aufgrund des erzählten Entscheidungsvorgangs ist das Verhalten von Cipus als pietätvoll gegenüber den Göttern und loyal gegenüber der römischen Republik zu bewerten. Cipus lehnt sich nicht etwa gegen das Fatum auf, sondern lehnt die Deutung des Haruspex ab.171 Als moralische Instanzen gelten ihm zum einen die Götter, die Cipus vor eine Entscheidung stellen, und zum anderen das römische Volk und der Senat, deren Entscheidung er sich überantwortet. Gegenüber dem Haruspex als Ratgeber beweist Cipus große Souveränität. Man kann in dieser Haltung, die Maßstäbe setzt, vielleicht eine Kritik an Augustus sehen, zu dessen Gefolge längst Haruspices gehörten172 und deren Ratschläge er möglicherweise für seine Entscheidungen, die sich gegen die freie Republik richteten, als Götterwillen vorschob. 170 Vgl. GRANOBS 1997, S. 136. 171 Zurückzuweisen ist demnach die Darstellung von SCHMITZER 1990, S. 268, Cipus komme dem fatum nicht nach; ebenso irrig URBAN 2005, S. 130, der aufgrund der fehlenden Differenzierung zwischen der Weisung des Haruspex und dem göttlichen Willen, ein nicht dem göttlichen Willen gemäßes Handeln von Cipus als Besonderheit herausstellt und abwegige Schlüsse zieht (S. 130–132). Ganz richtig urteilt hier GRANOBS 1997, S. 136 Anm. 195, insofern daß Cipus lediglich die Deutung des Haruspex ablehnt. 172 Vgl. SCHMITZER 1990, S. 267 Anm. 91, Haruspices gehörten zum Gefolge des Augustus.
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5.8.2 Cipus: Triumphator, Selbstanzeigender und Melder eines Prodigiums Das die ersten beiden Teile der Darstellung beherrschende Thema einer Vorzeichendeutung173 tritt in der Forschung vor allem zugunsten des dritten Teils, der Versammlung (590–615, völlig in den Hintergrund. Betont wird, daß sich Cipus als Feldherr mit einem Heer vor Rom befindet. Viele Einzelheiten wie die siegreiche Rückkehr aus dem Felde, die Heeresangehörigen wie der Haruspex und Soldaten, eine Versammlung, die vor der Stadt stattfindet, und ein Lorbeerkranz, den Cipus bei der Versammlung trägt, berechtigen zu der Interpretation, daß es in dieser Situation um Verhandlungen über einen Triumphzug geht.174 Im folgenden soll dieser Ansatz unter Berücksichtigung von zeitgeschichtlichen Bezügen näher beleuchtet und weitere Interpretationsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
Der Triumph Der Triumph ist ein religiöser Akt, auf den der Feldherr, der die alleinige Befehlsgewalt, das imperium und das auspicium, inne hat, in Rom nach seiner siegreichen Rückkehr einen Anspruch hatte. Um diesen Anspruch nicht zu verwirken, durfte er die Stadt nicht vor der Zeremonie betreten. Verhandlungen, ob ein Triumph berechtigt ist, hatten vor der Stadt stattzufinden und somit mußte der Senat vor den Mauern Roms zusammenkommen.175 Man sieht in dieser Regelung eine Schutzmaßnahme vor der Macht des Feldherrn, der ein schlagkräftiges, kampferprobtes Heer bei sich hatte und leicht die Stadt in seine Gewalt hätte bringen können.176 Der stadtrömische Triumph entstammt der etruskischen Phase Roms und ist mit dem Kult des Iuppiter Capitolinus verbunden. Dem Triumphator wird eine gottgleiche Macht zuerkannt, die er mit Ende des Umzugs, wenn er seinen Lorbeerkranz der Iuppiterstatue auf dem Capitol in den Schoß gelegt hat, symbolisch abgibt. Nach Schlachtriten am Capitol und einem Festmahl legt der Triumphator am Ende des Tages seine besondere Kleidung und seine außerordentlichen Vollmachten ab.177 In der Darstellung OVIDs ist die römische Bevölkerung in Erwartung eines Triumphfestes zu sehen. Indem OVID gegenüber der Version von VALERIUS 173 S.o. Gliederung, S. 179. 174 Beispielsweise VERSNEL 1970, S. 396; LUNDSTRÖM 1980, S. 75; GRANOBS 1997, S. 137. 175 Zum Triumph im allgemeinen mit weiteren Literaturhinweisen vgl. BEARD 2007; RÜPKE 2006b (gegen VERSNEL 1970); ITGENSHORST 2005, S. 193–218; RÜPKE, 1990, S. 223–234; KÜNZL 1988, bes. S. 30f.; VERSNEL 1970. 176 Auf eine schützende Funktion der Stadtgrenze gegen die Ansprüche des Siegers beim Triumph weist RÜPKE 1990, S. 240, hin. Man könnte, da der Ausdruck cippus Grenzstein bedeutet, auch den Namen Cipus in die Richtung interpretieren, daß der Protagonist für sich selbst ein Grenzstein ist, der die Stadt schützt. Ein solcher Zusammenhang ist häufig vorgetragen worden (vgl. MARKS 2004, bes. S. 126; LUNDSTRÖM 1980, S. 72, S. 76; HAUPT / EHWALD [18761] 1966, ad 565 ff. 177 RÜPKE 1990, S. 224.
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MAXIMUS die Marschrichtung des Cipus verändert darstellt, ist zwar die Aitiologie für das Abbild am Stadttor gleichsam ‚verdorben‘,178 doch ist die Darstellung um das Bild des Triumphes, dem wichtigsten aller römischen Feste,179 bereichert. Es zeichnet sich ein schwacher Spannungsbogen ab, der vom Ausdruck victor, der die Erwartung eines Triumphes erzeugt, über die Verhandlungsszene bis zu dem Senatsbeschluß, Cipus den Zutritt zur Stadt zu verweigern, reicht. Mit dem Triumph des zurückgekehrten Feldherrn wird die Gefahr einer Alleinherrschaft, die das republikanische Rom fürchtete, sehr viel unmittelbarer deutlich, als wenn der Imperator wie bei VALERIUS MAXIMUS gerade erst die Stadt verlassend in den Krieg zieht.180 Das Bild des Triumphators erweitert beträchtlich die Interpretationsbreite, gerade um historische Bezüge zu Caesar und Augustus.181 An literarischen Vorbildern für einen siegreichen Feldherrn, der die Befehlsgewalt wieder abgibt, waren weiter oben insbesondere Cincinnatus und Camillus genannt worden (s.o. S. 195 bzw. 191). In Orientierung nicht auf literarische Parallelen, sondern auf die historische Wirklichkeit wird eine politische Dimension eröffnet, die die Forschung in Bezug auf Augustus oder Caesar sieht:182 Die Kritik OVIDs liege in dem Kontrast, der zwischen Cipus als exemplum eines sich vorbildlich verhaltenden Republikaners und dem Verhalten von Caesar bzw. Augustus bestehe. Beide Imperatoren hätten die Macht eben nicht wie Cipus zurückgewiesen. Für Augustus werden die Ereignisse der Jahre 29 v. Chr., nach seinem Sieg gegen Antonius,183 27 v. Chr., des offiziellen Endes der Bürgerkriege und der Augusteischen Restitution der Republik,184 und 23 v. Chr. zum Vergleich herangezogen.185 Der Vergleich mit der Krise im Jahre 23 v. Chr. stelle laut SCHMITZER die größeren Gemeinsamkeiten heraus: In diesem Jahr legte Augustus sein Konsulat nieder und wählte für diesen Anlaß das Latinerfest vor den Toren der Stadt. Daß außer bei OVID von keiner Versammlung berichtet wird, erkläre sich durch diese zeitgeschichtliche Parallele, deren Bedeutung VALERIUS MAXIMUS und PLINIUS nicht erfaßt und deshalb ausgelassen hätten. Die Verzichtrede des Cipus weise
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S.o. S. 185. KÜNZL 1988, S. 7. Vgl. MARKS 2004, S. 114f. URBAN 2005, S. 121 Anm. 603. Dazu ausführlich SCHMITZER 1990, bes. S. 6–14 und 260–272; Literaturhinweise auch GALINSKY 1967, S. 186 Anm. 13; PORTE 1985, S. 192 Anm. 65; BÖMER 1986, S. 404f.; MARKS 2004, S. 113 Anm. 18. – Zur Sache zuerst FRÄNKEL (zuerst Berkeley 1945), dt. Übers. 1970, S. 235 Anm. 308; MARG 1949 (Rez. FRÄNKEL S. 56); GALINSKY 1967; VERSNEL 1970, S. 395f.; LUNDSTRÖM 1980, S. 67–79, 106; FABRE-SERRIS 1991, bes. S. 78–81; GRANOBS 1997, S. 133f.; URBAN 2005, sporadisch bes. S. 123–134. 183 LUNDSTRÖM 1980, S. 73; 78f.; vgl. dagegen SCHMITZER 1990 S. 262 Anm. 66: Es fehle der Verzicht auf die Herrschaft. 184 Lt. SCHMITZER 1990, S. 262 Anm. 70, sei zwar der Herrschaftsverzicht gegeben, es fehle aber die siegreiche Heimkehr. 185 Vgl. SCHMITZER 1990, bes. S. 264.
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zudem Parallelen im Bericht des CASSIUS DIO (53,32,3) zum Rücktritt des Augustus auf.186 Eine weitere Parallele finde sich in dem Umstand, daß Augustus faktisch als rex herrsche und ihm zugestanden war, am ersten Tag des Jahres das Triumphalgewand zu tragen. Es werde in der Darstellung OVIDs sowohl an verschiedene Triumphe des Augustus als auch an einige dem Augustus geltende omina, die ihm die Herrschaft und Romulusnachfolge angekündigt haben sollen, erinnert.187 Der Lorbeer als Friedenszeichen läßt vor allem an die ara pacis denken188 – sie wurde im Jahre 9 v. Chr. auf Veranlassung von Augustus errichtet.189 Auch die Hörner als Zeichen der Macht lassen sich in einem Bildprogramm wiedererkennen, dessen sich Augustus bediene: das Sternbild des Steinbocks vor allem auf Münzen,190 die Ziegenhörner der Iuno Sospita, das Abbild des IuppiterAmmon mit den Widderhörnern, das auf dem im Jahre 2 v. Chr. eingeweihten Augustusforum zu sehen war und mit dem die Ikonographie Alexander des Großen wiederaufgenommen sei.191 Daß OVID gerade die Figur des Cipus als Paradigma ausgewählt habe, müsse in dessen auffälligstem Attribut, den Macht anzeigenden Hörnern, begründet sein. Die fehlende Festlegung der Art der Hörner ermöglicht jedenfalls die Assoziationen mit diesen unterschiedlichsten horntragenden Figuren. Das Bildprogramm zur Kennzeichnung der Herrschaft läßt sich mit literarischen Bezügen, mit der Aufnahme des Vergilischen Motivs des Flammenkranzes fortführen. Die Stichwörter monstrum, tempora, corona und praesignia, die die Schilderungen zu Ascanius, Augustus und Agrippa zusammengenommen bieten, verweisen auf die Formulierung gemino praesignia tempora cornu (15,611) in der Cipus-Episode OVIDs.192 Diesem Beispiel ist das der Lavinia, der Tochter des Kö186 SCHMITZER 1990, S. 262–265. – Seiner Argumentation, das Jahr 29 v. Chr. als Referenzzeit zu sehen, ist jedoch das Fehlen eines Triumphes zu diesem Zeitpunkt entgegenzuhalten. Auch URBAN 2005, S. 133, hält wohl zu Recht die Datierung für zu starr. 187 Vgl. SUET. Aug. 94,3 (Geburtsomen); SUET. Aug. 95 (Wiederholung des augurium augustum, das Romulus erlangt haben soll), lt. SCHMITZER 1990, S. 265f.; 267. 188 Zur Symbolik des Lorbeers allgemein, als Triumphalinsignie und dem apollinischen Programm des Augustus vgl. BÖMER, Die Fasten 1957–1958, ad 3,135, S. 151f.; LUNDSTRÖM 1980, S. 77f.; BÖMER 1986, S. 410; RÜPKE 1990, S. 215f.; LEHNEN 1997, S. 120–122. – Zu den intratextuellen Bezügen beim Motiv Lorbeer in OVIDs Metamorphosen s.o. S. 203. – Bezug zur Ara Pacis auch Ov. fast. 1,709–722. 189 Da die Metamorphosen wohl in den Jahren von 2 bis um 8 n. Chr. verfaßt worden sind, kann beim zeitgenössischen Rezipienten die Kenntnis der Augusteischen Monumente vorausgesetzt werden. 190 Zur Diskussion über das Sternbild des Steinbocks und über den Steinbock als Herrschaftszeichen des Augustus vgl. SCHMID 2005; TERIO 2006. 191 Vgl. LUNDSTRÖM 1980, S. 75; PALM 1939. 192 Vgl. GALINSKY 1967, S. 188; SCHMITZER 1990, S. 268: Dem Ascanius wurde ein mirabile monstrum zuteil, das in einem Flammenkranz um sein Haupt bestand und als omen für eine zukünftige Herrschaft gewertet wurde. Das Bild ist bei VERGIL für Augustus wiederaufgenommen und kurz darauf ist für Agrippa von Siegeszeichen die Rede. – Für Ascanius: VERG. Aen. 2,680 mirabile monstrum – wundersames Wunderzeichen; 684 lambere flamma comas et circum tempora pasci – leckte die Flamme das Haar und nährte sich ringsum die Schläfen.
5.8 Die im Ritus Handelnden: Cipus und ein Haruspex
217
nigs Latinus, hinzuzufügen: Ein Flammenkranz an ihrem Haupt (VERG. Aen. 7,72–80), die Deutung als Zeichen der künftigen Herrschaft durch das Orakel des Faunus (7,92–101) und die Verehrung des Lorbeerbaums, der im Palast des Latinus wächst (7,59–63), lassen sich als literarisches Vorbild zur der Umsetzung eines ideologischen Programms beschreiben. Als historischen Bezugspunkt könnte man eine Begebenheit aus dem Jahre 19 v. Chr. für das Zusammenkommen von Volk und Senat in der Ovidischen Darstellung sehen: Augustus sei bei seiner Rückkehr aus dem Felde nicht nur eine offizielle Delegation, sondern auch das Volk bis Campanien entgegen gezogen.193 Ein solcher Adventus des Feldherrn194 könnte bei OVID literarisch umgesetzt sein, wenn man bedenkt, daß in der Zusammenkunft gar keine Verhandlungen über den Triumph stattfinden und – unter historischem Gesichtspunkt – das Volk für diese Verhandlungen nicht nötig war.
Die Anzeige eines Landesverrats Zu fragen ist aus dem vorgenannten Grunde nach historischen Verbindungen, die zu dem Zusammenkommen von Volk und Senat in der Cipus-Episode OVIDs bestehen.195 Es ist in der Darstellung nicht ganz klar, welcher Art die Versammlung von Volk und Senat ist, die Cipus einberufen läßt (590f. et extemplo populumque gravemque senatum / convocat).196 Verhandlungen über den Triumph, als deren Zweck man die Versammlung interpretiert,197 finden ja nicht statt und dazu wäre jedenfalls nur der Senat erforderlich, nicht auch das Volk. Der Charakter der Zusammenkunft bei OVID erscheint wegen des ungewöhnlichen Ortes, vor der Stadt, weniger offiziell und daher besser zu einem Adventus passend. Doch betont der Ausdruck gravis senatus (590) und die Anrede der Römer als Quirites (600) einen offiziellen Anlaß. Als ordnungsgemäße Versammlung von Volk und Senat kennt man die comitia. Zu denken wäre hier speziell an
193 194
195 196 197
Für Augustus (in der Schildbeschreibung): VERG. Aen. 8,680f. geminas cui tempora flammas / laeta vomunt – dem doppelte Flammen die frohen Schläfen umspucken. Für Agrippa (in der Schildbeschreibung): VERG. Aen. 8,683f. cui belli insigne superbum / tempora navali fulgent rostrata corona – dem als stolzes Zeichen des Sieges die Schläfen eine Krone umglänzt mit den Schnäbeln. HÖLSCHER 1967, S. 12 (R. Gest. div. Aug. 2,12). RÜPKE 1990, S. 241: „Das schon in der Republik praktizierte Entgegenziehen des Senates oder der Bevölkerung formuliert den Adventus, die Ankunft des heimkehrenden Feldherrn, als einen rituellen Prozeß“ (Anm. 8: „Altäre stehen am Weg, Opfer werden dargebracht“). – Zum Adventus vgl. HÖLSCHER 1967, S. 51–59; LEHNEN 1997, S. 20f., 47f., weist auf die genuine Verbindung des kaiserlichen Adventus zur ovatio und zum Triumph hin, aus dem sich der Adventus seit Augustus entwickelte (vgl. MARTIN 1985, S. 128; RÜPKE 1990, S. 226, 234; VERSNEL 1970, S. 387f.; KÜNZL 1988, S. 119–133). BÖMER 1986, S. 403, beurteilt die Szene mit der Versammlung als geradezu skurril. Die Frage nach der Versammlung als comitia berührt HAUPT / EHWALD [18761] 1966, S. 468 ad 590, und führt mit LIV. 7,16,7 ein mögliches Vorbild für die Versammlung im Lager an. S.o. Anm. 174.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
die comitia centuriata, die als eine Form der Heeresversammlung wohl auf dem Marsfeld,198 also ganz passend zur Darstellung OVIDs, außerhalb des Pomeriums zusammenkam. In diesen Versammlungen wurden u.a. politisch zentrale Entscheidungen, wie gerichtliche Urteile in Komitialprozessen, getroffen.199 Als Anlaß für einen Komitialprozeß sind feindliche Handlungen gegen das römische Gemeinwesen anzusehen (perduellio),200 dazu gehörte wohl auch der Landesverrat. Dieses Delikt wurde mit dem Tode bestraft, dem Urteil konnte sich der Schuldige durch den Gang ins Exil entziehen. Die Strafen, die Cipus für den angekündigten Tyrannen vorschlägt, entsprechen ungefähr denen für einen Landesverrat.201 Die Reaktion des Volkes in der Cipus-Episode verdeutlicht seinen Willen zu einer Verurteilung,202 die Formulierung at proceres ... muros intrare vetaris (616) stellt die Verurteilung durch den Senat dar. Der Aspekt des Exils und seines Grundes wegen Landesverrats hat, soweit ich sehe, bisher keine Beachtung gefunden.203 Als intertextuelle Parallele mit ähnlichen Motiven wurden weiter oben die Begebenheiten um Caeso mit drei Formen von Strafen – Todesstrafe, in Ketten legen und Exil – dargestellt (s.o. S. 195). Auf diesem Hintergrund läßt sich das Zusammenrufen von Volk und Senat in der Cipus-Episode als die Anzeige eines Vergehens gegen die Republik, die Anzeige eines Landesverrats, betrachten.204
Das Melden eines Prodigiums Als dritte Möglichkeit für den Grund der Versammlung ist das Melden eines Prodigiums zu sehen. Diese steht vom Erzählten her eigentlich im Vordergrund, ist aber von der lebhaften Diskussion um den Triumph völlig verdrängt worden. In dem Vorzeichen, das Cipus wahrnimmt, wird eine bedrohliche Situation für die Römer anzeigt. Die Bedrohung meldet Cipus sogleich (extemplo) dem Volk und Senat von Rom (590f.); er ist hier in der Rolle desjenigen, der dem Senat ein Prodigium sofort meldet. Es wird auf die Meldung hin vor der Stadt (592f. aggeribus ... insistit) eine ausführliche Beratung im Senat gemeinsam mit dem Volk abgehalten.205 Dabei meidet Cipus, als Triumphator die Stadt zu betreten. Über die 198 199 200 201 202 203 204
205
GIZEWSKI 1997, Sp. 95. GIZEWSKI 1997, Sp. 96. DE LIBERO 2000, Sp. 538; KUNKEL 1995, S. 633f.; MEDICUS 1972, Sp. 623f. BÖMER 1986 und 2006 (Addenda) bietet keinen Hinweis auf die Thematik des Landesverrats, die in den Strafen sichtbar wird. OV. met. 15,610/612 et populo prohibente corona exhibuit ... demisere oculos omnes gemitumque dedere. Weder GRASMÜCK 1978 noch KELLY 2006 gehen auf diese literarische Form eines exiliums ein. Allgemein zur Relegation vgl. STINI 2011, S. 36–42. Das Phänomen eines undemokratischen Alter ego, das BÖMER 1986, S. 411, an Cipus wahrnimmt – (GRANOBS 1997, S. 138, folgt ihm) – ließe sich gut mit dem Vorhandensein unterschiedlicher literarischer Vorbilder erklären: Caeso als das negative Beispiel, Cincinnatus als eines der positiven Beispiele, Virginius als der Ankläger. Die Szene mit Volk und Senat wird, wie erwähnt, bislang als Verhandlungen über den Triumph interpretiert. Verhandlungen über den Triumph müssen jedenfalls vor der Stadt statt-
5.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
219
Annahme des Zeichens ist man sich wohl gleich einig, es wird nur noch über die Maßnahmen verhandelt. Dabei ist die Angst vor politischer Unsicherheit thematisiert (602 finite metum fatalis morte tyranni). Cipus selbst, der seine Hörner unter einem Lorbeerkranz verborgen hat, trägt drei Vorschläge vor, wie mit dem Mann, von dem die Bedrohung ausgeht, zu verfahren ist, und gibt sich schließlich zu erkennen. Man beschließt daraufhin ein mildes Vorgehen, Cipus keinen Zutritt in die Stadt zu gewähren; somit kann die Verbannung als eine Prodigiensühnung verstanden werden. Ob dieses Vorzeichen ein Prodigium für den römischen Staat oder ein Omen für Cipus persönlich darstellt, ist literarisch verarbeitet: Cipus selbst formuliert die Alternativen in seiner Rückfrage an die Götter.206 Später spricht er von omina207 und definiert dadurch die Zeichen als ihm persönlich geltend, deren Annahme er auch verweigern könnte. Es ist dargestellt, daß erstens der spezielle Anlaß für die Eingeweideschau ein Wunderzeichen, ein monstrum, ist. Zweitens ist das Ziel bei der Schau, zu klären, was durch das monstrum angezeigt wird (monstro portenditur isto). Als Möglichkeiten der Bedeutung werden zwei Alternativen formuliert, entweder das Zeichen bedeutet etwas Gutes (laetum) oder etwas Schlechtes (minax). Drittens ist offen, für wen es gilt. Wiederum werden zwei Alternativen gestellt, entweder gilt es Cipus persönlich (mihi sit), wohl aus dem Grund, weil an seinem Kopf das Zeichen erschienen ist, oder es gilt dem Volk, dem Cipus angehört (patriae populoque Quirini), weil er als Stellvertreter des Volkes siegreich agiert hat. Zugleich ist damit bestimmt, in welchen Angelegenheiten ein Klärungsbedarf besteht, entweder in Bezug auf persönliche Fragen oder auf Fragen der Herrschaft. Bedenkt man weiter, welche Bedeutung Hörner im Bildprogramm des Augustus haben (s.o. S. 216), positiv nämlich kennzeichnen Hörner den Augustus als legitimen Herrscher, so könnte man eine anti-augusteische Kritik darin sehen, daß OVID mit negativer Konnotation die Hörner als prodigium, also als Zeichen göttlichen Zornes gegen die römische Bürgerschaft, formuliert.
5.9 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN War schon zu vermuten, daß die Historizität der Eingeweideschaudarstellung als recht gering eingeschätzt werden müßte und der Grad der literarischen Überformung als sehr hoch anzusehen wäre, konnte dies durch detaillierte Untersuchungen bestätigt und im einzelnen genauer begründet werden. Die Episode gliedert sich in vier dialogische Situationen, in denen Cipus mit den Göttern, einem Haruspex, mit dem römischen Volk und Senat und schließlich in einer Apostrophe mit dem Erzähler kommuniziert. Durch eine quellenkritische finden (RÜPKE 1990, S. 226). Es ist gut möglich, in dieser literarischen Umsetzung beide Riten, die Prodigienmeldung und die Verhandlungen über den Triumph, zusammen zu lesen. 206 OV. met. 15,572f. seu laetum est, patriae laetum populoque Quirini / sive minax, mihi sit. 207 OV. met. 15,587f. ‚procul, a, procul omina,‘ dixit / ‚talia di pellant‘.
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
Untersuchung war festzustellen, daß OVID seine Vorlage, die bei VALERIUS MAXIMUS 5,6,3 allerdings später überliefert ist, kompiliert zum einen mit der dort anschließenden Episode 5,6,4 (Aelius) und zum anderen mit Legenden vor allem aus der ersten Pentade des Livianischen Werkes bzw. den Parallelen bei DIONYSIOS HALIKARNASSOS, die den Berichtsraum bis ungefähr 390 v. Chr. umfassen. Im Vergleich zur Version bei VALERIUS MAXIMUS hat OVID zahlreiche Änderungen, Einfügungen wie Auslassungen, vorgenommen, wodurch im wesentlichen zweierlei Effekte erzielt werden: Durch das Auslassen von konkreten Angaben zu Person und Stadttor, die VALERIUS MAXIMUS bietet, löst OVID seine Darstellung aus dem – zumindest anzunehmenden – historischen Zusammenhang; er ent-historisiert seinen Cipus mit diesem Schritt. Aber durch das Einpassen von sehr bekannten Legenden aus der Frühzeit Roms und von archaisierenden Ausdrücken (Rasenaltäre, prisci dei) re-historisiert er wieder und suggeriert eine zeitliche Verortung in die frühe Republik. Fortgesetzt wird diese vage belassene Chronologie bei OVID in dem anschließenden Part über die Einführung des Aesculapkultes in Rom, die um das Jahr 293 v. Chr. stattfand. Viel wichtiger aber als eine chronologische Kontinuität, die nur zu erschließen ist und die OVID gar nicht betont, ist ein motivisches und gestalterisches Kontinuum, das die genealogischen Haupterzählungen, an dieser Stelle von Numa und Caesar, miteinander verbindet. Dieser Übergang ist durchaus schwierig, weil Numa dem sagenhistorischen Bereich angehört, mit Caesar aber ein zeithistorischer Bezug besteht. Hier ist auf den zweiten Effekt zu kommen, der in der Umgestaltung OVIDs wahrnehmbar ist. Neben den Veränderungen im historischen Bezug löst OVID nämlich durch seine Auslassungen seine Cipus-Darstellung auch aus seinem aitiologischen Zusammenhang, er ent-aitiologisiert mit diesem Schritt. Aber durch das Einpassen in ein Ensemble von Nebenerzählungen re-aitiologisiert er diese, denn OVID bildet eine Reihung von Episoden, die durch das Motiv des Erstaunens über die Verwandlungen miteinander verbunden und mit dem Thema ‚Natur‘ als Aitiologien in der Tradition Nikanders erkennbar sind. Fortgesetzt wird diese Linie mit dem Part über die Einführung des Aesculapkultes in Rom, der mit einem Musenanruf (622 pandite nunc, Musae) und dem Thema ‚Kult‘ als Aitiologie in der Tradition von Kallimachos gelten kann. Ein literarisches Vorbild für die Verbindung der Episoden ist in VERGILs Aeneis (VERG. Aen. 7,761–782) zu finden, wo die Figurenkette Egeria, Virbius-Hippolytus, Diana-Trivia und Aesculapius gebildet ist. OVID gestaltet aus den Figuren Egeria und Diana-Trivia eine Rahmenhandlung für seine Binnenerzählung zu Virbius-Hippolytus, reiht dann der Verwandlung der Egeria weitere Verwandlungen, diejenigen von Tages, der Lanze des Romulus und Cipus, an und fügt diesem, in eine aitiologische Form gegossenen Komplex, entsprechend der Vorgabe bei VERGIL, zur Figur Aesculapius eine Kultaitiologie hinzu. Mit der Gestaltung dieser Passagen als Aitiologien erfüllt OVID seinen Anspruch, mit den Metamorphosen ein carmen perpetuum zu schaffen. Der Musenanruf, den die Forschung als Neuansatz und somit als eine Unterbrechung kritisiert, konstituiert ganz im Gegenteil im Zusammenhang der Kultaitiologie den Fortfluß der Darstellung. Doch muß mit Recht der Musenanruf bei der tektonischen Vielfältigkeit des Werkes auch in der Funktion gesehen werden, daß sie die Schlußpartie hervor-
5.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
221
hebt, die sich den als göttlich verstandenen Figuren Aesculap, Iulius Caesar und Augustus widmet. Als verbindendes Element ist auch die Gruppierung von den zu neuem Dasein erweckten Figuren Hippolytus, Aesculap und Iulius Caesar zu sehen. Zudem bereitet den Musenanruf das Stichwort der Camenen, denen Egeria angehört und die mit den Musen identifiziert werden, vor. Noch dazu besteht ganz zu Unrecht der Vorwurf, mit der Episode von Romulus und seiner Lanze würde, da Romulus doch bereits im vierzehnten Buch (14,778–828) Thema der genealogischen Haupterzählung war, eine chronologische Anordnung durchbrochen. Vielmehr liegt an dieser Stelle gar keine Chronologie vor, sondern eine Reihung von Episoden (Egeria, Tages, Lanze des Romulus, Cipus) mit einer Naturthematik (Quelle, Erde, Pflanze, Tier). Die neuen Erkenntnisse über den Aufbau und vor allem die verbindende Funktion des oft verkannten und als deplaziert kritisierten Musenanrufs müssen zu einer Neubewertung dieser auf den bedeutenden Schlußteil der Metamorphosen hinleitenden Passagen, insbesondere der Cipus-Episode führen, da diese in der Stellung vor der Aesculap-Episode somit an eine sehr markante Stelle des Werkes positioniert ist. Zu den vorbeschriebenen Aspekten, die im wesentlichen die Komposition des Kontextes betreffen, kommen weitere, die sich mehr auf die Funktionalität gegenüber dem Rezipienten beziehen. Denn mit dem Einpassen verschiedener Legenden in die Cipus-Episode vergrößert sich das Spektrum von Motiven und Assoziationsmöglichkeiten. Die Darstellung adaptiert auf breiter Ebene römische Verhältnisse, indem etliche römische, vor allem kultische Einrichtungen sowohl von historischer als auch zeitgeschichtlicher Relevanz innerhalb einer verhältnismäßig knappen Textmenge Erwähnung finden. Somit wird dem zeitgenössischen Rezipienten eine reale römische Umwelt vor Augen geführt und ein Wiedererkennungseffekt erreicht. Für die große Zahl von ‚Erinnerungsobjekten‘, die nicht nur in der Cipus-Episode, sondern auch in der diese umgebenden Passagen miteinander kombiniert sind, konnte die literarische Technik einer ‚Montage‘ beschrieben werden, die selbst widersprüchliche Angaben, wie die Bezeichnung des Haruspex als Augur, vereint. Zusätzlich ergibt sich der Effekt einer wie man sagen könnte ‚rapid-progressiven‘ oder intensiven Historisierung des Erzählten, die die historische Lücke zwischen Numa als zweitem König Roms und Iulius Caesar – im wesentlichen also die Zeit der vielfach krisenhaften römischen Republik – überbrückt durch Imagination einer geregelten kultischen Gegenwart der augusteischen Epoche und deren Verwurzelung in der Vergangenheit. Diese zeitliche Lücke wird bezogen auf die Cipus-Episode auch geschlossen durch eine hohe Dichte und Lebendigkeit des Erzählten, die in den dialogischen Situationen sowie in der zeitlichen Darstellung deutlich wird. Zahlreiche Rückblenden, Tempowechsel in allen vier Tempostufen, insbesondere häufige Wechsel zwischen summarischer und szenischer Darstellung, und Vielfalt in der narrativen Frequenz vermitteln den Eindruck von Fülle. Ein hohes literarisches Niveau zeigt sich ebenso in der Komposition dieses kleineren Ausschnitts. Das extispicium fungiert hier als ein wichtiges konstitutives Element, denn aus dem Ritual heraus entwickelt sich ein Spannungsbogen, der sich bis zum Ende der Episode erstreckt. Gerade die in der quellenkritischen Untersuchung herausgestellten Brüche im Er-
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5 Cipus (Ovid, Metamorphosen 15,565–621)
zählten bringen mittels einer Verdoppelung von Rollen oder Vorgängen das Fortschreiten der Ereignisse voran. In der Darstellung des Rituals dominiert ein entpersonalisierender Stil, indem Gegenstände als Bezug dienen, wie in der DidoEpisode VERGILs vorgebildet. Die Wendung trepidantia consulit exta, in der die Forschung einen Fachbegriff einer etruskischen Eingeweideschau konserviert sieht, zeigt sich zum einen von diesem literarischen Stil geprägt, zum anderen variiert sie die Vergilischen Formulierungen spirantia consulit exta in der Eingeweideschau der Dido und lucos consulit im Faunusorakel des Latinus. Als besonders wichtig sind durch das Präsens die rituellen Handlungen des Cipus und seine Vorbereitungen vor seiner Rede an Volk und Senat sowie die Reaktion des Volkes nach seiner Rede herausgehoben. Diese Technik verdeutlicht zum einen die Götter und zum anderen den römischen Staat – Volk und Senat – als Entscheidungsinstanzen für Cipus. Gegenüber dem Haruspex als Ratgeber zeigt sich Cipus im Nicht-Befolgen der Handlungsanweisung souverän. Möglicherweise liegt hierin eine Kritik an Augustus und seinem Umgang mit zu seinem Gefolge gehörenden Haruspices im Sinne einer Instrumentalisierung religiöser Einrichtungen zur göttlichen Legitimation seiner politischen Ziele. Inwieweit Augustus als Adressat für eine Kritik OVIDs in politischen Fragen zu sehen ist und eine solche Kritik meinungsbildend auf den zeitgenössischen Rezipienten wirkte, ist nicht leicht zu beantworten. Das Interesse daran, was denn dazu geführt haben mag, daß Augustus den Dichter, wenn auch in der milden Form der Relegation, in die Verbannung schickte, ist ungebrochen. Die Forschung sieht eine anti-augusteische Haltung im vorbildlich republikanischen Verhalten von Cipus als Triumphator widergespiegelt, der die angetragene Macht ablehnt und damit im Kontrast zu Augustus steht. Als das Entscheidende gilt die Konfrontation des Princeps mit der positiven Gestalt des Cipus und die Herausforderung für Augustus, sich an diesem exemplum messen lassen zu müssen. Derartige Kritikpunkte lassen sich noch vermehren, wenn die von Cipus einberufene Versammlung eben nicht nur, worauf sich die Forschung beschränkt, als Verhandlung über den Triumph verstanden wird, obwohl dieser in den Reden gar nicht thematisiert ist. So war bisher eine Form von Kritik sehr provokanter Art weitgehend entgangen: Es konnte gezeigt werden, daß sich die Versammlung von Volk und Senat zum zweiten als Prozeß wegen Landesverrats verstehen läßt, denn es wird über entsprechende Strafen verhandelt. In einer solchen Darstellung, die selbst eine göttlich legitimierte Herrschaft – hier zeigen sich Parallelen zu Omina des Augustus – als Vergehen gegen die Republik kennzeichnet, liegt ein überaus starker Vorwurf. Diese direkte politische Konnotation, zumal es um Todesstrafe, Gefängnisstrafe oder Exil geht, könnte viel eher Anlaß zu der Reaktion des Augustus geführt haben, OVID in die Verbannung zu schicken. Zum dritten kann als Zweck der Versammlung auch das Melden eines Prodigiums begriffen werden. Dieses Thema steht im Erzählten eigentlich im Vordergrund, aber ist von den Diskussionen um den Triumph völlig verdrängt worden. Eine Kritik könnte in einer Umwendung des Augusteischen Bildprogramms liegen, das Hörner als Legitimationszeichen für die Macht propagiert, von OVID aber werden die Hörner negativ als ein den Zorn der Götter anzeigendes Mittel hervorgehoben.
5.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
223
Für eine religionshistorische Fragestellung nach Anlaß und Ergebnis des speziellen Divinationsverfahrens einer Eingeweideschau ist vor allem der Befund relevant, daß die Weissagung nicht aus dem extispicium hervorgeht, sondern eine Interpretation des Prodigiums, der Hörner, darstellt. Weil also Anlaß und Ergebnis des Verfahrens nicht korrespondieren, ist die Darstellung diesbezüglich unbrauchbar. Unter einer veränderten Fragestellung, in welcher Funktion die Eingeweideschau und das Prodigium zu erkennen sind, stellt das Prodigium die Anzeige eines Konfliktes dar, in den der Protagonist Cipus bei einer Statusveränderung geraten ist. Es geht um sein persönliches Wohl und entgegenstehend das Wohl des Staates, welche beide in seiner Verantwortung liegen. Das Prodigium ist als Aufnahme einer Kommunikation von seiten der Götter zu sehen, das extispicium ist kommunikatives Mittel für eine Rückfrage seitens des Empfängers. Von besonderem religionsvergleichenden Interesse ist die konditionale Form des Schicksalsspruches, die sich in der Cipus-Episode bei OVID und seiner diesbezüglichen Vorlage, dem Passus über Aelius, bei VALERIUS MAXIMUS findet. Sie provoziert einen Vergleich mit der Form von Sprüchen in einem Wenn-dann-Modus, wie sie auch in der babylonischen Divination vorliegt. Jedoch ist zum einen aufgrund des zeitlichen Abstandes und einer stillschweigenden, aber unberechtigten Annahme, es seien in der etruskischen Religion keine Veränderungen vorgekommen, eine Ableitbarkeit, im Sinne einer babylonischen Herkunft der Etrusker, mit großer Zurückhaltung zu sehen. Zum anderen mangelt es für einen kulturvergleichenden Ansatz an Vergleichsmaterial, denn eine systematische Sichtung der Form(en) von Weissagungen bei der Eingeweideschau im römischen Kulturbereich liegt meines Wissens nicht vor.
6 ARRUNS (LUCAN, BELLUM CIVILE 1,584–638) EINFÜHRUNG Die Veröffentlichung der ersten drei Bücher des höchst wahrscheinlich unvollendet gebliebenen Epos ist wohl auf das Jahr 61 n. Chr. oder wenig später festzusetzen. LUCAN schildert in den insgesamt zehn Büchern über den Bürgerkrieg, der von 49 v. Chr. bis 46 v. Chr. dauerte,1 nur die Ereignisse von Caesars Überschreiten des Rubikon im Januar des Jahres 49 v. Chr. bis zum Aufstand gegen die Caesarianer in Alexandria im Frühjahr des Jahres 47 v. Chr. Der Autor, MARCUS ANNAEUS LUCANUS, in Corduba im Jahre 39 n. Chr. geboren und Neffe des Philosophen SENECA, war jung nach Rom gekommen und hatte dort eine Ausbildung als Redner erhalten. Nach einem Aufenthalt in Athen war er vom Kaiser Nero an den Hof berufen worden und hat frühzeitig das Amt des Quaestors und später auch das eines Augurs bekleidet. LUCAN zeigt mit verschiedenen Werken, die aber nicht erhalten sind, sein Können als Dichter und veröffentlicht wohl im Jahre 61 n. Chr. die ersten drei Bücher seiner Pharsalia, wie er sein Epos über den Bürgerkrieg selbst einmal nennt. Kurz danach verhängt Nero gegen ihn ein Publikationsverbot und ebenso ein Berufsverbot als Anwalt. Wegen der Beteiligung LUCANs an der Pisonischen Verschwörung zwingt Nero den erst 25-Jährigen, genauso wie dessen Onkel SENECA, im Jahre 65 n. Chr. zum Selbstmord.2 Da LUCAN und SENECA zur gleichen Zeit literarisch produktiv gewesen sind, läßt sich nicht sagen, wessen Werk als das ältere und somit als Vorlage für andere von ihnen gelten kann. Daß in der hier vorliegenden Arbeit zuerst über LUCAN gehandelt ist, bedeutet keine Entscheidung in der Frage der Chronologie, sondern hat thematische Gründe. Denn wie in der vorausgegangenen Cipus-Episode ist auch hier der Schauplatz Rom, und der Lucanischen Darstellung einer Eingeweideschau läßt sich die sehr ähnliche Darstellung in SENECAs Oedipus anschließen. Diese beiden Darstellungen einer Eingeweideschau gelten wegen ihres Detailreichtums bezüglich der Frage nach einem historischen Ritus als besonders aussagekräftig, denn im Unterschied zu anderen Ritualschilderungen bieten sie allein eine anatomische Beschreibung.3 Hier soll verdeutlicht werden, in welcher Weise LUCAN das Motiv der Eingeweideschau literarisch einsetzt, um die Situation zu Beginn des Jahres 49 v. Chr. beim Ausbruch des Bürgerkrieges darzustellen. 1 2 3
Zu den römischen Bürgerkriegen vgl. EDER 2002, bes. 925. Vgl. VON ALBRECHT 1994, S. 723f. Mehr dazu s.u. Kap. Tiresias und Manto und s.o. Kap. 1, bes. zur zweiten Gegenthese und Kap. 3, Abschnitt „Bestandsaufnahme“.
6.1 Einleitende Skizzierung des Inhalts und der Kontext
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6.1 EINLEITENDE SKIZZIERUNG DES INHALTS UND DER KONTEXT Die Bezeichnung des Werkes als Pharsalia deutet auf das thessalische Pharsalos, den Ort der Entscheidungsschlacht zwischen Caesar und Pompeius im Jahre 48 v. Chr. Die beiden ungleichen Kontrahenten werden im ersten Buch, an dessen Ende eine Eingeweideschau dargestellt ist, charakterisiert: Caesar ist der mutige, energische Aggressor (1,143–157), Pompeius der zwar Angesehene, aber im Alter Tatunfähige, der ängstlich aus der Stadt flieht, anstatt sie zur Verteidigung zu rüsten (1,139–143; 522). Ihren Anführern entsprechend ist das Heer Caesars energiegeladen (466 ff.), und genau wie der ängstliche Pompeius verläßt das römische Volk zitternd die Stadt (486–521). Blöcke mit Darstellungen der einen und der anderen Seite wechseln sich ab.4 In einem letzten Block im ersten Buch werden die Verhältnisse in Rom dargestellt: Pompeius hat bereits die Stadt verlassen, Vorzeichen künden ein großes Unglück an (526–584). Auf diese Reihung von schlimmen Vorzeichen folgen drei Darstellungen von Seherfiguren. Der Abschnitt mit dem etruskischen Seher Arruns beinhaltet die erste von drei Weissagungen.5 Dem Auftreten von Arruns schließen sich die Vorhersagen des Astrologen Figulus und einer von Phoebus inspirierten römischen Matrone an (584–638; 639–672; 673–695). Die Weissagungen nehmen entsprechend ihrer Reihenfolge an Konkretheit zu:6 Während Arruns das von ihm Erkannte, den drohenden Bürgerkrieg, dem römischen Volk vorenthält und verunklärend weitergibt (637f.),7 sind die Aussagen des Astrologen und der Matrone in wörtliche Rede gesetzt. Darin ist zunächst verdeutlicht, daß ein Bürgerkrieg bevorsteht (672). In der Rede der Matrone sind dann einzelne Schauplätze konkretisiert – insbesondere das mit dem Sieg des Augustus gegen die Caesarmörder entscheidende Philippi (680, 694).8 Mit den Prodigien und der Eingeweideschau wird ein Spannungsbogen aufgebaut, der über die Prophetie des Astrologen Figulus führend schließlich mit der Prophetie der Matrone beendet wird. Deren Prophetie leitet durch die Hinweise auf kommende Ereignisse einen neuen Spannungsbogen ein. Eingeführt wird Arruns, weil sich das römische Volk wegen der Häufung von unguten Prodigien ängstige (584f.). Die unmittelbar zuvor ausführlich geschilderten Vorzeichen (526–583) leitet eine allgemeinere Bemerkung ein, daß die Himmelsgötter drohen (524f. superique minaces).9 Der Grund für ihre Drohungen 4 5 6 7 8
9
Vgl. zur Gliederung des ersten Buches ROCHE 2009, S. 10f. Als Weissagung bzw. prophecie bezeichnen z.B. auch LEBEK, 1976, S. 172, bzw. DICK, 1963, S. 38, die Episode mit Arruns; PICHON 1912, S. 187, nennt sie prédiction. PICHON 1912, S. 187; LEBEK, 1976, S. 172, MORFORD 1967, S. 62. Zum Schweigen von Arruns vgl. ANZINGER 2007, S. 151. Vgl. LEBEK 1976, S. 173, und MORFORD 1967, S. 64. – Zu dem Bürgerkrieg nach der Ermordung Caesars im Jahre 44 v. Chr. und der Schlacht bei Philippi im Jahre 42 v. Chr. vgl. EDER 2002. Vorbilder für diesen und einen ähnlichen Prodigienkatalog (LUCAN. 7,151–180) sind vor allem zu sehen in VERG. georg. 1,463–492; OV. met. 15,779–802, wo Vorzeichen vor dem Tod Caesars geschildert sind, und TIBULL. 2,5,71–78 (… fataque vocales praemonuisse boves).
226
6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
wird nach den drei Weissagungen als geklärt angegeben: Ein bevorstehender Bürgerkrieg mache die Götter zornig. Ihr Zorn zeige sich eben darin, daß die Natur auf die im Bürgerkrieg zu erwartenden Gesetzesbrüche (nefas) vorausdeutend auch ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr einhalte (2,1–4).10 Der Grundtenor in dieser größeren Passage von den Prodigien, den nach Erklärung suchenden Weissagungen und der abschließenden Aufklärung11 ist bestimmt von der Angst, die das römische Volk empfindet. Die Angst vor der entweder unveränderlichen Zukunft oder dem wechselnden Zufall ist Thema einer philosophischen Reflexion des Erzählers, die sich dem die Ereignisse erklärenden Kommentar (2,1–4) im zweiten Buch anschließt (2,5–15). Danach wird wiederum von den nun erschreckt trauernden Menschen berichtet (2,16 ff.) so wie zuvor von der ziellos vor Caesars Truppen flüchtenden Menge (1,490–520). Die psychologischen Voraussetzungen und politischen Umstände, unter denen Caesar mit Waffengewalt in Italien einrückt (1,183–185)12 und so das römische Volk in Angst versetzt, werden im ersten Buch unter mehreren Aspekten, die dem Abschnitt über die Prodigien vorausgehen, auseinandergesetzt – beginnend nach dem Prooem (1,67 ff.).13 Das Thema eines die Verbrechen fördernden Bürgerkriegs ist auch schon ganz am Anfang des gesamten Werkes das Thema angekündigt (1,1f.).14 Die Darstellung der verschiedenen Aktivitäten Caesars und ihrer direkten Auswirkungen auf die Befehlshaber der Gegenseite und das Volk endet mit einer die Angst und das Durcheinander veranschaulichenden Anrede des Erzählers an Rom, die Stadt könnte ohne jede Verteidigung verlassen werden (519f.).15 Diese Anrede markiert das Ende dieses Abschnitts.16
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Mit den Prodigienkatalogen ist wie hier eine Eingeweideschau verbunden. (Vgl. GETTY 1955, S. 99; WUILLEMIER / LE BONNIEC 1962, S. 93; MORFORD 1967, S. 61, die die Ovidische Darstellung als Vorlage nennen). Zur historiographischen, stoischen und epischen Tradition dieses Lucanischen Prodigienkatalogs vgl. WIENER 2006, S. 146–153, sowie ROCHE 2009, S. 318f. LUCAN. 2,1–4 Iamque irae patuere deum manifestaque belli / signa dedit mundus legesque et foedera rerum / praescia monstrifero vertit natura tumultu / indixitque nefas – Deutlich zutage lag nun der Zorn der Götter. Der Erdkreis kündete offen vom Krieg. Die Natur, voll Vorahnung, tilgte ihre Gesetze und Bindungen in abscheulichem Aufruhr und prophezeite Verbrechen. (Übers. EBENER). DICK 1963, S. 41. LUCAN. 1,183–185 Iam ... Caesar ... / ingentisque animo motus bellumque futurum / ceperat – Schon hatte Caesar ... tiefgreifenden Umsturz geplant und künftige Schlachten. (Übers. EBENER). LUCAN. 1,67 Fert animus causas tantarum expromere rerum – Darlegen will ich die Ursachen derart erbitterter Kämpfe. (Übers. EBENER). LUCAN. 1,1f. Bella ... civilia ... / iusque datum sceleri canimus – Schlimmeres muß ich besingen als Bürgerkriege … : Wie man das Unrecht verbrämte mit Recht. (Übers. EBENER). LUCAN. 1,519f. Tu tantum audito bellorum nomine, Roma, / desereris; nox una tuis non credita muris – Rom, brauchst nur vom Kriege zu hören, schon wirst du verlassen. Keine Nacht durch schenkt man deinen Mauern Vertrauen! (Übers. EBENER). – Bedauerlich ist an der Übersetzung von LUCK 2009 (ad loc. und mindestens auch zu 1,84), daß er die Apostrophe nicht nachbildet.
6.2 Text und Übersetzung
227
Die mit den Prodigien und den Reflexionen über das Schicksal (2,15) umfassendere Passage, der die drei Weissagungen untergeordnet sind, setzt damit ein, Verständnis für die große Angst des Volkes vermitteln zu wollen (521)17: Denn erstens fürchten sich die Bewohner Roms, weil Pompeius, Kontrahent Caesars, in Rom seine Regierungsgeschäfte nicht mehr wahrnimmt und schon auf der Flucht ist, und zweitens sind sie fest davon überzeugt, daß Schicksalszeichen ein Unglück ankündigen (523f.).18 Dieser Hinleitung (521–525) folgt dann die ausführliche Nennung solcher Unglückszeichen (526–583), der sich das Wirken von Arruns anschließt.
6.2 TEXT UND ÜBERSETZUNG LUCAN. 1,584–638
19
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Haec propter placuit Tuscos de more vetusto acciri vates. quorum qui maximus aevo Arruns incoluit desertae moenia Lucae, fulminis edoctus motus venasque calentis fibrarum et monitus errantis in aere pinnae,
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monstra iubet primum quae nullo semine discors protulerat natura rapi sterilique nefandos ex utero fetus infaustis urere flammis. mox iubet et totam pavidis a civibus urbem ambiri et festo purgantes moenia lustro longa per extremos pomeria cingere fines pontifices, sacri quibus est permissa potestas. turba minor ritu sequitur succincta Gabino, Vestalemque chorum ducit vittata sacerdos Troianam soli cui fas vidisse Minervam. tum, qui fata deum secretaque carmina servant et lotam parvo revocant Almone Cybeben, et doctus volucres augur servare sinistras septemvirque epulis festus Titiique sodales et Salius laeto portans ancilia collo et tollens apicem generoso vertice flamen. dumque illi effusam longis anfractibus urbem circumeunt Arruns dispersos fulminis ignis
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16 Die Apostrophe, hier zudem an eine Personifikation, erzeugt häufig eine Rahmenwirkung (vgl. KORTE 1987, S. 177; ANZINGER 2007, S. 109). Eine Apostrophe findet sich auch in den Darstellungen zu Cipus (s.o. Kap. Cipus) und, wenn man den Boten als Erzähler betrachtet, zu Thyestes (Kap. Atreus). 17 LUCAN. 1,521 Danda tamen venia est tantorum, danda, pavorum – Freilich gebührt so schwerem Entsetzen Verzeihung. (Übers. EBENER). 18 LUCAN. 1,523f. Addita fati / peioris manifesta fides – Man glaubte den Zeichen kommenden Unglücks. (Übers. EBENER). 19 Textausgabe SHACKLETON BAILEY 1988; geändert in Vers 1,623f., da die einzig überlieferte (Ω) Lesart fibra latet ... cor iacet lautet (s. dazu Anm. 57). Die Absätze von der Verf. gesetzt.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638) colligit et terrae maesto cum murmure condit datque locis numen; sacris tunc admovet aris electa cervice marem. iam fundere Bacchum coeperat obliquoque molas inducere cultro, impatiensque diu non grati victima sacri, cornua succincti premerent cum torva ministri, deposito victum praebebat poplite collum. nec cruor emicuit solitus, sed vulnere laxo diffusum rutilo nigrum pro sanguine virus. palluit attonitus sacris feralibus Arruns atque iram superum raptis quaesivit in extis: terruit ipse color vatem; nam pallida taetris viscera tincta notis gelidoque infecta cruore plurimus asperso variabat sanguine livor. cernit tabe iecur madidum, venasque minaces hostili de parte videt. Pulmonis anheli fibra latet, pravusque secat vitalia limes. Cor iacet, et saniem per hiantis viscera rimas emittunt, produntque suas omenta latebras. quodque nefas nullis inpune apparuit extis, ecce, videt capiti fibrarum increscere molem alterius capitis. pars aegra et marcida pendet, pars micat et celeri venas movet inproba pulsu. his ubi concepit magnorum fata malorum exclamat: ‚vix fas, superi, quaecumque movetis, prodere me populis; nec enim tibi, summe, litavi, Iuppiter, hoc sacrum, caesique in pectora tauri inferni venere dei. non fanda timemus, sed venient maiora metu. di visa secundent, aut fibris sit nulla fides, sed conditor artis finxerit ista Tages.‘ flexa sic omina Tuscus involuens multaque tegens ambage canebat.
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Wegen dieser Vorfälle beschloß man, daß nach alter Sitte etruskische Seher herbeigerufen werden. Der älteste von diesen, Arruns – der die Mauern des [von Caesars Truppen] verlassenen Luca bewohnte, gelehrt in den Bewegungen des Blitzes und in den warmen Adern der Fibern und in den Mahnungen der durch die Luft schweifenden Schwinge –
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befiehlt zuerst, daß die Zeichen, die ohne Same widernatürlich die Natur hervorgebracht hatte, herausgerissen werden aus dem Leib und die verruchte Geburt in unglückanzeigenden Flammen zu verbrennen. Darauf befiehlt er, daß die ganze Stadt von den verängstigten Bürgern umschritten wird und daß in einem festlichen Lustrum die langen Mauern reinigend bis zu den äußersten Grenzen das Pomerium umziehen die Pontifices, denen die Leitung über die heiligen Handlungen gegeben ist. Die Schar der Pontifices minores, gegürtet nach Gabinischem Brauch, folgt und den Vestalischen Chor führt die bindengeschmückte sacerdos, die allein das Recht hat, die Troianische Minerva gesehen zu haben. Danach diejenigen, die Sprüche der Götter und die geheimen Lieder hüten und Kybele nach der Waschung vom kleinen Alno zurückrufen,
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6.3 Der Aufbau
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und der Augur, gelehrt darin, auf Vögel auf der linken Seite achtzugeben, und der Septemvir, zu den Göttermahlen festlich, und des Titius Sodalen und der Salier, auf frohem Nacken die Schilde hebend, und tragend den Apex auf adeligem Scheitel der Flamen. Und während jene die weitläufige Stadt auf langen Umwegen umschreiten, sammelt Arruns die verstreuten Feuer des Blitzes und begräbt sie in der Erde mit traurigem Gemurmel und gibt den Stätten je eine Gottheit; an die heiligen Altäre führt er dann ein männliches Tier mit herrlichem Nacken. Schon hat er begonnen, den Bacchus-Trank auszugießen und mit gebogenem Messer das Mehl aufzustreuen, und, lange widerstrebend der nicht genehmen Handlung, das Opfertier – da die bohrenden Hörner aufgeschürzte Diener niederdrückten – bot mit gebeugtem Knie den besiegten Hals. Und nicht wie gewöhnlich schimmerte das Blut hervor, sondern aus der geöffneten Wunde floß anstelle von rotem Blut schwarzes Gift. Weiß wurde, angedonnert wegen der todanzeigenden rituellen Handlungen, Arruns und den Zorn der Himmelsgötter erforschte er aus den herausgerissenen Eingeweiden: Es schreckte allein schon die Farbe den Seher; denn die blassen mit schwarzen Malen besprenkelten und durch eiskaltes totes Blut verfärbten Innereien machte unablässig bunt mit spritzendem Lebenssaft eine bleierne Farbe. Er erkennt eine von Verwesung faule Leber und sieht unglückdrohende Adern auf dem feindlichen Teil. Der ächzenden Lunge Fiber ist verborgen und eine unklare Grenzlinie trennt davon die lebengebenden Organe. Das Herz liegt still und Wundflüssigkeit stoßen durch klaffende Risse die Eingeweide heraus und die umhüllende Netzhaut gibt seine Geheimnisse preis. Und weil Unrecht sich nie folgenlos auf den Lebern gezeigt hat, – da – sieht er, daß dem Haupt der Fibern erwächst die Last eines zweiten Hauptes: Der eine Teil hängt krank und kraftlos, der andere funkelt und im schnellen Schlag rührt er die Adern übermäßig. Sobald durch diese er Schicksale von großen Übeln erfaßt hat, ruft er aus: ‚Es ist kaum Recht, Himmelsgötter, daß, was auch immer Ihr bewegt, ich den Volksscharen kundtue; ja keineswegs habe ich dir, höchster Iuppiter, günstig geopfert dieses Heilige, vielmehr sind in die Brust des erschlagenen Stiers die Unterweltgötter geraten. Das nicht zu Sagende fürchten wir, aber es wird Schlimmeres kommen als die Furcht. Die Götter mögen das Gesehene zum Glück lenken, oder es möge den Fibern nicht zu trauen sein, sondern der Begründer der Kunst, Tages, möge eben die erlogen haben.‘ Verfälschte Deutungen sang so der Tusker, die Vorzeichen verhüllend und durch große Rätselhaftigkeit verdeckend.
6.3 DER AUFBAU Der Ausschnitt von 55 Versen mit der ersten Weissagung im ersten Buch, und überhaupt der ersten Weissagung im ganzen Werk, läßt sich nach inhaltlichen Aspekten in zwei große Einheiten gliedern, denen eine kleine einleitende vorangestellt ist: In den ersten 5 Versen wird Arruns wegen der Prodigien unter Nennung seiner besonderen Kenntnisse eingeführt (584–588), es folgt ein Abschnitt von 25 Versen mit der Beschreibung von reinigenden Maßnahmen (589–613) und ein
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
weiterer von wiederum 25 Versen mit der Darstellung einer Verkündung durch Eingeweideschau (614–638).20 Der erste Hauptabschnitt über die Sühnemaßnahmen korrespondiert sachlich mit dem vorangegangenen Prodigienkatalog (526–583), der zweite Hauptabschnitt über die Eingeweideschau mit den beiden nachfolgenden Weissagungen (639– 695). Den beiden gleichgroßen Haupteinheiten von 25 Versen stehen somit in ihrem näheren Kontext jeweils zwei nahezu gleichgroße Abschnitte von 58 Versen gegenüber. Der hier untersuchte Textausschnitt über Arruns bildet die Mitte und leitet von den Prodigien zu den Weissagungen hin. Erscheint die Schlachtung zunächst noch im Zusammenhang mit Sühnemaßnahmen, die Arruns befohlen hat (589–595) und die neben den Römern im lustrum (596–604) Arruns vollzieht (605–613), verändert sich dann die Funktion des Schlachtrituals: Ist anfangs den Götterzorn zu beschwichtigen das Ziel, rückt über die Frage nach dem Grund für den Zorn (617) die Frage nach der Zukunft des römischen Volkes in den Vordergrund. So stellen sich bei der Beschau prodigienhaft ungewöhnliche Verhältnisse dar, die Arruns erschrecken (614–617). Sowohl die Organe insgesamt (618–625) als auch speziell die Leber (626–629) zeigen Negatives. Aber vor allem die Leber bietet mit dem feindlichen Leberlappen (622 hostili de parte) und den zwei Häuptern (627f.) Interpretationspotential, wer gemeint sein könnte und was dies für die Zukunft Roms zu bedeuten hat. Die Beschau der Eingeweide endet mit dem Erkennen des drohenden Bürgerkrieges und dem Verschweigen des Erkannten (630–638). 584–638
Arruns, der erste der drei Seherfiguren
584–588
Einführung des Tuskischen Sehers Arruns
5V
589–613 589–595 596–604 605–613
Prokurative Maßnahmen Befehl zu Verschiedenem und zum lustrum Sühnende Tätigkeiten der Römer im lustrum Sühnende Tätigkeiten von Arruns
25 V 7V 9V 9V
614–638 614–617 618–625 626–629 630–638
Eingeweideschau und verunklärte Ankündigung Erster erschreckender Eindruck Betrachten der Organe Betrachten der Leber Ergebnis und Verschweigen
25 V 4V 8V 4V 9V
20 Dagegen bietet ROCHE 2009, S. 341, eine völlig andere Gliederung.
insgesamt 55 V
6.4 Skizzierung des Inhalts
231
6.4 SKIZZIERUNG DES INHALTS 584– 588
Einführung des Tuskischen Sehers Arruns Nachdem in den vorhergehenden Versen die für das römische Volk bedrohliche Situation beschrieben worden ist, scheint mit dem Auftrag an den Seher Arruns eine Wende einzusetzen, denn die Römer begegnen nun aktiv durch geordnete Handlungen der chaotischen Situation. Sie entsprechen dem mos maiorum (de more vetusto), nach dem etruskische Seher (Tuscos vates) herbeigerufen werden (placuit acciri). Nach einer kurzen Vorstellung des Beauftragten Arruns – er ist der älteste der Seher, kommt aus dem Ort Luca und ist Experte in der Deutung von Blitzen, Eingeweiden und Vogelflug (585–588) – wird Arruns sogleich im Einsatz gezeigt.
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Prokurative Maßnahmen Der Wechsel von der einleitenden Vorstellung der Person (Arruns qui incoluit ... edoctus) zu seiner rituellen, der Bewältigung der Vorzeichen dienenden Tätigkeit (589 iubet) wird überbrückt durch den syntaktische Zusammenhang von Haupt- und Nebensatz inklusive Partizipialkonstruktion (585–591). Arruns befiehlt die Verbrennung der Mißgeburten (489– 591), die in dem Prodigienkatalog genannt waren (562f.),21 und dann, daß die römischen Bürger (cives) unter Leitung der pontifices ein lustrum begehen sollen (592–595).22 Vom bloßen Befehl zum lustrum geht die Darstellung fließend in die Beschreibung des Umzugs über. Außer den Pontifices und dem Volk sind verschiedene ‚gut römische‘ religiöse Institutionen23 beteiligt: Nach den leitenden Pontifices maiores sind mit turba minor die Pontifices minores bezeichnet, die nach Art der Gabiner gegürtet sind, es folgen die Vestalinnen, die Hüter der Sibyllinischen Bücher, das sind die Quindecimviri, dann die Auguren, die Epulonen, danach die Sodalen des Titius, die Salier und die Flamines. Dann wechselt der Schauplatz, doch die Zeit ist dieselbe: Im Blickpunkt steht jetzt wieder Arruns, der seinerseits bei sühnenden Aktivitäten geschildert wird: Dem rituellen Begraben von Blitzen (606–608a) schließt sich die Schlachtung eines Stieres an (608b ff.). Arruns führt einen besonders schönen Stier an die Altäre (608f.), gibt die Weinspende (608) und streut mit einem gebogenem Messer das Opfermehl auf (608–610). Das Tier widersetzt sich der Handlung (611) und muß gewaltsam von den ministri an den Hörnern niedergedrückt werden (612), ehe es kniend den
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21 LUCAN. 562f. monstrosique hominum partus numeroque modoque / membrorum, matremque suus conterruit infans – Frauen gebaren Kinder, scheußlich entstellt an den Gliedern, Grauen ergriff die Mutter beim Anblick des eigenen Säuglings. (Übers. EBENER). 22 Dagegen läßt LE BONNIEC, 1968, S. 161, die religiösen Zeremonien erst mit der anbefohlenen Prozession (V. 589) beginnen und läßt die Verbrennung der Mißgeburten außer Acht. 23 Zu den religiösen Gruppierungen s.u. S. 244.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
Hals zur Tötung hinhält. Während die Schlachtung passend zum Vorhergehenden24 hier noch im Kontext von Sühnemaßnahmen zu sehen ist, tritt im folgenden der Aspekt der Vorhersage immer deutlicher hervor. 614– 638 614– 617
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Eingeweideschau und verunklärte Ankündigung Ohne die Tötung zu schildern, werden die unmittelbaren Reaktionen nach dem Töten beschrieben, einerseits die beim Opfertier, andererseits die beim Opfernden. Dabei wird die Polarisierung durch die Farben betont, denn die Schwärze des Blutes, das aus der Wunde quillt, steht dem Weißwerden von Arruns gegenüber. Den ungewöhnlichen Befund (nec solitus) interpretiert der erschütterte Seher (attonitus) als todanzeigend (sacris feralibus) und sucht daher die Gründe, weshalb die Himmelsgötter so erzürnt sind, aus den Eingeweiden zu erkennen (617). Das Motiv von der Farbe des Blutes greift die Beschreibung dessen, was der Seher wahrnimmt, wieder auf und kommt zu den schreckenerregenden Verfärbungen (terruit color) der inneren Organe (taetris notis, pallida viscera tincta, plurimus variabat livor). Als erstes wird die Leber betrachtet, sie ist verfault (tabe iecur madidum) und unglückandrohende (minaces) Adern sind auf dem einen Leberlappen (pars hostilis) zu erkennen. Defekte an Lunge, Zwerchfell (limes), Herz, den Eingeweiden insgesamt (viscera) und dem Bauchfell (omentum) zeigen sich. Diese Anzeichen geben metaphorisch die Situation des krankenden Staatsgebildes mit den beiden Kontrahenten Pompeius und Caesar wider. Unterbrochen wird die Beschreibung durch eine vorwegnehmende Interpretation dessen, was dann erst erzählt wird: Der Blick des Sehers fällt ein zweites Mal auf die Leber (exta). Jetzt kann er die zum Körperinneren gewandte Seite betrachten, auf der das caput liegt. Das caput findet sich doppelt ausgebildet, der eine Teil ist schwächlich, der andere übertrieben aktiv. Seine vorgeschaltete Interpretation hat diesen Befund bereits als Anzeiger für ein nie folgenlos bleibendes Unrecht (nefas inpune) gekennzeichnet. Das Ergebnis der Untersuchung formuliert der Erzähler jetzt konkret als schwere Schicksale ankündigend (magnorum fata malorum). Der Seher reagiert auf das Erkannte mit einem verzweifelten Ausruf an die Himmelsgötter (superi), es könne nicht recht sein, solch ein Ergebnis mitzuteilen. Speziell Iuppiter, den höchsten Gott (summe Iuppiter), spricht er an, ihm habe er nicht litiert. Statt dessen seien die Unterweltgötter (inferni dei) am Wirken (in pectora tauri venere). Er äußert, die Menschen fürchteten das, was nicht auszusprechen sei (non fanda timemus), und setzt hinzu, daß eigentlich nicht die Furcht, sondern erst das Erleben des Be-
24 Katalog der Sühneriten: monstra urere; urbem ambire; festum lustrum; purgantes pontifices; ignes colligere et condere.
6.5 Die narrative Zeit
233
fürchteten das Bedrückende sei (sed venient maiora metu).25 Er schließt seine Rede mit den alternativen Wünschen ab, die Götter mögen noch alles zum Guten wenden (di visa secundent) oder die Methode der Eingeweideschau möge trügen. Es endet der Abschnitt mit dem Bericht über die Mitteilung an die Auftraggeber, indem Arruns das wahre Ergebnis seiner Untersuchung verschweigt und eine schwer verständliche Weissagung vortäuscht. Daß das Antwortgeben die Episode abschließt, die mit dem Auftrag an den etruskischen Seher begann, wird durch die Wiederaufnahme des Ausdrucks Tuscus (584; 637) unterstrichen.
6.5 DIE NARRATIVE ZEIT Die Analyse zu Ordnung, Geschwindigkeit und Frequenz der Erzählten hilft, die Struktur des Textes zu klären. Beginnend mit einem Rückgriff auf die Prodigien (haec propter) wird nach einem einleitenden Bild des Beschlußfassens (584 placuit) die Person Arruns im raschen Erzähltempo eines summary vorgestellt: Als seine besonderen Wissensgebiete werden die Bewegung der Blitze (motus fulminis), die Eingeweide (venae calentes fibrarum) und die mahnenden Stimmen der Vögel (monitus errantis in aere pinnae) genannt (585–588). Bei den ersten beiden Punkten, der Blitzkunde und der Eingeweideschau, schwingt der Aspekt der Vorhersage mit, während bei dem dritten der Prodigiencharakter durch monitus deutlich hervorgehoben ist. Das Stichwort der Mahnung führt vom Vorstellen der Person wieder zum Thema der Prodigien zurück. Es schließt sich das Bild an, wie Arruns seine beiden Befehle, die Prokuration der zuvor geschilderten Vorzeichen (526–583), erteilt (589–595 iubet primum ... mox iubet). Hier wechselt das Tempus vom Perfekt zum Präsens, wodurch die Wichtigkeit des Tuns hervorgehoben wird. Das Motiv der Mißgeburten bietet sich besonders an, um in einem Rückgriff auf die Wendung monstrosi hominum partus … matremque suus conterruit infans (562f.) die Betroffenheit der Bürgerschaft in Erinnerung zu rufen und an dieses eine, stellvertretend für die anderen, die Sühnehandlungen anzuknüpfen. Der erste Teil des ersten Befehlspaares ist im Passiv formuliert (monstra rapi sterili ex utero), bei dem zweiten fehlt der Subjektsakkusativ, der dem Sinn nach durch cives zu ergänzen ist (sc. cives nefandos fetus urere). Denn im ersten Teil des zweiten Befehlspaares bildet cives das logische Subjekt in einer wiederum passivischen Formulierung (totam a civibus urbem ambiri). Der zweite Teil dieses Befehls ist schließlich im Aktiv formuliert (purgantes moenia pomeria cingere pontifices). Der Hendiadyoin von moenia longa purgare und pomeria cingere betont zum einen die Wichtigkeit der pontifices, deren hervorgehobene Stellung dann auch formuliert wird (permissa potestas), und – wie auch in tota urba ambiri ausgedrückt – zum anderen die lange Dauer dieser Handlung. Mit der Reihung der 25 Ähnliches über die Furcht formuliert Tiresias gegenüber Oedipus (SEN. Oed. 587), vgl. Kap. Tiresias und Manto.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
Befehle und dem Übergang von einer passivischen Formulierung zu einer aktivischen tritt das Thema Prodigien langsam zurück und die aktive Rolle der Bürger dringt ins Bewußtsein. Auch die dominierende Rolle von Arruns, der die Befehle erteilt, wird schwächer und die leitende Funktion der pontifices zeichnet sich stärker ab. Zwischen dem Befehl des Arruns zum Stadtumgang (mox iubet ...) und der Ausführung (turba sequitur; ducit sacerdos, tum ...) liegt eine zeitliche Lücke – eine Ellipse –, die der sachliche Zusammenhang jedoch überdeckt. Ausgelassen ist das Erzählen von der Beseitigung der Mißgeburten. Die Aufzählung der verschiedenen Gruppierungen, die am Umgang beteiligt sind, konkretisiert dann das allgemeine pavidi cives und läßt das Bild einer vorbeiziehenden Menge entstehen, in der man einzelne Gruppen und Funktionsträger an äußeren Merkmalen wiedererkennt: turba minor ritu succincta Gabino (596); vittata sacerdos (597); Salius portans ancilia (603); tollens apicem flamen (604). Der langdauernde Umzug wird im raschen summarischen Erzähltempo vor Augen geführt (596–604). Nachfolgend wird in einem Zeitsprung rückwärts der Zeitraum des Stadtumgangs um die Tätigkeiten von Arruns in einer Rückblende komplettiert26 (605f. dumque illi … circumeunt Arruns …). Nach der Vorstellung der Person am Anfang wird Arruns jetzt das zweite Mal mit Namen bezeichnet, so daß er wieder in den Fokus gelangt, während die gerade Erwähnten, die die Stadt-Umziehenden in den Hintergrund rücken, aber dabei präsent bleiben. Ähnlich wie bei der Sühnung der Mißgeburten durch die Bürgerschaft gibt es auch bei der ersten Sühnehandlung von Arruns einen Rückgriff auf die Prodigien: der Kopf des Iuppiter Latiaris auf dem Albanerberg war vom Blitz zerschmettert worden (533–535 ... fulmen ... percussit Latiare caput), so daß hier inhaltlich mit dem Sühnen von Blitzen (dispersos fulminis ignis colligit) angeknüpft ist. Wie zu der als zweites genannten Tätigkeit der Bürgerschaft, dem Umzug, ist auch die als zweites genannte Tätigkeit von Arruns, die Schlachtung, nicht auf den Prodigienkatalog bezogen, sondern bietet ein neues Element. Die parallele Struktur der beiden Handlungsstränge hält das Bild von Arruns im Vordergrund mit dem Bild vom Stadtumgang im Hintergrund zusammen. Der Bericht über das Blitzebegraben wird in linearer Ordnung und in summarischem Erzähltempo gegeben (606–608 dispersos fulminis ignis colligit et terrae condit datque numen). Der Plural von dispersos ignis weist auf das Wiederholen der Tätigkeitssequenz an verschiedenen Orten (terra) hin. Dies ist mit iterativer Frequenz beschrieben. Die knappe Darstellung vermittelt Ruhe. Dagegen geht es sehr unruhig bei der Schlachtung zu (608–613), die durch tunc in linearer Ordnung angeschlossen ist. Zunächst wird durch das Heranführen des Tieres an die Altäre das Thema bestimmt (sacris admovet aris), gleich darauf gibt es einen Zeitsprung, durch iam … coeperat bezeichnet. Es läßt sich hier eine Ellipse vermuten,27 die das Verbrennen von Weihrauch übergeht. Innerhalb dieses Textes ist jedoch kein Hinweis auf den Weihrauch gegeben, sondern dieser 26 Vgl. GENETTE 1998, S. 34f., zur kompletiven Analepse. 27 Vgl. GENETTE 1998, S. 77.
6.5 Die narrative Zeit
235
Schluß ist nur im Vergleich mit anderen Darstellungen möglich. Dem Vergießen von Wein (fundere Bacchum) folgt linear das Aufstreuen des Opfermehls mit dem Kultmesser (obliquo molas inducere cultro). Etwas orientierungslos wird der Rezipient bezüglich des Handelnden in den darauffolgenden Versen gelassen, denn der Subjektswechsel von Arruns zu victima ist erst im fünften Versfuß (611) zu erkennen. Die Darstellung von der Unwilligkeit des Stieres (impatiensque diu) wirkt nach dem Zeitsprung, der die Handlung beschleunigt hatte, verzögernd. Auch die Beschreibung vom Eingreifen der ministri hat einen retardierenden Effekt. Zudem wird das neu eingeführte Personal der ministri auch erst im fünften Versfuß (612) erkennbar. Die Partizipien deposito victum in der letzten Zeile dieses Abschnitts lassen den Rezipienten weiterhin über die Situation im ungewissen bis ganz am Schluß dann die Lage geklärt wird zu victima ... deposito victum praebebat poplite collum. Die Verwirrung im Satzbau spiegelt die kaum kontrollierte Situation, das Durcheinander wider, das besteht, bis das Tier endlich getötet werden kann. Trotz der unübersichtlichen Satzführung verläuft die Handlung in linearer Ordnung. Die Weigerung des Stieres, die Unglückszeichen, die sein Innerstes birgt, preiszugeben, ist als Vorgriff mit sehr kurzer Reichweite, nämlich als Vorgriff auf das Verhalten von Arruns zu sehen, der das Erkannte nicht an die römische Bevölkerung weitergibt. Die Passage abschließend hat das Tempus vom Präsens des gesamten Abschnitts der Sühneriten (589 ff.) wieder gewechselt zur Vergangenheitsform, die in der nachfolgenden Darstellung der Eingeweideschau zunächst beibehalten wird (613 praebebat; 614 emicuit). Ausgelassen im Bericht von der Schlachtung ist zunächst das Töten selbst, hier findet sich eine Ellipse, die aber kurz darauf durch die Rückblende vulnere laxo komplettiert wird. Der neue Abschnitt beginnt mit der knappen Bemerkung nec ... solitus, bevor das Ungewöhnliche, die Färbung, dargestellt wird. Das Motiv der Farbwechsel, rot-schwarz-weiß (palluit), lenkt die Aufmerksamkeit auf Arruns, der hier ein weiteres Mal mit Namen genannt wird und damit wiederum im Fokus steht. Das sich bietende Bild ist somit aus seiner Perspektive wahrgenommen und mit nec solitus und sacra feralia schon zu Anfang von ihm zusammenfassend gewertet. Das Vorab-Ergebnis ist im raschen Tempo eines Summarys wiedergegeben (614–616). Darauf sind Ziel und Methode der weiteren Untersuchung mit iram superum raptis quaesivit in extis (617) bestimmt. In dieser Wendung kommt es zu einem Themenwechsel von der Prokuration (iram superum quaerere) zur Zukunftserkundung (raptis in extis quaerere). Die Herausnahme der Eingeweide wird hier nicht als eine Tätigkeit im Verlauf des Rituals dargestellt, sondern bildet einen Vorgriff auf, das, was im Ritual noch ausgeführt werden muß. Sie bildet, weil später dieser Vorgang nicht erzählt ist, eine kompletive Prolepse.28 Das wiederaufgenommene Motiv der Farbe (618 terruit ipse color vatem) leitet in summarischer und iterativer Beschreibung der immer wieder die Farbe
28 Zur kompletiven Prolepse GENETTE 1998, S. 48.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
wechselnden Innereien (viscera) zu den Einzelbeobachtungen über.29 Die anschließenden Beobachtungen sind wiederum aus der Perspektive von Arruns dargestellt (cernit, videt, videt). Der Tempuswechsel vom Perfekt (terruit) zum Präsens hebt das Wahrnehmen besonders hervor. Die Reihenfolge des Beschriebenen gibt die Blickführung an: Beginnend mit der Leber gleitet der Blick über verschiedene Organe und Häute (621–625) und kommt dann zur Leber zurück, wobei mit dem caput (627) jetzt der Teil, der zur Körperrückwand liegt, erwähnt ist. Das bedeutet, daß vor der Begutachtung des caputs sich eine Auslassung befindet, weil nicht erzählt ist, wie die Leber herausgenommen und umgedreht worden ist. Auf diesen Moment führt die kompletive Prolepse von der Herausnahme der Eingeweide (617). Ein Kommentar, der eingeschaltet ist (626 quodque nefas ...),30 unterbricht zudem die Handlung und überspielt, daß an dieser Stelle etwas im Bericht fehlt. Auf diese retardierende reflexive Handlungspause folgt zuletzt die Beschreibung desjenigen Zeichens, das am wichtigsten ist, nämlich das verdoppelte, metaphorisch die beiden Anführer Pompeius und Caesar bezeichnende caput (627–629).31 Die Organe insgesamt, für die die historische Ritenforschung wie zu SENECAs Oedipus großes anatomisches Interesse aufbringt, stellen metaphorisch das in Auflösung begriffene Staatsgebilde dar. Das Erwähnen einzelner Organe oder Organsegmente erlaubt eine Rollenverteilung der Figuren und Umschreibung der Verhältnisse: Wie Pompeius in dem schwachen Teil des caput zu erkennen ist (628 pars aegra et marcida pendet), umschreibt der starke Teil Caesar (629 pars micat et celeri … movet inproba pulsu). Diese Angaben bilden Rückgriffe auf die Flucht des Pompeius und das eilige Rüsten und den unbotmäßigen Vormarsch Caesars. Auch die allgemein als krank bezeichnete Leber (621 tabe iecur madidum) ist ein Bild für den in Auflösung befindlichen Staat, der, wie in hostili de parte (622) ausgedrückt, eine Bedrohung durch seine eigenen Teile erfährt. Es bildet die Umschreibung des Zwerchfells mit pravusque secat limes (623) einen Rückgriff auf Caesars Grenzübertritt am Rubikon. Die politische und militärische Untätigkeit in der Hauptstadt ist in dem still liegenden Herzen wiedergegeben; das Ausstoßen von Wundflüssigkeit ist als ein Rückgriff auf das Erzählen von den Massen, die aus Rom fliehen (465–520), zu sehen. Ein kurzer summarischer Rückgriff, der das bedrohliche Ergebnis zusammenfaßt (630 his ... concepit magnorum fata malorum), grenzt das Schauen von der Reaktion des Arruns, seinem Ausruf an die Götter, ab (631–637 exclamat ...). Das Präsens betont auch hier die Wichtigkeit. Abschließend wechselt das Tempus wieder zurück in die Vergangenheitsform (canebat). Während das Gebet im langsamen Tempo einer Szene, gekennzeichnet durch die wörtliche Rede, wiederge29 Der Lucanischen Darstellung vergleichbar ist das Motiv der Farbwechsel von Opferflammen in SENECAs Oedipus, s.u. Kap. Tiresias und Manto. 30 Die gleiche Verzögerungstechnik im Erzählstil findet sich SEN. Oed. 359. 31 In dieser Darstellung konkurrieren zwei Anführer um die Macht in ein und demselben Staat, dagegen ist das verdoppelte caput in SENECAs Oedipus zu beziehen auf den Kampf des Oedipus gegen sich selbst und nicht etwa auf den Kampf seiner Söhne, Eteokles und Polyneikes, wie traditionell interpretiert wird (s.u. Kap. Tiresias und Manto).
6.6 Die Götter
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geben ist (631–637), wird die Bekanntgabe der Deutungen in einem Summary geschildert, das durch den Plural auch die Wiederholung der Äußerungen andeutet (637f. omina .... canebat). Die Adressaten für die Mitteilung müßten der Darstellung nach jedoch direkt bei der Schlachtung fehlen, da sie ja währenddessen die Stadt umschreiten. Von daher ist zwischen dem Ausruf an die Götter und der Bekanntgabe der verfälschten Deutungen wiederum eine Auslassung zu vermuten.
6.6 DIE GÖTTER In seinem Ausruf wendet sich der Seher an die Himmelsgötter (superi) und speziell Iuppiter (632f. summe Iuppiter). Er spricht von den Unterweltgöttern (inferni dei), deren Einflußnahme nicht erwünscht ist, die aber anstelle der superi getreten sind (633). Zu fragen ist, welchen Iuppiter Arruns anredet. Hinweise könnte eine Rede Caesars geben, in der dieser ebenfalls Iuppiter anspricht.
6.6.1 Iuppiter Latiaris Durch die Anrede, die Arruns an Iuppiter richtet, wird an den Beginn der Kriegshandlungen erinnert, dem Überschreiten des Rubikon (204f.). Diesem Aggressionsakt Caesars voraus geht die Darstellung einer Erscheinung, der Personifikation Roms (186 ingens patriae trepidantis imago), die Caesar den Weg verwehrt, worauf Caesar ein Gebet an Roms Gottheiten spricht. 32
LUCAN. 1,183–205 183 Iam gelidas Caesar cursu superaverat Alpis ingentisque animo motus bellumque futurum 185 ceperat. ut ventum est parvi Rubiconis ad undas, ingens visa duci patriae trepidantis imago clara per obscuram vultu maestissima noctem turrigero canos effundens vertice crines casarie lacera nudisque astare lacertis 190 et gemitu permixta loqui: ‚quo tenditis ultra? quo fertis mea signa, viri? si iure venitis, si cives, huc usque licet.‘ tum perculit horror membra ducis, riguere comae gressumque coercens languor in extrema tenuit vestigia ripa. 195 mox ait: ‚o magnae qui moenia prospicis urbis Tarpeia de rupe Tonans Phrygiique penates gentis Iuleae et rapti secreta Quirini et residens celsa Latiaris Iuppiter Alba Vestalesque foci summique o numinis instar 200 Roma, fave coeptis. non te furialibus armis persequor: en, adsum victor terraque marique Caesar, ubique tuus (liceat modo, nunc quoque) miles. 32
Textausgabe SHACKLETON BAILEY 1988.
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205 183 185
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638) ille erit ille nocens, qui me tibi fecerit hostem.‘ inde moras solvit belli tumidumque per amnem signa tulit propere. (...) Schon hatte Caesar im Heeresmarsch die eisigen Alpen überquert und gewaltige Umstürze und zukünftige Kriege in den Sinn gefaßt. Wo er an die Wasser des kleinen Rubikons kam, schien ein gewaltiges Bild des erschütterten Vaterlandes dem Feldherrn klar mit dem Antlitz durch die dunkle Nacht, höchst traurig, vom turmtragenden Haupt die aschgrauen Locken wallend mit zerrissenem Haar und nackten Armen entgegenzutreten und mit Seufzern dazwischen zu sagen: ‚Wohin wollt ihr noch weiter? Wohin tragt ihr meine Feldzeichen, Männer? Wenn ihr berechtigt kommt, als Bürger, ist es nur bis hierher erlaubt.‘ Darauf erschütterte ein Schauder die Glieder des Feldherrn, das Haar sträubte sich und den Schritt hemmend hielt eine Mattigkeit seinen Gang eng am Fluß. Bald sprach er: ‚O, der du auf die Mauern der großen Stadt herabschaust vom Tarpeiischen Felsen, Tonans, und Phrygierpenaten der julischen Gens und Geheimnisse des geraubten Quirinus und Iuppiter Latiaris, thronend im hohen Alba, und Vestalische Herdfeuer und du, der höchsten Gottheit vergleichbar, Rom, begünstige mein Beginnen! Nicht dich greife ich mit wütenden Waffen an: Sieh, ich Caesar, siegreich zu Wasser und zu Lande, helfe, wo auch immer, (wenn es erlaubt ist, auch jetzt) als dein Soldat. Jener wird schuldig sein, jener, der mich dir zum Feind gemacht haben wird.‘ Dann beendete er den Verzug und trug durch den anschwellenden Fluß die Zeichen des Krieges eilends. (...)
Caesar bittet neben anderen den Donnerer (Tonans) auf dem Tarpeiischen Felsen und Iuppiter Latiaris, die vestalischen Herdfeuer und schließlich Rom um ihre Gunst und versichert, daß er nicht als Staatsfeind (hostis) komme, bevor er dann doch mit seinem Heer den Rubikon überquert.33 Somit verletzt er wissentlich das Recht und wendet sich wenig später einer anderen Gottheit zu, nämlich Fortuna (225f. ‚hic pacem temerataque iura relinquo / te, Fortuna, sequor‘).34 LUCAN läßt Caesar wichtige Gottheiten Roms um ihre Unterstützung bitten. Bemerkenswert ist die Anrufung des Iuppiter Tonans, denn dieser wurde in Rom zu jener Zeit nicht in einem eigenen Tempel verehrt. Erst Augustus ließ einen Tempel für Tonans am Eingang zum Kapitolhügel bauen, weil ein Blitz ihn verschont hatte.35 Da Augustus die Verehrung des Iuppiter Tonans als die eines per-
33 Ein gegenteiliges Exemplum bietet die Figur Cipus, der als Feldherr und Triumphator (victor) sich selbst als hostis bezeichnet und dann aber nicht in Rom einzieht (s.o. Kap. Cipus). 34 Vom Motiv her vergleichbar mit Atreus, der sich wissentlich von den superi abwendet (SEN. Thy. 888 dimitto superos), und vergleichbar mit Pompeius Sextus (LUCAN. 6,419 ff., bes. 430–434 ille supernis / detestanda deis saevorum feralibus aras, / umbrarum Ditisque fidem, miseroque liquebat / scire parum superos) sowie mit Erictho, die Pompeius übertrifft, indem sie sich nicht mit Bitten an die Himmlischen wendet, sondern ebenso wie Atreus diese sie fürchten läßt (LUCAN. 6,523–528). 35 Zu Iuppiter Tonans vgl. GRAF 1999c, bes. 77f.
6.6 Die Götter
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sönlichen Schutzgottes gestaltete,36 ist in der Erwähnung LUCANs sicher eine Andeutung auf die Verhältnisse unter Augustus und den Beginn der Kaiserzeit zu sehen. Es wird in der weiteren Anrufung der phrygischen Penaten und Caesars eigener gens, der gens Iulia, eine Herrscherfolge vorgezeichnet, die mit Rom verbunden ist. Auf die Nennung von Quirinus, einer der höchsten Gottheiten Roms, die auf dem Quirinal verehrt wurde und an das erste Bündnis Roms, dasjenige mit den Sabinern erinnert,37 folgt die Erwähnung von Iuppiter Latiaris, der Erinnerung an das Bündnis mit den Latinern hervorruft.38 Diesen Gottheiten eines Bündnisgedankens sind mit Vesta und Roma Gottheiten angeschlossen, die die Stadt konstituieren. Caesar ist mit seinem Gebet an Gottheiten zum Schutz der Stadt den verängstigten Bewohnern Roms voraus, so daß deren Bitte an dieselben Götter nutzlos wird. Iuppiter Latiaris ist nach dem Gebet Caesars ein weiteres Mal in dem Katalog der Prodigien aufgeführt – ein Blitz hat der Statue den Kopf abgeschlagen (533– 535 emicuit ... fulmen et ... percussit Latiare caput). Auch das Feuer der Vesta ist dort nochmals genannt.39 Beide Erwähnungen bezeichnen das Ende des Bündnisgedankens, der dem Latinischen Bund zugrunde liegt. Ein späterer Kommentar des Erzählers über das Ende der Latinischen Feiern (haud meritum Latio sollemnia sacra subacto) bestätigt diesen Zusammenhang.40 Aufgrund dieser Parallelstellen läßt sich schließen, daß in der Rede des Arruns Iuppiter Latiaris, als Gott des Völkerbundes und Garant für den Frieden unter der italischen Bevölkerung, angesprochen ist, von dem Arruns keine Zuwendung für das römische Volk erfährt. Wenn demzufolge die Darbringung des Stieres Iuppiter Latiaris gilt, ist dieser Akt auch im Heiligtum des Iuppiter Latiaris, also auf dem Albanerberg stattfindend zu denken. Dazu paßt, daß Arruns zuerst mit den Blitzgräbern beschäftigt ist, die als Folge desjenigen Unwetters aufzufassen sind, bei dem der Kopf der Iuppiter Latiaris-Statue abgeschlagen worden war. Die örtliche Entfernung, die zwischen Arruns und dem römischen Stadtumzug wahrzunehmen war (s.o. S. 234), findet mit den unterschiedlichen Ausführungsorten eine Erklärung.
36 37 38 39
MARTIN 1988, bes. S. 254f. ZIEGLER 1972, Sp. 1314f. Zu Iuppiter Latiaris vgl. GRAF 1999c, bes. 79. LUCAN. 1,549 ff. Vestali raptus ab ara / ignis, et ostendens confectas flamma Latinas / scinditur in partis geminoque cacumine surgit / Thebanos imitata rogos – Das Feuer verschwand vom Altare der Vesta, zeigte noch deutlich den Abschluß für die latinische Feier, teilte sich dann und leckte zweizüngig, den thebanischen Begräbnisfeuern ähnlich, (vgl. Übers. EBENER). 40 Vgl. GETTY 1955, ad 1,550; LUCAN. 5,400–403 nec non Iliacae numen quod praesidet Albae / haud meritum Latio sollemnia sacra subacto / vidit flammifera confectas nocte Latinas – Auch der Schutzgott des ilischen Alba, nach Unterwerfung Latiums nicht mehr würdig der heiligen Feiern, erblickte Flammen zur Nacht, das Zeichen zum Schluß des Latinischen Festes. (Übers. EBENER).
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
6.6.2 Inferni dei Anstelle von Iuppiter Latiaris zeigen ihre Anwesenheit die Unterweltgötter (634 inferni dei), Götter des Todes. Schon die Erscheinung am Rubikon, nach der Caesar die verschiedenen Gottheiten und Personifikationen anruft, weist mit ihrem Trauergestus41 (1,189) auf eine todbringende Entwicklung hin, was in dem Prodigienkatalog der Vergleich des vestalischen Feuers mit Begräbnisfeuern bekräftigt (550 ff. flamma ... Thebanos imitata rogos).42
6.6.3 Superi Die superi, die am Anfang des Prodigienkatalogs als diejenigen, die drohen, bezeichnet sind (524 superi minaces), werden korrespondierend zum Prodigienkatalog auch im Ausruf von Arruns genannt (631). Nachdem Arruns dann von den Unterweltgöttern gesprochen hat (634), richtet er seine Bitte an die Götter im allgemeinen (di visa secundent).43 Gerade das Eintreten vom Gegenteil dessen, was Arruns bei seiner Deutung erhofft (636 fibris sit nulla fides), wird zu Beginn des zweiten Buches, als sicher angegeben, indem der Erzähler, nach den drei Vorhersagen des ersten Buches, die Situation skizziert: Er nennt den Zorn der Götter (2,1 irae patuere deum), der Grund ihres Zornes und die Auswirkungen und konstatiert nochmals die Gewißheit, daß die Himmelsgötter große Verluste ankündigen (2,16f. concipiunt, quantis sit cladibus orbi / constatura fides superum).44 Die Parallelität, deutlich insbesondere im Wortgebrauch von concipere und fides, setzt sich darin fort, daß zuvor nur Arruns allein die Lage erkannt hatte (630 his ubi concepit) und sein Wissen nicht weitergeben wollte (631f. vix fas ... prodere me populis), nun aber das Ausmaß des Unglücks allgemein bekannt ist.
6.7 DIE AUSFÜHRENDEN 6.7.1 Arruns Arruns wird als der älteste der etruskischen Seher (quorum [Tuscos vates] qui maximus aevo) und aus dem Ort Luca kommend vorgestellt (584–586). Der Satz Arruns incoluit desertae moenia Lucae suggeriert, daß der genauere Herkunftsort des Etruskers angegeben wäre – so wird jedenfalls häufig interpretiert. Der Widerspruch mit Hinsicht auf die historische Realität, daß Luca zu der dargestellten
41 Vgl. LUCAN. 2,32; 37; 39. 42 S.o. Anm. 39. 43 Wahrscheinlich ist mit di, ähnlich wie im Oedipus mit superi inferique (SEN. Oed. 765f.), die gesamte Götterwelt gemeint, vgl. Kap. Tiresias und Manto. 44 LUCAN. 2,16f. „Als man erfaßt hatte, mit wie großen Verlusten für das Erdrund die Gewißheit der Himmelsgötter feststehen würde.“
6.7 Die Ausführenden
241
Zeit noch gar nicht zu Etrurien gehörte, sondern erst nach einer Verwaltungsreform unter Octavian, wird zurecht als Anachronismus gewertet.45 Zu einem besseren Verständnis der Ortsangabe in der literarischen Darstellung führt die Überlegung, was der ganze Ausdruck deserta Luca bedeutet.46 Dabei hilft wiederum eine außertextuelle Information weiter, nämlich daß Luca seit 89 v.Chr. municipium der Gallia Cisalpina war und in dieser Funktion dann auch zu Caesars Hauptquartier im Gallischen Krieg geworden war.47 Demnach hatte Caesar in Luca ein größeres Truppenkontingent stehen. Hinzu kommt der politische Aspekt, daß Caesar wenige Jahre vor dem Bürgerkrieg, im Jahre 56 v. Chr., in Luca das Triumvirat mit Pompeius und Crassus erneuert hatte.48 Der Ort Luca ist von daher als Symbol für die militärische und politische Macht Caesars aufzufassen. Wenn man den Zusammenhang mit der von LUCAN dargestellten Vorgeschichte zum Bürgerkrieg herstellt, also innertextuelle Aspekte aufzeigt, findet sich das Wort deserere mehrfach für das Abziehen von Truppen gebraucht: Es wird berichtet, daß Caesar eine gewaltiges Heer aufbringt, um gegen Rom zu ziehen (466 immensae collecto robore vires). Dazu ruft er seine Truppen von überallher zusammen: cohortes evocat ... deseruere castra (394 ff.); hi liquerunt (399); solvuntur statione Rutuli (402); petitis Romam Rhenique feroces / deseritis ripas (464f.). Diese Formulierungen legen nahe, daß mit deserta Luca gemeint ist, daß auch von dort, dem Hauptquartier Caesars, die Truppen zu seiner Unterstützung geeilt sind und Luca verlassen haben. Mit den Mitteln der zeitlichen Analyse ausgedrückt, bildet die Nennung des Ortes Luca einen Rückgriff auf das Erzählen vom Zusammenziehen der Truppen und vom Triumvirat, das auseinanderbrechen sollte (84f.).49 Die Erwähnung von Luca ruft nach dem langen Prodigienkatalog die Erinnerung an die Bedrohung durch den militärisch und politisch mächtigen Caesar wach und stellt neben die Angst aus religiösen Gründen die Angst vor dem heranrückenden Heer vor Augen. Die Ortsangabe ist daher nicht referentiell als Darstellung der historischen Wirklichkeit zu lesen50– etwa: Luca liegt zu Beginn des Bürgerkrieges in Etrurien –, sondern sie hat eine poetische Funktion, eine repetitive Funktion beim Erzählen von der militärischen und politischen Macht Caesars. 45 RAMBAUD 1985, S. 289, und 1988, S. 382. 46 Wenig erhellend interpretieren GETTY 1955 und WUILLEMIER 1962 ad loc. (denen ROCHE 2009 in Grundzügen folgt), daß Luca von den Einwohnern wegen des heranrückenden Caesar verlassen worden sei. Luca liegt jedoch nicht auf dem Weg nach Rom von dem adriatischen Ariminum (heutiges Rimini) aus, woher Caesar der Darstellung nach anrückt (1,231; 268 iam mota ducis signa), sondern weit nördlich von Rom, etwas entfernt vom thyrrenischen Meer. 47 Vgl. CIC. fam. 1,9,9. 48 Vgl. ROCHE 2009, S. 343. 49 LUCAN. 1,84–86 tu causa malorum / facta tribus dominis communis, Roma, nec umquam / in turbam missi feralia foedera regni – Du selber, Rom, verursachst das Unheil unter der Lenkung dreier Gebieter, du selbst und das bittere Bündnis der Macht, das noch niemals mehrere unter sich schlossen. (Übers. EBENER). 50 Zum Begriff des Referentiellen s. SCHMITZ 2002, S. 32, der sich darin dem Literaturtheoretiker ROMAN OSSIPOWITSCH JACOBSON anschließt.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
Viele einzelne Züge der Figur Arruns lassen sich erst bei der Untersuchung der literarischen Abhängigkeit, also im Vergleich mit anderen Texten verdeutlichen. Die Figur Arruns wird als eine Person hohen Alters beschrieben (maximus aevo Arruns). Sie gleicht darin dem Seher Tiresias in SENECAs Oedipus.51 Zweifellos ist der Seher Arruns keine historische Person, wenn auch der Name inschriftlich und historiographisch mehrfach bezeugt ist.52 Die Verwendung des oft bezeugten Namens wirkt auf jeden Fall historisierend. Als episches Vorbild findet sich in der Aeneis (VERG. Aen. 11,759–867) ein etruskischer Krieger namens Arruns aus dem Heer des Tarchon.53 Dieser Arruns tötet unter Anrufung Apollons vom Soracte (785 summe deum) Camilla, nachdem diese den Seher (vates) Chloreus getötet hatte. Und bald darauf, trotz seiner Heimlichkeit (806 exterritus Arruns ... 810 sese abdidit), wird Arruns selbst getötet. Neben der Namensgleichheit liefert diese kleine Vergilische Episode auch die Stichwörter und literarischen Motive Seher, Schrecken, Verbergen, Tarchon und die Anrede des Gottes mit summe deum. Daß der Seher bei LUCAN Etrusker ist, steht an den betonten Stellen am Anfang (qui quorum [Tuscos vates]) und am Ende des Abschnitts (Tuscus canebat), dazwischen wird er ein einziges Mal während der Eingeweideschau als vates bezeichnet (618). Die Volkszugehörigkeit scheint eher nebensächlich, könnte jedoch an das Bündnissystem aus der Gründungszeit Roms erinnern. Das Entscheidende ist wohl die Assoziation mit den speziellen Riten der etruskischen Lehre, bei deren Ausführung Arruns dargestellt wird.54 Die Bezeichnung haruspex, die naheliegend wäre für einen etruskischen Seher, findet sich jedoch nicht. Als die besonderen Wissensgebiete werden die Blitzkunde, Eingeweideschau und Vogelschau genannt.55 Arruns wird dann im weiteren Verlauf bei der Anwendung der ersten beiden Techniken dargestellt (Blitzbegraben, Eingeweideschau), nicht jedoch bei der dritten. Die Vogelschau gibt nicht wie die beiden anderen eine Vorschau auf eine spätere ausführlichere Darstellung, sondern bildet durch das Stichwort monitus einen Übergang vom Vorstellen der Person zum Beschreiben seiner aktuellen Tätigkeiten. Arruns wird bei der Erfüllung seines Auftrages geschildert, wie er zuerst Sühneleistungen befiehlt und auch selbst welche unternimmt, denen er dann die Zu-
51 Arruns gleicht darin dem Seher Tiresias (SEN. Oed. 288 Tiresia tremulo tardus accelerat genu; 297f. si foret viridis mihi / calidusque sanguis). Zudem steht der Ausdruck maximus aevo an gleicher Stelle im Vers in VERG. Aen. 11,237, wo Latinus beschrieben wird (vgl. ROCHE 2009 ad 585), der sich in einer Beratung befindet, die dem Kampf zwischen den Gruppierungen der uritalischen Bevölkerung vorausgeht, und der sich so in einer ähnlichen Lage, nämlich vor einem Krieg gegen die Verbündeten, befindet. 52 Siehe RAMBAUD 1985, S. 288f.; ROCHE 2009, ad 586. 53 Siehe RAMBAUD 1985, S. 288f. 54 Vgl. CIC. div. 1,3; VAL. MAX. 1,1,1. 55 Ähnliche Kataloge über die Tätigkeiten eines Sehers finden sich beispielsweise bei PACUV. Chryses 4,5 augurium atque extum interpretes; 5,4 ff. nam isti qui linguam avium intellegunt / plusque ex alieno iecore sapiunt quam ex suo / magis audiendum quam auscultandum censeo. – VERG. Aen. zu Helenus 3,359–361; zu Asilas 10,175–177 (s.o. Kap. Dido).
6.7 Die Ausführenden
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kunftserkundung folgen läßt. Das Ziel für die Eingeweideschau heißt zuerst iram superum quaerere (617) – das wäre also eine Ursachensuche –, das schließlich erreichte Ergebnis betrifft dagegen das Wissen um das Zukünftige, das in den Wendungen concepit fata; sed venient maiora; di visa secundent ausgedrückt ist. Bei der Schlachtung eines Stieres ist in der Hauptsache Arruns als der Ausführende dargestellt. Er führt das ausgewählte Tier an die Altäre (sacris admovet aris marem), gibt später die Weinspende (iam fundere Bacchum) und streut mit dem Messer (culter) das Opfermehl (mola salsa) über das Rind. Bei der Tötung beobachtet er, auf welche Weise das Blut aus der Wunde am Hals des Stieres fließt, Farbe und Flußgeschwindigkeit sind dabei von Bedeutung. Danach beschaut er die Lage der Innereien, beginnend bei der Leber, weiter dann die Lunge, bemerkt eine schlecht abgrenzende Haut (pravus secat vitalia limes), womit anatomisch sicher das Zwerchfell gemeint ist, darauf dann das Herz und die Häute (omenta), die schlecht abdeckend vor den Därmen liegen, womit das Bauchfell gemeint ist. Wichtig ist der Zustand der Eingeweide (saniem viscera emittunt). Zum Schluß beurteilt er an der herausgenommenen Leber, wie das caput ausgebildet ist.56 Metaphorisch läßt sich die unklare Grenzlinie (limes) als die Grenzverletzung durch Caesar verstehen. Das still liegende Herz verdeutlicht die Passivität in der Stadt Rom.57 Die zwei Häupter (626–629) stellen die Anführer Caesar und Pompeius dar, Caesar ist der starke, Pompeius der schwache Teil. Arruns traut wegen des erschreckenden Ergebnisses seiner eigenen Kunst nicht. Nach der Schau wendet sich Arruns an die Götter, bevor er sich später an seine Auftraggeber richtet, denen gegenüber er jedoch die Unwahrheit sagt (flexa omina canebat).
6.7.2 Ministri Bei der Schlachtung anwesend sind geschürzte ministri, die den angreifenden Stier bändigen und ihn in die Knie zwingen (612 cornua succincti premerent ministri; poplite deposito), so daß dieser mit einem Schnitt am Hals getötet werden kann (victum collum praebebat; vulnere laxo). Wer das Tier tötet, ist nicht dargestellt, denn das Wichtige in dieser Schilderung ist nicht, wie die Tötung vonstatten geht, sondern daß sich das Tier widersetzt (diu impatiens; non grati sacri victi-
56 Laut MORFORD 1967, S. 63, bieten Vorlagen für die detaillierte Darstellung der Eingeweide SOPH. Ant. 1005–1011; EUR. El. 810–829; SEN. Oed. 303–383. 57 In der Symbolisierung des Herzens als Hauptstadt ist eine Parallele zu SENECAs Oedipus (356 cor marcet aegrum penitus ac mersum latet) zu erkennen, wenn man meinem Vorschlag folgt und Theben als Herz interpretiert (s.u. S. 282 und S. 284f.). Doch in einer Konjektur zu LUCAN statt des überlieferten ‚fibra latet … cor iacet‘ auch in Angleichung an die OedipusStelle nun ‚cor latet‘ zu setzen, läßt die variierenden Bedeutungen einer passiv daliegenden Stadt Rom auf der einen und unerkannter Zustände in der Stadt Theben (369 non laeva cordi regio) auf der anderen Seite schwinden.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
ma).58 Durch die Einführung von ministri wird das Bild einer römischen Stadtbevölkerung erweitert. Beim Umzug wurden religiöse Amtsträger genannt, hier nun ist Funktionspersonal, allerdings ohne eine genauere Bestimmung, erwähnt.
6.7.3 Die römische Republik Auftraggeber für die Eingeweideschau ist das römische Volk und der Senat, auf dessen Beschluß (584 placuit)59 hin der Seher gerufen wird. Die Rolle der Auftraggeber erscheint zum einen durch diese dezente und zum anderen einer späten Erwähnung (632 prodere populis) sehr zurückgenommen und passiv. Es könnte eine religiöse Kritik LUCANs darin liegen, daß er die Stadtrömer Riten durchführen läßt, die keine Veränderung bringen, während doch politisches und militärisches Handeln angebracht wäre.60 Da zuvor vom Fliehen der Menschenmassen aus Rom berichtet wurde (465–520),61 wird so das Bild einer zahlenmäßig verringerten Stadtbevölkerung wiederaufgenommen. An die Stelle der staatlichen Leitung, die ihre Aufgaben kaum noch wahrnehmen kann, weil ihre Vertreter ihren Posten verlassen haben (487–489), tritt die religiöse Leitung. Die Stadtbevölkerung, denen der Stadtumgang befohlen wurde (592 tota urbs a civibus ambiri), wird repräsentiert durch die religiösen Gruppierungen, die den Stadtumgang ausführen.62 Die leitendenden Pontifices maiores sind ein senatorisches Sakralkollegium,63 die Pontifices minores, hier mit turba minor gemeint,64 gehören zu den ritterlichen Sakralkollegien.65 Die Bemerkung, daß die minores nach Art der Gabiner gegürtet seien,66 rezipiert eine Vergilische Formulierung in der Aeneis beim Ausbruch des Latiner-Krieges (7,612),67 was zum einen archaisierend wirkt und zum anderen 58 ‚Non grati‘ bedeutet ‚von den Göttern nicht gewollt‘, der Ausdruck erzeugt ein Vorwissen auf das ungünstige Ende. 59 WUILLEMIER / LE BONNIEC 1962, ad loc. 60 Eben dieses mangelnde Vermögen in politischer und militärischer Hinsicht beschreibt LUCAN. 1,486–498 (vgl. LUCK 2009, ad 486 ff.). Die Frage, ob etwa LUCAN eine Kritik an einer superstitio ausübe, beantwortet WIENER 2006, S. 154–156, verneinend. 61 LUCAN. bes. 1,470 irrupitque animos populi; 503f. sic urbe relicta / in bellum fugitur; 1,486– 498; 509 ruit irrevocabile vulgus. 519f. tu ... , Roma, / desereris; nox una tuis non credita muris. 62 Zu recht bemerkt PICHON 1912, S. 186 Anm. 3, daß nicht zu erkennen sei, auf welches Ritual sich LUCAN bezogen haben könnte, da die beschriebenen Zeremonien keine bedeutsame Einzelheit bieten. – Die beiden Ausdrücke ambire und festum lustrum weisen auf zwei verschiedene Feste hin, die hier aber nicht passen. Beim lustrum müssen die Tiere, die geschlachtet werden sollen, Schwein, Schaf und Rind (suovetaurilia), mitgeführt werden. Davon ist hier keine Rede. 63 Vgl. GORDON 2001: Nach DION. HAL. 2,73,2–3 waren die pontifices für den Erhalt der pax deorum zuständig. 64 WUILLEMIER / LE BONNIEC 1962, S. 102 ad 596; ROCHE 2009, ad loc. 65 Vgl. RÜPKE 2006, S. 217f. 66 Vgl. RUMPF 1964, Sp. 1190f.; RADKE, 1967. Sp. 651f., ROCHE 2009, ad loc. 67 ROCHE 2009, ad loc.
6.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
245
das Thema Krieg andeutet. Zudem könnte an eine Darstellung erinnert sein (DION. HAL. 4,58), wonach die Gabiner unter Tarquinius Priscus mit Rom ein Bündnis geschlossen haben, dessen Text auf einem Lederschild im Tempel des Semo Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt worden sein soll.68 Auch diese Reminiszenz wirkt archaisierend und betont wiederum den Aspekt von einstiger föderaler Einigung. Zu den senatorischen Sakralkollegien gehören auch die anschließend genannten Vestalinnen, die Quindecimviri sacris faciundis, die Auguren und die Septemviri epulones sowie die Salier und die Flamines. Die nach den Epulonen genannten Sodalen des Titius zählen ebenso zum senatorischen Stand, diese sind jedoch erst durch Augustus bedeutend geworden, da sie nach der Erneuerung dem Kaiserkult dienten.69 Wie mit der Erwähnung von Iuppiter Tonans liegt in dieser Angabe eine Hervorhebung von Augustus vor und damit ein Hinweis auf den Weg bereitenden Sieg Caesars. Anlaß für die religiösen Maßnahmen, an denen vor allem der senatorische Stand vertreten ist, sind römische Staatsprodigien. Die Betroffenen sind eine ganze Gruppierung, so daß es in dieser Darstellung keinen Protagonisten gibt, in dessen Interesse gefragt würde oder dessen persönliche Verstrickungen und Leidenschaften zu der zu bewältigenden Krise geführt hätten. Anstatt daß die emotionale Lage eines einzelnen Protagonisten dargestellt würde, finden sich hier die Emotionen der verschiedenen Seiten beschrieben – die Angriffslust und Grausamkeit Caesars auf der einen Seite und die Kriegs- und Existenzangst der kopflos fliehenden Bevölkerung, der Pompeius vorangestellt ist, auf der anderen Seite.
6.8 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Von der Eingeweideschau wird in einem das Gesamtwerk einleitenden Teil berichtet. Mit dem Vorzeichenkatalog, der den Ankündigungen der drei Figuren, Arruns, Figulus und der Matrone, vorausgeht, wird eine Spannung aufgebaut, die nach und nach aufgelöst wird: Arruns erkennt zwar den bevorstehenden Bürgerkrieg, verschweigt jedoch gegenüber dem römischen Volk seine Kenntnis. Die Ankündigungen des Astrologen Figulus und der von Phoebus inspirierten Matrone konkretisieren den Krieg bis hin zu einzelnen Schlachten. Die Eingeweideschau hat hier eine wesentlich literarisch-ästhetische Funktion im Aufbau. Denn weniger bedarf der Rezipient einer Aufklärung über den zu erzählenden Bürgerkrieg, als daß er vielmehr Zuschauer wird, auf welche Weise die römische Bevölkerung schrittweise ihr Unglück wahrnimmt. Der ganze Abschnitt über die Prodigien und Ankündigungen charakterisiert die eine der beiden Parteien, deren Anführer nach dem zerbrochenen Triumvirat Caesar und Pompeius sind, nämlich die Partei der ängstlichen Bewohner Roms, die des Pompeius. Zuvor sind wechselnd in verschiedenen Erzählblöcken die An68 UGGERI 1998. 69 SEHLMEYER 2001.
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6 Arruns (Lucan, Bellum civile 1,584–638)
hänger Caesars und die römische Bevölkerung dargestellt. Caesar wird als Anführer sehr präsent geschildert, Pompeius tritt stark in den Hintergrund, nur daß er sein Amt nicht ausführt, wird erwähnt. Das Verhalten der Mutigen, nämlich Caesar und sein immer größer werdendes Heer, ist in dem Abschnitt vor den Prodigien letztmals dargestellt. Angst und Schwäche sind die Charakterzüge, die in dem behandelten Passus, zu dem die Eingeweideschau gehört, hervorgehoben sind. Wie in Abschnitten über die Anhänger Caesars das Heer in verschiedenen Gruppierungen geschildert wurde, erfährt die Bevölkerung Roms eine Darstellung durch den Festumzug. Die einzelnen religiösen Gruppierungen zählen größtenteils zu Sakralgemeinschaften senatorischen Standes. Die Schwäche dieses Standes ist durch den Ausdruck placuit als einzige politische Aktivität des Senats bezeichnet. Eine Religionskritik könnte darin liegen, daß LUCAN die Stadtrömer langwierige Riten durchführen läßt, anstatt daß diese kurz entschlossen politisch und militärisch vorgingen. Mit dem Entschluß, einen etruskischen Seher zu holen, wird Arruns in Kenntnissen und Tätigkeiten vorgestellt, die denjenigen von haruspices entsprechen. Jedoch wird der Seher anders als in OVIDs Cipus-Episode nicht als haruspex, sondern nur ein einziges Mal als vates bezeichnet, ansonsten wird er mit Namen genannt. Die Tätigkeiten, mit denen Arruns geschildert ist, führen wie in OVIDs Cipus-Darstellung zwei Bereiche zusammen, die Prokuration und die Vorhersage, die die religionshistorische Forschung jedoch als getrennte Aufgabenbereiche von haruspices wahrnimmt. Prodigienkataloge insbesondere bei VERGIL, OVID und TIBULL, die unter den bedrohlichen Vorzeichen eine ungut verlaufende Eingeweideschau nennen, geben jedoch Anlaß, die Trennung von Prokuration und Divination zu überprüfen. Bei LUCAN findet zuerst eine Prokuration zur Besänftigung der zürnenden Götter statt (617 iram superum) und bei der Darbringung eines Stieres, die nach dem Blitzbegraben zunächst als zweite Sühnemaßnahme von Arruns erscheint, wird das Ritual mit der Angabe raptis extis (617) als Eingeweideschau zwecks Schicksalserkundung gekennzeichnet (630 concepit fata). Der eine Bereich korrespondiert mit der vorhergehenden Passage, den Prodigien, der andere mit den nachfolgenden Abschnitten von den Weissagungen. Eine lineare Darstellung des Schlachtrituals, die sich im prokurativen Abschnitt (608– 613) trotz des unübersichtlichen Satzbaus verfolgen läßt, ist mit der das neue Thema angebenden Formulierung raptis in extis unterbrochen, dem Ablauf der Tätigkeiten im Ritual vorgreifend. Beim Darstellen der noch im Körper befindlichen Eingeweide werden verschiedene Organe genannt, besonders stark wird mit Farben gespielt: Schwarz, weiß, bläulich, buntgefleckt veranschaulichen das Ungesunde; der Seher selbst wird blaß (palluit attonitus). Im Motiv des Farbwechsels ist ein Gegenstück zur regenbogenfarbenen Flamme in SENECAs Oedipus zu sehen. Als aussagekräftig ist das caput auf der Leber beschrieben. Die Interpretation, daß ein Unrecht erkannt werde (626), ist dem konkreten Befund vom doppelten caput vorweggenommen. Diese beiden Häupter stellen metaphorisch die beiden Anführer der Parteien, den starken Caesar und den schwachen Pompeius, dar, deren Verhalten zuvor mehr-
6.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
247
fach geschildert wurde. Auch weitere Detailschilderungen verschiedener Organe ließen sich als Rückgriffe auf die zuvor geschilderten Verhältnisse im auseinanderbrechenden Staatsgebilde verstehen. Die Darbringung, bei der die Eingeweideschau stattfindet, scheint Iuppiter Latiaris auf dem Albanerberg zu gelten. Da der Gott zuvor schon von Caesar um Beistand gebeten wurde, ist von diesem keine Zustimmung zu erreichen. Der Stier, der geschlachtet werden soll, weigert sich; sein Inneres gibt dann todbringende Verhältnisse preis. Daß anstelle von Iuppiter die Unterweltgötter (inferni dei) ihre Präsens zeigen, ist von Arruns am ehesten in einem übertragenen Sinn gemeint. Wie der Stier sich weigert, die schlechten Prognosen offenbar werden zu lassen, so verweigert auch der Seher die Bekanntgabe. Bei den die Tötung vorbereitenden Handlungen, dem Weinguß, dem Aufstreuen von mola salsa und dem culter-Strich sind außer dem Widerstreben des Stieres keine weiteren prodigienhaften Ungewöhnlichkeiten dargestellt. Das spezielle, von den Vestalinnen hergestellte Opfermehl und die Geste adaptieren römische Kultverhältnisse. Ministri als Funktionspersonal bilden einen Platzhalter für das römische Volk, das in dieser literarischen Darstellung anscheinend nicht anwesend ist, sondern einen Stadtumgang vollführt. Eine Prophetie erfolgt aus der Eingeweideschau genau genommen nicht, da Arruns sein Wissen verschweigt.
7 TIRESIAS UND MANTO (SENECA, OEDIPUS 291–402) EINFÜHRUNG Eine Analyse der Eingeweideschau in SENECAs Oedipus erfolgt in einer Forschungslage, die in wichtigen Fragen uneins ist. Sie soll daher kurz skizziert werden. Inwieweit die Philosophie SENECAs in seine Dramen Eingang gefunden hat, ist eines der in der Forschung relevanten Themen.1 Vielleicht sind mit der philosophischen Frage nach dem Schicksal einerseits und der auf Moral zielenden Darstellung der menschlichen Affekte andererseits die Dramen in unpassender Weise polarisiert:2 Das Drama Oedipus gilt als eines der Fatumsdramen, denen die Leidenschaftsdramen gegenübergestellt werden.3 Man begreift die Dramen insgesamt, wie Tragödie überhaupt, als Oppositionsliteratur, dabei ist strittig, ob sie eher als moralische oder als politische Opposition zu gelten habe.4 Insbesondere im Oedipus sieht man politische Anspielungen auf die Verhältnisse am Kaiserhof, die mit dem von Nero befohlenen Mord an seiner Mutter Agrippina und den Inzestgerüchten Orientierungspunkte zu einer Spät-Datierung bieten.5 Ein wichtiges, in der Forschung viel diskutiertes Thema ist die praktische Umsetzung der Dichtung, ob die Dramen, und in diesem Fall der Oedipus, als Lesedrama, Rezitationsdrama oder Bühnenwerk gedacht waren.6 Bei der Frage, ob die Tragödie Oedipus aufgeführt oder auch nur veröffentlicht worden ist, muß jedenfalls auch die politische Atmosphäre am Kaiserhof bedacht werden. Für die technische Aufführbarkeit ist insbesondere das extispicium ein entscheidendes Element mit der Frage, ob denn eine Schlachtung auf der Bühne stattgefunden hat oder ob dem Zuschauer von Ereignissen, die vorgeblich hinter der Bühne ablau1
2 3 4 5 6
Zur Themenbreite vgl. CANCIK 1974, S. 251; zum Oedipus bes. S. 257f.; zur Philosophie beispielsweise TANNER 1985; LEFÈVRE 1985b; zum möglichen Bezug auf Neros Erziehung SCHUBERT 1998, S. 174–212. CANCIK 1974, S. 255. Vgl. beispielsweise MÜLLER 1953, S. 460; zur Forschungsgeschichte über SENECAs Tragödien im allgemeinen HILTBRUNNER 1985; insgesamt vgl. ANRW II, 32,2 (1985). Beispielsweise LEFÈVRE 1985a, bes. S. 1250–1252. Vgl. bes. LEFÈVRE 1985a, S. 1258–1260; ausführlich GREWE 2001, S. 8–35. Einen Überblick zu diesen Fragen bieten beispielsweise BIEBER 1953; ROZELAAR 1976, S. 486–488, HILTBRUNNER 1985, S. 984 ff.; TÖCHTERLE 1994, S. 38–44; DAMM 2006, S. 188– 191; die Details im Oedipus diskutiert AYGON 2006. Als Bühnenwerk beurteilen den Oedipus beispielsweise ROZELAAR 1976, S. 514f.; ROSENMEYER 1993; TÖCHTERLE 1994, S. 39; HOLLINGSWORTH 2001, S. 140 ff; AYGON 2006. Für ein Rezitiationsdrama plädieren beispielsweise ZWIERLEIN 1966, S. 24f.; MASTRONADE 1970, bes. S. 314; KUGELMEIER 2007, S. 101–103, bes. S. 141; HABERMEHL 2008 (Rez. KUGELMEIER 2007). Für nur teilweise nicht spielbar hält die Eingeweideschau FITCH 2000, S. 9–11; klar für die Bühnenwirksamkeit sämtlicher Stücke spricht sich VON ALBRECHT 1994, S. 937, aus.
7.1 Einleitende Skizzierung des Inhalts bis zur Eingeweideschau
249
fen, nur berichtet wird. Untersuchungen, die sich mit einer möglichen Aufführung befassen, treffen sich mit dem Interesse an der Abbildung einer Wirklichkeit mit der religionshistorischen Frage nach dem Personal im Ritus: Während die dramaturgische Praxis eine Umsetzung des literarisch Dargestellten in die Realität der Bühne sucht, fragt die historische Forschung nach einer literarisch abgebildeten Wirklichkeit der römischen Umwelt. Der Aufführbarkeit dieses Dramas widmet sich eine Untersuchung, in der speziell die Passage zur Eingeweideschau im Detail diskutiert wird.7 Wenig Beachtung gefunden haben neuere Ansätze in der Literaturtheorie, die die Erzählperspektive im Drama thematisieren und damit die klassische Unterscheidung von narrativen und dramatischen Texten aufheben.8 Unter dem beide Formen einschließenden Begriff einer geschehensdarstellenden Literatur lassen sich die rituellen Handlungen, mit denen Manto befaßt ist, betrachten. Die Möglichkeit zu einer Datierung dieser Tragödie bietet die hier untersuchte Passage wegen der evidenten Ähnlichkeit mit der extispicium-Darstellung LUCANs (1,584–638).9 Die Forschung ist jedoch uneins in der Frage, ob der jüngere LUCAN sich an den Werken seines Onkels SENECA orientiert und dessen Vorgaben in origineller Weise verarbeitet hat oder ob SENECA von den neuen Ideen seines Neffen profitierte.10 Von der Biographie SENECAs her sieht man zwei Phasen als mögliche Abfassungszeit seiner Dramen insgesamt, nämlich die Zeit seines Exils auf Korsika in den Jahren 41 bis 49 n. Chr. oder erst später, nachdem SENECA, anfänglich zur Erziehung von Nero, am Kaiserhofe tätig geworden war und sich später, wohl Anfang des Jahres 62 n. Chr., von seinen Tätigkeiten dort zurückgezogen hatte.11 Für eine Abhängigkeit von LUCAN käme nur diese spätere Phase in Betracht. SENECAs Darstellung einer Eingeweideschau in ihrer Qualität als historische Quelle zu bewerten ist dringend erforderlich, denn sie wird als Beleg für eine historische Eingeweideschau genutzt – an die Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau sei erinnert.12 So findet sich die Meinung, der Abschnitt stelle neben dem verwandten bei LUCAN die ausführlichste Beschreibung eines extispicium dar und diene als wichtige Quelle zur Rekonstruktion der etruskischen Disziplin.13 Diese Darstellung ist mit Blick auf die forschungsge7 8 9 10
11 12 13
AYGON 2006. Vgl. KORTHALS 2003; MUNY 2008. Zur klassischen auf Goethe rekurrierenden Trias von Epos, Drama und Lyrik vgl. KORTHALS 2003, S. 33. S.o. Kap. Arruns. Ist nicht auch denkbar, daß die beiden Autoren sich nach Manier rhetorischer Schulung die Eingeweideschau als Thema ausgewählt haben und dieses wie in einer Übung verarbeiten? Eine entsprechende Variation eines Themas sieht SCHMITZ 1993, S. 90–115, in den Sonnenfinsternissen im Thyestes SENECAs. Vgl. ABEL 1985, S. 694 ff. zu den Lebensdaten, zur Datierung der Werke, bes. S. 703f. Anm. 438, sowie DINGEL 2009, S. 43–66. Siehe Kap. 1. Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 352 ff; WALTER 1975, S. 46–53, stellt mit dem Interesse an Historisch-Römischem in seiner Arbeit zu Senecas Tragödien als Belege Oed. 299–400 und Thy. 681 zusammen.
250
7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402)
schichtliche Bedeutung völlig richtig, doch von der Sache her höchst problematisch – wie sich eben auch in der Forschungsgeschichte widerspiegelt. Zu Recht wird von anderer Seite die Belegkraft der Darstellungen von LUCAN und SENECA zurückgewiesen, jedoch ohne daß die Plausibilität dieser Behauptung ausgeführt ist, was ja auch nicht Ziel der dortigen Untersuchung war.14 Allegorische Deutungen der Eingeweideschau, die einen hohen Grad an Literarizität der Darstellung aufzeigen, sind vielfach vorgetragen worden, man stützt sich noch heute vor allem auf die Ausgaben von THOMAS FARNABY (ca. 1575– 1647) aus dem Jahre 1613 (und später).15 Bei den Auslegungen wird unterschiedlich verfahren: Zum einen interpretiert man textimmanent, zum anderen auch intertextuell und zum dritten bezogen auf die historische Gegenwart, nämlich in Übertragung auf die Verhältnisse am Kaiserhof. Die Diskussion über moralischpolitische Bezüge soll hier aber weitgehend unberücksichtigt bleiben. Die große Ähnlichkeit der Darstellungen von LUCAN und SENECA hat die Forschung dazu verleitet, für beide dieselbe Interpretationsrichtung einzuschlagen. Jedoch wird dieses Vorgehen der Darstellung SENECAs nicht gerecht, weil zu wenig textimmanent interpretiert wird. Insbesondere sieht man in beiden Darstellungen einen Bruderkrieg thematisiert, was für LUCANs Bürgerkrieg zutrifft, jedoch für SENECA zu einer unangemessenen Interpretation führt, die die Eingeweideschau an entscheidenden Stellen auf den Mythos vom Kampf zwischen den beiden OedipusSöhnen Eteokles und Polyneikes bezieht.16 Deshalb soll hier eine textimmanente Interpretation vorrangig sein, die die Vorkommnisse im Ritual zum Schicksal der Protagonisten in Beziehung setzt. In Frage zu stellen ist auch die Annahme, die Länge oder Ausführlichkeit der literarischen Beschreibung seien Garant für die Historizität der Angaben zum Ritus. Detailreichtum muß aber nicht notwendig auf eine genaue Abbildung der historischen Umwelt des Verfassers schließen lassen. Die Frage nach der Datierbarkeit dieser Darstellung ist wiederum schwerlich zu beantworten. Wie schon in den vorhergehenden Darstellungen muß man davon ausgehen, daß sich der Verfasser beim Beschreiben einer Eingeweideschau auf eine Form des Rituals stützt, wie sie zu seiner Zeit bekannt war. Aber weil hier der Schauplatz des Geschehens nicht Rom, sondern das griechische Theben ist und noch dazu in mythologischer Zeit liegt, kann der Verfasser sich durchaus Freiheiten in der Darstellung erlauben und mit Verfremdungen arbeiten. Was eine ‚sakrale Terminologie‘ betrifft, die in der kritisierten Hypothese einer etruskisch-römischen Dichotomie für relevant gehalten wurde, so scheint sie allein in zwei Aspekten auf: Zum einen ist ein fibra rapere (391), das Herausnehmen der Eingeweide, erwähnt, was für einen etruskischen Ritus in Anspruch genommen wurde.17 Zum anderen verwiese die detaillierte Beschreibung von 14 CANCIK-LINDEMAIER 2000, S. 63 Anm. 20: „Die dramatischen Szenen bei Lucan und Seneca aber schildern gerade nicht ein römisches Normalopfer, sondern prodigiös übersteigerte Divination.“ 15 Beispielsweise PRATT 1939, S. 93 Anm. 207: L. et M. Annaei Senecae Tragoediae, Padua 1659. 16 Vgl. FARNABY 1613, S. 94, u.ö. (321f. sed ecce pugnax ignis in partes duas / discedit). 17 S.o. bes. Kap. 1.2 zur zweiten These.
7.1 Einleitende Skizzierung des Inhalts bis zur Eingeweideschau
251
mehreren Organen entsprechend der Hypothese auf eine ‚ursprünglich römische Form‘.18 Weitere Elemente, die nach der Hypothese einen römischen oder einen etruskischen Ursprung indizierten, finden sich nicht: keine litatio, kein haruspex, keine Befragung mit consulere oder inspicere exta, nicht einmal eine Vorhersage. Vor allem die große Anzahl an beobachteten Organen und die Übereinstimmung mit der Darstellung LUCANs ist als Ursache für die starke Inanspruchnahme dieser SENECA-Passage als Beleg für eine historische Eingeweideschau zu sehen. Eigens zu der Passage der Eingeweideschau in diesem Drama und ihrer Bedeutung als historische Quelle ist in den letzten Jahren ein Aufsatz erschienen, der jedoch in einer Gesamtdarstellung über ‚Magie‘ fehlplatziert erscheint.19 Daß der eigentliche Text des Aufsatzes verhältnismäßig kurz ausfällt, jedoch die Anmerkungen, die im wesentlichen aus einer Materialsammlung bestehen, extrem viel Raum beanspruchen, zeigt, daß sich das Thema mit dem dort vorfindlichen Ansatz offenbar nicht bewältigen läßt, und zeigt, wie dringend notwendig im allgemeinen eine neue systematische Bearbeitung ist, in der die Forschung vor allem grundsätzliche Fragen wie das Verhältnis von ‚Divination‘ und ‚Magie‘ und Vermischung von Religionen angehen muß. Die Schwierigkeiten, die der Forschungsstand widerspiegelt, sind im ersten Kapitel der hier vorliegenden Arbeit verdeutlicht worden. In der hier vorgesehenen literarischen Analyse ist eine Beantwortung von Fragen zum Ritus zunächst über die klassischen Mitteln der Textbeobachtung zu erreichen: Nach einer einleitenden Skizzierung des Inhalts verschaffen Textwiedergabe, Übersetzung und eine Gliederung den Überblick über das Kerngeschehen. Knapp sollen motivische Vorlagen und Tradition beschrieben werden. Der weitere Kontext zur Eingeweideschau wird hier nicht in einem eigenen Abschnitt dargestellt, sondern ergibt sich aus einer knappen Inhaltsangabe und den Untersuchungen zum literarischen Personal und zur zeitlichen Darstellung. Insbesondere bietet die Darstellungsbreite im Drama die Möglichkeit zu einer eingehenden textimmanenten Interpretation der einzelnen Züge, auf die im Ritus angespielt wird.
7.1 EINLEITENDE SKIZZIERUNG DES INHALTS BIS ZUR EINGEWEIDESCHAU Oedipus, seit beinahe zehn Jahren König in Theben (783b decima iam metitur seges), resümiert zu Beginn des Dramas seine Situation (1–81).20 Er war, so erfährt man etwas später aus seinem Dialog mit Iokaste (81–109), nach einem unaufge18 SCHILLING 1962, S. 1373; PFIFFIG 1975, S. 120; dazu s.o. Kap. 1.2 zur vierten These. 19 CAPDEVILLE 2000, fehlplatziert auch nach den Bemerkungen des Autors selbst: „Il n’ est pas facile de parler de magie chez les Étrusques“ (S. 119); „C’est ce rituel, dans son essence propre divinatoire et non magique“ (S. 126); und fehlplatziert nach dem zum Titel „La Magie de Manto“ nicht passenden und irreführenden Motto, denn das Stichwort carmen magicum (Oed. 561–563) bezieht sich nicht auf die Eingeweideschau, an der Manto beteiligt ist, sondern auf die anschließende Nekromantie, die allein Tiresias ausführt. – Jetzt zur Magie OTTO 2011. 20 Zum Auftrittsmonolog vgl. KUGELMEIER 2007, S. 114.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402)
klärten gewaltsamen Tod des früheren Königs Laius von Kreon, dem Bruder der verwitweten Königin Iokaste, zum neuen König in Theben und auch Ehemann der Iokaste bestimmt worden. Das Verdienst des Oedipus für diese scheinbar zufällige Karriere (14 in regnum incidi) war, daß dieser die Stadt von der Bedrohung durch die Sphinx befreien konnte, indem er ihr Rätsel löste (92–105). Jedoch gerade in dem scheinbar zufälligen Umstand, daß Oedipus von seinem Zuhause aufbrach und sein Weg ihn schließlich nach Theben führte, verwirklichte sich ein Konflikt, dem Oedipus doch gerade zu entkommen suchte: Ihm war durch einen delphischen Spruch vorhergesagt, er werde seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten. Deshalb hatte er seine vermeintlichen Eltern verlassen (15–22) und war dann ohne gegenseitiges Erkennen den wirklichen Eltern begegnet, wodurch die Vorhersage zur Erfüllung kam. Oedipus glaubte sich lange Zeit dem angekündigten Schicksal entronnen, weil er nicht den Thron seines (Zieh)-Vaters eingenommen und nicht seine (Zieh)-Mutter geheiratet hat. Da nun die Pest in seinem Herrschaftsgebiet wütet, ihn aber verschont (31 mihi parcit uni), vermutet er ein Zeichen Apollons, das ihm Unglück bedeutet (31 cui reservamur malo) und ihn als einen Schuldigen bezeichnet (34 scilicet Phoebi reus) (28–36). Als Mittel, sein Volk von der Seuche zu befreien, scheint ihm angemessen, das Herrschaftsgebiet wieder zu verlassen (75–81). Soweit seine Reflexionen. Gegenwärtig erwartet er einen Rat vom delphischen Orakel (108f.), das Kreon aufsucht, wie erst später, mit Beginn des zweiten Aktes, zu erfahren ist (202–211). Inzwischen beschreibt das erste Chorlied (110–201) das Hinsiechen der Menschen, Haustiere und Wildtiere Thebens sowie die Dürre im Lande. Sogar Auswirkungen auf die Totenwelt werden dargestellt. Abschließend sind die Anzeichen und das Pathologische der Pesterkrankung beschrieben. Der zweite Akt beginnt mit der Rückkehr Kreons aus Delphi. Doch die Antwort der Sibylle, die Kreon überbringt (212–238), ist teilweise undeutlich (212 responsa dubia; 214f. arcana tegere): Gefordert ist, daß der Mord am früheren König mit Verbannung gesühnt wird (217 caedem expiari regiam exilio). Wer aber der Mörder ist (221f.), ist nur verschlüsselt in den Worten der Pythia wiedergegeben. Trotz seiner Befürchtungen erkennt Oedipus jedoch sein eigenes vergangenes Schicksal, das in der Prophezeihung beschrieben ist, nicht, und er leistet einen Eid, daß er den Täter ausfindig machen will, und welche Strafen dieser erfahren soll (247–273). Mit diesem Schwur spricht Oedipus, ohne es zu wissen, eine Selbstverfluchung aus.21 Noch während er sich dann bei Kreon über die näheren Todesumstände des Ermordeten erkundigt, erscheint der greise und blinde Apollonpriester Tiresias, den seine Tochter Manto helfend begleitet (288–290). Diesen bittet Oedipus, die unklare Orakelauskunft zu verdeutlichen (responsa solve, 291f.),22 und Tiresias schlägt zunächst eine Eingeweideschau vor. 21 In der Selbstverfluchung besteht Ähnlichkeit mit Didos Eid (VERG. Aen. 4,24–27), s.o. Kap. Dido. 22 Auf den Begriff responsum, der im Sinne eines Gutachtens über religiöse Angelegenheiten aufzufassen ist, wurde im vorhergehenden bereits hingewiesen (s.o. Kap. 2.3 zu CLAUD. DON. Aen. 4,64).
7.2 Text und Übersetzung
253
Die Eingeweideschau ist nach der Orakelbefragung durch Kreon das zweite Divinationsverfahren, das zur Klärung des Problems eingesetzt wird. Doch zu einem Erkennen des Schuldigen kommt es auch hierdurch nicht. Erst in einem weiteren, dritten Schritt gibt in einer von Tiresias ausgeführten Nekromantie der Totenschatten des Laius den Namen seines Mörders an, so daß eigentlich jegliche Zweifel, wer den Mord mit Verbannung zu sühnen hat, ausgeräumt sein müßten (530–658).
7.2 TEXT UND ÜBERSETZUNG SEN. Oed. 291–402 (im zweiten Akt) 291
295
299 300
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OEDIPUS: Sacrate diuis, proximum Phoebo caput, responsa solue; fare, quem poenae petant. TIRESIAS: Quod tarda fatu est lingua, quod quaerit moras haut te quidem, magnamime, mirari addecet: uisu carenti magna pars ueri latet. sed quo uocat me patria, quo Phoebus, sequar: fata eruantur; si foret uiridis mihi calidusque sanguis, pectore exciperem deum. Appellite aris candidum tergo bouem curuoque numquam colla depressum24 iugo. Tu lucis inopem, gnata, genitorem regens manifesta sacri signa faticidi refer. MANTO: Opima sanctas uictima ante aras stetit. TIRESIAS: In uota superos uoce sollemni uoca arasque dono turis Eoi extrue. MANTO: Iam tura sacris caelitum ingessi focis. TIRESIAS: Quid flamma? largas iamne comprendit dapes? MANTO: Subito refulsit lumine et subito occidit. TIRESIAS: Vtrumne clarus ignis et nitidus stetit rectusque purum uerticem caelo tulit et summam in auras fusus explicuit comam? an latera circa serpit incertus uiae et fluctuante turbidus fumo labat? MANTO: Non una facies mobilis flammae fuit: imbrifera qualis implicat uarios sibi Iris colores, parte quae magna poli curuata picto nuntiat nimbos sinu (quis desit illi quiue sit dubites color), caerulea fuluis mixta oberrauit notis, sanguinea rursus; ultima in tenebras abit.
23 Wortlaut bis auf wenige Ausnahmen nach ZWIERLEIN 1986; Absätze von der Verf. 24 Obwohl in sämtlichen Handschriften depressum überliefert ist, übernimmt ZWIERLEIN entgegen seiner früheren Auffassung hier die Konjektur depressam mit Blick auf eine später genannte iuvenca (341f.). Tatsächlich liegt ein Problem darin, daß die Anzahl der dargebrachten Tiere nicht ganz klar erscheint, dazu s.u. S. 277.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402) sed ecce pugnax ignis in partes duas discedit et se scindit unius sacri discors fauilla – genitor, horresco intuens: libata Bacchi dona permutat cruor ambitque densus regium fumus caput iposque circa spissior uultus sedet et nube densa sordidam lucem abdidit. quid sit, parens, effare. TIRESIAS: Quid fari queam inter tumultus mentis attonitae uagus? quidnam loquar? sunt dira, sed in alto mala; solet ira certis numinum ostendi notis: quid istud est quod esse prolatum uolunt iterumque nolunt et truces iras tegunt? pudet deos nescioquid. Huc propere admoue et sparge salsa colla taurorum mola. placidone uultu sacra et admotas manus patiuntur? MANTO: Altum taurus attolens caput primos ad ortus positus expauit diem trepidusque uultum obliquat et radios fugit. TIRESIAS: Vnone terram uulnere afflicti petunt? MANTO: Iuuenca ferro semet opposito induit et uulnere uno cecidit, at taurus duos perpessus ictus huc et huc dubius ruit animamque fessus uix reluctantem exprimit. TIRESIAS: Vtrum citatus uulnere angusto micat an lentus altas irrigat plagas cruor? MANTO: Huius per ipsam qua patet pectus uiam effusus amnis, huius exiguo graues maculantur ictus imbre; sed uersus retro per ora multus sanguis atque oculos redit. TIRESIAS: Infausta magnos sacra terrores cient. sed ede certas uiscerum nobis notas. MANTO: Genitor, quid hoc est? non leui motu, ut solent, agitata trepidant exta, sed totas manus quatiunt nouusque prosilit uenis cruor. cor marcet aegrum penitus ac mersum latet liuentque uenae; magna pars fibris abest et felle nigro tabidum spumat iecur, ac (semper omen unico imperio graue) en capita paribus bina consurgunt toris; sed utrumque caesum tenuis abscondit caput membrana latebram rebus occultis negans. hostile ualido robore insurgit latus septemque uenas tendit; has omnis retro prohibens reuerti limes oblicus secat. mutatus ordo est, sed nil propria iacet, sed acta retro cuncta: non animae capax
7.2 Text und Übersetzung
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in parte dextra pulmo sanguineus iacet, non laeua cordi regio, non molli ambitu omenta pingues uisceri obtendunt sinus: natura uersa est; nulla lex utero manet. Scrutemur, unde tantus hic extis rigor. quod hoc nefas? conceptus innuptae bouis, nec more solito positus alieno in loco, implet parentem; membra cum gemitu mouet, rigore tremulo debiles artus micant; infecit atras liuidus fibras cruor temptantque turpes mobilem trunci gradum, et inane surgit corpus ac sacros petit cornu ministros; uiscera effugiunt manum. neque ista, quae te pepulit, armenti grauis uox est nec usquam territi resonant greges: immugit aris ignis et trepidant foci. OEDIPUS: Quid ista sacri signa terrifici ferant, exprome; uoces aure non timida hauriam: solent suprema facere securos mala. TIRESIAS: His inuidebis quibus opem quaeris malis. OEDIPUS: Memora quod unum scire caelicolae uolunt, contaminarit rege quis caeso manus. TIRESIAS: Nec alta caeli quae leui pinna secant nec fibra uiuis rapta pectoribus potest ciere nomen; alia temptanda est uia: ipse euocandus noctis aeternae plagis, emissus Erebo ut caedis auctorem indicet. reseranda tellus, Ditis implacabile numen precandum, populus infernae Stygis huc extrahendus: ede cui mandes sacrum; nam te, penes quem summa regnorum, nefas inuisere umbras. OEDIPUS: Te, Creo, hic poscit labor, ad quem secundum regna respiciunt mea. TIRESIAS: Dum nos profundae claustra laxamus Stygis, populare Bacchi laudibus carmen sonet. OEDIPUS: Du den Göttern geweihtes Haupt, der dem Phoebus am nächsten, die Auskünfte enträtsele; sag an, wen die Strafen fordern. TIRESIAS: Daß meine Zunge zu reden zögert, daß sie Aufschub sucht, darüber dich zu wundern, Großmütiger, ziemt dir nicht: einem der Sicht Entbehrenden bleibt ein großer Teil der Wahrheit verborgen. Doch wohin mich die Vaterstadt, wohin Phoebus ruft, dahin will ich folgen: die Schicksalssprüche sollen erforscht werden; wenn ich jugendliches und warmes Blut hätte, wollte ich in meiner Brust den Gott empfangen. Rind treibt zu den Altären mit weißem Rücken und dessen Nacken noch kein gekrümmtes Joch niederdrückte. Du meine Tochter, des lichtberaubten Erzeugers Lenkerin, melde die sicheren Zeichen des schicksalverkündenden Opfers.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402) MANTO: Ein herrliches Opfertier ist vor den heiligen Altären aufgestellt. TIRESIAS: In den Gelübden rufe die Himmlischen mit feierlicher Stimme und häufe die Altäre mit der Gabe Eoischen Weihrauchs an. MANTO: Schon habe ich Weihrauch auf die geweihten Herde der Himmlischen getan. TIRESIAS: Was ist mit der Flamme? Hat sie schon die reichen Opfergaben erfaßt? MANTO: In plötzlichem Aufleuchten erstrahlte sie und erstarb plötzlich. TIRESIAS: Stand das Feuer klar und glänzend und erhob es aufrecht den klaren Scheitel zum Himmel und entfaltete es, in den Lüften sich ausbreitend, zuoberst den Feuerstrahl? Oder schlängelt es sich seitwärts ungewiß des Weges und schwankt getrübt von schwelendem Rauch? MANTO: Nicht nur eine Form hatte die bewegte Flamme: gleichwie regenbringend sich in vielen Farben Iris hüllt, die an einen großen Himmelsbezirk sich wölbend mit ihrem bunten Bogen Unwetter anzeigt – man ist ungewiß, welche Farbe ihr fehle oder welche da sei –, so flackerte die Flamme blau vermischt mit gelben Sprenkeln, dann wieder blutrot; zuletzt geht sie ins Finstere. Doch da, kampflustig teilt sich das Feuer in zwei Teile und zwieträchtig spaltet sich des nur einen Opfers glimmende Asche – Vater, ich erschaudere, da ich es sehe: nach dem Libieren wandeln sich die Bacchus-Gaben in Blut und dichter Rauch umwallt des Königs Haupt und sitzt noch träger rings um seine Augen und hat ihm in dichter Wolke das schmutzige Licht entzogen. Was es bedeuten soll, Vater, sag an. TIRESIAS: Was soll ich sagen, zwischen den Erregungen des bestürzten Sinnes schwankend, was denn sprechen? Es sind unheilvolle, noch in der Tiefe liegende Übel; man sagt, der Zorn der Himmelsmächte offenbart sich in sicheren Zeichen: was ist es, das sie ans Licht bringen wollen und wiederum nicht wollen, und warum verbergen sie ihren grimmigen Zorn? Die Götter erfüllt mit Scham, ich weiß nicht was. Hierzu komm eilends: und bestreue mit gesalzenem Opfermehl die Hälse der Rinder. Dulden sie willig die heiligen Riten und die an sie gelegten Hände? MANTO: Hoch sein Haupt ein Stier erhebend und nach Osten, zum Tagesbeginn gerichtet, schreckte er vor dem Tag zurück und angstvoll wendet er den Blick und flieht die Sonnenstrahlen. TIRESIAS: Und fallen sie zu Boden mit nur einer Wunde? MANTO: Eine Jungkuh drängte sich selbst in das erhobne Eisen und fiel mit nur einer Wunde; der Stier jedoch, der zwei Hiebe erlitt, rast unschlüssig hierhin und dorthin und preßt erschöpft den kaum noch dagegen ringenden Lebensatem aus. TIRESIAS: Schießt schnell das Blut aus schmaler Wunde hervor oder sickert es nur langsam in die tiefen Verletzungen ein? MANTO: Ihr ergoß sich ein Blutstrom auf eben dem Wege, wo die Brust klafft, seine schweren Hiebe werden von einem spärlichen Geriesel befleckt; doch zurückgewendet kehrt viel Blut über Maul und Augen wieder.
7.2 Text und Übersetzung
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TIRESIAS: Es künden ungünstige Opfer große Schrecken an. Doch melde uns die Zeichen sicher aus den Eingeweiden. MANTO: Vater, was ist das? Nicht in leichter Bewegung, wie gewöhnlich, zittern die rege gemachten Eingeweide, sondern die ganzen Hände erschüttern sie und frisches Blut spritzt hervor aus den Adern. Das kranke Herz ist kraftlos und bleibt im Innersten versunken und bleifarbig sind die Adern; ein großer Teil fehlt den Fibern und von schwarzer Galle schäumt die verwesende Leber und – für ein einziges Reich immer ein schwerwiegendes Omen – da, zwei Häupter erheben sich auf gleich starken Wülsten; aber von einander getrennt verbirgt jeden dieser Häupter eine nur dünne Haut, ein Versteck den verborgenen Dingen verweigernd. Die feindliche Seite erhebt sich mit starker Macht, und spannt sieben Adern aus; diese alle durchschneidet quer eine Grenze, die sie zurückzukehren hindert. Verworren ist die Ordnung, nichts liegt an seinem Platz, sondern alles ist verdreht: nicht des Lebensatems fähig liegt auf der rechten Seite die Lunge bluterfüllt, nicht gehört dem Herzen der linke Bereich, nicht in weicher Umschlingung umspannen den Eingeweiden die Netzhäute die fetten Bögen: die Natur ist verkehrt, kein Gesetz bleibt dem Mutterleib. Laßt uns erkunden, woher diese so große Starre bei den Eingeweiden kommt. Was ist dies für ein Greuel? Eine Leibesfrucht eines ungepaarten Rindes, in ungewohnter Art an fremder Stelle liegend, füllt das Muttertier, die Glieder bewegt sie mit Stöhnen, in zitternder Erstarrung zucken die schwachen Gelenke; es hat schwarz gefärbt die Fibern das bleifarbige Blut und es versuchen die scheußlich verstümmelten Leiber einen wankenden Schritt, der leere Körper erhebt sich und greift mit dem Horn die geweihten Opferdiener an; die Eingeweide entschlüpfen der Hand. Und das, was dich getroffen hat, ist weder vom Großvieh ein tiefer Laut, noch ertönen irgendwo erschreckte Herden: es brüllt auf den Altären das Feuer und es zittern die Opferherde. OEDIPUS: Was da diese Zeichen des Schrecken verbreitenden Opfers bringen, lege dar; deine Worte will ich mit nichtängstlichem Ohr vernehmen: Man sagt, äußerste Übel machen sorglos. TIRESIAS: Auf die, die du jetzt noch für äußerst hältst, wirst du mit Neid schauen, da du doch für deine Übel Abhilfe suchst. OEDIPUS: Sag, was einzig mich die Himmelsbewohner wollen wissen lassen, wer sich mit dem Mord am König die Hände befleckt hat. TIRESIAS: Weder diejenigen, die Himmelshöhen mit leichtem Fittig durchschneiden, noch eine Fiber, wenn sie aus noch lebenden Brusthöhlen gerissen, kann einen Namen nennen; ein anderer Weg muß versucht werden, er selbst muß heraufgerufen werden aus den Gefilden der ewigen Nacht, damit er, entsandt aus dem Erebus, den für den Mord Verantwortlichen angibt. Entriegelt werden muß die Erde, die unversöhnliche Macht des Dis muß angebetet werden, das Volk der unterirdischen Styx muß hierher gelockt werden: gib an, wem du die heilige Handlung auftragen willst, denn für dich, an dem die Königsherrschaft, ist es Frevel, die Schatten zu schauen.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402) OEDIPUS: Dich, Kreon, erfordert diese Aufgabe, den als nächsten meine Reichsangelegenheiten angehen. TIRESIAS: Während wir die Riegel der abgrundtiefen Styx öffnen, soll ein Lied des Volkes zu Lobpreisungen des Bacchus erklingen.
7.3 DER SZENISCHE AUFBAU Der Aufbau der Passage über den Ritus von 112 Versen läßt sich grob gliedern in einen die Befragung einleitenden Abschnitt von zwölf Versen (291–302) und einen dreiteiligen Hauptteil von jeweils 25 Versen. Der erste umfaßt eine Pyromantie bei den Opferungen von Weihrauch und Wein (303–327); der zweite stellt das Verhalten der Rinder bei ihrer Tötung dar (328–352); der dritte Hauptteil enthält die eigentliche Eingeweideschau (353–377). Die Eingeweideschau, die nur für das weibliche Rind dargestellt ist, läßt sich in kleinere Einheiten von zumeist 6 Versen teilen, die einmal von einer einzeiligen Kommentierung unterbrochen sind. Die gesamte Passage schließt eine Einheit von wiederum 25 Versen ab. Hierbei folgt der wiederum 6 Verse umfassenden Darstellung der ungewöhnlichen Ereignisse (378–383), durch die die Eingeweideschau zum Ende kommt, ein beratendes Gespräch zwischen Oedipus und Tiresias in einem Block von insgesamt 19 Versen (384–402). In 6 Versen wird das unklare Ergebnis der Eingeweideschau besprochen (384–389), die verbleibenden 13 Verse (390–402) haben das weitere Vorgehen, nämlich die Befragung in einer Nekromantie, zum Thema. 112 V
291–402
Gesamter Ritus
291–302
Einleitung 12 V Oedipus bittet Tiresias um Hilfe – Tiresias bestimmt die Methode der Befragung
303–327
Erster Hauptteil Pyromantie bei Weihrauch- und Weinopferung
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328–352
Zweiter Hauptteil Verhaltensbeobachung bei der Tötung der Rinder
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353–377
Dritter Hauptteil Eingeweideschau am weiblichen Rind
25 V
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Eingeweide allgemein, dann konkret Adern, Herz, Galle, Leber Kommentierung: Für nur eine Herrschaft ein schlimmes Zeichen Leber genauer: mit zwei Häuptern Anormale Lage der Eingeweide, dann konkrete Organe Anormale Leibesfrucht, die sich regt, aber krank erscheint
6V 1V 6V 6V 6V
7.4 Skizzierung der Eingeweideschau
378–402 378–383 384–389 390–402
Nachfolgende Ereignisse Ungewöhnliche Ereignisse, die die Eingeweideschau beenden Beratung mit Tiresias über das unklare Ergebnis Beratung mit Tiresias über das weitere Vorgehen
259 25 V 6V 6V 13 V
7.4 SKIZZIERUNG DER EINGEWEIDESCHAU Die Darstellung des Rituals ist in dialogischer Form angelegt, der Gattung des Dramas angemessen. Durch das Fragen und Antworten der beteiligten Personen zu den Ereignissen wird ein Bild von dem bedeutungsvollen Geschehen vermittelt. Da der eigentliche Fachmann Tiresias blind ist, muß er seine Tochter nach bestimmten Dingen, die von Wichtigkeit sind, fragen. Der inhaltliche Aspekt der physischen Blindheit des „Sehers“ motiviert die Darstellungstechnik einer Art Teichoskopie für den Ritus, die bei einer Aufführung den Verzicht auf eine Schlachtung auf der Bühne ermöglicht.25 291– 302
Einleitung Die Aufgabenstellung des Oedipus, den zu Bestrafenden zu finden (292 quem poenae petant), formuliert Tiresias viel allgemeiner: die Schicksalssprüche sollen erforscht werden (297 fata eruantur). Zwischen den beiden Aufgabestellungen liegt eine Diskrepanz,26 die mit dem gemeinsamen Ausgangspunkt zwei unterschiedlich lange Spannungsbögen im Erzählten anzeigt: Der kürzere Bogen reicht bis zur Nennung des Mörders, der längere bezieht die darauffolgenden Ereignisse der Vollendung des Schicksals von Iokaste und Oedipus mit ein. Das Auffinden des Mörders ist die Aufgabe, die der Protagonist sich stellt, dagegen ist mithilfe der Figur Tiresias das Schicksal des Oedipus zu malen Sache des Erzählers. In der Eingeweideschau wird die auf das vergangene Geschehen gerichtete Frage des Oedipus nicht beantwortet, wohl aber sein eigenes zukünftiges Schicksal gezeichnet.27 Mit literarischen Mitteln wird ein Spannung aufbauendes Vor-Wissen beim Rezipienten erzeugt,28 und es lassen sich zahlreiche Ele-
25 Beispielsweise TÖCHTERLE 1994, ad 302; die unterschiedlichen Meinungen vortragend AYGON 2006, bes. S. 98. 26 Auf diesen Widerspruch weisen hin SCHÖPSDAU 1985, S. 92–97, und beispielsweise SCHMITZ 1993, S. 73, sowie TÖCHTERLE 1994, ad 288 ff. 27 Daß die Enthüllungen in beide Richtungen, Vergangenheit und Zukunft, gehen, thematisiert SCHÖPSDAU 1985, S. 92–97. 28 FUCHS 2000, S. 32 ff. und 128 ff., beschreibt das Wissen als literarisches Mittel, das Spannung erzeugt. Genau genommen entsteht die Spannung durch die Diskrepanz, die zwischen dem Wissen des Rezipienten und dem Nichtwissen der Figur liegt. Der Rezipient wird durch die Erzähltechnik in einen Vorteil gegenüber der Figur versetzt, indem ihm ermöglicht wird, ‚Vorwissen‘ zu erlangen. Die Spannung bleibt dadurch erhalten, daß der Ausgang der ungewissen Sache nicht explizit ausgedrückt wird, sondern sich ein Hinweis an den anderen reiht.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402)
mente aufweisen, die wesentlich der Entwicklung der erzählten Geschichte dienen.29 Nicht nur im Ziel der Befragung zeigen Oedipus und Tiresias unterschiedliche Vorstellungen, sondern auch in der anzuwendenden Technik: Oedipus erwartet von Tiresias offenbar eine rasche Antwort, die der Gott diesem eingibt, denn Tiresias entgegnet entschuldigend, er könne nicht gleich antworten (293 quod tarda fatu est lingua, quod quaerit moras) und wegen seiner mangelnden Körperkräfte die Antwort nicht durch Inspiration empfangen (297f. si foret viridis mihi / calidusque sanguis, pectore exciperem deum).30 Statt dessen bestimmt er Rinderopfer, die die schicksalsverkündenden Zeichen liefern sollen. Der Ausdruck sacri signa faticidi (302)31 betont nochmals, daß es bei der Befragung in erster Linie um die Zeichnung des Schicksals geht und nicht um das Erkennen des Mörders. 303– 327
307– 323
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Erster Hauptteil: Pyromantie bei Weihrauch- und Weinopferung Im Gespräch zwischen Tiresias und Manto werden die Geschehnisse bei den Opferungen verdeutlicht: Als ein Opfertier vor den Altären steht, werden die himmlischen Götter angerufen (304 in vota superos voce sollemni voca) und Weihrauch wird auf den Altären verbrannt. Das Verhalten der Flammen bietet die ersten bedeutungsvollen Zeichen (307–323): Das eine Feuer hat kurz aufgeleuchtet und ist gleich erloschen (308), das andere flackert bewegt blau-gelb und blutrot und geht zuletzt ins Finstere über, als es nochmals aufflammt und sich in zwei Teile spaltet (309–323). Die anschließende Libation gibt ein weiteres Zeichen: Der Wein, die Bacchusgaben wandeln sich in Blut (324). Inzwischen hat sich dichter Rauch gebildet, der sich um Oedipus’ Augen legt und diesem das Licht (sordida lux) nimmt (325–327). Zweiter Hauptteil: Verhaltensbeobachung bei der Tötung der Rinder Die göttlichen Zeichen werden schon als Unglück angebend verstanden, aber gleichzeitig wird auch gesehen, daß Hinweise, worin dieses Unglück besteht, vermieden sind. Als Ursache für die Zurückhaltung wird die Ungeheuerlichkeit des Zu-Offenbarenden vermutet (328–334a). Nach der Beobachtung der Flammen und des Weines bei der Libation wird das Verhalten der Rinder bei ihrer Weihung und Tötung begutachtet: Erwünscht ist ein ruhiges Erdulden der Handlungen an ihnen (336). Die Weihung geschieht durch das Bestreuen ihres Halses mit Opfermehl (335 salsa ... mola). Jedoch zeigt sich ein männliches Tier verängstigt, es hält
29 Dazu s.u. S. 278 ff. 30 Auf diesen Aspekt weist SCHMITZ 1993, S. 74, hin. 31 Der Ausdruck faticidus stellt, wie SCHMITZ 1993, S. 75, darstellt, die Verbindung zu zwei weiteren wichtigen Stellen her: dem Eid des Oedipus (247–273, s.u. S. 267 und der Anrufung des Apollon im Schlußteil (1042f. Fatidice te, te praesidam veri deum / compello).
7.4 Skizzierung der Eingeweideschau
261
zuerst seinen Kopf hoch (337 attolens caput), schaut in das Licht der aufgehenden Sonne und schreckt dann vor ihm zurück. Auch bei der Tötung verhält sich der Stier nicht wunschgemäß. Statt nur einem Hieb sind zwei Hiebe nötig, zudem rast er noch eine Zeit lang orientierungslos umher, bevor er stirbt. Dagegen stürzt sich ein weibliches Tier geradezu in das Tötungswerkzeug (ferro) und fällt von dieser einen Verwundung vorerst sofort nieder. 345– Auf welche Weise das Blut der Wunde entströmt, ist ein weiterer bedeu350 tungsvoller Aspekt. Wie erwünscht (345) blutet bei der Jungkuh die Wunde kräftig, aber bei dem Stier fließt nur spärlich Blut, das an Maul und Augen sichtbar wird (349f. versus retro ... sanguis ... redit). 351f. Das Beobachtete wird nochmals als ein großes Unglück vorzeichnend interpretiert (351 magnos ... terrores), da der Verlauf der Opferungen als ungünstig (infausta ... sacra) angesehen wird. Genauere Auskünfte werden aus der Eingeweideschau erwartet, bei der Manto sagen soll, was zu sehen ist (352). 353– 377 353– 358
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Dritter Hauptteil: Eingeweideschau Manto spricht dann, ohne eine jede weitere Unterbrechung von anderer Seite, über den Zustand der Eingeweide. Hier ist nur von der Eingeweideschau an dem weiblichen Tier die Rede: Die Bewegung der Organe ist viel heftiger als gewöhnlich, so stark, daß die Organe die sie berührenden Hände wegstoßen und dabei viel Blut hervorspritzt. Mehrere einzelne Organe werden genauer betrachtet. Das Herz ist kraftlos und kaum wahrnehmbar, die Adern sind von blei-blauer Farbe, es fehlt ein großer Teil der Fibern (fibris abest), die Galle ist schwarz und die Leber schäumt schon in Verwesung von Galle. Einer genaueren Betrachtung der Leber wird die kurze Interpretation vorangestellt, daß das zu Sehende, die Verdopplung des Pyramidalfortsatzes (caput), als schlimmes Zeichen für ein einziges Herrschaftsgebiet gewertet werden muß. Auf der Leber sind statt einem zwei Pyramidalfortsätze zu erkennen, die gleich groß und nur von so dünnen Häuten überzogen sind, daß sich nichts verbergen lasse. Der als feindliche Seite bezeichnete Bereich auf der Leber (363 hostile ... latus) ist der kräftigere und deutlich von sieben Adern durchzogen, die allesamt so von einer Querlinie (limes) geschnitten werden, daß ihnen eine Rückwendung nicht möglich sei. Einer generellen Bemerkung über die falsche Lage der Organe (366f.) folgt die Detailbetrachtung: Der rechte Lungenlappen ist bluterfüllt, der linke läßt das Herz missen und die Netzhäute (omenta) umhüllen die einzelnen Bauchorgane nicht in schützender Weise (367–370). Das ungute Bild zusammenfassend wird eine Verkehrung der Natur festgestellt (371 natura versa est). Mit der Frage nach der Ursache für die schlimmen Anzeichen (372f.) wird die Beschreibung fortgesetzt: Ganz widernatürlich findet sich im Leib des
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402)
ungepaarten Rindes ein Kalb, das ebenso wie die Organe nicht an der richtigen Stelle liegt. Es bewegt stöhnend und zuckend seine Glieder, auch dessen Blut hat eine bleiern blaue, die Fibern schwarz machende Farbe. 378– 402 378– 383
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Nachfolgende Ereignisse Diese Eingeweideschau findet ein jähes Ende, weil das doch schon getötete Rind mitsamt seinem ungeborenen Kalb sich trotzdem noch aufrichtet und sogar die Opferdiener (ministri) mit seinen Hörnern bedroht, weshalb seine Eingeweide der untersuchenden Hand entgleiten (378–380). Währenddessen sind tierähnliche Laute zu hören, die aber nicht von Tieren, sondern von den Feuern auf den Altären (aris) stammen und die Opferherde (foci) erzittern lassen (381–383). Zur Diskussion des Ergebnisses schaltet sich Oedipus in das Gespräch wieder ein, indem er Tiresias zur schonungslosen Bekanntgabe der ungünstigen Zeichen auffordert. Er glaubt sich bereits in einer so schlimmen Lage, daß ihn die genauere Kenntnis des offensichtlichen Unglücks nicht mehr schrecken könne. Wie zu Anfang des Textausschnittes (291–302) zielt der Widerspruch des Tiresias – Vor-Wissen erzeugend – auf eine andere Dimension als die, die Oedipus meint. Denn indem Tiresias entgegnet, daß die Unerschrockenheit des Oedipus daraus resultiere, daß dieser noch nicht ahne, in welchem Maße die Suche nach dem Mörder ihn selbst betreffe (387), wird wiederum der Spannungsbogen über die Frage nach dem Mörder hinaus auf das Schicksal des Oedipus geführt. Wie zu Anfang mit der Ablehnung der Inspirationstechnik (297f.) erfüllt Tiresias auch die zweite Aufforderung des Oedipus nicht, den Mörder zu nennen (388f.). Statt dessen schlägt Tiresias mit der Begründung, daß der Name des Mörders weder durch eine Vogelschau noch durch eine Eingeweideschau zu erfahren sei, eine weitere Methode vor, nämlich den Ermordeten aus der Unterwelt hervorzurufen und ihn selbst zu fragen. Daraufhin trifft er Vorbereitungen für den Ritus der Nekromantie, indem er zum einen Oedipus auffordert, einen Stellvertreter für sich zu benennen, da Oedipus sich als Oberster des Herrschaftsgebietes davon fernhalten müsse. Oedipus bestimmt Kreon als seinen Stellvertreter zur Teilnahme an der Nekromantie. Zum anderen soll während des Rituals das Volk Lieder zu Ehren des Bacchus erklingen lassen (402).
Die inhaltlichen Aspekte des zeitlichen Aufschubs und der Stellvertretung in der Nekromantie (509–708) erzeugen eine Konstellation, die wiederum der literarischen Entwicklung der Geschichte dient. Denn durch die daraus entstehenden Schwierigkeiten – Oedipus glaubt nämlich an eine Intrige von Kreon und Tiresias (bes. 667–670) – ergeben sich weitere Konflikte, die erst dann zur Erfüllung des Schicksals führen, als Bedienstete des Hauses seine Herkunft bezeugt haben.
7.5 Vorlagen und Tradition
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7.5 VORLAGEN UND TRADITION Die Geschehnisse, von denen SENECA berichtet, sind unstreitig dem Drama Oidipus Tyrannos des SOPHOKLES nachgebildet.32 Doch während in der Sophokleischen Version Tiresias ohne weitere Umstände Auskunft über die Bedeutung des delphischen Orakelspruchs geben kann (300–462), muß Tiresias bei SENECA weitere Divinationsverfahren anwenden.33 Mit der Orakelanfrage durch Kreon, der ‚Opferschau‘34 und schließlich einer Nekromantie (SEN. Oed. 509–658), ergibt sich eine Aufklärung in drei Stufen. Diese Verzögerung dient unter anderem der Spannungssteigerung35 und einer dramaturgischen Gestaltung, indem die zwei eingefügten Akte eine Symmetrie des ungewöhnlicherweise aus sechs Akten bestehenden Dramas herstellen. Die ersten drei Akte, bis einschließlich der Nekromantie, verzögern die Enthüllung stark, in den letzten drei Akten überschlagen sich die Ereignisse.36 Eine Motivvorlage für die hinzugefügte ‚Opferschau‘ könnte SOPHOKLES mit dem Auftritt des Tiresias in dem Drama Antigone bieten.37 Ebenso könnte als motivische Vorgabe eine Darstellung in dem Drama Elektra des EURIPIDES (800– 843) gedient haben. Dort tötet noch während eines Opferrituals Orest den durch Unrecht zur Macht gelangten Aigisthos, der in einer ungünstig ausfallenden Eingeweideschau seinen baldigen Tod erkannte. Das Motiv ‚Opferschau mit Todesfolge‘ scheint SENECA auch im Thyestes zu variieren. Die Erweiterung der Sophokleischen Vorlage um die beiden Divinationsformen ‚Opferschau‘ und Nekromantie führt auch zu Diskrepanzen, die sich aus der Vorgabe des Oedipus, den zu Bestrafenden zu finden (292), und derjenigen, die Tiresias formuliert, die Schicksale zu erforschen (297), ergeben. Die Funktionen zweier unterschiedlicher Spannungsbögen, die sich aus den verschiedenen Aufgabestellungen ergeben, sind weiter oben beschrieben worden.38 Die Ähnlichkeit mit der Darstellung der Eingeweideschau des LUCAN ist, wie erwähnt, auffällig. Nicht nur in den einzelnen Beobachtungsobjekten sind Parallelen zu finden, sondern auch in Aufbau und literarischer Technik des gesamten
32 CORDES 2009, S. 426f.; DINGEL 1985, S. 1077; vgl. THUMMER 1972; MÜLLER 1953, S. 449; FRIEDRICH 1933, S. 63. – Sophokles läßt Tiresias paradoxe Doppelrollen, die Oedipus einnimmt, explizit formulieren (449–460). Seneca nutzt dagegen dieses Motiv implizit in einem Wechselspiel von Verbergen und Enthüllen (zu den Doppelrollen s.u.). 33 Über Änderungen gegenüber der Sophokleischen Vorlage beispielsweise THUMMER 1972, S. 153; ROISMAN 2003. 34 Der Begriff ‚Opferschau‘ ist hier treffender, weil in dem ganzen Ritual nicht nur die Eingeweide beschaut, sondern auch andere Vorgänge wahrgenommen werden. 35 MÜLLER 1953 S. 449f.; DINGEL 1985, S. 1096. 36 MÜLLER 1953, S. 450; SCHETTER [1968], S. 448; HILTBRUNNER 1985, S. 1031. 37 SOPH. Ant. 1005–1014. 38 S.o. S. 259.
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Kontextes. Die Frage, welcher Darstellung man die Priorität zusprechen kann, muß ohne einen genauen Vergleich auch hier offen bleiben.39
7.6 DAS LITERARISCHE PERSONAL Die Untersuchung zum literarischen Personal soll Klarheit geben, welche Personen für den Ritus geschildert sind und welche Konstellationen sich bei ihnen ergeben. Um die Verhältnisse bei der Eingeweideschau zu beurteilen, sind auch das vorhergehende und das sich anschließende Divinationsverfahren, nämlich die Orakelbefragung und die Nekromantie, zu berücksichtigen. Auch die Rolle der ministri, die einmal in der Eingeweideschau erwähnt sind, muß geklärt werden. Besonders einzugehen ist auf Götter, die, wie sich textimmanent feststellen läßt, für Oedipus bedeutend sind, jedoch in der Eingeweideschau nicht erwähnt werden.
7.6.1 Die Fragenden: Oedipus und Kreon Im Interesse des thebanischen Herrschers Oedipus, der wegen der Pest um sein Herrschaftsgebiet besorgt ist, findet die Eingeweideschau statt. Ein Vertreter des Herrschers ist Kreon, den die Reichsangelegenheiten als nächsten angehen (400 ad quem secundum regna respiciunt mea), da er als Schwager der Nachfolger des getöteten Laius ist und er Oedipus die Herrschaft übertragen hat. In Vertretung für Oedipus sucht Kreon das delphische Orakel auf und nimmt anstelle von Oedipus an der Nekromantie teil. Bei der Eingeweideschau, wo es, wie gesagt, eigentlich um das weitere persönliche Schicksal des Oedipus geht, ist er folglich weniger wichtig. Der unmittelbare Anlaß für die Befragung ist der Orakelspruch des Apollon von Delphi, den Kreon im Auftrag von Oedipus eingeholt hat und den die beiden nicht ganz verstehen.
7.6.2 Die Interpreten: Tiresias und Manto Als Fachmann für die Befragung ist der Seher Tiresias anwesend. Er trifft gerade bei Oedipus und Kreon ein (288 in tempore ipso), als diese über die Auskunft des delphischen Orakels beraten. Sein Kommen wird als von Apollon veranlaßt gesehen (288 sorte Phoebea excitus). Erwartet wird von Tiresias zunächst eine Erläuterung des Orakelspruchs, zu der er durch Inspiration von Apollon befähigt sein könnte. Tiresias weist jedoch diese Erwartung mit dem Hinweis auf seine körperliche Schwäche zurück und bestimmt darauf eine andere Divinationstechnik, die 39 DINGEL 1985, S. 1079 (s.u. Anm. 101), sieht die Lucanische Darstellung als Vorbild für SENECA, weil jener nur von einem Tier berichtet, und SENECA mit einer unklaren Anzahl der Tiere unvollständig umkonzipiere.
7.6 Das literarische Personal
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Eingeweideschau. Auch nach der – für die Frage des Oedipus erfolglosen – Eingeweideschau ist es Tiresias, der die Methode – in diesem Fall die Nekromantie – festsetzt. Ebenso bewertet allein er auch die Methode der Vogelschau40 und erklärt sie für unwirksam in Bezug auf das Anliegen des Oedipus, den Namen des Mörders zu erfahren. Hier treffen die anfangs zu Diskrepanzen führenden, unterschiedlich formulierten Ziele der Erkundung wieder zusammen. Tiresias entscheidet nicht nur über die anzuwendenden Methoden – keine Inspiration, keine Eingeweideschau, keine Vogelschau, einzig noch eine Nekromantie – , sondern ist auch Leiter bei den auszuführenden Ritualen, bei der Eingeweideschau wie bei der Nekromantie. Tiresias wird von Oedipus vor der Eingeweideschau als ein gottgeweihtes Haupt, dem Phoebus nahe, angesprochen41 (291 sacrate divis, proximum Phoebo caput) und mehrfach in dem Botenbericht Kreons über die Nekromantie als sacerdos (548; 622) und vates (552; 571) bezeichnet. Auch Oedipus nennt ihn vates (670) – dort allerdings in abfälliger Weise, weil er eine Intrige vermutet. Weitere Formen einer Art ‚Amtsbezeichung‘ finden sich nicht. Als Gehilfin steht Tiresias seine Tochter Manto zur Seite, die eigentlich die Eingeweideschau als komplexes Ritual vornimmt – mit Gebet, Beobachtung der Weihrauchfeuer, der Libationen und des Verhaltens der Tiere usw. Ihre Anwesenheit ist mit der Hilfsbedürftigkeit des blinden Sehers begründet. Bei der Nekromantie hingegen ist Manto lediglich als erschrockene Zuschauerin erwähnt, während der alte und gebrechliche Tiresias die passende Kleidung, ein Totenhemd, angelegt hat und so, dem Tode näher als irgend jemand anderes, die rituellen Handlungen selbst ausführt (bes. 548–568; 596–599; 621f.). Die Tätigkeiten in der Eingeweideschau führt Manto aus, denn die meisten Aufforderungen sind im Singular an sie gerichtet, und sie gibt im Singular die Erledigung bekannt. Bei den Ritualhandlungen ist auf die Figur Manto fokussiert.42 Indem Oedipus in Kreon einen Stellvertreter in Angelegenheiten der Herrschaft hat und Manto die Stellvertreterin für Tiresias in rituellen Angelegenheiten ist, ergibt sich beim literarischen Personal auf Seiten der Ratsuchenden und der Ratgebenden eine Doppelung der Funktionsträger. In den drei verschiedenen Phasen des Erkundens – Orakel, Eingeweideschau, Nekromantie – variiert die Gewichtung unter den einzelnen Personen.
40 Einer Mythenversion nach (KALL. h. 5,77) hat Tiresias die Gabe erhalten, die Sprache der Vögel zu verstehen, worauf hier angespielt ist. 41 Ähnlich die Anrede und der Anlaß – ein unverstandenes Orakel – in VERG. Aen. 3,359 ff. als Aeneas den Seher Helenus anspricht: Troiugena interpres divom, qui numina Phoebi, / qui tripodas, Clarii laurus, qui sidera sentis / et volucrum linguas et praepetis omina pennae, / fare age ... – Troia entstammender Mittler der Götter, der Du das Walten des Phoebus, den Dreifuß, klarischen Lorbeer, die Sterne kennst, und der Vögel Sprache und breiter Schwingen Zeichen, sag doch, ... 42 Die wenigen Textstellen im Plural, die die Anwesenheit anderer Personen vorauszusetzen scheinen, führen zu Verunsicherungen, einerseits was die Umsetzung für die Bühne angeht und andererseits inwiefern diese Angaben zur Rekonstruktion eines historischen Rituals beansprucht werden könnten.
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7.6.3 Die Rolle der Ministri Neben Manto, die vor allem als Ausführende bei der Eingeweideschau erscheint, sind ein einziges Mal Opferdiener genannt (379f. sacros ... ministros).43 Allerdings sind diese nicht mit rituellen Tätigkeiten befaßt, sondern dienen als Angriffsziel für das mit seinem Kalb wieder aufstehende Rind. Die Vorstellung, die Diener müßten doch Tätigkeiten im Ritual wahrnehmen,44 ist geprägt von dem Wunsch nach visualisierbarer Realität, einer Realität in einem hier etwa nachgebildeten historischen Ritual und einer Realität auf der Bühne. Die unvermittelte Anwesenheit der Diener ist jedoch stärker unter dem Aspekt der literarischen Technik zu betrachten: Ganz ähnlich wie in der Dido-Passage mit der Fokussierung auf Dido die Schwester Anna aus den Ritualhandlungen ausgeblendet wird,45 kommen hier nur kurz die Opferdiener in den Blick. Eine weitere Parallele liegt darin, daß hier wie dort eine Frau, Manto bzw. Dido, als Ausführende im Fokus steht. In beiden Passagen ist Personal, das für einen historischen Ritus wahrscheinlich ist, nur erwähnt, aber nicht handelnd dargestellt, so die vates in der Dido-Episode (VERG. Aen. 4,65f.), die außerhalb der Handlung, in einer reflexiven Pause, genannt sind,46 und eben hier die ministri lediglich als Objekte. Ähnlichkeit besteht auch mit der Darstellung OVIDs in der Cipus-Episode. Dort erscheint zunächst allein Cipus als Handelnder im Ritual (OV. met. 15,565–576), und unvermittelt schaut ein haruspex mit ihm die Eingeweide an (577).47 Diese literarische Technik, bei der etwas in den Fokus genommen und meist zugleich etwas anderes ausgeblendet wird, scheint mir nur in Texten möglich, die nicht für die Bühne konzipiert sind. Daher liefert die Stelle zu den ministri ein Indiz, daß der Oedipus nicht auf der Bühne umsetzbar und eher für eine Rezitation geeignet ist. Die Fragen, wo sich die ministri aufhalten oder wann sie auf die Bühne treten und was sie dort außerdem tun, bereiten für eine Inszenierung Schwierigkeiten.48 Zudem läßt sich die vorhergehende Aufforderung von Tiresias an eine Mehrzahl von Leuten, Rinder heranzuführen (299 appellite), im nachhinein nicht auf die ministri beziehen. Die Annahme, es sei noch eine Menge anderes Opferpersonal anwesend,49 ignoriert den literarischen Stil in diesem Drama.
TÖCHTERLE 1994 äußert sich zu den ministri nicht. HOLLINGSWORTH 2001, S. 142f. VERG. Aen. 4,56–64; s.o. Kap. Dido, 4.7.1. S.o. Kap. Dido, 4.7.4. S.o. Kap. Cipus, 5.8. Die ungeklärten Fragen zu den ministri in einer Aufführung formuliert AYGON 2006, S. 101 (Abschnitt B 1c). Als Akteure für die Passage der Eingeweideschau sieht AYGON in einer Bühnenversion Tiresias, Manto, Oedipus und Kreon anwesend; doch weil die Aufforderung appellite (299) kaum Oedipus und Kreon gegolten haben dürfte, denkt er noch an begleitende Priester. Eben auch das Problem, zuzuordnen, wer mit appellite angesprochen wurde, verweist darauf, daß der Oedipus nicht als Bühnenstück gedacht ist. 49 Beispielsweise AYGON 2006, S. 101; 106.
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7.6.4 Die verehrten Gottheiten Obwohl die Orakelanfrage doch an Apollon ging (291f.; 296–298 u.ö.), ist das die Eingeweideschau einleitende Gebet dann ganz allgemein an die superi, die Himmelsgötter gerichtet (304 in vota superos voce sollemni voca). Auch im weiteren ist in diesem Zusammenhang nur summarisch von den Göttern die Rede (331 ira numinum; 334 pudet deos; 388 caelicolae volunt). Genauer bestimmen lassen sich die Gottheiten, mit denen Oedipus in Kontakt steht, durch den Eid, den Oedipus kurz zuvor, nach Kreons Bericht über das gerade eingeholte Orakel,50 geschworen hat. SEN. Oed. 247–273 (Die Götter im Eid) 247
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Nunc expietur numinum imperio scelus. Quisquis deorum regna placatus uides: tu, tu penes quem iura praecipitis poli, tuque, o sereni maximum mundi decus, 51 bis sena cursu signa qui uario regis , qui tarda celeri saecula euoluis rota, sororque fratri semper occurens tuo, noctiuaga Phoebe, quique uentorum potens aequor per altum caerulos currus agis, et qui carentis luce disponis domos, adeste: cuius Laius dextra occidit, hunc non quieta tecta, non fidi lares, non hospitalis exulem tellus ferat: thalamis pudentis doleat et prole impia; hic et parentem dextera perimat sua, faciatque (num quid grauius optari potest?) quidquid ego fugi: Non erit ueniae locus: per regna iuro quaeque nunc hospes gero et quae reliqui perque penetrales deos, per te, pater Neptune, qui fluctu leui utrimque nostro geminus alludis solo; et ipse nostris uocibus testis ueni, faticida uatis ora Cirrhaeae mouens: ita molle senium ducat et summum diem securus alto reddat in solio parens solasque Merope nouerit Polybi faces, ut nulla sontem gratia eripiet mihi.
50 Mit der Vorhersage der Pythia (233–238) sind im Bericht des Kreon Anspielungen zu finden, die im Eid des Oedipus wiederaufgenommen werden: 234 / 264 hospes – Fremdling; 237f. tecum bella geres natis quoque bella relinquens / turpis maternos iterum revolutus in ortus – kämpfen wirst du mit dir selbst, den Söhnen auch Kampf hinterlassen, der du dich schändlich wieder zum Schoß deiner Mutter gewandt hast / 260 thalamis pudendis doleat et prole impia – schmachvolles Ehebett schmerze ihn und unfromme Nachkommenschaft. 51 Die Konjektur legis, die ZWIERLEIN übernimmt, ist nicht notwendig, vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 251f.
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Jetzt also werde auf Befehl der Gottheiten das Verbrechen gesühnt: Wer von Euch Göttern Königsherrschaft versöhnlich ansieht, Du, der Du die Macht hast über den Himmelspol, und Du, o Du des heiteren Weltalls größte Zier, der Du zweimal sechs Zeichen im wechselndem Lauf regierst, der Du säumige Jahrhunderte mit schnellem Rad entrollst und Du, Schwester, Deinem Bruder stets entgegengehend, nächtlichwandelnde Phoebe, und Du Herrscher über die Winde, der Du durch das tiefe Meer die blauen Wagen führst, und Du, der Du des Lichtes entbehrende Wohnstätten zuweist, steht mir bei: Wessen Rechte Laius niederschlug, den soll kein ruhiges Dach, keine zuverlässigen Laren, kein gastliches Land als Verbannten tragen, durch eine Ehe, der man sich schämen muß, soll er Schmerz empfinden und durch seine unfromme Nachkommenschaft; dieser möge seinen Vater mit der eigenen Rechten umbringen und all das – Kann man Schlimmeres noch wünschen? – tun, dem ich selbst entflohen bin – es wird dann kein Raum für Gnade sein. Bei der Königsherrschaft, die ich jetzt als Gastfreund innehabe, schwöre ich, und bei der, die ich zurückgelassen habe, und bei meinen Familiengöttern, und bei Dir, Vater Neptunus, der Du mit sanfter Flut von beiden Seiten doppelt mein Land umspielst, und Du selbst komm als Zeuge meiner Worte, der Du den prophezeihenden Mund der cirrhaeischen Seherin bewegst: so wahr soll mein Vater ein sanftes Alter haben und seinen letzten Lebenstag unbesorgt auf hohem Thron verbringen und soll Merope die Hochzeitsfackeln allein mit Polybus kennengelernt haben, wie keine Gnade mir den Schuldigen entreißen wird.
Fünf Gottheiten, die bei der Sühnung des Mordes helfen sollen (247; 257 adeste), nennt Oedipus im Eid einzeln, aber zum großen Teil in Umschreibung: Er ruft zunächst ganz allgemein jede Gottheit zu Hilfe, die gnädig auf Königsherrschaft schaut. Durch Beschreibung der Machtbereiche, der Himmelspole, ist Iuppiter zu erkennen (249), dann ist am ausführlichsten Phoebus als größte Zier des Weltalls, nämlich die Sonne, und als derjenige, der das Jahr und die Zeit voranbringt, beschrieben (250–252). Namentlich ist nur Phoebe, d.h. Phoebe-Luna, die Schwester des Phoebus-Sol (253f.) genannt und dies genau in der Mitte. Darauf ist als Herr der Winde und des Meeres Neptun (254f.) und zum Schluß derjenige, der die lichtlosen Stätten zuweist, nämlich der Unterweltgott Pluto beschrieben (256). Wie Sol und Luna, sind Iuppiter, Neptun und Pluto Geschwister. Gemeinsam haben alle genannten Gottheiten, daß sie eben kein gemeinsames Herrschaftsgebiet haben – jede von ihnen hat nämlich einen eigenen Bereich: Iuppiter regiert den quasi geographischen Bereich des Himmels, Neptun das Meer und Pluto die Unterwelt, Phoebus-Sol herrscht über die zeitliche Dimension des Tages und seine Schwester Phoebe-Luna über die Nacht. Oedipus ruft für sein Versprechen also Gottheiten an, die mit Reichsführung vertraut und ihm in dieser Angelegenheit na-
7.6 Das literarische Personal
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he scheinen.52 Daß allein die nachtschweifende (254 noctivaga) Phoebe benannt53 und in mittlerer Position betont ist, weist voraus auf das Schicksal, daß Oedipus in Blindheit und ewiger Nacht herumirren wird. Im zweiten Teil des Eides, der Bekräftigung, liegt ebenfalls eine Fünfzahl 54 vor. Zuerst sind als Garanten (264f. per ... iuro) umschreibend die beiden Herrschaftsgebiete, Korinth und Theben ([regna] quae hospes gero – quae reliqui), und als dritte Gruppe die Familiengötter, per penetrales deos, aufgeführt. An vierter Stelle und namentlich direkt angesprochen ist Neptunus (per te), der Gott derjenigen Meere, die Korinth – das von Oedipus verlassene Herrschaftsgebiet (267 nostro solo) – einschließen. Mit allen diesen ist Oedipus in einer von ihm falsch eingeschätzten Weise verbunden, so daß sie als Schwurpfänder eigentlich unwirksam sind.55 An betonter letzter Stelle und syntaktisch abgehoben von den anderen (268 et ipse ... veni) steht wiederum umschrieben der delphische Gott, aber hier nicht in der Funktion als Reichsinhaber, sondern als Orakelgott, der soviel Einfluß auf des Schicksal des Oedipus hat. Die hervorgehobene Stellung kennzeichnet ihn als einzigen, der beim Eid noch Wirksamkeit zeigen kann. Alle hier angerufenen Götter sind in Zusammenhang mit den persönlichen Verhältnissen des Oedipus zu sehen. Es lassen sich die Göttergruppierungen aus beiden Teilen des Eides in Reichsgötter und ‚persönliche‘ Götter des Oedipus teilen. Daß die Zahl der ‚persönlichen‘ Götter stark zusammenschmilzt, weist auf das Ende voraus, das Rettung für das regnum, die Stadt Theben, bedeutet. Den Gottheiten bei der Eingeweideschau werden kontrastierend die Gottheiten bei der Nekromantie entgegengesetzt. Während für die Eingeweideschau Götter des Himmels angerufen werden, sind es bei der Nekromantie Götter der Unterwelt, die gemeinsam mit den Totenschatten sogar erscheinen.56 Die Kontrastierung wird besonders deutlich in der Äußerung des Oedipus, daß die Himmelsgötter und die Unterweltgötter der Meinung sind, er habe das Verbrechen begangen (765f. autumant superi inferique ...). Der Kontrast aus beiden Befragungen entwickelt sich zu einer Summe, so daß Oedipus letztlich die gesamte Götterwelt gegen sich weiß.57
52 Die kosmische Bedeutung dieser Gruppierung beschreibt LEFÈVRE 1981, S. 256f. 53 TÖCHTERLE 1994, ad 254, vermerkt zwar die einzelne Namensnennung und den ungewöhnlichen Ausdruck noctivaga, aber versucht hierzu keine Interpretation. 54 Auch eine Fünfzahl an Mächten fordert Oedipus nach seiner Blendung zu seiner Begleitung: Fata, Morbus, Macies, Pestis, Dolor (1059–1061), dazu TÖCHTERLE 1994, bes. ad 1059– 1061. 55 TÖCHTERLE 1994, ad 264 ff., sieht in der Bekräftigung durch die für Oedipus falschen Bezugnahmen, vor allem auf Korinth und Theben, eine Ironisierung. Ein explizites Einbeziehen aller vier durch per syntaktisch gleichen Elemente unterbleibt. 56 SEN. Oed. 395f. Ditis implacabile numen precandum; 559f. te, qui manes regis; obsidentem claustra; 569 latravit Hecates turba; 573 iterque populis Ditis ... datur; 583 pallentes deos vidi; 597 convocat Ditis feri – Tiresias bei der Anrufung in der Nekromantie: 561f. carmenque magicum volvit ... decantat; 566f. canitque rursus ... manes voce ... citat. 57 Vgl. SCHETTER [1968], S. 445.
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Warum für Bacchus während der Nekromantie Lobpreisungen vom Volk gesungen werden sollen, läßt sich damit erklären, daß Bacchus Schutzgott der Stadt Theben ist.58 Mit den besonderen Umständen bei der Nekromantie ist der Gott Bacchus hier nicht in Verbindung gebracht. Kontrastieren läßt sich auch die Funktion der beiden Götter Apollon und Bacchus: Apollon gilt als Orakelgott und dabei als der Gott für das persönliche Schicksal des Oedipus, während Bacchus besonders in dem erwähnten Chorlied (403–508) als der Schutzgott für die Stadt Theben und damit als Garant für ihr Bestehen vorgeführt ist. Es steht hier also, wie schon öfter auch an anderen Texten gezeigt, das Wohl des Staates gegen das persönliche Wohl der Herrscherfigur. In einer Bemerkung eines Boten59 gegenüber Oedipus ist dieser Konflikt formuliert: Es treffen von hier das Staatswohl, von dort das Wohl des Herrschers, beide gleichwertig, aufeinander (830f. Concurrit illinc publica, hinc regis salus / utrimque paria).
7.7 DIE NARRATIVE ZEIT 7.7.1 Zur Methode der zeitlichen Analyse im Drama Die Ritusdarstellung, und natürlich das gesamte Drama, ist aufgrund der ständigen dialogischen Situation im Ganzen als eine Szene im Sinne GENETTEs60 anzusehen. Damit ist das Erzähltempo grundsätzlich als relativ langsam und der erzählerische Informationsgehalt als sehr hoch bestimmt. Gerade aus dem Grunde, daß das Erzähltempo in einem Drama mit den fortwährenden Dialogen eigentlich nicht wechselt, muß hier ein methodisches Problem angesprochen werden. Die Frage ist, inwiefern sich ein Drama, ein Handlung zeigendes Stück oder Handlung nachahmender Text,61 mit Mitteln analysieren läßt, die an der Erzählung entwickelt und orientiert sind. Sucht man nach dem augenfälligsten Unterschied zwischen beiden Textgattungen, ist hier die Rolle des Erzählers zu nennen: In der Erzählung ist ein Erzähler präsent – mehr oder weniger, je nach dem, ob er selbst spricht oder eine seiner Figuren sprechen läßt. In einem Handlungsstück wie dem Drama scheint dagegen kein Erzähler vorhanden zu sein, es scheint nur agierende und sprechende Figuren zu geben. Gleichwohl gibt es auch hier eine Art Erzähler, der sich jedoch ganz zurückgenommen hat, ja, der darüber hinweg täuscht, daß er es ist, der erzählt, indem er seine Geschichte konsequent aus den Perspektiven seiner Figuren darstellt.62 Die Technik der Figurenrede ist beispielsweise zu beobachten, wenn im ersten Akt Oedipus zuerst in einem Monolog und eben mit dem Wissen, 58 Vgl. SEN. Oed. 113–121; 402; bes. 405–408; 503–508. 59 TÖCHTERLE 1994 läßt hier Iokaste sprechen (vgl. seine Ausführungen zur Rollenverteilung, S. 531 ad 784 ff.) 60 GENETTE 1998, bes. S. 67f.; 78–80. 61 Hiermit sind Bühnenwerk und auch Rezitations- und Lesedrama umfaßt. 62 Vgl. MUNY 2008, der die Erzählperspektive im Drama thematisiert, und, bes. S. 89–95, die Forschung zur Erzählperspektive darstellt.
7.7 Die narrative Zeit
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das nur er selbst haben kann, über seine Situation und die vergangenen Ereignisse in einer Rückblende reflektiert (1–81), und das entstandene Bild dann im Gespräch mit Iokaste ergänzt wird (81–109). Der wesentliche Unterschied eines Dramas zur Erzählung besteht in der Art der Fokalisierung63 und in der durchgehend gleichbleibenden Erzählgeschwindigkeit der Szene. Dieser untergeordnet sind klassisch als Botenbericht und Teichoskopie bezeichnete Passagen, in denen eine Figur vorübergehend als Erzähler fungiert. Innerhalb der extispicium-Szene ist in dem abschließenden langen Bericht der Manto (353–377) die Technik einer Teichoskopie zu erkennen.64 Da dieser Abschnitt der Erzählsituation in einer Erzählung entspricht, stellt es weniger ein Problem dar, die Methoden GENETTEs zur Erzählung auch auf diesen eher narrativen Passus im Drama anzuwenden. Anders scheint es sich auf den ersten Blick mit einer Passage zu verhalten, in der das Geschehen durch den Dialog vermittelt wird. Im Anfangsteil des Rituals wechselt die Rede ständig zwischen Manto und Tiresias, so daß im Dialog die Illusion von stattfindenden Aktionen erzeugt wird: Tiresias befiehlt und Manto antwortet, es sei getan, oder Tiresias fragt, was zu sehen ist, und Manto antwortet, was war oder gerade passiert. Das Geschehen wird skizziert, indem sich die Figuren in der Geschehensvermittlung ergänzen. Zur Beschreibung des Geschehens ist die Form von Aussagesätzen nicht unbedingt erforderlich, sondern auch Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf relevante Punkte.65 Der Dialog hier hat einen stark deskriptiven Charakter und ist der sich anschließenden monologischen Darstellung durch Manto sehr nahe. Die anfangs als Dialog kaschierte Ritualdarstellung geht variierend in den deutlicher narrativen Anteil über.66 Aus beiden Teilen entsteht eine nahezu lineare, aber nicht lückenlose Darstellung der Ereignisse.67 Die skizzenhaft imaginierten Aktionen, wie das Heranführen der Tiere, das Sprechen von Gebeten und das Verbrennen von Weihrauch (299–306)68 usw., sind in einem grundsätzlich linearen Verlauf angeordnet. Aber durch die Konstellation den Befehlens, Fragens und Antwortens lassen sich noch feinere Differenzierungen aufzeigen, denn die grammatischen Formen schwanken 63 GENETTE 1998, S. 132–138. 64 Daß diese Passage als Teichoskopie auf der Bühne realisierbar erscheint, bedeutet nicht, daß eine Bühnenaufführung notwendig ist. 65 Vgl. KORTHALS 2003, S. 147f. 66 Dagegen bezeichnet SPEYER 2003, S. 106, die monologische Partie als rhesishafte Replik und die vorhergehende Dialogsituation als längere Sequenz von Replikenpaaren, bei der jedoch die Paarbildung aufgehoben sei. Daß sich in dieser Passage die dramatische Funktion einem schildernden Effekt unterordnet, beschreibt ganz richtig KUGELMEIER 2007, S. 141. Wenn KUGELMEIER äußert (S. 143), man fühle sich versucht festzustellen, daß ... die Mantik aus ihrer dramatischen Funktionseinbindung herauswachse und ein Eigenleben als eigenständige Handlungsebene annehme, so läßt sich als ursächliches Moment dieser eigenartige (Schein)Dialog zwischen Manto und Tiresias anführen. Durch dieses Gespräch nämlich wird das schicksalhafte Handeln der Hauptpersonen nicht im geringsten beeinflußt oder gelenkt, statt dessen bilden die zahlreichen Hinweise auf das Bevorstehende in einer Kette von Vorhalten eine eigene Ebene. 67 Zu den nicht-erzählten Tätigkeiten s.u. S. 273. 68 SEN. Oed. 299–306 appellite bovem; superos voca; aras turis extrue.
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7 Tiresias und Manto (Seneca, Oedipus 291–402)
zwischen Vergangenheitstempus, Gegenwart und einer Zukunftsausrichtung in der Befehls- und Frageform.69 So zeigt sich hier im Ritus die lineare Ordnung durchbrochen von etlichen Rückblenden mit ganz kurzer Reichweite, wenn Manto im Vergangenheitstempus bekannt gibt, was sich seit der Frage oder dem Befehl ereignet hat.70 Daran gemessen sind Partien, die in der Gegenwartsform stehen, auffällig und als besonders interessant eigens zu betrachten. Die Funktion des Präsens als Markierung des Hauptthemas ist bisher, soweit ich sehe, für diese Passage nicht wahrgenommen worden.71 An entscheidenden Stellen kann dieses Mittel zur Korrektur der geläufigen Interpretation, es sei der Bruderzwist der Oedipus-Söhne Eteokles und Polyneikes und der Zug der Sieben gegen Theben dargestellt, eingesetzt werden. Um die allegorischen Deutungen zu erfassen, die sich aus der Eingeweideschau ergeben, soll hier die im Erzähltempo extrem langsame und damit detailreiche Schilderung Mantos genutzt werden, um die einzelnen Elemente zu beschreiben und zu interpretieren. Vorwegzunehmen ist jedoch eine Darstellung des Handlungsverlaufs mit den Auslassungen, also nicht-erzählten rituellen Tätigkeiten, dem Effekt von einem Raffen der Zeit72 und Fragen zur Anzahl der Tiere und Häufigkeit von Ereignissen. Mit Gewichtung auf die Ordnung des Erzählten soll hinführend die dramatische Handlung der ersten beide Akte dargestellt werden.
7.7.2 Zur Ordnung der dramatischen Handlung Im ersten Akt wird im wesentlichen durch das Resümee des Oedipus und seine Gespräche mit Iokaste das Problem und das bereits in Gang gesetzte Vorgehen geschildert. Oedipus ist in einer ereignislosen Warteposition dargestellt, die es erlaubt, in einer Rückblende73 zeitlich Vorherliegendes nachzutragen (1–109). Im zweiten Akt bringt die Rückkehr Kreons dann neue Aspekte. Sein Orakelbericht (225–238) bildet ebenso eine Rückblende, aber mit kürzerer Reichweite auf erst in jüngster Zeit Vergangenes bezogen. Durch die beiden Rückblenden ist der Rezipient über die Vorgeschichte und den Stand der Dinge informiert. Bis dahin ist das vergangene Geschehen viel wichtiger als die Gegenwart des Erzählten. Das gegenwärtige Geschehen bekommt das größere Gewicht erst, als Oedipus den Eid leistet, den Tod des Königs zu rächen (247–273). Das Hervorheben des gegen69 Die Wiedergabe der aktuellen Ereignisse im Ritus ist ähnlich wie bei einer Fußball-Live-Reportage im Rundfunk: Selten wird erzählt, was gerade im Augenblick passiert, vielmehr kreist der Bericht gewissermaßen um die Gegenwart, indem schon Geschehenes nachgetragen wird, um die Situation ins rechte Licht zu rücken und dem Bericht eine Logik zu verleihen und dann einer Hoffnung Ausdruck zu geben (etwa: Da hat er doch einem tollen Paß hingelegt und stürmt nun nach vorn! Wird das auch ein Tor?). Weniger stark differenzierend bezeichnet SCHMITZ 2002, S. 70, die Radioreportage als Beispiel für gleichzeitige Narration. 70 Zur Reichweite einer Rückblende s. GENETTE 1998, S. 31f. 71 TÖCHTERLE 1994, S. 313 ad 308, vermag keinen Grund für die Tempuswechsel zu erkennen. 72 Vgl. ZWIERLEIN 1966, S. 31f. 73 GENETTE 1998, S. 34.
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wärtigen Geschehens wird nach einer weiteren kurzen Rückblende, die über die näheren Umstände der Ermordung informiert (274–287), mit dem Eintreffen von Tiresias fortgesetzt. Im Verlauf der Eingeweideschau wird dann durch Anspielungen74 die Zukunft bedeutender, insbesondere durch Hinweise auf den Selbstmord Iokastes und die Selbstblendung und das Fortziehen von Oedipus. Aber auch auf die noch im Verborgenen liegende Vergangenheit, was des Oedipus Abstammung betrifft, wird in der Eingeweideschau angespielt. Der Rezipient hat hier, wie zuvor beim Eid, eine weitergehende metaphorische Deutung zu leisten.75 Die Darstellung des Rituals ist nahezu linear: Heranführen von Rindern zu den Altären, Sprechen von Gebeten, Legen von Weihrauch auf die Opferherde und Anzünden, Beobachten der Flammen, Libieren von Wein (libata Bacchi dona). Nachdem Außergewöhnliches vermerkt worden ist (Wein wird zu Blut; Qualm entsteht), wird das Ritual fortgeführt mit dem Streuen von Opfermehl auf die Nacken der Rinder (sparge salsa colla taurorum mola), Beobachten der Tiere während dieser Handlung und beim Versetzen der Todeshiebe (ictus), Beobachten des Blutens bei den Tieren, Beschau der Eingeweide, Erspüren der letzten Bewegungen der Eingeweide mit den Händen, Beurteilen von Aussehen und Lage verschiedener Organe, abschließend ein beurteilendes Gespräch zwischen dem Fragenden und dem Deutenden.
7.7.3 Der Handlungsverlauf im deskriptiven Dialog zwischen Tiresias und Manto In einer zeitlichen Analyse fallen bei dem extrem langsamen Erzähltempo einer Szene, wie sie im Dialog mit Tiresias und dem Bericht der Manto vorliegt, Auslassungen besonders auf.76 Obwohl der Ritus so detailreich dargestellt ist, gibt es relativ viel Unerwähntes. Durch das Fehlen, vor allem von Arbeitsschritten im Ritual, entsteht der Eindruck einer Zeitraffung,77 die neben dem Effekt des Skizzenhaften78 die Handlung beschleunigend Eile vermittelt, wenn die Vergangenheitsform hinzukommt.79 Weiterhin ist zu fragen, wie oft Ereignisse vorkommen und erzählt sind.80 Im allgemeinen scheinen hier Wiederholungen von rituellen Tätig74 GENETTE 1998, S. 51 und bes. S. 52, bezeichnet diese Form als Vorhalte: „Im Unterschied zum Vorgriff ist der Vorhalt also im Prinzip, an seiner Stelle im Text, nur ein ‚unbedeutender Keim‘, den man kaum wahrnimmt und der als Keim erst später, und zwar retrospektiv, erkennbar wird.“ 75 Vgl. SCHMITZ 1993, Anm. 203; FUHRMANN 1968, S. 50 Anm. 74; PRATT 1939, S. 93–99. 76 Vgl. GENETTE 1998, S. 76–78; GENETTE spricht von Ellipsen, bei denen die Erzählgeschwindigkeit Null ist. 77 Beispielsweise ZWIERLEIN 1966, S. 31f., der „das weitgehende Zusammenschrumpfen eines Handlungsablaufes“ und „nur das äußere Gerippe des Geschehens angegeben“ sieht; TÖCHTERLE 1994, ad 303, 306, 340 ff.; KUGELMEIER 2007, S. 141. 78 Vgl. SCHWINDT 1994, S. 64. 79 Die Vergangenheitsform bildet eine Rückblende und ist ein Aspekt der Ordnung (GENETTE 1998, S. 31–36). 80 Die Frage nach der Häufigkeit des Erzählten gehört unter den Aspekt der Frequenz (GENETTE 1998, S. 81–83).
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keiten schon explizit durch die Verwendung des Plurals ausgedrückt.81 Fragen zur Anzahl der Tiere im Ritual lassen sich vor allem über die Bezeichnungen klären. Zu untersuchen, ob von einem Ereignis etwa zweimal gesprochen wird, geben zwei Textstellen Anlaß.82 Zu Beginn des Rituals findet sich nichts darüber, wer die Tiere an die Altäre führt und wie es geschieht, lediglich ein Auftrag (299 appellite bovem) und seine Erledigung (303 victima stetit) sind vermerkt. Zwar ordnet Tiresias Gebete an (304 superos voca), doch das Ausführen ist übergangen.83 Statt dessen wird an die zweite Aufforderung, Weihrauch auf die Altäre zu häufen (305 extrue), angeknüpft (306 iam ingessi). Das Anzünden ist wiederum ausgelassen, es wird gleich nach der Flamme gefragt (307 iamne comprendit)84 und bei der Antwort ist das Auflodern auch schon vorüber (308 subito refulsit ... subito occidit). Ein nochmaliges Fragen nach einer Flamme markiert, daß ein zweites Feuer beobachtet wird. Tiresias beginnt seine Frage in der Vergangenheitsform (309–311 utrumne ... stetit; tulit; explicuit) und fährt im zweiten Satzteil mit einem Präsens fort (312 an ... serpit; labat). Genauso beginnt Manto ihre Antwort in Vergangenheitsformen (314 fuit; 319 oberravit) – dazwischen eingeschaltet ist im Präsens das Regenbogengleichnis – und beschreibt das Erlöschen als aktuelles Ereignis (320b–323a ultima in tenebras abit sed ecce ... discedit et se scindit ...). Man gewinnt den Eindruck, noch während des Erzählens wird die Zeit des Abbrennens aufgeholt (314 fuit; 319 oberravit; dann 320 abit, 322 discedit, scindit). Daß hier zwei Flammen geschildert sind, ist, soweit ich sehe, bisher nicht vorgeschlagen worden.85 Von den Libationen ist wie zu dem Heranführen der Tiere nicht gesagt, wie und von wem sie dargebracht werden (324 libata dona), bei der Erwähnung ist die Tätigkeit schon vorbei. Wieder in Befehlsform (335 sparge) wird die nächste Tätigkeit, das Bestreuen von Tieren mit Opfersalz, skizziert, ohne daß die Ausführung beschrieben ist. Das vorhergehende admove (334b) wird meines Erachtens zu Unrecht als Teil der Ritualhandlung aufgefaßt. Meiner Meinung nach stellt dieser Befehl nach dem längeren Passus mit dem Regenbogengleichnis und dem Gedankenaustausch (314– 334a) eine Aufforderung dar, die rituellen Tätigkeiten unverzüglich fortzuführen. Die Formulierung huc propere admove ist in einem übertragenen Sinne zu verste81 Dies ist der Fall besonders bei gleichen Tätigkeiten, die unmittelbar nacheinander ausgeführt sein müßten, wie das Beten (304 in vota superos voca), das Häufen von Weihrauch auf die Altäre (305f. arasque dono turis Eoi extrue; 306 iam tura sacris caelitum ingessi focis), das Verbrennen von Weihrauchgaben (307 largas iamne comprendit dapes), die Weinspenden (324 libata Bacchi dona), das Bestreuen der Rinder mit Opfersalz (335 sparge colla taurorum), die Tötung von beiden Tieren (340 afflicti petunt). Auf der anderen Seite kann der Plural als poetischer Plural aufgefaßt werden (vgl. AYGON 2006, S. 101). 82 Zum Erlöschen des Feuers (308 und 320); zur Immolatio (335 und 336f.). 83 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 306. 84 Vgl. zu Vv. 299–307 ZWIERLEIN 1966, S. 31f. 85 Die Tempuswechsel führen jedoch zu Irritationen, vgl. TÖCHTERLE 1994, S. 313 ad 308. AYGON 2006, S. 103, erkennt beim Wechsel der Tempora offenbar nicht die verschiedenen Flammen. Eher wird die zweite Frage von Tiresias als ein Nachfragen wahrgenommen (vgl. SPEYER 2003, S. 106).
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hen, daß Manto sich nach den Schrecknissen zusammenraufen und rasch zu ihrer nächsten Aufgabe (huc) schreiten möge, dem Streuen von Opfersalz (335 sparge). Die geläufige Interpretation, es sollten Rinder herbeigeführt werden,86 ist an sich schon problematisch und verursacht zudem weitere Probleme. Problematisch ist, daß admovere als sakralsprachliches Heranführen-an-den-Altar begriffen wird87 und infolgedessen als Objekt Rinder ergänzt werden.88 Als Objekt das Opfermehl zu ergänzen, wird eher abgelehnt.89 Aus der Annahme, Rinder würden herangeführt, resultieren zwei Probleme: Zum einen ergibt sich eine Verdoppelung des Heranführens, das ja bereits zu Anfang befohlen und ausgeführt wurde (299 appellite bovem; 303 victima ante aras stetit).90 Zum anderen ist die räumliche Bewegung der ergänzend gedachten Tiere schwer vorstellbar.91 Daß sich die Bewegung aus dem Text allein nicht erschließe, gilt als Argument für eine Bühnendarbietung, weil nur eine Handbewegung von Tiresias das huc verdeutlichen könne.92 Mit meinem Interpretationsvorschlag, Manto solle in ihrer Arbeit fortfahren, sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu den Tieren überflüssig und als Argument für eine Bühnenaufführung unbrauchbar. Daß jedoch im nachfolgenden Vers unvermittelt mit colla taurorum (335) von mehreren Tieren gesprochen wird, nachdem es bis dahin anscheinend nur um ein Tier gegangen war (bos; victima), erklärt den Interpretationsbedarf. Die Frage, wie es zu der größeren Anzahl von Tieren kommt, soll weiter unten aufgegriffen werden.93 Nach bewährtem Muster skizzieren der Befehl sparge salsa colla taurorum mola und spezifizierend die Frage nach dem Verhalten der Tiere dabei (337 sacra et admotas manus patiuntur) einen weiteren Vorgang im Ritual, ohne Schilderung des eigentlichen Aktes. Das Streuen des Opfermehls und das Annähern der Hände bezeichnen denselben Vorgang.94 Wird nun auf einen Stier fokussierend dessen Reaktion dargestellt (337–339), so fehlt die Entsprechung zu einem weiteren Tier, die der Plural tauri verlangt. Die anschließende Frage nach dem Verhalten beim Todesschlag (340 afflicti petunt) setzt die Tötung von mehreren Tieren voraus und beschleunigt zugleich das Geschehen.95 In der Vergangenheitsform wird das Ver86 Vgl. beispielsweise ZWIERLEIN 1966, S. 32, bes. S. 183; TÖCHTERLE 1994, ad 334; FITCH 2000, S. 11; FITCH 2004, ad 300; AYGON 2006, S. 103f.; KUGELMEIER 2007, S. 142, bes. Anm. 401. 87 Wie problematisch überhaupt der Begriff einer Sakralsprache ist, wurde oben dargelegt (s.o. Kap. 1 und 2). 88 ZWIERLEIN 1966, S. 183, bes. Anm. 24, spricht von einem „terminus technicus der Sakralsprache“; TÖCHTERLE 1994, S. 327 ad 334, von einem „vocabulum rituale“. 89 Nachweise bei TÖCHTERLE 1994, S. 327 ad 334. 90 ZWIERLEIN 1966, S. 183, schreibt diese Ungereimtheit fälschlich dem Dichter zu. 91 Vgl. beispielsweise TÖCHTERLE 1994, S. 326 ad 334; HOLLINGSWORTH 2001, S. 141; KUGELMEIER 2007, S. 142, bes. Anm. 401. 92 Vgl. HOLLINGSWORTH 2001, S. 141. 93 S.u. S. 277. 94 Mit diesen beiden Ausdrücken ist nur an dieser Stelle ein Ereignis zweimal erzählt, dazu vgl. GENETTE 1998, S. 82f. 95 Zur Zeitraffung in den Versen 336–353 vgl. ZWIERLEIN 1966, S. 32; TÖCHTERLE 1994, ad 340 ff.
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halten einer Jungkuh nachgetragen, die hier zum ersten Mal genannt in den Fokus gelangt (341 ferro imposito induit; 342 cecidit). Das Passiv ermöglicht zudem, dabei tätige logisch erforderliche Personen unerwähnt zu lassen.96 Bei dem anschließenden Schwenk zurück auf den Stier wird im Erzählen, ähnlich wie bei der zweiten Flamme, die vergangene Zeit aufgeholt bis zu dem gegenwärtigen Geschehen. So folgt der Blick dem schon getroffenen Stier (343 perpessus), wie dieser umher rast und dann stirbt (343f. ruit; exprimit). Die sich ebenfalls im Präsens anschließende Frage nach dem Bluten der Wunden (345f. micat; irrigat) vermittelt Unverzüglichkeit. Berichtet wird von beiden Tieren (huius ... huius) wie ansonsten explizit nur beim vorhergehenden Vorgang, den Todesschlägen.97 Wiederum ist in einem zeitlichen Nachtrag zuerst von der Jungkuh zu erfahren (347f. effusus amnis) und präsentisch werden die aktuellen Geschehnisse bei dem Stier geboten (347–350 maculantur;redit). Der nächste Befehl des Tiresias bildet den Übergang zur eigentlichen Eingeweideschau (352 ede). Vor der langen Sequenz, in der Manto die Eingeweide beschreibt (353–383), fehlen nun Angaben zur Öffnung des Tierleibes und dazu, wer die Zurichtungen ausführt. Genauso wie meistens vorher – bis auf die zwei gerade genannten Ausnahmen – wird hier nur von einem der Tiere berichtet, denn es fehlt die Eingeweideschau am Stier. Daß es um die Beschau der Jungkuh geht, wird jedoch erst sehr spät deutlich (371 nulla lex utero manet; 373 conceptus innuptae bovis).98 Nicht erwähnt im Verlauf der Eingeweideschau ist das Herausnehmen der Leber, das notwendig ist, um den Pyramidalfortsatz (360 caput), der auf der zum Körperinneren gewendeten Seite der Leber liegt, beurteilen zu können. Ein fibra rapere (391), das Herausnehmen der Eingeweide, nennt Tiresias lediglich in seinem abschließenden Kommentar zur Umschreibung der Eingeweideschau. Nach dem Abbruch der Eingeweideschau (380 viscera effugiunt) schaltet sich Oedipus wieder in das Gespräch ein (384). Informationen, was weiter mit den geschlachteten Tieren passiert, fehlen. In Bezug auf die literarische Technik lassen sich hier verschiedene Effekte aufzeigen. So wird es durch die gehäuften passivischen Wendungen und NichtErzähltes möglich, eine Konzentration auf Manto beizubehalten und keine weiteren Figuren als tätiges Personal einführen zu müssen, wie etwa die lediglich als Angriffsziel für das Rind genannten ministri, was eine Inszenierung jedoch verlangte.99 In der Auswahl des Berichteten zeigen sich strukturell Variationen. Werden im ersten Teil der rituellen Handlungen Tätigkeiten übersprungen, wie das Beten, Weihrauch-Anzünden und die Libation, so wechselt im zweiten Teil mit Einführung einer Mehrzahl von Rindern die Darstellung zwischen diesen. Zuerst wird allein über einen Stier berichtet, dann gibt es eine dichte Phase, die der Todesschläge und des Blutens, in der ein Rinderpaar dargestellt ist. Im letzten Teil,
96 ZWIERLEIN 1966, S. 32, vermißt außerdem den Befehl zum Todesschlag, den Tiresias als Zeremonienmeister hätte geben müssen. 97 Die zwei erlöschenden Feuer müssen indirekt auf zwei Tiere und weitergehend auf Iokaste und Oedipus übertragen werden. 98 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 352 ff. 99 S.o. S. 266, zur Rolle der ministri.
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der Eingeweideschau, wird allein die Jungkuh beschrieben. Beide Effekte, die Konzentration auf Manto und die mitsamt den Zeitsprüngen variantenreiche Ritendarstellung, gingen in einer Bühnenaufführung verloren. Nach der genauen Beobachtung des Textes und bei den Indizien, die gegen eine Konzeption zumindest dieses Abschnitts als Bühnenaufführung sprechen, soll die Frage nach der Anzahl der Tiere im Ritual aufgegriffen werden. Zu Anfang geht es anscheinend nur um ein einzelnes Tier, denn im Singular wird zuerst von bos numquam colla depressus iugo und kurz darauf von opima victima gesprochen (299f; 303). Erst sehr viel später bezeichnet ein Plural colla taurorum (335) mit dem Genitiv recht nebensächlich eine Mehrzahl von Tieren. Nach der Fokussierung auf einen einzelnen taurus (337) wird mit iuvenca (341) explizit ein weibliches Rind genannt, das später auch als innupta bos (373) bezeichnet ist. Mit dem Problem, daß zuerst von einem Tier und später von mehreren die Rede sei, ist in der wissenschaftlichen Literatur häufig die Interpretation des Befehls admove (334) verbunden. Eine Alternative, die diese ohnehin nicht zwingende Verbindung löst, konnte oben vorgestellt werden.100 Zumeist auf Grundlage der kritisierten Interpretation werden bezüglich der Tiere verschiedene Erklärungsansätze geboten. So meinen die einen, der Dichter habe schlichtweg vergessen, die erste Stelle (bos; victima) zu ändern.101 Andere sehen hier einen Überlieferungsfehler und ändern mit einer Konjektur von depressum auf depressam, so daß von Anfang an ein männliches (candidum tergum bovem) und ein weibliches Rind (curvoque numquam colla depressam iugo) eingeführt wären.102 Die Konjektur glättet auf definitiv nur zwei Tiere und findet große Zustimmung vor allem bei Befürwortern einer Bühnenaufführung.103 Häufig wird die Frage aber gar nicht problematisiert und es wird von zwei Tieren ausgegangen.104 Die gute Möglichkeit, an der ersten Stelle ohne die Konjektur einen kollektiven Singular anzunehmen, wird vereinzelt abgelehnt.105 Es spricht jedoch nichts dagegen, den Aus100 S.o. S. 274. 101 ZWIERLEIN 1966, S. 183, meint, der Dichter habe über die Beschreibung der Flammen das erste Tier vergessen und ließe deshalb nochmals Opfertiere herbeibringen. DINGEL 1985, S. 1079, meint, in dem Singular von bos und victima die Absicht SENECAs zu erkennen, nur das Opfern eines einziges Tieres darzustellen, wobei SENECA dann sein Konzept geändert habe und mit dem Plural von tauri und der Nennung von taurus und iuvenca zwei Tiere nenne, ohne aber die vorhergehenden Verse zu korrigieren. Die Auffassung DINGELs schätzt TÖCHTERLE 1994, ad 300, als Versuch ein, eine Abhängigkeit SENECAs von der extispicium-Darstellung LUCANs zu erweisen, wo von einem einzigen Tier berichtet ist. 102 Die Konjektur diskutieren z.B. ZWIERLEIN 1966, S. 182, und TÖCHTERLE 1994, ad 300; CAPDEVILLE 2000, S. 157f., Anm. 97; FITCH 2004, ad 300. 103 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 300; FITCH 2004, S. 141f. ad 300, S. 70; 135. 104 Beispielsweise SUTTON 1986, S. 22f. 105 Ablehnend ZWIERLEIN 1966, S. 182–183; wenn ZWIERLEIN am Anfang ein einzelnes Tier sehen will, spielt u.a. die geläufige Interpretation von admove hinein, wonach später weitere Tiere herangeführt würden. Das Argument eines zweimaligen Heranführens von Tieren ist jedoch, wie oben gezeigt, hinfällig. Ähnlich argumentiert ROZELAAR 1976, S. 514f., bes. Anm. 52, wenn er eine erste, nicht erfolgreiche Opferung des bos/victima nach Beobachtung der Flammen (332f.) als abgebrochen interpretiert.
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druck bos und ebenso victima sowohl auf ein männliches als auch auf ein weibliches Rind zu beziehen, wie die Wendung innupta bos nahelegt. Die Funktion des kollektiven Singulars besteht darin, zu bezeichnen, welche Tierart geopfert werden soll, nämlich die wertvolleren Rinder (opima victima) und nicht etwa Schafe. Den Plural tauri versteht man ganz richtig als zeugmatisch und als einen undifferenzierten Plural, bei dem erst später zum Aufbau der Symbolik eine Differenzierung in taurus und iuvenca nötig wird.106 Wie stark literarisch der Text gestaltet ist und wie wenig für die Bühne geeignet, zeigt sich hier vor allem an den Kollektivbezeichnungen und der schrittweisen Spezifizierung auf ein Rinderpaar. Diese Effekte lassen sich auf der Bühne nicht nachbilden, man kann sie lediglich ignorieren.
7.7.4 Die Deutungsebene in Mantos Reportage Nach Klärung des Handlungsverlaufs im Ritual soll die Deutungsebene mit ihren zahlreichen Rück- und Vorverweisen hervorgehoben werden. Die Gegenwartsform markiert im Dargestellten besonders wichtige Passagen, die auf das Schicksal des Oedipus bezogen werden müssen.
Die Feuer Anfänglich gibt es einen längeren Passus in dem Muster von Befehl und Getanmeldung und dann Frage und Antwort, was gewesen ist, (299–306 appellite; refer; voca; extrue und 307–314 quid flamma; utrumne ... an, jeweils 8 Verse). Die Antwort zu der ersten Flamme steht im Vergangenheitstempus, sie sei nach kurzem Aufleuchten gleich erloschen (308). Der Vergleich der Farben des anderen aufflackernden Feuers mit einem Regenbogen, der im Präsens steht (315–318), bildet ein retardierendes Moment, quasi eine Handlungspause im Erzählen.107 Noch kurz wird Mantos Bericht in der Vergangenheitsform weitergeführt (319f.) und schlägt dann in eine präsentische Darstellung des Geschehens um (320–326) und endet mit einem präsentischen Perfekt, das den erreichten Zustand beschreibt (327 abdidit): das Feuer wird dunkel, es teilt sich in zwei Parteien, der gespendete Wein wandelt sich zu Blut, dichter Qualm kommt auf und hüllt Oedipus ein, so daß er nicht zu erkennen und ihm das Licht genommen ist. Die Gegenwartsform zeigt inhaltlich besonders wichtige Passagen an: Es ist hier das Schicksal von Oedipus, seine Vergehen und die Sühnung, gezeichnet.108 106 TÖCHTERLE 1994, ad 300, ad 335; TÖCHTERLE 1997, S. 134f. Einen undifferenzierten Plural tauri sieht ROZELAAR 1976, S. 515 Anm. 52. 107 GENETTE 1998, bes. S. 67f.; 71–76. 108 PRATT 1939, S. 93, betont mit der Formulierung, es gehe um „the representation of Oedipus’ sins and their atonement“, zwar die Textimmanenz, jedoch argumentiert er dann mit den Interpretationen vom Bruderzwist (S. 94) und vom Zug der Sieben gegen Theben (S. 98) mehr intertextuell. Seine Position wiederholt PRATT 1983, bes. S. 98, unverändert.
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Im Vergleich des Feuers mit dem Regenbogen gibt die Buntheit (315f. varia colores) die Verwirrung der Rollen, die Oedipus einnimmt, an, so in seinem unklaren Verhältnis zu Iokaste109 und als König, dem Retter vor der Sphinx oder wegen der Pest Verderber Thebens.110 Weiter zeichnet der Passus über das Feuer (320–327) seine Sühnung, denn Oedipus straft sich später selbst mit Blindheit (954–979) und hat im Eid seine Verbannung (257–259), die das delphische Orakel gefordert hatte (217), vorbestimmt. Das Dunkelwerden des Feuers (320 ultima in tenebras abit) bedeutet ganz wörtlich seine Erblindung und sein Weggehen.111 Das Teilen des nur einen Feuers und das Kämpfen gegen sich selbst (320–323 pugnax ignis in partes duas / discedit et se scindit unius sacri / discors favilla)112 läßt sich als Konflikt zwischen persönlichem Wohl des Herrschers und Wohlergehen des Herrschaftsgebietes verstehen, der auch später formuliert ist (830f.).113 Das Wandeln des Weines in Blut (324) zeigt das Blutvergießen an, das Oedipus begangen hat und begehen wird. Der vorangestellte Ausdruck horresco intuens bereitet auf dieses Ungeheuerliche vor.114 Der dichte Qualm, der sich Oedipus um die Augen legt, bezeichnet jetzt konkret sein Erblinden, aber auch sein Blindsein, weil er
109 BETTINI 1983 sieht als erstes in einer Reihe von Omina den Inzest. Dabei bezieht er die Buntheit der Flamme nur auf den Inzest. Die Doppelflamme versteht er ganz richtig als Zeichen für den Kampf des Oedipus gegen sich selbst, der im Orakelspruch angekündigt ist (237a: tecum bella geres – mit dir selbst wirst du Kriege führen). Die Weinverwandlung interpretiert er ganz richtig auf die Blutströme, den Rauch wiederum zu eng nur auf die Blendung. BETTINI 1983, S. 140 ff., sieht eine Konfusion bezeichnet und im omne confusum (1025) in Iokastes Rede beim ‚Muttermord‘ wieder aufgegriffen. Jedoch gehen die Elemente der Verwirrung über die von BETTINI genannten, nämlich Inzest, Sphinxrätsel und Pest, hinaus. 110 MASTRONARDE 1970, S. 298, betont die Bedeutung des Feuers und sieht in den Versen 314– 318 den Bezug auf die Herrschaft („confused kingship“). Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 314 ff. 111 Der Ausdruck ist bisher lediglich auf die Blindheit bezogen worden, vgl. TÖCHTERLE 1994, S. 319 ad 320; die komplizierten Überlegungen zur Bedeutung von abire sind überflüssig. Auch TIETZE-LARSON 2004, S. 157–168, bes. 164–166, trifft nicht den Kern, d.h. den direkten Bezug auf Oedipus in der Darstellung dieses Feuer insgesamt, wenn sie ein verlebendigendes Wortfeld aufzeigt, das ihr allgemein als Ausdruck von inconstantia gilt. 112 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 321 ff.; er bietet zum einen alternative Interpretationen, die stärker textimmanent vorgehen (s.o. Anm. 109); zum anderen vertritt er die seit FARNABY 1613, S. 94, meist vorgetragene Interpretation, es werde der Bruderzwist der Oedipus-Söhne Eteokles und Polyneikes vorgezeichnet. Jedoch allzu dezent bleiben die Hinweise auf einen Bruderzwist im Orakelspruch (237b natis quoque bella relinquens – und auch den Kindern Kriege hinterlassend) und im dritten Chorlied (749f. illa Herculeae norint Thebae / proelia fratrum – jene Brüderkämpfe soll des Herkules Theben nur kennen), als daß der Bruderzwist Thema der ganzen Tragödie sein könnte. Die Kritik DINGELS 1985, S. 1079, SENECA habe ein Nebenthema zu stark betont (vgl. TÖCHTERLE 1994, S. 341 ad 359 ff.), ist jedoch nicht SENECA, sondern der traditionellen Interpretation zuzuschreiben. Die Leberschau (359–365), die als Hauptbeleg für den Bruderzwist gilt, läßt sich dagegen viel näher an den Ereignissen um Oedipus interpretieren (s.u. S. 283f.). 113 S.o. S. 270. 114 Vgl. TÖCHTERLE 1994, S. 321 ad 324.
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seine Schuld nicht sieht, und weiter, daß er in der Rolle des Schuldigen auch von anderen noch nicht erkannt ist.115 Dagegen ist, gekennzeichnet durch das Perfekt, das kurz auflodernde und dann rasch ersterbende Feuer zu Anfang (308 subito revulsit lumine et subito occidit) nicht auf Oedipus, sondern auf Iokaste zu beziehen.116 Das kurze Hellwerden bezeichnet vielleicht die kurze Zeit, die Iokaste als Mutter erkannt war, und das plötzliche Ersterben bedeutet ihren baldigen Tod. Wie das abire für Oedipus ist das occidere für Iokaste wörtlich zu nehmen. Die Angaben zu Iokaste stellen kein eigenständiges Thema dar, sondern bilden ein Unterthema zum Schicksal von Oedipus. Sie müssen als Hinweise auf die Vergehen von Oedipus, nämlich den Inzest und die noch folgende weitere Bluttat, den von Iokaste provozierten Muttermord, indem sie sich in sein Schwert stürzt, verstanden werden, was später in der Tötungsszene der Iokaste auch formuliert ist.117
Das Verhalten der Tiere Die resümierende Frage von Manto nach der Bedeutung und die Frage, die Tiresias an sich selbst richtet, bilden wiederum ein retardierendes Moment (328–334), in dem der Aspekt einer verweigerten Enthüllung vorgebracht wird (332f. prolatum volunt / iterumque nolunt).118 Erst dann wird die Handlung im Befehl des Tiresias, die Rinder mit Opfersalz zu bestreuen, und in seiner Frage, wie sich die Tiere dabei verhalten (334–337), fortgeführt. In Vergangenheitsform trägt Manto nach, wie ungewöhnlich der Stier sich gerade verhalten hat, weil ihn der Blick zum Tagesaufgang schreckte (337f.), und teilt im Gegenwartsbericht mit, wie der Stier nun das Licht flieht (339 trepidusque vultum obliquat et radios fugit). Somit ist ein weiteres Mal mittels der präsentischen Tempuswahl auf das weitere Schicksal von Oedipus, seine baldige Erblindung, hingewiesen. Auch der ähnliche Wortlaut von altum taurus attollens caput ... expavit diem (337f.) mit attollit caput ... noctem experietur (971–973) bestätigt die gedankliche Verbindung zwischen dem Verhalten des Stiers und der Zukunft des Oedipus.119 In der Vergan115 TÖCHTERLE 1994, S. 322 ad 325 ff., gibt die gängige Erklärung wieder, es werde das Erblinden bezeichnet; damit harmoniert die Auffassung, Oedipus werde durch den Rauch als Urheber der Verbrechen gekennzeichnet (SCHETTER [1968], S. 442). Das Wort vultus weist auf die Blendung, die in einem Botenbericht dargestellt wird, voraus (921, 952; 960); vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 326. 116 Die gängige Deutung ist, daß hier des Oedipus rascher Aufstieg und Fall geschildert sei (vgl. TÖCHTERLE 1994, S. 312 ad 308). Inhaltlich spricht dagegen, daß Oedipus immerhin schon zehn Jahre König ist (vgl. 783b) und damit kein rasanter Verlauf vorliegt. 117 Vgl. bes. SEN. Oed. 1032f. (Iokaste:) agedum, commoda matri manum, si parricida es. restat hoc operi ultimum – Komm, leih der Mutter die Hand, wenn du ein Elternmörder bist. Es fehlt dies Letzte an dem Werk; bes. 1044f. (Oedipus:) bis parricida plusque quam timui nocens / matrem peremi: scelere confecta est meo – zweifacher Elternmörder und tiefer schuldig, als ich fürchtete, habe ich die Mutter umgebracht: durch mein Verbrechen ist sie tot. 118 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 332 ff. 119 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 337 ff.
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genheitsform über das Erschrecken vor dem Tagesbeginn (primos ad ortus ... expavit) ist deutlicher als zuvor auf die frühe Verbindung zu Iokaste hingewiesen, die Oedipus zu erkennen sich weigert, nämlich seine Abstammung.120 Aufs neue wird nach der Frage des Tiresias über das Verhalten der Rinder zuerst von dem weiblichen Tier in der Vergangenheit berichtet, daß nämlich das weibliche Tier sich selbst in das Todeswerkzeug stürzte (341f.) und daß der Stier zwei Hiebe erhalten habe, bevor wiederum durch das Gegenwartstempus betont ist, wie der Stier nun herumirrt und schließlich nur langsam stirbt (340–344). Auf die Frage, wie die Wunden bluten, antwortet Manto, aus der Wunde des Rindes sei das Blut kräftig geströmt (447f.), und über den Stier kann sie im Augenblick des Geschehens sagen, das Blut fließe über seine Augen (345–350). Beide Aussagen sind als Vorverweise auf die Selbstbestrafung des unglückseligen Paares zu werten, zum einen auf den bevorstehenden Selbstmord Iokastes, die sich in das Schwert des Oedipus stürzt und schnell verblutet (1024–1042), und zum anderen auf die gewaltsame Verletzung beider Augen des Oedipus und auf sein langdauerndes Dasein als Verbannter (949–951 mors longa).121 Eine Reflexion von Tiresias über die unheilvolle Bedeutung der Zeichen verursacht eine kurze Verzögerung (351),122 bevor Manto durchweg in der die Wichtigkeit betonenden Gegenwartsform den Zustand der Eingeweide und die Ereignisse, die die Eingeweideschau beenden, darstellen kann.
Die Eingeweideschau und die nachfolgenden Ereignisse Die ohne jeglichen Fokalisierungswechsel vorgetragene abschließende Rede ist durch einige reflektierende Momente, also kurze Handlungspausen, durchbrochen und zugleich gegliedert: Nachdem Manto über den allgemeinen Zustand, das Herz, die Adern, die fehlenden Fibern, die Galle und die Leber gesprochen hat (353–358, 6 Verse), kommentiert sie, was sie schon gesehen, aber noch gar nicht benannt hat (359 semper omen unico imperio grave), und fährt dann in ihrer Beschreibung fort, indem sie ein weiteres Mal und jetzt genauer auf die Leber zu sprechen kommt (360–365, 6 Verse). Darauf folgt eine allgemeine Bemerkung über den verkehrten Zustand des Gesehenen (366 mutatus ordo est) und die Rede wird mit der Beschreibung weiterer Organe – der rechten Lunge, den linken Lungenbereich, das Bauchfell – und einer nochmaligen Kurzbefundung fortgeführt (366–371, 6 Verse). In dieser fällt bereits das Stichwort, das das Thema von der unnatürlichen Nachkommenschaft bestimmt, um das es in den nächsten Versen geht (371 nulla lex utero manet). Manto stellt sich jetzt selbst die nächste Aufgabe (372 scrutemur). Die Beobachtung des ungeborenen Kalbes im Leib des unge120 Vgl. PRATT 1939, S. 95f. („facing its original source“); ihm folgt MASTRONARDE 1970, S. 312 Anm. 36; vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 337 ff. 121 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 340 ff. 122 Weiter oben (S. 276) war schon bemerkt worden, daß das Öffnen des Tierleibes nicht erzählt wird. Diese Auslassung wird offenbar mittels der Reflexion des Tiresias überbrückt.
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paarten Rindes ist der letzte Aspekt bei der eigentlichen Eingeweideschau (372– 377, 6 Verse). Die Schilderung der ungewöhnlichen Vorkommnisse (378–383, 6 Verse) – das Bewegen und Erheben des Rindes, der Angriff auf die ministri, das Brüllen und Zittern der Feuer auf den Altären – beenden ihre Darstellung. Bei einer Einteilung der gesamten Rede in fünf Gruppen von jeweils sechs Versen sticht ein einzelner, die Gesamtlage beurteilender Satz als besonders wichtig hervor (359 für ein einziges Reich immer ein schwerwiegendes Omen). Er korrespondiert mit Passagen, in denen es um die problembeladene Herrschaft von Oedipus in Theben geht und die salus publica gegen die salus regis steht (s.o. S. 270). Daß die exta, wie sich beim ersten Anschauen darstellt, so stark zittern und die Hände wegstoßen (354f.), läßt sich wiederum als Widerstand, jetzt als aktiver Widerstand gegen die Enthüllung deuten.123 Auch für das Herz, das als erstes Organ beschrieben wird – das tief im Innersten verborgen liege (356) – ist auf dieser Linie ein Verweigern der Enthüllung zu sehen.124 Bei der Thematik von salus publica gegen salus regis (830f.) könnte das kranke Herz das an der Pest kranke Theben bezeichnen, das unter der noch nicht aufgedeckten verkehrten Herrschaft, die Folge des Königsmordes an Laius ist, leidet.125 Auch der ungesunde Zustand der weiteren Eingeweide (venae, fibrae, fel,126 iecur) könnte sich auf die Pest beziehen; man ist jedenfalls durch das Vokabular von Eiter und Zersetzung an die Pestbeschreibung im Prolog des Oedipus erinnert.127 Darauf wird mit dem besonders betonten kommentierenden Einschub (359 omen unico imperio grave) auf die salus regis Bezug genommen, die Verhältnisse des Oedipus also, die auf der Leber abgebildet sind. Die Interpretation, es sei der Zwist der Oedipus-Söhne um die Befehlsgewalt (imperium) vorgezeichnet, erscheint dagegen wenig plausibel, weil der direkte Bezug zu dem im Drama dargestellten Geschehen fehlt.128
123 TÖCHTERLE 1994, ad 354f. darin SCHETTER [1968], S. 442f., folgend. – TÖCHTERLE 1994, ad 352 ff., 353f., 356, 358 ff. u.ö. trägt an diesen Stellen die problematische Hypothese von einer etruskisch-römischen Dichotomie der Eingeweideschau vor. 124 TÖCHTERLE 1994 bietet zu diesem Aspekt nichts. 125 Auf die Parallele, daß das Herz hier genauso wie bei LUCAN (1,624 cor iacet) die jeweilige Hauptstadt symbolisiert, sei nochmals verwiesen (s.o. S. 243 Anm. 57). 126 Dagegen verstehen etliche die schwarze Galle psychologisierend als Anspielung auf die Angst des Oedipus oder auf den Haß seiner Söhne, Eteokles und Polyneikes (vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 358). 127 Bes. SEN. Oed. 133–141 prima vis tardas tetigit bidentes / laniger pingues male carpsit herbas / colla tacturus steterat sacerdos / dum manus certum parat alta vulnus, / aureo taurus rutilante cornu / labitur segnis; patuit sub ictu / ponderis vasti resoluta cervix: / nec cruor, ferrum maculavit atra / turpis e plaga sanies profusa. – Doch der erste Schlag traf die trägen Schafe: kaum noch fraß das Wolltier die fette Weide; schon bereit, den Nacken zu treffen, stand der Opferpriester: während noch hoch erhoben seine Hand zu sicherer Wunde ausholt, sackt der rötlich-golden gehörnte Stier schon schlaff zusammen; unter des starken Hiebes Wucht klafft weit geöffnet der Hals des Opfers: doch kein Blut bespritzte das Messer, sondern Eiter, eklig quellend aus schwarzer Wunde. (Übers. HELDMANN 1992). 128 Zu der traditionellen, aber problematischen Interpretation, s.o. Anm. 112. Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 359 ff.
7.7 Die narrative Zeit
283
Das vor dem Kommentar gegebene Stichwort der Leber (iecur) dient dazu, die Detailbeschreibung vorzubereiten: Die zwei Häupter (bina capita)129 auf zwei gleich großen Wülsten (pares tori) geben ein gleichgewichtetes Verhältnis an. Die zwei capita bezeichnen nicht, wie sonst ohne genügende Textimmanenz interpretiert, das streitende Söhnepaar, sondern bezieht sich auf die Doppelrolle, die Oedipus einnimmt. Gerade die Mehrdeutigkeit des Wortes torus, das sich anatomisch verstehen läßt als Muskel, Wulst, und das auch Polster, Bett heißen kann, schafft eine Interpretationsebene für das doppelte caput. Es ist das Problem verdeutlicht, daß Oedipus Ehemann seiner Mutter ist.130 Die dünne Haut, die das zweigespaltene Haupt nicht verdecken kann (361f.), bildet wiederum das Motiv der verweigerten Enthüllung ab. Der Ausdruck caesum ... caput wird häufig als Anspielung auf Zwist und Tod der Oedipus-Söhne aufgefaßt,131 doch variiert er lediglich das vorhergehende capita bina132 und ist eben auf Oedipus zu beziehen. Die sogenannte feindliche Seite an der Leber133 wird als erstarkend beschrieben, doch ist auch hier nicht von der Feindschaft der Oedipus-Söhne die Rede, sondern von Oedipus’ Feindschaft gegen sich selbst. Der Orakelspruch bezeichnet doch im tecum bella geres (du wirst Kriege mit dir führen, 237a) deutlich eine Vielzahl von Kämpfen, die Oedipus gegen sich auszutragen hat.134 Nach den Doppelrollen Königsmörder und König, Sohn und Ehemann geht es hier um die Doppelrolle, die Oedipus als Herrscher über Theben, als ihr Retter und Verderber, einnimmt. Der Aspekt von den verwirrten Verhältnissen konnte in der Vielfarbigkeit der Flamme bereits aufgezeigt werden.135 Eine gängige Interpretation der Leberschau bezieht die sieben venae, die auf der ‚feindlichen Seite‘ der Leber sichtbar sind, – wenn nicht gänzlich nur tiermedizinische Aspekte Beachtung finden – wiederum auf den Bruderzwist, in dessen Verlauf es zu dem Zug der Sieben gegen Theben kam.136 Jedoch sind die sieben Wege nicht als Wege der heranrückenden Heere der sieben Fürsten zu verstehen und auch das Verwehrt-Sein einer Rückkehr (364f.) bezieht sich nicht auf den Untergang dieser Heere. Zentrales Thema ist Oedipus. Der Ausdruck für die feindliche Seite, hostile ... latus, verweist klar auf eine politische Sphäre.137 Begriffe wie exul (12; 259; 648), profugus (23; 80; 234; 1051), hospes (80; 234; 259; 264)138 und limes (365) kennzeichnen 129 Zum caput iecoris, einem Fortsatz auf der Leber, vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 359 ff. 130 Ganz richtig bezieht PRATT 1939, S. 98, und 1983, S. 99 pares tori, das zweifache Bett, auf die zwei Ehen Iokastes; vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 360. 131 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 361f. 132 TÖCHTERLE 1994, ad 361f. 133 In antiken Texten wird unterschieden zwischen einer pars hostilis und einer pars familiaris (vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 363 ff.). 134 S.o. Anm. 50 und Anm. 112. 135 S.o. S. 279. 136 TÖCHTERLE 1994, ad 364 und ad 364f. 137 Entgegen der hier vorgetragenen Interpretation schlägt TÖCHTERLE 1994, ad 363 ff., das Fatum als Feind vor; Probleme gibt er bei einem Bezug auf den Bruderzwist zu, weil letztlich keiner der Brüder siegt, denn beide sterben, und Kreon hat als Vertreter der Stadt Theben den Gewinn. 138 Das Wortfeld für hospes, profugus und exul beschreibt MASTRONADE 1970, S. 301f.
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diese.139 König Oedipus muß, um die Stadt vor der Pest zu retten, wie er im Eid geschworen hat, als entdeckter Königsmörder die Stadt verlassen. Sämtliche sieben Stadttore Thebens werden ihm als Verbannten verschlossen bleiben. Der limes, der die Wege durchschneidet, markiert die Stadtgrenze.140 Diese Doppelrolle wird in der Nekromantie mit der Forderung von Laius’ Schatten, den König zu verbannen (647f. regem ... exulem),141 benannt. Aber nicht nur Zukünftiges wird in der Leberschau erhellt, sondern auf der Ebene politischer Bezüge rückt auch Vergangenes in ein anderes Licht. Oedipus nämlich sieht sich als Gastfreund (hospes) in Theben und als ein quasi aus Korinth Verbannter (exul). Das Verhältnis ist jedoch umgekehrt, denn für Theben ist er mit der Aussetzung als Kind zu einem exul geworden und mit der Aufnahme in Korinth zu einem hospes.142 Aus dieser Vertauschung resultiert die Doppelrolle, daß Oedipus für Theben zugleich exul und hospes ist. Das Grundproblem der politischen Rollenverteilung ist markant bereits im Prolog des Oedipus mit exul ... in regnum incidi (13f.) formuliert: Läßt sich exul zunächst nur als quasi aus Korinth Verbannter verstehen, der zufällig an die Herrschaft über Theben geraten ist, wie den Worten Oedipus’ zu entnehmen (s.o. S. 252), muß dieser Satz rückblickend umgedeutet werden: Der einst aus Theben Verbannte ist als Feind in die Stadt eingefallen.143 Ein weiteres Paradox zeichnet sich ab, denn ein Verbannter ist König in Theben. Die Forderung vom Totenschatten des Laius, den König zu verbannen, würde zumindest die politischen Verhältnisse ordnen, indem der einst schon Verbannte endgültig in die Verbannung geschickt wird. Die in der Leberschau zahlreichen Ausdrücke des Weg-Versperrens (364f. omnis retro / prohibens reverti limes oblicus secat) betonen die Intensität.144 Nach einem kurzen reflektierenden Einschub (366) beschreibt Manto die verworrenen Verhältnisse im Innern des Tieres, womit ein weiteres Mal auf die verworrenen Verhältnisse des Oedipus angespielt ist. Nach der Aufzählung von Organen am Anfang (353–358) wird hier die Reihe fortgesetzt mit dem Blick auf den rechten und linken Lungenflügel (367–369). Daß die rechte Lunge bluterfüllt ist, verweist nochmals auf die Bluttaten des Oedipus, seine persönlichen Verhältnisse. Im Kontrast hierzu bedeutet der Bereich der linken Lunge, die das Herz missen läßt, vielleicht die Angelegenheit seiner Herrschaft: Das Herz steht für Theben, wie schon oben gezeigt,145 und Oedipus wird seine noch gar nicht ent139 Vollständigkeit der Belege ist hier nicht angestrebt. 140 Der Ausdruck limes bereitet im allgemeinen Probleme, da die Interpretationen dazu neigen, diesen als Variation – wohl eher vermeintlicher – Fachbegriffe in einer historischen Eingeweideschau zu sehen; vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 364f. 141 BISHOP 1978, S. 292, sieht hier einen Aufruf zur Vertreibung Neros; vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 647f. 142 Die Verwirrung über die wahre Heimat scheint mir doppeldeutig mit dem Plural paternis expulit regnis (22) ausgedrückt, dagegen sieht TÖCHTERLE 1994, ad 22, lediglich einen poetischen Plural. 143 Diese Umdeutung scheint mir nur einem lesenden Rezipienten zuzumuten. 144 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 364f., diskutiert nur anatomische Bezeichnungen. 145 S.o. S. 282.
7.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
285
deckte Heimat Theben verlieren.146 Das Motiv der Enthüllung, einer nicht mehr zu verhindernden Enthüllung, ist in dem schwach ausgebildeten Bauchfell (omentum) zu erkennen.147 Mit der nochmaligen Bemerkung Mantos über den verkehrten Zustand insgesamt und dem Hinweis auf die Verkehrtheit des Mutterleibes (371 nulla lex utero manet) wird eigentlich erst klar, daß die Eingeweideschau am weiblichen Rind ausgeführt wird. Das Stichwort uterus leitet zum nächsten Abschnitt über. War gerade zuvor die Entdeckung angekündigt worden, findet sie jetzt statt:148 Die unnatürliche Leibesfrucht (conceptus innuptae bovis) muß als Hinweis auf den Inzest und als Synonym für Oedipus begriffen werden.149 Daß bei dem Bewegen des ungeborenen Kalbes von debiles artus die Rede ist, weist deutlich auf das körperliche Gebrechen hin, das auch im Namen des Oedipus, der mit ‚Schwellfuß‘ erklärt wird, kenntlich ist.150 Die weitere Beschreibung von schwarzen Fibern und verfärbtem Blut verunklärt, ob über das Rind oder sein Kalb gesprochen ist.151 Die Schwärze und das Blut weisen zum wiederholten Mal auf Blindheit und Bluttaten hin. Nochmals setzt eine Verweigerung der Enthüllung ein: Das Muttertier mit seinem Kalb wehrt sich gegen eine weitere Erforschung, indem es aufsteht (378) und ihr Inneres der tastenden Hand entzieht (380b).152 Auch der Angriff auf die ministri (379f.) stellt ein Abwehrmotiv dar. Vorgezeichnet ist hier ein Angriff, den Oedipus später gegen seine Bediensteten startet: Aggressiv befragt er einen Zeugen seiner Herkunft, den korinthischen Boten (801–832), und droht mit Folter demjenigen Hirten, der das ausgesetzte Kind Oedipus fand und weitergab (bes. 862).
7.8 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Indem stark auf Textimmanenz, Struktur und zeitliche Darstellung geachtet wurde, konnte eine wesentlich veränderte Interpretation erreicht werden. Als irrig zurückgewiesen wurde die seit Jahrhunderten tradierte Allegorese, es sei in der Eingeweideschau der zukünftige Kampf zwischen den Oedipus-Söhnen Eteokles und Polyneikes geschildert. Vielmehr sind für die Tragödie und die Eingeweideschau die vertrackten Verhältnisse, in denen sich der Protagonist Oedipus findet, bestimmend. In mehrfacher Hinsicht nimmt Oedipus paradoxe Doppelrollen ein, deren Komplexität sich erst im Fortgang des Schauspiels den Personen der Hand146 TÖCHTERLE 1994, ad 367f. und ad 369, hält die Bedeutung dieser Verse für kaum erschließbar. Dagegen versteht BETTINI 1984, S. 148, das Herz als Omen für Oedipus in der Doppelrolle als Sohn und Ehemann. 147 TÖCHTERLE 1994, ad 369f. 148 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 373. 149 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 371 und ad 373, der auch unwahrscheinliche Alternativen vorstellt. 150 TÖCHTERLE 1994, ad 376. 151 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 377. 152 Vgl. TÖCHTERLE 1994, ad 380.
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lung und dem Rezipienten erschließt. Zentrale Belege hierfür sind ein Halbvers im Orakelspruch (tecum bella geres – du wirst Kriege mit dir führen, 237a) und die Verse über die Vielfarbigkeit und Zweiteilung einer Flamme im Ritual (314–323). Hinzu kommt, daß sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges enthüllt wird. Die Doppelrollen Sohn und Ehemann der Iokaste sowie Königsmörder und König sind mythologisch überliefert und für den Rezipienten mit diesem Wissensvorsprung gegenüber den Personen der Handlung verhältnismäßig leicht wiederzuerkennen. Weniger einfach ist es, die einzelnen Züge in der Eingeweideschau daraufhin zu interpretieren. Hierzu konnten zahlreiche Korrekturen vorgeschlagen werden. Auch die Doppelrolle Retter Thebens vor der Sphinx und Verderber durch die Pest ist mythologisch vorgegeben und bildet mit der angestrebten Sühnung ein die Handlung vorantreibendes Element. Die drei Divinationsverfahren, Orakelbefragung in Delphi, Eingeweideschau und Nekromantie, bilden eine Klimax der Enthüllungen: Im Orakel ist die Sühnung gefordert, doch wird der zu Strafende nicht erkannt. In der Eingeweideschau ergeben sich Diskrepanzen, denn es wird zweierlei gefragt. Die eine von Oedipus gestellte Frage, wer der Schuldige ist, bleibt ergebnislos, aber die von Tiresias formulierte Aufgabe, die Schicksale zu erkunden, wird erfüllt. Hierdurch entstehen unterschiedlich lange Spannungsbögen, die mit der Frage nach dem Schuldigen zur Nekromantie und – wenn auch von Oedipus noch nicht akzeptiert – zur Auflösung des Rätsels führen. Die Frage nach den Schicksalen zeigt einerseits die aus der Vergangenheit erwachsene Schuld auf, so den Königsmord und Inzest, und zeichnet andererseits das noch bevorstehende Schicksal des Protagonisten, und damit auch Iokastes, vor. Die Selbstbestrafung des Oedipus hat wiederum etwas Verkehrtes an sich, weil sie mit Verbannung und Selbst-Blendung kein Tod und kein Leben ist. Auch in Iokastes Tod liegt ein Paradox, dieser ist zugleich Selbstmord und Muttermord. In der Darstellung des Rituals konnten durch das Gegenwartstempus, dessen Verwendung bislang ungeklärt war, Hinweise, die sich auf das Schicksal des Protagonisten beziehen, bestimmt werden, andere im Vergangenheitstempus, so der Tod Iokastes, ließen sich als untergeordnet begreifen. Aufgrund dieser Strukturen konnte der Bruderzwist der Oedipus-Söhne als unangemessene Interpretation herausgestellt werden. Das Schwinden dieser Interpretationsebene ermöglichte eine neue Sicht auf eine Passage in der Leberschau, deren zentrale Bedeutung bisher verkannt worden ist. Wieder geht es um Doppelrollen, die Oedipus einnimmt und sich darin selber Feind ist. Mit dem Blick auf die als hostile ... latus bezeichnete Leberregion, eröffnet der Ausdruck hostilis eine politische Dimension. Vorgezeichnet ist auf dem Leberlappen die Verbannung des Königs Oedipus. Mit dem Wortpaar rex und exul wird diese Doppelrolle in der Nekromantie pointiert. Der Begriff exul ist zudem eingebunden in eine Doppelrolle Verbannter und Gastfreund. Die Vertauschung seiner Heimaten läßt Oedipus verkennen, daß er für Theben nicht etwa Gastfreund (hospes), sondern ein vor langer Zeit Verbannter (exul) ist. Die Götteranrufung im Eid verdeutlicht seinen Irrtum. In der Konsequenz aus dem vertauschten Verhältnis von Gastfreund und Verbanntem zeichnet sich das weitere Paradox ab, daß ein Verbannter König ist in Theben. Die Leberschau zeichnet in
7.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
287
einer kulminierenden Ausdrucksweise (364f.) die Intensität, mit der eine Rückkehr des zum zweiten Mal Verbannten verhindert werden soll, vor. Unter dem Aspekt, daß es in der Eingeweideschau um die Verhältnisse des Oedipus geht, konnte eine Interpretation von bisher nicht verstandenen Angaben zum Herzen versucht werden. Das kranke Herz ist mit dem an der Pest kranken Theben gleichzusetzen (356); sein In-der-Tiefe-Verborgen-Sein (356) und Fehlen im linken Lungenlappen (369) kann jetzt dahingehend interpretiert werden, daß es für Oedipus verloren ist: Noch hat Oedipus seine wirkliche Heimat Theben nicht gefunden, da ist sie auch schon verloren für ihn. Ausgehend von der Eingeweideschau ließen sich zahlreiche Doppelrollen, die Oedipus unwissentlich einnimmt, erschließen. Diese sind zudem miteinander verknüpft, so daß sich ein erhebliches Konfliktpotential abzeichnet. Mit diesem umzugehen, ist Angelegenheit des Protagonisten. Dabei steht auf der einen Seite sein persönliches Wohl, auf der anderen das Staatswohl. Dieser Grundkonflikt ist explizit formuliert (830f.). Indem SENECA eine Situation darstellt, die den Herrscher in einem hochkomplexen Konflikt zeigt zwischen dem Wohl für sein Volk und seinem persönlichen Wohl, ist diese Tragödie als Oppositionsliteratur von hoher Brisanz zu werten. SENECA läßt seine Figur, König Oedipus, sich mit großer Konsequenz zum Wohl für sein Volk entscheiden. Denn dieser nimmt, um Theben von der Pest zu befreien, nicht nur die Strafe der Verbannung an, womit in politischer Hinsicht eigentlich schon Genüge getan wäre. Findet er nicht auch mit der Blutstrafe der Selbst-Blendung einen Ausweg, gleichzeitig die Strafe für seine persönlichen Vergehen auf sich nehmen, ohne die Verbannung und damit ein Gesunden Thebens zu verhindern?153 Das Beispiel Oedipus bietet gerade mit der Entscheidung, das öffentliche Wohl dem eigenen voranzustellen, Ansatzpunkte, eine Kritik SENECAs am römischen Kaiser Nero aufzuzeigen.
153 Als Kennzeichen stoischer Philosophie sehen das Verhalten des Oedipus beispielsweise SCHÖPSDAU 1985, S. 91, und CORDES 2009, S. 445f.
8 ATREUS (SENECA, THYESTES 641–788) EINFÜHRUNG Das Motiv der rituellen Schlachtung und Eingeweideschau hat SENECA ein weiteres Mal verwendet, aber es in seinem Drama Thyestes ganz anders eingesetzt als im Oedipus. Das Drama insgesamt handelt von der Rache, die Atreus an seinem Bruder Thyestes nimmt, der ihm einst den Thron streitig gemacht hatte. Thyestes erscheint wegen seiner Passivität beinahe in einer Nebenrolle,1 doch ist das Drama nach ihm benannt, und dieses zu Recht, denn Thyestes bietet mit dem Verlassen eines stoisch-philosophischen Lebensstils, der einen Machtverzicht bedeutet hätte, seinem Bruder Atreus erst die Gelegenheit für seine Umtriebe. Thyestes ist als Ziel für die Rache des Atreus der Protagonist. Als Instrument der Rache steht das Schlachtritual im Mittelpunkt der Darstellung, ein pervertiertes Schlachtritual, bei dem Atreus die Söhne des Thyestes tötet und zu einem Festmahl zubereitet, das Thyestes nichts ahnend sich einverleibt. Wird im Prolog des ersten Aktes die Rachetat angekündigt, im zweiten Akt geplant und ihm dritten Akt das Objekt der Rache, Thyestes, vorgestellt, so stellen der vierte und fünfte Akt die Umsetzung dar: die Schlachtungen, das Festmahl und das Offenbaren der ungeheuerlichen Taten.2 Das vordergründig geschilderte Ritual hat in der Forschung viel Beachtung unterschiedlichster Art gefunden. Daß aber noch ein weiteres Ritual, eine Bestattung, im Hintergrund steht und die verhinderte Bestattung eine Vergrößerung des Unrechts darstellt, woran Thyestes beteiligt ist, muß die nachfolgende Analyse des Textes verdeutlichen. Zunächst soll ein forschungsgeschichtlicher Überblick die Bereiche des Interesses skizzieren:3 Einen eher geringen Anteil an den Diskussionen hat die historisch orientierte Forschung, die mit wechselnder Einschätzung die Darstellung der Schlachtungen als Abbild von historischen Schlachtriten, wie sie im römischen Kulturraum üblich gewesen seien, heranzieht. So wird diese Thyestes-Passage zum einen gemeinsam mit der Darstellung in SENECAs Oedipus in Gänze als getreue Wiedergabe römischen Kultgeschehens eingeschätzt.4 Zum anderen wird speziell der Ausdruck erepta vivis exta (755) als Begriff einer sakralen Termino-
1 2 3 4
Vgl. DAVIS 2003, S. 43f. und AYGON 2003. Die Zählung der Akte bei SEIDENSTICKER 2002, S. 129, weicht hiervon ab, weil der Prolog nicht als erster Akt gezählt ist. Zu Grundsätzlichem zu den Dramen SENECAs s.o. Kap. Tiresias und Manto, Einführung. Vgl. WALTER 1975, S. 46–53, bes. S. 47; FISCHER 2008, S. 133f.; WALTERs Darstellung liegt ganz auf der Linie einer sakralen Terminologie, die in den ersten beiden Kapiteln der hier vorliegenden Arbeit problematisiert wurde.
8.1 Skizzierung des Inhalts und der Situation bis zum Ritual
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logie diskutiert.5 Beide Ansätze sind, wie in den einleitenden Kapiteln ausgeführt, problematisch. Die literaturwissenschaftliche Forschung befaßt sich mit Vorlagen und motivischen Vorbildern des Dramas. In der antiken Literatur ist der Konflikt zwischen Atreus und Thyestes zwar häufig behandelt worden, SENECA hatte somit viele Vorgänger, aber allein seine Tragödie ist vollständig überliefert.6 Bekannt sind Versionen der griechischen Tragödiendichter SOPHOKLES und EURIPIDES.7 Daß beide sich in Anzahl und Namen der Thyestes-Söhne unterscheiden, liefert Argumente für eine Diskussion, ob SENECA die Ermordung von zwei oder von drei Söhnen schildert. Auf diese Frage wird im folgenden einzugehen sein.8 Weitere Vorlagen wie von dem römischen Tragödiendichter ACCIUS und dem Mythographen HYGINUS (fab. 81; 244; 246) sind beschrieben.9 Motivisch am nächsten kommt mit Kindermord und Festmahl als Racheakt eine Darstellung in OVIDs Metamorphosen (6,412–674, bes. 635–665), wie die von ihrem Ehemann betrogene und getäuschte Prokne als Rache für die Vergewaltigung und Verschleppung ihrer geliebten Schwester Philomela zusammen mit dieser ihren Sohn Itys ermordet und ihn als ein Festmahl dem Manne vorsetzt.10 Auch diese Passage wird für die Diskussion über die Anzahl der Thyestes-Söhne bei SENECA herangezogen. Insgesamt kann der Thyestes als Kompilation aus den verschiedenen Vorlagen und aus SENECAs eigenen Werken betrachtet werden, so vor allem der Medea mit dem Kindermord als Racheakt und dem Agamemnon mit der Opferung der Tochter Iphigenie.11 Ein großer Teil der wissenschaftlichen Literatur zum Thyestes hat philosophische Aspekte zum Inhalt, denn SENECAs Thyestes gilt als eines seiner sogenannten Leidenschaftsdramen.12 So befaßt sich die Forschung vornehmlich mit der Charakterlage des Atreus, mit seiner ira und dem furor. Weiter thematisiert ist, welche Charakterzeichnung Atreus selbst von Thyestes liefert und welches Bild sich von diesem womöglich im Unterschied dazu sonst im Drama abzeichnet. Inwieweit Thyestes die Haltung eines stoischen Philosophen vertritt, oder eben nicht, und in welchen Zügen Atreus als Gegenbild eines stoischen Weisen erscheint, wird diskutiert.13 An diese Fragestellungen knüpft sich der didaktische Aspekt, welche Lehre SENECA mit seinen Dramen verfolgte.14 Mit der Frage nach den Adressaten des Lehrinhalts, dem Bild des Despotismus, das SENECA vor Augen führt, ergeben sich Probleme der Datierung, in wessen Regierungszeit die Abfas5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
S.o. Kap. 1, S. 24–27, sowie zur 2. These S. 39–43. Vgl. TARRANT 1985, S. 38–43; KNOCHE [1941], S. 477. Vgl. LESKY 1922. S.u. Abschnitt 8.5 sowie Abschnitt 8.6.2. Zu ACCIUS vgl. beispielsweise BALDARELLI 2004; eine allgemeine Darstellung bietet DINGEL 1985, S. 1054–1062. Vgl. beispielsweise LEFÈVRE 1973, S. 102. FISCHER 2008, S. 126f., nennt weitere Beispiele für Morde, die als Opferungen stilisiert sind. Allgemeines zu SENECA und seinen Tragödien s.o. Kap. Tiresias und Manto, Einführung. Vgl. LEFEVRE 1985b, S. 1263–1283. Beispielsweise KNOCHE [1941]; SEIDENSTICKER 1985; vgl. LEFÈVRE 1985b, S. 1263–1283.
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
sung des Thyestes fällt, in die Zeit der Verbannung unter Caligula oder die Zeit nach der Wirksamkeit am Hofe Neros. Ebenso wie zum Oedipus stellt sich die Frage nach der Vortragsweise des Dramas, ob für eine Aufführung oder Rezitation bestimmt. Aber weil im Thyestes das Geschehen beim Schlachtritual in einem Wechselgespräch des Chores mit einem Boten, also als vergangenes Ereignis ohnehin nicht auf der Bühne geboten wird, ist das geschilderte Schlachtritual für die Frage der Aufführbarkeit nicht unmittelbar relevant.
8.1 SKIZZIERUNG DES INHALTS UND DER SITUATION BIS ZUM RITUAL Das Drama beginnt mit dem Erscheinen des Totenschatten des Tantalus. Ihn, der für diesen Tag aus der Unterwelt entlassen ist, zwingt eine Furie, seinen Nachkommen in dem mykenischen Palast neues Elend zu bringen (1–105). Tantalus nämlich ist in der Unterwelt wegen seines Götterfrevels mit ewigem Hunger und Durst bestraft, weil er seinen eigenen Sohn Pelops rituell geschlachtet und den Göttern zum Mahl vorgesetzt hatte, um deren Allwissenheit zu prüfen. Aber nicht nur er selbst muß seine Tat büßen, auch soll, so will die Furie, tödlicher Haß gegeneinander seine Familie zerstören (52 odia caedes funera). Vervielfacht werden soll das dem Vergehen des Tantalus ähnliche Verbrechen der thrakischen Prokne, die ihrem Gatten den gemeinsamen Sohn aus Rache zum Mahl vorgesetzt hatte (56f. Thracium fiat nefas / maiore numero). Ein solches Mahl, so stichelt die Furie, solle jetzt quasi für Tantalus, den hungert und dürstet, bereitet werden (60– 68). Tantalus, der verwundert war über seine Entlassung und zu Recht größere Übel als die in der Unterwelt für sich gefürchtet hatte,15 wendet sich voll Grauen ab, aber nicht ohne der Furie Folge zu leisten und sein Haus durch seinen Eintritt zu verdammen (101–103). Die Gelegenheit für neues Unheil über das mykenische Herrscherhaus bieten die verfeindeten Brüder Atreus und Thyestes. Atreus, Herrscher in Mykene, will sich an seinem Bruder Thyestes rächen, weil der seine Frau verführt und mit ihrer Hilfe – Diebstahl eines goldenen Widders, der die Macht in Mykene bedeutete – die Herrschaft an sich gerissen hatte (222–241). Nachdem zuerst Atreus vertrieben gewesen war (237 per regna trepidus exul erravi mea), hatte er den Thron wiedererlangt und dann Thyestes in die Verbannung geschickt. Atreus hat nun unter dem Vorwand der Versöhnung und mit dem Angebot der Mitregentschaft Thyestes mit dessen Söhnen zu sich an seinen Hof gelockt, um einen Herrschaftsanspruch von dessen Seite auszuschließen und Thyestes völlig zu vernichten. Da Atreus zum einen nicht sicher ist, ob die von seiner Frau Geborenen auch seine Kinder und nicht die des Thyestes sind, und er zum anderen seinen Bruder als
15 Das Motiv der Schonung, die größere Übel nach sich zieht, ist auch im Prolog von SENECAs Oedipus (31) formuliert, s.o. Kap. Tiresias und Manto, S. 252.
8.1 Skizzierung des Inhalts und der Situation bis zum Ritual
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Feind seiner Herrschaft betrachtet (240f.),16 sucht er im Heiligtum des Hauses Gewißheit, die seine Zweifel über seine Familie beseitigen und seine Herrschaft festigen soll. Sein Racheplan wird in einem Dialog mit einem Begleiter präsentiert (195–335). Als Rachemittel bestimmt Atreus ferrum, ignis und Thyestes selbst (257–259), um alles bisher Dagewesene an Untaten zu übertreffen (256 nullum relinquam facinus et nullum est satis). Die Aufzählung dieser Mittel wiederholt die Vorbestimmung der Furie aus dem Prolog (60–66) und kündigt das weitere Geschehen an.17 Thyestes kam nach anfänglichem Zögern aus Furcht vor einer List und auf Drängen seines ältesten Sohnes, der wie sein Ahn Tantalus heißt, dann doch nach Mykene zurück, um seinen Söhnen die Möglichkeit auf die Herrschaft nicht zu nehmen (404–490). Als Thyestes mit seinen Söhnen bei Atreus eingetroffen ist, wird er scheinbar herzlich und voll Verzeihen empfangen (508–511). Thyestes zeigt sich seinerseits über seinen doppelten Betrug reumütig und überläßt seinem Bruder als Zeichen des Vertrauens seine Söhne (512–521). Auf die Untergebenheit, die Thyestes Atreus entgegen bringt, reagiert der Throninhaber mit falscher Großzügigkeit und bietet dem Heimgekehrten die Mitregentschaft an (526–544). Als Atreus Thyestes die Krone aufgezwungen und – bei der Doppeldeutigkeit von vincla – somit den Staatsfeind in Bande gelegt hat (544 imposita capiti vincla),18 geht er, wie er mehrdeutig formuliert, um die auserwählten ‚Opfer‘ den höchsten Göttern darzubringen (545 ego destinatas victimas superis dabo – ich werde die auserwählten Opfer den höchsten Göttern darbringen). Es schließt sich als Übergang zum nächsten Akt das dritte Chorlied an, das die frohe Stimmung über die Versöhnung der Brüder aus dem zweiten Chorlied fortsetzt. Die Äußerungen der Erleichterung über den Frieden im Lande19 stehen im Kontrast zu der scheußlichen Rache, von der der Rezipient kurz zuvor erfahren hat. Der Widerspruch zwischen Chorlied und Handlung, der darin besteht, daß der Chor im Lied von der Handlung des Stückes nichts weiß und die Situation fehl deutet,20 obwohl er auf einer römischen Bühne während der szenischen Vorgänge hätte anwesend und daher mitwissend sein müssen, unterstützt die Einschätzung der Dramen SENECAs als Rezitationsdramen. Ebenso über die Geschehnisse ahnungslos zeigt das vierte Chorlied nach dem Mordbericht den Chor, indem dieser nur verwundert nach der Ursache für die Sonnenfinsternis fragt. Diese Diskrepanz sticht besonders hervor, weil doch der Chor Dialogpartner für den Boten, der ihnen von den Morden berichtet, ist.21 Nur in diesem vierten Akt tritt der Chor in 16 SEN. Thy. 240f. domus aegra, dubius sanguis est. certi nihil / nisi frater hostis – das Haus war krank, zweifelhaft das Blut, nichts gewiß, außer daß der Bruder der Feind. 17 PRATT 1939, S. 43; SEIDENSTICKER 1969, S. 98; SEIDENSTICKER 1985, S. 120f. 18 TARRANT 1985, ad 544. 19 Die Themen Bruderliebe und Landesfriede des zweiten und dritten Chorliedes stehen im Kontrast zum Urteil des Atreus über seinen Bruder, der die Verwandtschaft als falsch empfindet und in Thyestes einen Staatsfeind sieht (SEN. Thy. 240–241). 20 FISCHER 2008, S. 140–143, spricht von einer naiven Wahrnehmung des Chores. 21 Vgl. ZWIERLEIN 1966, S. 76–78; TARRANT 1985, S. 168f.; DAVIS 1989; KUGELMEIER 2007, S. 148–167, bes. 161.
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die Handlung des Dramas ein. Seine Funktion ist ganz deutlich eine andere als in den Chorliedern, was in den bemerkten Wissensdefiziten seinen Ausdruck findet. Man könnte sagen, der Chor ist hier ein anderer, ein klügerer.22 Das Gespräch mit dem Boten beginnt dieser, als der Bote, der sich als Augenzeuge vorstellt, sein Entsetzen über die Untat im Pelopiden-Haus äußert (624f. ut tantum nefas / eripiat oculis? o domus Pelopi). Der Chor fordert den länger Zögernden zum Reden auf (626–640).
8.2 TEXT UND ÜBERSETZUNG SEN. Thy. 641–788 641
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(im vierten Akt)
NUNTIUS: In arce summa Pelopiae pars est domus conuersa ad Austros, cuius extremum latus aequale monti crescit atque urbem premit et contumacem regibus populum suis habet sub ictu; fulget hic turbae capax immane tectum, cuius auratas trabes uariis columnae nobiles maculis ferunt. post ista uulgo nota, quae populi colunt, in multa diues spatia discedit domus. Arcana in imo regio secessu iacet, alta uetustum ualle compescens nemus, penetrale regni, nulla qua laetos solet praebere ramos arbor aut ferro coli, sed taxus et cupressus et nigra ilice obscura nutat silua, quam supra eminens despectat alte quercus et uincit nemus. hinc auspicari regna Tantalidae solent, hinc petere lassis rebus ac dubiis opem. affixa inhaerent dona: uocales tubae fractique currus, spolia Myrtoi maris, uictaeque falsis axibus pendent rotae et omne gentis facinus; hoc Phrygius loco fixus tiaras Pelopis, hic praeda hostium et de triumpho picta barbarico chlamys. Fons stat sub umbra tristis et nigra piger haeret palude: talis est dirae Stygis deformis unda quae facit caelo fidem.
22 Wie bei HILTBRUNNER 1985, S. 990, und DAMM 2006, S. 185, wiedergegeben, läßt sich die dramatische Funktion des Chores in SENECAs Tragödien nach DEWEY 1968, S. 291, in fünf Gruppen einteilen. Hier im Dialog geht es darum, daß der Chor „nach Informationen über ein Ereignis, das nicht auf der Bühne stattgefunden hat, [forscht]“. Für den quasi Rollenwechsel des Chores verweist KUGELMEIER 2007, S. 152, auf BISHOP 1964, S. 43–45, der zwei unterschiedliche Ebenen, eine „dramatic line“ in den Spielszenen und eine „odic line“ in den Chorliedern, ganz passend benennt. 23 Text nach ZWIERLEIN 1986; mit Veränderungen der Verf. in der Einteilung. Übers. in Anlehnung an THOMANN 1969.
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hinc nocte caeca gemere ferales deos fama est, catenis lucus excussis sonat ululantque manes. quidquid audire est metus illic uidetur: errat antiquis uetus emissa bustis turba et insultant loco maiora notis monstra; quin tota solet micare silua flamma, et excelsae trabes ardent sine igne. saepe latratu nemus trino remugit, saepe simulacris domus attonita magnis. nec dies sedat metum: nox propria luco est, et superstitio inferum in luce media regnat. hinc orantibus responsa dantur certa, cum ingenti sono laxantur adyto fata et immugit specus uocem deo soluente. Quo postquam furens intrauit Atreus liberos fratris trahens, ornatur arae – quis queat digne eloqui? post terga iuuenum nobiles reuocat manus et maesta uitta capita purpurea ligat; non tura desunt, non sacer Bacchi liquor tangensque salsa uictimam culter mola. seruatur omnis ordo, ne tantum nefas non rite fiat. CHORUS: Quis manum ferro admouet? NUNTIUS: Ipse est sacerdos, ipse funesta prece letale carmen ore uiolento canit. stat ipse ad aras, ipse deuotos neci contrectat et componit et ferro admouet, attendit ipse: nulla pars sacri perit. Lucus tremescit, tota succusso solo nutauit aula, dubia quo pondus daret ac fluctuanti similis, e laeuo aethere atrum cucurrit limitem sidus trahens, libata in ignes uina mutato fluunt cruenta Baccho, regium capiti decus bis terque lapsum est, fleuit in templis ebur. Mouere cunctos monstra, sed solus sibi immotus Atreus constat, atque ultro deos terret minantes. iamque dimissa mora adsistit aris, toruum et obliquum intuens. ieiuna siluis qualis in Gangeticis inter iuuencos tigris errauit duos, utriusque praedae cupida quo primum ferat incerta morsus (flectit hoc rictus suos, illo reflectit et famem dubiam tenet), sic dirus Atreus capita deuota impiae speculatur irae. quem prius mactet sibi dubitat, secunda deinde quem caede immolet. nec interest – sed dubitat et saeuum scelus iuuat ordinare. CHORUS: Quem tamen ferro occupat?
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788) NUNTIUS: Primus locus (ne deesse pietatem putes) auo dicatur: Tantalus prima hostia est. CHORUS: Quo iuuenis animo, quo tulit uultu necem? NUNTIUS: Stetit sui securus et non est preces perire frustra passus; ast illi ferus in uulnere ensem abscondit et penitus premens iugulo manum commisit: educto stetit ferro cadauer, cumque dubitasset diu hac parte an illa caderet, in patruum cadit. Tunc ille ad aras Plisthenem saeuus trahit adicitque fratri;colla percussa amputat; ceruice caesa truncus in pronum ruit, querulum cucurrit murmure incerto caput. CHORUS: Quid deinde gemina caede perfunctus facit? puerone parcit, an scelus sceleri ingerit? NUNTIUS: Silua iubatus qualis Armenia leo in caede multa uictor armento incubat (cruore rictus madidus et pulsa fame non ponit iras: hinc et hinc tauros premens uitulis minatur dente iam lasso impiger), non aliter Atreus saeuit atque ira tumet, ferrumque gemina caede perfusum tenens, oblitus in quem fureret, infesta manu exegit ultra corpus, ac pueri statim pectore receptus ensis in tergo exstitit; cadit ille et aras sanguine extinguens suo per utrumque uulnus moritur. CHORUS: O saeuum scelus! NUNTIUS: Exhorruistis? hactenus si stat nefas, pius est. CHORUS: An ultra maius aut atrocius natura recepit? NUNTIUS: Sceleris hunc finem putas? gradus est. CHORUS: Quid ultra potuit? obiecit feris lanianda forsan corpora atque igne arcuit? NUNTIUS: Vtinam arcuisset! ne tegat functos humus nec soluat ignis! auibus epulandos licet ferisque triste pabulum saeuis trahat – uotum est sub hoc quod esse supplicium solet: pater insepultos spectet! o nullo scelus credibile in aeuo quodque posteritas neget: erepta uiuis exta pectoribus tremunt spirantque uenae corque adhuc pauidum salit; at ille fibras tractat ac fata inspicit et adhuc caltentes uiscerum uenas notat. postquam hostiae placuere, securus uacat iam fratris epulis: ipse diuisum secat in membra corpus, amputat trunco tenus umeros patentis et lacertorum moras,
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denudat artus durus atque ossa amputat; tantum ora seruat et datas fidei manus. haec ueribus haerent uiscera et lentis data stillant caminis, illa flammatus latex candente aeno iactat. impositas dapes transiluit ignis inque trepidantes focos bis ter regestus et pati iussus moram inuitus ardet. stridet in ueribus iecur; nec facile dicas corpora an flammae gemant: gemuere. piceos ignis in fumos abit; et ipse fumus, tristis ac nebula grauis, non rectus exit, seque in excelsum leuat: ipsos Penates nube deformi obsidet. O Phoebe patiens, fugeris retro licet medioque raptum merseris caelo diem, sero occidisti – lancinat gnatos pater artusque mandit ore funesto suos; nitet fluente madidus unguento comam grauisque uino; saepe praeclusae cibum tenuere fauces – in malis unum hoc tuis bonum est, Thyesta, quod mala ignoras tua; sed et hoc peribit. uerterit currus licet sibi ipse Titan obuium ducens iter tenebrisque facinus obruat taetrum nouis nox missa ab ortu tempore alieno grauis, tamen uidendum est. tota patefient mala. NUNTIUS: Ganz oben auf der Burg gibt es einen Teil des Pelops-Hauses, nach Süden gewendet, dessen äußerste Seite sich einem Berge gleich erhebt und die Stadt beherrscht und das seinen Königen Trotz bietende Volk unter seiner Gewalt hält; hier glänzt ein für eine große Menge geeignetes riesiges Gemach, dessen vergoldete Balken Säulen, ausgezeichnet durch verschiedenfarbige Bemalung, tragen. Hinter diesen allgemein bekannten Räumen, die viele Leute beleben, teilt sich in zahlreiche Räume das reiche Haus; ein geheimer Bezirk liegt in tiefster Abgeschiedenheit, ganz unten im Tal einen uralten Hain umschließend, das Innerste der Herrschaft, wo kein Baum fruchttragende Äste auszubreiten pflegt oder mit einem Messer kultiviert wird, sondern Eibe und Zypresse, und von der schwarzen Steineiche dunkel neigt sich ein Wald hin und her; ihn überragend schaut eine Eiche von ihrer Höhe herab und beherrscht den Hain. Hier pflegen die Tantaliden die Auspizien für ihre Herrschaft einzuholen, hier in Mißgeschick und Zweifel Hilfe zu suchen. Festgeheftet hängen Weihgeschenke: schmetternde Trompeten und zerbrochene Wagen, Raubstücke des Myrtoischen Meeres, und es hängen die von den trügerischen Achsen besiegten Räder und die ganze Untat des Geschlechtes; an dieser Stelle ist angeheftet die phrygische Tiara des Pelops, hier die Beute der Feinde und der mit Bildern des barbarischen Triumphes bestickte Kriegsmantel.
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788) Eine düstere Quelle steht im Schatten und verharrt träge im schwarzen Sumpf: so ist der gräßlichen Styx mißgestaltete Woge, die beim Himmel Glauben erweckt. Hier seufzen in blindmachender Nacht die Totengötter, erzählt man sich, von heftig geschüttelten Ketten tönt der Hain und es heulen die Manen. Was auch immer zu hören Furcht bedeutet ist hier zu sehen: es irrt umher die schon gestorbene Schar, aus ihren alten Grabhügeln entlassen, und es tanzen an dem Ort ungeheuere Wesen, größer als die bekannten; ja sogar im ganzen Wald zuckt meist eine Flamme hin und her und die hohen Stämme brennen ohne Feuer. Oft hallt der Hain vom dreifachen Bellen wider, oft wird das Haus von großen Bildern in Schrecken versetzt. Und auch der Tag beschwichtigt nicht die Furcht: die Nacht gehört zum Hain und ängstliche Scheu vor den Unterirdischen herrscht mitten am Tag. Hier werden den Ratsuchenden sichere Bescheide gegeben, wenn mit gewaltigem Laut die Schicksalssprüche im Innern losgelassen werden und die Höhle widerbrüllt die Stimme, die der Gott verlauten läßt. Nachdem dort rasend Atreus eingetreten ist, die Kinder des Bruders mit sich ziehend, werden die Altäre geschmückt. Wer könnte würdig davon reden? Auf den Rücken der Jünglinge befiehlt er wiederholt die adligen Hände und umwindet die Trauer verursachenden Häupter mit purpurner Binde; weder fehlt Weihrauch noch heiliger Bacchus-Trank und das das Opfer mit Opfersalz berührende Messer. Es wird jede Vorschrift beachtet, damit nicht ein so großer Frevel nicht nach Brauch geschehe. CHORUS: Wer faßt mit der Hand nach dem Eisen? NUNTIUS: Er selbst ist der Priester, er selbst singt in trauerbringendem Gebet das Todeslied mit gewaltdrohendem Mund. Er selbst steht bei den Altären, selbst prüft er die dem Tod Geweihten und stellt sie auf und führt sie dem Eisen zu; selbst beachtet er alles: kein Teil der heiligen Handlung entgeht ihm. Der Hain erzittert, vom erschütterten Boden wankte der ganze Hof, ungewiß, wohin er sein Gewicht senken solle, einem in den Fluten Treibenden gleich: und links am Himmel lief ein Stern entlang, eine schwarze Grenze ziehend. Die in die Feuer libierten Weinspenden fließen verwandelt von Bacchus blutig, der königliche Kopfschmuck fiel zwei-, dreimal herunter, es weinte in den Tempeln das Elfenbein. Jeden hätten die Wunderzeichen bewegt, aber er allein, Atreus, bleibt ungerührt fest bei sich, und noch darüber hinaus schreckt er die ihm drohenden Götter. Und schon, ohne daß Zeit verloren ging, tritt er an die Altäre hin, finster und scheel blickend. Wie eine ausgehungerte Tigerin in den Wäldern des Ganges zwischen zwei Jungstieren herumirrte, gierig nach beiden als Beute, unschlüssig, wohin sie zuerst ihre Bisse richte – sie wendet ihren Rachen hierhin wendet ihn wieder dorthin zurück und erhält sich ihren zweifelnden Hunger – so späht der hartherzige Atreus die geweihten Häupter für den ruchlosen Zorn aus. Wen er zuerst für sich schlachte, überlegt er, wen dann in einem zweiten Mord töte.
8.2 Text und Übersetzung
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Er ist nicht gegenwärtig, doch besinnt er sich und das gräßliche Verbrechen ordentlich zu begehen freut ihn. CHORUS: Wen denn überfällt er mit dem Eisen?
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NUNTIUS: An erster Stelle – daß man nicht meint, es fehle Ehrfurcht – wird dem Ahn zugesprochen: Tantalus ist das erste Opfer. CHORUS: Mit welcher Haltung, mit welcher Miene ertrug der Jüngling den Tod? NUNTIUS: Er stand seiner selbst sicher und litt nicht, daß Bitten vergebens verloren gehen; doch ihm steckte der sich wild Gebärdende das Messer in die Wunde und es tief hineindrückend brachte er bis an die Kehle seine Hand; noch stand, als herausgezogen das Eisen, der Leichnam, und nachdem er lange gezögert hatte, zu welcher Seite – zu dieser oder jener – er fallen soll, stürzt er auf den Onkel zu. Dann zieht jener Rasende Plisthenes an die Altäre und fügt ihn dem Bruder zu; er trennt die durchbohrten Hälse ab; erst als der Kopf abgeschlagen stürzte der Rumpf nach vorn, klagend mit verstörtem Gemurmel rollte der Kopf. CHORUS: Was macht er dann, nachdem er den Doppelmord vollzogen? Verschont er den einen Jungen oder fügt er dem Verbrechen ein weiteres hinzu? NUNTIUS: Wie im armenischen Wald der mähnige Löwe sich in vielfachem Mord als Sieger in die Herde wirft vom Blut schon feucht das Maul und, obwohl der Hunger bereits vertrieben, nicht einstellt seine zornigen Gänge: von hier und da die Stiere wegdrückend, bedroht er die Kälber mit schon trägem Zahn und faul, nicht anders tobt Atreus und glüht vor Zorn, und das von zweifachem Morde übergossene Eisen haltend, vergessend, gegen wen er wütet, stößt er ihn mit angreifender Hand durch den Leib hindurch, und sofort tritt dem Jungen das Messer, das er in die Brust bekommen hat, zum Rücken wieder heraus: jener fällt und mit seinem Blut die Opferfeuer auslöschend stirbt er an den beiden Wunden. CHORUS: O gräßliches Verbrechen!
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NUNTIUS: Ihr seid erschreckt? Wenn soweit sich sein Frevel begrenzte, wäre er fromm. CHORUS: Läßt denn darüber hinaus noch Größeres oder Schrecklicheres die Natur zu? NUNTIUS: Für das Ende des Verbrechens hält man das? ein Schritt ist es. CHORUS: Was konnte er noch weiter tun? Warf er den wilden Tieren vielleicht die Leiber zum Zerfleischen vor und verwehrte er ihnen das Feuer? NUNTIUS: Wenn er es nur verwehrt hätte! Daß doch die Toten die Erde nicht deckte, und sie nicht löste das Feuer! Mag er sie den Vögeln zum Fressen und den wilden Tieren als trauriges Futter geben – ein frommer Wunsch ist daran gemessen, was sonst ein Strafe ist: sähe doch ihr Vater sie unbegraben! o Frevel, zu keiner Zeit glaubhaft und so, daß ihn die Nachwelt bestreitet! – Herausgerissen aus den noch atemschöpfenden Brustkörben zittern die Eingeweide und es beben die Adern und das Herz schlägt immer noch angstvoll. Doch jener prüft die Fibern und betrachtet die Schicksalszeichen und die noch immer warmen Adern der Eingeweide nimmt er wahr.
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788) Nachdem die Opfertiere gefallen haben, ist er sicher und hat freie Zeit jetzt für die Mahlzeiten des Bruders: er selbst schneidet den in die Glieder eingeteilten Körper, er trennt ab bis hin zum Rumpf die weiten Schultern und der starken Oberarme Längen, es entblößt die Gelenke der Hartherzige und trennt die Knochen ab; nur die Köpfe bewahrt er und die in seine Obhut gegebenen Hände. Hier hängen Fleischstücke an Spießen und gelegt auf langsam brennende Feuerstätten tröpfeln sie, dort treibt flammenerhitzte Flüssigkeit welche im ächzenden Erztopf umher. Die aufgesetzten Gerichte übersprang das Feuer und auf die zitternden Feuerstellen zwei- und dreimal zurückgebracht und gezwungen, die Zeit zu erdulden, brennt es widerwillig. Es zischt an den Bratspießen Leber; und nicht leicht zu sagen, ob die Leiber oder die Flammen stöhnen: Sie stöhnten. In pechschwarze Rauchschwaden geht das Feuer über, und der Rauch selbst, trüb und schwer vom Dunst, entweicht nicht geradewegs noch erhebt er sich in die Höhe: die Penaten selbst schließt er mit mißgestaltiger Wolke ein. o erduldender Phoebus, magst du auch rückwärts geflohen sein und hast den mitten vom Himmel gerissenen Tag ins Meer getaucht, zu spät bist du untergegangen! Es verzehrt die Söhne der Vater und kaut die Gliedmaßen der Seinen mit verderbenbringendem Mund; es glänzt feucht von flüssigem Salböl sein Haar und er ist schwer von Wein; oftmals hielt der sich verschließende Rachen die Speise auf – in all deinem Elend ist dies das einzig Gute, Thyestes, daß du all dein Unglück nicht kennst. Aber auch dieses wird vergehen. Mag den Wagen wenden Titan selbst, einen ihm entgegengesetzten Weg zurücklegend, und soll mit neuartiger Finsternis die scheußliche Untat verhüllen die schwere Nacht, vom Aufgang her zu fremder Zeit geschickt, dennoch muß sie gesehen werden. All die Übel werden entdeckt werden.
8.3 DER SZENISCHE AUFBAU DES RITUALBERICHTS Im Wechselgespräch mit dem Chor stellt ein Bote dar, was Schreckliches im Palast von Mykene geschehen ist (623–788). Ein einleitender Dialog bereitet den Bericht über die Geschehnisse vor (623–640). Es setzt ein längerer Bericht des Boten ein, der zunächst den Tatort beschreibt (641–683, 43 Verse), dann wie rituelle Vorbereitungen in einem Schlachtritual getroffen werden (684–716, 33 Verse) und schließlich wie Atreus die drei Söhne des Thyestes ermordet (717–743, 27 Verse). Der Bericht wird einige Male von kurzen, die Handlung jedoch vorantreibenden Fragen des Chores unterbrochen (Vv. 690; 716; 719; 730f.). Nach einem längeren Zwischendialog mit dem Chor (744–754, 11 Verse) schildert der Bote die Eingeweideschau und die Zubereitung des Mahles (755–775, 21 Verse) und erwähnt abschließend – in einer Apostrophe mehr lamentierend – das Mahl des Thyestes (776–788, 13 Verse). Der ganze Abschnitt umfaßt 166 Verse.
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8.4 Skizzierung des pervertierten Schlachtrituals
623–788 623–640 641–683 684–716 717–743 744–754 755–775 776–788
Vierter Akt – Bote im Wechselgespräch mit dem Chor: Bericht über die Untat Einleitender Dialog Tatortbeschreibung Rituelle Vorbereitungen Morde Zwischendialog über Verbrechen und Bestattung Eingeweideschau und Zubereitung des Mahles Sonnenfinsternis und Mahl des Thyestes in Andeutungen
166 V 18 V 43 V 33 V 27 V 11 V 21 V 13 V
Im fünften Akt ist das Mahl des Thyestes szenisch dargestellt: Atreus triumphiert über seinen Anschlag und sieht heimlich seinem Bruder bei Mahl und Trank zu (885–919). Thyestes vermag bei seinem vermeintlichen Krönungsfest nicht recht froh zu werden und äußert dies in einer langen Klage (920–969). Schließlich offenbart Atreus ihm die Untaten: zuerst, daß er selbst die Söhne ermordet (1004f.), und dann, das Unglück steigernd, daß Thyestes, eine Bestattung verhindernd, sie verzehrt hat (1034). Das Drama beschließt mit gegenseitigen Verfluchungen der Brüder (1110–1112).24
8.4 SKIZZIERUNG DES PERVERTIERTEN SCHLACHTRITUALS 641– 683 641– 649
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Tatortbeschreibung Nachdem der Bote angedeutet hat, daß etwas Schreckliches im Hause der Pelopiden passiert ist (625f. o domus Pelopi quoque / et Tantalo pudenda), und seine Gesprächspartner, die die Grausamkeit beider Brüder kennen, vor allen Dingen wissen wollen, welcher von ihnen eine Untat vollbracht habe (640 non quaero quis sit, sed uter), beginnt der Bote erst einmal mit einer Beschreibung des Königshauses.25 Zunächst ist mit negativen Ausdrücken über die Gewaltherrschaft, die von hieraus ausgeübt wird (643; 644f.), ein Gebäudeteil beschrieben, der öffentlich bekannt ist (648). Dann kommt er zu dem Teil des Hauses, der geheim ist und von dem die Herrschaft ausgeht (650 arcana regio; 652 penetrale regni). Es ist ein offener Raum in der Palastanlage, der sich unten in einem Tal befindet und der von einem unkultivierten Wald bewachsen ist. Dieser Raum ist negativ
24 SEN. Thy. 1110–1112 [Th.:] Vindices aderunt dei; / his puniendum vota te tradunt mea. / [At.:] Te puniendum liberis trado tuis – Als Rächer werden die Götter da sein; / dich zu bestrafen übergebe ich ihnen meine Gelübte. / Dich zu bestrafen übergebe ich deinen Kindern. – STEIDLE [1943/1944], S. 497, beispielsweise erkennt dagegen keinen Fluch gegen Atreus. Die gegenseitige Verfluchungen jedoch beschreibt z.B. LEFÈVRE 1985b, S. 1278. 25 Eine Ekphrasis des Ortes leitet sonst den Kontakt mit der Unterwelt ein, z.B. HOM. Od. 9,13– 19; VERG. Aen. 6,237–242; SEN. Oed. 530–549; STAT. Theb. 4,419–432; LUCAN. 6,642–653, wie KORENJAK 1996 zu LUCAN, ad loc., erwähnt. – Vgl. die kurze Darstellung von TIETZELARSON 1994, S. 87–89; 120f. – Zu einer ausführlichen Analyse der Ekphrasis vgl. RIEMER 2007. ZWIERLEIN 1966, S. 113–117, betrachtet die Ekphrasis als verselbständigt.
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659– 664 665– 682 682– 683
684– 716 684– 688
8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
dargestellt durch Ausdrücke, die das Dunkle und das Beherrschen betonen.26 Schließlich nennt der Bote die Funktion dieser Stätte: An diesem unguten Ort treten die Tantaliden rituell ihre Herrschaft an und erneuern ihre Macht (657f. hinc auspicari regna Tantalidae solent, hinc petere lassis rebus ac dubiis opem). Die Zeichen ihrer Herrschaft – und ihres Betruges – sind hier zu sehen (659–664 omne gentis facinus).27 Weitergehend ist ein Sumpf beschrieben (665f.), dessen Umgebung mit unheimlichen Vorstellungen von der Unterwelt assoziiert wird (666–679).28 Nochmals wird die Funktion des düsteren Ortes genannt: Hier werden die Orakel der Tantaliden eingeholt (679–682)29. Nach der eine düstere Atmosphäre schaffenden Ortsbeschreibung, die Elemente von Macht und Tod miteinander verbindet, nennt der Bote nun endlich den Täter: Atreus ist es, der in schlimmer Verfassung (furens) die Kinder seines Bruders mit sich an diesen unheilvollen Ort zieht. Rituelle Vorbereitungen Daß nun in der Schilderung des Boten ein Ritual zu erwarten ist,30 wird mit dem Schmücken der Altäre bezeichnet. Der Bote zögert, in welchem Stil er weiter berichten soll (684 quis queat digne loqui),31 und entscheidet sich vorerst für eine Orientierung am Rituellen einer Schlachtung: Atreus bindet den Jünglingen die Hände auf dem Rücken zusammen und versieht sie mit einer purpurfarbenen Kopfbinde (686 vitta purpurea). Das Detail
26 Ein Begriff wie templum oder delubrum ist hier nicht genannt, statt dessen stehen silva, nemus, lucus und einmal das griechische adyton (682), später jedoch in templis (702). – Es besteht eine starke Ähnlichkeit mit der Beschreibung des Ortes, an dem Tiresias im Oedipus die Nekromantie ausführt, etwa: 530 procul ab urbe; und zu Thy. 650 in imo successo; dann Oed. 530–535 lucus ilicibus niger; loca circa vallis; cupressus altis exerens silvis caput; virente nemus; curvos tendit quercus ramos; und Thy. 656 despectat alte quercus et vincit nemus sowie Oed. 542 medio stat ingens arbor atque umbra gravi Silvas minores urguet. 27 Es ist mit diesen Gegenständen in einer Rückblende daran erinnert, wie Pelops die Herrschaft erlangte, indem er gegen Oinomaos in einem Wagenrennen durch einen Betrug gewann und so auch dessen Tochter Hippodameia erwarb. Bei dem Betrug hatte ihm Myrtilos geholfen, der durch Sabotage am Wagen den Tod von Oinomaos verursacht hatte. In einem späteren Streit stieß dann Pelops den Myrtilos vom Wagen ins Myrtoische Meer (vgl. VON GEISAU 1969, Sp. 1526). 28 Wiederum läßt sich hier eine Ähnlichkeit des Ortes mit der Nekromantie-Darstellung im Oedipus zeigen, etwa: 665f. fons stat sub umbra tristis et nigra piger / haeret palude und Oed. 545–547 tristis sub illa, lucis et Phoebi inscius, / restagnat umor frigore aeterno rigens, / limosa pigrum circumit fontem palus; dann Thy. 678 nox propria luco est und Oed. 549 praestitit noctem lucus; sowie Thy. 675f. saepe latratu nemus / trino remugit und Oed. 569 latravit Hecates turba, ter valles cavae / sonuere maestum. 29 Vgl. TARRANT 1985, S. 189 ad 679–682: „Seneca may have placed it [sc. the oracular function] here to provide a religios context for Atreus’ ‚sacrifice‘.“ 30 Vgl. BURKERT 1972, S. 120: „Deutlich ist, wie wiederum der Mythos ein Opferritual nacherzählt und grauenvoll übersteigert.“ – Vgl. TARRANT 1985, S. 189 ad 687–690a: „perverting sacrificial ritual seems to be an inherited trait“. 31 Über die verschiedenen Kategorien des Darstellens bei SENECA vgl. MADER 2000.
8.4 Skizzierung des pervertierten Schlachtrituals
689– 695
696– 702
301
der vitta verweist darauf, daß ein Schlachtritual folgt. Die Andeutung bekräftigend zählt der Bote anschließend die Dinge auf, die dazu gehören: Weihrauch, Wein, gesalzenes Opfermehl und das Messer (culter). Der Aspekt der Trauer über die sterbenden Anverwandten, der in maesta capita (686) anklingt, bleibt für sich genommen sehr dezent. Ebenso dezent weist das Händefesseln darauf hin, daß hier der Tod von gefangenen Staatsfeinden bevorsteht.32 Als der Bote kommentierend hinzugefügt hat, daß Atreus mit seiner Tat die vorgeschriebenen rituellen Handlungen (689 servatur omnis ordo) pervertiert, bleiben seine Zuhörer auf der angebotenen Ebene und erkundigen sich nach rituellen Einzelheiten. Auf ihre Frage, wer das Messer (ferrum) führe, antwortet dieser, daß Atreus selbst der sacerdos sei und auch Gebete – funesta prece – spreche.33 Der Ausdruck funestus verweist wiederum in den Bereich der Bestattung. Weiter stehe Atreus selbst vor den Altären, betaste prüfend die Todgeweihten, stelle sie auf und berühre sie mit dem Messer. Ein zweites Mal äußert der Bote, daß Atreus selbst darauf bedacht ist, jede Einzelheit des Brauchs zu erfüllen (695). Darauf werden die ungewöhnlichen Vorkommnisse, die bei dem begonnenen Ritus zu sehen sind, beschrieben: Der Wald zittert, der Boden schwankt (nutavit), ein Stern zieht, eine schwarze Spur hinterlassend, auf
32 In der Wortwahl zeigt sich eine Reminiszenz an VERGILs Darstellung von der Bestattung des Pallas, bei der besiegte Feinde mitsterben müssen (VERG. Aen. 11,81f. vinxerat et post terga manus, quos mitteret umbris / inferias, caeso sparsurus sanguine flammas – er hatte denjenigen die Hände auf den Rücken gebunden, die er als Totenopfer zu den Schatten schicken wollte, indem er mit dem Blut der Getöteten die Flammen besprengt. – Dagegen beschreibt z.B. FISCHER 2008, S. 133 Anm. 36, das Händebinden als Teil des Opferrituals. 33 Die Wortwahl ähnelt derjenigen über das Gebet des Tiresias in der Nekromantie SEN. Oed. 559 ff. vocat ... obsidentem claustra letalis lacus carmenque magicum volvit et rabido minax decantat ore. 34 Als Amtsnachfolger von Pelops trägt Atreus bei der Durchführung des Ritus die Tiara, die im Tempel aufbewahrt wird, auf dem Kopf. Daß das Herabfallen der Kopfbedeckung eine negative Bedeutung hat, die das vorgesehene Amt als unmöglich verwehrt, stellt RÜPKE 1996, S. 268, nach VAL. MAX. 1,1,4f. e capite apex prolapsus heraus. – Den Kopfschmuck interpretiert dagegen THOMANN 1969, ad loc., als den des Bacchus, wohl weil dessen Name kurz vorher im Zusammenhang mit den Libationen fällt. 35 Zu den Penaten vgl. TARRANT 1985, S. 128, 192; LEFÈVRE 2002, S. 107, zeigt eine Verbindung auf vom Abwenden der Laren beim Racheplan (264f. moti lares / vertere vultum), dem Weinen der Götterbilder beim Opfer (702 flevit in templis ebur) und dem Verhüllen der Penaten beim Kochen (755 ipsos penates nube deformi obsidet) und identifiziert die Elfenbeinfiguren damit als die Hausgötter. Das Weinen von Götterbildern wird in der antiken Literatur verschiedentlich im Zusammenhang mit dem Tod Caesars dargestellt: VERG. georg. 1,480 (maestum inlacrimat templis ebur); OV. met. 15,792 (mille locis lacrimavit ebur), vgl. TARRANT 1985, S. 128, 162; GIANCOTTI 1989, ad 702; LEFÈVRE 2002, S. 107 Anm. 6. – Der Katalog der Vorzeichen beim Opfer wird in der Forschung als eine einzige Gruppe von negativen Zeichen gesehen (vgl. beispielsweise SCHMITZ 1993, S. 88f.), jedoch lassen sich diese in zwei Gruppen differenzieren: die einen als zustimmende Zeichen der inferi, die anderen als Drohungen der superi, s.u. S. 308; 318 und 321.
302
703– 711
712– 716
717– 743
721– 729
730– 743
8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
der linken Seite am Himmel entlang (696–699). Bei den Libationen werden die ins Feuer gegossenen Weinspenden zu Blut (700f.), die königliche Kopfbedeckung – die hier aufbewahrte Tiara des Pelops (663 fixus tiaras Pelopis)34 – fällt Atreus dreimal herunter und den Elfenbeinfiguren in den sakralen Räumlichkeiten laufen die Tränen.35 Diese Zeichen (monstra) hätten jeden beeindruckt, urteilt der Bote, allein Atreus bleibt ungerührt, mehr noch, er ist es, der die Götter erschreckt, die ihn durch diese Zeichen warnen wollten (deos minantes). Atreus ist in Eile und steht schon an den Altären in finsterer Verfassung (703–706). Er wird mit einer Tigerin verglichen, die sich bei der Jagd zwischen zwei Beutestücken nicht entscheiden kann (707–711). Die Stimmungsbeschreibung wird fortgeführt, während die bevorstehende Tötung angekündigt wird: die außergewöhnliche Gemütslage des Atreus geben wieder durus, impia ira; auf den Ritus weisen capita devota, mactare, immolare hin (712–714). Ein drittes Mal wird das korrekte Durchführen bei dem Verbrechen als das Interesse des Atreus bezeichnet (715f.). Und wie zuvor bleiben die Gesprächspartner des Boten mit ihrer Frage nach dem weiteren Verlauf auf der Ebene des Rituals (716). Morde Diesen Berichtsstil führt der Bote anfangs für die Tötung weiter: Der Sohn, der wie der Ahn Tantalus heißt, werde zur prima hostia bestimmt. Der Chor fragt nach dessen Haltung (quo animo) und Gesichtsausdruck (quo vultu).36 Er habe ruhig gestanden, ist die Antwort (stetit sui securus). Dann verläßt der Bote die Ebene des Rituals, er schildert die erste Tötung, bei der die Maßlosigkeit, die Atreus in seinem Haß zeigt, betont wird: Das Messer drückt er bis zum Anschlag in die Kehle seines Opfers. Der erste fällt. Dann wird der zweite, Plisthenes, blitzschnell durch Kopfabschlagen getötet. Sein Kopf rollte verstört klagend dahin (murmure incerto). Nach dieser Schilderung verläßt auch der Chor die Ebene des Rituellen, er spricht nun von Doppelmord und Verbrechen, als er nach dem weiteren Geschehen fragt. Wiederum verdeutlicht der Berichterstatter die Grausamkeit des Atreus durch einen Tiervergleich: Wie ein Löwe, der doch schon viel Wild gerissen hat und vor Angriffslust trotzdem weiterjagt, tötet Atreus noch weiter und dazu mit gesteigertem Eifer. Er stößt bei einem dritten Sohn die Waffe durch die Brust (pectore receptus) und gleich zum Rücken wieder heraus. Das Blut spritzt derart, daß die Opferfeuer gelöscht werden (742 aras sanguine extinguens suo). Das Löschen des Opferfeuers durch einen Blutguß verweist auf Opfer an die Götter der Unterwelt.37
36 Vergleichbar ist eine Formulierung in SEN. Oed. 336f. placidone vultu sacra ... patiuntur. 37 In dem Blutguß ist eine Reminiszenz zu sehen wiederum an die Bestattung des Pallas (VERG. Aen. 11,81f., s.o. Anm. 32) und an die Nekromantie in SENECAs Oedipus (SEN. Oed. 563 sanguinem libat focis).
8.4 Skizzierung des pervertierten Schlachtrituals
303
744– 754
Zwischendialog über Verbrechen und Bestattung Dieses Auslöschen scheint das Ende der Tat und des Berichtes darüber anzuzeigen, denn der Chor äußert sich entrüstet und fragt nichts weiter. Es kündigt der Bote jedoch eine Steigerung an, die wiederum auf die religiöse Ebene führt (pius est). Sein Gegenüber vermutet daraufhin einen Verstoß gegen die Bestattungsriten, die den Tierfraß verhindernd entweder eine Erd- oder Feuerbestattung sein sollten. Das Stichwort des Feuers greift der Bote auf, um wiederum zum Opferritus zurückzulenken. Seine Andeutungen über eine pervertierte Feuerbestattung und, daß selbst Tierfraß besser gewesen wäre, sind makaber, jedoch recht dezent (749f.).
755– 775
Eingeweideschau und Zubereitung des Mahles So setzt scheinbar unvermittelt der Bericht über den Opferritus wieder ein: Die Eingeweide sind aus den noch atemholenden Brustkörben bereits herausgenommen, die Adern sind vom Atmen noch in Bewegung, das Herz schlägt ängstlich. Vermischt mit den Vorgängen beim Schlachten (erepta exta; spirantque venae corque adhuc ... salit) sind Ausdrücke der Todesfurcht (tremere, cor pavidum). Atreus prüft die Fibern, betrachtet die Schicksalszeichen und sieht auf die noch warmen Adern im Fleisch. Daß die Opfertiere angenommen worden sind (hostiae placuere), leitet zum nächsten Schritt im Ritus hin, dem Zubereiten der Speisen. Atreus selbst ist es, der die Körper an ihren Gelenken zerteilt und entbeint. Nur die Köpfe und Hände läßt er unberührt.38 Das Fleisch brät an Spießen, auf dem Herd und wird im Topf gebrüht. Beim Garvorgang werden Zeichen des Widerstrebens deutlich: Das Feuer brennt widerwillig (invitus) und überspringt dreimal die aufgelegten Stükke, die Opferherde zittern (trepidantes), die Leber an den Spießen zischt (stridet), Fleischstücke und Flammen klagen (gemere). Die Dunstwolken sind als trüb und schwer bezeichnet (tristis, gravis). Dichter Rauch, der nicht abzieht, legt sich um die Penaten.39
755– 758
759– 764
765– 775
776– 788
Sonnenfinsternis und Mahl des Thyestes in Andeutungen Mit einem Ausruf an Phoebus, der eine Sonnenfinsternis verursacht hat, kündigt der Bote eine neue Ungeheuerlichkeit an. Er berichtet davon, wie Thyestes seine Söhne verzehrt (778–782). Darauf spricht der Bote den nicht anwesenden Thyestes an und schildert dessen Situation: daß dieser von den Vorkommnissen – seinem eigenen Vergehen und dem des Atreus – noch nichts wisse, er davon aber unweigerlich erfahren müsse, selbst wenn die Sonne verdunkelt und die Zeit rückwärts läuft.
38 Die Köpfe zeigt Atreus später Thyestes zur Identifikation der Kinder (903 capita natorum intuens) und enthüllt ihm schließlich die ganze Wahrheit (1030f. Was von deinen Kindern noch vorhanden ist, hast du hier, was auch immer nicht mehr vorhanden ist, hast du bereits). 39 Im nicht abziehenden Rauch ist eine weitere Parallele zum Oedipus zu erkennen, so SCHMITZ 1993, S. 92, insgesamt bes. S. 80–82.
304
8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
8.5 DER KONTEXT VON STERBEN UND BESTATTUNG Im Zwischendialog des Botenberichtes (744–754) ist nach dem Tod der drei Söhne erstmals und explizit das Thema von Bestattungen konkretisiert (747–751). Die Frage des Chores nach einer ordnungsgemäßen Bestattung wird auf der Ebene des Realistisch-Notwendigen bei einem Todesfall vorgebracht, jedoch gleich wieder verlassen. Daß das Thema des Sterbens und der Bestattung ansonsten meist implizit das Drama durchzieht, soll im folgenden umrissen werden. Neben dem Schlachtritual, das eingangs durch ornantur arae und vitta markiert ist, verdeutlichen in dreifacher Wiederholung für die drei Söhne40 die Ausdrücke funesta prece, letale carmen und ore violento canit (691f.) den Aspekt der Totenfeier. Beginnend bei den unmittelbar bevorstehenden Toden im Schlachtritus kennzeichnen Ausdrücke der seelischen Verfassung den Umgang mit dem Tod: maesta capita (686 alle drei Söhne), securus sui (720 Tantalus),41 murmure incerto (729 Plisthenes), pectore receptus (741 dritter Sohn). Verbunden mit der Eingeweideschau sind Ausdrücke der Todesfurcht (755f. tremere, pavidus); das hostiae placuere (759) verdeutlicht die Akzeptanz des eigenen Todes. Vielleicht läßt sich eine fehlende Akzeptanz des Trauerhauses (775 penates) in einer Reihe von Begriffen der inneren Haltung und Empfindung erkennen, die vordergründig den Garvorgang darstellen: ein Aushalten, ein Tränenvergießen, ein GeschütteltWerden, eine Unruhe, ein Akzeptieren-Müssen, ein Sich-nicht-Dreinschicken, ein brennendes Empfinden.42 Fortgesetzt wird die Reihe mit Lauten der Trauer: ein Zischeln und, die Dreizahl erfüllend, zweimal ein Seufzen (770–772 stridere; gemere).43 Die Stimmung ist als traurig und ernst zu bezeichnen (773 tristis; gravis). Es läßt sich auf dieser Ebene der Ausdruck ore funesto (779) als des Vaters trauervolles Gesicht interpretieren. Das Salböl, das Thyestes vom Haar tropft (780), läßt sich ebenso gut auf eine Leichenfeier beziehen.44 In der späteren Situation beim beobachteten Mahl spricht Atreus erstmals selbst von einer Bestattung seiner Neffen (891 funere suorum) und bald darauf von einem Klagelied, das er von Thyestes erwartet (904f. verba quae primus dolor / effundat). Es verweist das Ambiente mit Fackelschein (908) wiederum auf Leichenfeiern.45 Das Lied, das Thyestes nach dem Trank, wie von Atreus vermutet, beginnt (918f. iam cantus ciet / festasque voces), läßt sich interpretieren als Totenklage für seine Söhne.46 Die in der wissenschaftlichen Literatur zumeist als Monodie des Thyestes bezeichnete Passage (920–969) hebt sich durch das Vers40 Zu weiteren Indizien für eine Dreizahl der Söhne s.u. Abschnitt 8.6.2. 41 Daß Tantalus im securus sui die Haltung eines stoischen Weisen zeigt und damit zu Atreus im Kontrast steht, vermerkt LEFÈVRE 1997, S. 128, und LEFÈVRE 2002, S. 106. 42 SEN. Thy. 766–770 haerere; stillare; iactare; trepidare; pati iussus; invitus; ardere. 43 Dagegen wertet TIETZE-LARSON 1994, S. 127–130, das Laute-Geben als Verlebendigung der Natur. 44 Vgl. KIERDORF 1991, S. 73, zur Salbung der Toten. 45 Vgl. KIERDORF 1991, S. 74, zu den Fackel und zur Totenklage. 46 Vgl. STEIDLE [1943/1944], S. 496 Anm. 18; MELTZER 1988, S. 322: „It is as if Thyestes were unconsciously enacting a ritual lamentation for his sons.“
8.6 Die zeitliche Analyse
305
maß heraus. Hierfür verwendet SENECA wie in der Nenia der Apocolocyntosis überwiegend anapaestische Dimeter.47 Thyestes spricht zu Anfang im übertragenen Sinne von den Gefährten seines Exils (923 comes exilii), als die er Trauer, Angst und Armut bezeichnet. Diese Dreizahl vertritt die Stelle seiner Söhne.48 Später häufen sich Ausdrücke der Trauer.49 Blumenschmuck und Salböl – hier für den Festtag der Krönung bestimmt (947f.) – lassen sich der Situation eines Begräbnisses zuordnen. Es verweisen die Blumen, Rosen sind genannt, auf ein römisches Totenfest, die Rosalia.50 Das Zerreißen des Hemdes und das Ululare der Klagelaute (955f.) gehören deutlich der Sphäre der Totenklage an.51 Nochmals reihen sich bis zum Ende des Liedes Begriffe der Trauer.52 Explizit ist dann wieder vom Bestatten die Rede, als Thyestes vom Tod seiner Söhne erfahren hat: Da Atreus ihm die abgetrennten Köpfe und Hände präsentierte (1004f.), entsetzt er sich über die Mordtat seines Bruders (1006–1021). Sodann gilt seine Sorge einer ordnungsgemäßen Bestattung (1028f.).53 Aber er muß gewahr werden, daß diese nicht möglich ist, weil er selbst sich die Söhne einverleibt hat (1034 epulatus ipse es impia natos dape – du selbst hast deine Söhne in unfrommem Mahl verspeist). In dreifache Klage bricht Thyestes aus (1036f.)54 und realisiert, daß Atreus ihn an seinen Kindern hat schuldig werden lassen und seine Kinder ihn so zum Verbrecher, zu einem Mittäter machen (1050f.). Neben der Pervertierung des Schlachtrituals durch Morde läßt sich eine dritte Ebene, die Ebene der pervertierten Bestattung beschreiben.
8.6 DIE ZEITLICHE ANALYSE Die Frage, ob denn GENETTEs Methode, die an der Erzählung entwickelt ist, sich auf das Drama übertragen läßt, ist im vorigen Kapitel positiv beantwortet worden.55 Unter dem Begriff einer geschehensdarstellenden Literatur können die zeitlichen Verhältnisse in den rituellen Handlungen beschrieben werden, obwohl im klassischen Sinn kein Erzähler vorhanden ist. 47 Vgl. WIND 2008, S. 7. 48 Die syntaktisch gleiche Verbindung der drei Elemente maeror, pavor und egestas (SEN. Thy. 923–924 fugiat maeror fugiatque pavor, / fugiat trepidi comes exilii tristis / egestas) unterstützt die Auffassung, daß drei Söhne getötet werden (s.u. Abschnitt 8.6.2). 49 SEN. Thy. 943f. flere; dolor; 951–954 gemitus; maerari; lacrima; flere; questus. Zur Wortwahl in der Monodie vgl. GIANCOTTI 1989, S. 205–216. 50 Vgl. KIERDORF 1991, S. 83; allerdings ist das Fest der Rosalia als öffentliches Fest für die Zeit Senecas nicht belegt, inschriftlich ist es erstmals für die Zeit Domitians nachgewiesen (ILS 3546), vgl. NILSSON 1914; PHILLIPS 2001. 51 Vgl. STEIDLE [1943/1944], S. 496 Anm. 18, der diese Interpretation andeutet und auf den sich MELTZER 1988, S. 322, beruft, sowie KIERDORF 1991, S. 74. 52 SEN. Thy. 961–968 luctus; oculi fletus; dolor; lacrima. 53 SEN. Thy. 1028f. sepelire liceat. redde quod cernas statim / uri – zu bestatten, möge erlaubt sein, gib, was, wie du weißt, brennen muß. 54 SEN. Thy. 1036f. quas miser voces dabo / questusque quos? quae verba sufficient mihi? 55 S.o. Kap. Tiresias und Manto, S. 270.
306
8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
Die Erzählsituation in diesem Drama ist derjenigen im Oedipus recht ähnlich. Auch hier ist eigentlich kein Erzähler präsent und es wird nur aus den Perspektiven der Figuren erzählt. Ebenso befinden sich hier zwei Gesprächspartner im Dialog über die Ereignisse, die zum Teil als Ritual geschildert werden: Ein Bote teilt sich dem Chor mit, der Fragen stellt und Kommentare abgibt. Im Unterschied zum Oedipus liegt hier jedoch kein Bericht über nahezu gleichzeitig Ablaufendes, sondern über Vergangenes vor. In einem deskriptiven Dialog wird das Geschehen dem Rezipienten vor Augen geführt, wobei der Bote für diese Passage quasi als Erzähler fungiert. Impulse kommen im Dialog nicht nur von dem Boten, sondern auch vom Chor.56 Der Bote führt zunächst den Berichtsstil ein, als handele es sich bei der Ermordung um einen Opferritus (684), und veranschaulicht damit die Intention des Atreus (689f.; 695f.; 715f.). Nach seinem sich von Atreus distanzierenden Bericht über die Ermordung bringt in einem längeren Zwischendialog der Chor dann Bestattungsriten ins Gespräch (743–754), so daß die gesamte Unterhaltung sich auf verschiedenen Ebenen mit den explizit genannten Themen Verbrechen, Opferritus und Bestattungsritus bewegt.57 Im Zwischendialog hat sich dieser, der klügere Chor, letztmals zu Wort gemeldet. Danach ändert er seinen Charakter wieder und erscheint im vierten Chorlied, das sich dem Bericht über die Vorfälle anschließt, ahnungslos.58 Die Erzählsituation ändert sich deutlich im letzten Abschnitt der untersuchten Passage, als der Bote zuerst Phoebus-Sol anspricht, der eine Sonnenfinsternis eintreten ließ, und danach den nicht anwesenden Thyestes.59 Der Bote löst sich dabei aus der Rolle des Dialogpartners gegenüber dem Chor, so daß der Gesprächskontakt zum Chor beendet wird. Er nimmt hier die Position eines Erzählers ein, der in einen Dialog mit seinen Figuren tritt (783f.) und der mehr weiß, als die Figur Thyestes, von der er erzählt. Daß dem zuletzt Angesprochenen das Geschehen noch entdeckt werden muß, wird als das Thema für die weitere Handlung des Dramas in den Worten des Boten formuliert (784–788 ... tota patefient mala). Die Figur des Boten ist in diesem Abschnitt als allwissender Erzähler eingesetzt,60 der auf das im Drama nachfolgend Darzustellende vorausweist. Es gelingt mit dieser besonderen Darstellungstechnik, einen Bruch in der Chronologie der dramatischen Handlung nicht etwa nur zu überwinden – denn 56 Dagegen beurteilt SCHMITZ 1993, S. 93, den Chor als weniger eigenständig, der „die einzelnen Phasen des Verbrechens lediglich markiert“. Auch KUGELMEIER 2007, S. 124, unterbewertet die Rolle des Chores. 57 S.o. Abschnitt 8.5. 58 S.o. S. 291, Abschnitt 8.1. 59 Die Technik der Anrede einer Figur im Erzählten, ohne daß diese Person anwesend ist, ist vergleichbar mit derjenigen in OVIDs Darstellung über Cipus (616–621, s.o. Kap. Cipus). Die Technik beschreibt KORTE 1987, S. 177. – SCHMITZ 1993, S. 94, Anm. 277, sieht die Darstellungstechnik als besonders, da sie mit der Entfaltung einer subjektiven Emotionalität an LUCAN erinnere. 60 Vgl. TARRANT 1985, S. 203, ad 783, der die Funktion des allwissenden Erzählers zu der Anrede von Thyestes, nicht aber zu der des Sonnengottes vermerkt.
8.6 Die zeitliche Analyse
307
eigentlich liegt aus der Situation der Berichterstattung heraus das Mahl des Thyestes bereits in der Vergangenheit – sondern ihn sogar Effekt-schaffend einzusetzen. In diesem Übergang wird das Mahl und das Offenbaren der Untaten nur knapp erwähnt, im nächsten Akt dann in aller Breite szenisch dargeboten. Größere Schwierigkeiten in der Chronologie bereitet die Sonnenfinsternis,61 die in beiden Anreden ebenfalls kurz erwähnt ist. Wie Mahl und Offenbaren wird auch die Sonnenfinsternis später als Gegenwartsgeschehen in dramatische Handlung umgesetzt, als nämlich Thyestes, von Atreus aufgefordert, einen Becher mit dem Bluttrunk nehmen will (990–995). Daß der Bote zuerst die eingetretene Sonnenfinsternis erwähnt (776f.), darauf der Chor sich im Chorlied über die Sonnenfinsternis wundert (789 ff.), deren Eintritt ja bereits in der Vergangenheit liegt, im weiteren dann Atreus von der bereits eingetretenen Sonnenfinsternis spricht (892 dies recessit) und schließlich Thyestes den Eintritt der Sonnenfinsternis erlebt (990–995), durchbricht eine lineare Darstellung der Zeit. Nicht nur führt die Kontinuität des Themas über den beschriebenen zeitlichen Bruch hinweg, sondern verlockt zu einer Orientierung an dem Motiv Sonne. Diese erhöhte Aufmerksamkeit versetzt den Rezipienten in die Lage, das Rückwärtswenden der Zeit in der Thyestes-Partie mitzuempfinden.
8.6.1 Geschwindigkeit und Ordnung des Erzählten: ferrum – ignis – Thyestes Die differenzierte zeitliche Analyse durch die Aspekte der Ordnung und Geschwindigkeit des Erzählten soll verdeutlichen, welchen Stellenwert die Ritualdarstellung im Erzählten einnimmt. Im Anfangsteil des Dialoges wird im langsamen Tempo einer Szene das Thema bestimmt, nämlich die neuesten Untaten im Pelopidenpalast (623–640). Der Bericht des Boten beginnt retardierend mit einer deskriptiven Handlungspause, indem er den Palast als Ort von Untaten quasi charakterisiert (641–682). Zum Abschluß dieser einleitenden Partie nennt er vage das Thema, von dem er berichten will, nämlich vom jüngstes Verbrechen, das mit einer Verschleppung der Thyestes-Söhne begann (682f.). Mit dem Schmücken von Altären läßt er seine Darstellung im Gegenwartstempus beginnen, unterbricht sich jedoch selbst in einer reflexiven Handlungs61 Die verkehrte Zeitangabe für die Sonnenfinsternis fällt GIGON 1938, S. 179, als sonderbar auf, er bietet jedoch keine Erklärungsversuche. OWEN 1968, S. 296–300, geht auf das mehrmalige Erzählen der Sonnenfinsternis ein, ohne die Zeitumkehr wahrzunehmen. Daß SENECA nicht linear darstellt, stellt SHELTON 1975, bes. S. 260, überzeugend aufgrund des Prologs und des Racheplans fest: Die dort geschilderte Ereignisse, insbesondere die Erschütterung bei Tantalus’ Betreten des Palasts und das Erdbeben bei Atreus’ Racheplan, sind nicht als nacheinander, sondern als gleichzeitig stattfindend aufzufassen. Auch auf das mehrmalige Erzählen der Sonnenfinsternis weist SHELTON, 1975, S. 267 Anm. 9, hin, ohne jedoch die zeitlichen Verhältnisse aufzuklären. Daß das Motiv der Sonnenfinsternis nicht als Zeitangabe zu verstehen sei, sondern SENECA hier Variationen des Themas biete, meint SCHMITZ 1993, S. 90–115. Zu „Zeit und Raum in Senecas Tragödien“ vgl. SCHMIDT 2004.
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pause, ob denn die gewählte Form des Rituellen genügend informativ ist (684 quis queat digne loqui). Indem er hinzufügt, daß Atreus die Söhne fesselt, verdeutlicht er die Intention, daß dieser hier mit Staatsfeinden verfährt. Linear folgt das Schmücken ihrer Köpfe mit der vitta und der Bote kehrt zur ausgewählten Darstellungsform zurück, die den zu schildernden Ritus jetzt als einen Schlachtritus, ausgeführt an den Thyestes-Söhnen, präzisiert. Darauf zählt der Bote weitere Gegenstände auf, die zum Ritus gehören (687f.), wodurch summarisch in einem Vorgriff die das Ritual einleitenden Tätigkeiten, Weihrauchbrand, Weinlibation und Weihung mit Opfermehl und culter-Strich, dargestellt sind. Der Kommentar des Boten, Atreus beachte die Kultvorschriften genau (689), bildet diesen Redeteil abschließend eine reflexive Handlungspause. Die kurze Frage des Chores nach demjenigen, der das Messer führt, greift ebenfalls dem Ablauf vor und bildet durch das Stichwort ferrum gleichzeitig einen Rückgriff auf den von Atreus geäußerten Plan (257), der dem Chor ja nicht bekannt ist (s.o. S. 291f.). Über die Antwort, Atreus selbst sei der sacerdos, setzt eine lineare und summarische Darstellung wieder ein: Sprechen von Gebeten, Stehen bei den Altären, Prüfen der Opfer und Nähern des Messers (691–694). Zum zweiten Mal bildet ein Kommentar des Boten, Atreus achte auf den rechten Verlauf (695), eine reflexive Handlungspause, die diesen Redeteil strukturiert. Im Anschluß schildert der Bote summarisch zwei Gruppen von jeweils drei Vorzeichen, die das Ritual begleiten. Er beginnt jeweils präsentisch (696 lucus tremescit; 700 vina fluunt) und fährt im Vergangenheitstempus fort. Die erste Gruppe bildet Vorzeichen kosmischer Dimension (lucus tremescit; nutavit aula; cucurrit sidus), die zweite ist mit Vorgängen im Ritual verbunden: das Wandeln des Weines in Blut, das dreimalige Herabrutschen des königlichen Kopfschmucks, das Weinen der Elfenbeinstatuen im Raume. Daß ein Feuer entfacht und dann Wein hineingegossen wurde (700 libata in ignes vina), steht in einem sehr knappen Rückgriff auf den früheren Vorgriff, daß Weihrauch und Wein nicht fehlten (687); das eigentliche Ausüben ist dagegen nicht erzählt. Als besonders wichtig kennzeichnet das Präsens in fluere das Blutfließen nach der Wandlung. Indem die Schritte im Ritus nicht in linearer Ordnung erzählt werden, verlieren sie an Bedeutung. Das Einsetzen mit einem Partizip Perfekt (libata vina) bewirkt eine Beschleunigung des Erzählten. So entsteht der Eindruck, als habe Atreus seine Betätigungen während des Berichtes über die Zeichen fortgesetzt und die Zeit müsse durch das Kürzerfassen wieder aufgeholt werden. Wichtiger als die Mitteilung über den Ritus erscheinen dagegen die begleitenden Vorzeichen. Dieser Geschehensdarstellung schließt sich eine Charakterisierung von Atreus an, indem zunächst seine Verhaltensweisen summarisch dargestellt werden (703– 706). Retardierend führt in einer deskriptiven Handlungspause ein Vergleich mit einer hungrigen Tigerin die Charakterisierung fort (707–711). Die summarisch geschilderten Überlegungen des Atreus, was als nächstes zu tun sei, lenken einen Vorgriff bildend wieder auf das Rituelle (713f. mactare; immolare). Diesen Teil seiner Rede abschließend äußert sich der Bote in einer reflexiven Handlungspause zum dritten Mal über das starke Interesse von Atreus, den Ritus ordnungsgemäß durchzuführen (715f.).
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Die weiteren Fragen des Chores und Antworten des Dialogpartners geben im sehr langsamen Tempo einer Szene und in linearer Ordnung das anschließende Geschehen wieder: Wer die erste hostia ist, wie Haltung und Miene waren, sind Aspekte im Bilde des Rituals, die den Vorgang des Tötens einleiten. Darauf wird die Ermordung der ersten beiden Thyestes-Söhne und die wütende Energie, die Atreus dabei aufbringt, drastisch geschildert. Die Frage des Chores nach dem dritten der Söhne führt zu einem Vergleich von Atreus mit einem Löwen (730–736), der retardierend eine deskriptive Handlungspause bildet, bevor von der Ermordung auch des Letzten berichtet wird (737–743). Wieder auf das Rituelle zurückführend ist das Löschen der Opferflamme durch einen Blutguß, den Blutschwall beim Töten des Dritten, beschrieben. Wenn auch die Darstellung mit Elementen eines Schlachtrituals beginnt und endet, so hat sie doch deutlich mehr von einer Ermordung als von einem Opferritus. Der anschließende Zwischendialog über das Verbrechen und die Sorge um die Bestattung steht in einer reflexiven Handlungspause (743–754). In der Bemerkung des Boten über die besser nicht stattgefundene Feuerprozedur (750 nec solvat ignis) und das Besser-von-Tieren-Gefressenwerden (750f.) findet sich ein Vorhalt auf die nachfolgenden Berichtsteile – das Garen durch das Feuer und das Verzehren durch den Vater. Mit einem Zeitsprung setzt die Schilderung des weiteren rituellen Geschehens, der Eingeweideschau, wieder ein. Der Gebrauch des Partizip Perfekt erepta exta erweckt den Eindruck, die Handlung sei während des Gedankenaustausches fortgegangen und der Bote müsse wegen der versäumten Zeit die Berichterstattung raffen. Zudem ist hier eine Auslassung im Erzählten zu erkennen, denn das Öffnen der Körper, das vor einer Herausnahme der Eingeweide nötig ist, ist nicht erwähnt. Die geraffte Zeit und die Handlungspause des Zwischenparts überdecken diese Auslassung. Summarisch werden die Bewegungen der Eingeweide beschrieben, summarisch auch, wie Atreus diese anschaut (755– 758). Die Beschau der Eingeweide bildet einen Rückgriff auf die Orakelbefragungen, die für diesen Ort erwähnt wurden (657f.; 679–682). Das im Ritus eigentlich wichtige Ergebnis, daß die hostiae Gefallen gefunden haben (759), ist dem Bericht über die Zubereitung des Mahles nur vorgeschaltet und verliert so an Bedeutung. Betont ist dagegen die Beruhigung, die Atreus nach seinem Wüten gefunden hat (securus vacat iam fratris epulis). In linearer Ordnung werden ausführlicher, das heißt summarisch, das Zerteilen der Körper, das Aufbewahren der Köpfe und Hände, verschiedene Garmethoden sowie begleitende Zeichen dargestellt (760–775).62 Daß das Garen im Feuer und die Zeichen, insbesondere das Nicht-Brennen-Wollen (768 transiluit ignis) und die starke Rauchentwicklung, so breit beschrieben sind, pointiert die Wichtigkeit des Erzählten. Denn hinter dem vordergründigen Thema des Opferrituals steht das vom Chor schon angesprochene und vom Boten fast unmerklich aufgenommene Thema der 62 Zu einer Interpretation der Laute als Ausdruck der Trauer s.o. S. 304. – Ähnlichkeit dieser Stelle in Bezug auf die Laute der garenden Stücke, die mahnenden Zeichen und auf den veränderten Ritus besteht mit HOM. Od. 12,356–365 und bes. HOM. Od. 12,394–396 bei der Schlachtung der Rinder des Helios.
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Bestattung, welche auf widersinnige Weise durch die Gar-Feuer geschieht. Im Gegensatz zu den Dialogpartnern des Boten sind die Rezipienten, die den Plan des Atreus kennen, in der Lage, nach dem ferrum hier das zweite Mittel der Rache ignis (257) zu identifizieren. Im letzten Abschnitt (776–788) setzt sich trotz der veränderten Gesprächssituation63 die Darstellung des Rituals grob linear fort: Auf das Garen der Speisen folgt die Mahlzeit.64 Zudem wird ein gleichzeitig stattfindendes Ereignis, die Sonnenfinsternis, knapp dargestellt. Von dieser ist an erster Stelle in der Anrede an Phoebus zu erfahren (776f.), darauf dann – in der raschen Geschwindigkeit eines summary – von dem Festmahl (777–782a). Dabei nimmt der Bote in einem Rückgriff das vom Chor angeschnittene Thema der unangemessenen Bestattung implizit nochmals auf: Wie ein wildes Tier zerreißt der Vater seine Kinder (lancinat) und bestattet sie in seinem Mund (ore funesto). Hierin erkennt der Rezipient den in der Rache des Atreus angekündigten dritten Schritt (259 ipso Thyeste). Nicht erzählt ist das Enden der Essensbereitung bis zum Beginn des Mahls. Die der Phoebus-Akklamation folgende, an Thyestes gerichtete Rede enthält als erstes einen kurzen Rückgriff auf das gerade geschilderte Verzehren der eigenen Söhne (782b–783), ausführlicher dann einen Rückgriff auf die zuvor nur kurz erwähnte Sonnenfinsternis (784–787). Die Themen Sonnenfinsternis und Mahl sind chiastisch angeordnet: Gegenüber Phoebus wird länger von Thyestes erzählt, gegenüber Thyestes dagegen vom Sonnengott (ipse Titan). Als Hauptthema ist durch Gegenwartsformen das Mahl gekennzeichnet, das Nebenthema Sonnenfinsternis durch Vergangenheitsformen.65 Die Schlußbemerkung des Boten, daß das Aufdecken der Untaten noch bevorstehe (788 patefient), bildet einen Vorgriff auf den nächsten Akt.66 Dort berichtet dann Atreus gegenüber Thyestes von seinen Morden an dessen Söhnen (1057–1065).67 Bei der Untersuchung, mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Ordnung die einzelnen Passagen erzählt sind, zeigt sich, daß die Abschnitte über den Opferritus sich nicht im langsamsten Erzähltempo einer Szene finden, das die ausführlichsten Informationen liefern würde. Statt dessen sind Inhalt des intensiveren Wechselgesprächs (717–748) die Ermordungen. Besonders häufig wird dagegen 63 Zu den Besonderheiten der Erzählsituation, den Anreden des Phoebus und des Thyestes, s.o. S. 306. 64 Im Vergleich mit den anderen Darstellungen in der hier vorliegenden Arbeit berichtet allein der Thyestes explizit über ein Festmahl, das auch den Abschluß bei historischen rituellen Schlachtungen bilden muß. Nur implizit lassen sich dagegen die abendlichen Festmähler, von denen VERGIL in der Dido-Episode erzählt, als Abschluß der morgendlich stattfindenden Schlachtungen auffassen (s.o. Kap. Dido 4.8.2). 65 Im Perfekt fugeris; merseris; occidisti; im Präsens lancinat; mandit; nitet. 66 Zur Verkehrung der Zeit s.o. S. 306. 67 Über das mehrmalige Erzählen des Anschlags vgl. KUGELMEIER 2007, S. 124f.; der expliziten Vorankündigung des Verbrechens durch Atreus gegenüber dem satelles (277f.) läßt sich eine implizite Vorankündigung gegenüber Thyestes hinzufügen, wenn man in der Formulierung ex hoc sanguis ac pietas die / colantur (510f.) den Begriff sanguis wörtlich und nicht in einem übertragenen Sinn als „Verwandtschaft“ oder „Blutbrüderschaft“ versteht (vgl. die Übersetzungen GRÜNBEIN 2002 bzw. THOMANN 1969).
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summarisch vom Ritus berichtet; auch Nicht-Erzähltes, wie das Öffnen der Körper, ist erkennbar. Zudem wird der Ritus seltener linear, sondern zumeist in Vorhalten, Vorgriffen und Rückgriffen dargestellt. Damit muß die Ritendarstellung als weniger wichtig bewertet werden.
8.6.2 Die Frequenz des Erzählten – oder von den drei Söhnen Mit der Frage danach, wie häufig Vorgänge dargestellt sind, lassen sich zum einen besonders wichtige Ereignisse herausstellen, wenn diese zwar nur einmal, aber dazu recht breit geschildert sind. Dies ist der Fall bei den Ermordungen jedes einzelnen Sohnes. Retardierende Handlungspausen, die vor allem die Raubtier-Vergleiche bilden, verbreitern diese Darstellungen außerdem. Zum anderen geben Abschnitte mit iterativer Frequenz Aufschluß darüber, welche Vorgänge mehrmals ablaufen. So signalisieren Ausdrucksweisen im Plural oder die wortreiche Mehrfach-Umschreibung eines Vorgangs, daß dort Wiederholungen von Handlungen oder Tätigkeiten intendiert sind. Derartige Stellen bieten einen Ansatzpunkt für die Frage, von wie vielen Morden berichtet ist, oder anders, wie viele Thyestes-Söhne dargestellt sind.68 Die zahlreichen Formulierungen im Plural, mit denen summarisch verschiedene Schritte des Rituals markiert sind, genügen jedoch nicht, um die genaue Anzahl zu bestimmen. Ausdrücke wie ornantur arae; vitta capita purpurea; non tura desunt; libata in ignes vina; erepta vivis exta pectoribus; hostiae placuere; epulis skizzieren lediglich den Ritualablauf. Aber es gibt in der gesamten Darstellung explizite und mehr noch implizite Hinweise auf eine Dreizahl von Vorgängen. Explizit ist an zwei Stellen die Zahlenangabe bis ter(que) gebraucht, die sich zwar auf prodigienhafte Zeichen bezieht, aber doch in Korrespondenz zu dem dreifachen Mord steht.69 Die Zeichen sind das Herabfallen der phrygischen Tiara, mit 68 Die Position, daß nur von zwei Söhnen, nämlich den beiden namentlich genannten Tantalus und Plisthenes, die Rede sei, vertritt LEFÈVRE 1973; es schließt sich ihm z.B. HILTBRUNNER 1985, S. 1037f., an. Daß in dem – allerdings nicht überlieferten – Drama des EURIPIDES diese zwei genannten Söhne vorkommen, dient als Argument für eine Abhängigkeit von EURIPIDES; dagegen tragen bei SOPHOKLES die dortigen drei Söhne andere Namen, weshalb LEFÈVRE die – ebenfalls nicht überlieferte – Sophokleische Version als Vorlage ablehnt (S. 103). Vielfach gibt es Gegenpositionen, die von einer Dreizahl der Söhne ausgehen (z.B. LIEBERMANN 1974, S. 97 Anm. 42b; PRIMMER 1976, S. 229–32; JAKOBI 1988, S. 160; GIANCOTTI 1989, ad 715f.; 730f.); unentschieden gibt sich DINGEL 1985, S. 1055f. 69 Daß scheinbar vage von zwei- oder dreimal gesprochen ist, läßt sich werten als ein Spielen mit den unterschiedlichen mythologischen Überlieferungen von den Söhnen des Thyestes, da es in der einen Tradition drei, in einer anderen aber zwei Söhne gibt. Motiv für eine Kompilation ist am ehesten die Namensgleichheit bei Tantalus, die die Version mit den zwei Söhnen bietet (vgl. DINGEL 1985, S. 1056). DINGELs Argumentation, die für zwei Söhne sprechen soll und für die er die Zahlenangaben enthaltenden Formulierungen non capit regnum duos (444) und recepit hoc regnum duos (534) anführt, ist wenig überzeugend, denn Thema des Dramas ist die Feindschaft und Konkurrenz in der (Gewalt-)Herrschaft zwischen den beiden Hauptpersonen Atreus und Thyestes (vgl. HIRSCHBERG 1989, S. 261). Der Wettstreit, allerdings in
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der sich Atreus geschmückt hat (663; 701f.), und das Feuer, das von den Herden springt (769).70 An impliziten Hinweisen lassen sich Formulierungen in dreifacher Wiederholung anführen: So finden sich schon in der Ekphrasis drei jeweils mit hinc eingeleitete Bemerkungen über die Funktion des düsteren Ortes als Orakelstätte (657; 658; 679–682),71 woraus man auf drei bevorstehende Befragungen in der Eingeweideschau schließen kann. Beim Ritual wird dreimal betont, Atreus sorge für einen korrekten Ablauf (689f.; 695; 715f.). Bei den Morden ist jeweils die Haltung der drei Mordopfer zum Tod geschildert: Tantalus ist sich seiner selbst sicher (720 sui securus), Plisthenes dagegen unsicher (729 incerto murmure), der dritte Junge akzeptiert den Tod (741 pectore receptus). Einzelne Tätigkeiten sind dreifach formuliert, wie das Sprechen von Gebeten (691f. funesta prece; letale carmen; ore canit) und das Prüfen der Todgeweihten (694 contrectat; componit; ferro admovet).72 Die anschließend geschilderten Vorzeichen bilden zwei Dreier-Gruppen (696–699 lucus; aula; sidus; 700–702 vina; regium decus; ebur). Bei den Überlegungen des Chores zu den Bestattungen antwortet der Bote den Tierfraß dreifach variierend (750f. avibus; ferisque; saevis). In der Eingeweideschau ist dreifach die Bewegung der Organe formuliert (755f. exta tremunt; spirantque venae; corque salit), ebenso auch die Beschau (757f. fibras tractat; fata inspicit; venas notat) und nach einem zusammenfassenden ipse divisum secat in membra corpus (760f.) dreifach das Zerkleinern der Körper (761–763 umeros amputat; artus denudat; ossa amputat). Auf dreifache Art gart das Fleisch (765– 767 veribus; caminis; aeno) und dreifach sind Klagelaute formuliert (770–771 stridet; gemant; gemuere). Darauf ist, nach dem einleitenden Ausdruck ignis abit sc. in fumos piceos (772), dreifach der dunkle Rauch beschrieben (773–775 ipse fumus; nebula gravis; nube deformi). In der anschließenden Phoebus-Akklamation ist erst die Sonnenfinsternis dreifach dargestellt (776–778 fugeris retro; merseris diem; occidisti), dann des Thyestes Mahl (778–782 lancinat; mandit; tenuere fauces) und wiederum die Sonnenfinsternis (784–787 verterit currus; obvium ducens iter; nox missa ab ortu). In dem späteren Klagelied des Thyestes lassen sich drei im übertragenen Sinne als Gefährten im Exil bezeichnete Umstände maeror, pavor, egestas (922–924) auf die tatsächlichen Begleiter, die drei Söhne, beziehen.73 Zudem moniert Thyestes das vom Bruder nicht eingehaltene Abkommen in
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deutlich negativer Konnotation, ist auch durch ein uter, wer von beiden, bezeichnet (640; 1010; 1088). Des Atreus Ausspruch (887 nunc decora regni teneo, nunc solium patris – jetzt erst besitze ich die schmückenden Insignien der Königsherrschaft, jetzt erst den Thron des Vaters) liefert einen weiteren Nachweis für dessen eigenen Kampf gegen seinen Bruder. TARRANT 1985, ad 701, möchte dagegen den Ausdruck nicht wörtlich verstanden wissen; die zweite Stelle erwähnt er gar nicht. Eine vierte mit hinc eingeleitete Bemerkung verweist auf die Sphäre des Todes (668). Die obgleich gut bezeugte Lesart von admovet gilt als verderbt, mir scheint trotz der Konjekturen der Ausdruck gut zu passen, wenn man darin ein Berühren mit dem Messer als Prüfvorgang sehen kann. Zur Totenklage s.o. S. 305.
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dreifachem Ausdruck (1024)74 und des Thyestes Klagen sind dreifach formuliert (1036f. voces; questus; verba).75 Mit der Untersuchung zur Frequenz des Erzählten ließ sich klar stellen, daß nicht nur die einzelnen Tätigkeiten im Ritus mehrfach und genauer dreimal ablaufen, sondern darüber hinaus, daß drei Thyestes-Söhne geschildert sind. Die wortreiche Umschreibung zahlreicher Vorgänge ist nicht allein als rhetorischer Stil um seiner selbst willen zu bewerten, vielmehr zeigt sich, daß der Pleonasmus als rhetorisches Mittel gezielt inhaltlich eingesetzt ist.76
8.7 DAS LITERARISCHE PERSONAL 8.7.1 Die Ausführenden Thyestes Als Auftraggeber für das Ritual ist zum einen Thyestes anzusehen, denn es geht bei den rituellen Handlungen um seinen Amtsantritt,77 zu dem er seine Einwilligung gibt, als er auf Drängen von Atreus die Krone annimmt. Mit diesem indirekten Einverständnis ist er Atreus in die Falle gegangen, das Wort vincla für Krone drückt diesen Zustand aus (544). Als ‚Opferherr‘ hat Thyestes auch die ‚Opfer‘ bestimmt, indem er seine Söhne als unschuldig bezeichnet (innocentes) – was als rituell rein verstanden werden kann78 – und sie Atreus überläßt. Mit dem Stellen von Geiseln geriert sich Thyestes auf politischer Ebene wie ein feindlicher Souverän79 (520f. obsides fidei accipe hos innocentes – als Geiseln für die Treue nimm diese Unschuldigen an). Später klagt er auf dieser Ebene über das nicht eingehaltene Bündnis (1024).80 Ebenfalls für seine Rolle als Auftraggeber dieser Darbringung spricht, daß Thyestes dann mit Salböl im Haar und Wein trinkend das ‚Festmahl‘ einnimmt. Atreus nimmt an diesem Mahl nicht teil, er scheint in der untergeordneten Rolle des Dieners zu stehen. In neuer Szenerie des Festsaales quasi in ein Schlaglicht gesetzt, ist allein Thyestes als derjenige dargestellt, der mit dem Speisen den Ritus zum Abschluß bringt – wobei er allerdings die Untat seines Bruders verdoppelt. Wie Atreus wegen der Morde und des pervertierten Schlachtrituals ein Verbrecher ist, so macht er seinen Bruder Thyestes aufgrund
74 SEN. Thy. 1024 Hoc foedus? haec est gratia, haec fratris fides? – Ist dies das Bündnis? Dies der Dank, dies die Treue? 75 SEN. Thy. 1036f. quas miser voces dabo / questus que quos? quae verba sufficient mihi? 76 Vgl. beispielsweise MADER 2000, S. 153. 77 FISCHER 2008, S. 132, mißversteht als Anlaß für das Ritual die Rückkehr des Thyestes. 78 Zur Bedeutung von innocentes gibt TARRANT 1985 keinen Hinweis. 79 Dagegen urteilt GIGON 1938, S. 181, daß sich Thyestes wie ein Hiketes, ein Asylsuchender verhalte. Tatsächlich nennt Thyestes sich selbst Bittsteller (517 supplicem primus vides) und betrügt als eigentlich Anwärter auf den Thron ebenso wie Atreus betrügt. 80 S.o. Anm. 74.
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der pervertierten Bestattung, wie er angekündigt hatte,81 zum Mittäter.82 Dies gelingt ihm, obwohl Thyestes zwar mißtrauisch ist, aber die Konsequenzen seines einverständigen Tuns, die Annahme der Herrschaft, nicht erfaßt. Seine alte Schuld, den Ehebruch und die Machtübernahme, blendet Thyestes für sich aus, indem er sie nur als Schuld anerkennt, sofern ihm Atreus mit pietas zu begegnen scheint (514 pessimam causam meam hodierna pietas fecit).83 Wenn Thyestes als ‚Opferherr‘ anzusehen ist, müßte eigentlich auch das Ergebnis aus der Eingeweideschau auf ihn bezogen werden. Atreus jedoch, zweideutig gegenüber Thyestes eine sichere Herrschaft verkündend, bezieht das quasi positive Ergebnis, indem allerdings die Unterweltgötter zu der Darbringung genickt haben,84 auf sich allein (970–972).85 Eine Andeutung, daß Atreus sich irrt und Thyestes letztlich nach seiner Gegen-Rache Herrscher wird, wie der Mythos weiter darstellt, läßt sich bei SENECA im Fluch des Thyestes gegen Atreus schwach erkennen (1110f.). Die Form des Ergebnisses, zwar ein positives, aber ein von den Unterweltgöttern gegebenes, und die Unklarheit, welchem der Kontrahenten dies gilt, läßt eine Aporie entstehen. In dieser Aporie liegt eine gewisse Ähnlichkeit mit der Darstellung in VERGILs Dido-Episode. Zwar ist dort mit heu, vatum ignarae mentes (4,65) ein Ergebnis gar nicht genannt,86 hier dagegen gibt es mit hostiae placuere (759) ein klar formuliertes positives Ergebnis, aber eindeutig ist die Situation dennoch nicht. Versucht man in beiden Fällen Rückschlüsse auf eine Zustimmung oder Ablehnung zu ziehen, müssen hier wie dort Götter gesehen werden, die ihre Zustimmung geben, und Götter, die eine ablehnende Haltung haben.
Atreus Als Ausführender bei der rituellen Schlachtung tritt einzig Atreus auf, der derzeitige Herrscher in Mykene. Als Motiv für die Befragung mittels einer Eingeweideschau erscheint zum einen ein persönliches: das der Rache an seinem Bruder wegen des Ehebruchs, der die Unsicherheit bezüglich der wahren Nachkommen und Erben mit sich gebracht hat (240 domus aegra, dubius sanguis est). Zum anderen 81 SEN. Thy. 285f. quod est in isto scelere praecipuum nefas, / hoc ipse faciet – was an diesem Verbrechen das außergewöhnliche Unrecht ist, das soll er selbst begehen. 82 Ähnlichkeit des verbrecherischen Brüderpaares und ihrem doppelten Vergehen besteht zu den Schwestern Prokne und Philomela, die beide gleich am Itys-Mord schuldig werden, indem jede von ihnen zugestochen hat (OV. met. 6,641–643). 83 Daß Thyestes sich selbst als schuldig betrachtet, ist auf intertextueller Basis aus dem Prolog zu SENECAs Agamemnon (22–27) zu ersehen, wo der Schatten des Thyestes über seine und seines Bruders Atreus Vergehen spricht (vgl. LEFÈVRE 1995, S. 171). 84 Zur Bewegung des Bodens (aula nutavit) als Zustimmung von Unterweltmächten, speziell von Tantalus, s.u. S. 318f. 85 SEN. Thy. 970–972 festum diem, germane, consensu pari / celebremus. hic est, sceptra qui firmet mea / solidamque pacis alliget certae fidem – Laß uns Bruder, diesen Festtag in einvernehmlichem Sinne feiern: dieser Tag ist es, der meine Herrschaft stärken und den festen Glauben an einen sicheren Frieden befestigen soll. 86 S.o. Kap. Dido, Abschnitt 4.7.4.
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findet sich ein politisches Motiv: das des Sieges über den Feind seiner Herrschaft, als den er seinen Bruder betrachtet (240f. certi nihil nisi frater hostis). Als Ziel zeichnet sich ab, daß Atreus im Familienheiligtum Gewißheit über seine familiären Angelegenheiten und seine Herrschaft gewinnen will (658 hinc petere lassis rebus ac dubiis opem).87 Von daher ist auch Atreus in der Rolle eines Auftraggebers und ‚Opferherrn‘ zu sehen, vorgeblich jedoch geht es bei dem Ritus um den Amtsantritt des Thyestes. Über die Verteilung der Aufgaben in einem historischen Ritual läßt sich aufgrund dieses Textes nur mutmaßen, weil allein Atreus als Handelnder erscheint. So kann das häufige ipse (4 Mal in 691–693; 695; 760) gut Tätigkeiten bezeichnen, die normalerweise ein sacerdos ausübt, als welcher Atreus hier fungiert. Außerdem bieten Ausdrucksweisen im Passiv88 die Möglichkeit, keine anderen Figuren für Tätigkeiten erwähnen zu müssen, die in einem historischen Ritual vielleicht von speziellem Personal ausgeführt wurden. Das ipse kann jedoch auf literarischer Ebene zugleich den besonderen Eifer ausdrücken, worin Atreus VERGILs Dido gleicht. Zu einem Verbrechen89 wird Atreus’ Bestreben nach Herrschaftssicherung durch die Ermordung der Kinder seines Bruders – dessen Erben und Anwärter auf seine Herrschaft. Mit deren Beseitigung erreicht er absolute Sicherheit in den Machtverhältnissen. Sein verbrecherisches Tun wird noch gesteigert,90 indem er die ordnungsgemäße Bestattung in widersinniger Weise verunmöglicht (752f.). Der eigentliche Grund für die Tat ist jedoch die vernichtende Rache, die Atreus an seinem Bruder ausüben will, indem er diesen letztlich mitschuldig werden läßt (195f. scelera non ulcisceris, nisi vincis – Verbrechen rächst du nicht, wenn du sie nicht übertriffst).91 Gegenüber der Tat des Schwesterpaares Prokne und Philomela vergrößert er das Verbrechen in mehrfacher Hinsicht: nicht nur durch die dreifache Anzahl der Mordopfer, sondern auch durch ein doppeltes rituelles Vergehen, die Form der Schlachtung und die der Bestattung.92 Hinzu kommt der Treuebruch nicht nur gegenüber der Familie, sondern auch auf politischer Ebene mit der Hinrichtung von Geiseln, und schließlich das schon erwähnte Verführen des Bruders zur Tatbeteiligung.
87 S.u. S. 316. – Dagegen gesteht TARRANT 1985, 198 zu Vv. 755–758, dem Atreus lediglich ein Interesse an der korrekten Ausführung des Rituals zu („He seems to have no serious intention of learning the future but simply to be displaying perverse regard for established form“). 88 SEN. Thy. 684 ornantur arae; 700 libata vina; 755 erepta exta; 767 impositas dapes; 768f. ignis iussus. – Daß jedoch die Libation (700) nicht ein sacerdos ausgeführt hätte, erscheint unwahrscheinlich. 89 SEN. Thy. 715; 743f. saevum scelus; nefas; 731 scelus sceleri ingerit. 90 SEN. Thy. 746f. sceleris hunc finem putas? gradus est; 753f. nullo scelus credibile in aevo quodque posteritas neget. 91 Zu einer angedeuteten Mitschuld des Thyestes vgl. STEIDLE [1943/1944], S. 496; FISCHER 2008, S. 146f., formuliert diese explizit. 92 In OVIDs Itys-Episode ist die unangemessene Bestattung nur dezent angedeutet: [sc. Tereus] vocat bustum miserabile nati (OV. met. 6,665).
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
Durch seine Rachetaten ist Atreus als Verbrecher charakterisiert. Sein Wesen wird zudem als rasend, zornig und hartherzig beschrieben.93 Zweimal wird er mit einem wilden Tier verglichen,94 zuerst mit einem Tiger, der aus dem an sich verständlichen Grund des Hungers nach Beute giert (707–711), dann mit einem Löwen, dem auch Sättigung das emotionale Potential der Angriffslust, die ira, nicht mindert (732–736).95 Atreus gleicht in seinem Streben dem Tiger, denn sein Hunger ist der nach Macht. Sein Wesen aber ist, ähnlich dem Löwen, trotz der Gewißheit seiner Macht zornig und dürstig nach Rache.96 Neben dem psychologisierenden Aspekt, daß die Hast bei dem Verbrechen durch den rasenden Zorn motiviert ist, steht auch der Aspekt, daß die Eile mit dem Vergewissern über die göttliche Zustimmung bezüglich der Herrschaft begründet ist. So findet sich das zügige Vorgehen von Atreus, das schon vor der Tötung in den Perfekt-Partizipien libata vina und dimissa mora erkennbar ist (700; 705), auch bei der Eingeweideschau in der gleichen grammatischen Konstruktion erepta exta und der ähnlichen postquam hostiae placuere (755; 759) ausgedrückt. Zudem unterstützen den Eindruck von Eile die Bemerkungen über den lebendfrischen Zustand der Eingeweide (755f.; 758 adhuc calentes viscerum venas). Die temporale Bestimmung adhuc gibt dabei die geringe zeitliche Distanz seit der Tötung an. Des Atreus gespannte Emsigkeit, die auch mit der vielfachen Umschreibung seines prüfenden Schauens ausgedrückt ist (757f.), endet mit der Feststellung eines positiven Ergebnisses, das ihm die erstrebte Sicherheit für sein Tun verschafft (759 postquam hostiae placuere, securus). Das Ziel seines Bestrebens spiegelt sich in dem ungewöhnlichen, metonymisch aufzufassenden Ausdruck fata inspicit (das Schicksal will er sehen). Als das Ergebnis klar ist, bedarf es bei der Zubereitung des Mahles, anders als bei den ritualisierten Vorbereitungen der Tötungen und eben bei der Eingeweideschau, keiner Eile mehr (759f.). Die Hast und wütende Energie, die Atreus zeigt, erinnert an Orestes, der in der Darstellung des EURIPIDES (El. 819–843) seinen Konkurrenten Aigisthos, Sohn des Thyestes, nach der für diesen ungünstig ausgefallenen Eingeweideschau hinterrücks niedersticht.
93 SEN. Thy. 682 furens; 692 ore violento canit; 704 immotus; 706 torvum et obliquum intuens; 712f. durus Atreus ... impiae speculatur irae; 721 ferus; 726 saevus; 737 saevit atque ira tumet; 739 fureret; 763 durus. 94 Der Vergleich mit den Tieren führt auf eine Darstellung OVIDs, die in der Rede des Pythagoras den Verzehr von Fleisch als ungezügeltes Verhalten wilder Tiere verurteilt (Tiger, Löwen, Wölfe, Bären; OV. met. 15,85–87). Die Gier nach der Fleischmahlzeit, die die Menschen zeigten, verursache die besondere Eile bei der Ausführung des Schlachtrituals. Die Darbringung für die Götter und das Heischen nach deren Zustimmung diene ihnen nur als Vorwand. – An diesen Pythagoräischen Vorwurf des Vorwandes für die Darbringungen läßt sich für Atreus anschließen: Ihm dient sie in gewisser Weise ebenso als Vorwand für die Tötungen. – LUCAN bietet ebenfalls die Vergleiche, mit einem Löwen Caesar vergleichend (1,205–212) und mit einem Tiger in einer Rede Caesars über Pompeius (1,327–332). 95 Zum Bild des Raubtiers vgl. TARRANT 1985, 192, ad 707–711. 96 Daß Atreus mit seinem Hunger und Durst dem Ahnen Tantalus gleiche, vermerkt SEIDENSTICKER 1985, S. 120.
8.7 Das literarische Personal
317
8.7.2 Die angesprochenen Mächte Atreus und die impia ira Nicht nur tritt Atreus als Ausführender im Ritual auf, sondern er sieht sich selbst als Empfänger der Darbringungen und macht sich gottgleich. Wenn er zweideutig gegenüber Thyestes äußert, er werde den höchsten Göttern opfern (545 ego destinatas victimas superis dabo), so ist darin eine Vorankündigung seiner Selbsterhöhung – Hybris wäre zu wenig: seiner Selbst-Apotheose97 – zu sehen, die er später formuliert in aequalis astris gradior (885)98 und, als er aus der Entfernung seinem Bruder beim Mahl zusieht (911 o me caelitum excelsissimum – o ich der Himmelsbewohner Allerhöchster). Atreus triumphiert, daß ihm gelungen ist, des Thyestes Schicksal zu lenken, ihn zu schicksalbestimmenden Handlungen zu bewegen. Er fühlt sich gottgleich, da alles nach seinem Willen verlief und sein Plan aufging. Jedoch entgeht ihm, daß er nicht etwa aus freiem Willen gehandelt hat und nicht er der Lenker des Schicksals ist, sondern daß ihn die Furie zu diesem Verhalten gebracht hat, er selbst quasi nur eine Marionette im Welttheater ist. In seiner Überheblichkeit verspottet Atreus kurz vor den Taten die Götter, die ihn mahnen (704f. deos terret minantes); dann, als die Morde vollbracht sind, verjagt er diese (888 dimitto superos) und wünscht auch noch, sie zurückzwingen zu können (893f.).99 Für seine drei Opfer (712 capita devota) bestimmt Atreus drei Empfänger: Im Ausdruck impiae speculatur irae (712f.) ist der Zorn als einer der zu bedenkenden Empfänger bezeichnet,100 ihm wird der dritte Sohn dargebracht, denn erst bei dessen Ermordung ist das Wort ira wieder gebraucht (735; 737). Die Formulierung mactet sibi (713) nennt Atreus als weiteren Empfänger, an erster Stelle soll jedoch der Urahn Tantalus stehen (717f. primus locus avo dicatur).
Tantalus, der Urahn Dem Urahn Tantalus wird der älteste Sohn, der seinen Namen trägt, zugesprochen (717f.). Der Name knüpft an den Prolog an, in dem der Ahn Tantalus dem mykenischen Palast weitere Leiden bringt. Diese resultieren aus der Freveltat des Tantalus, den Göttern seinen eigenen Sohn zum Mahl darzubieten. Wie die Furie spottend dem unterweltentlassenen Ahn versprochen, bekommt dieser, der in der 97 Vgl. MELTZER 1988, S. 314; LEFÈVRE 1997, S. 125f. 98 SEN. Thy. 885–887 Aequalis astris gradior et cunctos super / altum superbo vertice attingens polum / nunc decora regni teneo, nunc solium patris – Den Sternen gleich schreite ich einher und über allen berühre ich den hohen Pol mit stolzem Scheitel. Jetzt erst besitze ich die schmückenden Insignien der Königsherrschaft, jetzt erst den Thron des Vaters. 99 SEN. Thy. 893f. utinam quidem tenere fugientes deos possem, coactos trahere – daß ich nur die fliehenden Götter zurückhalten könnte und die Zusammengedrängten herschleppen. 100 Dagegen meint LEFÈVRE 1997, S. 125f., daß alle Opfer dem Zorn geweiht seien (vgl. PIERROT 1829, ad 713), und FISCHER 2008, S. 135, daß sie Atreus selbst und seiner ira geopfert würden.
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
Unterwelt ewigen Hunger und Durst leidet, hier nun ein Mahl geboten (60–68). Die Anwesenheit des Tantalus beim Ritual drückt sich in den Erschütterungen des Hauses aus. So bebt der Palast zuerst bei seiner weiteres Unheil bringenden Berührung, zu der ihn die Furie getrieben hat (104 domus et nefando tota contactu horruit – das Haus ist durch dein Verbrechen und deine Berührung erschüttert). Nachdem dann Atreus seinen Racheplan geäußert hat, zeigt sich die Anwesenheit des Tantalus in Lauten des Untergrundes (262 imo mugit e fundo solum – es brüllt aus tiefster Tiefe der Boden). Schließlich wird die Gegenwart des Tantalus vor der Darbringung an ihn durch das einverständige Nicken des Bodens im Burghof verdeutlicht (697 nutavit aula).
Die Totengötter Zwar sind als Mächte, denen die Gebete und Darbringungen zugedacht sind, direkt in dem Passus über den Ritus neben dem Urahn Tantalus Atreus selbst und die impia ira genannt. Aber die Zugehörigkeit all dieser zur Unterwelt erschließt sich aus der düsteren Darstellung des Schauplatzes, der vom Tod geprägt ist: Totengötter (668 ferales dei), Manen (670 ululantque manes), Wiedergänger (671f. turba emissa bustis) und andere unheimliche Wesen (monstra) halten sich dort auf. Das dreifache Gebell des den Unterwelteingang bewachenden Hundes (675f.) weist ebenso auf die Nähe der inferi, der Unterweltgötter, hin, an die man an diesem Ort denkt (678f.). Außerdem gibt es eine Höhle, in der eine Stimme bei der Orakelbefragung zu hören ist.101 Der erste Teil der Zeichen, die sich im Ritual zeigen (696–699), kann als Zustimmung von Unterweltmächten verstanden werden. Parallele Formulierungen weisen auf den Zusammenhang hin: Es zittert der Wald (696 lucus tremescit) und es zittern die Eingeweide (755 exta tremunt). Die Bewegung des Erdbodens (697 nutavit aula) bezeichnet das einverständige Nicken des Tantalus in der Unterwelt; die Bewegung der Eingeweide (755f. cor salit) bekundet einen positiven Ausgang.102 Die schwarze Grenzlinie am Himmel (699 atrum limitem) verweist auf die dunklen Gottheiten der Unterwelt als Sender der Botschaft,103 und daß der Rauch nicht himmelwärts aufsteigt (774), als Empfänger der Darbringungen.
101 Die ganze Darstellung ähnelt sehr der Darstellung des Ortes, an dem im Oedipus die Nekromantie ausgeführt wird (s.o. Anm. 26 und Anm. 28). Auch beim Gebet des sacerdos – hier Atreus, dort Tiresias – gibt es Ähnlichkeiten (s.o. Anm. 33). 102 Der Ausdruck salire bezeichnet zuweilen in der Dichtung ein günstiges Vorzeichen, wenn beim Streuen ins Feuer das Opfermehl gleichsam springt (vgl. TIBULL. 3,4,10 farre pio placant et saliente sale; HOR. carm. 3,23,20 farre pio et saliente mica). 103 So bezeichnet wohl auch die linke Seite des Himmels (678 laevo aethere) die Zugehörigkeit zu den Unterweltgöttern, denn bei der Nekromantie im Oedipus wird ihnen mit der linken Hand die Libation gegeben: 566f. fundit et Bacchum manu laeva.
8.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
319
Die Himmelsgötter Die Götter, die durch ihre Zeichen Atreus drohen (704 minantes dei), sind sicher andere als die zuvor erwähnten Totengötter, nämlich die himmlischen Götter. Deren Reaktion ist im zweiten Teil der Zeichen zu erkennen (700–702): Das Wandeln des Weines in Blut, das Herunterfallen der Tiara, das Weinen der Elfenbeinfiguren sind als mahnende Zeichen der Himmelsgottheiten zu verstehen. Und letztlich ist es der Sonnengott, der sich abwendet und damit eine Sonnenfinsternis verursacht (776f.; 784–787; 789–884; 892–894; 990–995). Daß Atreus sich nicht an die himmlischen Gottheiten wendet, wie er zunächst vorgegeben hat (545 victimas superos dabo), sondern sie wegjagt, sagt er explizit in seinem Monolog vor dem Offenbaren seiner Tat (888 dimitto superos), und stellt fest, daß die Götter vom Himmel geflohen sind (893–895 caelum vacat; fugientes deos). Daß die Himmelsgötter geflohen sind, sieht auch Thyestes (1021 fugere superi). Bald darauf weiß er die Erklärung, die Götter schämt die Tat (1035 hoc est deos quod puduit).104 Er ruft die Gesamtheit der Götter sowie Meere und Lande (1068–1096 ... di, fugistis. audite inferi; tu, summe caeli rector ...) zur Bestrafung seines Bruders und seiner selbst (1087f. causa, ne dubites diu, utriusque mala sit) und nimmt zunächst zu Zeugen die göttlichen Beschützer der Pflichttreue (1102 piorum praesides testor deos).105 Aber Atreus kontert mit Thyestes alter Schuld, dem Ehebruch,106 der diese Zeugenschaft unwirksam macht (1103 quid? coniugales?). Darauf ruft Thyestes die Rachegötter um Beistand an (1110 vindices aderunt dei). Atreus wiederum mahnt ihn an seine jüngste Schuld (1112 te puniendum liberis trado tuis). Mit seiner ersten Bekräftigung will sich Thyestes noch an Götter des Himmels (piorum deos) richten, doch letztlich, abermals verleitet von Atreus, wendet er sich an die Rachegötter – das sind die Furien – und kehrt sich damit, wie Atreus zuvor, der Unterwelt zu.107
8.8 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Es ließ sich zeigen, daß vordergründig als ein pervertiertes Schlachtritual die Morde an den drei Thyestes-Söhnen dargestellt sind. Weitergehend war zu erkennen, daß dahinter noch das Bild einer pervertierten Bestattung steht, das über die Passage der rituellen Schlachtung hinausreicht. Auf diese Weise sind direkt in der Ritualdarstellung Komponenten der Schlachtung und des Mordens verbunden mit Komponenten von Sterben und Bestattung. Viele Formulierungen müssen auf diesen zwei Ebenen gelesen und interpretiert werden. 104 Das Motiv der Götterscham und die Anrufung der Gesamtheit der Götter findet sich ebenso im Oedipus (334 und 765f.). 105 Daß Thyestes nicht als Weiser, der die Strafe Gott anheim stelle (so GIGON 1938, S. 181), gesehen werden kann, urteilt ganz richtig STEIDLE [1943/1944], S. 497 Anm. 25. 106 Vgl. MARTI 1945, S. 239. 107 Dagegen urteilt FISCHER 2008, S. 149, über Thyestes, der den Glauben an die rächende Macht nicht aufgegeben habe, zu positiv.
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
Als Schuldige an den Verbrechen gegenüber Menschen und Göttern müssen gleichermaßen Atreus und Thyestes gelten.108 Atreus hat sich willentlich zum Bösen entschieden, Thyestes wird seiner Veranlagung folgend böse durch seine Nachgiebigkeit, die die Lebensumstände von ihm zu fordern scheinen, durch seine Nachlässigkeit gegenüber sich selbst.109 Atreus ist in der Rolle des Aktiven, der sich in seiner Überheblichkeit göttergleich wähnt und meint, des Thyestes Schicksal zu lenken. Daß er selbst nicht Herr seines Willens, sondern von Mächten der Unterwelt, der Furie, getrieben ist, entgeht ihm völlig. Seine Schuld gegenüber den Göttern liegt darin, daß er sich von den Himmlischen abwendet, ja sie verspottet im Ritual: So gelten seine Darbringungen der Unterwelt zugehörigen Mächten wie dem Ahn Tantalus, der impia ira und ihm selbst. Seine Schuld gegenüber Göttern und Menschen liegt mit den Tötungen im Treuebruch gegenüber der Familie und auf politischer Ebene gegenüber dem Feind. Schuld trifft ihn auch, weil er seinen Bruder mitschuldig gemacht hat durch ein doppeltes rituelles Vergehen, die Schlachtung und die Bestattung. Seinem Bruder kommt Thyestes gleich in den rituellen Vergehen, denn die Schlachtung findet mit seinem Einverständnis zu seiner Amtserhebung statt, die ‚Opfer‘ hat er selbst bestimmt. Bei der widersinnigen Bestattung, dem pervertierten Festmahl, ist er nun der Aktive. Auch im Treuebruch steht Thyestes seinem Bruder nicht nach, der frühere Ehebruch und die Machtübernahme sind Vergehen gegen die Familie und gegen den politischen Konkurrenten. Wähnt sich Thyestes bei seiner Ankunft in Mykene noch in einer Sphäre von pietas, in der er sich als Hilfesuchender, der sich auf religiöses Recht berufen kann, – sehen möchte, tatsächlich aber Herrschaftsanspruch erhebt,110 muß er dann erkennen, daß ihm dieses Recht schon wegen seiner früheren Vergehen gar nicht zusteht. So wird er schließlich wie Atreus gegen die Götter schuldig, indem er sich von den Himmelsgöttern abkehrt und in den Rachegöttern, die nur als die Furien verstanden werden können, Mächte der Unterwelt anruft. Eine Übermacht der Unterweltmächte ließ sich auch in der Eingeweideschau selbst aufzeigen. Fraglich erscheint, wem das positive Ergebnis hostiae placuere (759) gilt, denn welche Götter wem ihr Gefallen bekunden, ist nicht formuliert und auf diese Weise offen gelassen. Versucht man Rückschlüsse aus dem Erzählten zu ziehen, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Auf der einen Seite erscheint Thyestes aus Anlaß seines Amtsantritts als Opferherr. Dann müßte das positive Ergebnis ihm und seiner Herrschaft gelten. Jedoch gibt es innerhalb des 108 Zu einem Vergleich beider Schuld fordert SENECA geradezu auf mit der Formulierung causa, ne dubites diu / utriusque mala sit – unser beider Angelegenheit, zögere nicht länger, laß als schlecht gelten (1087f.); auch werden beide Brüder zusammen bereits im Prolog von der Furie als hochmütig bezeichnet (32 fratribus superbis) und der Chor braucht Auskunft, welcher der beiden die neue Untat begeht (640). 109 Dem Bild eines stoischen Weisen entspricht Thyestes nicht, wie nochmals BOYLE 1983, S. 227 Anm. 34, betont. 110 Diese Stelle untermauert die Feststellung LEFÈVREs 1985b, S. 1275, daß Thyestes wider Wissen und Gewissen handele, und SENECA sagen wolle, daß auf dem Wege zur Macht Lüge und Selbsttäuschung stehen.
8.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
321
Dramas keinen Hinweis auf eine zukünftige Herrschaft des Thyestes, lediglich berichten Mythographen von seiner späteren Rache und wiedergewonnenen Macht über Mykene. Das positive Ergebnis weist somit über den Text hinaus. Eine schwache Andeutung dieser Vergeltung liegt in dem Fluch gegen Atreus (1110f.). Auf der anderen Seite bezieht Atreus als der Herrscher das positive Ergebnis auf seine fortdauernde Macht. Seiner Logik entsprechend sieht er dies richtig, denn mit dem Tod der Neffen, die einen Machtanspruch entwickelt haben – sonst wären sie nicht nach Mykene gekommen –, sind diese Konkurrenten ausgeschaltet. Zudem ist an deren Tod Thyestes mitschuldig geworden, so daß auch er keine Machtansprüche mehr stellt. Der Plan des Atreus scheint aufgegangen, seine Herrschaft und die Gewißheit über seine eigene Familie gesichert (240f.; 325–330; 558). Innerhalb des Dramas scheint von daher Atreus als der Überlegene dazustehen. Wenn zum einen zweideutig ist, wer von den beiden Herrschaftsanwärtern Zustimmung erhält, so wird die Aporie dadurch vergrößert, daß in verschiedenen Vorzeichen während des Rituals gegenteilige Bekundungen der Götterwelt deutlich werden (696–702): Die eine Gruppe von Zeichen ist als Zustimmung der Unterweltmächte, im Erdbeben repräsentiert durch den von der Furie gezwungenen Urahn Tantalus, aufzufassen, die andere als Mahnung der Himmelsgötter, die diese Tat zwar verurteilen, jedoch zulassen. Vom zeitlichen Verlauf der Ritendarstellung her war insgesamt zu bemerken, daß im langsamsten Tempo und daher am ausführlichsten über die Ermordungen berichtet wird. Durch die breite Beschreibung, gekennzeichnet von häufigen Sprecherwechseln in einem Dialog eines Boten mit dem Chor, erscheint die drastische Schilderung der Ermordungen und die Charakterisierung des Atreus als grausam als das Wichtigste. Diesem Aspekt steht durch das schnellere summarische Erzähltempo die Darstellung des komplexen Rituals der Eingeweideschau an Bedeutung nach. Gleichzeitig aber vermitteln das rasche Erzähltempo und Zeitsprünge den Eindruck von besonderer Eile. So bewirkt zum einen die breite Schilderung der Ermordungen in ihren Einzelheiten eine höhere Intensität des Grausamen, zum anderen beschleunigt jedoch die knappe Erzählung über den Ritus wiederum den Verlauf der Tat. Auch beim Aspekt der Ordnung zeigt sich das nachrangige Interesse an der Ritendarstellung. Der Reflex auf den Ritus, wie initial in ornantur arae, dient vielmehr dazu, das Thema, nämlich die Art des Verbrechens, die derjenigen des Ahns Tantalus gleicht, zu bestimmen, und dann die Leidtragenden (maesta capita) zu bezeichnen, indem davon gesprochen wird, daß ihnen die vitta umgetan wird. Der Verursacher der Untat, dem das Interesse der Dialogpartner an erster Stelle gilt (640), ist dem größeren Interesse entsprechend bereits zuvor genannt worden (furens Atreus). Im weiteren lehnt sich der Bericht an diese vorgegebene Struktur eines Opferrituals an, jedoch wird diese von Wechseln der Sinnebenen, von scheinbaren Themenwechseln – Ermordung und Bestattung – durchbrochen. Auch wenn bei den Tätigkeiten des Atreus der Aspekt des Verbrechens überwiegt und zudem das Thema Sterben und Bestattung eingebunden ist, läßt sich doch der Verlauf des Rituals nachzeichnen. So werden die Altäre eigens geschmückt, die ‚Opfer‘ werden mit einer purpurfarbenen Kopfbinde versehen (vitta
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8 Atreus (Seneca, Thyestes 641–788)
purpurea). Ein sacerdos, der auf den ordnungsgemäßen Verlauf achtet, spricht ein Gebet, führt die ‚Opfer‘ an die Altäre, prüft sie, berührt sie mit dem Opfermesser und bestreut sie mit Opfermehl (692–695 und 688). Über die Darbringungen von Weihrauch und den Libationen von Wein ist sowohl vor diesen Angaben als auch danach berichtet (687 und 700f.), jedoch läßt sich aus der Reihenfolge der dem Handlungsablauf vorgreifenden Aufzählung tura, Bacchi liquor, culter (687f.) schließen, daß das Weihrauchbrennen und Weinspenden vor der Immolatio liegt. Wie schon durch die Bemerkung über Rauchentwicklung bei den Libationen im Oedipus anzunehmen war, daß der Wein in das Weihrauchfeuer gegossen wird (324–327), ist hier konkret vom Gießen des Weines in die Feuer gesprochen. Aus der Darstellung in einer Sammelform, häufig durch den Plural ausgedrückt, ergab sich, daß die einzelnen Schritte der rituellen Tätigkeiten bei jedem einzelnen ‚Opfer‘ ausgeführt werden, bevor der nächste Schritt folgt. Zusätzlich ließen sich in der Untersuchung zur Frequenz der Erzählten etliche Mehrfach-Umschreibungen als Hinweise werten, daß durch dreifache Formulierung eines Vorgangs die Vorgänge bei drei Thyestes-Söhnen bezeichnet sind. Im Ritual wird jeweils auf besondere Zeichen geachtet, so bei den Weinspenden (700f.) und mit der Frage, ob das Opfer ruhig am Altar steht (719f.). Nach den einleitenden Tätigkeiten finden kurz hintereinander alle Tötungen statt, denen die Prüfung der Eingeweide innerhalb kurzer Zeit mit dem Ziel des Gefallens (hostiae placuere) folgt. Die Nebensächlichkeit, mit der die Annahme der Darbringung erwähnt wird, deutet auf einen selbstverständlich und immer in dieser Weise ausgeführten Vorgang. Auf das positive Ergebnis hin kann die Mahlzeit bereitet werden, indem die Stücke am Spieß gegrillt, auf dem Rost gebraten oder im Topf gebrüht werden. Es fehlt, wie sonst auch, eine Darstellung vom Öffnen des Leibes, bevor eine Beschau der Eingeweide überhaupt stattfinden kann. Eigens erwähnt wird bei der Schau das Herz (cor pavidum), doch sicher, weil es sich besonders eignet, das Bild des Rituals mit der Anspielung auf die Angst eines Mordopfers oder allgemein auf die Angst vor dem Sterben zu durchbrechen. Als weiteres Organ ist dann nur noch die Leber (iecur) genannt, wie sie am Spieß brät. Ansonsten bleibt die Schilderung der Eingeweideschau sehr allgemein. Einzig in diesem der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte wird explizit ein Festmahl, das sich den Schlachtungen anschließt, dargestellt. Zahlreiche Ausdrücke im Ritual müssen im Kontext von Sterben und Bestattung in einer doppelten Bedeutung wahrgenommen werden. So ist beim Töten die seelische Verfassung jedes Mordopfers beschrieben; verbunden mit der Eingeweideschau sind Ausdrücke der Todesfurcht, und der Ausdruck hostiae placuere läßt sich als Akzeptieren des eigenen Todes interpretieren. Die Laute beim Garvorgang können als Laute der Trauer von Angehörigen im Sterbehaus verstanden werden. Darüber hinaus läßt sich die Monodie, in der sich Thyestes vordergründig über seine traurige Stimmung bei der Krönung wundert, als Klagelied für seine Söhne deuten. Die Erzählsituation, in die die Eingeweideschau eingebunden ist, stellt sich nicht als reiner Botenbericht dar, sondern besteht zum größten Teil aus einem Dialog mit dem Chor. Die Funktion des Chores als Dialogpartner für den Boten
8.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
323
war als eine ganz besondere zu erkennen, indem der Chor in dieser Passage gegenüber den Chorliedern einen anderen Charakter mit besserem Kenntnisstand aufweist und gewissermaßen als eine dramatische Figur auftritt – die Unterscheidung einer ‚odic line‘ und einer ‚dramatic line‘ erscheint für diese Funktionen treffend. Zur Beurteilung, welchen Stellenwert die Ritendarstellung im Dialog einnimmt, ließ sich eine größere Gesprächsintensität durch häufige Sprecherwechsel als Markierung dessen wahrnehmen, was als das Wichtigste erscheint, nämlich die grausamen Morde. In einer veränderten Erzählsituation, durch die Technik einer Apostrophe zum Ende des ungewöhnlichen Botenberichts war mit den Anreden an nicht anwesende Figuren – zuerst Phoebus, dann Thyestes – die Einleitung eines besonderen Effektes in der zeitlichen Wahrnehmung zu erkennen: Nach einer Kette von Erwähnungen der Sonnenfinsternis als ein zurückliegendes Ereignis wird mit dem Erzählen von der Sonnenfinsternis als gegenwärtiges Ereignis beim Mahl des Thyestes der Rezipient in die Lage versetzt, die Zeitumkehr mitzuempfinden.
9 HANNIBAL (SILIUS ITALICUS, PUNICA 1,81–139) EINFÜHRUNG SILIUS ITALICUS hat sein Epos Punica verfaßt, als er bereits in höherem Alter war.1 Geboren zwischen 23 und 35 n. Chr. ist er unter Nero politisch wirksam gewesen. Nach einem Prokonsulat in Asia, wahrscheinlich im Jahr 70, zog er sich von öffentlichen Tätigkeiten zurück und verbrachte seinen Lebensabend in Campanien. In begüterten Verhältnissen lebend und stoisch orientiert schrieb er bis zu seinem krankheitsbedingten Freitod, wohl im Jahre 101 n. Chr., an seinem Werk. Mit seiner Schilderung der Punischen Kriege, bei der sich für die historischen Daten unter anderen Historiographen LIVIUS als Quelle erkennen läßt,2 füllt SILIUS eine Lücke, die zwischen der Vergilischen Darstellung über die Gründung Roms in der Aeneis und der Darstellung LUCANs über das Ende der römischen Republik im Bellum civile besteht. SILIUS rekurriert in vielfältiger Weise stark auf diese Werke, die inhaltlich direkte historische Anknüpfungspunkte bieten,3 und ebenso verwendet er andere epische Vorbilder seit HOMER. Sowohl strukturell als auch in Einzelbeschreibungen von szenischen Bildern und Charakteren finden sich Parallelen. Hannibal, der Punier und Gegner Roms, ist mit Charakterzügen gezeichnet, die LUCAN seinem Caesar, der Rom bedroht, zuschreibt, insbesondere zeigen beide Figuren einen Mangel an pudor.4 Weitere Charaktervergleiche mit anderen Figuren wie dem Turnus VERGILs oder Hannibal als Gegenbild zu Aeneas ließen sich hinzufügen. In den ersten beiden Büchern der 18 Bücher umfassenden Punica wird die Vorgeschichte zum Kampf gegen Rom berichtet.5 Erst nachdem Hannibal zum Ende des zweiten Buches den Sieg über die mit Rom verbündete spanische Stadt Sagunt, dem heutigen Valencia, erlangt hat, beginnt im dritten Buch die Auseinandersetzung mit Rom selbst. Der Handlungsbeginn ist darin zu sehen, daß Hannibal nach seiner Ausrufung zum Feldherrn (1,189)6 Sagunt angreift (1,271).7 Über den Handlungsbeginn und die Gliederung der langen vorhergehenden Passage (1,1–270) ist sich die Forschung jedoch uneins.8 Der Passus über die Eingewei-
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Zu Leben und Werk von SILIUS ITALICUS vgl. VON ALBRECHT 1994, S. 759–768. TUPET 1980, S. 187; 191. AHL / DAVIS / POMEROY 1986, S. 2494. Vgl. AHL / DAVIS / POMEROY 1986, S. 2511f. zu LUCAN. 1,143–150; zu SIL. 1,56–60. Zur Gliederung der Bücher vgl. VINCHESI 2001, S. 66. SIL. 1,189 primi ductorem Libyes clamore salutant – die Ersten der Libyer grüßten ihn lärmend als Feldherrn. Vgl. VON ALBRECHT 1994, S. 760. S.u. Anm. 18; 30; 32.
9.1 Der nähere Kontext und das Prooem
325
deschau Hannibals liegt in eben diesem strittigen Abschnitt. Die Untersuchung des näheren Kontextes im nächsten Kapitel wird Aufschluß zu dieser Frage geben. Von der Eingeweideschau ist ein weiteres Mal in einer Schildbeschreibung erzählt (2,426–428).9 Diese Beschreibung eines Schildes, den Hannibal erhalten hat (2,395–456), bildet einen nach dem Kampf um Sagunt retardierenden Abschluß des zweiten Buches. Auf diesem Schild ist die frühe Geschichte Karthagos, sind die Ereignisse um Dido abgebildet.10 Erst dort wird chronologisch, in linearer Ordnung von der Stadtgründung Didos, der Verbindung mit Aeneas, seiner Abreise, Didos Trauer und ihrer Verfluchung des Aeneas und seiner Nachkommen und ihrem Selbstmord berichtet.11 Zuvor gibt es nur Anspielungen, die ohne Kenntnis der Vergilischen Dido-Episode nicht zu erfassen sind. Auf dem Schild sind direkt im Anschluß an Fluch und Selbstmord Didos die Geschehnisse um Hannibal abgebildet und kurz erzählt, die in der hier zu untersuchenden Passage des ersten Buches breit dargestellt sind. Die Forschung zeigt an dieser Passage ein großes Interesse, aber nicht wegen der Eingeweideschau, sondern vorwiegend wegen des Schwurs, in dem Hannibal den Römern den Kampf ansagt. Der Schwur stellt eine zentrale Stelle in einer Charakterzeichnung des als haßerfüllt geschilderten Hannibal dar. Die Vorhersage aus der Eingeweideschau bietet in einem vaticinium ex eventu historisch gesicherte Daten über den Kriegsverlauf, die SILIUS seinen historiographischen Quellen verdankt.
9.1 DER NÄHERE KONTEXT UND DAS PROOEM Aufschluß über die Positionierung der Eingeweideschau und deren Funktion gibt eine Analyse des Kontextes.12 Zugleich läßt sich ein tieferer Einblick gewinnen, in welcher Form die einzelnen Passagen organisiert sind, wenn doch im allgemeinen von isolierten Einzelbildern, die SILIUS entwerfe, gesprochen wird.13 Der Passus, der die Eingeweideschau mit dem Schwur Hannibals, die Römer zu bekriegen, enthält (1,81–139), ist eingebettet in eine Nebenerzählung über Hamilkar, den Vater Hannibals (70–143).14 Die knappe Darstellung über Hamilkar verdeutlicht dessen Interesse, in Hannibal Haß auf die Römer zu erzeugen. Denn Hamilkar hatte den Krieg, den ersten der drei Punischen Kriege, verloren und 9 Zum großen Thema der Schildbeschreibung vgl. jüngst HARRISON 2010, S. 282–285. 10 Von Dido ist noch mehrfach gesprochen, vgl. GANIBAN 2010, S. 74, bes. Anm. 5. 11 Didos Stadtgründung SIL. 2,406–411; Aeneas 412–425, bes. seine Ankunft 412–415; Vereinigung beim Unwetter 416–419; Abreise 420f.; Didos Selbstmord 422–425 mit ihrem Fluch (422f. saucia Dido mandabat Tyriis ultricia bella futuris); darauf Schwur Hannibals 426–428 (dazu s.u. Anm. 108). 12 Zu der Passage SIL. 1,1–139 vgl. den 1982 verfaßten Kommentar von DENIS FEENEY, aus dessen unveröffentlichter Dissertation dieser Abschnitt online verfügbar ist. 13 Gegen eine Wertung als Einzelbilder spricht sich z.B. KÜPPERS 1986, S. 65, 93, 95, 173 aus. 14 Der Schwur Hannibals ist in der Schildbeschreibung ähnlich wie hier mit einer HamilkarEpisode verbunden (SIL. 2,413–418, darin 2,413–415 zu 1,70–143, darin 1,81–139).
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9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139)
sann auf Rache für diese Niederlage. Hannibal sollte ihm einen Sieg garantieren für den Fall, daß er selbst diesen nicht erlangt (70–80). Daß Hamilkar den ersten Krieg verloren hat und ein weiterer Krieg beabsichtigt ist, stellt eine frühere Passage dar, die die Verhältnisse aus der Sicht der Göttin Iuno beschreibt (28–37). Das endgültige Scheitern Hamilkars, seinen Tod, geben die Verse wieder, die den Rahmen dieser Nebenhandlung vervollständigen (140–143). Durch Hamilkars weitere Niederlage, so ist zu erschließen, kommt Hannibal in die Pflicht, die er mit dem Schwur eingegangen ist. Bis zu dem Bericht über die Ereignisse, als Hannibal zum Feldherrn ausgerufen wird und in seine Pflicht tritt (271 ff.), ist eine weitere Nebenerzählung eingeschaltet. Diese überbrückt mit der Darstellung über Hasdrubal, dem Schwiegersohn und direkten Nachfolger Hamilkars den Zeitraum von dessen Niederlage bis zu seiner Ermordung (144–168) und den Eintritt Hannibals in die Führung (189). In linearer Ordnung ist eine militärische Nachfolge ausgehend von Hamilkar über Hasdrubal zu Hannibal geschildert. Die Darstellung ab Vers 271 läßt sich als Handlungsbeginn bezeichnen, weil Hannibal sich jetzt in der Rolle des Kämpfers für die geschworene Rache befindet und sein Handeln dargestellt wird. Die beiden Nebenerzählungen über Hamilkar und Hasdrubal können als eine Genealogie, die vorwärts zu Hannibal hinführt, angesehen werden. Rückwärts geführt wird die Genealogie dagegen in der Hamilkar-Episode. Dort reicht die Ahnenreihe über einen Barkas bis auf Belus, der als gemeinsamer Stammvater von Dido und Hamilkar bezeichnet ist (72f.).15 Barkas aber war der Darstellung nach mit Dido und ihren Leuten nach der Ermorderung ihres Gatten geflohen und so in das spätere Karthago gelangt (72–76). Hier wird Didos Flucht aus Tyros und die Stadtgründung von Karthago, die zum ersten Mal zu Anfang aus der Sicht der Iuno dargestellt worden ist (21–25), ein zweites Mal aus der Sicht Hamilkars erzählt.16 Durch die Verknüpfung mit der Gründungslegende von Karthago ist der Einsatz Hannibals legitimiert, den Fluch der Dido zu erfüllen.17 Hannibal erscheint somit als doppelter Rächer, für Dido und für seinen Vater. Konnte von der Hamilkar-Episode aus mit dem Fortgang des Erzählens ein quasi-historischer Geschichtsverlauf von der Flucht des Ahnen bis zur Ausrufung Hannibals zum Feldherrn und seinem Angriff auf Sagunt konstruiert werden (72– 270), bietet nach dem Prooem (1–20) ein das Werk einleitender Abschnitt die Geschehnisse aus der Perspektive der Iuno (21–69).18 15 Zur gemeinsamen Herkunft von Dido und Hamilkar bei SILIUS vgl. KEITH 2010, bes. S. 361. 16 Die repetitive Erzählung wird durch parallele Ausdrucksweise verdeutlicht: SIL. 1,22 pollutum fugiens fraterno crimine regnum; 1,74f. impia ... Belides iuvenis vitaverat arma und kennzeichnet die Voraussetzungen für das Entstehen der Stadt als Religionsfrevel. – Vergleichbar Negatives über Rom findet sich bei LUCAN. 1,95 fraterno primi maduerunt sanguine muri (lt. VON ALBRECHT 1964, S. 167). 17 Vgl. KÜPPERS 1986, S. 70f. 18 Bezüglich des Prooemiums und Gliederung eines ersten Abschnitts, in dem von den Ereignissen berichtet wird, bevor Hannibal seinem Heer vorsteht (SIL. 1,1–270), gibt es gravierende Differenzen. Insbesondere über das Ende des Prooemiums und den Handlungsbeginn ist man sich uneins: Das Ende des Prooems sieht man gekennzeichnet durch das Sich-Zurücknehmen
9.1 Der nähere Kontext und das Prooem
327
Im Prooemium gibt der Erzähler die Kriegsparteien und zugleich sein Urteil über diese bekannt (1–3)19 und läßt seinen subjektiven geschichtlichen Abriß folgen (3–16). Der zweite Punische Krieg wird aus der Reihe der drei Punischen Kriege hervorgehoben.20 Die Zusammenhänge für diese Kriege offenzulegen, auf irdischer wie auf himmlischer Ebene, gibt der Erzähler als seine Aufgabe an, die er mit dem Zurückgehen auf die ersten Veränderungen beginnen lassen möchte.21 Darauf ist die Rede an erster Stelle von Dido (20 repetam primordia motus), die sich nach der Mordtat ihres Bruders an ihrem Ehemann Sychaeus nach Libyen rettet und dort siedelt (21–25).22 Dieses Ereignis im irdischen Bereich, die Landnahme, findet Zustimmung bei Iuno im himmlischen Bereich. Iuno erscheint hier als Trägerin der Handlung: In Iunos Interesse liegt es, daß diese Stadt, Karthago, mächtiger wird als andere und hier eine ewige Herrschaft begründet ist (28).23 Aber Iuno muß bemerken, daß Rom sich auf bestem Wege zu dieser Vormachtstellung befindet,24 so daß sie es zum Ersten Punischen Krieg kommen läßt.25 Da dieser jedoch ohne die gewünschte Wirkung bleibt – Hamilkar hatte ja verloren26 – unternimmt sie einen zweiten Versuch,27 bei dem ihr wie ein ganzes Heer ein einziger Heerführer Erfolg verspricht.28 Dieser eine Mann ist Hannibal.
19 20 21
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23 24 25 26 27 28
des Erzählers, denn mit Vers 20 (repetam) spricht dieser das letzte Mal von sich, danach werde die Handlung erzählt, so beispielsweise (lt. KÜPPERS 1986, S. 23f.: Ruperti S. 1, ad loc., Lemaire S. 1; Duff S. 2, Miniconi / Devallet S. 3; 33); DELZ 1969, S. 89; abweichend davon mit Vers 16 als Ende des Prooems: VON ALBRECHT 1964, S. 195, bes. 16; HERZOG 1975, S. 76 – noch anders mit Vers 28 KIßEL 1979, S. 30, – und wiederum anders mit Vers 37, da mit Vers 38 die Handlung beginne, LORENZ 1968, S. 4 ff., und KÜPPERS 1986, S. 44: 1,1–37 als Gesamtprooemium; danach würde sich folgende Gliederung ergeben: 1–16 propositio, 17–20 Überleitung zur Darlegung der causae, 21–37 deren Einzelerörterung in Form einer knappen Vorstellung der primordia motus, 38 Handlungsbeginn, so KÜPPERS; FEENEY 1982 ad 36–71, hält zu Recht die Passage 38–55 nicht für den Handlungsbeginn. SIL. 1,1–3 gloria Aeneadum – der Ruhm der Nachkommen des Aeneas; ferox Carthago – das wilde Karthago. SIL. 1,8 ter Marte sinistro; 11 ter ... temerando; 12 sed medio ... bello. Zum Hervorheben des zweiten Punischen Krieges VON ALBRECHT 1964, S. 18; KÜPPERS 1986, S. 29. SIL. 1,17–19 Tantarum causas irarum odiumque perenni / servatum studio et mandata nepotibus arma / fas aperire mihi superasque recludere mentes. – Anlaß zu solchem Zorn und Haß, der mit währendem Eifer sich erhielt, und Kriegstat, zu der noch die Enkel verpflichtet, sei zu enthüllen mir Pflicht, zu erschließen die Absicht des Himmels. (Übers. RUPPRECHT). Mit einer Rückblende setzt der Bericht über die Flucht Didos ein (1,21), die durch quondam ... Dido ... tum und Iuno ... optavit von der Haupthandlung abgegrenzt ist. Die Haupthandlung, deren Trägerin Iuno ist, wird im Gegenwartstempus wiedergegeben (videt, exstimulat, remolitur). SIL. 1,28 optavit profugis aeternam condere gentem – Iuno wünschte den Flüchtlingen, hier für immer zu gründen dauerndes Volkstum. (Übers. RUPPRECHT). SIL. 1,29f. magnam aliis Romam caput urbibus alte / exserere. SIL. 1,32f. bellandi corda furore / Phoenicum exstimulat. SIL. 1,33f. conanime primae / contuso pugnae. SIL. 1,35f. iterum instaurata capessens / arma remolitur. Mein Übersetzungsvorschlag für die – so KÜPPERS 1986, S. 34f. – strittige Stelle 36f. dux agmina sufficit unus / turbanti terras pontumque movere paranti: Nur ein einziger Feldherr ge-
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9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139)
Von einem Darstellen der Weltgeschichte – aus der Sicht der Iuno und endend mit ihren Vorbereitungen zum zweiten Krieg (21–37) – führt die Schilderung zur persönlichen Geschichte der Person, die sich Iuno verbündet hat. An diesem Punkt der Darstellung steht Hannibal, der hier das erste Mal genannt ist (38f. belliger … Hannibal), kurz vor seinen kriegerischen Erfolgen im Mannesalter,29 er wird hier als vir bezeichnet (40). Aber von da an gleitet sein Lebensalter mit dem Fortschritt des Erzählten zunächst zurück in das Kindesalter und daraufhin wieder vor: So ist nach einer Rede der Iuno (42–54) sein Alter mit dem eines iuvenis angegeben (55), sodann ist von Begebenheiten, vor allem von Träumen die Rede, die sich auf einer noch früheren Zeitstufe, in der Jugend Hannibals ereignen (56– 69, bes. 60f. aevi flore virens). Im darauffolgenden Abschnitt (70–80) ist der Einfluß des Vaters Hamilkar auf Hannibal, der jetzt im Knabenalter steht (71 puer), beschrieben. Die Altersangaben führen noch weiter zurück auf die Zeit, als das Kind gerade erst sprechen lernt (78f. primam vocem fari) und quasi genährt wird (79 nutrire furores). Der Schlußsatz vor der Tempeldarstellung (81) gibt dann eine zeitliche Wende an, die wieder in das höhere Kindesalter des Hannibal versetzt (80 puerilis). Die Altersangabe puer (112) und die Vorausschau in dem Ausdruck ubi competet aetas (114) bestimmt das Knabenalter für die anschließend berichteten Ereignisse – den Schwur und die Vorhersage im Tempel (81–139).30 Als höchst komplex erweist sich eine Mikrostruktur, weil in die im Zusammenhang mit den Lebensaltern dargestellten Rückblenden mehrfach Vorgriffe eingelagert sind: In der Rede Iunos wird auf die für die Römer vernichtenden Schlachten in Italien vorgegriffen (45–54). In der auf diese Rede folgenden Charakterdarstellung des jugendlichen Hannibal finden sich Vorgriffe auf dessen Vertragsbruch und seine Kampflust (62). In einem Traum Hannibals wird auf den Ansturm auf das Capitol und die Alpenüberquerung vorausgegriffen (64f.). Weitere Ankündigungen über den bevorstehenden Krieg bestehen im Schwur des Hannibal und der Vorhersage der sacerdos (125–137), die neben bereits Erwähntem, wie den römischen Niederlagen und dem Alpenübergang, über weitere Einzelheiten der kommenden Kämpfe unterrichtet. Die zum Teil inhaltlich verschiedenen Vorgriffe vervollständigen das Bild von später erzählten Ereignissen. Generell ist die starke Häufung von Vorgriffen bedingt und vorbereitet durch die literarische Technik, die in einer Reihung von Rückblenden unterschiedlicher Reichweite benügt als ganze Kampftruppen ihr, die Verwirrung stiftend Länder und Meere zu bewegen sich rüstet. 29 SIL. 1,40f. sanguineo cum laeta viro atque in regna Latini / turbine mox saevo venientem haud inscia cladum – froh dann über den grimmigen Mann und in Kenntnis des Unheils, das bald in wildem Sturm überkommt das Reich des Latinus. (Übers. RUPPRECHT). 30 KÜPPERS 1986, S. 42f., erkennt wegen seines starken Bezuges auf die Charakterisierung den gleichmäßig rückwärts strebenden Zeitverlauf nicht und sieht puer (70) statt dessen im Kontrast zu den vorherigen Altersangaben, die er offenbar lediglich als Variationen von ‚Mannesalter‘ begreift. Auch die weiteren Angaben über das jüngere Kind in den Versen 78–114 entgehen ihm, so daß dies strukturbildende Element in seine Überlegungen zu einer Gliederung nicht einfließt. Ebenso erfaßt FEENEY 1982, ad 36–71, die Struktur nicht, wenn er urteilt: „He [sc. Silius] is unable to reconcile in the action a mythological aition with an historical causa“.
9.1 Der nähere Kontext und das Prooem
329
steht. Mit den in diesen Rückblenden liegenden Vorgriffen von ebenfalls unterschiedlicher Reichweite wird eine lineare Ordnung des Erzählten häufig durchbrochen und läßt den Verlauf der Ereignisse leicht unübersichtlich erscheinen.31 Es läßt sich mit der gewonnenen Klarheit über die Organisation des Textes erkennen, daß die kurze Andeutung über das Wirken Hannibals in den Versen 38–40 nicht den Handlungsbeginn darstellt,32 sondern lediglich die Gegenwart des Erzählten markiert, an die die Reihe von Rückblenden angegliedert ist. Die einzelnen Bilder vermitteln, wie Hannibal zum Haß erzogen wird: in Phasen fortgeschrittenes Alters von Iuno,33 in Phasen jüngeren Alters von Hamilkar.34 Über eine Charakterisierung Hannibals als Oberfläche werden die beiden Erzählstränge von Iuno und Hamilkar miteinander verbunden.35 Somit wird entsprechend der Bekundung des Erzählers, auf zwei Ebenen die causae darzulegen (17–20), zum einen Hannibal unter dem göttlichen Einfluß der Iuno stehend beschrieben (38–69). Diese nämlich möchte Karthago als mächtigste Stadt sehen (28) und hat nach dem erfolglosen ersten Krieg jetzt in Hannibal allein quasi ein starkes Heer zur Durchsetzung ihrer Interessen gefunden (36).36 Iunos Absichten gehören zu den vom Erzähler zu verdeutlichenden superas ... mentes (19). Andererseits ist Hannibal beeinflußt von Hamilkar als irdischem Initiator (70–143), der sein durch den verlorenen Krieg beschädigtes Ansehen wiederherstellen möchte.37 Hannibal tritt in die Verpflichtung ein, den Haß seines Vaters und den alten Haß der Dido aufrechtzuerhalten. Auch diesen Haß und die
31 Zur Reichweite von Vorgriffen, oder nach GENETTE Prolepsen, und Rückblenden bzw. Analepsen vgl. GENETTE 1998, S. 32–41 bzw. S. 46–53. 32 Nach einem Vorschlag von KÜPPERS 1986, S. 38, beginne die Handlung, wie in der Aeneis, unmittelbar vor der Iunorede mit 38f. (Iamque deae cunctas sibi belliger induit iras / Hannibal; hunc audet solum componere fatis), also mit der Einführung von Hannibal. KÜPPERS 1986, S. 63, bemängelt jedoch, daß der zweite im Prooem angekündigte Part, die Gründe der Menschen darzustellen, erst in den Versen 70–139 erfüllt werde. Um diese Probleme auszuräumen, ist m.E. der Handlungsbeginn erst in Vers 271, dem des Angriffs Hannibals auf Sagunt, zu setzen. Die Verse 38–40 sind als ein Vorhalt, als eine Andeutung der einsetzenden Ereignisse zu sehen. 33 SIL. 1,50 haec ait et iuvenem facta ad Mavortia flammat – also sprach sie und stachelt zu Mavors’ Taten den Jüngling; SIL. 1,63 dat mentem Iuno ac laudum spe corda fatigat – Iuno begeistert ihn, stachelt sein Herz mit Hoffnung auf Ehren. 34 SIL. 1,70f. hanc rabiem in fines Italum Saturniaque arva / addiderat laudem puero patrius furor orsus – Diesen Haß auf Italerland und saturnische Fluren flößte dem Knaben des Vaters Grimm ein und weckte die Ruhmsucht; SIL. 1,78–80 ut fari primamque datum distinguere lingua / Hannibali vocem sollers nutrire furores / Romanum sevit puerili in pectore bellum – [sc. Hamilkar pflanzte] als die ersten Worte Hannibal deutlich zu sprechen fähig war, wohl bewußt, wie er diese Begeisterung nährte, in die kindliche Brust die Sehnsucht, Rom zu bekriegen. 35 Dagegen begreift KÜPPERS 1986, S. 64f., das zweimalige Erzählen vom Infizieren mit dem Römerhaß als Problem. 36 S.o. Anm. 28. 37 SIL. 1,77 nobilis hoc ortu et dextra spectatus Hamilcar – edel von Abkunft so und geachtet; 108 dedecus id patriae nostra depellere dextra (s.u. Kap. 9.2. Text und Übersetzung).
330
9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139)
langwährenden Kriege zu beschreiben (17f. odiumque perenni / servatum studio et mandata nepotibus arma) sieht der Erzähler als seine Aufgabe. Für die Entwicklung des Themas, der Darstellung des zweiten Punischen Krieges, bildet das Geschehen in dem Tempel – der Schwur des jungen Hannibal, Rom zu bekriegen, und die Vorhersage über den Verlauf der Kämpfe – ein Schlüsselereignis.38 Die ganze Szenerie der Eingeweideschau ist unter das Offenlegen der causae zu zählen.
9.2 TEXT UND ÜBERSETZUNG SIL. 1,81–139 81
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Vrbe fuit media sacrum genetricis Elissae manibus et patria Tyriis formidine cultum, quod taxi circum et piceae squalentibus umbris abdiderant caelique arcebant lumine, templum. Hoc sese, ut perhibent, curis mortalibus olim exuerat regina loco. stant marmore maesto effigies, Belusque parens omnisque nepotum a Belo series, stat gloria gentis Agenor et qui longa dedit terris cognomina Phoenix. ipsa sedet tandem aeternum coniuncta Sychaeo. ante pedes ensis Phrygius iacet. ordine centum stant arae caelique deis Ereboque potenti. Hic crine effuso atque Henaeae numina diuae atque Acheronta uocat Stygia cum ueste sacerdos. immugit tellus rumpitque horrenda per umbras sibila. inaccensi flagrant altaribus ignes. tum magico uolitant cantu per inania manes exciti, uultusque in marmore sudat Elissae. Hannibal haec patrio iussu ad penetralia fertur, ingressique habitus atque ora explorat Hamilcar: non ille euhantis Massylae palluit iras, non diros templi ritus aspersaque tabo limina et audito surgentes cardine flammas. Olli permulcens genitor caput oscula libat attolitque animos hortando et talibus implet: ‚Gens recidiua Phrygum Cadmeae stirpis alumnos foederibus non aequa premit. si fata negarint dedecus id patriae nostra depellere dextra, haec tua sit laus, nate, uelis. age, concipe bella latura exitium Laurentibus. horreat ortus iam pubes Tyrrhena tuos, partusque recusent te surgente, puer, Latiae producere matres.‘
38 Diesen Ausdruck verwendet KÜPPERS 1986, S. 43f. 39 Text nach DELZ 1987, mit Veränderungen der Verf. bei den Absätzen. Übers. in Anlehnung an RUPPRECHT.
9.2 Text und Übersetzung
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His acuit stimulis subicitque haud mollia dictu: ‚Romanos terra atque undis, ubi competet aetas, ferro ignique sequar Rhoeteaque fata reuoluam. non superi mihi, non Martem cohibentia pacta, non celsae obstiterint Alpes Tarpeiaque saxa. hanc mentem iuro nostri per numina Martis, per manes, regina, tuos.‘ Tum nigra triformi hostia mactatur diuae, raptimque recludit spirantes artus poscens responsa sacerdos ac fugientem animam properatis consulit extis. Ast ubi quaesitas artis de more uetustae intrauit mentes superum, sic deinde profatur: ‚Aetolos late consterni milite campos Idaeoque lacus flagrantes sanguine cerno. quanta procul moles scopulis ad sidera tendit, cuiusque in aerio pendent tua uertice castra! iamque iugis agmen rapitur. trepidantia fumant moenia, et Hesperio tellus porrecta sub axe Sidoniis lucet flammis. fluit ecce cruentus Eridanus. iacet ore truci super arma uirosque, tertia qui tulerit sublimis opima Tonanti. heu quaenam subitis horrescit turbida nimbis tempestas, ruptoque polo micat igneus aether! magna parant superi; tonat alti regia caeli, bellantemque Iouem cerno.‘ uenientia fata scire ultra uetuit Iuno, fibraeque repente conticuere. latent casus longique labores. Inmitten der Stadt war, heilig der Ahnfrau Elissa, und zu Ehren der tyrischen Manen mit ererbtem Schauer gepflegt, das ringsum Eiben und Föhren mit Schatten überdeckend verbargen und vom Lichte des Himmels fernhielten, ein Grabmal. An diesem Ort hatte sich, wie man berichtet, einstmals der Sorgen des Lebens die Königin entledigt. Es stehen da von trauertragendem Marmor Bildwerke: Vater Belus und die ganze Reihe der Enkel seit Belus; es steht dort der Ruhm der Sippe, Agenor, und, der dem Lande den dauernden Namen gegeben, Phoenix. Selbst auch sitzt sie da, doch endlich auf ewig verbunden dem Sychaeus. Zu Füßen liegt ihr das phrygische Schwert; hundert Altäre in Reihe stehen da, sowohl für die Götter des Himmels als auch für den mächtigen Erebus. Hier, mit aufgelöstem Haar, ruft das Walten der Göttin von Henna und der des Acheron stygisch gewandet die Priesterin. Es brüllt die Erde und es bricht schaurig durch die Schatten ein Zischen; ohne daß sie entzündet wurden, flammen auf den Altären Feuer. Dann, durch Zaubergesang beschworen, flattern wie durch Unterweltleere die Manen und am Marmorbildnis schwitzt das Antlitz Elissas. Hannibal wird auf des Vaters Geheiß zum Inneren dieses Tempels gebracht; und des Eingetretenen Verhalten und Miene erforscht Hamilkar: Nicht erbleicht jener beim Rasen der Bacchos rufenden Massyla, nicht bei grausigen Riten des Tempels und bei der mit verwesendem Blut besprengten Schwelle und bei den sich beim Hören der Angel erhebenden Flammen.
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9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139) Dem nämlichen streichelt der Vater den Kopf und Küsse vergießt er, und hebt durch Ansporn den Mut und erfüllt ihn solchermaßen: ‚Wiedererstandenes Phrygervolk drückt des kadmeischen Stammes Zöglinge vertraglich nicht günstig. Wenn mir das Schicksal verweigern sollte, diese Unzier für die Heimat mit eigener Hand wegzuschlagen, wolltest du, daß dies dein Ruhm sei, mein Sohn. Mach, plane Kriege, die den Laurentern den Untergang bringen; es soll schrecken dein Entstehen schon die jungen tyrrhenischen Männer und, ihre Frucht hervorzubringen, da du heranwächst, mein Sohn, sollen Latinische Mütter verweigern.‘ So stachelt er ihn auf und flüstert ihm ein, wenig Mildes zu sagen: ‚Römer zu Lande und zu Wasser will ich, sobald es mein Alter erlaubt, mit Schwert und Feuer bekriegen und rhoeteisches Schicksal wiederkehren lassen. Weder sollen mich die Himmelsgötter, noch den Mars hemmende Verträge noch steile Alpen hindern und nicht tarpeiische Felsen. Diesen Willen schwör ich bei unseres Kriegsgottes Walten und bei deinen Manen, Königin.‘ Dann schlachtet ein schwarzes Tier der dreigestaltigen Göttin und öffnet rasch die noch atmenden Gefüge des Leibes, Auskünfte fordernd, die Priesterin und fragt um Rat den Lebenshauch, der eilends entflieht den Eingeweiden. Allein, sobald sie beim Fragen, ganz nach Brauch der alten Künste, eintrat in die Absichten der Himmelsgötter, verkündet sie also: ‚Aetolische Felder, daß sie weit bedeckt sind mit Gefallenen, und vom idaeischen Blut brennende Seen erkenne ich. Was in der Ferne für eine Masse an Felsen sich zu den Sternen auftürmt und auf ihrem luftigen Scheitel schweben deine Feldlager! Schon vom Bergjoch hinunter reißt es den Heereszug; zitternd qualmen Stadtmauern, und das Land, ausgedehnt unter hesperischem Sternenhimmel, von Sidonischen Flammen glüht. Es strömt – sieh – blutig der Eridanus. Es liegt mit grimmiger Miene über Waffen und Männern der dritte, der erhaben die Feldherrnbeute dem Iuppiter gebracht haben wird. Oh, welch rasender Sturmwind erschreckt denn mit plötzlichem Wolkenbruch, und bei geborstenem Pole zuckt feurig der Aether? Großes rüsten die Götter, es donnert der Palast des hohen Himmels, und kämpfen sehe ich Iuppiter.‘ Das kommende Schicksal näher zu wissen, verhinderte Iuno und die Fibern verstummten unvermutet. Verborgen bleibt Sturz und unendliche Mühsal.
9.3 DER AUFBAU Der Passus zu Hannibal, die Darstellung des Tempels und der Vorgänge in diesem, umfaßt insgesamt 59 Verse. In den ersten 18 Versen wird der Tempel beschrieben40 – seine Lage in 4 Versen, sein Interieur in 8 Versen und abschließend in 6 Versen die dort wirkende sacerdos (81–98). In einem zweiten Abschnitt ist das im Tempel aktuelle Geschehen in 41 Versen geschildert (99–139). Zunächst ist das Tun und die Rede von Hannibals Vater Hamilkar in einem Block von 15 Versen dargestellt (99–113), dann in einer wenig kürzeren Einheit von 11 Versen die Rede Hannibals und das Tun der sacerdos 40 Zur Beschreibung des Tempels an sich (SIL. 1,81–92) vgl. HARRISON 2010, bes. S. 280–282.
9.4 Skizzierung des Inhalts
333
(114–124). Die Rede der sacerdos und Iunos Tun bilden den letzten Teil, der mit 15 Versen dem ersten in der Länge entspricht (125–139). Die für die historische Verankerung zentrale Wendung im Schwur Hannibals per manes, regina, tuos (119) steht genau in der Mitte des zweiten Unterabschnitts von 11 Versen. Die gesamte Rede Hannibals (114–119) liegt wiederum in der Mitte einer sacerdosPassage (93–139), die die Tempeldarstellung mit der Darstellung der Geschehnisse im Tempel verbindet. 81–139
Hannibal im Tempel
insgesamt 59 V
81–98 81–84 85–92 93–98
Darstellung des Tempels Die Lage des Tempels Das Innere des Tempels Die sacerdos des Tempels
18 V 4V 8V 6V
99–139 99–113 114–124 125–139
Die Geschehnisse im Tempel Tun und Rede Hamilkars Rede Hannibals und Tun der sacerdos Rede der sacerdos und Tun Iunos
41 V 15 V 11 V 15 V
9.4 SKIZZIERUNG DES INHALTS 81–98 Darstellung des Tempels 81–84 Bei der Beschreibung des Tempels wird zunächst die zentrale Lage betont (urbe media). Es ist ein Heiligtum für Dido, das sich entsprechend seiner Bedeutung (sacrum genetricis Elissae) in der Stadtmitte befindet. Dort werden auch deren Vorfahren mit Ehrungen bedacht. Der umgebende Bezirk ist mit hohen dunklen Bäumen (squalentibus umbris / abdiderant caelique arcebant lumine) bepflanzt (81–84). 85–92 Nach der einleitenden Ortsangabe markiert hoc ... loco den neuen Abschnitt, der das Innere des Tempels darstellt. Wie um kurz zu erinnern, ist von Didos Selbstmord, den sie genau dort verübt haben soll, gesprochen (85f.) – bis dahin war jedoch von ihrem Tod keine Rede, sondern nur von ihrer Stadtgründung. Die Information erscheint als Kultsage (ut perhibent, olim). Das Heroon ist mit Kultstatuen der verstorbenen Ahnen bestückt, bei deren Aufzählung Belus ein größeres Gewicht bekommt (Belus parens omnisque nepotum a Belo series), weil über dessen Linie Hamilkar, der Vater Hannibals, mit Dido verbunden ist, wie an einer früheren Stelle erläutert (74–76). Die beiden anderen, Agenor, der schon im Prooem (15) genannt wurde, und Phoenix, gelten als mythische Vorfahren Didos.41 Schließlich wird mit ipsa sedet die Aufmerksamkeit auf das Abbild der Dido gelenkt, die in einer Sitzgruppe zusammen mit ihrem Gatten Sychae41 SPALTENSTEIN 1986, ad 1,87.
334
9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139)
us dargestellt ist. Das tandem aeternum coniuncta weist nur dezent darauf hin, daß diese Ehe durch die illegitime Verbindung mit Aeneas unterbrochen worden ist, ohne jedoch Aeneas zu nennen, dessen Rolle erst in der Schildbeschreibung (2,406–425) verdeutlicht wird.42 Lediglich verweist das Schwert (ensis Phrygius), das Aeneas Dido geschenkt hatte, in diese Interpretationsrichtung. Zugleich deutet es die näheren Umstände ihres Todes, den Selbstmord, an, der bisher ja nur kurz erwähnt wurde (85f.). Außer den Statuen befinden sich im Kultraum eine große Anzahl von Altären (centum arae) für die himmlischen Götter und für Erebus, einer Unterweltmacht. 93–98 Zum dritten Mal bezeichnet eine Ortsbestimmung die neue Texteinheit: Mit hic wird nun zu der im Heiligtum wirkenden sacerdos hingeleitet. Diese erscheint schon von ihrem ungebundenen Haar und der Bekleidung her als den Unterweltgöttern zugewandt (crine effuso; Stygia cum veste). Nach der Einführung der sacerdos werden die Auswirkungen ihrer auf die Unterwelt orientierten Tätigkeit geschildert: Die Erde dröhnt, es zischt unheimlich durchs Dunkel, die Altarfeuer flammen von selbst auf und die mit magischem Gesang herbeigerufenen Manen fliegen herum, als wären sie in der Unterwelt (per inania volitant). Zum Abschluß der Beschreibung des Heiligtums wird zum dritten Mal Bezug auf Dido genommen, indem nochmals das Kultbild erwähnt wird, an dem sich als weiteres unheimliches Zeichen ein Schwitzen des Gesichtes zeigt. 99– 139 99– 113
Die Geschehnisse im Tempel Nach der Beschreibung des Ortes markiert der Name Hannibal, der nur hier fällt, einen Handlungsbeginn in diesem gesamten Abschnitt. Ab jetzt wird über das aktuelle Geschehen im Heiligtum berichtet. Hannibal ist an diesen gruseligen Ort geführt worden und steht vor dem Eingang. Der Vater beobachtet beim Betreten des Kultraumes dessen Verhalten und Miene (habitus atque ora explorat): Den Knaben schreckte weder das Auftreten der sacerdos noch die Riten mit ihrem rächenden Charakter (diri ritus) oder das Blut am Eingang und das Aufflammen der Altarfeuer beim Geräusch der Tür (audito cardine) (101–103). Nach der Schilderung des Betretens gibt die alte Wortform olle (104) den Übertritt in eine altertümlich geprägte Sphäre an, wie sie durch die Verwendung des Namens Elissa und die Beschreibung des Kultraumes schon visualisiert wurde. Die Ausdrucksweise für das, was Hamilkar dann tut – Hannibal über den Kopf Streichen und Küssen (104 libat) – verstärkt den Gedanken an einen Schlachtritus. Die nachfolgende Rede, die Hamilkar (104 genitor) an seinen Sohn (109 natus) quasi als Erben richtet, ist geprägt von Rachegedanken gegen das römische Volk, wie gerade zuvor die Bezeichnung Massyla (101) die Assoziation mit Dido und deren Erb-Fluch schon hervorgerufen hatte. Die Argumentation in seiner Rede baut Hamilkar auf die mythische
42 Die Rolle des Aeneas in der Schildbeschreibung entspricht der Vergilischen Darstellung.
9.4 Skizzierung des Inhalts
114– 124
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Abstammung beider Völker (gens recidiva Phrygum bzw. Cadmea stirps) und beklagt seine Machtbeschränkung nach dem verlorenen Krieg. Diese durch weitere Kriege aufzuheben wünscht er dringend und fordert Hannibal zur Fortführung seiner Pläne auf. Dabei bieten die Volksbezeichnungen, die er für die Römer verwendet, quasi einen geschichtlichen Abriß, der bei den Phrygiern beginnt und über Laurentes, pubes Thyrrhena zu Latiae matres fortschreitet (106–112). Eine kurze Beschreibung, wie Hamilkars Rede auf Hannibal gewirkt hat, leitet zu dessen Antwort, dem Schwur über (113). Den geschichtlichen Abriß aufnehmend, setzt die Themenangabe in der Rede Hannibals mit dem Namen der Römer ein und führt zurück bis zum Untergang Troias (114f. Romanos sequi, Rhoetea fata revolvere). Es folgen in der Ankündigung Hannibals Dinge, die erst später dargestellt werden: Hannibal will sich von den Himmelsgöttern abwenden und sich nicht an die Friedensverträge halten (116), die weiteren Hindernisse sind keine moralischen, sondern erscheinen als physische Hürden – die Alpen und der tarpeiische Felsen (117). Hannibal beruft sich bei seinem Schwur auf einen heimischen Kriegsgott und insbesondere an zentraler Stelle auf die Manen Didos (119). Gleich nach der Rede wird eine Schlachtung beschrieben (nigra hostia mactatur), die quasi als Bestätigung für das Abwenden von den Himmelsgöttern – dem Initialereignis, dem die anderen Erfüllungen folgen – an eine Unterweltgottheit, triformis diva, gerichtet ist (119–122). Am Anfang ist nicht klar, wer sie ausführt, weil bis dahin Hannibal im Zentrum stand, aber schließlich wird die sacerdos als Ausführende kenntlich (121). Das rasche Öffnen des Tierkörpers soll eine Vorhersage ermöglichen (recludit artus poscens responsa sacerdos), indem die anima, die aus dem Inneren des Tieres entflieht, befragt wird (fugientem animam properatis consulit extis). Nochmals ist mit einer alten Wortform, ast, der Übergang in eine gehobene, altertümliche Sphäre markiert, die durch artis de more vetustae präzisiert wird (123f.). Die Parallele von animam consulere und quaerere mentes superum vermittelt einerseits die Vorstellung, daß mit dem Befragen der anima des Tieres ein Ausforschen der göttlichen Absichten stattfinde. Andererseits überdeckt sie den Widerspruch, daß zwar die hostia der Unterweltgöttin dargebracht wird, aber für die Vorhersage die Himmelsgottheiten befragt werden. Wie die Rede Hannibals beginnt die Rede der sacerdos (125–137) mit einer Bezeichnung für die italische Landschaft um Cannae (125 aetolus). Dieser folgen zwei ethnische Angaben und zum Schluß wiederum eine geographische Bezeichnung (126 Idaeus, 131 Sidonius, 132 Eridanus). Die sacerdos spricht zunächst über erfolgreiche Kämpfe, als wenn sie sie sehen würde (126 cerno). Weiterhin nennt sie die Alpenüberquerung (127 ff.) und den Tod desjenigen Mannes43 (15,334 ff.), der gegen Hamilkar ge-
43 Gemeint ist Marcus Claudius Marcellus, den SILIUS als Gegenfigur zu Hannibal stilisiert, vgl. beispielsweise ARIEMMA 2010; STOCKS 2010; FUCECCHI 2010.
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siegt hatte und dem Iuppiter (133f. Tonans) die Waffen geweiht. Die Erwähnung Iuppiters lenkt die Aufmerksamkeit vom irdischen Geschehen in den Himmelsbereich (137 cerno): Unwetter und Blitze (turbida tempestas; igneus aether) lassen die sacerdos auf gewaltige, aber noch unbestimmte Ereignisse schließen (136 magna parant superi), die sie dann präzisieren kann (tonat regia) und Iuppiter im Kampf schildert (bellantem Iuppiter). Die weitere Mittlertätigkeit der sacerdos wird von Iuno unterbrochen (137f. Iuno vetuit). Durch deren Eingreifen lassen die Fibern nichts mehr verlauten (conticuere) und nach dem Bekanntgeben von Erfolgen bleiben Unglück und Mühsal unerkannt (latent).
9.5 DIE GOTTHEITEN 9.5.1 Die handelnde Iuno Nicht etwa Iuno, deren bedeutende Rolle für Karthago aus dem zuvor Erzählten klar geworden ist, wird in dem Schwur Hannibals angerufen. Obwohl sie stark involviert ist, ja mehr noch, eigentlich Regie über die Ereignisse führt, ist sie in eine direkte Kommunikation, die das Ritual bildet, nicht einbezogen. Strukturell liegt hier eine Ähnlichkeit zu der Rolle der Venus in der Vergilischen Dido-Episode vor, denn Venus sorgt dafür, daß Dido sich verliebt, aber die Darbringungen der Dido gelten anderen Göttern, nicht jedoch der Venus als Liebesgöttin.44 Iuno erscheint in der Darstellung des SILIUS ITALICUS neben Hamilkar, Hannibal und der sacerdos in dieser Episode eher als weitere handelnde Person, die allerdings mit besonderen Kompetenzen ausgestattet ist. So vermag sie, die Vorhersage gerade beim Umschwung des Schicksals abzubrechen, so daß weder den Figuren noch dem Rezipienten klar wird, auf welcher Seite Iuppiter steht, als er, wie visionär berichtet, in den Kampf eingreift.45 Mit dem Eingreifen Iunos bei der Vorhersage in der Hamilkar-Episode werden beide Erzählstränge sich kreuzend zusammengeführt.
9.5.2 Die Manen der Dido Als wichtigste Kräfte im Schwur sind durch eine zentrale Stellung die Manen der Dido gekennzeichnet.46 Mehrfach ist zuvor von der Bedeutung Didos als Stadtgründerin gesprochen worden. Die neue Passage wird in einem Rückgriff auf die jeweils in der Haupt- und Nebenhandlung erzählten Stadtgründung47 mit einer Beschreibung des Tempels (81 urbe fuit media sacrum) eingeleitet. Ebenso greift der 44 45 46 47
S.o. Kap. Dido. Zu Iuppiter s.u. S. 343. S.o. zum Aufbau S. 333. SIL. 1,21–25; 1,72–76.
9.5 Die Gottheiten
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Hinweis auf die Abstammung (genetrix Elissa) die in beiden Handlungssträngen gebotene Verbindung wieder auf.48 Das in der Stadtmitte gelegene Heiligtum läßt sich als Heroon für die Ktistes Dido (sacrum genetricis Elissae) erkennen.49 Schon der Gebrauch des Namens Elissa anstelle von Dido bezeugt eine besondere, ehrfürchtige Atmosphäre. Der das Heiligtum umgebende Bezirk, der Saekos, verbreitet durch seine Bepflanzung Düsterkeit und eine schaurige Stimmung. Diese bedrückende Atmosphäre findet eine Erklärung durch einen neuen Aspekt, einer Kultsage über den Tod, den Selbstmord Didos (85–90 curis mortalibus exuerat regina). Der Grund für ihren Selbstmord, daß Aeneas sie verlassen hat, wird jedoch nicht genannt, mit dem Vorenthalten dieser Informationen wird Spannung aufgebaut und trotz der Erklärung über ihren Selbstmord besteht weiterhin eine diffuse düstere Ungewißheit. Neben verschiedenen Monumenten von Vorfahren (86–89) und demjenigen Didos (90f.) befinden sich Altäre in dem Heiligtum (91f.). Besonders herausgehoben ist ein Altar für die Unterweltgottheit Erebus (92). Diese Erwähnung hat für die weitere Darstellung jedoch keine besondere Bedeutung, sondern komplettiert lediglich die Ausrichtung auf die Unterwelt. Zudem bildet Erebus eine Reminiszenz an den Eid der Dido in der Vergilischen Darstellung, mit dem sie sich selbst, weil sie den Eid bricht, der Totenwelt vorbestimmt.50 Eine Kausalverbindung zwischen dem Schicksal Didos und dem Schwur Hannibals ist bis zu dieser Stelle nicht beschrieben. Erst in der Schildbeschreibung im zweiten Buch werden die beiden Ereignisse, der Selbstmord Didos und der Schwur Hannibals, unmittelbar hintereinander erzählt, wodurch eine logische Abfolge konstruiert wird.51 Das an dieser Stelle jedoch unausgesprochene, im Dunkeln liegende Geheimnis um Dido ist stimmungsbildend für die ganze Tempel-Erzählung.
9.5.3 Numina divae Henaeae – diva triformis Unmittelbar nach der Nennung des Erebus wird die Göttin von Henna genannt, in der Ceres, die in Henna ihren italischen Hauptkult hatte,52 zu erkennen ist. Die Zusammenstellung mit dem Acheron und dem Styx betonen einen chthonischen, auf die Totenwelt ausgerichteten Aspekt der Göttin (93f.). Wie durch Erebus liegt auch hierin eine Reminiszenz an die Vergilische Dido-Episode, in der Ceres-Tellus als Hochzeits- und Totengöttin beim Eid der Dido, bei der Eingeweideschau und bei der sogenannten Höhlenhochzeit eine zwiespältige und entscheidende
48 SIL. 1,28 aeternam condere gentem; 1,76 iuvenis Belides se sociarat [Didoni]. 49 Vgl. VON GEISAU 1967, Sp. 1103–1105. In einem Heroenkult, der ein Totenkult ist, gibt es eigentlich für die Himmelsgötter keine Altäre. – Zum Tempel als literarischer Fiktion vgl. jüngst HARRISON 2010, S. 281, der zu Recht FEENEY 1982, ad loc., in seiner Argumentation gegen PICARD 1974 folgt. 50 Vgl. VERG. Aen. 4,24–27, bes. 26. 51 SIL. 2,406–428, s.o. Anm. 11. 52 EISENHUT 1964b, Sp. 1113f.
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Rolle spielt.53 Dieser Unterweltgottheit, die später triformis diva genannt ist, gilt die Darbringung Hannibals (119f.). Als dreigestaltige Göttin wird sonst eigentlich die Unterweltgottheit Hekate-Diana bezeichnet.54 Diese Gleichsetzung von Ceres und Hekate verweist wiederum auf VERGIL, zum einen auf dessen Darstellung eines Rituals,55 in dem Dido sich an Hekate wendet und sich dabei der Hilfe einer sacerdos massylae gentis bedient. Die Reminiszenz ist in beinahe wörtlichen Wiederaufnahmen in der gesamten Silianischen Passage zu erkennen.56 Zum anderen ist auf die Vergilische Hekate, die dort Trivia heißt, angespielt, deren Kultdienerin die Sibylle ist, die zugleich dem Phoebus dient (Phoebi Triviaeque sacerdos, VERG. Aen. 6,35). Wie mit dem ‚doppelten Amt‘ der Sibylle, das den Dienst für eine Himmelsgottheit mit demjenigen für eine Unterweltgottheit vereint, ist bei SILIUS der Kult für Unterweltgottheiten mit dem Dienst für Himmelsgottheiten verbunden. Bei dem kompilatorischen Verfahren des SILIUS ist die Identität der Göttin von Henna nicht festgelegt, weder wird Ceres noch Hekate namentlich bezeichnet. Diese von SILIUS imaginierte Göttin ist dadurch, daß die sacerdos ihr dient, als Hauptgottheit des Tempels bezeichnet. Die Erwähnung der Göttin von Henna schafft gleichzeitig einen intratextuellen Bezug auf historischer Ebene zu dem von Hamilkar verlorenen Krieg,57 denn die Stadt Enna in Sizilien war im Ersten Punischen Krieg stark umkämpft.58 Henna ist sowohl für Hamilkar als auch für Dido als bedeutungsvoll, als Kulminationspunkt für beider Vergeltung dargestellt. Die Einführung dieser Göttin als Hauptgottheit des karthagischen Tempels erscheint von daher kontextuell bedingt.
9.5.4 Nostri numina Martis Der historische Bezug auf die kriegerischen Unternehmungen Hamilkars wird im Schwur mit der Anrufung eines heimischen Kriegsgottes wieder aufgenommen (118f.). War in vorhergehenden Passagen oft von den verlorenen Kämpfen Hamilkars und der Kampfeslust Hannibals die Rede, so treffen im Schwur, der auch bei den Manen der Dido geleistet wird, alle Motivationen zusammen: Hamilkar will Vergeltung für die kriegerischen Niederlagen, die ihn persönlich beschämen
53 54 55 56
S.o. Kap. Dido. SAUER 1967, Sp. 982f. VERG. Aen. 4,493 magicas ... artes. VERG. Aen. bes. 4,509–511 stant arae circum et crinis effusa sacerdos / ter centum tonat ore deos Erebumque Chaosque / tergeminamque Hecaten tria virginis ora Dianae – Rundherum stehen Altäre und mit aufgelöstem Haar ruft die sacerdos dreimal hundert Götter und den Erebus und den Chaos und die dreigestaltige Hekate, die drei Gesichter der Jungfrau Diana. 57 SIL. 1,33–35 conanime primae / contuso pugnae fractisque in gurgite coeptis / Sicanio Libycis) – als der erste Versuch des Angriffs zerschlagen, libysches Unterfangen zerbrach in sizilischen Strudeln. (Übers. RUPPRECHT) 58 ZIEGLER 1967, Sp. 1022.
9.5 Die Gottheiten
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(108),59 Dido hat mit ihrem Fluch eine kriegerische Vergeltung für ihre persönliche Kränkung gefordert,60 Hannibal ist von kriegerischem Charakter und voller Tatendrang. Die Benennung eines heimischen Kriegsgottes bleibt mit der Bezeichnung nostri numina Martis vage, eine Identifikation mit dem römischen Mars ist jedoch durch noster ausgeschlossen. In einer die Friedensverträge negativ formulierenden Wendung non Martem cohibentia pacta ... obstiterint (116f.) ist der römischen Mars wohl einbezogen. Wie bei der Kompilation von Erscheinungsformen der Göttin von Henna scheinen unkonkrete Angaben beabsichtigt zu sein. An dieser Stelle war einem (römischen) Rezipienten wiederum kontextbedingt der kriegerische Aspekt einer Gottheit zu verdeutlichen, nicht jedoch ein Abbild kultischer Verhältnisse in Karthago zu vermitteln.61
9.5.5 Superi In der Beschreibung des Tempels, dessen Funktion stark von Göttern der Unterwelt bestimmt ist, sind Altäre für die Himmelsgötter erwähnt (91f.), wenig später werden diese Götter in der Eingeweideschau befragt. Obwohl die Darbringung eines schwarzen Tieres einer Göttin der Unterwelt (triformis diva) gilt, geht nicht an diese die Frage, sondern an die Himmelsgötter (124 mentes superum). Und zudem werden die Himmelsgötter befragt, obwohl Hannibal sich in dem der Eingeweideschau vorausgehenden Schwur explizit gegen sie stellt (116f. non superi mihi ... obstiterint). Daß dieser sich an eine Unterweltgottheit richtet, erscheint als erste Umsetzung des Schwurs. Die Erwähnung der Himmelsgötter rekurriert auf das Prooem, in dem der Erzähler in einer der Wendung mentes superum ähnlichen Formulierung ankündigt, das Wollen der Himmelsgötter zu erschließen (fas ... mihi superasque recludere mentes).62 Indem der Dichter seine Figur, die sacerdos, sprechen läßt, erfüllt er seinen Anspruch. Die kurze Erwähnung der Altäre ist als Brücke von der Ankündigung des Dichters zum Schwur und der Vorhersage zu werten.
59 Eine Motivation für die Wiederherstellung des Ansehens durch weitere Schlachten wird mehrfach angedeutet: 1,77 spectatus dextra und 108 dedecus id patriae nostra depellere dextra. Über den Friedensschluß – mit Tributzahlungen an die Römer – der im Jahre 241 v. Chr. war, wurde in einem Vorgriff berichtet (SIL. 1,61f. avet Aegates abolere parentum / dedecus, ac Siculo demergere foedera ponto – zu tilgen der Väter aegatische Schlappe und den Friedensvertrag zu ertränken im Siculermeere. (Übers. RUPPRECHT). 60 Bis dahin ist Didos Fluch, den VERGIL darstellt (VERG. Aen. 4,607–629), noch nicht erwähnt worden, von diesem erfährt man erst in der Schildbeschreibung SIL. 2,422f. saucia Dido mandabat Tyriis ultricia bella futuris – verletzt trug Dido den Tyriern für alle Zeiten rächende Kriege auf. 61 Vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,118, der die Frage nach einer historischen karthagischen Gottheit verhandelt, zu Diskussionen über ein karthagisches Pantheon s.u. S. 343. 62 S.o. Anm. 21.
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Daß bei einer Eingeweideschau Unterweltgötter befragt würden, erscheint trotz historiographischer Darstellungen merkwürdig.63 Ob in derartigen Berichten nicht eher eine negative Charakterisierung von bestimmten Personen vorliegt als eine getreue Abbildung historischer Ritualwirklichkeit, wäre zu fragen. Diese Frage ließe sich jedoch nur durch einen Vergleich mit weiteren Stellen, die von einer Befragung von Unterweltgöttern berichten, klären.
9.6 DIE AUSFÜHRENDEN IM RITUAL 9.6.1 Sacerdos Massyla Die Bezeichnung der sacerdos (94; 121; Massyla 101) stellt eine Reminiszenz an die Darstellung VERGILs dar, als Dido, weil Aeneas sie verlassen will, Hilfe bei einer Massylae gentis sacerdos sucht (VERG. Aen. 4,483). Diese soll ein Ritual ausführen, das entweder Aeneas an Dido bindet oder diese von Aeneas löst (VERG. Aen. 4,474–521). Die Zurichtungen für dieses Ritual nutzt Dido für ihren Selbstmord (VERG. Aen. 4,663–665). Vor ihrem Tod verflucht sie Aeneas und seine Nachkommen zu ewigen Kämpfen (VERG. Aen. 4,607–629 pugnent ipsisque nepotesque). Diese Imitation ist jedoch erst nach der Beschreibung der sacerdos (93–98) kenntlich, als sie beim Hereintreten Hannibals Massyla genannt und von ihrem Verhalten berichtet wird (101). Der Ausdruck euhantis Massylae irae (101) stellt gleichzeitig die Assoziation zu der Vergilischen Sibylle her, deren Inspiriert-Sein von Apollon mit bacchatur vates ausgedrückt ist (VERG. Aen. 6,78).64 Der bacchische Ruf – euhare heißt das bacchische Rufen – ist nicht als eine Beteiligung des Gottes Bacchus zu werten, sondern dient der Charakterisierung der sacerdos als einer inspirierten Seherin. Eine Parallele zwischen den drei sacerdotes liegt darin, daß deren Aussehen mit crine effuso (93) beschrieben ist. Auch hier läßt sich die Vergilische Sibylle als Vorbild erkennen (VERG. Aen. 6,48 crine effuso) und ebenso die Vergilische Massyla (VERG. Aen. 4,509 crinis effusa sacerdos).65 Alle drei sind bei ihren rituellen Tätigkeiten dargestellt. Die Aufmachung der sacerdos Massyla, die VERGIL knapp in dem nur einmalig stattfindenden Ritual beschreibt (VERG. Aen. 4,509–521), stellt SILIUS sozusagen als Diensthabitus dar: Beide Ausführenden tragen das Haar offen und während die Vergilische Massyla für diesen einen konkreten Fall chthonische Gottheiten anruft, dies aber auch gewohnt ist, erscheint die sacerdos des SILIUS gänzlich im Dienst unterweltlicher Mächte. Ihre Bekleidung, die stygisch genannt
63 Beispielsweise berichtet davon SUET. Otho 8,3 nam et victima Diti patri caesa litavit, cum tali sacrificio contraria exta potiora sint – denn es lieferte ein dem Gott der Unterwelt, Pluto, dargebrachtes Tier sehr gute Zeichen, während doch bei einer solchen Darbringung Eingeweide, die das Gegenteil anzeigen, besser sind. 64 Auf die Parallele weist hin SPALTENSTEIN 1986, ad 1,101. 65 Vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,93.
9.6 Die Ausführenden im Ritual
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wird, ohne daß sie näher beschrieben ist, betont dies.66 Die Vergilische sacerdos erscheint durch Didos katalogartige Darstellung ihrer Fähigkeiten67 und einer die Wahrheit anzweifelnden Bemerkung des Erzählers68 als zwielichtige Gestalt, nicht so die sacerdos des SILIUS an dieser Stelle. Deren Aufgabe ist eine offizielle, nämlich die in Erinnerung an Dido entstandene Düsterkeit weiter zu verwalten.69 Als Stätte des Wirkens der Silianischen sacerdos ist ein Raum beschrieben, der sich aus Beschreibungen verschiedener Orte, davon drei aus der Vergilischen Dido-Episode, zusammenfügen läßt. Sowohl in der Darstellung der Person als auch in der des Ortes knüpft SILIUS überdeutlich an VERGIL an70 und formt seine Vorlage in charakteristischer Weise um. Nachgebildet dem Vergilischen IunoTempel, der mitten in der Stadt liegt, befindet sich auch das Elissa-Heiligtum in der Stadtmitte.71 Während der Vergilische Tempel umgeben ist von einem freundlichen schattenspendenden Hain, liegt das Elissa-Heiligtum von hohen Bäumen bedrückt im Dunkel und wendet sich vom Himmel ab (VERG. Aen. 1,441 lucus ... laetissimus umbrae; SIL. 1,83 squalentibus umbris; 84 caelique arcebant lumine). Die metrisch gleiche Position am Ende des Verses hebt die Imitation bei umbrae hervor. Zugleich erinnern die Verse 81f. mit der Formulierung urbe fuit media sacrum genetricis Elissae / manibus et patria Tyriis formidine cultum an die Beschreibung des Palastes des Königs Latinus,72 die VERGIL mit urbe fuit summa Laurentis regia Pici / horrendum silvis et religione parentum ausführt.73 Die Burg ist Stätte der Herrschaft und der Ahnen. Es sind dort, wie im Heiligtum der Dido, Ahnenbildnisse aufgereiht.74 Weiter ist bei VERGIL für den Palast ein Marmorheiligtum, in dem Dido den verstorbenen Sychaeus ehrt, geschildert. Bei SILIUS ist die Ehrung in ein und den66 SIL. 1,93f. Henaeae numina divae / atque Acheronta vocat Stygia cum veste sacerdos; VERG. Aen. 4,510f. Erebumque, Chaosque / tergeminamque Hecaten, tria virginis ora Dianae (Übers. s.o. Anm. 56). 67 VERG. Aen. 4,480–498, bes. 487 ff. promittit solvere mentis ... inmittere curas ... sistere aquam fluviis et vertere sidera retro; nocturnosque movet manis. 68 VERG. Aen. 4,512 sparserat et laticis simulatos fontis Averni. 69 Erst in späteren Wiederaufnahmen erfährt das Schwur-Ereignis aufgrund der Unterweltausrichtung und Nähe zum ‚Magischen‘ (SIL. 1,97 magico cantu) explizit eine negative Bewertung (2,296–298; 3,139 ff.; 3,81–83, und in der Schildbeschreibung (2,426–428), s.u. Anm. 108 arcanum cruorem). Als literarischer Hintergrund für die Negativbewertung läßt sich die distanzierte Haltung ansehen, die Dido bei VERGIL gegenüber der Anwendung von ‚magischen Riten‘ äußert (VERG. Aen. 4,493 magicas invitam accingier artes – nur ungern laß ich mich ein auf magische Künste, Übers. GÖTTE). Der Schwur Hannibals erscheint in diesen Kontexten gesehen bei VERGIL und den späteren bei SILIUS als Unrechtsakt. 70 SPALTENSTEIN 1986, ad 1,81; s.o. Anm. 49. 71 VERG. Aen. 1,441 in urbe fuit media; SIL. 1,81 urbe fuit media. 72 AHL / DAVIS / POMEROY 1986, S. 2496. 73 VERG. Aen. 7,171f. Hoch in der Stadt stand die Königsburg des laurentischen Picus, schauerumweht von Wäldern und frommer Ehrfurcht Ahnen. (Übers. in Anlehnung an GÖTTE). 74 VERG. Aen. 7,177 quin etiam veterum effigies ex ordine avorum /antiqua e cedro – Ja, hier standen auch Bilder der alten Ahnen in Reihen, Schnitzwerk aus uralter Zeder. (Übers. GÖTTE).
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selben Tempel verlegt und zu einem Heiligtum mit einer ganzen Reihe von Ahnenbildern aus Marmor nach dem Vorbild des Latinuspalastes umgestaltet.75 In demselben Vergilischen Passus wird von einem Unglückszeichen berichtet, da Dido den gespendeten Wein sich in Blut verwandeln sieht; dieses Bild vom ekelerregenden Blut nimmt SILIUS in seine Tempelbeschreibung auf.76 Die bedrükkende Stimmung der gesamten Passage, in der Dido zu sterben beschließt (VERG. Aen. 4,450–473), fließt durch die bloßen Andeutungen in das Bild, das SILIUS zeichnet, ein. Der Ort, an dem Dido sich schließlich das Leben nimmt – SILIUS läßt dies in eben dem von ihm entworfenen Elissa-Heiligtum geschehen sein77 – ist bei VERGIL ein vierter und zwar der, an dem die sacerdos Massyla das Ritual für Dido ausführt. Wie die Verehrungsstätte für Sychaeus befindet er sich innerhalb des Palastbezirkes. Unter freiem Himmel gelegen sind dort – neben dem Scheiterhaufen – Altäre errichtet (VERG. Aen. 4,509 stant arae circum), es werden dreimal hundert Götter gerufen, darunter Erebus (510).78 SILIUS zitiert für die Beschreibung seines Heiligtums in metrisch gleicher Stellung stant arae. Das Schwert des Aeneas, das bei VERGIL in dem dortigen Zusammenhang nur kurz erwähnt wird79 und mit dem sich Dido später umbringt,80 dient SILIUS vordergründig zur Beschreibung des Marmorbildnisses von Dido (91 ante pedes ensis Phyrgius iacet) und erinnert an die Geschehnisse um Dido und Aeneas, ohne diese direkt zu erwähnen. Die Imitation und Kompilation aus Vergilischen Darstellungen ist deutlich: SILIUS führt vier verschiedene Ortsbeschreibungen VERGILs zur Beschreibung eines einzigen Heiligtums zusammen. Er hat dabei zwei im Palast befindliche Stätten ausgewählt, für die Todesnähe das Charakteristikum ist, nämlich die Verehrungsstätte für Sychaeus und den Ort, an dem Dido sich umbringt. Mit dieser Auswahl werden Assoziationen ausgelöst, die eine düstere Stimmung verbreiten: Zum einen vergegenwärtigt die Passage mit dem Sychaeus-Grabmal die schlimmen Vorhersagen und Zeichen,81 und zum anderen wird an die Sterbeszene, in der Dido den Fluch über die Römer ausspricht,82 erinnert. Ein drittes Heiligtum aus der 75 VERG. Aen. 4,457f. fuit in tectis de marmore templum / coniugis antiqui; SIL. 1,86f. stant marmore maesto / effigies 76 VERG. Aen. 4,454f. horrendum dictu latices nigrescere sacros / fusaque in obscenum se vertere vina cruorem; SIL. 102f. aspersa tabo / limina. – vgl. auch VERG. Aen. 4,654 interiora domus inrumpit limina. 77 SIL. 1,85f. hoc sese ... curis mortalibus olim / exuerat regina loco. 78 VERG. Aen. 4,494 tecto interiore sub auras; 504 penetrali in sede sub auras; 510 ter centum deos; SIL. 91f. ordine centum / stant arae caelique deis Ereboque potenti, vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,92. 79 VERG. Aen. 4,495 ff. arma viri ... superinponas. 80 VERG. Aen. 4,642–665. 81 VERG. Aen. 4,450 fatis exterrita; 454f. horrendum dictu latices nigrescere sacros / fusaque in obscenum se vertere vina cruorem; 460–465 hinc exaudiri voces et verba vocantis / visa viri ... ferali carmine bubo queri ... in fletum ... multaque ... vatum praedicta priorum terribili monitu horrificant. 82 VERG. Aen. 4,607–629.
9.6 Die Ausführenden im Ritual
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Dido-Episode, der Iuno-Tempel, ist bei VERGIL ein freundlicher Ort, dessen heiteres Szenario, als Dido und Aeneas sich kennenlernen, bei SILIUS einen düsteren Charakter erhält. Insgesamt läßt sich sagen, daß bei SILIUS eine Orientierung auf das Unterweltliche sowohl bei der sacerdos als auch der Stätte ihres Wirkens aus Vergilischen Vorlagen so konstruiert wird, daß die Figur und die Örtlichkeit etwas Bedrohliches ausstrahlen. Der Kult in einem Dido-Heiligtum, den SILIUS für die Schwurdarstellung entwirft, entspricht nicht den Informationen, die verschiedene Historiographen liefern. Zwar wird auch dort davon berichtet, daß Hannibal bei einer rituellen Schlachtung auf Drängen seines Vaters den Schwur geleistet habe. Daß dies in einem Iuppiter-Tempel geschehen sei, ergänzen andere. Möglicherweise ist die Erwähnung von Iuppiter, der in der Vision der sacerdos in den Kampf eingreift, ein Reflex auf diese historiographische Überlieferung. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Versuche, die Hauptgottheit für das Heiligtum, in dem der Schwur stattfand, zu bestimmen. Da von dem römischen Iuppiter, und einmal von Iuppiter Optimus Maximus, gesprochen ist, vermutet man in der historischen Forschung für Karthago eine syrische Stadtgottheit, Ba’al-Shamin.83 Aber man identifiziert auch Dido mit der Göttin Tanit, die als Schutzgottheit für Karthago gilt84 und die mit ihrem gleichzeitig uranischen und chthonischen Zug85 sich in die Darstellung des Silianischen Tempels, der auf Himmels- und Unterweltgötter zugleich ausgerichtet ist, gut einpaßt. Identifikationen von Gottheiten der klassischen Antike mit denen im Vorderen Orient bestimmen das Bild religionshistorischer Forschung zur Rekonstruktion eines karthagischen Pantheons.86 Wegen der modernen Überbauung und unterschiedlicher nationaler Zuständigkeiten für die einzelnen Fundstätten gestaltet sich die Grabungssituation in Karthago zwar schwierig, doch läßt sich sagen, daß nach neueren archäologischen Befunden manche alte Vorstellungen über die Verhältnisse in der Stadt zu revidieren sind.87 Von daher scheint es angebracht, diese neueren Forschungen zur Religionsgeschichte Nordafrikas stärker zu berücksichtigen und weniger Gewicht auf antike literarische Darstellungen zu legen. Kann für den schaurigen Charakterzug der sacerdos bei SILIUS hauptsächlich die Vergilische sacerdos Massylae gentis als Vorbild gelten, liefert die Vergilische Sibylle (VERG. Aen. 6,35–101) vor allem mit ihrer Fähigkeit zur Vorhersage das Vorbild. In ihrer Funktion als Phoebi Triviaeque sacerdos (VERG. Aen. 6,35) stellt sie nicht nur den Bezug zur Prophetie, sondern auch zur Unterwelt her. Diese Doppelung findet sich auf die sacerdos des SILIUS übertragen. Die Anklänge an die Vergilische Sibylle verleihen der Figur des SILIUS einen prophetischen Zug, der neben dem düsteren, der wesentlich von dem Ritual der Vergilischen Massyla herrührt, vorhanden ist. Die Situation für die Vorhersage entspricht vordergrün83 84 85 86 87
Vgl. TUPET 1980, S. 189. Vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,78. LE BONNIEC 1965, Sp. 2977. Vgl. HUß 1999; ELLIGER 1990; FELLMANN 1965. RAKOB 1985.
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dig88 derjenigen in der Aeneis: Wie die Sibylle erst nach einem wörtlich angeführten Gebet des Aeneas weissagt, so gibt auch die sacerdos nach dem Schwur Hannibals ihre Vorhersage.89 In dem Aspekt, daß in dieser Vorhersage nicht alles bekannt gegeben wird, sondern Iuno weiteres zu sagen verhindert, liegt eine Parallele zu der Vergilischen Prophetie des Helenus durch Phoebus vor, in der Iuno zusammen mit den Parzen weitere Kenntnis verhindert.90 Als drittes weibliches Vorbild für die Silianische sacerdos läßt sich VERGILs Dido erkennen, die die Eingeweideschau kraft ihrer auch religiös-exponierten Stellung als Königin ausführt.91 Die Anlehnung an die Eingeweideschau wird im übernommenen Wortmaterial deutlich: Das Vergilische pecudumque reclusis / pectoribus inhians spirantia consulit exta (VERG. Aen. 4,63f.) findet sich bei SILIUS umgearbeitet zu raptimque recludit / spirantes artus poscens responsa sacerdos / ac fugientem animam properatis consulit extis (SIL. 1,120–122). Bei VERGIL scheint Ungeduld und das Drängen nach Antwort in Didos psychischer Verfassung zu liegen,92 dagegen begründet SILIUS eine durch raptim, fugere und properare vermittelte Eile logisch, weil die anima, die das sterbende Tier gerade verläßt, noch zu befragen ist. Zugleich glättet SILIUS mit der Konstruktion animam ... consulit VERGILs verfremdende Wendung exta consulit. Weiterhin zeigt sich bei SILIUS die Umgestaltung seiner Vorlage zum Düsteren, indem der weißen Kuh, die Dido für Iuno darbringt (4,59–61), ein schwarzes Tier entgegengestellt ist, das für die Unterweltgottheit geschlachtet wird.93
9.6.2 Hamilkar Die den Passus von der Eingeweideschau Hannibals umschließende HamilkarEpisode setzt mit einer Zeichnung des Hasses ein, den Hamilkar gegenüber den Römern empfindet (70 hanc rabiem). Nach einer retardierenden Darstellung seiner Herkunft, die die alte Verbindung zu Dido verdeutlicht, und der Beschreibung des Tempels ist Hamilkar als Träger der (Neben)-Handlung geschildert. Die Handlung für diesen Abschnitt setzt in Vers 99 pointiert mit der Nennung Hannibals in metrisch betonter Anfangsstellung ein und ist, im Gegensatz zu vorigen 88 Bei SILIUS kommt erst die Haßrede Hamilkars, dann der Schwur Hannibals und dann die Vorhersage. Die Einheit der drei Reden beweist der jeweilige Beginn mit einer Bezeichnung für die Römer (106 Gens recidiva Phrygum; 114 Romanos; 125 Aetolos), s.u. S. 347. 89 VERG. Aen. 6,56–76 Gebet, 6,83–97 Weissagung; SIL. 1,114–119 Schwur, 1,125–137 Vorhersage. 90 VERG. Aen. 3,379f. prohibent nam cetera Parcae / scire Helenum farique vetat Saturnia Iuno – daß Helenus mehr noch wisse, verwehren ihm die Parzen, verbietet zu künden Saturnia Iuno. (Übers. GÖTTE); SIL. 1,137f. venienta fata / scire ultra vetuit Iuno. – vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,137. 91 Vgl. RÜPKE 1996, S. 255f. 92 S.o. Kap. Dido: Die Eile ist ausgedrückt durch das bereits geschehene Öffnen (pectoribus reclusis) und die noch atmenden Eingeweide (spirantia exta), während Dido vor Spannung der Atem stockt (inhians). 93 VERG. Aen. 4,61 candentis vaccae, SIL. 1,93; 119f.
9.6 Die Ausführenden im Ritual
345
Tempora der Handlungsdarstellung in den Versen 70–81,94 wie bei der Beschreibung des Tempelinneren (86–98) im Präsens gehalten. Das Präsens zeigt die besondere Bedeutung des ganzen Abschnitts an. Erscheint zunächst durch den Nominativ Hannibal als aktiv, wird dieser Eindruck sogleich durch die Wendung patrio iussu und das Passiv fertur korrigiert. Als Hannibal vor den Tempel (ad haec penetralia) gebracht ist, beobachtet Hamilkar mit vor Haß auf die Römer gespannter Aufmerksamkeit das Verhalten Hannibals. Die Stimmung des Hasses und die Unklarheit, was in dem Heiligtum geschehen soll, erinnert stark an die Darstellung des Atreus, der seine Neffen im Palastheiligtum ermordet. Die Wiederaufnahme des Ausdrucks penetralis (SEN. Thy. 652 penetrale regni) unterstreicht den Zusammenhang. Auch in der Darstellung von umherfliegenden Schatten und einem von selbst brennenden Feuer (96f.) ist eine Reminiszenz an das schaurige Palastheiligtum bei SENECA zu erkennen (SEN. Thy. 650–683). Ebenso erinnert das Dröhnen der Erde (95) und, daß Didos Kultbild schwitzt (98), an die Zeichen unterweltlicher Zustimmung einerseits und göttlicher Mißbilligung andererseits vor dem ersten Mord, dem Mord an dem ältesten Sohn des Thyestes (SEN. Thy. 696–703).95 Es ist das Bild, daß eine Darbringung eines Knaben bevorstehe, durch diese literarischen Wiederaufnahmen entworfen. Der Vater Hamilkar beobachtet beim Betreten des Kultraumes genau Verhalten und Miene seines Sohnes (habitus atque ora explorat). Die Formulierung erinnert wiederum an die Tötung der Thyestes-Söhne und dazu an die Beobachtung der Tiere bei der rituellen Schlachtung im Oedipus, wo ebenfalls Verhalten und Miene beobachtet werden.96 Wie der erste Thyestes-Sohn sich bei seinem bevorstehenden Tod nicht erschüttern läßt,97 zeigt auch Hannibal keine Furcht (101– 103 non palluit). Ihn schreckt weder das Auftreten der sacerdos noch die Riten mit ihrem rächenden Charakter (diri templi ritus) oder das Blut am Eingang (aspersaque tabo / limina) und das Aufflammen der Altarfeuer beim Geräusch der Tür (audito cardine). In den Andeutungen von grausamen rituellen Tötungen sehen manche Forscher den Hinweis auf historische rituelle Kindertötungen, die in Karthago ausgeführt worden sein sollen;98 griechische Quellen berichten von einem solchen Kult für den phönikischen Gott Melqart.99 Ob jedoch in diesen Berichten nicht eine Entwertung der karthagischen Kultur beabsichtigt ist, wird
94 SIL. 1,70–81 addiderat; numerabat; sevit. 95 S.o. Kap. Atreus (SEN. Thy. 696–698 lucus tremescit, tota succusso solo / nutavit aula, dubia quo pondus daret / ac fluctuanti similis; 703 flevit in templis ebur). Weitere Parallelen zu weinenden oder schwitzenden Marmorbildern bietet TARRANT 1985, S. 192, ad 702, als Zeichen beim Tode Caesars (VERG. georg. 1,480; OV. met. 15,792), als Vorzeichen beim Marsch Caesars auf Rom (LUCAN. 1,556f.). 96 SEN. Thy. 719 quo iuvenis animo, quo tulit vultu necem, s.o. Kap. Atreus; SEN. Oed. 336 placido vultu sacra ... patiuntur, s.o. Kap. Tiresias und Manto. 97 SEN. Thy. 720 Stetit sui securus – er stand seiner selbst sicher. 98 Vgl. SPALTENSTEIN 1986, ad 1,102. 99 RICHTER 1969, Sp. 1184; PICARD 1974.
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ebenso diskutiert.100 Archäologisch ist in Karthago ein Gräberfeld nachgewiesen, das sogenannte ‚Tophet‘, auf dem ausschließlich Kinder bestattet sind. Aus der Tatsache, daß ein eigener Bestattungsbezirks besteht, ist aber nicht unbedingt darauf zu schließen, daß hier rituelle Tötungen stattgefunden hätten. Inwieweit sich rituelle Kindertötungen historisch nachweisen ließen, kann hier nicht diskutiert werden.101 Ausreichend ist jedenfalls für die bei SILIUS hier noch vagen, aber später doch konkreten Äußerungen (4,765–769 … flagrantibus aris … parvosque imponere natos …),102 daß die antike Literatur von Kindertötungen in Karthago berichtet, und so die Erwartung einer Kindestötung in der Silianischen Darstellung erzeugt wird. In einer Begrifflichkeit, die das Bild einer rituellen Schlachtung fortsetzt, ist das weitere Handeln Hamilkars dargestellt (104): Er streicht Hannibal über den Kopf (olli permulcens ... caput), diese Tätigkeit assoziiert den sogenannten Culter-Strich, das Führen des Ritualmessers über den Rücken des Tieres bei einer rituellen Schlachtung.103 Und Hamilkar überschüttet Hannibal mit Küssen (oscula libat), diese Ausdrucksweise läßt an die Libation bei der rituellen Schlachtung eines Tieres denken. Daß Hamilkar darauf dann zu sprechen beginnt, wirkt so, als spreche er nun ein Gebet.104 Eingeführt mit seinem Haß hält Hamilkar jetzt eine längere Rede, die sogenannte Haßrede, in der er seinen Groll auf die Römer und seine Erwartungen an seinen Sohn auf kriegerische Rache formuliert (106–112). Dieser Vorgabe, mit der Hamilkar als Handlungsträger Hannibal anstachelt (113 acuit; subicit), schließt sich der Schwur Hannibals an.
9.6.3 Hannibal Die Bezeichnung für die Römer gens recidiva Phrygum, mit der Hamilkar seine Rede begonnen hat, ist zu Beginn der Rede Hannibals aufgenommen und umformuliert zu dem nüchternen Ausdruck Romani. Die Katastrophe, die für die Vergangenheit in dem Ausdruck der Hamilkar-Rede lag, kündigt Hannibal kurz darauf mit Rhoetea fata revolvam für die Zukunft an (ubi competet aetas). Nicht nur die Erwartungen Hamilkars nimmt Hannibal auf, sondern greift auch in dem Ausdruck terra atque undis früher dargestellte Wünsche der Iuno auf (37 terras pontumque), die eine baldige Erfüllung im Zusammenhang der Ausrufung zum Feld100 CROUZET 2010 führt die literarischen Erwähnungen an (S. 238), die vom Ende des 4. vorchristlichen bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert reichen, und wertet diese aus. 101 Vgl. RAKOB 1985; vgl. SCHWARTZ 2010, der mit seinen Mitarbeitern aufgrund von Skelettuntersuchungen zu einer Widerlegung der Hypothese von karthagischen Kinderopfern kommt. 102 Zu den rituellen Kindertötungen, die SILIUS für Karthago berichtet, vgl. KEITH 2010, S. 370f. 103 Zum Ablauf einer rituellen Schlachtung vgl. WISSOWA 1912, S. 417. 104 Die Handlungen Hamilkars können auf der anderen Seite in Parallele zum Vergilischen Iuppiter gegenüber Venus gesehen werden, denn der dortige Ausdruck olli subridens hominum sator … oscula libavit natae (VERG. Aen. 1,254–256) enthält wörtliche Anklänge (vgl. FEENEY 1982, ad 104–5). Diese Imitation betont die herausgehobene Bedeutung des Schwurszenarios, vgl. GANIBAN 2010, S. 79.
9.7 Die erzählte Zeit im Ritual
347
herrn versprechen (191 cessisse imperio tantum terraeque marisque). Entsprechend findet sich dort ein Rückbezug auf den Schwur.105 Hannibals Versicherung, sich von den Himmelsgöttern nicht hindern zu lassen (116f.), bildet einen Auftakt für die gleich nach seinem Schwur stattfindende Darbringung, die eben nicht an die Himmelsgötter, sondern an eine Unterweltgottheit gerichtet ist.106 Die Ankündigung Hannibals, die Friedensverträge nicht einzuhalten, greift zurück auf seine Träume (62 Siculo demergere foedera ponto), die auch, wie durch den Schwur betont, bereits die Alpenüberquerung und den Sturm auf das Kapitol zum Inhalt haben (65 fertur per summas passibus Alpes; 64 Capitolia penetrat). Der Schwur wird bekräftigt zum einen bei dem heimischen Kriegsgott, worin die Erwartungen Hamilkars aufgenommen sind, und zum anderen bei den Manen der Dido, worin der Wille Iunos manifestiert ist. Die einzige Tätigkeit, mit der Hannibal dargestellt ist, oder besser sich selbst darstellt, ist das Schwören (118 iuro). Dadurch, daß seine Rede nicht als eine Tätigkeit, die er ausführt, bezeichnet ist, sondern mit subicitque haud mollia dictu (113) als Tätigkeit Hamilkars und Folge von dessen Haßrede formuliert ist, erscheint Hannibal hier als passives Werkzeug und Sprachrohr Hamilkars.107 Nach der Rede Hannibals geht die Handlung präsentisch weiter mit hostia mactatur, recludit poscens und consulit. Da anfangs ein aktivisches Subjekt nicht bestimmt ist, entsteht zunächst der Eindruck, Hannibal sei der Ausführende, bis schließlich mit dem Satzende die sacerdos als Handelnde kenntlich wird. Dadurch ist nochmals die passive Rolle unterstrichen, in der Hannibal hier gezeichnet ist. Erst in der Schildbeschreibung, die ein weiteres Mal von dem Schwur erzählt, erscheint Hannibal, der inzwischen Sagunt eingenommen hat, als der Hauptagierende – als einer, der, wie mit der Eroberung geschehen, Blut vergießt.108
9.7 DIE ERZÄHLTE ZEIT IM RITUAL Nach der Haßrede, die die Stelle eines Gebetes ausfüllt, und dem Schwur setzt mit hostia mactatur die Darstellung des eigentlichen Rituals ein. Die vorausgehenden Verrichtungen in einer rituellen Schlachtung sind nicht erzählt,109 an deren Stelle 105 SIL. 1,185 hinc fama in populos iurati didita belli. 106 Mit seiner Abwendung von den Himmelsgöttern ähnelt er Atreus: SEN. Thy. 704f. deos terret minantes. 107 Darüber, ob Hannibal als Werkzeug Iunos anzusehen ist, streitet man. Meines Erachtens ist Hannibal in beiden parallelen Erzählsträngen als Werkzeug dargestellt: In der Iuno-Erzählung wird er in Vers 36 als agmina bezeichnet, in der Hamilkar-Erzählung erscheint er als Sprachrohr Hamilkars. 108 SIL. 2,426–428 parte alia supplex infernis Hanni bal aris / arcanum Stygia l i bat cum vate c ruore m / et primo bella Aeneadum iurabat ab aevo – auf der anderen Seite steht unterirdische Götter anflehend Hannibal, zusammen mit der stygischen Seherin libiert er heimliches Blut auf die Altäre und hatte der Aeneaden Bekriegung von einem frühen Alter her beschworen. (Zur Darstellung des Eides als Unrechtsakt s.o. Anm. 69). 109 Von der erzählten Zeit her liegt mit dem Nichterzählen eine Auslassung vor, die einen Aspekt der Geschwindigkeit des Erzählten darstellt.
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war metaphorisch von Hannibal als demjenigen gesprochen worden, der zur Ritualstätte geführt wird (fertur) und der die üblichen Behandlungen wie das Überstreichen und die Libation erfährt. Sein Schwur kann als sein Einverständnis-Geben, als freiwillige Darbringung seines Lebens, das ganz auf diese Rache ausgerichtet ist, verstanden werden. Nach den Redesituationen im langsamen Tempo einer Szene ist das Tempo für die Schlachtung in einer summarischen Darstellung beschleunigt (119–122). Die Tätigkeit des Befragens ist mit der Doppelung, die in poscens responsa und animam consulit liegt, stark betont. Doppelte Eile ist gefordert bei dem zweimal bezeichneten raschen Bewegen in f ugientem animam properatis consulit extis. Ein kleiner Zeitsprung, den das Vergangenheitstempus in intravit bezeichnet (124), beschleunigt in einer Rückblende die Darstellung nochmals. Die Wortform ast markiert wie zuvor der altertümliche Ausdruck olli (104) eine gehobene Sphäre. Das Befragen der Himmelsgötter (quaesitas ... intravit mentes superum, 123f.) hat bereits eingesetzt, als die sacerdos zu sprechen beginnt. Daß die Vorhersage nicht von der Unterweltgottheit eingeholt wird,110 sondern von Himmelsgöttern stellt einen Bruch dar,111 der einerseits verdeckt wird von der Bemerkung, es gehe nach altem Brauch (123 artis de more vetustae),112 und andererseits vorbereitet ist, indem für den Tempel Altäre für die Himmelsgötter genannt sind,113 obwohl das Ambiente des Heroons für die Ktistes Dido insgesamt stärker auf die Unterwelt ausgerichtet und sogar ein Vom-Himmel-abgewendet-Sein dargestellt ist (84 caelique arcebant lumine). Mit einer weiteren Bezeichnung für Italisches, Aetoli, schließt sich die Rede der sacerdos den beiden Reden von Hamilkar und Hannibal an. Die Ausdrücke gens recidiva Phrygum zu Beginn von Hamilkars Rede, Romani zu Beginn von Hannibals Rede und Aetoli am Anfang der Rede von der sacerdos stellen die Einheit der drei Reden her. Mit cerno bezeichnet die sacerdos den Vorgang des Vorhersehens, der Ausdruck steht jeweils im ersten und im letzten Satz ihrer Rede (126; 137). In einem ersten Teil (125–133) sieht sie die kriegerischen Geschehnisse im irdischen Bereich, in einem zweiten Teil mit Regenguß, Sturmwind und Blitzen die Kampfbeteiligung Iuppiters im Bereich der Götter (134–137). Ihre Schilderung entspricht den Bereichen, die im Prooem der Erzähler darzustellen versprochen hat.114 Die Vorhersage, die aus Vorgriffen auf verschiedene Kampferfolge und Taten besteht, ist mit cerno wie eine Teichoskopie gestaltet und hat von daher große Ähnlichkeit mit der Zukunftschau der Matrone bei LUCAN und der Einge110 Die Darstellung bietet eine Umkehrung derjenigen Verhältnisse bei LUCAN. 1,631–634: dort wendet sich der Seher Arruns an Iuppiter, jedoch zeigen die Unterweltgötter ihre Präsenz (s.o. Kap. Arruns). 111 SPALTENSTEIN 1986 vermerkt diesen Befund nicht. 112 SPALTENSTEIN 1986, ad 1,123, bewertet diesen Ausdruck lediglich als einen altertümlichaufwertenden Anstrich gebend. 113 SIL. 1,93 stant arae caelique deis Ereboque potenti hat eine Parallele in VERG. Aen. 6,247 vocans Hecaten caeloque Ereboque potentem, s.o. S. 340, zur sacerdos massyla. 114 S.u. S. 327; 329; 339.
9.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
349
weideschau der Manto in SENECAs Oedipus.115 Durch Interjektionen (131 ecce; 134 heu) und erstaunte Fragen (127f. quanta; 134 quaenam) ist diese Teichoskopie-ähnliche Rede wie die beiden genannten Vergleichstexte sehr lebendig gestaltet. Sogar ein erst undeutliches, dann genaueres Hinsehen, ein Schärfer-ins-AugeFassen ist nachgebildet (136f. magna parant superi. tonat ... bellantemque Iovem cerno).116 Ähnlich wie in der Eingeweideschau der Manto stehen mit dem genaueren Hinsehen wesentliche Dinge kurz vor der Entdeckung.117 Gerade dieser Prozeß des letzten Erkennens wird von Iuno unterbrochen.118 Iunos rasches Einschreiten ist im beschleunigten Tempo als Rückblende dargestellt (vetuit, conticuere). Das Verschweigen der weiteren Ereignisse wirkt Spannung aufbauend. Ein Kommentar des Erzählers beendet mit latent casus longique labores die Eingeweideschau und blendet endgültig aus der Handlung aus. Strukturell besteht mit dieser Handlungspause am Ende des Rituals, wenn eigentlich noch ein Ergebnis mitzuteilen wäre, starke Ähnlichkeit mit der Vergilischen Darstellung, die mit der Wendung heu vatum ignarae mentes (4,65) ein Ergebnis aus der Eingeweideschau der Dido gänzlich vorenthält.119
9.8 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN Als Kontext für die Eingeweideschau in den Punica konnte eine lange einleitende Passage im ersten Buch bestimmt werden, die vor dem eigentlichen Handlungsbeginn liegt, als Hannibal an der Spitze seines Heeres vor seinem ersten Angriff, dem Angriff auf Sagunt, steht (271). Auf diese Situation bildet die knappe Darstellung, daß Hannibal, der den Zorn der Iuno verinnerlicht hat, gegen die Römer den Kampf aufnimmt, einen Vorhalt (38–40). Von dieser Markierung aus, wo Hannibal als erwachsener Mann (vir) bezeichnet ist, verläuft die Chronologie der erzählten Ereignisse zurück bis in das Kleinkindalter Hannibals (78f.). Die verschiedenen Altersstufen, die in einer Reihung von Rückblenden durchlaufen werden, dienen als Folie, um den zornfördernden Einfluß der Iuno auf den heranwachsenden und denjenigen Hamilkars auf den ganz jungen Hannibal darzustellen. Beider ‚Förderer‘ Gründe für eine todbringende Rache an den Römern, mit denen auf beiden Seiten die Geschehnisse um Dido verquickt sind, werden dabei erläutert und kulminieren in der Schwurszene (81 ff.). Die zunächst in die Ver115 S.o. Kap. Tiresias und Manto. Wohl ist die Rolle der Manto in SEN. Oed., bes. 353–377, mit der der Matrone LUCANs kompiliert, denn die inspirierte Rede der Silianischen sacerdos ist vergleichbar der Rede der Lucanischen Matrone (LUCAN. 1,678–694: 679 video; 686 agnosco; 694 vidi). 116 Ein anfänglich nur vages, dann genaueres Erkennen ist auch geschildert beim Haruspex in der Cipus-Episode (OV. met. 15,778–580). 117 SEN. Oed. 372 scrutemur. 118 Das Verschweigen ist ein Motiv, das häufiger vorkommt, z.B. bei LUCANs Arruns oder bei den Göttern in SENECAs Oedipus oder in VERGILs Aeneis bei Iunos Einsatz in der Prophetie des Helenus (s.o. S. 344). 119 S.o. Kap. Dido.
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9 Hannibal (Silius Italicus, Punica 1,81–139)
gangenheit geführte Charakterentwicklung Hannibals wird kurz vor der Schwurszene wieder vorwärts gewendet (80 puerilis), so daß beim Schwur Hannibal als im Knabenalter stehend erscheint. Die an diese Passage anschließende knappe Darstellung über das weitere Leben und den Tod Hamilkars (140–143), dann eine nur wenig längere Darstellung über dessen Nachfolger Hasdrubal (144–168) und schließlich die Schilderung der Vorkommnisse im Heer nach dessen Ermordung überbrücken die Zeit, bis Hannibal zum Feldherrn ausgerufen wird (189) und bereit ist, Sagunt anzugreifen (271), womit der zweite Punische Krieg eingeleitet wird. Der einleitende Teil endet erst hier, nachdem die causae der Iuno und diejenigen Hamilkars dargestellt worden sind. Der Tempel (81–98), in dem Schwur und Eingeweideschau stattfinden, ist entsprechend der Motivation Iunos und Hamilkars, den Römern Tod zu bringen, mit Nähe zur Unterwelt ausgestattet. Diffus erscheint im Szenario des Tempels Dido als weitere Ursache für den Haß auf die Römer, die alle Beteiligten zusammenführt, jedoch wird der Grund, der Dido zum Haß veranlaßte, nicht genannt. Einigen Komponenten nach scheint das Heiligtum für Dido als der Stadtgründerin errichtet zu sein, aber die in dem Tempel wirkende sacerdos dient einer Göttin von Henna und schlachtet für diese, die als eine Unterweltgottheit gekennzeichnet ist, ein Tier. Von daher erscheint diese von SILIUS aus verschiedenen Darstellungen kompilierte Göttin als Hauptgottheit des Tempels. Die Nennung der Göttin von Henna, die sich mit Ceres assoziieren läßt, und die Bezeichnung triformis diva, die auf Hekate anspielt, bietet literarische Anknüpfungspunkte vor allem an die Dido-Episode, aber auch an die Sibylle VERGILs. Zugleich ließ sich mit der Göttin von Henna auf historischer Ebene eine Verbindung zu Hamilkar erkennen, da dieser den Kampf um das sizilische Enna verloren hatte. Daß SILIUS in der Stadt Karthago ein Heiligtum für eine Göttin von Henna darstellt, konnte mit einer Kompilation erklärt werden, die literarische Tradition und historische Begebenheiten miteinander verknüpft. Sowohl der Tempel als auch die sacerdos ließen sich auf verschiedene Darstellungen, vor allem Darstellungen aus der Aeneis VERGILs als ihrem literarischen Vorbild zurückführen. Dabei werden verschiedene Textstellen sehr geschickt zu einer recht geschlossen erscheinenden Darstellung kompiliert. Bei der neu entworfenen, eigenständigen Szenerie schimmert jedoch – was einen literarischen Reiz ausmacht – unablässig die Aeneis hindurch.120 Die nachweisbar starke literarische Abhängigkeit läßt es nicht angebracht erscheinen, in Karthago nach einem historischen Gebäude zu suchen, das dieser Beschreibung des SILIUS entspricht. Mit dem Tempel, seinem Personal und den Gottheiten hat SILIUS eine Fiktion entworfen, als deren historischer Kern historiographische Berichte über einen Schwur Hannibals, der in einem Iuppiter-Heiligtum stattgefunden haben soll, anzusehen ist. Es konnte gezeigt werden, wie die Düsternis der Silianischen Tempeldarstellung eine Atmosphäre der Todesnähe und Angst erzeugt und daß auf diesem Hintergrund beim Rezipienten die Erwartung einer Kindestötung geweckt wird. Ent120 Dazu im Allgemeinen VON ALBRECHT 1994, S. 763.
9.8 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
351
sprechende Ausdrucksweisen für die Behandlung, die Hannibal erfährt, lassen an eine rituelle Schlachtung denken. Metaphorisch ist auch die sich diesen Handlungen anschließende Haßrede Hamilkars als ‚Gebet‘ im Ritual zu verstehen. Als metaphorische Darbringung ist Hannibal zu sehen, der mit seinem Schwur sein Einverständnis gibt, sein Leben zu geben, es der Rache Didos, in der die kriegerischen Interessen aller kulminieren, zu widmen. Hannibal ist in diesem Abschnitt der Passiv-Erduldende, er erscheint bei dem Fehlen von Tätigkeitswörtern nicht einmal als Redender, sondern im iuro als Sprachrohr Hamilkars. Für die Bekräftigung seines Schwurs beruft Hannibal sich neben einem heimischen Kriegsgott auf die Manen Didos. Die Formulierung per manes, regina, tuos (119) war nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell als bedeutend herausgestellt worden, da er an zentraler Stelle steht, genau in der Mitte des 11 Verse langen Teilabschnitts, der zwischen zwei jeweils 15 Verse langen Abschnitten steht, die zusammen den Passus über die Geschehnisse im Tempel bilden. Die eigentliche rituelle Schlachtung ist mit mactatur sehr knapp geschildert (119f.). Pleonastisch drückt dagegen ein recludere, responsa poscere, animam consulere, quaesitae mentes, intrare mentes (120–124) das drängende Befragen, die Intensität des Fragens aus. Die darauffolgende wörtlich wiedergegebene Vorhersage gestaltet die historisch überlieferten Nachrichten über den Verlauf des Hannibalischen Krieges in einem vaticinium ex eventu. Als widersprüchlich bei der Vorhersage war aufgefallen, daß die Darbringung einer Unterweltgottheit gilt, jedoch die Befragung dann an die Himmelsgötter (superi) gerichtet ist. Ob hier darstellerische, vom Kontext beeinflußte Gründe vorliegen, indem durch die Vorhersage der sacerdos der Erzähler selbst spricht, war in Betracht gezogen worden, denn der Erzähler hatte im Prooemium angekündigt, die Absichten der Himmlischen zu enthüllen (1,17–19 superas recludere mentes), so daß mit dem UmWenden der Befragung an die Himmelsgötter im Ritual die zwei Mitteilungsabsichten, die der sacerdos und die des Erzählers zusammentreffen. Ob zudem nicht die Realitäten der historischen Umwelt gegen eine Darstellung sprechen, eine Weissagung werde von Unterweltgöttern eingeholt, war zu vermuten, jedoch nicht ohne eine Analyse von Vergleichstexten, die hier nicht stattfinden kann, zu belegen. Textimmanent veranlaßt eine Darbringung an Götter der Unterwelt, daß Hannibal sich von den Himmelsgöttern abwendet (116). Die Darstellung des gesamten Ritualverlaufs bricht mit dem Ende der unvollständig bleibenden Vorhersage ab und gibt keine weitere Auskunft über Handlungen, die in einem historischen Ritus zu erwarten wären. Als Schlüsselereignis bildet der historiographisch überlieferte Schwur Hannibals mit der von SILIUS literarisch wie historisch bezugreich gestalteten Eingeweideschau den Spannung entwickelnden Auftakt für die Darstellung des zweiten Punischen Krieges, die SILIUS ITALICUS in seinem Epos verfolgt.
10 EIN FAZIT AUS DEN LITERARISCHEN ANALYSEN Religionswissenschaftliche Beschreibungskategorien wie Anlaß und Ergebnis einer Schau spiegeln das Interesse an einer Rekonstruktion historischer Wirklichkeit wider. Sie können jedoch nicht die Essenz in einer literarisch stark überformten Darstellung bilden: Die Protagonisten, die Fokussierung auf diese, das fast vollständige Fehlen von rituellem Personal, die speziellen Konfliktsituationen oder die Breite der Deutungswege und Lösung der Konflikte erfordern, daß die Literarizität der dargestellten Riten berücksichtigt wird. Schon die Materialbasis gab Hinweise, denn sämtliche ermittelten Darstellungen sind poetische Texte, hohe Dichtung, und ihre Verfasser, VERGIL, OVID, SENECA, LUCAN und SILIUS ITALICUS, sind Vertreter der sogenannten Goldenen und Silbernen Latinität. VERGIL, LUCAN und SILIUS ITALICUS präsentieren ihre Darstellung einer Eingeweideschau in einem Epos. OVID gibt seiner Cipus-Episode aus den Metamorphosen, einem hexametrischen Kollektivgedicht, episches Kolorit. SENECA bedient sich in seinen beiden Darstellungen der Gattung der Tragödie. In fast allen Darstellungen, so konnte gezeigt werden, war die Eingeweideschau zum Aufbau eines Spannungsbogens genutzt worden. Das Fragenstellen und die Ungewißheit bei der Antwort bietet diese Möglichkeit einer literarischen Funktionalisierung an. Lediglich im Thyestes liegt der Schwerpunkt nicht auf der Eingeweideschau mit einer erwarteten Ankündigung als Gestaltungsmittel, sondern die Morde, das Zerkleinern und Zubereiten und das anschließende Mahl sind zentral. Wie gezeigt werden konnte, kommt es in keiner der ausgewählten literarischen Darstellungen zu einer vollständigen Weissagung aus der Eingeweideschau. Deshalb dürfen sich weitergehende Fragestellungen zu diesem Ritus nicht an dem Ergebnis aus der Schau ausrichten. Statt dessen soll hier nach einer religiösen Kommunikation1 gefragt werden, die sich im und um den Ritus abzeichnet. Mit Ansätzen zur Frage einer religiösen Kommunikation lassen sich zunächst auf inhaltlicher Ebene die poetischen Darstellungen vergleichend beschreiben. Außer in der Darstellung in LUCANs Bellum civile, dem Bürgerkrieg, geht es in allen anderen Darstellungen um das Schicksal eines einzelnen, einer Herrscherfigur, an deren persönliches Schicksal das Staatswohl gebunden ist. Bei der historischen Entwicklung von der römischen Republik zu einem Staat, der von einem einzelnen geführt wurde, hatten sich die Dinge verändert. Die Zeit der Staatsprodigien in der Republik ist vorüber; daß die res publica mit gemeinschaftsfördernden Prodigiensühnungen in Aktion zu treten hatte, war nicht mehr ihre Sache. Die neue Regierungsform unter Augustus, die ihre Vorläufer in den Machtkämpfen des ersten Jahrhunderts v. Chr. hatte, brauchte die religiösen Mechanismen, die einer Kommunikation zwischen Volk, Senat und deren Institutionen diente, im1
Vgl. RÜPKE 2001.
10.1 Status und Veränderung: Das Überschreiten von Grenzen
353
mer weniger. Konfliktanzeigen konnten nicht mehr eine Störung des Gemeinwesens verdeutlichen, sondern mußten sich primär auf den einzelnen, der die Macht im Staat hatte, beziehen. Gegenüber den Staatsprodigien, denen immer mit kollektiven Entsühnungsleistungen begegnet wurde, waren die dem Schicksal des einzelnen geltenden Omina in den Vordergrund gerückt.2 In den in der vorliegenden Arbeit untersuchten Darstellungen stehen die Protagonisten alle mit ihrem Konflikt zwischen persönlichem Glück und Sorge um den Staat. Vorzeichen gelten ihnen und zugleich der von ihnen ausgeübten Herrschaft. Diese Form, die die Frage von Verantwortung für den Staat so stark mit dem Schicksal des Herrschers, dem Protagonisten, verbindet, scheint erst mit dem Ende der Republik denkbar.
10.1 STATUS UND VERÄNDERUNG: DAS ÜBERSCHREITEN VON GRENZEN In sämtlichen Beispielen ist der Konfliktfall mit einer Statusveränderung verbunden: Dido hat zwar Treue geschworen, möchte aber eine neue eheliche Verbindung eingehen. Cipus hat die Republik siegreich verteidigt und müßte sie jetzt selbst zu Grunde richten, indem er rex würde. LUCAN schildert den Übergang für das römische Volk zum Bürgerkrieg. Oedipus ist König in Theben und muß diesen Status aufgeben. Atreus ist zwar schon König, er täuscht jedoch den Übergang zu einer gemeinsamen Herrschaft mit seinem Bruder Thyestes vor und, indem er die Konkurrenz, seine Neffen, beseitigt, sichert er seine Herrschaft vollends. Hannibal muß nach seines Vaters Niederlagen gegenüber Rom dann die Siege für Karthago holen.
10.2 PERSÖNLICHES SCHICKSAL UND STAATSWOHL Eine Verbindung von persönlichem Schicksal des Protagonisten mit dem Zustand des Staates ist in unterschiedlichen Graden gegeben. Diametral ist der Bezug von Glück des Protagonisten und Staatswohl in den Beispielen von Oedipus und Cipus, in sehr ausgeprägtem Maße bei Oedipus: Sein persönliches Glück, seine Gesundheit und sein gesellschaftlicher Status, steht konträr zum Wohlbefinden der Bevölkerung, die von der Pest dahingerafft wird. Erst eine radikale Veränderung seiner persönlichen Verhältnisse, sein Erblinden als gesundheitliche Einschränkung und sein Fortgehen als profugus (1051), können der Bevölkerung zur Gesundung verhelfen. Weniger scharf ist der Gegensatz bei Cipus: Wenn Cipus die persönliche Statusverbesserung umsetzt und die Herrschaft einnimmt, wird die Republik untergehen; wenn Cipus nicht zurückgeht, bleibt sie erhalten, aber Cipus nimmt den Status eines Verbannten (589 exsul) an. So verliert bei dieser Lösung der Staat einen hochangesehenen Bürger, aber er bleibt als Republik erhalten;
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Vgl. ROSENBERGER 2001b, S. 87, und 1998, S. 9; S. 197–240, bes. S. 237.
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10 Ein Fazit aus den literarischen Analysen
Cipus verliert nicht sein Leben (602 fatalis morte tyranni) und seine Verbannung mildernd erhält er eine Landschenkung. Dagegen stehen die persönlichen Angelegenheiten ganz im Vordergrund bei Atreus und Dido. Dido formuliert die Liebesangelegenheit als ihr eigentliches Anliegen, nur sekundär kommt durch Bemerkungen ihrer Schwester Anna die Sorge um die Stadt hinzu.3 Dennoch stehen diese beiden Aspekte in enger Beziehung, denn Didos persönliches Unglück, das zu ihrem Selbstmord führt, bedeutet zugleich den Untergang ihrer Stadt. Dagegen ist Atreus von Rachegedanken erfüllt, Rache an seinem Bruder Thyestes für einen doppelten Betrug mit dem Ehebruch, durch den Thyestes erst in den Besitz des goldenen Widders, der die Macht bedeutet, gelangen konnte. Das Staatswohl ist von geringer Bedeutung, es geht allein um die persönliche Machtposition von Atreus. Ganz in den Hintergrund gerückt ist das persönliche Schicksal bei Hannibal. Sein Dasein ist allein auf die Ausübung von Macht gerichtet. Persönliche Aspekte fehlen nicht völlig, sie kommen darin zum Tragen, daß Hannibal durch seinen Schwur als Rächer eintritt für die Niederlagen, die sein Vater Hamilkar gegen Rom erlitten hat, und für die Kränkung, die Dido durch Aeneas erfahren hat. Lediglich in LUCANs Bellum civile gibt es, wie oben vermerkt, in dem betreffenden Abschnitt keinen Protagonisten, mit dessen Schicksal das Wohl des Staates verbunden wäre.
10.3 OMINA ODER PRODIGIEN? Bei der Verbindung von persönlichen Angelegenheiten des Protagonisten mit den Angelegenheiten, die deren Rolle als Herrscher betreffen, ist es aufschlußreich, zu bestimmen, ob die Vorzeichen, die eine Eingeweideschau nach sich ziehen, ihnen als Privatperson oder als Vertreter des Staates gelten, ob diese Zeichen als Omina oder Prodigien aufgefaßt werden können. Wichtigstes Kriterium ist die Öffentlichkeit der Vorgänge. Einzig klar als Staatsprodigien sind die Vorzeichen erkennbar, die LUCAN in einem langen Katalog der Eingeweideschau voranstellt. Die Vorgehensweise, die bei einem römischen Prodigium zu beachten war,4 läßt sich hier nachzeichnen: Die vielfach beobachteten Vorzeichen werden als Ankündigung von Unheil größeren Ausmaßes von seiten der Götter aufgefaßt.5 Der Vorgang der Meldungen an den Senat und seine Entscheidung über die Annahme des Prodigiums ist nicht dargestellt, ist jedoch Voraussetzung für die knapp angedeutete Maßname, das Zeichen zur Deutung an religiöse Experten weiterzuleiten (584 placuit). Aus den drei 3
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VERG. Aen. 4,47f. quam tu urbem, soror, hanc cernes, quae surgere regna / coniugio tali – Welch’ eine Stadt, Schwester, welche Herrschaft wirst du erstehen sehen durch eine solche Ehe – 682f. exstinxti te meque, soror, populumque patresque / Sidonios urbemque tuam – dich ausgelöscht hast du und mich, Schwester, und das Volk, die Sidonischen Vorfahren und deine Stadt. Vgl. ROSENBERGER 1998, S. 23f.; ROSENBERGER 2001b, S. 71f. LUCAN. 1,523f. addita fati / peioris manifesta fides; 524f. superique minaces.
10.3 Omina oder Prodigien?
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Gremien, den pontifices, decemviri und haruspices, die historisch für diese Aufgabe zu Verfügung standen, ist in dieser literarischen Darstellung die Entscheidung auf die etruskischen Seher gefallen (584f. Tusci ... vates). Es vertritt ein etruskischer Seher die Gruppierung der Haruspices, der hier jedoch nicht haruspex genannt wird. Dieser Experte ordnet kollektive Sühneleistungen an: Beseitigung von Mißgeburten und eine Prozession um die Stadt unter Leitung der Pontifices, an der die Bürger und etliche kleinere und größere Sakralkollegien beteiligt sind.6 Blitzbestattungen führt der Experte aus und schließt mit der Schlachtung eines Stieres ab. Alle Unternehmungen werden öffentlich abgehalten. Jedoch erzielen in diesem Fall die Sühneleistungen, die Prokurationen keinen Erfolg. Aus dem Tötungsvorgang und letztlich den Eingeweiden des Stieres ist ein Fortbestehen des Götterzornes (617 ira superum) erkennbar, eine Wiederherstellung der pax deorum ist nicht geglückt (632 nec ... litavi). Ungewöhnlich erscheint, daß hier mit der Prokuration eine Zukunftsschau verbunden ist. Der Seher erkennt magnorum fata malorum (630) und, was auch immer die Götter in Gang setzen,7 möchte er nicht verkünden müssen (632 prodere). Als normal betrachtet die Forschung, daß bei Prokurationen in der Zukunft liegende Ereignisse nicht berührt werden.8 Hier jedoch fließen beide Bereiche zusammen. Vielleicht ist diese Stelle als Beleg für die Einschätzung zu werten, daß im Unterschied zu den Pontifices und den Decemviri die Haruspices weitreichende Auskünfte geben konnten, wie die Benennung der Götter, die das Zeichen gesandt hatten, den Anlaß für den Zorn sowie die Entsühnungshandlungen und sogar noch Warnungen.9 Strukturen von Staatsprodigien lassen sich auch in der Cipus-Episode OVIDs aufzeigen, die die Zeit der römischen Republik nachzeichnet. Hier wird mit der Frage, ob ein Omen oder ein Staatsprodigium vorliegt, gespielt: Cipus selbst formuliert die Alternativen in seiner Rückfrage an die Götter.10 Später spricht er von omina11 und definiert dadurch die Zeichen als ihm persönlich geltend, deren Annahme er auch hätte verweigern können; in der Version des VALERIUS MAXIMUS ist klar von einem Prodigium gesprochen. Bei der rituellen Schlachtung, die durch 6 7 8
LUCAN. 1,595–604. LUCAN. 1,631 quaecumque movetis. ROSENBERGER 1998, S. 70; S. 61: „Da nach römischem Verständnis ein Prodigium in den meisten Fällen lediglich den Zorn der Götter wegen einer religiösen Verfehlung ausdrückte, waren die Empfehlungen der Priester auf die Bekanntgabe der richtigen Entsühnungsriten reduziert; eine Deutung der Zukunft geschah nicht, nur höchst selten wurden die der res publica drohenden Gefahren benannt.“ 9 Vgl. ROSENBERGER 1998, S. 52f.: „Im Unterschied zu den Pontifices und den Decemviri konnten sie [sc. die Haruspices] weitreichende Auskünfte geben und nannten nicht nur die Götter, die das Zeichen gesandt hatten, den Anlaß für ihren Zorn sowie die nötigen Entsühnungshandlungen, sondern verkündeten bisweilen auch noch Warnungen. Ihre Ratschläge gewannen die Haruspices aus ihren heiligen Büchern, vor allem aus den libri rituales und den ostentaria.“ Vgl. dagegen das Zitat in Anm. 8. In den beiden Aussagen liegt meines Erachtens ein Widerspruch oder zumindest eine Unschärfe. 10 OV. met. 15,572f. seu laetum est, patriae laetum populoque Quirini / sive minax, mihi sit. 11 OV. met. 15,587f. ‚procul, a, procul omina,‘ dixit / ‚talia di pellant‘ – ‚weit, ach, weit‘ sagte er, ‚mögen die Götter solche Omina fernhalten.
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10 Ein Fazit aus den literarischen Analysen
eine Eingeweideschau der Klärung der Lage dienen soll, wirkt ein Haruspex mit. Die Klärung erfolgt dann aber eigentlich durch den Anblick der Hörner und nicht durch die Eingeweideschau. Der Haruspex ist Übermittler einer Rückantwort, die eine bedrohliche Situation für die Römer anzeigt. Diese Bedrohung meldet Cipus sofort (extemplo) dem Senat (590f.). Daraufhin findet vor der Stadt eine ausführliche Beratung im Senat gemeinsam mit dem Volk statt. Man verhandelt über die Maßnahmen einer Prokuration. Cipus selbst trägt drei Vorschläge vor, wie mit dem Mann, an dem die Götterzeichen sichtbar geworden sind, zu verfahren ist, und gibt sich zu erkennen. Man einigt sich auf ein mildes Vorgehen: Cipus erhält keinen Zutritt mehr in die Stadt; sein exilium nimmt die Stelle einer Prodigiensühnung ein. Auf der Folie von römischen Staatsprodigien ist die von OVID gegenüber seiner Vorlage stark ausgeweitete Szene mit Volk und Senat als Meldung eines Prodigiums, Beratung und Beschlußfassung zu verstehen. Die Breite der Darstellung betont die herausgehobene Funktion von Volk und Senat zur Repräsentation einer republikanischen Öffentlichkeit. Bei den Vorgängen um Oedipus, deren Schauplatz im griechischen Raum liegt, fehlen die wichtigen Bestandteile, Senat und kollektive Sühneleistung, die das römische Prodigienwesen kennzeichnen. Zwar wird auch hier nach Empfang von Vorzeichen, als die die Seuche aufgefaßt wird,12 eine Sühneleistung angestrebt, aber diese obliegt allein dem Herrschenden, dem Protagonisten.13 Es steht das Wohl des Staates gegen das persönliche Wohl der Herrscherfigur und dieser Konflikt wird formuliert.14 Die Suche nach demjenigen, dessen Bestrafung Oedipus geschworen hat,15 die Suche also nach ihm selbst, ist öffentlich. Neben dem vordergründigen Anlaß, den Königsmord zu sühnen, wodurch Oedipus persönlich betroffen ist, weil er selbst seinen Vater erschlagen hat, gibt es im Hintergrund eine politische Ebene: Denn Oedipus war mit seiner Aussetzung als Kind quasi verbannt worden, aber befindet sich nun in der paradoxen Situation als einstmals Verbannter Staatsoberhaupt zu sein. Der Erfolg aus den Deutungen der Omina, die zu einer (Selbst)-Verbannung des Oedipus führt, wird letztlich dem Volk mitgeteilt, dessen Gesundung die Vorgänge ermöglichen.16 Zugleich ist mit seinem endgültigen Exil, wie die Leberschau mit den versperrten thebanischen Stadttoren zu interpretieren ist, die politische Ordnung wiederhergestellt. 12 SEN. Oed. 29–31 nam quid rear quod ista Cadmeae lues / infesta genti strage tam late edita / mihi parcit uni? – Was sonst denn soll ich denken, da doch diese Pest, die weit und breit verheert, dem Kadmosvolke feindlich, nur mich verschont? (Übers. HELDMANN). 13 SEN. Oed. 217 caedem expiari regiam exilio deus – den Königsmord zu sühnen mit Verbannung, befiehlt der Gott. (Übers. HELDMANN). 14 SEN. Oed. 830f. concurrit illinc publica, hinc regis salus / utrimque paria – hier trifft das allgemeine Wohl auf das des Königs, beide gleich bedeutend. (Übers. HELDMANN). 15 SEN. Oed. 257–259 cuius Laius dextra occidit, / hunc non quieta tecta, non fidi lares, / non hospitalis exulem tellus ferat – durch wessen Rechte Laius fiel, den soll kein Dach zur Ruhe, keines Herdes Schutz zur Obhut, kein Land als Gast empfangen, den Verbannten. (Übers. HELDMANN). 16 SEN. Oed. 1052 quicumque fessi corpore et morbo graves / semanima trahitis pectora, en fugio, exeo: relevate colla – ihr alle, die ihr kraftlos und beschwert vom Kranksein nur todesmatt noch atmet: seht her, ich fliehe, gehe fort: Erhebt das Haupt! (Übers. HELDMANN).
10.3 Omina oder Prodigien?
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Auch die Zeichen, die Dido empfängt, sind als Omina zu werten. Sie gelten nur ihr persönlich, das Volk gerät lediglich in Mitleidenschaft durch den Verlust ihrer Königin. Anfangs ängstigen Dido Träume (9 quae ... me insomnia terrent – welche Träume schrecken mich); eine Klärung wegen des Dilemmas, das im Dialog mit Anna formuliert ist, soll durch eine Eingeweideschau erfolgen. Jedoch kommt es dabei nicht zu einer Klärung, sondern erst in der Höhlenhochzeit gibt es weitere Vorzeichen, die aber außerhalb von Didos Wahrnehmung bleiben, obwohl sie selbst in ihrem Treueid ein tellus dehiscat für sich bestimmt hat. Später nimmt Dido stärkere Omina wahr, insbesondere am Erinnerungsmal für ihren Gatten (450–473). Über die Träume zu Anfang hat sie nur ihrer Schwester erzählt, über die Omina später nicht einmal ihr.17 Außer für die rituellen Schlachtungen, die auf öffentlichen Plätzen, sakralen Bezirken (ante ora deum), stattfinden, fehlt für die empfangenen Zeichen eine Öffentlichkeit. Fehlende Öffentlichkeit kennzeichnet auch den Racheschwur Hannibals. Eigentliche Vorzeichen im Sinne von göttlichen Unmutsankündigungen gibt es hier keine, folglich sind auch Sühneleistungen kein Thema. Prodigien liegen hier nicht vor. Auf einer metaphorischen Ebene ist als Vorzeichen das Verhalten von Hannibal bei seinem Eintritt in den Kultraum zu werten, denn Hannibal wird von seinem Vater beobachtet, als sei er das darzubringende Schlachttier (99–105, bes. habitus atque ora explorat).18 Metaphorisch kann man Hannibal als denjenigen betrachten, der dargebracht wird, denn sein ganzes Dasein wird mit dem Schwur für den Krieg gegen Rom bestimmt. Die Zeichen, die Hannibal selbst liefert, Zeichen von Unerschrockenheit, liefern in rationalistischer Weise Omina für sein kriegerisches Leben. Die von allen Beispielen einzige ausformulierte Weissagung aus einer Eingeweideschau zeichnet seine kriegerischen Erfolge vor. Die fehlende Öffentlichkeit ist das Hauptmerkmal bei den ‚rituellen Handlungen‘, die Atreus aus Rache gegen seinen Bruder ausführt. Schreckenszeichen, wie Zitterns des Waldes, Erdbeben und Kometenflug bedeuten ihm persönlich die Zustimmung der ‚dunklen Mächte‘ der Unterwelt, dagegen gelten ihm Verwandeln des Weines in Blut, Herunterfallen des königlichen Kopfschmuckes, Tränenrinnen der Elfenbeinbildnisse (698–702) als Mahnung der Himmelsgötter, von seinem Mordvorhaben abzulassen. Staatsinteressen fließen nur insofern ein, daß Atreus vorgibt, zusammen mit Thyestes die Herrschaft ausüben zu wollen (526– 529; 534 recepit hoc regnum duos), und für diesen Amtsantritt die entsprechenden ‚Riten‘ leisten will (544f.).
17 VERG. Aen. 4,456 hoc visum nulli, non ipsi effata sorori – von dem Gesehenen sagt sie niemandem etwas, selbst nicht ihrer Schwester. 18 Vgl. die Formulierungen SEN. Oed. 336 placido vultu sacra ... patiuntur; SEN. Thy. 719 quo iuvenis animo, quo tulit vultu necem.
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10 Ein Fazit aus den literarischen Analysen
10.4 DIE KOMMUNIKATION MIT DEN GÖTTERN Welche Götter den Protagonisten ihre Mitteilung senden, somit als Adressanten in einer religiösen Kommunikation fungieren,19 und welche Götter die Empfänger, also Adressaten, sind, ist literarisch häufig zur Entwicklung der Problematik genutzt, indem die Kommunikation aneinander vorbeiläuft. In der Dido-Episode gibt es keine Götter, die sich sicher als Adressanten bestimmen ließen. Fälschlich vermutet Anna die Göttin Iuno als Senderin von Zeichen für eine Heirat (45 dis auspicibus ... et Iunone secunda). Nach beunruhigenden Träumen unbestimmten Absenders sucht Dido, ganz allgemein die Gunst der Götter zu sichern (50 poscere veniam deos). Mit ihren rituellen Schlachtungen und Gebeten wendet sich Dido an ganz bestimmte Götter: Ceres, Phoebus, Pater Lyaeus und Iuno, sämtlich Himmelsgottheiten, gelten ihr als Adressaten, aber weder ihr Anliegen noch eine Antwort ist für die Eingeweideschau formuliert. Die Götterreihung ermöglicht zumindest, das Anliegen zu erschließen. Insgesamt deuten zahlreiche Formulierungen wie sacra litare (50), delubra adire, pacem per aras exquirere (56f.), spatiari ad aras (62), instaurare diem donis (63) und consulere exta (64) in einer ‚Verdinglichung‘ auf eine nicht gelungene Kontaktaufnahme zu den Göttern trotz der speziellen Bemühungen Didos. Diese literarische Technik kann man als Metonymie bezeichnen, in der kultisch Relevantes, Gegenstände und Abstrakta, für die Götter eintritt. Daß ganz bestimmte Himmelsgötter als Adressaten genannt werden, bildet eine Ausnahme unter den übrigen Beispielen. Die superi, die Himmelsgötter, sind diejenigen, an die Cipus sich nach Entdeckung seiner Hörner wendet (571). Nach der Eingeweideschau ruft er wiederum ganz allgemein die Götter als Adressaten an (588 di). Jedoch als Adressanten sind diese in der Darstellung nicht sicher bezeichnet. Selbst die durch consulit eigentlich an jemanden zu richtende Frage ist mit exta consulit sozusagen ‚götterlos unpersönlich‘ formuliert, wie auch zuvor schon die Wendungen ad caelum oculos / bracchia tollens, placat aras, vina dat pateris. Die Antwort ist in gleicher Weise unpersönlich gehalten, es befehlen die Schicksalssprüche (584 fata iubent). Götter als Handelnde kommen in dieser historisierenden Darstellung OVIDs nicht vor. In dieser entpersonalisierenden Technik bei den rituellen Tätigkeiten insgesamt besteht große Ähnlichkeit zu der Darstellung VERGILs. Die superi gelten zunächst auch bei LUCAN als Kommunikationspartner, zuerst mit dem Prodigienkatalog in der Rolle von Adressanten (524f. superique minaces). Als Adressat der Prodigien ist der Senat von Rom zu bestimmen. Dieser ist nicht direkt erwähnt, sondern wird im placuit (584), dem Beschlußfassen im Senat, sehr dezent angedeutet. Diese im Ausdruck implizierte schwache Präsenz des Senates läßt sich als Kennzeichen seiner politischen Handlungsschwäche interpretieren. Bei einer sekundären Kommunikation, der Rückfrage durch die Eingeweideschau, sind entsprechend der Vorgabe durch die Prodigien die Himmelsgötter die Adressaten (617 iram superum ... quaesivit). Ihre über den schlechten 19 Zum Kommunikationsmodell mit Adressaten und Adressanten vgl. RÜPKE, 2001, S. 25.
10.4 Die Kommunikation mit den Göttern
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Zustand der Eingeweide vermittelte Antwort fällt so negativ aus, daß in starker Ironie Arruns das Extrem zu den Himmelsgöttern, die Unterweltgötter, als Adressanten vermutet.20 Einzig speziell als Adressat ist der höchste Gott, Iuppiter (632f. summe ... Iuppiter) genannt, der das Friedensangebot, das in der Darbringung (633 hoc sacrum) formuliert ist, jedoch ablehnt. Für Oedipus ist als Adressant Phoebus erkennbar (34 Phoebi reus). Mit einer Befragung des Apollon-Orakels in Delphi hatte dieser bereits eine Antwort erhalten, sie jedoch nicht gänzlich verstanden. In der Eingeweideschau, die daraufhin veranlaßt wird, sind als Adressaten viel allgemeiner als zuvor die Himmelsgötter angesprochen (304 superos voca). Diese geben ihren Zorn zu erkennen (321 solet ira certis numinum ostendi notis), doch werden auch sie nicht recht verstanden. Bei einem dritten Versuch der Klärung werden Götter der Unterwelt angesprochen: die Manen, der Totengott und der Wächter des Totenreiches (559f.; 568).21 Es antwortet bellend Hekates Meute (569 latravit Hecates turba), so daß eine Kommunikation ermöglicht scheint (571 audior vates ait). Durch eine Wiederholung der an die Unterwelt gerichteten ‚Gebete‘ (621 Stygiae preces) gelingt es, den Totenschatten des ermordeten Laius zu befragen. Nach der Klärung, mit wessen Bestrafung die Götter zu besänftigen wären (deos placemus),22 sieht Oedipus nicht nur die Himmelsgötter, sondern auch die Unterweltgötter als Adressanten für sich (765f. autumant superi inferique).23 Folglich wendet er sich bei der Bestrafung seiner Selbst an die Gesamtheit der Götter (974f. deos conclamat omnes). Letztlich, vor seinem Gang in die Verbannung, gilt ihm wieder Phoebus als Adressat (1046 o Phoebe). Anders als in den bisher beschriebenen Passagen sind bei Hannibal nicht die Götter diejenigen, die sich als Adressanten zuerst bemerkbar machen, sondern Hannibal nimmt als erster den Kontakt auf. Veranlaßt von seinem Vater spricht er in seinem Fluch betont den heimischen Kriegsgott und die Manen der karthagischen Königin an (118f.).24 Mit dieser vorgegebenen unterweltlichen Orientierung gilt seine anschließende Darbringung einer dreigestaltigen Göttin, wie sonst Hekate bezeichnet wird, hier kontextbedingt aber eher an Ceres, Göttin von Henna, zu denken ist (119f. triformis diva), dennoch ist die Anfrage der sacerdos an die Himmelsgötter gerichtet (123f. quaesitae mentes superum). Eine Antwort wird empfangen, bleibt aber durch die Intervention der Iuno unvollständig (136f.).25
20 LUCAN. 1,634 inferni uenere dei – die Unterweltgötter sind hineingeraten. 21 SEN. Oed. 559f. vocat inde manes teque qui manes regis / et obsidentem claustra letalis lacus – dann ruft er die Manen und dich, der du die Manen regierst, und den, der die Tore des Totengewässers bewacht; 568 manes ... citat – er ruft die Manen. 22 SEN. Oed. 510 cuius capite placemus deos – durch wessen Kopf wir die Götter besänftigen. 23 SEN. Oed. 765f. es verkünden die Götter droben und die in der Tiefe ... (Übers. HELDMANN). 24 SIL. 1,118f. hanc mentem iuro nostri per numina Martis, / per manes, regina, tuos – diese Haltung schwöre ich bei den göttlichen Erscheinungen unseres Mars und bei deinen Manen, Königin. 25 SIL. 136f. venientia fata / scire ultra vetuit Iuno – die kommenden Schicksale weiter zu wissen verhinderte Iuno.
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10 Ein Fazit aus den literarischen Analysen
Ebenso nimmt Atreus den Kontakt zuerst auf und gibt bei seiner Täuschung vor, den Himmelsgöttern Gaben darbringen zu wollen (545).26 Für seine ‚Gebete‘ sind keine Adressaten benannt (691 funesta prece). Als Adressanten, die Atreus ihre Zustimmung geben, sind in einer Gruppe von Zeichen Wesen der Unterwelt erkennbar, insbesondere der Urahn Tantalus (697 nutavit aula). Der nicht himmelwärts aufsteigende Rauch (774) kennzeichnet Unterweltmächte als Adressaten für die Darbringungen. Neben dem Urahn Tantalus (718) und Atreus selbst (713 mactare sibi) ist die impia ira (712f.) als Empfängerin für ein drittes ‚Opfer‘ zu erschließen. Andererseits gibt es die Himmelsgötter, die in einer zweiten Gruppe von Zeichen (700–702) ihre Mißbilligung äußern und Atreus drohen (704 minantes dei). Diesen antwortet Atreus jedoch mit seinem dreisten Verhalten (704f. deos terret). Nach den Morden sagt sich Atreus von den Himmelsgöttern los (888 dimitto superos) und nennt sich selbst den höchsten Gott (911 o me caelitum excelsissimum).
10.5 DIE RELIGIÖSEN EXPERTEN UND MITTELSPERSONEN Für die Initiatoren der Eingeweideschau und die die Rituale ausführenden Personen lassen sich unterschiedliche Grade an religiöser Kompetenz beschreiben. So braucht Atreus für seine Untat und Rache keinerlei Helfer. Er hat in seiner Funktion als Herrscher religiöse Kompetenz. Ebenso verhält es sich mit Dido als Herrscherin. Dido hätte zwar erfahrene Helfer nötig, doch stehen ihr bei der Eingeweideschau keine mit ihrem Wissen zu Verfügung, sie hat in der Liebesangelegenheit nur den Beistand ihrer Schwester als ihrer Vertrauten (4,8 unanima soror)27 und den einer sacerdos Massylae gentis (483), die ihr mit Zauberkünsten helfen soll (493 magicae artes). Bei dem Racheschwur Hannibals gibt es eine Expertin für die Eingeweideschau und Weissagung, eine sacerdos (1,94; 121) Massyla (101). Der Tempel, in dem diese wirkt, dient der Erinnerung an die Manen der Dido und ihrer Vorfahren. Auch stehen dort Altäre für die Götter des Himmels und Erebus, einen Gott der Unterwelt (92 arae caelique deis Ereboque potenti). Die sacerdos ist Dienerin der Göttin von Henna – sonst wird Ceres so genannt – und von Göttern des Acheron, also der Unterwelt. Sie ist stygisch gekleidet, gemeint ist wohl im Totengewand.28 Das ganze Ambiente ist unterweltlich-schaurig (95–98) und erinnert besonders an Tiresias, der den Schatten des Laius aus der Unterwelt hervorruft. Schwarze Tiere, Tiere, die den Unterweltgöttern vorbehalten sind, wählt die Expertin für die Befragung und diese werden der dreigestaltigen Göttin (119f. triformis diva), einer Unterweltgöttin dargebracht. In der Form, wie die sacerdos aus 26 SEN. Thy. 545 ego destinatas victimas superis dabo – ich werde auserwählte Schlachttiere den Himmelsgöttern darbringen. 27 VERG. Aen. 4,65 heu, vatum ignarae mentes – oh, daß der Verstand dieser Seherinnen unwissend. 28 SIL. 1,93f. Henaeae numina divae / atque Acheronta vocat Stygia cum veste sacerdos.
10.5 Die religiösen Experten und Mittelspersonen
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den Eingeweiden vorhersagt, erinnert sie an VERGILs Darstellung der Sibylle, die besessen von Apollon weissagt. Die sacerdos Massyla hat mit ihrem Amt im Tempel Amtscharisma. Der Seher Tiresias kommt als Experte seinem Landesherrn Oedipus zu Hilfe. Tiresias ist ein alter Mann, der zwar nicht in einem Tempel wirkt, aber bei seiner Verbindung zu Apollon persönliches Charisma hat.29 Von ihm wird eine Erläuterung des unverstandenen delphischen Orakelspruchs erwartet. Mehrfach wird er als sacerdos (548; 622) und vates (552; 571; 670) bezeichnet. Tiresias bestimmt die Divinationsmethoden. Die festgesetzten Rituale leitet er selbst: die Eingeweideschau wegen seiner Gebrechlichkeit und Blindheit mithilfe seiner Tochter Manto, die Nekromantie – offenbar gerade wegen seiner Gebrechlichkeit und Todesnähe – nahezu selbständig. Um die Antwort zu verstehen, war ein Wechsel von der Orakelbefragung zu anderen Divinationsformen, der Eingeweideschau und weiter zur Nekromantie nötig geworden. Sie stellen Wechsel auf einen anderen Mitteilungsweg dar, auf eine andere Form des göttlichen Offenbarens: Weil die eigentlich klar gegebene Antwort nicht verstanden wird, die Kommunikation somit gestört ist, muß die Anfrage neu formuliert werden. Die Wechsel stellen ein Neuformulieren dar, das die Mißverständnisse ausräumen soll. Ein mehrfaches Neuformulieren in der Kommunikation ist auch in der Darstellung LUCANs angewandt. Hier ist jedoch nicht die Frage neu gestellt, sondern die Mitteilung wird jeweils neu formuliert, außerdem findet ein Personalwechsel statt: Zuerst ist der etruskische Seher Arruns für die Prodigiensühnung in der Stadt Rom eingesetzt. Er ist der älteste der herbeigerufenen etruskischen Seher (584f. Tuscos ... acciri vates. quorum qui maximus aevo). Der Seher ist kundig in der Deutung von Blitzen, aus Eingeweiden und aus dem Vogelflug, und wegen dieser Kenntnisse ist ihm Amtscharisma zuzusprechen. Durch die Eingeweideschau gewinnt Arruns zwar absolute Klarheit, aber das römische Volk setzt er nicht in Kenntnis, sondern beschönigt die schwierige Situation.30 Deshalb schaltet sich ein weiterer Experte ein, Figulus, der ein großer Kenner und Deuter aus Himmelserscheinungen ist. Dieser läßt das römische Volk nicht im Unklaren, sondern informiert über bevorstehende Kriegsschrecknisse. Seine nur allgemeinen Angaben konkretisiert schließlich eine römische Matrone, die gar keine Expertin für Weissagung ist, die aber persönliches Charisma durch die Inspiration von Apollon erhält und so entscheidende Etappen des Krieges bezeichnen kann. In der dreigliedrigen Form der Weissagungen mit einem Personalwechsel zeigt sich, daß die Götter darauf drängen, ihre Nachricht zu übermitteln.
29 SEN. Oed. 291 sacrate divis, proximum Phoebo caput – Du den Göttern geweihtes Haupt, der dem Phoebus am nächsten. (Übers. HELDMANN). 30 LUCAN. 1,530–532 his ubi concepit magnorum fata malorum / exclamat: ‚vix fas, superi, quaecumque movetis, / prodere me populis‘ – Sobald durch diese er die Schicksale von großen Übeln erfaßt hat, ruft er aus: ‚Es ist kaum Recht, Himmelsgötter, daß, was auch immer ihr bewegt, ich es den Volksscharen kundtue‘; 637f. lexa sic omina Tuscus / involvens multaque tegens ambage canebat – Verfälschte Deutungen sang so der Tusker, / die Vorzeichen verhüllend und durch große Rätselhaftigkeit verdeckend.
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10 Ein Fazit aus den literarischen Analysen
Cipus hat bei der Eingeweideschau und Zeichendeutung Unterstützung von einem etruskischen Haruspex (577 Tyrrhenae gentis haruspex). Cipus hat als Imperator religiöse Kompetenz, ein Haruspex gehört historisch zum Heer31 und hat somit Amtscharisma. Ungewöhnlich erscheint jedoch dessen Einsatz bei der Deutung eines Prodigiums: Die Haruspices, die dem Heer angehörten und die Eingeweide der Tiere in einer rituellen Schlachtung begutachteten, werden in der Forschung häufig als von niedrigem Stand eingestuft und von den höheren Haruspices, deren Aufgabe die Prodigiendeutung war, unterschieden.32 In der OVIDischen Darstellung kommen seinem Haruspex beide Rollen zu, indem ein Prodigium, das Gehörn des Cipus, in der Eingeweideschau gedeutet werden soll. Daß wenig später der Haruspex als Augur bezeichnet wird (596), paßt sich nicht ein in das Bild, das in der Forschung über die unterschiedlichen sakralen Kollegien besteht, sondern ist der literarischen Technik einer Montage, die OVID anwendet, geschuldet.
10.6 DAS ERGEBNIS – KUNDTUN UND VERBERGEN In keiner der sechs Darstellungen wird in der Eingeweideschau ein präzises und vollständiges Ergebnis erzielt: Entweder kommt eine Weissagung nicht aufgrund der Eingeweideschau zustande oder sie ist nicht vollständig. Am auffälligsten von der Form der Ankündigung her zeigt sich die Weissagung bei Cipus. Daß in der Darstellung eine Prodigiendeutung und die Eingeweideschau, die bei den rituellen Schlachtungen beim Heer üblich waren, zusammenfallen, wurde bereits angemerkt. In der Eingeweideschau erkennt der Haruspex nur ganz allgemein große Veränderungen für den Staat.33 Eine genaue Ankündigung erfolgt erst mit Bezug auf die Hörner des Cipus. Die bedingende Form der Äußerung des Haruspex eröffnet jedoch Handlungsalternativen, die Cipus dann die Zukunft gestalten läßt. Einzig eine präzise Weissagung aus der Eingeweidesbeschau ist in der Darstellung zu Hannibal geboten. Die sacerdos Massyla verkündet aus den Eingeweiden, was sie in der Zukunft sieht, als sei sie von einer Gottheit inspiriert.34 Ihre Weissagung ist jedoch nicht vollständig, die Wendung des Schicksals bleibt durch das Eingreifen der Iuno verborgen.35 Fragt man nach einer Qualität dieser Weissagung, so ist diese klar als ein vaticinium ex eventu anzusehen, als literarische
31 Vgl. RÜPKE 1990, S. 148f. 32 Vgl. ROSENBERGER 1998, S. 10; 52f.; WISSOWA 1912, S. 543–549, bes. S. 548f. 33 OV. met. 15,578f. magna quidem rerum molimina vidit in illis / non manifesta tamen – zwar sieht er große politische Umwälzungen in ihnen, aber nichts sicheres. 34 SIL. 1,121 poscens responsa sacerdos – Auskünfte fordernd die Priesterin; 123f. ubi quaesitas ... intravit mentes superum, sic deinde profatur – sobald sie beim Fragen ... eintrat in die Absichten der Himmelsgötter, verkündet sie also. 35 SIL. 1,137–139 venientia fata / scire ultra vetuit Iuno, fibraeque repente / conticuere. latent casus longique labores – Das kommende Schicksal näher zu wissen, verhinderte Iuno und die Fibern verstummten unvermutet. Verborgen bleibt Sturz und unendliche Mühsal.
10.6 Das Ergebnis – Kundtun und Verbergen
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Konstruktion einer Weissagung, wobei das Vorhergesagte zwar zutreffend, doch historisch bereits geschehen ist. Ein vaticinium ex eventu liegt auch in der auf historische Ereignisse rekurrierenden Schilderung LUCANs vor. Hier wird das Ergebnis aber nicht aus der Eingeweideschau bekannt, sondern erst in der letzten der drei Divinationsformen, der Weissagung durch die römische Matrone (1,673–695). Diese vermag ganz präzise Angaben zum Kriegsgeschehen zu geben, während zuvor der Astrologe, Figulus, nur vage Angaben zu einem bevorstehenden Bürgerkrieg hatte machen können (1,639–672). In der Eingeweideschau – als erste der drei Divinationsformen (1,608–638) – hatte der etruskische Seher Arruns bereits die starke Tendenz zum Negativen, die todbringenden Ereignisse wahrgenommen.36 Jedoch verschweigt er sein Wissen, da er meint, es könne nicht recht sein, etwas so Schreckliches dem Volk mitzuteilen,37 und er tut so, als seien die Zeichen nicht deutlich.38 Es gibt hier eine Klimax des Enthüllens, die von der Eingeweideschau über die Astrologie bis zur Inspiration durch Apollon reicht. Eine Klimax des Enthüllens zeigt sich auch bei den Befragungen im Oedipus. Auch hier ist die Form der angewandten Divinationsarten dreigliedrig, jedoch wird dabei nicht nach zukünftigen, sondern nach vergangenen Ereignissen gefragt, wer nämlich Laius, den früheren König, erschlagen hat. Zukunftsdimension hat diese Suche insofern, daß mit der Bestrafung des Täters die Stadt von der Pest gesunden kann. Es finden sich in den beiden ersten Formen der Befragung, dem delphischen Orakelspruch und der Eingeweideschau, bereits deutliche Hinweise auf den Täter, doch werden diese nicht verstanden. Die Methodenwechsel unterscheiden sich von denen bei LUCAN darin, daß dort eine Antwort aufgedrängt wird, während sich hier die Fragenden selbst um Aufklärung bemühen. In aller Heimlichkeit begeht Atreus die Neffenmorde (650 arcana in imo regio). Die Perversion bei der rituellen Schlachtung, die Verdrehung geht so weit, daß zwar kurz vorher die Götter noch mahnende Zeichen schicken (700–702; 704f. dei minantes), diese dann aber fliehen (893f. fugientes dei; 1021 fugere superi). Dagegen ist verborgen die Zustimmung von Mächten der Unterwelt erkennbar (696–698). Aus der Eingeweideschau werden gar keine einzelnen Zeichen berichtet, es ist die Tätigkeit des Schauens geschildert (757f. fata inspicit; venas notat) und ein Ergebnis, hostiae placuere, mitgeteilt. Eine Aporie entsteht, wem das positive Ergebnis gilt, ob Atreus, der heimlich seine Herrschaftssicherung verfolgt, oder Thyestes, zu dessen offizieller Inthronisation das Ritual vorgeblich stattfindet.
36 LUCAN. 1,630 magnorum fata malorum – üble schwere Schicksale; 633f. caesique in pectora tauri inferni venere dei – in die Seiten des getöteten Stieres sind die Götter der Unterwelt geraten. 37 LUCAN.1,631f. vix fas, quaecumque movetis, prodere me populis – es kann nicht recht sein, daß ich, was immer ihr vorhabt, dem Volk vorbringe. 38 LUCAN. 1,637f. flexa sic omina Tuscus / involvens multaque tegens ambage canebat – Verfälschte Deutungen sang so der Tusker, die Vorzeichen verhüllend und durch große Rätselhaftigkeit verdeckend.
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Das Ergebnis bei der Eingeweideschau, die Dido unternimmt, bleibt ebenfalls offen (65f.); aber anders als in der Darstellung LUCANs mit Arruns, der sein Wissen verschweigt, erfährt der Rezipient nicht, daß kein Ergebnis mitgeteilt wird, er muß dies selbst erschließen. Für die Frage, ob Didos Wunsch mit göttlicher Zustimmung erfüllt wird, ergibt sich eine Aporie, denn zusammenfinden kann das Paar doch wohl nur mit Zustimmung der Götter, Iuno formuliert gegenüber Venus diesen Willen (114–127); andererseits stellt sich diese Ehe als nicht rechtmäßig heraus trotz der Unterstützung durch Iuno, aber bei der Ablehnung durch TellusCeres. Lediglich in zwei von den sechs Beispielen wird von einer litatio gesprochen: Ob diese erreicht wurde, ist für die Eingeweideschau der Dido im Unklaren gelassen39 und bei der Prokuration, die Arruns vornimmt, fällt sie negativ aus.40 Das hostiae placuere im Thyestes kann man wohl als litatio interpretieren, legt aber andererseits im Kontext vom Sterben die Interpretation als ein Akzeptieren des Todes nahe. In den anderen drei Darstellungen, zu Cipus, Oedipus und Hannibal, ist die litatio nicht relevant. Daß eine genaue Weissagung gegeben werde, wie von der Forschung den Haruspices oft zugetraut, ist aus einer Eingeweideschau lediglich für die sacerdos, die für Hannibal weissagt, dargestellt.
10.7 DAS MOTIV DER MANTIK Die Eingeweideschau stellt ein literarisches Motiv der Mantik dar: Die religiöse Vorstellung, die Götter kündeten in Dingen oder Begebenheiten in der Natur das Schicksal an, eignet sich besonders gut für ein Erzählen, das mit Vorhalten und Vorgriffen Spannung aufbauend seine Geschichte gestaltet. In den vorliegenden Tragödien, der epischen und epennahen Literatur ist der Raum, die persönlichen Verhältnisse und den Charakter des Protagonisten zu beschreiben und daraus zu entwickeln, wie dieser den Herausforderungen des Daseins begegnet und welchen Verlauf sein Schicksal nimmt. Der Götterapparat in diesen Gattungen ermöglicht, eine religiöse Kommunikation zwischen den Figuren, Göttern und Menschen, darzustellen. Diese zuweilen einseitige Kommunikation beschränkt sich jedoch nicht auf die Eingeweideschau, sondern umfaßt allgemein Prodigien und Omina. Daß es in der Zeichenkommunikation zu Nichtverstehen, Umdeutungen oder Verschweigen kommt, ist Teil einer literarischen Technik der Verzögerung und des Spannungsaufbaus. Die Funktion des Spannungsaufbaus zeigt sich auch darin, daß die Eingeweideschau – bis auf die im Thyestes – in den Anfangsteilen der Episoden vorkommt, von wo aus die Problematik entwickelt wird. Durchgängig stellt die Eingeweideschau nur eine Kommunikationsphase in einer ganzen Reihe von Kommunikationsformen dar. Besonders deutlich ist dies in den Reihungen divinatorischer Verfahren bei LUCAN und SENECA, etwas 39 VERG. Aen. 4,50 tu modo posce deos veniam sacrisque litatis; s. Kap. Dido zur Wendung heu, vatum ignarae mentes. 40 LUCAN. 1,632 nec ... litavi.
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schwächer erkennbar in der Prodigienkette, beginnend mit den Träumen, in der Dido-Episode. Unter dem Aspekt literarischer Technik bilden diese divinatorischen Angaben ihrerseits nur eine der Formen von Vorhalten, die auf späteres Geschehen vorausdeuten. So sind bei VERGIL Hinweise auf den weiteren Verlauf aus der Eingeweideschau mit einem Verwundungs- und Brandvokabular auf die Beschreibung der seelischen Verfassung Didos und auf das anschließende Hindinnengleichnis verlagert. In der Ovidischen Darstellung gibt die Willensäußerung von Cipus den weiteren Gang vor. LUCAN, SENECA und SILIUS ITALICUS nutzen eben die Plattform divinatorischer Verfahren. Anders als andere Divinationsformen bietet die Eingeweideschau als Tötungsritual die Spezifizierung, daß es bei den Vorausweisen um Tod geht. Mit Ausnahme der Cipus-Episode war in allen Darstellungen eine Todesmetaphorik erkennbar: Der Tod Didos wird zwar nicht in der Ritualbeschreibung, aber mehrfach in einer Überlagerung von Liebes- und Ritualmetaphorik vorgezeichnet. Die krankhaften Eingeweide in der Darstellung LUCANs offenbaren einen vielfachen Tod im bevorstehenden Bürgerkrieg; im Oedipus ist mit dem ganzen Ritualablauf der Tod Iokastes und die Blendung und Exil des Oedipus angekündigt. Die Darstellung, die mit der Darbringung und Töten von Kindern anstelle von Tieren im Thyestes geboten ist, könnte man als ‚gespiegelte‘ Metaphorik bezeichnen. Auch bei SILIUS ITALICUS scheint zunächst die Tötung eines Kindes bevorzustehen, doch zeigt sich im Eid Hannibals, er wolle den Römern Tod bringen, der metaphorische Einsatz seines ganzen Daseins. Einzig die Eingeweideschau bei OVID transportiert ein anderes Bild, in dem der Tod außer in der Frage, wie mit dem angekündigten Tyrannen zu verfahren sei, nicht thematisiert ist.
10.8 ZWISCHEN ADAPTION RÖMISCHER KULTVERHÄLTNISSE UND LITERARISCHER VERFREMDUNG Die Frage nach dem Historisch-Referentiellen in den untersuchten hochliterarisierten Darstellungen erfordert zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen. Zu Recht kann man annehmen, daß historische Wirklichkeit in den Quellen zu einem gewissen Anteil übermittelt ist. Schwierig ist jedoch, diesen Anteil zu bestimmen. Auf der einen Seite muß der Erzähler dem Rezipienten vermitteln, worum es im Erzählten geht, und verwendet daher Begriffe oder Begriffsfelder aus einer gemeinsamen Erfahrungswelt, die entweder real oder wiederum literarisch sein kann.41 Ob sich nun der Erzähler auf reale Verhältnisse im römischen Kult oder auf andere literarische Darstellungen kultischer Vorgänge stützt, ist keine Frage, die sich absolut beantworten ließe. Sie läßt sich nur relativ beantworten, nämlich in Abhängigkeit von bereits erzielten Forschungsergebnissen zur Sache. Die Ergebnisse historischer Forschung können jedoch keine Fakten in dem Sinne sein, daß diese Real-Historisches genau abbildeten, sondern sie sind als vorläufig fest41 Eine schematische Darstellung dieser Verhältnisse habe ich weiter oben versucht, s.o. Kap. Methoden zu einer Neubearbeitung der Quellen, S. 109.
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gesetzte ‚Fakten‘ zu betrachten, über deren Faktizität weiterhin diskutiert werden muß.42 Im Diskurs sind die Indizien, die zu einer Einschätzung als ‚historisches Faktum‘ geführt haben, zu überprüfen. Diese Indizien haben unterschiedliche Referenzpunkte und -ebenen, was im Diskurs zu bedenken ist: Zum einen kann mit dem Sinngehalt des Kontextes argumentiert werden, zum anderen aufgrund intertextueller Bezüge und möglicher literaturhistorischer Abhängigkeiten, zum dritten schließlich mit Bezug auf eine historische Wirklichkeit im Umfeld der fraglichen Sache, wie sie durch die Forschung bis dahin als plausibel gilt. Zu Veränderungen in der Vorstellung von Komponenten historischer Wirklichkeit kommt es dann, wenn (auf kontextueller Ebene) die Interpretation des untersuchten Textes eine neue Sicht eröffnet oder sich (intertextuell) in der Zusammenstellung oder Interpretation der Referenztexte Neues ergibt. Dann ist die historische Forschung in der Pflicht, auch das damit sachlich Zusammenhängende auf seine Plausibilität hin zu überprüfen. Wenn im folgenden von der Adaption ‚römischer Kultverhältnisse‘ in die literarische Darstellung die Rede ist, so handelt es sich um Einschätzungen aufgrund des derzeitigen Wissensstandes zum Ablauf von römischen Schlachtritualen. Die Referenzebene ist hier die an dritter Stelle genannte der historischen Forschung, Referenzpunkte sind im wesentlichen Bezeichnungen von Instrumenten, Material, Tätigkeiten oder Personal, das bei einem römischen Schlachtritual in Erscheinung tritt. Daß der Erzähler auf der einen Seite dem Rezipienten durch die Begrifflichkeit einer gemeinsamen Erfahrungswelt vermitteln muß, worum es im Erzählten geht, ist zu Beginn dieses Unterkapitels gesagt worden. Die andere Seite ist, daß der Erzähler keineswegs die Dinge insgesamt so darstellen muß, wie sie seinem Rezipienten vertraut sind. Zu seiner literarischen Leistung gehört es, wenn er abweicht vom Bekannten und verfremdet. Diese Verfremdungen herauszustellen obliegt der historischen Forschung. Wiederum ist es nötig, sowohl kontextuell als auch intertexuell die Argumentation abzusichern. Die beschriebenen Überlegungen, daß Indizien in Detailuntersuchungen hinsichtlich der Bewertung ihrer Historizität immer wieder zu überprüfen sind, greifen auf das erkenntnistheoretische Modell des hermeneutischen Zirkels zurück. Nach diesem Modell ist für den Verstehensprozeß ein Vorverständnis vorausgesetzt. Ein solches Vorverständnis liegt den weiter oben erwähnten vorläufig festgesetzten ‚Fakten‘ zugrunde. Im folgenden sollte klar werden, in welchen Aspekten ein Vorverständnis, d.h. ein allgemein anerkanntes Forschungsergebnis, übernommen wurde und wann eine Weiterentwicklung erreicht werden konnte.43 In der Ritendarstellung der Dido-Episode kennzeichnen die Begriffe delubrum und ara mit allgemeinem Sprachgebrauch zunächst die religiöse Sphäre, der Ausdruck mactare verdeutlicht dann, daß Schlachtrituale stattfinden. Als ein für den römischen Ritus markanter Akt ist darauf ein Weihguß zwischen die Hörner 42 In dieser Auffassung folge ich eher skeptischen Richtungen in der historischen Forschung, die GOERTZ 2001 darstellt. 43 RÜPKE 2011, bes. S. 293f., fordert nachdrücklich zu einem bewußten Einsatz des hermeneutischen Zirkels auf.
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einer Kuh erwähnt, der aufgrund intertextueller Bezüge als Faktum im Ritenablauf gilt.44 Ebenso ist das instaurare als Ausdruck für die Wiederholung des Rituals, wie ihn die Forschung interpretiert, hier nicht in Frage gestellt worden. Dagegen ist der Ausdruck spirantia consulere exta vor allem nach den Ausführungen in der ersten beiden Kapiteln der vorliegenden Arbeit, worin nach der Historizität dieses Ausdrucks gefragt wurde, als literarische Verfremdung zu bewerten: Kontextuell paßt sich der ungewöhnliche Ausdruck dem entpersonalisierten Darstellungsstil beim Ritus ein. Intertextuell ist zum einen eine direkte sachliche Abhängigkeit von Referenztexten (MACR.; SERV.; CLAUD. DON.) als Metatexten zur Vergilischen Darstellung hervorzuheben, zum anderen ist das Vorliegen rein literarischer Imitationen bei VERGIL selbst und anderen (insbes. OV. met.; SIL.) plausibel. Imitiert ist der Ausdruck darüber hinaus im Codex Theodosianus, wobei, wie herausgearbeitet, mit einer ‚Verrechtlichung‘ des Begriffs der Übergang von einer literarischen Wendung in einen realhistorischen Kontext zu konstatieren ist. Ob das Kuhopfer, das die heiratswillige Dido der Göttin Iuno darbringt, als Beleg für ein realhistorisches Schlachtritual bei der Hochzeit gelten kann, wird in der Forschung, die sich vor allem auf Interpretationen von Sarkophagreliefs stützt, eher abgelehnt, ohne die Frage eines Auspiziums bei einer römischen Eheschließung zufriedenstellend zu klären. Auf die Ambiguität bezüglich einer Hochzeit zwischen Dido und Aeneas in VERGILs Darstellung wurde ausführlich in der Untersuchung des Kontextes und insbesondere durch die Götterreihung eingegangen. Die Auffassung der historischen Forschung, daß die bei VERGIL erwähnten Gottheiten (quasi karthagische) Stadt- und (römische) Hochzeitsgötter seien, wird von der Textimmanenz her nicht voll gestützt. Die unspezifische Bezeichnung vates in der Vergilischen Darstellung ist vom Kontext her metaphorisch zu verstehen und bedeutet nicht, daß spezielles Kultpersonal beschrieben wäre. Ein Verfremden der kultischen Vorgänge in VERGILs Darstellung ist literarisch legitimiert, weil Handlungsort nicht Rom, sondern Karthago ist. Zum Handlungsort in der Episode über Hannibal gilt das gleiche. Die Schlachtung wird hier zwar nur sehr knapp im mactare, recludere und consulere dargestellt, jedoch deutet die Metaphorik in der Behandlung Hannibals auf römische Erfahrungswelt: das Beobachten seines Verhaltens, das Überstreichen des Kopfes, was als culter-Strich verstanden werden kann. Ebenso wirkt das Übergießen mit Küssen (libare) wie das Besprengen des Tieres mit Wein in einem römischen Ritus. Die Metaphorik transportiert Nachrichten über Kinderopfer in Karthago, die zumindest literarisch seit dem Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. überliefert sind, doch inwiefern sie realhistorische Relevanz haben, ist in der Forschung umstritten. Die Wendung recludit spirantes artes … animam consulit ist als Imitation des Vergilischen Ausdrucks spirantia consulit exta zu werten und nicht etwa als weitere Bezeugung für einen ‚sakralsprachlichen Gebrauch‘ heranzuziehen. Die Weissagung ist Fiktion und durch einen literarischen Kunstgriff, ein vaticinium ex eventu, konstruiert. Die Bezeichnung sacerdos für die den Ritus
44 Vgl. SCHEID 1997a, S. 484.
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ausführende Frau bleibt wie das Vergilische vates unspezifisch und imitiert zudem die Vergilische sacerdos Massyla. Daß an den karthagischen Handlungsschauplätzen Frauen die rituellen Schlachtungen ausführen, ist als ein Verfremden römischer Verhältnisse zu werten, denn gemäß dem Forschungsstand zum römischen Kultpersonal sind Frauen an Schlachtritualen nicht beteiligt. Die Vergilische Darstellung fokussiert ganz auf die Protagonistin Dido; die Darstellung des SILIUS rezipiert die Ereignisse um sie und kompiliert mehrere Vergilische Frauenfiguren: Zu Dido und der sacerdos Massyla tritt das Bild der inspiriert prophezeienden Sibylle von Cumae, für die mit den Sibyllinischen Büchern ein historischer Bezug zum römischen Kult zu erkennen ist. Die exstatische Form ihrer Vorhersage bei der Eingeweideschau wirkt wiederum verfremdend. Stark ausgeprägt ist die Darstellung von römischen Verhältnissen in der Cipus-Episode mit den dazu gehörenden Erzählblöcken. Die beschriebene Technik einer Montage hat vor allem die Funktion einer Historisierung des Erzählten. Die Heimkehr des siegreichen Imperators, sein Anspruch auf einen Triumph, der Halt vor dem Pomerium, der Einsatz des zum Heer gehörenden Haruspex, die Prodigienbeobachtung und ihre Meldung und weiteres, das nicht unmittelbar mit dem dargestellten Schlachtritual verbunden ist, zeichnen Römisches. Der eigentliche Ritualablauf ist sehr knapp dargestellt (15,573–576). Das Aufschichten eines Rasenaltars wirkt archaisierend und somit verfremdend, obwohl Handlungsort Rom ist. Der entpersonalisierte Stil im dare pateris vina informiert nicht, wohin die Libation erfolgt. Daß es im Ritual um eine Schlachtung geht, markiert erst das mactari bidentes. Der Ausdruck trepidantia consulit exta ist als Bestandteil einer Imitation der Vergilischen Darstellung zu werten. Die Form der Ankündigung ist am ehesten als eine Kompilation aus verschiedenen historiographischen Quellen einzuschätzen, die die Struktur von Bedingungen vorgeben. In der Bezeichnung des Kultpersonals, dem Haruspex, fließen zwei Funktionsbereiche zusammen, die die historische Forschung trennt: den Bereich des Heeres und den der Prodigiensühnung. Ein weiterer Funktionsbereich römischen Kultpersonals wird in der Bezeichnung augur hinzugefügt, was nach den Ergebnissen historischer Forschung ebenfalls als sachlich unzutreffend gelten muß. Die Kompilation erklärt sich durch die literarische Technik einer Montage, die als formgebend für den Kontext dieser Passage beschrieben werden konnte. Insgesamt bietet wegen der Thematik des römischen Bürgerkrieges gerade die Darstellung LUCANs verstärkt Adaptionen römischer Kultverhältnisse. Die Prodigien und Prodigiensühnung mit einer Lustration entlang des Pomeriums unter Beteiligung von Sakralkollegien und Bevölkerung stellen die Eingeweideschau in diesen Rahmen. Hier gibt es auch bei der rituellen Schlachtung klare Hinweise auf spezifisch römische Verhältnisse: Mit dem Heranführen eines Stieres an die Altäre wird deutlich, daß ein Schlachtritual stattfinden soll. Wohin dann eine Libation von Wein erfolgt, ob zwischen die Hörner des Tieres oder in die Altarfeuer, ist nicht beschrieben. Darauf sind das Opfermehl, mola (salsa), und ein Spezialmesser, culter, erwähnt (610). Weil das Opfermehl, wie historisch gut bezeugt, von den Vestalinnen hergestellt wurde, entsteht ein sehr enger Bezug zum römi-
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schen Kult. Auch das breite Kultmesser, mit dem Opfermehl lang über den Rükken des Tieres gestreut wurde, betont die Adaption römischer Kulthandlung, der immolatio,45 besonders. Nach der Eingeweideschau ist von der nicht erlangten litatio gesprochen, weil aber eine umfassende systematische Untersuchung zum Wortfeld von litare nicht vorliegt und es mit dem griechischen kallhierein Parallelen gibt, soll dieser Akt vorerst nicht als spezifisch römisch gelten. Vielleicht ist aber die Verpflichtung des Sehers, ein Ergebnis mitzuteilen (632 prodere populis), als republikanische römische Einrichtung zu betrachten. Der Umstand, daß der Senat ein Gutachten zu den Prodigien von den Haruspices einfordert, verweist auf römische Kultverhältnisse, wobei in einem solchen Fall als Alternativen auch andere Priesterschaften, die Auguren und die Quindecimviri, möglich gewesen wären, wie die historische Forschung gesichert hat. Aufgabe der Gutachter ist, Sühneriten zu bestimmen und einen Grund für den empfundenen Götterzorn zu benennen. Soweit paßt sich die Darstellung LUCANs ein, wenn schließlich die Absicht des Haruspex entsprechend formuliert ist (617 iram superum quaesivit). Aus diesem Rahmen der Prodigiengutachten fällt dann das Erkennen von Zukünftigem heraus. Bei dieser Art von Verfremdung geht es nach meiner Einschätzung darum, das Ungewöhnliche als Vorgang einer vergangenen Zeit in die Darstellung zu integrieren. Zwei Gründe sprechen zudem für eine literarische Fiktion: Zum einen ist die Eingeweideschau als Imitation der Vergilischen Darstellung zu sehen, weil wie in der Dido-Episode die Eingeweideschau mit dem Thema Tod verbunden ist, zum anderen hat die – nicht erfolgte – Vorhersage die Funktion eines Spannungsaufbaus, bei dem der Rezipient gegenüber den Figuren der Handlung einen Wissensvorsprung erlangt. Reizvoll für den Rezipienten ist es dann, zu verfolgen, wie das Wissen um den doch allgemein bekannten Ausbruch des Bürgerkrieges erzählerisch entwickelt wird. Wie für die karthagischen Schauplätze ist auch in den beiden Darstellungen SENECAs ein Verfremden durch die geographisch und zeitlich fern gelegenen Handlungsorte legitimiert. Von daher kann im mythischen Theben des Oedipus der Einsatz von Manto, einer weiblichen Person, für römische Rezipienten nicht anstößig wirken, intratextuell wird ihre Beteiligung als Hilfe für den blinden Seher erklärt. Zudem ist Manto als des Tiresias Tochter, die ebenfalls Sehergabe hat, seit EURIPIDES (Phoenissae 834 ff.) literarisch tradiert. Mit dem Befehl eines Rinderopfers (appellite bovem) wird der Schlachtritus angekündigt. Anders als in den zuvor beschriebenen Passagen wird hier das Verbrennen von Weihrauch dargestellt. Intratextuell hat dieser Vorgang eine wichtige kompositorische Funktion, weil die Flammen eine erste Stufe der Zeichendeutung bieten, die zweite und dritte Stufe bilden das Verhalten der Tiere und die Eingeweideschau. Das Libieren von Wein wird mit seiner Rauchentwicklung wiederum als Deutungsebene genutzt und beendet diese erste Phase einer Pyromantie. Im Unterschied zur Darstellung bei VERGIL erfolgt hier ein Weinguß in die Altarfeuer und nicht ein Guß zwischen die Hörner des Tieres. Das Bestreuen der Tiere mit dem speziellen Opfermehl (335 salsa mola) spiegelt römische Verhältnisse wider. Ebenso dürfte die 45 Vgl. SCHEID 1998b, S. 74; PRESCENDI 2004, S. 218.
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Frage nach dem willigen Verhalten der Tiere, das Störungen des Opfervorgangs vermeiden sollte, dem römischen Rezipienten vertraut sein. Eine Weissagung kommt hier nicht zustande. Im Thyestes zeugt die purpurne vitta (686), eine Opferbinde, die im römischen Kult die Tiere als Schmuck um den Kopf trugen, von der Adaption römischer Verhältnisse und signalisiert dem Rezipienten, daß es im Erzählten um einen Schlachtritus gehen muß, ausgeführt an den Knaben. Bestätigt wird diese Ungeheuerlichkeit durch die Erwähnung von Weihrauch und Wein (687), worin jedoch historisch betrachtet kein spezifisch römischer Bezug besteht. Daß den Knaben zu Beginn des Rituals die Hände gefesselt werden, gehört wohl kaum zu einem Opferritus, sondern transportiert das Bild von gefangenen Feinden oder Geiseln. Die Erwähnungen von mola salsa und des Spezialmessers, culter (688), knüpfen wiederum an römischen Gebrauch an. Auch die mehrfache und strukturierend gebrauchte Betonung, es müsse alles genau nach Vorschrift gehen, spiegelt römische Vorstellungen wider, nach denen Störungen und Fehler im Ritualablauf unerwünscht waren. Der wie im Oedipus ins Feuer gegebene Weinguß wird literarisch als Vorzeichen, einer Wandlung in Blut, genutzt. Doppeldeutig ist dann das Beobachten des Verhaltens beim Todesschlag: Einerseits paßt sich dies römischem Opfergebrauch ein, andererseits ist in philosophischer Sicht auf das Sterben eines Menschen rekurriert. Beim Tod auch des letzten, dritten Knaben löscht dessen Blut die Opferfeuer, was meines Erachtens auch nicht zu einem Schlachtritual gehört, sondern am ehesten im intertextuellen Bezug die Tötung von Gefangenen bei der Bestattung des Pallas in der Aeneis nachbildet. Die knappe Darstellung der eigentlichen Eingeweideschau und die ausführlichere der Essenszubereitung verbindet wiederum doppeldeutig das Opferritual mit der Angst und Trauer beim Sterben. Im Bilde einer Schlachtung knüpft der Ausdruck epulum für die Mahlzeit (760) an das römische Sakralkollegium der epulones an, die für Festmähler zuständig waren.46 Das Mahl, das im Thyestes dargestellt ist, und die Festmähler in der Dido-Episode zeigen deutlich, daß zu der Eingeweideschau immer ein Festmahl gehört,47 obwohl die anderen hier untersuchten Quellen dieses aus Gründen der literarischen Gestaltung übergehen. Auch die im Thyestes nebensächliche Bedeutung, die die Annahme der Darbringung (hostiae placuere) hat, spricht dafür, daß zu einem Schlachtritual immer eine Eingeweideschau gehört. Eine Weissagung fehlt auch hier, das eigentümlich formulierte Ergebnis ist mehrdeutig. Besonders bei den Darstellungen SENECAs, wo verschiedene Bilder stark miteinander verwoben sind, aber auch bei LUCAN und SILIUS ITALICUS mit ihren historischen Themen ist dem Rezipienten die zu erzählende Geschichte an sich bekannt. Von daher liegt die literarische Kunst nicht darin, was erzählt wird, sondern vielmehr wie. Die Vielschichtigkeit der Darstellungen, VERGILs und OVIDs eingeschlossen, macht es der historischen Forschung zur Pflicht, ihre Ergebnisse immer wieder mit denen literarisch orientierter Einzelinterpretationen und insbesondere der Erzählforschung neu zu überdenken. 46 Vgl. SCHEID 1998b, S. 115. 47 Vgl. SCHEID 1985 und 1988.
ZUSAMMENFASSUNG In dieser religionsgeschichtlich-literaturwissenschaftlich gewichteten Untersuchung zum Ritus der Eingeweideschau im römischen Kulturraum waren in einem ersten Schritt die Ergebnisse und Methoden der religionshistorischen Forschung zu überprüfen. Es konnten Fehleinschätzungen aufgezeigt werden, die zu der opinio communis geführt hatten, daß sich bei der Beschau von Eingeweiden geschlachteter Tiere eine unterschiedliche Provenienz der Riten abzeichne, die entweder als römisch oder als etruskisch bestimmt werden könne. Da sich jedoch diese römisch-etruskische Dichotomie der Eingeweideschau nicht in dieser Differenzierung in den Quellen widerspiegelte, hatte man auf eine Vermischung der beiden ermittelten Riten geschlossen. Erhebliche Mängel in der Methode, die zu dieser Darstellung geführt hatten, konnten festgestellt werden. Ein wesentlicher Mangel ließ sich darin erkennen, daß die Behauptungen, die sich auf einzelne Aspekte bei der Eingeweideschau beziehen, nicht überprüft worden waren und somit keinesfalls Ergebnisse, sondern lediglich Hypothesen vorlagen. Die Sachlage zu durchschauen ist durch das Vorgehen in der wissenschaftlichen Diskussion, nicht alle angeführten Aspekte in den Blick zu nehmen, sondern nur einen Teil zu referieren, erschwert. Durch diese Isolierung mußten lange Zeit Unstimmigkeiten im Gesamtkonzept unentdeckt bleiben. Diese Unstimmigkeiten konnten hier mittels einer Argumentation, in der die Hauptaspekte zusammengeführt wurden, aufgezeigt werden. Zu vier für die Hypothese repräsentativen Kriterien wurden Thesen und Gegenthesen formuliert, so daß verdeutlicht werden konnte, daß nicht eine Unterscheidbarkeit zweier Riten, sondern Uneinigkeit in der Forschung besteht. Als problematisch stellte sich bei den meisten Merkmalen, die angeblich eine Unterscheidung der beiden Riten ermöglichen sollten, die Methode dar, die Provenienz anhand von sakralsprachlichen Begriffen zu bestimmen. Dieses Verfahren ist weder explizit beschrieben, noch ist dargestellt, woran sakralsprachliche Ausdrücke zu erkennen wären. Die Abhandlungen, in denen an der Wende zum 20. Jahrhundert die kritisierte Hypothese von den zwei Riten entwickelt wurde, bieten keine Definition von sakraler Terminologie. Trotz eines weitverbreiteten Gebrauchs, auf religiöse ‚Termini technici‘ hinzuweisen, muß eine Definition von ‚Sakralterminologie‘ bis heute als Desiderat gelten. Der beobachtete Versuch, die einzelnen Begriffe, die in einem beliebigen Text vorzufinden sind, den Satzungen etruskischer oder römischer Sakralkollegien zuzuordnen, zeigt das Bestreben, als Referenzort einen sakralrechtlichen Bezugstext nachzuweisen. Dieses Vorgehen konnte vom Ansatz her als richtig bewertet werden, aber problematisch erschien, daß entsprechende Kultsatzungen gar nicht existieren, sondern gleichfalls rekonstruiert werden müssen. Dieses Verfahren einer doppelten Rekonstruktion mußte als methodisch unhaltbar beurteilt wer-
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den, denn es stellt einen Zirkelschluß dar: Es ist nicht möglich, einen Ausdruck durch einen im selben Zug zu rekonstruierenden sakralrechtlichen Referenztext als sakralsprachlich zu bestimmen. Somit ist es bei der Überprüfung der Hypothese zu zwei negativen Ergebnissen gekommen, der eine liegt auf methodischer Ebene, der andere auf einer Sachebene: Zum ersten muß das Bestimmen von ‚sakraler Terminologie‘ als ungenügend bezeichnet werden, denn es gibt keine gültige Definition und – bis auf ein in der hier vorliegenden Arbeit vorgetragenes Kriterium eines sakralrechtlichen Referenzortes – gibt es keine praktikablen Vorschläge, wie diese für einen Ritus zu erreichen wäre. Zum zweiten erscheint eine etruskisch-römische Dichotomie der Eingeweideschau nicht plausibel, denn es liegt ein methodischer Mangel in der Definition zugrunde und die Widersprüche in der Argumentation sind erheblich. Auswirkungen hat die veränderte Sicht auch auf Schlußfolgerungen, die mit der widerlegten Hypothese hinfällig sind. Diese betreffen komparatistische Ansätze insbesondere im Vergleich von vermeintlich römischen, etruskischen, griechischen und babylonischen Schlachtritualen; dazu Bewertungen, die unter der Annahme einer wesensmäßigen Unterschiedlichkeit der entsprechenden Religionen zu einem Dekadenzmodell geführt haben. Zudem wurde das Streben nach ursprünglichen Formen, um mittels der Riten die Kulturen voneinander zu scheiden, als ein im Historismus verhaftetes Geschichtsmodell herausgestellt. Die heute als unhistorisch geltende Frage nach einem ‚Ursprung‘ und die daraus resultierenden Bewertungen bedürfen einer Korrektur. Betroffen ist weiter der Bereich metasprachlicher Begriffe; das gilt insbesondere für das längst als problematisch beurteilte „Opfer“ versus Divination sowie für Religion versus den ebenfalls als problematisch anzusehenden Ausdruck „Magie“, indem „Opfer“ als religiöses, aber Divination minderwertig als „magisches“ Schlachtritual betrachtet worden ist. Bei der Problematik einer sakralen Terminologie für die Eingeweideschau am Beispiel von consulere war nach einer Untersuchung des begrifflichen Umfeldes von exta consulere zu konstatieren, daß die Satzkonstruktion mit einem sprechunfähigen Ding als direktem Objekt nicht allein bei einer Eingeweideschau, sondern auch bei anderen divinatorischen Verfahren verwendet ist. VERGIL bietet die zwei frühesten Beispiele zum einen mit einer Eingeweideschau (Dido) und zum anderen einem Inkubationsorakel (Latinus). Eine Verbreitung ähnlicher Ausdrücke konnte zunächst vor allem in der epischen Dichtung festgestellt werden. Mit der Rede des PLINIUS aus dem Jahre 100 n. Chr. tritt der Ausdruck in die Prosa über. Später, seit dem dritten Jahrhundert n. Chr., ist die Wendung häufig in Schriften christlicher Autoren gebraucht. Da in einer frühen Phase das Vergilische exta consulere nur in poetischen Texten zitiert und noch häufiger variiert wird, kann die Wendung als genuin poetisch angesehen werden. Die poetische Ausdrucksweise konnte mit den Stilmitteln einer Verfremdung und einer Metonymie erklärt werden. Ein Anhaltspunkt für einen Gebrauch als sakralen Fachausdruck ergab sich von daher nicht. Die Frage nach einem sakralsprachlichen Gebrauch von ‚hostia consultatoria‘ konnte mit einer quellenkritischen Untersuchung geklärt werden. Das Ergebnis lautet, daß die Wendung ‚hostia consultatoria‘ keinesfalls einen sakralrechtlichen
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Begriff aus klassisch-römischer Zeit darstellt, sondern daß in der Spätantike MACROBIUS eine ganz eigene Formulierung geschaffen hat. Eine Rückbindung dieses Ausdrucks an die Klassifizierung, die der republikanische Jurist TREBATIUS TESTA bietet, – was das Anliegen THULINs gewesen war – ist somit nicht möglich. Eine kontextorientierte Interpretation der Stelle SERV. Aen. 4,64 durch die Stellen SERV. Aen. 4,56 und CLAUD. DON. Aen. 4,64 ergab, daß SERVIUS nicht mit zwei unterschiedlichen Verben, consulere und inspicere, eine Existenz von zwei Riten der Eingeweideschau andeutet, sondern die Tätigkeit, die Dido ausführt – consulit exta –, mit der Tätigkeit von Haruspices – inspicere exta – erläutert. Das inspicere exta ist der bekannte und verstandene Ausdruck, das consulit exta stellt die ungewöhnliche, verfremdende Ausdrucksweise in einem poetischen Text dar. Die Erwähnung von Haruspices bei SERVIUS ist dessen eigenem historisierenden Interesse zuzurechnen. Die Vermutung THULINs, es liege mit exta consulere sakrale Fachsprachlichkeit vor, wird durch diesen Befund nicht unterstützt. Eine Untersuchung zum Ausdruck ‚spirantia exta consulere‘, der sich in einem Gesetz im Codex Theodosianus (16.10.12) findet, konnte Sprachstil und Wortgebrauch an dieser Stelle im Codex Theodosianus erhellen. Durch einen Vergleich mit vorhergehenden Gesetzen war eine Entwicklung festzustellen, die mit einer Zusammenstellung früherer Verbote in dem untersuchten Gesetz kulminierte. In diesem als ‚Sammelgesetz‘ charakterisierten Text war eine pleonastische Ausdrucksweise aufgefallen, wenn es um das rituelle Schlachten ging. Zum Teil waren Wendungen aus früheren Erlassen übernommen und zum Teil neue Ausdrücke eingeführt worden. Wie das spirantia exta consulere erinnerte die Formulierung delubra adeat aus einem anderen Gesetz desselben Jahres (Cod. Theod. 16.10.10) stark an die Vergilische Dido-Episode. Noch weitere Ausdrücke verweisen ebenfalls auf die klassische Dichtung. Dieser Befund war als eine Wiederaufnahme der Vergilischen Formulierung spirantia consulit exta in diesen Gesetzestext zu deuten. Die Frage nach einer Sakralsprachlichkeit des Ausdrucks exta consulere war nach den vorangegangenen Untersuchungen zu verneinen gewesen und statt dessen hatte auf eine poetische Provenienz verwiesen werden müssen. Hier aber konnte mit Cod. Theod. 16.10.12 vom 8. November 392 ein sakrale Angelegenheiten regelnder Text als Referenzort gefunden werden. Somit ist der untersuchte Ausdruck aufgrund dieser spätantiken Referenz als sakralsprachlich anzusehen. Hier hat eine „Verrechtlichung“ eines Begriffes stattgefunden, als dessen „Heimatsitz“ die epische Dichtung VERGILs ausfindig gemacht werden konnte. Trotz der für die religionshistorische Forschung vordergründig negativen Ergebnisse ist im Positiven Klarheit in einer lange verkannten Sachlage gewonnen. Bei den sowohl auf theoretischer Ebene als auch empirisch erzielten negativen Ergebnissen mußte eine Weiterarbeit auf der Grundlage einer ‚sakralen Terminologie‘ zur Eingeweideschau als nicht sinnvoll angesehen werden. Einen Paradigmenwechsel vollziehend wurde nach einer Reflexion über neue Ansätze und Methoden dann im zweiten Teil der Arbeit der Blick auf Quellen gerichtet, die eine Eingeweideschau möglichst umfassend darstellen. Zu begegnen war bei einer Neubearbeitung einem weiteren Manko in der früheren Arbeit zur Eingeweideschau, nämlich alle Quellen ohne Unterschied von Gattung und Pro-
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venienz mit einem referentiellen Verständnis der übermittelten Angaben als gleichwertige Zeugnisse zu behandeln. Dies konnte erreicht werden aufgrund einer Typologie der Quellen, die mit einem formgeschichtlichen Ansatz Grundlage für eine Bewertung der Historizität bildet. Nach einer Sondierung der Quellenlage zur Eingeweideschau wurden, um vom Ritus statt einzelner Begriffe, wie in dem alten Ansatz, Gesamtabläufe zu erfassen, komplexe Darstellungen des Rituals ausgewählt. Diese Auswahl führte einzig zu poetischen Texten, die zumeist episch oder epennah sind oder der Gattung der Tragödie zugehören und deren Entstehung in die frühe Kaiserzeit fällt. Es traf sich, daß die wenigen in Frage kommenden Texte zugleich einen großen Teil der Belegstellen aus der widerlegten Hypothese enthalten, so daß mit der literarischen Analyse kontextbezogen auch die Sicht auf diese Belege korrigiert werden konnte. Da in der älteren Forschung ungenügend auf die Frage nach der Historizität der Quellen eingegangen worden ist und die gebotenen Angaben in einem referentiellen Verständnis als Informationen über einen historischen Ritus aufgefaßt worden waren, wurde in dieser Arbeit nun die Literarizität der Texte herausgearbeitet mit der Frage, wie der Ritus literarisch überformt ist. Dabei fällt die Frage nach dem zeitlichen Verlauf und dem Personal in einem historischen Ritus mit der Frage nach dem zeitlichen Verlauf und dem Personal im Erzählten zusammen. Um die Erzählstrategien zu verdeutlichen, wurde eine Methode aus der Erzählforschung eingesetzt – entwickelt von dem Romanisten GÉRARD GENETTE –, die insbesondere den zeitlichen Ablauf des dargestellten Rituals veranschaulicht: Unter Beachtung von Reihenfolge, Häufigkeit und Geschwindigkeit des Berichteten wurde nicht nur die Struktur des Textes geklärt, sondern außerdem verdeutlicht, von welchem Personal und welchen Phasen im Ritus nichts erzählt ist. Neben dem Zeitverlauf interessierte, welche Personen und Gottheiten – eventuell erst in einem größeren Kontext – in die literarische Handlung eingebunden sind. Zudem wurde mit den klassischen Mitteln der Literaturanalyse über Autor, Gattung und historischen Kontext des Werkes sowie Aufbau, Inhalt und literarischen Kontext informiert. Die Untersuchung auf Historizität und Literarizität ergab erwartungsgemäß eine starke Fiktionalität bei diesem Quellentyp. Unter Wahrnehmung literarischer Traditionen konnten intertextuelle Bezüge, vor allem bestehend in einer imitatio, als Alternative zu direkten historischen Bezügen aufgezeigt und die Ereignisse in der Eingeweideschau, die Personen und vor allem auch Gottheiten als stark von der Handlung des Darzustellenden bedingt beschrieben werden. Auf sprachlicher Ebene ließen sich Formulierungen, die zuvor als sakralsprachlich galten, als poetische Mittel erkennen. Eine konsequente Beachtung der Textimmanenz führte unter Abgleich von literaturwissenschaftlicher und religionshistorischer Literatur zu neuen Interpretationsansätzen. Nach den Einzelanalysen wurde in einem diese Texte miteinander vergleichenden Fazit die literarische Funktion der Ritualbeschreibungen umrissen. Diese liegt technisch zumeist in der Verzögerung und dem Spannungsaufbau mit Vorausweisen, häufig eingebunden in eine Reihung unterschiedlicher Divinationsformen. Es konnten die vielfältigen Verflechtungen dargestellt werden, die sich mit der Frage nach einer religiösen Kommunikation ergeben. Omina oder Prodigien
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repräsentieren die Seite der göttlichen Adressanten, ein Nichtverstehen oder Andersdeuten liegt auf der Seite der Protagonisten als Adressaten. Aufgrund dieser Mißverständnisse wird die Problematik, die auf einer Statusveränderung des Protagonisten beruht, literarisch weiterentwickelt. Als konkurrierend ist zumeist persönliches Glück und Staatswohl erkennbar. Religiöse Kompetenz ist in zwei Fällen den Protagonisten als Landesoberhäuptern selbst zuzugestehen, dreimal sind Mittelspersonen mit Amtscharisma und einmal mit einem persönlichen Charisma zu bestimmen: Als Landesoberhaupt Dido und Atreus; mit Amtscharisma ein haruspex (OVID) und ein Tuscus vates (LUCAN) sowie die sacerdos Massyla (SILIUS ITALICUS); mit persönlichem Charisma Tiresias. Großes Gewicht hat in den Darstellungen die Entwicklung einer Geschichte, die stark mit der Charakterzeichnung des Protagonisten verbunden ist. Dabei zeigen sich mantische Motive insgesamt für die literarischen Funktionen der Verzögerung und des Vorausweisens als besonders geeignet. Speziell für die Eingeweideschau als mantisches Motiv konnte zumeist die Funktion eines Vorausweises auf den Tod beschrieben werden. Die Einbindung der Eingeweideschau in eine Charakterdarstellung ist, da Charakterzeichnung vor allem ein Sujet der Tragödie darstellt, als tragödiennahe Partie zu werten, sofern nicht wie bei SENECA ohnehin die Gattung der Tragödie vorliegt. Drama, Epos und epennahe Dichtung können als der passende literarische Ort für Charakterbilder angesehen werden, die mit den untersuchten Darstellungen einer Eingeweideschau verbunden sind. Eine religionshistorische Fragestellung nach Anlaß und Ergebnis der Eingeweideschau mußte insofern als nicht zu beantworten beurteilt werden, weil ein Ergebnis aus literarischen Gründen entweder zweideutig formuliert oder die Bekanntgabe ganz vermieden ist. Als direkter Anlaß lassen sich häufig Vorzeichen als Beginn einer Kette von Ereignissen bestimmen. Im allgemeinen ließ sich eine Statusveränderung, ein krisenhafter Zustand, der nach Auflösung verlangt, als Grund für rituelle Handlungen, von denen die Eingeweideschau eine der Formen darstellt, beobachten. Auch hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Eingeweideschau und dem Resultat einer ‚wirklichen Weissagung‘, das THULIN gerade für die Haruspices positiv beurteilt, mußten Einschränkungen in der Aussagekraft der Texte hingenommen werden: Eine klare, aber unvollständige Weissagung in der Form einer Ankündigung kommender Ereignisse fand sich nur ein einziges Mal, in der Weissagung der sacerdos Massyla für Hannibal, als Verkünder erscheint hier jedoch kein Haruspex. Eine andere Weissagung, die der Haruspex in der Cipus-Episode liefert, kommt eigentlich nicht aufgrund der Eingeweideschau zustande. Aufgrund der Unklarheiten über die Formen von Weissagungen in der lateinischen Überlieferung erscheint mir eine Untersuchung zu dieser Frage weiterhin nötig. Die Frage nach dem Historisch-Referentiellen in den hochliterarisierten Darstellungen verweist auf das erkenntnistheoretische Modell des hermeneutischen Zirkels. Um ein Urteil darüber zu bilden, welches Detail in einer Ritendarstellung als Adaption römischer Kultverhältnisse gelten kann und welches als literarische Verfremdung anzusehen ist, erscheint die historisch-kritische Methode unter bewußter Reflexion über den hermeneutischen Zirkel unverzichtbar.
LITERATURVERZEICHNIS Die Angaben im Literaturverzeichnis sind alphabetisch nach Autoren bzw. Herausgebern geordnet – in wenigen Fällen nach dem Titel. In den Anmerkungen sind die Titel unter dem Autorennamen bzw. dem Namen des Herausgebers (Hg.) mit Erscheinungsjahr angegeben. Die Abkürzungen von Zeitschriften richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis der Année Philologique.
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Eutrop. 18,1,9–13 105; 18,12–13 52, 54, 56 Paneg. 8,645 137 rapt. Pros. 2,362f. 137 Rufin. 82 CLAUD. DON. Aen. 4,55–65 52, 57, 59, 61, 74, 77, 126, 132, 156, 165, 187, 252, 373; 5,483 69f.; 7,81–83 60f.; 11,82 41; 12,213 41 Cod. Iust. 11.1–8 78 Cod. Theod. 9.16.1–12 81 9.16.1 86 9.16.2 86f., 100 9.16.4 89 9.16.6 89f. 9.16.7 85, 92 9.16.9 93 16.2.2 88 16.2.5 88 16.10.1–25 80 16.10.1 80, 87 16.10.2 90 16.10.4 91 16.10.5 91 16.10.7 94 16.10.9 94f., 97 16.10.10 85, 95f., 99f., 373 16.10.11 85, 96f., 99 16.10.12 52, 57, 59, 78–85, 97–102, 373 16.10.25 85, 98f. COLUM. 10,1,1,429 136 CORIPP. Ioh. 3,80–90 105 Iust. praef. 30–32 52f., 58 Corp. gloss. V 441,11 41 DION. HAL. 2,73,2–3 244; 4,58 245; 5,23– 25 186, 193; 5,27–35 194; 10,5–8 195; 10,23–25 195; 12,10,1–12,1 191; 12,12,3 191; 12,13,4–14,2 191 DON. Ter. Phorm. 4,4,28 41, 76
Quellenregister DRAC. Rom. 5,129–137 105; 10,225–227 52f., 58, 105 ENN. scaen. 123–127 135 EUR. Bacch. 725f. 131 El. 800–843 110, 243, 263, 316 Hipp. 433–497 142 Phoen. 834 ff. 369 FEST. 4 L 137, 139; 20 L 52, 54, 56; 87 L 134; 89 L (= 100 M) 25, 40, 42; 92 L (= 104 M) 136; 339 L (= 275 M) 184 FULG. serm. ant. 9 30 GELL. 4,6 19; 7,7,8 30; 7,12,5 66; 16,6,14f. 138f. H. A. 2,5 (Max. et Balb.) 97; 2,8 (Hadr.) 52, 54, 58 HDT. 6,91 128 HIER. Ez. 21,21 52, 57 HOM. Il. 2,144 ff. 206 Od. 9,13–19 299; 12,356–365 309 HOMERUS lat. 53 53, 55 HOR. carm. 3,23,20 318 HYG. fab. 81 289; 244–246 289 ILS s.u. Inschriften Inschriften CFA 100 21, 24, 31, 32, 104 CFA 114 32f., 104 CIL 6,1 31 CIL 6,975 184 CIL 6,2104 siehe CFA 100 CIL 6,32328 104 CIL 6,39443 siehe CFA 114 CIL 10,444 305 HEp 06,685 135 ILS 3546 (= CIL 10,444) 305 ILS 5039 siehe CFA 100 ILS 6073 (= CIL 6,975) 184 ILS 9522 siehe CFA 114 R. Gest. div. Aug. 2,12 217 ISID. orig. 12,1,9 138 KALL. h. 5,77 265 LACT. inst. 2,7,8 52, 55, 56 LACT. PLAC. Schol. Stat. Theb. 4,409 54, 57 LIV. 1,8,45 189–191; 1,20,7 51; 1,21,1 51; 1,55,6 50; 2,10,12 186, 193; 2,13,5 194; 3,9,5 196; 3,11–13 195f., 3,13,4– 9 196; 3,15,3 196; 3,26,11–12 195; 3,26–29 195; 4,42,10 51; 5,15,1–12 191; 5,19,1–3 191; 5,21,1–22,2 191f.; 5,23,4–6 192; 5,32,8–9 192; 7,16,7 217; 10,44,5 185; 27,26,13 34;
399
31,53,7 192; 36,1,1–5 192; 41,15,1 41; 42,30,8 192 LUCAN. 1,1f. 226; 1,67 226; 1,84–86 226, 241; 1,95 326; 1,139–143 225; 1,143– 157 324f.; 1,183–185 226; 1,183–205 237; 1,189 240; 1,204f. 237; 1,205– 212 316; 1,225f. 238; 1,231 241; 1,268 241; 1,327–332 316; 1,394–402 241; 1,464f. 241; 1,465–521 225f., 236, 241, 244; 1,519f. 227, 244; 1,521–525 227; 1,522 225;1,523f. 225, 227, 240, 354, 358; 1,526–584 225, 227, 230, 233; 1,530–532 361; 1,533–535 234, 239; 1,549 ff. 239f.; 1,556f. 345; 1,562f. 231, 233; 1,584– 638 249; 1,584–591 231, 233, 242, 354f., 358, 361; 1,589 ff. 229–231, 233, 235, 244; 1,595–604 230f., 234, 244, 355; 605 ff. 230f., 234; 1,608–634 111, 231, 234f., 243, 246; 1,616f. 26, 27, 41–43, 230. 232, 235f., 243, 246, 355, 358, 369; 1,618 230, 232, 235, 242; 1,621 ff. 27, 45, 227, 230, 236; 1,624 282; 1,630–638 230, 232, 236, 240, 246, 348, 355, 359, 363; 1,632f. 237, 244, 355, 359, 364, 369; 1,637f. 225, 233, 237, 361; 1,639–672 225, 363; 1,639–695 230; 1,678–694 349; 1,673–695 225, 363; 2,1 240; 2,1–4 226f.; 2,5–15 226; 2,15 ff. 226f., 240; 2,32–39 240; 5,72 51; 5,400–403 239; 6,419–434 238; 6,425 52f., 55, 57; 6,523–528 238; 6,642–653 299; 6,775 51, 53, 55; 7,151–180 225; 8,90 137; 10,397 51 MACR. Sat. 1, praef. 2 63; 1,1,1–2 63; 1,1,7 63; 1,2,7 63; 1,2,9–12 63; 1,2,17 63; 1,16,28 66; 1,24,1–5 63; 1,24,14–21 63f.; 1,24,16 63, 78; 3,1,1–3,4,5 67; 3,2,3 29, 68; 3,2–12 66; 3,3,2 66; 3,3,4 66; 3,3,5 66; 3,4,6–13 67; 3,5,1 21, 23, 63, 65–67, 70f., 76–78; 3,5,1–5 21–26, 52, 58f., 61–71; 3,5,1–11 67; 3,5,5 5, 23, 26, 61–71; 3,7,2 210; 3,7,3 66; 3,7,5–8 66; 3,7,8 67; 3,9,9 35; 3,12,10 126; 6,9,5 139; 6,9,7 138 MANIL. 1,91–94 52f., 55, 105; 4,901–14 105 MARTIAL. 3,24 105; 9,59,10 51 MART. CAP. 1,9 74; 1,26f. 137; 1,31 ff. 136; 2,151 74; 9,6 137; 9,8 137; 9,11 137
400 MIN. FEL. 7,1 52f., 56 MYTH. VAT. 2,102 136 Orph. Hymn. 42,1 128 OV. ars 1,251 51 fast. 1,178–180 55, 105; 1,180 52; 1,671 134; 1,709–722 216; 2,645 97; 5,419–492 92 Her. 2,17 137; 6,43 137 met. 1,3–4 198; 1,559–562 203; 1,639f. 186; 3,131–252 194; 3,200 186; 4,312 51; 6,412–674 289; 6,428 137; 6,641–643 314; 6,665 289, 315; 7,240 97; 7,600f. 53, 105; 9,762 137; 11,411–413 53, 55; 11,412 52; 13,625–14,608 199; 14,778–828 199, 221; 15,1– 621 199, 201; 15,85–87 316; 15,130 ff. 105; 15,130–137 35; 15,134f. 186; 15,136f. 25, 41–43, 54; 15,485–553 199–202; 15,497– 546 200–204; 15,552–559 201f.; 15,554 192, 202; 15,560–564 200–202; 15,565–576 179–181, 209, 266; 15,569 186, 190, 206; 15,571–576 112, 179–181, 190, 358f., 361; 15,571–584 357; 15,572f. 188, 190, 212, 219, 355; 15,573f. 97, 209; 15,575–579 52f., 54; 15,576f. 112, 362, 368; 15,577–579 180, 206, 209; 15,577–589 179; 15,578f. 212, 362; 15,581–585 112; 15,583f. 179, 181, 187, 190, 202, 212, 213, 355, 358, 361; 15,587f. 190, 213, 219, 355; 15,588f. 181, 190, 212; 15,589 353; 15,590–615 179– 181, 186, 188, 206, 214; 15,590f. 217f., 356; 15,592f. 176, 179, 187, 206, 208, 220; 15,596 362; 15,598 187; 15,600 179–181, 187, 212, 217; 15,602 179–181, 192, 202, 219, 354; 15,616 190, 213, 218; 15,616–621 179f., 182, 193, 200–206, 306; 15,618f. 194; 15,620f. 184f., 189, 202; 15,622– 625 198, 200–202, 220; 15,626– 746 200–205; 15,634 203; 15,745f. 200; 15,747–851 200– 205; 15,778–580 349; 15,779–802 225; 15,792 301, 345; 15,794f.
Register 53; 15,814 105; 15,832 203; 15,852–870 200–205 trist. 5,5,9 97 PACUV. Chryses 4,5 242; 5,4 ff. 242 PETR. 41,4 135 PLAUT. Amph. 1128 50 Men. 700 51 Pseud. 334 105; 449–457 105; 489f. 105 PLIN. nat. 11,123 194; 11,186 33, 45, 47, 49; 11,204 41; 18,6 30; 18,9 194; 28,10 35; 33,17 51 paneg. 76,7 52, 54, 56 PLUT. C. Gracchus 11 136 Rom. 20,6 204 Poet. Lat. Min. 4,224 (d) 136 POLYB. 6,1–4 193 PORPHYR. abst. 2,2–3 14 PROP. 4,1,17–26 105; 4,1,103–108 105 QUINT. inst. 9,4,93 51; 10,2,19 51 SEN. Ag. 22–27 314 dial. 7,8,1 51; 9,17,8 131 Oed. 1–81 251, 271; 1–109 272; 13f. 252, 283f.; 22 284; 23 283; 28– 36 252; 29–31 356; 31 290; 34 359; 75–81 252, 364; 80 283; 81–109 251, 271; 110–201 252; 113–121 270; 133–141 282; 202– 211 252; 212–238 252; 217 252, 279, 356; 225–238 272; 233–238 267; 234 267, 283; 237 279, 283, 286; 237f. 267; 247–273 252, 260, 267f., 272; 251 267; 254 268f.; 257–259 268, 279, 356; 259 283; 260 267; 264f. 267, 269, 283; 268 269; 274–287 273; 288–290 242, 252 264; 291f. 252f., 255, 258f., 262, 265, 267, 361; 296–299 242, 259f., 262f., 267; 299 266, 271, 274f., 277f.; 299–392 105, 108, 110f., 224, 236, 249, 369; 303–327 258, 260, 273–275, 277; 303–383 243; 304f. 260, 267, 274, 359; 307f. 260, 274, 278, 280; 309–323 260, 274; 320 274, 278f.; 321f. 250, 274, 279, 359; 324–327 260, 274, 279, 322; 331 267; 334f. 260, 267, 274f., 277f., 280, 319; 336f. 260f., 273–275, 277, 280f., 302,
Quellenregister 345, 357; 341–343 253, 276f., 281; 345–350 261, 276, 281; 351f. 249, 261, 276, 281f.; 353 ff. 41f., 108, 258, 261, 271, 276, 281f., 284, 349; 356 243, 282, 287; 359–363 236, 258, 261, 276f., 279, 281–283; 364f. 283f., 287; 366f. 261, 281, 284f.; 369 243, 284f., 287; 371–373 258, 261, 276f., 281f., 285, 349; 378 258f., 262, 282, 285; 379f. 262, 266, 276, 285; 384 258f., 262, 276; 387 269; 388 267; 390 258f., 262; 391 250, 276; 395f. 269; 400 264; 402 262, 270; 403–508 270; 509–708 262f.; 510 359; 530–549 299f.; 530– 658 253; 548 265, 361; 548–568 265; 552 265, 361; 559f. 269; 559–621 301, 359; 561–563 251; 561f. 269; 563 302; 566f. 269, 318; 569 269, 300, 359; 571 265, 359; 573 269; 583 269; 587 233; 589 353; 596–599 265; 597 269; 621f. 265, 359; 647f. 283f.; 667– 670 262; 670 265; 749f. 279; 765f. 240, 269, 319, 359; 783 251, 280; 784 ff. 270; 801–832 285; 830f. 270, 279, 282, 287, 356; 862 285; 921 280; 949–951 281; 952 280; 954–979 279; 960 280; 971–973 280; 974f. 359; 1024–1042 281; 1025 279; 1032f. 280; 1042f. 260; 1044f. 280; 1046 359; 1051 283, 353; 1052 356; 1059–1061 269 Thy. 1–105 290; 32 320; 60–68 290f., 318; 104 318; 195–335 291; 195f. 315; 222–241 290; 240f. 291, 314f., 321; 256–259 291, 308, 310; 262 318; 264f. 301; 277f. 310; 285f. 314; 325–330; 321; 404–490 291; 444 311; 508–545 291; 510f. 310; 514 314; 517 313; 520f. 313; 526 ff. 291, 357; 534 311, 357; 544f. 291, 313, 317, 319, 357, 360; 558 321; 623 ff. 292, 298f., 307, 312, 321; 650 299f.; 650–683 345; 657f. 299f., 398, 312, 315; 663 302, 312; 679–683 249, 300, 307, 309, 312; 682–775 111; 684 298–
401
300, 306, 308, 315; 686 300f., 304; 691f. 304, 308, 312, 315, 360; 694 312; 696–702 301f., 308, 312, 318, 321, 345, 357, 360; 700–705 360, 363; 704f. 316f., 319, 347; 712f. 302, 316f., 360; 717f. 298f., 302, 310, 317, 360; 719f. 298, 304, 312, 322, 346, 357; 729 302, 304, 312; 737–743 309, 316f.; 741 304, 312; 743– 754 306, 309, 315; 747–751 304; 752f. 315; 755 25, 41–43, 288, 298f., 301, 303f., 309, 312, 315f., 318; 759 303f., 309, 314, 316, 320; 760–775 304, 309, 312, 315; 770–780 304, 312; 774 360; 776f. 298f., 303, 307, 310, 312, 319; 777–782 310; 784–788 306, 310, 312, 319; 789 ff. 307, 319; 885–919 299, 317; 888 238, 317, 319, 360; 891 304; 892 307; 892–895 317, 319, 363; 903–905 303f.; 908 304; 911 317, 360; 918f. 304; 920–969 299, 304f., 312; 970–972 314; 990–995 307, 319; 1004–1021 299, 305, 319, 363; 1024 313; 1028f. 305; 1030f. 303; 1034 299, 305; 1035 319; 1036f. 305, 313; 1050f. 305; 1057–1065 310; 1068–1096 319; 1087f. 319f.; 1102–1112 299, 314, 319, 321 Tro. 355f. 105 SERV. AUCT. Aen. 4,45 116; 4,58 126f., 130; 4,62 164; 4,64 72; 4,65 155; 4,166 134 SERV. Aen. 1,346 117; 2,118 23, 30, 38f., 65, 68–71, 76f., 78; 2,140 19; 3,136 116; 4,1 171; 4,3 171; 4,16 136; 4,45 116f.; 4,56 21, 23, 30, 39, 52, 57, 61, 65–71, 75–77, 373; 4,57 137, 139; 4,58 126–128; 4,63 164; 4,64 26, 43f., 52, 57, 61, 65–67, 71–77, 102, 373; 4,65 155; 4,166 116, 133f.; 4,339f. 116; 4,638 66; 8,85 66; 10,419 66; 11,158 66; 11,316 66; 12,119 97; 12,779 66 ecl. 4,43 210 georg. 2,383 66; 3,489 25
402 SIDON. carm. 1,21 105; 2,85 105; 5,131 105; 9,203 105; 16,29 105 SIL. 1,1–270 325f.; 1,15 333; 1,17–19 327, 329, 351; 1,19 339; 1,21–25 326f., 336; 1,22 326; 1,28 327, 337; 1,28–37 326; 1,32f. 327; 1,33–35 338; 1,36f. 327, 329, 347; 1,38–40 327–329, 349; 1,40–114 328; 1,56–60 324, 328; 1,61f. 328, 339, 347; 1,64f. 328f., 347; 1,70 328f., 344; 1,70–81 326, 328, 345; 1,70–143 325, 329; 1,72–76 326, 336; 1,74–76 326, 333; 1,77 329, 339; 1,78f. 328f., 343, 349; 1,80 328f., 350; 1,81 325, 328, 332f., 336, 341, 345, 349f.; 1,91f. 337, 339, 342; 1,92–98 333f., 340f., 345, 350, 360; 1,99–105 333f., 344, 357; 1,101 334, 340, 345, 360; 1,106 335, 344, 346; 1,108 329, 334, 339, 341; 1,114 328, 333, 335, 344; 1,116f. 335, 339, 347, 351; 1,118 338f., 347; 1,118–124 359; 1,119f. 333, 335, 338, 344, 348, 351, 359f.; 1,120–122 53, 55, 112, 344, 351; 1,121–124 360, 362; 1,125 328, 333, 335, 344, 348; 1,125–137 112; 1,136f. 359; 1,140–143 326, 350; 1,144–168 326, 350; 1,185 347f.; 1,189 324, 326, 350; 1,191 347; 1,271 ff. 324, 326, 329, 349f.; 2,296–298 341; 2,395–456 325; 2,406–428 325, 334, 337; 2,413– 418 325; 2,422f. 325, 339; 2,426–428 325, 341, 347; 3,81–83 341; 3,139 ff. 341; 3,344f. 105; 4,701 97; 4,765–769 346; 5,162–164 105; 7,201 ff. 136; 9,15 105; 15,334 ff. 335 SOLIN. 2,16 52, 54, 56; 27,11 137 SOPH. Ant. 1005–1011 243; 1005–1014 263 OT 300–462 263; 449–460 263 STAT. Ach. 1,514–522 54f., 105; 1,516 52; 2,12–19 105 silv. 1,2,229f. 116 Theb. 1,504–508 105; 2,244–248 105; 2,346–350 105; 3,456–459 105; 3,549–555 105; 3,637 52; 3,637– 638 54f.; 4,13–15 105; 4,406 52; 4,406–408 54f.; 4,406–418 105; 4,419–432 299; 4,461–468 105; 4,500–511 105; 5,174–176 105; 5,638–642 105; 7,6,29 51; 8,174–
Register 181 105; 10,666–668 105; 11,12– 15 105 SUET. Aug. 94,3 216; 95 216 Claud. 26 117 Otho 8,3 340 SULP. Sev. 1,45,1 52, 54, 56 TAC. ann. 11,15 35, 210; 11,27 117; 14,30 51; 15,37 117 TERT. ieiun. 6 51 TIBULL. 1,8,1–8 105; 2,1,21–30 105; 2,5,1– 18 105; 2,5,13 38; 2,5,71–78 225; 3,4,1–16 105; 3,4,5–6 38; 3,4,10 318 VAL. FL. 3,253f. 105 VAL. MAX. 1,1,1 242; 1,1,4f. 301; 2,1,1 115; 5,6,2 202; 5,6,3 182–188, 197, 202, 210, 220; 5,6,4 186, 188, 191, 197, 202, 210, 220 VARRO ling. 5,85,3 30; 5,98 40, 42; 5,143 194; 5,163 184 VELIUS LONGUS gramm. 7,51 51; 7,73,9 41 VELL. PAT. 2,79,2 116 VERG. Aen. 1,29–49 143; 1,65–70 143; 1,130 143; 1,254–256 346; 1,257–296 152; 1,297–304 130, 152; 1,364 131; 1,421–429 170; 1,441 341; 1,441–505 132; 1,503f. 170; 1,507f. 170; 1,657–688 170; 1,658–660 150, 161; 1,660–675 152; 1,686 130; 1,688 130, 150; 1,697 ff. 169–173; 1,712–714 152, 161f., 168; 1,718 168; 1,720–722 130; 1,731 131; 1,734 131–133; 1,740 168; 1,749 169; Buch 2 und 3 130, 169–172; 2,1– 13 169f.; 2,116–119 62f., 68f.; 2,268–297 158; 2,680–684 216; 2,771–789 158; 3,94–98 158; 3,154–171 158; 3,247–257 145, 158; 3,358–380 145; 3,359 ff. 265; 3,359–361 242; 3,374–462 158; 3,379f. 344; 3,443–452 145; 3,716–718 169f.; 4,1 168–171; 4,1f. 150; 4,1–5 121, 131, 153f., 167–169, 172; 4,1–9 145; 4,1–85 169; 4,1–89 120f.; 4,3f. 171; 4,5 170; 4,6–8 121f., 163, 167, 172; 4,6–55 168f.; 4,8 142–144, 147, 154, 159, 168, 172, 360; 4,9 149, 357; 4,15 ff. 117, 121, 124, 149; 4,23 150; 4,24 129, 134f.; 4,24–
Quellenregister 27 129f., 149, 252, 337; 4,31–44 118; 4,31–53 121, 142; 4,45–64 358; 4,45–89 118–120, 121; 4,47– 49 128, 142, 148, 354; 4,50 118, 154, 364; 4,50f. 34, 141f., 160; 4,50–64 148; 4,51 131; 4,54 ff. 150, 153, 168, 170; 4,56 67f., 70f., 75–77, 100, 116; 4,56f. 67, 77, 125, 140, 148, 159f.; 4,56–64 111, 121, 154, 162, 166, 168f.; 4,56–89 154, 165f.; 4,57–59 137; 4,58 126, 128–133, 141; 4,59–61 344; 4,60f. 137; 4,60–64 141; 4,62 358; 4,63 140, 148, 163– 165, 168; 4,63f. 52, 54, 58, 60,66, 72, 77, 101, 112, 208, 345; 4,65 41, 121, 140f., 153–162, 168, 314, 349, 360; 4,65–67 154, 168, 266, 364; 4,65–69 150; 4,68f. 141, 154, 168; 4,68–89 121, 165, 169; 4,69–73 168; 4,74–79 121, 155, 160; 4,74–85 141; 4,74–89 165f.; 4,77–85 163, 165; 4,80 165f., 168; 4,80–85 121, 155, 169f.; 4,82–84 164; 4,82–85 141; 4,83f. 166–169; 4,86–89 121, 155, 164, 170; 4,90–128 120f., 124, 170, 172; 4,91 168; 4,92–94 170; 4,109f. 122; 4,113 122; 4,114– 127 364; 4,126 160; 4,129 122, 163, 172; 4,129–172 120; 4,165– 172 123–125, 132, 173; 4,166 129, 133f., 136f.; 4,169–172 124, 164; 4,193 164; 4,300 150; 4,356 147; 4,360–364 150; 4,378 147; 4,416–438 143f.; 4,450–468 149, 342; 4,450–473 342, 357; 4,454f.
403
342; 4,456 357; 4,457f. 342; 4,474–498 143, 146, 151; 4,474– 503 144; 4,474–521 340; 4,480– 498 341; 4,483–493 360; 4,493 147, 338, 341; 4,494–510 151, 342; 4,495f. 144; 4,507f. 144, 157, 161, 170; 4,509 340; 4,509– 511 338; 4,509–512 341f.; 4,509–516 146f.; 4,509–521 340; 4,596 162; 4,607–629 339, 340, 342; 4,615–629 149; 4,634–637 143, 151; 4,642–665 342; 4,654 342; 4,663–665 340; 4,663–692 144; 4,669–671 150; 4,672 ff. 144; 4,675 144; 4,682 151; 4,682f. 354; 4,686f. 151; 4,693– 705 152; 5,481–484 62, 66, 69f., 76; 6,35 145–147, 338, 343; 6,35– 102 145, 343; 6,48 340; 6,56–76 146, 344; 6,78 340; 6,83–97 344; 6,237–242 299; 6,247 348; 7,59– 63 217; 7,72–80 217; 7,81–84 52–54, 60f., 101, 208; 7,92–101 217; 7,171–177 341; 7,319 137; 7,419 147; 7,435 147; 7,612 244; 7,761–782 202, 220; 8,187 158; 8,627 158; 8,680–684 217; 10,175–180 105, 144–146, 242; 11,81f. 301f.; 11,237 242; 11,759–867 242; 11,768 147; 11,774 147; 12,118 97; 12,213– 215 41–43, 105 georg. 1,463–492 225; 1,480 301, 345; 1,483–486 105; 2,193f. 105; 3,489–493 105 ZENO 2,17,3 (1,34) 52f., 57, 59
Personen- und Sachregister Actaeon 186, 194 Aelius (Praetor) 188, 191, 197, 202, 211, 220, 223 AELIUS DONATUS 66, 67, 71, 72, 74, 76 Alter Orient/orientalisch 14, 15, 21, 25, 27, 31, 32, 45, 47, 125, 211, 212 Antigone 142, 263 Apollon s. Gottheiten (Phoebus) Apostrophe 180, 201, 219, 226f., 298, 323 Archäologische Dokumente Attische Vasen 42, 104 Bronze-Handspiegel mit Kalchas (Vatikan 12240) 42, 104 Bronze-Handspiegel mit Tages und Tarchon 104 Bronzelebermodell (Piacenza 1101) 20, 22, 25, 26, 38, 39, 104 Bronzestatuette (Avignon) 42 Epigraphische Dokumente 104 Extispicium-Relief (Paris Louvre) 42, 104, 117 Extispicium-Relief in renaissancezeitlichen Skizzen 104 Gemme (Berlin Staatl. Museen 374) 42 Hochzeitssarkophage 116, 117, 136, 137, 140 Marmorstatue ‚Diotima‘ (Athen) 42 Tonlebermodell (Rom, Villa Giulia 3786) 104 Urnendeckel (Volterra 136) 42 Ariadne 142 Arvalakten 24, 31, 48, 139 Arvalbrüder s. Sakralkollegien Ascanius 119, 165–172, 216 Asilas 144–147, 242 Astrologe/-n 50, 81, 88–90, 225, 245, 363 Astrologie 53, 54, 63, 363 augures s. Sakralkollegien auspices 114–116 Babylonien/babylonisch 15, 25, 27, 32, 33, 35, 44–47, 56, 57, 211, 212, 223, 372 Bacchus s. Gottheiten Beamte, römische s. Römische Beamte Bestattung 288, 299, 301–306, 309, 310, 314, 315, 319–322, 346, 370 Bibel 53, 56, 57 Blitzkunde 26, 87, 145, 228, 229, 231, 233, 234, 239, 242, 246, 355, 361 Caeso 195, 196, 218 Camillus 191, 192, 197, 215
carmen arvale 31 Celaeno 145, 158 Ceres s. Gottheiten Chalkiope 142 Chor/-lied 252, 270, 279, 290–292, 298, 299, 302–304, 306–310, 312, 320–323 Christen/christlich 53, 54, 56–59, 79, 80, 82, 88, 92, 99, 100, 372 Chrysothemis 142 Cincinnatus 195–197, 215, 218 Cloelia 194 Codex Iustinianus 78 Codex Theodosianus 53, 57, 59, 78–102, 367, 373 Novellae leges 81 Sirmondianische Konstitutionen 81 Cocles 186, 193, 194, 197 comitia centuriata 217, 218 Dekadenzmodell 18, 32, 47, 372 Religionsverfall 27, 32–35 Egeria 198–204, 220, 221 Eid (s. auch Schwur) 123, 125, 129, 132– 134, 149, 150, 153, 159, 174, 252, 260, 267, 268, 269, 272, 273, 279, 284, 286, 337, 347, 357, 365 Elektra 142 Elissa 330, 331, 333, 334, 337, 341, 342 Enna/Henna (Ort) 330, 331, 337–338, 339, 350, 359, 360 Eteokles und Polyneikes 236, 250, 272, 279, 282, 283, 285, 286 Etruskische Disziplin/disciplina etrusca 22, 25, 28, 29, 35, 48, 51, 64, 68, 101, 106, 108, 249 Etruskologie 18, 28 evidentia (rhetorische Figur) 39 evocatio 191 Fluch 93, 149, 152, 162, 174, 299, 314, 321, 325, 326, 334, 339, 340, 342, 359 Selbstverfluchung 129, 134, 149, 150, 252 Fratres Arvales s. Sakralkollegien Gebet/-e 14, 22, 49, 94, 131, 145, 146, 148– 150, 152, 174, 179, 180, 192, 197, 206– 208, 236, 237, 239, 265, 267, 271, 273, 274, 296, 301, 308, 312, 318, 322, 344, 346, 347, 351, 358–360 Gelehrte BLECHER 18, 22, 24–27, 37, 39, 40–43, 49, 61, 104, 106, 108, 111
Personen- und Sachregister BOUCHÉ-LECLERCQ 15, 19, 21, 22, 24, 34, 38, 40, 42, 49, 64, 108 BRANT, SEBASTIAN 155 BRISSON 15, 20, 49, 104, 107 CONRAD 20 DEECKE 20, 22, 25, 61, 65 ENGELMANN 31 FARNABY 250, 279 HENZEN 31 JASTROW 32, 33, 35, 45 LATTE 19, 37, 40, 42, 64, 68, 97, 113, 114, 134, 210 LENORMANT 25, 33, 46 LÜBBERT 21, 23–25, 37, 64, 137 MARQUARDT 15, 20, 21, 24, 61, 64, 104, 113, 114, 116, 137, 210 MÜLLER 17–23, 28, 37, 61, 65 PEACE 104 SCHILLING 27, 28, 30, 33–35, 37, 41, 42, 44, 45, 65, 73, 251 THULIN 18, 22, 25–29, 37–45, 49, 50, 64, 65, 68, 72, 73, 76, 106, 108, 211, 373, 375 WISSOWA 18, 19, 22, 24–27, 29, 31, 37, 38, 42, 43, 46, 49, 64, 70, 114, 134, 136, 182, 183, 184, 210, 211, 346, 362 Geschlechterrolle 131 Gottheiten Aesculap 198–205, 220, 221 Apollon s. Phoebus Astarte 136 Ba’al-Shamin 343 Bacchus s. auch Pater Lyaeus 130– 132, 135, 228, 229, 235, 243, 254– 256, 258, 260, 262, 270, 273, 274, 293, 296, 301, 318, 322, 331, 340 Ceres 118, 119, 125–139, 168, 173, 174, 337, 338, 350, 358–360, 364 Chaos 146, 338, 341 Demeter 127, 128 Diana 189, 190, 200, 203, 204, 220, 338, 341 Dionysos 128, 131, 135, 136 Erebus 129, 146, 255, 257, 330, 331, 334, 337, 338, 341, 342, 348, 360 Fortuna 121, 122, 238 Hecate/Hekate 146, 147, 269, 300, 338, 341, 348, 350, 359 Trivia 145, 147, 203, 220, 338, 343
405
infer(n)i (Unterweltgötter) 228, 232, 237, 240, 247, 293, 301, 318, 319, 347, 359, 363 Iuno 118–129, 131–140, 141, 143, 147, 149, 151–153, 160, 168, 170, 173, 174, 326–333, 336, 341–344, 346, 347, 349, 350, 358, 359, 362, 364, 367 Sospita 216 Iuppiter 121, 122, 127, 129, 130, 131, 152, 192, 228, 229, 232, 237, 247, 268, 332, 336, 343, 346, 348, 350, 359 Ammon 189, 216 Capitolinus 214 Latiaris 204, 234, 237–239, 240, 247 Pater omnipotens 129 Tonans 237, 238, 245, 331, 336 Laren/Lares 84, 97, 267, 268, 301 Manen/Manes 146, 293, 296, 318, 331, 332, 334–338, 347, 351, 359, 359, 360 Melqart 345 Neptun 143, 267–269 Pater Lyaeus 118, 119, 125–128, 130– 133, 135–139, 168, 173, 358 Liber 126, 127, 130–132, 135, 139 Penaten/penates 67, 70, 83, 84, 97, 158, 237–239, 295, 298, 301, 303, 304 Phoebe-Luna 268 Phoebus-Apollon 38, 118, 119, 125– 128, 130, 132, 134–135, 145–147, 167, 168, 172, 173, 204, 225, 242, 245, 252, 253, 255, 260, 264, 265, 267, 268, 269, 270, 295, 298, 300, 303, 306, 310, 312, 323, 338, 340, 343, 344, 358, 359, 361, 363 Pluto 152, 268, 340 superi (Himmelsgötter) 26, 176, 181, 207, 208, 225, 228, 232, 235, 237, 238, 240, 243, 246, 253, 260, 267, 269, 271, 274, 291, 301, 317, 319, 327, 329, 331, 335, 336, 339, 340, 348, 349, 351, 354, 355, 358–363, 396 Tanit 136, 343 Tellus 123, 124, 129, 132–134, 173, 174, 337, 364
406 triformis diva 331, 335, 337–339, 350, 359, 360 Venus 120, 121, 122, 124, 130, 131, 137, 140, 142, 143, 149, 151, 152, 153, 170, 173, 174, 336, 346, 364 haruspex/-spices s. Sakralkollegien hariolus 89 Haruspizin/Haruspicin 19, 21–24, 26, 33– 35, 42, 44, 45, 49, 64, 65, 72, 73, 93, 157, 159 Hauskult 92–94, 97, 98 Hekate s. Gottheiten Helenus 145–147, 158, 242, 265, 344, 349 Henna/Henaea s. Enna Hippolytus (Virbius-) 198, 200–204, 220, 221 Historismus 17, 28, 47, 372 Hochverrat s. auch Landesverrat 78, 83, 97 Hochzeit 117, 122–125, 126–137, 150–153, 173, 174, 337, 357, 367 Hochzeitsauspizium 113–117, 122, 134, 151, 153, 172, 174 Hypsipyle 142 Iason 142, 160 Inkubationsorakel (des Latinus) 372 Inspiration 145, 225, 245, 260, 262, 264, 265, 340, 349, 361–363, 368 Io 186 Iphigenie 289 Ismene 142 Itys 289, 314, 315 Iuno s. Gottheiten Iuppiter s. Gottheiten Kaiser, römische s. Römische Kaiser der Spätantike Kaiserkult 30, 38, 245 kallhierein 22, 49, 369 Kallimachos 202, 205, 220 Karthago/karthagisch 77, 80, 112, 117, 118, 121, 127, 130, 131, 136, 151, 152, 158, 159, 163, 170, 172, 174, 325–327, 329, 336, 338, 339, 343, 345–347, 350, 353, 359, 367–369 Tophet 346 Kindertötungen 345, 346, 350 Kommunikation 14, 49, 74, 148, 150, 223, 336, 352, 358–360, 361, 364, 374 Kultgerät culter 186, 228, 235, 243, 247, 293, 301, 308, 322, 346, 367, 368, 370 Schale (patera) 118, 119, 176–178, 181, 207, 208
Register Kultpersonal 76, 77, 104, 367, 368 interpres 144, 145, 147, 265 ministri/Diener 56, 228, 229, 231, 235, 243, 244, 247, 255, 257, 262, 264, 266, 276, 282, 285 Kultsatzungen 18, 28–30, 40, 47, 371 libri pontificum 48, 101 Landesverrat 217–218, 222 Latinus 53, 60, 61, 101, 148, 208, 217, 222, 242, 328, 341, 342, 372 legifer/-ra 118, 126–129, 133, 134 litatio (litare) 19–28, 31–39, 48, 49, 62–64, 68, 78, 104, 105, 112, 148, 159–161, 165, 251, 358, 364, 369 Losorakel 38, 53, 54 Luca (Ort) 227, 228, 231, 240, 241 ‚Magie/magisch‘ 15, 27, 34, 35, 81, 90, 92, 93, 251, 372 magus, -i 89, 90 maleficus, -i 81, 89, 90, 92, 93 Marsyas 127 Massyla (massylae gentis) 146, 147, 330, 331, 334, 338, 340, 342, 343, 348, 360– 362, 368, 375 Medea 58, 105, 123, 142, 160, 289 Mopsus 160 Mucius 194, 197 Musenanruf 198, 200–203, 205, 220, 221 Nekromantie 53, 93, 251, 253, 258, 262– 265, 269, 270, 284, 286, 300–302, 318, 361 Nikander 202, 204, 205, 220 Numa 199–204, 220, 221 Nymphen 123, 129 Orakel/-befragung 14, 15, 44, 53, 54, 55, 60, 61, 69, 72, 147, 204, 208, 217, 222, 252, 253, 263–265, 267, 272, 279, 283, 286, 300, 309, 318, 359, 361, 363 Organe 27, 28, 32, 33, 36, 37, 39, 41–46, 49, 104, 111, 229, 230, 232, 236, 246, 247, 251, 258, 261, 262, 273, 281, 282, 284, 312, 322 Brustbein 46 Galle(nblase) 27, 28, 33, 36, 44, 45, 46, 47, 105, 111, 257, 258, 261, 281, 282 Gedärm 46 Harnblase 46 Herz (cor) 33, 45, 46, 105, 227, 229, 232, 236, 243, 254, 255, 257, 258, 261, 281, 282, 284, 285, 287, 294, 298, 303, 312, 318, 322
Personen- und Sachregister Leber (iecur) 14, 15, 19, 20, 25–28, 33–39, 43–47, 94, 95, 105, 110, 111, 228–230, 232, 236, 243, 246, 254, 257, 258, 261, 276, 279, 281– 284, 286, 295, 298, 303, 322 Lunge 33, 45, 46, 105, 229, 232, 243, 257, 261, 281, 284, 287 Magen 46 Milz 46, 110 Nieren 46 omentum, -a (Bauchfell/Netz) 228, 229, 232, 236, 243, 255, 257, 261, 281, 285 Zwerchfell 46, 232, 236, 243 Pasiphae 142 perduellio 218 Phaedra 142 Philomela 289, 314, 315 Pluto s. Gottheiten Polyxo 142 pomerium (s. Stadtgründungsritus) Pontifikalrecht 23, 38, 39, 63–65, 68, 76, 77 probatio 24 Prokne 289, 290, 314, 315 Prokuration 210, 230, 231, 233, 235, 246, 355, 356, 364 pronuba 123, 132, 136, 137, 140 Bellona 137 Erinys 137 Iuno 137 Natura 137 Nox 137 Tisiphone 137 Venus 137 Pyromantie 258, 260, 369 Religionsverfall s. Dekadenzmodell responsum (Gutachten) 57, 74, 75, 183, 187, 212, 252 Römische Beamte der Spätantike Albinus 96 Arbogast 82 Cerealis 89–91 Cynegius 94 Euagrius 96 Eugenius 82 Florus 94 Helpidius 88 Isidorus 97 Madalianus 90 Maximus 86, 87 Romanus 96 Rufinus (Flavius Rufinus) 57, 82, 83
407
Secundus 92 Stilicho 82 Taurus (Flavius) 88, 89, 91 Römische Kaiser der Spätantike Arcadius 57, 80–84, 94, 95 Gratian 93, 94 Honorius 57, 82, 83, 84 Konstantin I. (der Große) 79, 81, 86, 87, 88, 91, 98 Konstantius II. 80, 88–91, 96 Magnentius 91, 92, 97 Theodosius I. (der Große) 81, 82, 83, 92, 94, 95, 97 Theodosius II. 57, 79, 81, 82, 98 Valens 92 Valentinian I. 92, 93 Valentinian II. 82, 94, 95 Valentinian III. 79, 97, 98 sacerdos 55, 105, 145–147, 227, 228, 234, 265, 282, 293, 301, 308, 315, 318, 322, 328, 330–336, 338–340, 344, 348–351, 359–362, 367 Sakralkollegien 18, 19, 28, 29, 32, 40, 42, 75, 244, 245, 355, 368, 370, 371 Arvalbrüder (Fratres Arvales) 18, 19, 21, 24, 25, 28, 30, 31, 33–35, 37– 40, 42, 48, 101, 104, 212 Augur(es) 50, 51, 55, 56, 89, 90, 177, 178, 204, 210, 221, 224, 227, 229, 231, 245, 362, 368, 369 Epulones 231, 245, 370 Fetiales 204, 212 Flamines/Flamen 114, 227, 229, 231, 234, 245 Haruspices/spex 19, 21–29, 34, 35, 37, 38, 39, 41, 42, 44, 45, 47, 50–102, 103–104, 105, 112, 113–115, 155, 157, 175–197, 198, 204, 206–208, 209–211, 213–222, 242, 246, 251, 266, 349, 355, 356, 362, 364, 368, 369, 373, 375 Pontifices/Pontifex 19, 21, 28, 29, 35, 40, 42, 75, 114, 227, 228, 231– 234, 244, 355 Quindecimviri 231, 245, 355, 369 Salii 227, 229, 231, 234, 245 Sodales 227, 229, 231, 245 Vestales/vestalisch 32, 227, 228, 231, 237–240, 245, 247, 368 Sakralrecht/sakralrechtlich 29, 64, 65, 71, 72, 77, 78, 80, 81, 85, 100, 102, 371, 372
408 Schlachttier ambidentes 137, 139 bidens/-entes 54, 58, 62, 118, 137–140, 168, 176, 181, 206, 207, 209, 282, 368 bos s. Rind hariuga 25, 39, 40 hostia/-ae animalis 18, 21, 23, 39, 58, 62– 66, 68–72, 75–78 consultatoria 6, 18, 23, 26, 44, 54, 58, 59, 61–71, 72, 76, 101, 102, 211, 372 iniuges 23, 58, 62, 63, 64, 70 lactentes 29, 138 maiores 29, 126, 127, 138, 192 succidanea 19, 21, 34, 48 Huhn (gallina) 46 Jungkuh/Färse (iuvenca) 253, 254, 256, 261, 276–278, 282 Kuh (vacca) 117–119, 121, 137, 139, 140, 160, 344, 367 pecus/-cudes 105, 118, 126, 137, 140, 143, 145, 151, 177, 208 Rind/bos/taurus 41, 46, 62, 69, 76, 140, 177, 189–192, 212, 225, 228, 232, 244, 255–262, 266, 273–278, 280–282, 285, 309, 363, 369 Schaf 20, 46, 62, 137–139, 146, 178, 181, 244, 278, 282 Stier/bos/taurus/iuvencus 46, 62, 66, 75, 145, 146, 229, 231, 235, 239, 243, 246, 247, 256, 261, 275, 276, 280, 281, 282 taurus s. Rind vacca s. Kuh victima 25, 35, 53, 83–85, 95, 99, 100, 105, 186, 189, 190, 228, 235, 243, 274, 275, 277, 278, 291, 317, 319, 340, 360 Schwur s. auch Eid 117, 151, 252, 269, 325, 326, 328, 330, 333–339, 341, 343, 344, 346, 347–351, 354, 357 Selbstverfluchung 129, 134, 149, 150, 252 Sibylle 145–147, 252, 338, 340, 343, 344, 350, 361, 368 Sibylle von Cumae (Deiphobe) 145 ff. Sibyllinische Bücher 52, 54, 56, 231, 368 Sitz im Leben 48, 106
Register Sonnenfinsternis 249, 291, 298, 299, 303, 306, 307, 310, 312, 319, 323 Stadtgründungsritus 194, 197, 204 Strafmaß 96–98 Enteignung 84, 87, 97 Gefängnis/Ketten 178, 181, 196, 218, 222 Geldstrafe 84, 88, 95–97, 99 Marter 90, 95 Prügelstrafe 88 Todesstrafe 89, 98, 93, 178, 181, 196, 218, 222 – durch das Schwert 89–91 – durch Verbrennen 87, 98 Verbannung/Exil 86, 87, 94, 175, 176, 180, 181, 183, 186, 191–197, 212, 213, 218, 219, 222, 249, 252, 253, 268, 279, 281, 284, 286, 287, 290, 305, 312, 353, 354, 356, 359, 365 Sühne/Sühnung 14, 21, 87, 98, 125, 149– 151, 174, 191, 219, 230–235, 242, 246, 252, 253, 268, 278, 279, 286, 352, 353, 355, 356, 367, 361, 368, 369 superstitio 35, 83, 86, 88, 90, 244, 293 Tages 104, 192, 198–204, 209, 220, 221, 228, 229 Tanit s. Gottheiten Tarchon 104, 144, 242 Tellus s. Gottheiten Tophet s. Karthago Totenkult/-riten 92, 93, 123, 301, 304, 305, 337 Totenfeste, römische Lemuria 92 Rosalia 305 TREBATIUS TESTA 23, 24, 48, 61–71, 76, 78, 373 Träume 90, 110, 149–150, 153, 158, 174, 328, 347, 357, 358, 365 Triumph/-ator 186, 191–197, 203, 204, 214–217, 218, 219, 222, 238, 292, 295, 368 vates 50, 51, 105, 112, 140, 141, 145–147, 153–159, 161, 172, 173, 189, 190, 227, 231, 240, 242, 246, 265, 266, 340, 355, 359, 361, 367, 368, 375 vaticinium ex eventu 211, 325, 351, 362, 363, 367 Venus s. Gottheiten Vogelschau 53–55, 114, 116, 210, 242, 262, 265
Die Unterscheidung von etruskischem und römischem Opferritual gehört zu den Grundüberzeugungen der Religionsgeschichtsschreibung. Christiane Nasse zeigt, daß diese Annahme auf einer Fehlinterpretation der zentralen Quellen und Besonderheiten einer hundertjährigen Forschungsgeschichte beruht. Die Kritik führt zu Dekonstruktionen: Weder erscheint die Hypothese von einer Dichotomie der Eingeweideschau plausibel, noch ist eine ‚Sakralsprachlichkeit‘, auf die sich die Forschung wesentlich stützt, hinreichend definiert.
Mit der Frage nach dem Historisch-Referentiellen auf der einen und nach literarischen Verfremdungen auf der anderen Seite untersucht die Autorin zentrale Quellen zu diesem Schlachtritus. Sie zieht spätantike Texte von Vergil-Erklärern wie Servius und Macrobius heran sowie Gesetze aus dem Codex Theodosianus. In Einzelanalysen wirft sie ein neues Licht auf die poetischen Darstellungen klassischer Autoren wie Vergil, Ovid, Lucan, Seneca und Silius Italicus. Grundlage hierfür bilden die historisch-kritische Methode einerseits und Ansätze aus der Erzähltheorie andererseits.
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ISBN 978-3-515-10133-2