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German Pages 270 Year 2016
Sabrina Eisele Entgrenzte Figuren des Bösen
Edition Kulturwissenschaft | Band 105
Sabrina Eisele (Dr. phil.), geb. 1984, ist als Referentin an der Technischen Universität München tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Formen von »bösen« Figuren und damit verbundene Beteiligungsstrategien des Publikums, Spieltheorie und produktive Verbindungen von Computerspiel und Theateraufführung sowie Metaisierung und Erzählexperimente.
Sabrina Eisele
Entgrenzte Figuren des Bösen Film- und tanzwissenschaftliche Analysen
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2014 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt DANKSAGUNG |
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1. E INLEITUNG |
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2. METHODISCHE V ORÜBERLEGUNGEN |
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2.1 Zum Begriff ‚Figur‘ | 19 2.2 Zum Begriff des Narrativen | 27 2.3 Zu den Wahrnehmungskonzepten (Medien- und Fiktionsbegriff) | 34
2.3.1 Das Mediale und das Medienangebot | 36 2.3.2 Zum Begriff ‚Fiktionalität‘ | 40 2.4 Begründung des Untersuchungskorpus | 44
3. DER TYPUS DER ENTGRENZTEN FIGUR | 3.1
47
Das fiktive ‚Böse‘ am Typus der entgrenzten Figur | 49
3.1.1 Das ‚Böse‘ als strukturelle Kategorie | 52 3.1.2 Das ‚Böse‘ an den entgrenzten Figuren | 56 3.2 Merkmale entgrenzter Figuren | 64
3.2.1 Zwischenfigur in einer bestehenden antagonistischen Konfliktstruktur | 65 3.2.2 Gestus der Selbstermächtigung | 72 3.2.3 Figur ohne motivierende Vorgeschichte | 76 3.2.4 Aspekt der Entgrenzung | 86 3.3 Verbindungslinien zu vergleichbaren Figuren: Trickster und Souveräne | 91 3.4 Besonderer Modus der Wahrnehmung dieses Figurentypus | 102
4. S PIEL IM FIKTIONALEN KONTEXT |
109
4.1 Der Spielbegriff nach Johan Huizinga | 111 4.2 Forschungsüberblick: Spiel und narrative Medienangebote | 116
4.2.1 Ludologie vs. Narratologie | 116 4.2.2 Übertragung des Spielbegriffs auf narrative Medienangebote | 123 4.2.3 Fiktionalität als Übereinstimmung und Unterschied | 148 4.3 Fiktionalität im Spiel | 151 4.4 Das Modell der ludischen Fiktionalität | 163
5. DIE BIVALENZ IN DER PRÄSENTATION ENTGRENZTER F IGUREN | 167 5.1 Reichweite konventionalisierter Theorieansätze zur Rezipientenbeteiligung | 168
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4
Immersion | 168 Parasoziale Interaktion, Einfühlung/Empathie, Identifikation | 171 Theorieansätze zur Bewertung von fiktiven Figuren | 181 Blinde Flecken konventionalisierter Beteiligungsansätze | 183
5.2 Unbestimmtheitsstellen in der Rezeption und ludische Fiktionalität | 185 5.3 Bivalente Figurenpräsentation: Lecter, Joker und Murata | 193
5.3.1 Lecter und die Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen | 194 5.3.2 Joker und die Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit | 202 5.3.3 Murata und die Aufhebung der Differenz zwischen Materialität und Referentialität | 208 5.3.4 Aufhebung der Differenz zwischen Nähe und Distanz | 214 5.4 Forsythes Tanzperformance Angoloscuro als Figuration der Entgrenzung | 215
5.4.1 Von der entgrenzten Figur zur Figuration der Entgrenzung | 217
5.4.2 Thematisierung des Wechselspiels von narrativen und spielhaften Momenten | 222 5.4.3 Ludische Fiktionalität und Momente der Kopräsenz | 232
6. FAZIT |
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Q UELLENVERZEICHNIS | Filme | 241 Inszenierungen | 241 Literatur | 241 Onlinequellen | 265
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Danksagung
Mein größter Dank gilt zuallererst Jun.-Prof. Dr. Julia Stenzel, die meiner Arbeit eine intellektuelle Heimat gab, als diese sie am dringendsten benötigte. Auf fachlicher wie persönlicher Ebene habe ich unglaublich viel von ihr gelernt. Prof. Dr. Friedemann Kreuder sowie all meinen Kolleginnen und Kollegen der Mainzer Theaterwissenschaft bin ich für die herzliche Aufnahme in ihren Kreis und die inspirierenden fachlichen Diskussionen zu großem Dank verpflichtet. Besonders danke ich Nadine Civilotti, Annika Rink, Nikola Schellmann, Dr. Constanze Schuler und Dr. Stefanie Watzka für die wunderbaren gemeinsamen Stunden. Dr. Dorothea Volz gebührt darüber hinaus besonderer Dank für ihre stets konstruktive Kritik und die unverzichtbare moralische Unterstützung. Dem Münchner Oberseminar danke ich für die intensive fachliche Auseinandersetzung und die intellektuelle Begleitung über viele Jahre. Namentlich danke ich Dr. Judith Königer für ihre kompetente Hilfe bei der Schlusskorrektur und wichtige Fragen zum richtigen Zeitpunkt. Diese Arbeit hätte nicht fertiggestellt werden können ohne die stets ermutigenden und anregenden Diskussionen mit meinen Freunden und ihrer Bereitschaft, ‚fürchterliche‘ Filme mit mir zu sehen. Ich danke euch allen sehr: Nadja Kistner, Julia Liebing, Carolin und Michael Mandel, Robert Richter, Dr. Christine Stenzer, Angelika und Stefanía Voigt, Giannina und Max Wahler, Fabrizia Vanetta. Meine Schwiegereltern, Erna und Ingo Leiß, haben die Entstehung dieser Arbeit von der ersten bis zur letzten Minute tatkräftig begleitet: Ihnen verdanke ich unter anderem die weltbeste Schlusskorrektur und das großartige Umschlagbild. Meinen Eltern, Stefani und Josef Eisele, danke ich dafür, dass sie so wunderbare Vorbilder sind und mich unterstützen – immer und bei allem. Ihnen verdanke ich nicht weniger als meine Liebe zum Spiel und die Freiheit meiner Gedanken.
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Am meisten mit mir gebangt, gelitten und gejubelt hat mein wunderbarer Mann Konstantin Leiß: Ihm danke ich für die begeisterten Diskussionen über meine Arbeit, seine unverzichtbare Unterstützung, sein grenzenloses Vertrauen und die bedingungslose Liebe.
1. Einleitung „Und ich denke, das ist es, worum es in den Geisteswissenschaften immer geht – vielleicht sogar in allen Wissenschaften: die Welt komplexer, manchmal auch komplizierter zu machen. Solche Komplexität wird uns wohl auch helfen, am Ende darüber nachzudenken, wie wir uns zum Tanz verhalten können.“
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Gustavo Fring, Besitzer der Fast-Food-Kette ‚Los Pollos Hermanos‘ und zugleich Oberhaupt des größten Drogenunternehmens in New Mexiko aus der USamerikanischen TV-Serie Breaking Bad (2008-2013), ist eine bemerkenswerte Figur. Seinen imposantesten Auftritt hat er zu Beginn der vierten Staffel: Während seine beiden Methamphetamin-Köche Walter White und Jesse Pinkman im Drogenlabor auf ihren sicheren Tod warten – schließlich haben sie gerade gründlich die Pläne ihres Bosses durchkreuzt – erscheint Fring wortlos am oberen Ende der Galerie, schreitet langsam die Treppe herunter und tauscht seine schicke Business-Kleidung Stück für Stück gegen einen abwaschbaren Arbeitsanzug und Gummistiefel. Dieser Kleidertausch geht bemerkenswert bedächtig vor sich, jeder Handgriff Frings wird von White und Pinkman genauestens beobachtet. Auf der nachfolgenden Suche nach einer Waffe findet Fring im Schrank ein Teppichmesser, mit welchem er plötzlich in einer ebenso überraschenden wie ausnehmend kaltblütigen Aktion seinem vor White und Pinkman stehenden Gehilfen den Hals aufschlitzt und die beiden dazu zwingt, dem Mann beim Verbluten zuzusehen. In
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Gumbrecht, Hans Ulrich: „Anmut und Spiel: Warum man Tanz nicht verstehen muss“, in: Arno Böhler/Krassimira Kruschkova (Hg.), Dies ist kein Spiel, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2008, S. 49-62, hier S. 50.
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anhaltender, bezeichnender ‚Coolness‘ wäscht sich Fring anschließend Gesicht und Hände, zieht sich wieder um und verlässt den Raum, die anderen bestürzt und fassungslos zurücklassend. Gustavo Fring erscheint in dieser Szene höchst verachtens- und dennoch auch auf eine eigenartige Weise zugleich bewundernswert. Auch die Referenzfiguren in der fiktiven Welt zeigen sich gleichermaßen angezogen und abgestoßen von seinem Handeln. Fring kann damit als Paradebeispiel der besonderen Ausprägung einer als ‚böse‘ zu kategorisierenden Figur gelten, die im seriellen Erzählen bisher nur äußerst selten eine solch exklusive Platzierung erfahren hat. Dieses Buch widmet sich der Erkundung dieser besonderen Ausgestaltung einer ‚bösen‘ Figur, die hier unter dem Begriff ‚entgrenzte Figur‘ verhandelt werden soll. Insbesondere beschäftigen sich die Überlegungen mit der Fragestellung, inwiefern es möglich ist, dass die entgrenzten Figuren eine derart paradoxale Wahrnehmung im Rezipienten2 auslösen, also verachtens- und bewundernswert, abstoßend und anziehend, bedrohlich und vertrauenswürdig zugleich erscheinen können. Der Vorschlag, den dieses Buch macht, lautet, dass zur theoretischen Plausibilisierung dieser Art von Rezeptionswirkungen ein Modell von Fiktionalität angesetzt werden muss, das nicht auf einer strikten Dichotomie, einem Entweder-Oder, wie es bei den konventionalisierten theoretischen Herangehensweisen überwiegend der Fall ist, sondern auf einer Synergie, einem Sowohl-alsauch, basiert. Diese Art von Fiktionalität kann in bereits geleisteten theoretischen Beschreibungen von Spielsituationen aufgefunden werden und wird daher im Folgenden als ‚ludische Fiktionalität‘ bezeichnet. Nach Klärung der wichtigsten Begriffe, die in diesem Buch Anwendung finden (Figur, Narration, Konzept, Medium, Fiktionalität), und der Begründung des Untersuchungskorpus wird die Argumentation in drei Hauptschritten geführt. Der erste Teil (Kapitel 3) widmet sich dem Konstrukt der entgrenzten Figur, das hier näher erläutert und von anderen, ähnlich erscheinenden Typen, wie etwa dem Trickster, abgesetzt wird. Ausgehend von einer Definition des Bösen im Fiktionalen, welche dieses vor allem als strukturelles Merkmal der Narration und weniger als moralische Kategorie begreift, wird die entgrenzte Figur als eine ‚böse‘ Figur beschrieben, die in einem bereits bestehenden Antagonismus als Moment des Dritten auftritt, deren Handlungen von einem Gestus der Selbstermächtigung geprägt sind und die keine Hintergrundgeschichte beziehungsweise keine deutlich identifizierbare Motivation für ihr ‚böses‘ Handeln aufweist. Exemplarisch nachgewiesen werden die Merkmale der entgrenzten Figur an den 2
Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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Figuren Hannibal Lecter aus dem Film The Silence of the Lambs (USA 1998, Rg. Jonathan Demme), an der Figur Joker aus dem Film The Dark Knight (USA/UK 2008, Rg. Christopher Nolan) und an der Figur Yukio Murata aus dem Film Cold Fish (J 2012, Rg. Sion Sono). Der zweite Teil des Buches (Kapitel 4) widmet sich dann der Herausarbeitung des Modells der ludischen Fiktionalität, mit welchem – so die zugrundeliegende These – die paradoxalen Rezeptionswirkungen in Bezug auf die entgrenzten Figuren theoretisch plausibilisiert werden können. Ausgehend von der in den einschlägigen Forschungsansätzen als zentral gesetzten Definition des Spiels durch den Soziologen Johan Huizinga wird zunächst ein umfassender Forschungsüberblick zur Frage gegeben, wie der Spielbegriff bisher zur Untersuchung von narrativ gerahmten Medienangeboten angewandt wurde. Aus dieser Erarbeitung wiederum lässt sich nicht nur ableiten, welche grundlegenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Spiel und Narration gesehen werden, sondern auch, wie radikal anders die Wahrnehmung von Fiktionalität im Spiel im Vergleich zur Narration konstruiert wird. Aus diesem festgestellten fundamentalen Unterschied wird abschließend das Modell der ludischen Fiktionalität abgeleitet. Dieses besagt, dass im Rahmen der ludischen Fiktionalität die Anteilnahme des Rezipienten am fiktiven Geschehen und die Beobachtung der Herstellung des fiktiven Geschehens simultan realisiert werden können: Der Rezipient ist also in der Lage, sich sowohl emotional und kognitiv an der fiktiven Welt und ihren Figuren zu beteiligen als auch gleichzeitig ihre Konstruiertheit und Artifizialität zu beobachten. Im dritten und letzten Teil der Untersuchung (Kapitel 5) werden dann das Konstrukt der entgrenzten Figur und das Modell von der ludischen Fiktionalität zusammengeführt, was hauptsächlich im Rahmen einer Analyse der bereits im dritten Kapitel gegebenen Beispiele geschieht. Zunächst wird dazu darauf eingegangen, warum konventionalisierte Theorien zur Rezipientenbeteiligung für die Diskussion der Rezeptionswirkungen entgrenzter Figuren nicht greifen können. Die ungewöhnliche Gestaltungsweise der entgrenzten Figuren, mit der hergebrachte Strukturen invertiert werden, führt außerdem dazu, dass sich die Rezipienten diesen nicht auf den gewohnten Wegen nähern oder sich von ihnen distanzieren können, was wiederum zur Entstehung von Unbestimmtheitsstellen führt, die nur durch das Umschalten in den Modus der ludischen Fiktionalität neutralisiert werden können. Der verwendete Begriff ‚Unbestimmtheitsstelle‘ ist abgeleitet von Roman Ingardens Konzeption gleichen Namens, wird hier aber auf der Rezeptionsebene statt auf der Darstellungsebene verortet. Ausgehend von diesen Vorarbeiten erfolgt dann die Analyse der im dritten Kapitel ausgeführten Beispiele für entgrenzte Figuren: Es kann hierbei nachge-
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wiesen werden, dass der Rezipient im Rahmen der Filmwahrnehmung zur Beobachtung bestimmter Differenzen angeleitet wird, welche wiederum in der Darstellung der entgrenzten Figur zur Aufhebung gebracht werden. Diese Bivalenz in der Präsentation der entgrenzten Figuren wird als filmische Anordnung identifiziert, die dazu führen kann, dass der Rezipient in den Modus der ludischen Fiktionalität wechselt. Zum Abschluss der Überlegungen wird ergänzend auf ein Beispiel aus dem nichtfilmischen Bereich eingegangen: Anhand der Analyse der Tanzperformance Angoloscuro des Choreografen und Tänzers William Forsythe kann gezeigt werden, dass sowohl das Konstrukt der entgrenzten Figur als auch das Modell der ludischen Fiktionalität hier ebenfalls zur theoretischen Plausibilisierung der Rezeptionswirkungen eingesetzt werden können. Dieses Buch ist explizit als Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Forschung zu verstehen: Der Analyse von Filmfiguren kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu, in Weiterführung der Überlegungen lassen sich aber sowohl das Konstrukt der entgrenzten Figur als auch die Unterscheidung der verschiedenen Modi von Fiktionalität ebenfalls zur Analyse und theoretischen Perspektivierung von Rezeptionswirkungen anderer medialer Hervorbringungen wie beispielsweise Romanen oder theatralen Aufführungen und Performances einsetzen, was mittels der Analyse der Tanzperformance Angoloscuro demonstriert wird. Die im Folgenden verwendeten Begriffe ‚Figur‘, ‚Narration‘ und ‚Fiktionalität‘ sind ursprünglich vor allem als Kategorien der Literaturwissenschaft entwickelt worden und haben sich davon ausgehend für die Anwendung in der allgemeinen Betrachtung medialer Hervorbringungen als geeignet erwiesen. Dementsprechend werden literaturwissenschaftliche Perspektiven in diesem Buch an mehreren Stellen als Ausgangspunkte für die Begriffsbestimmung und Theorieentwicklung genutzt, wobei ihre intermediale Übertragbarkeit aber stets mitbedacht wird. Der hier zum Einsatz kommende Spielbegriff beziehungsweise die Frage danach, wie sich Fiktionalität in spielhaft gerahmten Kommunikationssituationen darstellt, wird weitgehend entlang der Untersuchung der bisher geleisteten Forschung behandelt, daher ist die Analyse und theoretische Aufbereitung des Forschungsstandes zur Übertragung des Spielbegriffs auf Forschungsbereiche wie Literatur-, Film- und Medienwissenschaft von großer Relevanz. Hieraus ergibt sich auch die Struktur dieses Buches: Während das dritte und fünfte Kapitel vor allem auf die Analyse der entgrenzten Figuren und ihrer filmischen Präsentation sowie auf die Untersuchung der Tanzperformance Angoloscuro ausgerichtet sind, wird im vierten Kapitel dargelegt, wie bisher im Rahmen der Forschung
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über Fiktionalität in spielhaft und narrativ gerahmten Kommunikationssituationen argumentiert wurde. Nicht zuletzt geht es darum, den Rezipienten bei der Untersuchung fiktionaler Phänomene wieder mehr in den Blick zu nehmen und seine Bedeutung im Wahrnehmungsprozess noch klarer herauszustellen. Ausgegangen wird hierbei von der Annahme, dass der Betrachter und die jeweilige Rezeptionssituation untrennbar zum Werk gehören, dass das Werk erst in der Betrachtung entsteht. Interessanterweise wird dieser Aspekt gerade in theoretischen Überlegungen zu Spielsituationen deutlicher herausgestellt, als es bei Theorieansätzen zu narrativ gerahmten Kommunikationssituationen der Fall ist. Darauf wird vor allem bei der Entwicklung des Modells der ludischen Fiktionalität im dritten Kapitel genauer einzugehen sein. Als Beschreibung ko-präsenter Wahrnehmungssituationen ebenfalls relevant in diesem Zusammenhang sind natürlich auch Überlegungen zum Erleben des Performativen, wie sie Erika Fischer-Lichte beispielsweise in ihrem Modell von der „autopoietischen feedback-Schleife“3 vorgelegt hat.4 Dabei kann das hier entwickelte Modell der ludischen Fiktionalität als ein abstraktes Modell auf einer Art Metaebene angesehen werden, das dann in Bezug auf spezifische medial gerahmte Kommunikationssituationen explizit gemacht werden kann, wie beispielsweise in der Gegenüberstellung von Semiotizität und Performativität bei Fischer-Lichte.5 Inwiefern die prinzipielle Unabgeschlossenheit des nichtbetrachteten Werkes ein wesentlicher Punkt in der Analyse von Rezeptionssituationen ist, verdeutlicht unter anderem Steven D. Scott im Schlussteil seiner Monografie The Gamefulness of American Postmodernism, in dem er auf Werke verweist, die durch eine – von dem US-amerikanischen Kunstkritiker Harold Rosenberg in Bezug auf die Gemälde des Künstlers Barnett Newman sogenannte – „emptiness“6 charakteri-
3
Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 66.
4 5
Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58 f. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 243 f. Vgl. Fischer-Lichte, Erika/Roselt, Jens: „Attraktion des Augenblicks. Aufführung, Performance, performativ/Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: Paragrana 10 (2001), S. 237-253.
6
Rosenberg, Harold: Barnett Newman, New York: Harry N. Abrams 1978, S. 61. Scott zitiert hier Rosenberg mit der Wendung „lack of content”. Scott, Steven D.: The Gamefulness of American Postmodernism. John Barth & Louise Erdrich, New York: Peter Lang 2000, S. 121.
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siert werden können.7 Als Beispiel dient Scott der Fall des Gemäldes Voices of Fire von Newman, dessen Erwerb durch die National Gallery of Canada für knapp 1,8 Millionen Dollar bei der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung auslöste, handelt es sich doch – profan gesprochen – nur um eine blaue Leinwand mit einem roten Längsstreifen in der Mitte.8 Die Bevölkerung – so könnte man unter Berufung auf Scotts Ausführungen schlussfolgern – empörte sich vor allem deshalb über den teuren Kauf, weil sie mit dem Bild nichts anzufangen wusste, da erwartet wurde, Bilder müssten ‚aus sich selbst heraus‘ eine Botschaft vermitteln können oder zumindest etwas über die handwerklichen Fertigkeiten des Künstlers aussagen.9 Dabei sei es gerade die schiere Größe des Bildes – so Scott –, welche dieses besonders zugänglich mache und die eben nur in der unmittelbaren Betrachtung, in der „Ko-Präsenz“10 von Bild und Betrachter erlebt werden könne: „Viewed in person, Voices of Fire is breathtaking. It must have been an extraordinary feat to create it. What it ‚says‘, what it is ‚about‘, has nothing whatever to do with its content, or with what it ‚represents‘; what is important is the response it provokes. It is not important for its content, nor its technique, nor its thematic or technical innovation. What makes it impressive is not any of the qualities that are usually discussed in traditional art criticism, in fact. There is, instead, a strong sense in which the painting does not exist unless it is viewed – experienced – in person; it has, after all, no content that can be paraphrased. The point is this: it was designed precisely, and only, to provoke a response in a viewer. The art ‚worksʻ only in the viewer’s experience of it [Herv. i. O.].“11
Die These von der besonderen Konzeption mancher Kunstwerke, mittels welcher deren Erfahrungsnotwendigkeit durch den Rezipienten explizit eingefordert werde, ließe sich beispielsweise auch auf die übergroßen, glänzenden Kitschskulpturen von Jeff Koons, die ebenfalls oft durch ihr gigantisches Ausmaß beeindruckenden Installationen des chinesischen Künstlers Ai Weiwei sowie die Konzeptkunst Matthew Barneys und insbesondere seine Performances übertragen, die – so könnte man agumentieren – ebenfalls vor allem dann 7
Vgl. S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 121.
8
Vgl. S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 121 f.
9
Vgl. hierzu die von Scott zitierte Aussage des kanadischen Abgeordneten Felix Holtmann, der mehrfach darauf hinwies, er selbst könne mit ein paar Eimern Farbe, zwei Farbrollern und zehn Minuten Arbeitsaufwand ein ähnliches Bild produzieren. S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 122 f.
10 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58. 11 S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 123.
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zugänglich sind, wenn man den eigenen Standpunkt als Betrachter und seinen Blick auf das Werk mitdenkt.12 Die Kunstwissenschaftlerin Christiane Hille beschreibt zudem ein ähnliches Phänomen ebenfalls in Bezug auf ein Werk von Newman: „Bis heute fordert bei Ausstellung von Newmans Vir Heroicus Sublimis ein kleines Schild dazu auf, nah an das Bild heranzutreten; so nah, dass man die Randzonen der Leinwand aus den Augen verliert, der Blick auf dem Farbfeld aufläuft, und der Leib sich in seinem Inneren bewegt […] [Herv. i. O.].“13
Doch auch in allen anderen Fällen der Wahrnehmung medialer und insbesonderer künstlerischer Hervorbringungen muss der Rezipient als essenzieller Werkbestandteil mitbedacht werden. Das vorliegende Buch versucht diese Perspektive nicht nur konsequent in Theorie und Analyse umzusetzen, es versteht sich zudem als Plädoyer zur noch expliziteren Berücksichtigung der Rolle des Rezipienten in der Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion des jeweils betrachteten Werkes. So wird auch die Bestimmung der zentralen Begrifflichkeiten, wie sie im anschließenden Kapitel erfolgen soll, von der Annahme einer zentralen Konstruktionsleistung durch den Rezipienten geleitet.
12 Vgl. die Beiträge des von Christiane Hille und Julia Stenzel herausgegebenen Sammelbandes zu Matthew Barneys Cremaster Cycle, darin unter anderem Hille, Christiane/Stenzel, Julia: „Anatomien des Cremaster Cycle – Skulpturzyklus, Filmzyklus, Ausstellungzyklus“ und Stenzel, Julia: „Stoffwechsel. Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys Cremaster Cycle“, beide in: Christiane Hille/Julia Stenzel (Hg.), Cremaster Anatomies: Beiträge zu Matthew Barneys Cremaster Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur, Bielefeld: transcript 2014. 13 Hille, Christiane: „Matthew Barney – vir heroicus sublimis: Einleitung zum Begriff einer künstlerischen Athletik“, in: C. Hille/J. Stenzel, Cremaster Anatomies, S. 17-56, hier S. 18.
2. Methodische Vorüberlegungen
2.1 Z UM B EGRIFF ‚F IGUR ‘ Eine knappe und pointierte Forschungsübersicht zum Begriff ‚Figur‘ zu geben, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Der Begriff spielt nicht nur in der Forschung zu recht verschiedenen medialen Ausformungen – in der Literatur ebenso wie in der bildenden Kunst, im Film ebenso wie in der theatralen Aufführung – eine zentrale Rolle, zudem haben Eder, Jannidis und Schneider in ihrer sehr differenzierten Übersicht über die Figurenforschung gezeigt, dass sich über Figuren nicht adäquat sprechen lässt, ohne die zahlreichen an den Begriff angrenzenden Forschungsbereiche – unter anderem Rezeptionsforschung und Genreforschung – mitzudenken.1 An dieser Stelle soll es deshalb hauptsächlich darum gehen, eine handhabbare Arbeitsdefinition des Begriffs ‚Figur‘ zu geben sowie mithilfe eines Vorschlags von Jens Eder die Bereiche einer möglichen Analyse abzustecken. Eder, der mit seiner 2008 erschienenen Monografie Die Figur im Film2 eine zentrale theoretische Abhandlung zum filmischen Figurenbegriff vorgelegt hat,
1
Vgl. Eder, Jens/Jannidis, Fotis/Schneider, Ralf: „Characters in Fictional Worlds. An Introduction“, in: Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hg.), Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 3-64. Die Autoren stellen zudem heraus, inwiefern sich die unterschiedlichen Zugänge zum Begriff der Figur auch in den verschiedenen sprachlichen Wortstämmen spiegeln (vgl. S. 7 f.). Einen pointierten Überblick über die Forschungsleistung zur Figur – jedoch nur in Bezug auf literarische Erzähltexte – gibt Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin: de Gruyter 2004, S. 2 ff.
2
Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg: Schüren 2008.
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definiert in seinem Beitrag Filmfiguren: Rezeption und Analyse, in welchem er wesentliche Annahmen aus seinem Werk zusammenfasst, „Figuren als wiedererkennbare fiktive Wesen mit Bewusstseinsfähigkeit […], genauer: mit der Fähigkeit zu objektbezogenen mentalen Vorgängen“3. Obwohl Eders Definition im Kontext filmtheoretischer Überlegungen steht, weist die Definition selbst keine Elemente auf, welche auf eine Ausschließlichkeit der Anwendung auf Filmfiguren hindeuten würden. Hinzu kommt, dass sie große Ähnlichkeit zur explizit als transmediale Begriffsbestimmung angelegten Definition des Bandes Characters in Fictional Worlds, an dessen Herausgabe Eder ebenfalls beteiligt war, aufweist. Dort heißt es nämlich: „At the prototypical core of the concept of character, then, is a recognisable fictional being, to which the ability to think and to act is ascribed.“4 Gerade die Tatsache, dass dies eine überaus offene, auf alle medialen Ausformungen übertragbare Definition der Figur ist, macht die Begriffsbestimmung von Eder im Kontext dieser Überlegungen, die ja explizit einen kulturwissenschaftlichen und transmedialen Ansatz verfolgen, besonders relevant. Dabei hebt Eder im Rahmen seiner Definition vor allem drei wesentliche Merkmale des Konstrukts ‚Figur‘ als bedeutend hervor: Erstens macht er mit dem Verweis auf die Fiktionalität von Figuren darauf aufmerksam, dass diese als grundlegend unterschieden zur Hervorbringung von Personenkonzepten der ‚Alltagsrealität‘5 zu denken sind. Hier muss hinzugefügt werden, dass Eder die Ent3
Eder, Jens: „Filmfiguren: Rezeption und Analyse“, in: Thomas Schick/Tobias Ebbrecht (Hg.), Emotion – Empathie – Figur: Spielformen der Filmwahrnehmung, Berlin: Vistas 2008, S. 131-149, hier S. 132. In der Monografie Die Figur im Film scheint die Definition des Begriffs dagegen noch weniger eindeutig bestimmt: „Eine Figur ist ein wiedererkennbares, fiktives Wesen mit einem Innenleben – genauer: mit der Fähigkeit zu mentaler Intentionalität.“ J. Eder: Die Figur im Film, S. 64. Insbesondere die Setzung des Begriffs ‚Bewusstseinsfähigkeit‘ statt ‚Innenleben‘ macht deutlicher, welche spezifische Zuschreibung hier vonseiten des Rezipienten zu leisten ist. Der Hund einer Filmfamilie, der im fiktiven Geschehen keine besondere Rolle einnimmt, sondern eher als ‚Statist‘ auftritt, hat zwar ein Innenleben, jedoch wird ihm durch den Rezipienten wohl keine Bewusstseinsfähigkeit im eigentlichen Sinn zugeschrieben. Anders sieht es dagegen zum Beispiel im Fall von Lassie aus der gleichnamigen US-Fernsehserie aus.
4
J. Eder/F. Jannidis/R. Schneider: Characters in Fictional Worlds, S. 10.
5
Ausgehend von einer konstruktivistischen Perspektive auf Wahrnehmungsvorgänge (vgl. dazu Kapitel 2.3) soll mit dem Begriff ‚Alltagsrealität‘ in den vorliegenden Überlegungen die Konstruktion der den Rezipienten ständig umgebenden Welt durch ihn selbst bezeichnet werden, die von ihm im Regelfall als objektive Wirklichkeit erlebt wird. Zur Problematisierung des Begriffs vgl. Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität,
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stehung der Figuren sowohl von der Text- beziehungsweise Darstellungsebene als auch von der Wahrnehmungsebene des Rezipienten her denkt, sie also als „kommunikative Konstrukte“6 definiert. Obwohl der Text als Ausgangsmaterial für die Konstruktion der Figuren bei Eder also durchaus eine Rolle spielt, liegt der Schwerpunkt der Konstruktionsleistung doch beim Rezipienten, in dessen Bewusstsein die Figuren als „mentale[ ] Modelle [Herv. i. O.]“7 repräsentiert sind. Laut Fotis Jannidis werden mit dem aus der kognitionswissenschaftlichen Leserforschung stammenden Ansatz Vorgänge beschrieben, bei denen „aufgrund der im Text gegebenen Informationen und dem Weltwissen des Rezipienten ein mentales Modell der Figuren und Situationen konstruiert wird, d.h. eine dynamische kognitive Repräsentation der in einem Ausdruck explizit oder implizit angesprochenen Objekte, Relationen oder Mengen, in die weitere Textinformationen integriert werden“8.
Noch deutlicher als Eder geht Hans J. Wulff auf den Unterschied zwischen Figuren- und Personenwahrnehmung als Unterschied zwischen Wahrnehmung von Fiktion und ‚Realität‘ ein: „Für die ästhetische Aneignung der meisten Genres des Theaters, des Films und des Fernsehens ist es charakteristisch, die Differenz zwischen Fingierung und Fingiertem nicht aufzuheben und auszulöschen, sondern sie immer im Bewusstsein zu halten. Vereinfacht gesprochen: Die Aufgabe des Schauspielers ist nicht die Täuschung (das unterscheidet ihn vom Hochstapler und Betrüger)! Die Parasozialität dessen, was zwischen abgebildeten Personen und Zuschauern geschieht, ist konstitutiv, nicht abzuziehen oder wegzudenken, auch nicht zu ersetzen.“9
Die Tatsache also, dass sich der Zuschauer immerzu der Fiktionalität des Rezipierten bewusst ist, macht einen nichtnegierbaren Unterschied im Vergleich zur Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 69 f. 6
J. Eder: Filmfiguren, S. 132.
7
J. Eder: Filmfiguren, S. 133.
8
F. Jannidis: Figur und Person, S. 179. Jannidis weist auch darauf hin, dass der Aspekt der mentalen Modelle ursprünglich von Johnson-Laird in die Forschungsdiskussion eingebracht wurde. Vgl. Johnson-Laird, Philip N.: Mental Models. Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness, Cambridge: Cambridge University Press 1983.
9
Wulff, Hans J.: „Attribution, Konsistenz, Charakter. Probleme der Wahrnehmung abgebildeter Personen“, in: montage/av 15 (2006), S. 45-62, hier S. 48.
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Wahrnehmung von Personen der ‚Alltagsrealität‘. In Bezug auf ähnliche Überlegungen wie die von Wulff hat Herbert Grabes allerdings bereits 1978 „[d]ie eklatante Vernachlässigung der Illusionsmächtigkeit literarischer Figuren“10 angemahnt, wobei es ihm darauf ankommt, dass eben mit der steten Betonung der Artifizialität von Figuren nicht erklärt werden könne, „daß es trotz aller theoretischen Einsichten in den Künstlichkeitscharakter literarischer Figuren schwerfällt, z. B. mit dem Helden oder der Heldin n i ch t zu hoffen oder zu bangen [Herv. i. O.]“11. Damit drückt sich bei Grabes zweierlei aus, was auch für dieses Buch von Bedeutung ist: Zum einen behält er ja weiterhin die Unterscheidung zwischen ‚Person‘ und ‚Figur‘ bei, wobei gemäß Grabes Ansatz auch Figuren als Personen wahrgenommen werden können, sofern sich der Rezipient von der Berücksichtigung ihrer jeweiligen Fiktionalität und Artifizialität lösen kann. Zum anderen zeigen sich an der Unterscheidung zwischen ‚Person‘ und ‚Figur‘ die Auswirkungen eines dichotomischen Gefüges, wie es für die Beschreibung von Figurenrezeptionen in der Forschung üblich ist, aber immer wieder zu Problemen führt. Auch Murray Smith hat versucht mittels des Konstrukts der „mimetic hypothesis“12 jene paradoxale Dichotomie bei der Figurenwahrnehmung analysierbar zu machen, die er wie folgt beschreibt: „We want Mercutio to survive, but at the same time also want to experience Romeo and Juliet as it was written, which necessitates the death of Mercutio.“13 Dem Vorschlag Murrays folgend müssten also sowohl Aspekte der Personenwahrnehmung aus der ‚Alltagsrealität‘ als auch die Artifizialität von Figuren betonende Wahrnehmungsmechanismen in einem Konstrukt von der Figur berücksichtigt werden.14 Selbst wenn in diesem Buch weiterhin an dem Konstrukt ‚Figur‘ als von der Personenwahrnehmung grundlegend unterschiedenem Prinzip festgehalten werden soll, so ist es doch – ähnlich Murrays Vorstoß – ein zentrales Anliegen dieser Überlegungen, das paradoxale dichotomische Gefüge der Figurenwahrnehmung nicht nur zu thematisieren, sondern auch einen Vorschlag zu machen, wie der Blick darauf anders perspektiviert werden kann. Was die Bestimmung des 10 Grabes, Herbert: „Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren“, in: Poetica 10 (1978), S. 405-428, S. 405. 11 H. Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 407. 12 Smith, Murray: „Engaging Characters: Further Reflections”, in: J. Eder/F. Jannidis/R. Schneider: Characters in Fictional Worlds (2010), S. 232-258, hier S. 238. 13 M. Smith: Engaging Characters: Further Reflections, S. 238. 14 Vgl. M. Smith: Engaging Characters: Further Reflections, S. 232 ff. Vgl. dazu auch die als Monografie publizierten grundlegenden Überlegungen: Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Clarendon Press 1995.
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Begriffs ‚Figur‘ betrifft, so soll an dieser Stelle aber zunächst festgehalten werden, dass definitiv ein Unterschied gemacht werden muss zwischen der Wahrnehmung von Figuren, für welche die Zuschreibung von Fiktionalität durch den Rezipienten verbindlich ist, und der Wahrnehmung von Personen in der ‚Alltagsrealität‘. Hieraus ergeben sich zudem wesentliche Schlussfolgerungen für die im dritten Kapitel zu führende Diskussion über den moralischen Aspekt bei der Definition und der Einstufung der entgrenzten Figuren als genuin ‚böse‘ Figuren: Obwohl es sich in allen drei diskutierten und analysierten Beispielen um extrem gewalttätige und mordende Figuren handelt, sollen zu deren Bewertung keine auf ‚Alltagsrealität‘ bezogenen Moralkategorien herangezogen werden. Vielmehr sollen ihre strukturellen Zuordnungen zum antagonistischen Spektrum der Figurenkonstellation und dargestellte moralische Bewertungen seitens anderer Figuren der fiktiven Welt als Kriterien der Einstufung dienen. Um wieder auf die drei Merkmale zurückzukommen, die Eder in seiner Definition von der Figur besonders betont, lässt sich die Wiedererkennbarkeit als zweite zentrale Eigenschaft bestimmen. Hiermit wird unter anderem der Aspekt benannt, dass dadurch, dass in zahlreichen medialen Hervorbringungen Figuren in mehreren Kapiteln/Szenen auftreten, diese vom Rezipienten als bereits bekannt identifiziert werden und an das bestehende mentale Modell angeknüpft werden können.15 In diesem Zusammenhang stellt sich freilich die Frage, von welchem ‚Informationsstand‘ des Rezipienten man also bei der Untersuchung einer rezeptionswissenschaftlichen Fragestellung auszugehen hat. Während Grabes erklärt, im Rahmen seiner Ausführungen „als ‚Figur‘ nur jene Personenvorstellung zu bezeichnen, die nach mindestens einer Lektüre eines ganzen Textes gebildet wird“16, erscheint es je nach Fragestellung ebenso legitim, Figurendarstellungen beispielsweise nur anhand einer Filmszene herauszuarbeiten. Für die hier geführten Überlegungen gilt, dass jeweils die Figurendarstellung des gesamten Films beziehungsweise der Tanzperformance in die Analyse eingeflossen ist, auch wenn an der einen oder anderen Stelle sehr konzentriert nur ent15 Vgl. J. Eder/F. Jannidis/R. Schneider: Characters in Fictional Worlds, S. 28. Vgl. dazu vor allem auch Jannidis, welcher in seiner zentralen Arbeit dezidiert darstellt, von welchen Textelementen das Erkennen und Wiedererkennen von fiktiven Figuren geleitet wird. Vgl. F. Jannidis: Figur und Person, S. 109 ff. 16 H. Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 422. Grabes stellt auch ausführlich die Bedeutung der Reihenfolge der Informationsvergabe über Figuren für die Bildung des Figurenkonzeptes durch den Rezipienten heraus, wobei er insbesondere die Wirkung des sogenannten „primacy effect[s]“ unterstreicht. Vgl. H. Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 413 ff.
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lang bestimmter besonders aussagekräftiger Szenen und Sequenzen argumentiert wird. In Bezug auf die Analyse der Figuren Hannibal Lecter und Joker ist besonders zu berücksichtigen, dass nur die in den jeweiligen Filmen (The Silence of the Lambs, The Dark Knight) vorkommenden Merkmale und Aspekte in die Betrachtung einbezogen wurden. Weder die Prequels (Manhunter, USA 1986, Rg. Michael Mann; Red Dragon, USA 2002, Rg. Brett Ratner; Hannibal Rising, F, UK, USA 2007, Rg. Peter Webber) noch das Sequel (Hannibal, USA 2001, Rg. Ridley Scott) zu The Silence of the Lambs oder die gleichnamigen Romanvorlagen von Thomas Harris sind in die Analyse der Figur Lecter eingeflossen. Auch andere Batman-Verfilmungen, in welchen der Joker eine Rolle spielt (zum Beispiel Batman, USA 1989, Rg. Tim Burton) oder seine Darstellung in den Comicvorlagen wurden in der Untersuchung nicht berücksichtigt. Hiermit soll nicht behauptet werden, diese Erscheinungsformen der jeweiligen Figuren seien für die diskutierte Fragestellung vollkommen unerheblich, zugleich handelt es sich aber auch nicht nur um eine Beschränkung des Analysematerials aus rein pragmatischen Gründen. Vielmehr kann festgestellt werden, dass die besonderen Rezeptionswirkungen der entgrenzten Figuren im Kontext dieser beiden zentralen Filme in auffallender Weise (Häufigkeit und Intensität betreffend) sowohl in Fangemeinden als auch in journalistischen und wissenschaftlichen Publikationen artikuliert wurden. In Bezug auf Hannibal Lecter lässt sich zudem feststellen, dass sich das große Interesse des Publikums an der Figur erst mit der Veröffentlichung von The Silence of the Lambs und der Besetzung der Rolle mit dem Schauspieler Anthony Hopkins herausgebildet hat. Der fünf Jahre zuvor erschienene Manhunter (eine Verfilmung von Harrisʼ Roman Roter Drache), in welchem Brian Cox den Serientäter spielte, ist heutzutage dagegen kaum noch bekannt und war auch in seinem Erscheinungsjahr nicht besonders erfolgreich.17 Ähnliches lässt sich ebenfalls für The Dark Knight feststellen: Obwohl bereits Jack Nicholson den Joker in Batman sehr erfolgreich verkörpert hat, setzt die eigentliche Popularität der Figur, die schließlich auch in der Vermarktung von zahlreichen Fanartikeln ihren Ausdruck findet, erst mit Heath Ledgers Performance in The Dark Knight ein. Wobei sicherlich nicht zuletzt der plötzliche Tod Ledgers nur wenige Monate nach Drehschluss und der an ihn posthum vergebene Oscar den Mythos um oder zumindest das Gespräch über die Figur befeuert haben dürften. 17 Vgl. Krützen, Michaela: Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 196 f. Dies mag auch daran liegen, dass die Figur Hannibal Lecter (beziehungsweise hier ‚Lecktor‘) in Manhunter gar nicht als Kannibale, sondern nur als ‚gewöhnlicher‘ Serienmörder inszeniert wird. Vgl. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 200.
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Als drittes entscheidendes Kriterium für das Konstrukt der Figur betont Eder schließlich, dass es sich bei Figuren um ‚Wesen mit Bewusstseinsvorgängen‘ handle. Hiermit wird zugleich impliziert, dass sich diese ‚Bewusstseinsvorgänge‘ in der Figurendarstellung so ausdrücken müssen, dass sie vom Rezipienten als solche beobachtet und identifiziert werden können. Es müssen also beispielsweise Gedanken der Figuren und insbesondere ihre Motivationen dargestellt und so für die Zuschauer erfahrbar und nachvollziehbar gemacht werden: „Die Figuren führen äußere Handlungen aus, und wir schreiben ihnen Motive dafür zu, etwa Wünsche, Triebe, Emotionen, Bedürfnisse, Pläne und Ziele.“18 Für Eder stellt die Figurenmotivation daher auch die relevante „Schnittstelle zwischen Figur und Plot“19 dar. Zudem ist die Figurenmotivation zentraler Ansatzpunkt für die durch die Rezipienten durchgeführte Bewertung der Figur20, auf deren Basis häufig entschieden wird, ob es sich um ‚gute‘ oder ‚böse‘ Figuren handelt, ob der Rezipient für sie auf ein gutes Ende hofft oder darauf, dass sie am Schluss besiegt werden.21 Die Darstellung von Motivationen kann im fiktiven Geschehen zwar ganz unterschiedlich erfolgen, also beispielsweise als bewusste oder unbewusste Motive der Figuren oder als konsistent oder inkonsistent zu übrigen Figureneigenschaften22, an ihrer zentralen Bedeutung innerhalb der Figurenwahrnehmung und -konstruktion durch den Rezipienten ändert das nichts. Umso erstaunlicher – und damit ist bereits eine zentrale Besonderheit dieses Figurentypus benannt – ist es, dass die entgrenzten Figuren solche nachvollziehbaren und bewertbaren Motivationen nicht aufweisen, dass sie auch keine Hintergrundgeschichte haben, aus welcher sich Motivationen rekonstruieren lassen würden. Da alle konventionalisierten theoretischen Ansätze zur Beteiligung des Rezipienten am fiktiven Geschehen jedoch das Vorhandensein einer erkennbaren Motivation voraussetzen und sogar zentral daran anschließen, wird dies entsprechend als Problem für die Analyse der entgrenzten Figuren identifiziert und zum Anlass genommen, einen neuen theoretischen Ansatz zur Beteiligung, der eine solche Bindung an die Figurenmotivation nicht mehr benötigt, zu entwickeln und zu erproben.
18 J. Eder: Filmfiguren, S. 141. 19 J. Eder: Filmfiguren, S. 141. 20 Vgl. J. Eder/F. Jannidis/R. Schneider: Characters in Fictional Worlds, S. 25. 21 Vgl. dazu auch die Ausführungen im fünften Kapitel. Einen Überblick über die Forschung zur Figurenmotivation und eigene Vorschläge zur Kategorisierung präsentiert Jannidis. Vgl. F. Jannidis: Figur und Person, S. 221. 22 Vgl. J. Eder/F. Jannidis/R. Schneider: Characters in Fictional Worlds, S. 25.
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Zum Abschluss der Überlegungen über das Konstrukt Figur soll nun noch auf Eders Modell von der „Uhr der Figur“23 eingegangen werden, in welchem er vier verschiedene Ebenen der Figurenwahrnehmung identifiziert, die entsprechend auch als Ausgangspunkte für die Analyse von konkreten figuralen Erscheinungen genutzt werden können. Hierbei unterscheidet er zwischen „1. der basalen Wahrnehmung der Bilder und Töne des Films; 2. der Bildung mentaler Figurenmodelle; 3. der Schlüsse auf indirekte Bedeutungen sowie 4. der Reflexion über kommunikative Kontexte, Ursachen und Wirkungen der Figur in der Realität“24.
In Eders Analysemodell entsprechen diesen vier Ebenen der Wahrnehmung die Analysekategorien von Figuren als „Artefakt“, „Fiktives Wesen“, „Symbol“ und „Symptom“.25 Wie Eder ebenfalls herausstellt, ist für die Frage nach der emotionalen und kognitiven Beteiligung des Rezipienten an den Figuren bisher vor allem die Konstruktion der Figur als ‚fiktives Wesen‘ von Bedeutung gewesen.26 Im dritten Kapitel dieses Buches sollen entsprechend die entgrenzten Figuren auf Basis dieser Wahrnehmungsebene beschrieben werden, hier soll demnach die Frage beantwortet werden: „Was ist die Figur, welche Merkmale, Beziehungen und Verhaltensweisen hat sie als Bewohner einer fiktiven Welt?“27 Was die Ausarbeitung eines Theorienvorschlags zur Plausibilisierung ihrer paradoxalen Rezeptionswirkung betrifft, kommt man mit der Untersuchung der entgrenzten Figur als fiktivem Wesen vor allem aufgrund der nicht zur Schau gestellten und nicht rekonstruierbaren Motivationen (wie oben bereits dargelegt) jedoch nicht weiter. Hier konzentrieren sich die dargelegten Überlegungen vor allem auf die Beschreibung der Artefakt- und der Symbolebene der entgrenzten Figuren. In Bezug auf die Artefaktebene („Wie und durch welche Mittel wird die Figur gestaltet?“28) wird es unter anderem darum gehen, besondere Kameraeinstellungen, die Effekte von Nähe und Distanz evozieren, sowie Momente der Materialität von Körperlichkeit zu beschreiben. Im Rahmen der Analyse auf der Symbolebene („Wofür steht die Figur, welche indirekten Bedeutungen vermittelt sie?“29) steht dagegen vor allem die Konstruktion bestimmter Differenzen (Innen und Außen, Anwesenheit und Abwesenheit, Materialität und Referentialität) durch 23 J. Eder: Filmfiguren, S. 135. 24 J. Eder: Filmfiguren, S. 133 f. 25 J. Eder: Filmfiguren, S. 134 f. Hervorhebungen im Original. 26 Vgl. J. Eder: Filmfiguren, S. 144. 27 J. Eder: Filmfiguren, S. 134. 28 J. Eder: Filmfiguren, S. 134. 29 J. Eder: Filmfiguren, S. 134.
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den Rezipienten im Vordergrund, die einerseits als mit der entgrenzten Figur eng verknüpft erscheinen, andererseits jedoch gerade durch die entgrenzten Figuren wiederum eine Aufhebung erfahren. In diesem Zusammenhang kommt es wesentlich darauf an, zu zeigen, dass Rezeptionswirkungen und insbesondere Nähe und Distanz zu fiktiven Figuren auch plausibilisiert werden können, wenn man die Ebene von der Figur als ‚fiktives Wesen‘ in der Analyse sehr klein hält beziehungsweise aufgrund der fehlenden Darstellung von Motivationen sehr klein halten muss. Einher geht hiermit zugleich eine Aufwertung der Bedeutung von Artefakt- und Symbolebene, die im Rahmen theoretischer Vorschläge zur Figurenwirkung oftmals zu kurz kommen.
2.2 Z UM B EGRIFF DES N ARRATIVEN In diesem Buch steht eine bestimmte Form der ‚bösen‘ Figur im Mittelpunkt, die vor allem in narrativen Erscheinungsformen ausfindig gemacht werden kann. Nun deutet sowohl die Verwendung des Begriffs ‚Figur‘ als auch des Begriffs des ‚Narrativen‘ tatsächlich auf die Untersuchung einschlägiger erzählerischer Texte30 hin, die „durch eine zeitlich organisierte Handlungssequenz“31 markiert sind, „in der es durch ein Ereignis zu einer Situationsveränderung kommt“32. In den relevanten Forschungsansätzen zur Erzähltheorie wird konsequent darauf hingewiesen, dass der Begriff der Narrativität33 ursprünglich in der Literaturwis-
30 In den vorliegenden Überlegungen soll von einem erweiterten Textbegriff ausgegangen werden, wie er beispielsweise von Werner Kallmeyer et al. vertreten wird: „Text ist die Gesamtmenge der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden kommunikativen Signale. Dieser Textbegriff ist so weit gefaßt, daß alle kommunikativen Äußerungen darunter fallen, gleichgültig, ob sie sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art sind [Herv. i. O.].“ Kallmeyer, Werner et al.: Lektürekolleg zur Textlinguistik. Band 1: Einführung, Königstein, Ts: Athenäum 1986, S. 45. 31 Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: „Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie“, in: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002, S. 1-22, hier S. 6. 32 V. Nünning/A. Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen, S. 6. 33 Vgl. zum Begriff der Narrativität und seiner Unterscheidung vom Begriff der Narration: Abbott, H. Porter: „Narrativity“, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin: de Gruyter 2009, S. 309-328. Abbott arbeitet zugleich heraus, dass es der
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senschaft34 und dort vorwiegend im Rahmen der Untersuchung epischer Texte Verwendung findet.35 An dieser Stelle wird zugleich häufig darauf aufmerksam gemacht, dass eben jener Ursprung des Narrativen in der Literaturtheorie die Übertragung auf andere Disziplinen und Analysegegenstände erschwere, gleichzeitig sind jedoch in den jeweiligen Forschungsüberblicken zahlreiche interdisziplinäre Ansätze zu verzeichnen.36 Obwohl die Anwendung des Begriffs der Narrativität in Bezug auf die Analyse zumal von Spielfilmen recht nahe liegt37, scheint auch diese Übertragung offensichtlich einige Schwierigkeiten mit sich zu bringen. Das am häufigsten erwähnte Problem ist die Tatsache, dass es im filmischen Text nur in seltenen Fällen einen Erzähler im eigentlichen Sinne – als eine wie auch immer geartete anthropomorphe Erscheinung38 − gibt, während das Merkmal einer im Film stets inhärenten Sequenzialität wiederum für eine Übertragung von Narrativität auf ‚Lockerheit‘ des Begriffs ‚Narrativität‘ zu verdanken ist, die Entwicklung einer transmedialen Erzähltheorie ins Rollen gebracht zu haben. Vgl. S. 310. 34 Vgl. Meuter, Norbert: „Narration in Various Disciplines“, in: P. Hühn et al., Handbook of Narratology (2009), S. 243-262, hier S. 243. Vgl. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer 2012, S. 19. 35 Vgl. Wolf, Werner: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“, in: V. Nünning/A. Nünning, Erzähltheorie (2002), S. 23-104, hier S. 24. Vgl. auch Nünning, Ansgar/Sommer, Roy: „Drama und Narratologie: Die Entwicklung erzähltheoretischer Modelle und Kategorien für die Dramenanalyse“, in: V. Nünning/A. Nünning, Erzähltheorie (2002), S. 105-128, hier S. 105. 36 Vgl. V. Nünning/A. Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen, S. 2 ff. Vgl. A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 19 f. 37 Vgl. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 1985. Vgl. Branigan, Edward: Narrative Comprehension and Film, London: Routledge 1992. Vgl. dazu auch die bei Bordwell in Bezug auf Aristoteles und Platon ausgeführte Unterscheidung zwischen mimetischen und diegetischen Narrationstheorien. Obwohl es auf den ersten Blick vielleicht naheliegender erscheint, mimetische Theorien der Erzählung („narration as the presentation of a spectacle: a showing“, S. 3) statt diegetische Theorien der Erzählung („narration as […] verbal activity: a telling“, S. 3) auf den Film anzuwenden, macht Bordwell darauf aufmerksam, dass die Anwendung der Theorien medienunabhängig ist. Vgl. S. 3. 38 Vgl. Griem, Julika/Voigts-Virchow Eckart: „Filmnarratologie. Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen“, in: V. Nünning/A. Nünning, Erzähltheorie (2002), S. 155183, hier S. 161 f.
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filmische Inhalte spricht.39 Auch hinsichtlich des Attributes einer „‚experientiality, als die quasi-mimetische Evokation lebensweltlicher Erfahrung [Herv. i. O.]“40, wie sie von Monika Fludernik41 als Grundbestandteil von Narration bestimmt worden ist, gibt es bezüglich der Übertragung auf Spielfilme keine Schwierigkeiten. David Bordwell hat in seiner Theorie zur Filmerzählung darauf hingewiesen, dass ein spezifischer (anthropomorpher) Erzähler im Film zwar meist nicht vorhanden, aber zur Anwendung des Begriffes ‚Narrativität‘ auch nicht wirklich nötig ist, da die Erzählung sowieso rezipientenseitig konstruiert werde: „I suggest, however, that narration is better understood as the organization of a set of cues for the construction of a story. This presupposes a perceiver, but not any sender, of a message.“42 Entsprechend werde auch eine Erzählinstanz, sofern sie sich denn als solche herauskristallisiere, erst im Rezeptionsprozess konstruiert: „[…] the narration, appealing to historical norms of viewing, creates the narrator.“43 Johann N. Schmidt hat unter Verweis auf verschiedene Theorien zur Fokalisierung herausgestellt, dass auch unter Berücksichtigung dieser rezipientenseitigen Konstruktion – oder gerade deswegen – die Frage nach dem Blickwinkel (point of view), aus welchem das Geschehen betrachtet werde, in der Analyse der Filmerzählung als einem visuellen Medienangebot von hoher Relevanz bleibe44: „The prerequisite for any POV [point of view; SE] analysis, however, is the recognition that everything in cinema consists of ‚looks‘: the viewer looks at characters who look at each other, or s/he looks at them, adopting their perspective of the diegetic world while the camera frames a special field of seeing, or the viewer is privileged to look at something out of the line of vision of any of the characters.“45
In Bezug auf die hier angesetzte Analyse bestimmter Konstellationen in Spielfilmen scheint die Übertragung des Begriffs der Narrativität, wie in der oben ge39 Vgl. Schmidt, Johann N.: „Narration in Film“, in: P. Hühn et al., Handbook of Narratology (2009), S. 212-227, hier S. 213. 40 V. Nünning/A. Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen, S. 6. 41 Vgl. Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology, London/New York: Routledge 1996. Fludernik selbst macht darauf aufmerksam, dass in ihrem auf „experientiality“ begründeten Narrativitätsmodell Drama und Film von Beginn an sowieso eingeschlossen seien. Vgl. S. 28. 42 D. Bordwell: Narration in the Fiction Film, S. 62. 43 D. Bordwell: Narration in the Fiction Film, S. 62. 44 Vgl. J. N. Schmidt: Narration in Film, S. 222 f. 45 J. N. Schmidt: Narration in Film, S. 223.
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gebenen Definition nach Nünning, keine großen Probleme zu bereiten, schließlich präsentieren die ausgewählten Filmbeispiele „Figuren und eine in der Zeit strukturierte Handlung“46. Besonderes Augenmerk soll in der Analyse gleichwohl auf den Aspekt der Fokalisierung47 gelegt werden, da sich hieraus die Zuordnung der Figuren zur Gruppe der Protagonisten oder Antagonisten – und damit auch die Definition der entgrenzten Figuren als ‚böse‘ Figuren – sowie ein weiteres wesentliches Merkmal der entgrenzten Figuren ergibt: Der Rezipient erlebt nämlich die fiktive Welt an keiner Stelle aus dem Blickwinkel der entgrenzten Figuren und hat in diesem Sinne auch keinen (oder nur einen erschwerten) Zugriff auf die Motive und Einstellungen dieser Figuren, was wiederum als relevant für einen Wechsel des Rezeptionsmodus angesehen werden kann. Größere Schwierigkeiten ergeben sich gegebenenfalls bei der Übertragung des bis hierhin veranschlagten Begriffs der Narrativität auf die Analyse von Tanzperformances, wie sie in diesem Buch am Beispiel von William Forsythes Angoloscuro durchgeführt werden soll. Marie-Laure Ryan hat dargestellt, dass es nur in eingeschränktem Rahmen möglich ist, einem Publikum mittels Gestik und Bewegung eine Geschichte zu erzählen, zu der dieses keine Vorinformationen hat, wie es beispielsweise im klassischen Handlungsballett (etwa bei Schwanensee) üblich ist.48 Dennoch spricht Ryan Bewegungen eine generelle narrative Qualität zu: „Narrative is about evolving networks of human relations; and gestures and movement, by varying the distance between bodies, are reasonably good at representing the evolution of interpersonal relations, as long as mental life can be translated into visible body language.“49
Auf dieser Basis – der Feststellung einer generellen, wenn auch eingeschränkten Narrativität von Bewegung – kann im Rahmen der Analyse von Angoloscuro gezeigt werden, dass die Performance darüber hinaus eine für tänzerische Aufführungen auffällige sequenzielle Ordnung und spezielle Elemente figuraler Konstruktion aufweist und in diesem Sinne das narrative Moment der Tanzperformance als sehr viel intensiver als üblich eingeschätzt werden kann. 46 J. Griem/E. Voigts-Virchow: Filmnarratologie, S. 161. 47 Vgl. dazu auch Edward Branigan, der den Zusammenhang beziehungsweise die Unterschiede zwischen Fokalisation und Narration im Film verdeutlicht. E. Branigan: Narrative Comprehension and Film, S. 100 ff. 48 Vgl. Ryan, Marie-Laure: „Narration in Various Media“, in: P. Hühn et al., Handbook of Narratology (2009), S. 263-281, hier S. 275. 49 M.-L. Ryan: Narration in Various Media, S. 275.
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Über das bereits Gesagte hinaus bietet es sich im Rahmen dieses Buches an, sich statt am Begriff der Narration – als einer Bezeichnung der mehr oder minder vollständigen Erzählung – an dem Begriff des Narrativen zu orientieren, wie ihn unter anderem Werner Wolf für seine Überlegungen zur intermedialen Erzähltheorie nutzt. Hierbei unterscheidet Wolf zunächst zwischen drei grundlegenden, zumindest heuristisch voneinander zu trennenden Aspekten des Erzählvorgangs, nämlich dem Erzählen als „Akt des Hervorbringens von Geschichten“50, dem Narrativen als „Rahmen, in dem Erzählen vollzogen wird“51 und der Narrativität als einer „spezifische[n] Qualität des Narrativen“52. Laut Wolf müssen Überlegungen zu einer intermedialen Erzähltheorie bei dem Aspekt des Narrativen ansetzen, welchen er ausgehend von konstruktivistischer Perspektive beschreibt, „als kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne der frame theory […], d.h. also als stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble, das als solches medienunabhängig ist und gerade deshalb in verschiedenen Medien und Einzelwerken realisiert, aber auch auf lebensweltliche Erfahrung angewandt werden kann [Herv. i. O.]“53.
In diesem Sinne führt Wolfs Verständnis vom Narrativen konsequent fort, was im Rahmen dieser methodischen Vorüberlegungen bereits schon für die Idee von der Figur und die Frage nach dem Erzähler angedacht worden ist, nämlich dass die Zuschreibung dieser Konzepte stets rezipientenseitig erfolgt und dementsprechend in unterschiedlichen Kontexten realisiert werden kann, also beispielsweise nicht auf eine bestimmte Art der medialen Hervorbringung beschränkt ist.54 Zugleich stellt Wolf mit seinem Aspekt des Narrativen die ideale Argumentationsbasis für die folgenden Überlegungen bereit, da hier ja gezeigt werden soll, dass der Rezipient flexibel (wenn auch häufig angeregt durch im Medienangebot angelegten Stimuli, mit welchen bestimmte Vorgehensweisen der Rezipienten sozusagen vorstrukturiert werden55) zwischen verschiedenen Modi – 50 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 23. 51 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 23. 52 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 23. 53 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 29. 54 Mehr dazu in den folgenden Überlegungen zu den angewandten Wahrnehmungskonzepten in Kapitel 2.3. 55 Vgl. diesen Aspekt auch bei Wolf: „Bei alledem ist jedoch daran zu erinnern, daß das Narrative hier als kognitives Schema konzipiert wurde. Daraus folgt, daß das Werk zwar als Stimulus für dessen Applikation wirkt (und entsprechende Faktoren anbieten
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Wolf würde hier von ‚Rahmen‘ oder ‚Schemata‘ sprechen56 – der Wahrnehmung wählen und wechseln kann. In diesem Sinne wird im Folgenden dem Narrativen als Rahmung das Spielhafte als Rahmung von Kommunikationssituationen gegenübergestellt. Auch kann auf dieser Basis gezeigt werden, dass sich das Narrative und das Spielhafte als Modi gegenseitig nicht ausschließen, sondern es jeweils vom Rezipienten abhängt, welchen von beiden Modi er gerade verwirklicht. Entsprechend weist auch Wolf auf die Navigationsfunktion des Narrativen im Rezeptionsprozess hin, welches den Rezipienten unter anderem dabei unterstütze „auftretende Unbestimmtheits- und Leerstellen zu vervollständigen und mit Ambiguitäten umzugehen“57. Dieser Idee Wolfs entsprechend soll der Wechsel zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsmodi (dem Narrativen und dem Spielhaften) als Vorgehensweise des Rezipienten identifiziert werden, um mit Unbestimmtheits- beziehungsweise Leerstellen umzugehen. Darüber hinaus scheint von Bedeutung zu sein, dass Werner Wolf Narrativität als „ein graduierbares Phänomen“58 bestimmt. Dies hat zum einen zur Folge, dass nicht nur ganze Werke, sondern auch nur Werkteile als narrativ bestimmt werden können.59 Zum anderen kann eine Abstufung auch (abhängig natürlich immer von ihrer Wahrnehmung durch den Rezipienten) hinsichtlich der im Werk realisierten „Narreme“60 erfolgen. Als ‚Narreme‘ bezeichnet Wolf verschiedene „Faktoren von Narrativität“61, wie beispielsweise eine dargestellte Chronologie oder auch paratextuelle Verweise wie etwa Vorworte oder Untertitel.62 Im Sinne dieser graduellen Abstufung ergeben sich in Abhängigkeit von der jeweiligen medialen Präsentationsform bei Wolf drei grobe Unterscheidungen, und zwar zwischen „genuin narrativ verwendbare[n]“, „narrationsindiziernde[n]“ und „quasi-narrativ verwendbare[n]“ Medien.63 Die Idee von der graduellen Ausprägung von Narrativität wird vor allem für die Analyse von Angoloscuro von Remuß), die Narrativierung jedoch zu einem Gutteil in der kognitiven, kulturell konditionierten Tätigkeit des Rezipienten liegt: nämlich in dessen Anwendung des prototypengestützten Schemas nach dem trial-and-error-Verfahren [Herv. i. O.].“ W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 52. 56 Vgl. W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 29. 57 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 30. 58 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 38. 59 Vgl. W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 41. 60 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 96. 61 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 42. 62 Vgl. W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 43 ff. 63 W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 96. Herv. i. O.
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levanz sein: Zum einen kann hier nämlich gezeigt werden, dass nur bestimmte Sequenzen der Tanzperformance zur Aktivierung des narrativen Schemas anregen, während andere Sequenzen eher spielhafte Modi der Wahrnehmung aufrufen. Zum anderen muss Tanz als Form der medialen Hervorbringung zwar generell als eher quasi-narrativ bestimmt werden, gleichzeitig lässt sich in der Analyse aber zeigen, dass Forsythe durch die explizite Einbettung von Narremen in Angoloscuro das narrative Moment der Tanzperformance deutlich intensiviert. Eine Konstante der vorliegenden Überlegungen ist die bereits erwähnte Gegenüberstellung von Narration und Spiel, welche vor allem im vierten und fünften Kapitel dieses Buches Raum greift. An dieser Stelle gilt es, vorab kurz zu skizzieren, unter welchen Vorzeichen eine solche Gegenüberstellung geschieht: Erstens werden sowohl das Narrative als auch das Spielhafte – den eben dargestellten Überlegungen Wolfs folgend – als Rahmungen von Kommunikationssituationen angesehen, die zum einen im jeweiligen Medienangebot vorangelegt sind, zum anderen aber in der jeweiligen Rezeptionssituation individuell aktualisiert werden müssen und auch in unterschiedlicher Ausprägung aktualisiert werden können. Daraus folgt weiterhin, dass es sich bei der Gegenüberstellung von Narration und Spiel nicht um eine ausschlussgenerierende Operation handelt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass in der jeweiligen Kommunikationssituation sehr wohl beide, narrative und spielhafte Rahmungen aktualisiert werden können. Zweitens findet die Gegenüberstellung von Narration und Spiel nicht auf einer grundsätzlichen Ebene statt, sondern konzentriert sich auf einen bestimmten Aspekt, der beiden Rahmungen inhärent, in ihnen aber unterschiedlich ausgeprägt ist: Hierbei handelt es sich um den Aspekt der Fiktionalität, der in Bezug auf die theoretische Ausarbeitung des Narrativen meist auf einer Dichotomie beruht, auf dem Moment des Entweder-oder, und in Bezug auf die theoretische Ausarbeitung des Spielhaften auf einer Synergie, auf dem Moment des Sowohl-als-auch, wie im vierten Kapitel dargelegt werden wird. Auch Albrecht Koschorke stellt unter Rückgriff auf Johan Huizingas Überlegungen, der mit seinem Werk Homo ludens eine sehr wichtige und auch für dieses Buch zentrale soziale Theorie des Spiels vorgelegt hat, das Narrative dem Spiel gegenüber, wobei er vor allem die Ähnlichkeiten beider Konzepte in ihrer Eigenschaft als Universalien menschlicher Existenz betont.64 Zudem hebt Koschorke in seiner Allgemeinen Erzähltheorie das Hervorbringen von Situationen der ‚Alltagsrealität‘ als grundlegenden Bestandteil des Narrativen hervor und nivelliert damit zugleich einen in vielen Theorien als zentral angesehenen Unterschied zum Spielhaften:
64 Vgl. A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 13 ff.
34 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN „In Gestalt von Narrativen kann sich ursprünglich frei Erfundenes im kollektiven Bewusstsein sedimentieren und zu einer harten sozialen Tatsache werden; narrative Elemente sickern in den Sprachschatz von Gesellschaften ein; dort verfestigen sie sich im Lauf der Zeit zu lexikalischen Wendungen, zu Sprech- und damit Denkweisen, zu Begriffen und sogar Dingwörtern. Man könnte sagen, sie ‚vereigentlichen‘ sich, jedenfalls wird ihre ‚Uneigentlichkeit‘ während dieser Metamorphose allmählich vergessen.“65
In Bezug auf die folgenden Überlegungen scheint dies vor allem deshalb wichtig, da Koschorke hier bereits den Grundstein legt, um eine für die Fiktionalität des Narrativen immer wieder angenommene Dichotomie zwischen Beteiligung an der Fiktion und Beobachtung der Fiktion infrage zu stellen und für die Anwendung einer ludischen Fiktionalität – wie sie in diesem Buch entwickelt werden wird – zu plädieren, in welcher eine solche Unterscheidung eben von Grund auf ausgesetzt wird. Damit stellen die Überlegungen dieses Buches – hier Koschorke folgend – auch die Konzeption des Erzählens als „eine reproduktive, den erzählten Inhalten gegenüber nachrangige Tätigkeit“66 infrage und machen einen Vorschlag, wie eine alternative Betrachtung aussehen kann.
2.3 Z U DEN W AHRNEHMUNGSKONZEPTEN (M EDIEN - UND F IKTIONSBEGRIFF ) Im Rahmen der bisherigen Ausführungen zu den Begriffen der Figur und des Narrativen sollte bereits deutlich geworden sein, von welcher grundlegenden Auffassung über die Rezipiententätigkeit dieses Buch beseelt ist, von welchen Wahrnehmungskonzepten an dieser Stelle ausgegangen werden soll. Grundlegend für die hier ausgeführten Überlegungen ist eine konstruktivistische Perspektive: So wurde bereits festgestellt, dass sowohl Figuren als auch das Narrative erst im Prozess der Wahrnehmung durch den Rezipienten entstehen beziehungsweise auf Basis des Zusammenspiels verschiedener im Medienangebot angelegter und außerhalb zu suchender Stimuli konstruiert werden. Ernst von Glaserfeld, neben Heinz von Foerster einer der Begründer des Radikalen Konstruktivismus, hat in seiner Theorie grundlegend deutlich gemacht, dass „Wahr-
65 A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 24. 66 A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 22.
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nehmung und Erkenntnis […] konstruktive und nicht abbildende Tätigkeiten“67 sind. Dennoch denkt die konstruktivistische Theorie einen Austausch von verschiedenen Kommunikationsteilnehmern untereinander mit, die auf eine ‚gemeinsame objektive Wirklichkeit‘ referieren (welche freilich wiederum eine jeweils individuelle Konstruktion darstellt).68 Siegfried J. Schmidt begründet das Erleben einer referenzfähigen ‚gemeinsamen Wirklichkeit‘ in seinem theoretischen Ansatz mit der Idee vom Wirklichkeitsmodell: „Wirklichkeitsmodelle lassen sich bestimmen als das aus Handeln und Kommunizieren hervorgegangene und durch Praxis und Kommunikation systematisierte kollektive Wissen der Mitglieder einer Gemeinschaft, das über gemeinsam geteilte Erwartungen und Unterstellungen (also über die Herausbildung reflexiver und selektiv operierender Strukturen) deren Interaktionen koordiniert und Aktanten von Geburt an durch den (bzw. im) gemeinsamen Bezug auf solche Modelle kommunalisiert.“69
Als theoretischer Ansatz über grundlegende Wahrnehmungsmechanismen lässt sich die konstruktivistische Perspektive natürlich auch auf mediale beziehungsweise fiktionale Wahrnehmungssituationen übertragen, wie es beispielsweise Schmidt für die Literaturwissenschaft gemacht hat.70 In Bezug auf die hier vorgelegte Untersuchung folgt aus dem eben Dargelegten zweierlei: Zum einen wird davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der medial (in Form von Spielfilmen beziehungsweise Tanz) dargestellten fiktiven Welten höchst individuell vonstattengeht und zwar als Konstruktion des Rezipienten aus den dargebotenen Stimuli sowie individuellen Faktoren. Hierfür soll 67 Glaserfeld, Ernst von: „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität“, in: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hg.), Einführung in den Konstruktivismus, München: Piper 2010 [1985], S. 9-39, hier S. 30. 68 Vgl. E. v. Glaserfeld: Konstruktion der Wirklichkeit, S. 33 ff. 69 Schmidt, Siegfried J.: „Was heißt ‚Wirklichkeitskonstruktion‘?“, in: Achim Baum/Siegfried J. Schmidt (Hg.), Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten, Konstanz: UVK 2002, S. 17-29, hier S. 20. 70 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Teilband 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1980. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Teilband 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in einer Empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1982. Schmidt, Siegfried J.: „Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft“, in: H. Gumin/H. Meier, Einführung in den Konstruktivismus (2010), S. 147-166.
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der Begriff ‚Konzept‘ zum Einsatz kommen, der die Vorstellungen und Konstruktionen benennt, die sich der Rezipient von der entgrenzten Figur macht. Damit steht die Begriffsverwendung dem Einsatz des kognitionswissenschaftlichen Konzeptbegriffs bei Julia Stenzel71 sowie einem Vorschlag von Christiane Berger nahe, die auch den Aspekt der ständigen Anpassung von Konzepten betont: „Die[ ] Konzepte stellen unser aus Erfahrungen gewonnenes Wissen dar und werden ständig modifiziert, so dass Wahrnehmungen die Konzepte verändern, was wiederum folgende Wahrnehmungen beeinflusst. Mit diesen Konzepten wird der aktuelle Reiz solange verglichen und ihnen gegebenenfalls korrigierend angepasst, bis er erfolgreich zugeordnet, das heißt identifiziert werden kann.“72
Zum anderen stützen sich die Überlegungen bei ihrer Aussage über Rezeptionswirkungen zwar auf die Untersuchung von im Medienangebot vorhandenen Stimuli, geht aber zugleich davon aus, dass sich ein Großteil der Rezipienten bei der Wahrnehmung der Filme und der Tanzperformance auf ähnliche Konzepte bezieht, sodass objektivierbare Ergebnisse aus der Untersuchung abgeleitet werden können. An den entscheidenden Stellen – wie beispielsweise in der Analyse im fünften Kapitel – wird darauf hingewiesen, dass hier vollzogene Differenzierungen vom Rezipienten individuell auch jeweils anders geleistet werden könnten. In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass im Medienangebot bestimmte konzeptbildende Vorgehensweisen des Rezipienten sozusagen vorstrukturiert sind, die aktualisiert werden können, aber nicht in jedem Fall aktualisiert werden müssen. Dementsprechend wird natürlich auch nicht von einem irgendwie gearteten ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Verstehen des Medienangebots ausgegangen. 2.3.1 Das Mediale und das Medienangebot Inzwischen ist in diesen einleitenden Vorbemerkungen schon mehrfach ein Begriff gefallen, der im Rahmen methodischer Grundüberlegungen ebenfalls einer näheren Erläuterung oder zumindest Einordnung bedarf. Es handelt sich hierbei
71 Vgl. Stenzel, Julia: Der Körper als Kartograph? Umrisse einer historischen Mapping Theory, München: epodium 2010, S. 39 f. 72 Berger, Christiane: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript 2006, S. 32.
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um den Begriff ‚Medienangebot‘, der bereits als Benennung oder Verortung des Ausgangs- beziehungsweise Analysematerials gedient hat. Bezogen auf die eben gemachten Ausführungen zur konstruktivistischen Perspektive ließe sich in Bezug auf das Mediale zunächst Folgendes behaupten: Da ein direkter Austausch zwischen ‚Alltagsrealität‘ und Bewusstsein als nicht möglich angesehen wird, da also Objekte der Welt nicht einfach im Bewusstsein des Rezipierenden gespiegelt oder abgebildet werden, sondern dort immer erst (re)konstruiert werden, findet jede Form der Wahrnehmung nur als eine vermittelte Wahrnehmung statt. Insofern man das Mediale als genuinen Modus der Vermittlung begreift73, ließe sich weiter schlussfolgern, dass jede Wahrnehmungstätigkeit – egal in welcher Form – medial ist. So ließen sich zum Beispiel die Ausführungen von Hartmut Böhme und Peter Matussek verstehen, die jede Sinnestätigkeit als grundlegend medial charakterisieren: „Und insofern Sinne zur natürlichen Ausstattung des menschlichen (aber auch des tierischen) Körpers gehören, können die Sinne auch als natürliche Medien gelten. Sie sind ein Mittleres, ein Vermittelndes zwischen einem Wahrnehmungssubjekt (meist als perzeptionsverarbeitendes Bewusstsein gefasst) und einem Gegenstand, der gegeben sein muss, um als wahrnehmbarer überhaupt zu einer mentalen Repräsentation werden zu können.“74
Eine derart konzipierte Medialität gilt demnach also schon für die ‚direkte‘ sinnliche Wahrnehmung, in welcher so etwas wie ‚Interpretation‘ oder ‚Verstehen‘ noch gar keine Rolle spielt, also beispielsweise auch für die „Ordnung der Präsenz“75, wie sie Erika Fischer-Lichte als Wahrnehmungsmodus theatraler Aufführungen konzipiert, in welchen „[d]as erscheinende theatrale Element […] in seinem phänomenalen Sein wahrgenommen [wird]“76. Julia Stenzel hat infrage gestellt, inwiefern „die Annahme eines Übertragungsprozesses als zwingendes Kriterium für ‚Medialität‘“77 gelten kann, inwiefern medialen Prozessen also tatsächlich (und nicht nur aufgrund hergebrachter sprachlicher Formulierungen) ei73 Vgl. unter anderem Münker, Stefan: „Was ist ein Medium? Ein philosophischer Beitrag zu einer medientheoretischen Debatte“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 322-337. 74 Böhme, Hartmut/Matussek, Peter: „Die Natur der Medien und die Medien der Natur“, in: S. Münker/A. Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 91-111, hier S. 100 f. 75 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 273. 76 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 273. 77 Stenzel, Julia: „Stoffwechsel. Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys Cremaster Cycle“, in: C. Hille/J. Stenzel, Cremaster Anatomies, S. 223-250, hier S. 225.
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ne Zweiseitigkeit in Bezug auf die Unterscheidung zwischen einer ‚Senderinstanz‘ und einer ‚Empfängerinstanz‘ zugrunde liegt. Gerade in Bezug auf theatrale Prozesse sei eine solche Unterscheidung zudem oft nur schwer möglich, was diese wiederum „anfällig für Unmittelbarkeits-/Authentizitätsrhetoriken“78 mache. Um auf die oben zitierte These, jede Wahrnehmung sei medial, zurückzukommen: Ein derart radikal ausgeweiteter Medienbegriff führt in der Anwendung zu beträchtlichen Problemen79, weil er keine Unterscheidung mehr zwischen medialen und nicht-medialen Situationen zulässt. Insofern muss man wohl einer solchen Definition mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen: Zwar lässt sich das Mediale in diesem Zusammenhang als eine Denkfigur begreifen, mit der man die grundsätzliche Konstruktionsleistung des Rezipienten und die vielgestaltige Beeinflussung von Wahrnehmungsmechanismen unter Umständen besser in den Blick bekommen kann80, aber das Sprechen vom Medialen als einem grundlegenden Wahrnehmungsmodus ergibt wenig Sinn, wenn man erklären möchte, was das Mediale ist.81 Im Argumentationszusammenhang soll entsprechend ein eingeschränkter Medienbegriff Verwendung finden, der geeignet erscheint, die Präsentationsformen verschiedener narrativ und spielhaft gerahmter Kommunikationssituationen und die damit einhergehenden Effekte zu bezeichnen. Marie-Laure Ryan hat durch Untersuchung mehrerer Definitionen des Medialen herausgearbeitet, dass mit dem Begriff ‚Medium‘ zum einen der Kanal bezeichnet wird, mittels dessen Inhalte/Informationen zu den Rezipienten gelangen, und zum anderen eine Art ‚Sprache‘, welche fähig ist, die Inhalte/Informationen in einer bestimmten Weise zu formen.82 Die vorliegenden Überlegungen schließen an diese Begriffsbestimmung insofern an, als auch hier das Mediale zum einen als Charakteristikum spezifischer Transportsysteme und zum anderen als Rahmung von Kommunikationssituationen angesehen werden soll, die bestimmte formende Eigenschaften 78 J. Stenzel: Stoffwechsel, S. 231. 79 Vgl. dazu auch Wiesing, Lambert: „Was sind Medien?“, in: S. Münker/A. Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 235-248. 80 Vgl. dazu unter anderem die Ausführungen Böhmes und Matusseks zur Bedeutungsvielfalt, die sich in der Wahrnehmung eines Amsel-Gesangs realisieren kann. H. Böhme/P. Matussek: Die Natur der Medien, S. 102 f. 81 Vgl. Rauscher, Josef: „Unvorgreiflicher Versuch, sich im fragwürdigen Medium der Fragen von der Frage ‚Was ist ein Medium?‘ über ‚Was ist das paradigmatische Medium?‘ zu ‚Was sind und leisten (sich) die Medien?‘ vorzutasten“, in: S. Münker/A. Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 272-284. 82 Vgl. M.-L. Ryan: Narration in Various Media, S. 263.
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mit sich bringt.83 In diesem Sinne hat etwa auch Uwe Wirth festgestellt: „Medien sind […] Rahmenbedingungen, die konstitutiv auf das, was sie vermitteln, einwirken.“84 Vor allem dieser Aspekt der Definition macht die Vorstellung vom Medialen anschlussfähig an die Begriffsbestimmung des Narrativen von Werner Wolf, wie sie im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde. Hier unterscheidet Wolf ja Medien hinsichtlich der Art und Weise, wie sich Narrationen in ihnen ausagieren lassen.85 Entsprechend wird die Rahmung durch das Mediale als parallel zur Rahmung der Kommunikationssituation durch das Narrative beziehungsweise das Spielhafte angesehen. Das ‚Medienangebot‘ ist diesem Verständnis nach die spezifische Präsentationsform des Narrativen beziehungsweise Spielhaften und zwar sowohl verstanden in Bezug auf das jeweilige ‚Transportsystem‘ (Film, Aufführung, Text) als auch in Bezug auf die begleitenden formenden Rahmenbedingungen, die die Wahrnehmung des Narrativen beziehungsweise des Spielhaften durch den Rezipienten beeinflussen.86 In Bezug auf die hier durchgeführte Untersuchung lässt sich demnach abschließend feststellen, dass hier jeweils entgrenzte Figuren beziehungsweise Figurationen der Entgrenzung untersucht werden, die sich innerhalb relativ konkret bestimmbarer Medienangebote (Spielfilm, Tanzperformance) mit ihren jeweili83 Vgl. auch die Auffassung des Medialen bei Aristoteles als „ein[em] konstitutive[n] Moment der Mimesis, das ihr Ergebnis immer mitbestimm[t]“. Stenzel, Julia: „Begriffe des Aristoteles“, in: Marx, Peter W. (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: Metzler 2012, S. 12-31, hier S. 14. 84 Wirth, Uwe: „Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermittlung“, in: S. Münker/A. Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 222-234, hier S. 222. 85 Vgl. W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 96 f. 86 Vgl. dazu auch Jochen Venus, der einerseits eine noch weiter differenzierte Unterscheidung des Medialen in ‚Medienangebot‘, ‚Medienformat‘ und ‚Mediale Formen‘ (S. 369) vorlegt, andererseits aber Erzählung, Spiel und Experiment als „abstrakte Kategorien“ (S. 369) begreift, die in allen drei Feldern realisiert werden, wenn auch meist in hybrider Verkettung. Venus, Jochen: Masken der Semiose. Zur Semiotik und Morphologie der Medien, Berlin: Kadmos 2013. Vgl. dazu auch den bei Siegfried J. Schmidt verwendeten Begriff des Medienangebots, welcher hier „aus dem Zusammenwirken“ von drei Komponenten („Kommunikationsinstrumente[n]“, „technische[n] Dispositive[n]“ und „sozialsystemischen Ordnungen dieser Dispositive“) entsteht, aber sich vor allem auf die Produktionsseite der Medialität bezieht. Vgl. S. J. Schmidt: Was heißt Wirklichkeitskonstruktion?, S.27. Vgl. Schmidt, Siegfried J.: „Der Medienkompaktbegriff“, in: S. Münker/A. Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 144-157.
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gen formenden Bedingungen (zum Beispiel Ästhetik des voyeuristischen Blicks, „leibliche[ ] Ko-Präsenz“87) realisieren. Das Mediale spielt hier also insofern eine Rolle, als es in seiner Funktion als formende Bereitstellung der analysierten Beispiele möglichst immer mitbedacht werden soll. 2.3.2 Zum Begriff ‚Fiktionalität‘ Ein zentraler Aspekt dieses Buches ist die Entwicklung und Erprobung eines Modells ludischer Fiktionalität. Hierbei wird die ludische Fiktionalität von einer Fiktionalität narrativ gerahmter Kommunikationssituationen abgegrenzt und als eine solche bestimmt, in welcher simultan sowohl die emotionale und kognitive Beteiligung des Rezipienten am fiktiven Geschehen als auch seine Beobachtung der Herstellung dieser Fiktion möglich sind. Dies wird vor allem im dritten Kapitel Thema sein. An dieser Stelle soll zunächst vorbereitend geklärt werden, welcher Begriff von Fiktionalität den folgenden Ausführungen zu Grunde liegt. Entsprechend der bereits geleisteten Begriffsbestimmungen und der konstruktivistisch geprägten Perspektive auf Rezeptionsvorgänge soll auch Fiktionalität als rezipientenabhängige Zuschreibung auf ein Medienangebot verstanden werden. Diese Entscheidung folgt unter anderem den Untersuchungen Martin Andrees, der plausibel machen kann, dass sich historische Umbruchsituationen bestimmen lassen, infolge derer Rezipienten begonnen haben, Texte als fiktional zu lesen, statt die Präsentation ‚unwahrer‘ Tatsachen als Lüge zu verstehen.88 Entsprechend definiert Andree als „Lektüren der Fiktionalität [nur] solche Rezeptionsweisen […], die in dem Wissen durchgeführt werden, daß das Geschehen der Handlung frei erfunden ist [Herv. i. O.]“89. Auch Marie-Laure Ryan nimmt eine rezipientenorientierte Perspektive bei der Beschreibung des Begriffs ‚Fiktionalität‘ ein, indem sie auf die Tatsache verweist, dass die Zuschreibung ‚fiktional‘ durch den Rezipienten erfolgt, und einen wesentlichen Unterschied in Bezug auf die Wahrnehmung des Medienangebots macht: „Was ich mit kogniti-
87 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58. 88 Vgl. Andree, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung), München: Fink 2005, S. 228 ff. 89 M. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 229. Vgl. zur Konstruktion von Fiktionalität durch den Rezipienten: Lüthe, Rudolf: „Fiktionalität als konstitutives Element literarischer Rezeption“, in: Orbis Litterarum 29 (1974), S. 1-15.
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ver Dimension meine, ist, dass das Urteil ‚Es ist eine Fiktion‘ den Gebrauch eines Textes oder die Interpretation eines Verhaltens beeinflussen muss.“90 Diesen Zusammenhang verdeutlicht Ryan unter anderem am Beispiel der Rezeptionsvarianten des Horror-Spielfilms The Blair Witch Project (USA 1999, Rg. Daniel Myrick, Eduardo Sánchez), welcher im Rahmen seines Erscheinens durch begleitende Pressematerialien, Informationen auf seiner Website und der mittels Handkameraaufnahmen hergestellten Dokumentarästhetik eine ‚Wahrheit‘ des dort dargestellten Hexenspuks suggerierte: „Ein Zuschauer, der der Website glaubt, wird den Film mit viel größerem Schrecken sehen als ein Zuschauer, der weiß, wie der Film entstanden ist.“91 Ryan geht an dieser Stelle nicht darauf ein, dass auch Rezipienten, welche das filmische Geschehen von The Blair Witch Project eindeutig als fiktiv rezipieren, zusätzlichen Genuss gerade aus der dort angebotenen Authentizitätsfiktion ziehen können. Dies kann beispielsweise geschehen, indem sie darauf achten, wie die filmischen Mittel zur Herstellung der Authentizitätsfiktion eingesetzt werden oder indem sie sich anderen Rezipienten überlegen fühlen, weil sie die Vorgehensweise des Films bereits ‚entlarvt‘ haben. An dieser Stelle wird auch verständlich, warum eine rein textbezogene Definition des Begriffs der Fiktionalität, wie sie beispielsweise Frank Zipfel vorschlägt, nicht ausreicht, um das Phänomen adäquat zu erfassen. Problematisch ist zudem, dass Zipfel, da er sich gegen jeden Einbezug des Rezipienten in die Definition von Fiktionalität vehement wehrt, für seine Begriffsbestimmung von einer ‚richtigen‘ und einer ‚falschen‘ Textrezeption im Sinne einer Autorintention ausgehen muss.92 Es ist offensichtlich, dass gerade im Falle von The Blair Witch Project die reine Untersuchung der Autorintention hinsichtlich der Generierung von Fiktionalität nicht ausreichen kann, um sowohl einerseits die vielfältigen und unterschiedlichen Rezeptionsweisen und Wirkungsmechanismen als auch andererseits die besondere Rezeptionsqualität des Films, die sich ja unter anderem im individuellen Umgang mit der Fiktionalitätszuschreibung ausdrückt, angemessen zu beschreiben. 90 Ryan, Marie-Laure: „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), ‚Es ist, als ob‘. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Fink 2009, S. 69-86, hier S. 86. 91 M. L. Ryan: Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien, S. 70. Zum Film Blair Witch Project und den mit ihm verbundenen Werbemaßnahmen vgl. auch NickelBacon, Irmgard/Groben, Norbert/Schreier, Margrit: „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en)“, in: Poetica 32 (2000), S. 267-299. 92 Vgl. F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 231 f.
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Dennoch – und hier wird eine Einschränkung getroffen, von der bereits im Zusammenhang mit den anderen Begriffsbestimmungen die Rede war – vollzieht sich die rezipientenabhängige Zuordnung von Fiktionalität natürlich nicht völlig losgelöst von den im Medienangebot gegebenen Strukturen und Signalen. Natürlich bietet der Roman, der Film, die Aufführung eine bestimmte ‚Leseweise‘ an, die der Rezipient vollständig, teilweise oder auch gar nicht verwirklichen kann. In diesem Zusammenhang erklärt beispielsweise auch Martin Andree, dass die Fähigkeit, Texte als fiktional zu rezipieren, zunächst erlernt werden muss.93 Entsprechendes kann auch für das Erkennen sogenannter Fiktionssignale, wie beispielsweise den Einsatz eines allwissenden Erzählers oder der physikalisch unmöglichen Kameraaufnahme, gelten.94 In Sinne von Erving Goffmans Rahmentheorie95 ließe sich an dieser Stelle sogar schlussfolgern, dass in der Rezeptionssituation von fiktionalen Medienangeboten wie in jeder sozialen Situation auf vorbestimmte (und daher erlernte) Rollen- und Verhaltensschemata zurückgegriffen wird, die dem Rezipienten auch die Entschlüsselung etablierter Codes von Fiktionalität erlauben. Da sich also Signale der Fiktionalisierung im Medienangebot ausfindig machen lassen, erscheint es auch sinnvoll zu sein, einer etablierten Unterscheidung in Bezug auf die Textebenen ‚histoire‘ und ‚discours‘ zu folgen, wie sie unter anderem Zipfel in seiner Untersuchung aufnimmt: So ordnet er die Bezeichnung ‚fiktiv‘ und ‚Fiktivität‘ der Ebene des Dargestellten (histoire) zu, während die Bezeichnungen ‚fiktional‘ und ‚Fiktionalität‘ für die Ebene der Darstellung (discours) Verwendung finden.96 Entsprechend definiert Zipfel den Begriff ‚Fiktionalität‘ als „Bezeichnung der für fiktionale Erzähl-Texte charakteristischen Erzählstrukturen“97. Im Kontext der hier zentral gesetzten Rezipientenabhängigkeit der Kategorie liegt Fiktionalität also dann vor, wenn den Darstellungsweisen des Medienangebots zugeschrieben wird, zu suggerieren, dass die dargestellten Inhalte fiktiv sind, also „nicht auf tatsächlichen Ereignissen beruh[en], daß [ihnen] kein Geschehen in der Realität entspricht“98. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, 93 Vgl. M. Andree: Archäologie der Medienwirkung, S. 230. 94 Eine systematische Übersicht zum Thema Fiktionssignale bieten I. Nickel-Bacon/N. Groeben/M. Schreier: Fiktionssignale pragmatisch. 95 Vgl. Goffman, Erving: Rahmenanalyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. 96 Vgl. F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 19. Zur Unheitlichkeit der Begriffsverwendung in den einschlägigen Theorien vgl. S. 17 ff. 97 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 115. 98 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 68.
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dass der hier verwendete Gegenbegriff zur Fiktion, nämlich ‚Realität‘ oder ‚Wirklichkeit‘, natürlich nicht grundsätzlich unproblematisch ist, wie bereit weiter oben ausgeführt wurde.99 Doch auch in seiner Verwendung wird deutlich, dass die Zuschreibung von Fiktionalität eben nicht rezipientenunabhängig zu denken ist: Denn wenn, wie bereits in diesem Kapitel dargelegt, die jeweilige ‚Wirklichkeit‘ immer nur als Konstruktion des Wahrnehmenden anzusehen ist, so ist notwendigerweise Fiktion als Gegenbegriff auch konstruktionsabhängig. Zudem wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass es sich bei dem Verhältnis zwischen Fiktion und ‚Alltagsrealität‘ nicht um ein dichotomisches Verhältnis handelt, worauf auch Frank Zipfel hinweist.100 Tatsächlich scheint Fiktionalität also graduierbar zu sein, ein Medienangebot kann als mehr oder weniger fiktional wahrgenommen werden. Zipfel macht darauf aufmerksam, „daß es sehr unterschiedliche Ausprägungen von Fiktivität gibt, die sich z. B. nach den Kategorien der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der verschiedenen Elemente der erzählten Geschichten oder nach einer Einteilung wie der in reale, pseudo-reale und nicht-reale Objekte unterscheiden lassen [Herv. i. O.]“101.
Wie bereits zu Beginn des Kapitels erwähnt, wird der Begriff ‚Fiktionalität‘ im vorliegenden Rahmen vor allen Dingen im Sinne einer Gegenüberstellung von narrativer Fiktionalität und ludischer Fiktionalität verwendet. Entsprechend der hier dargelegten grundlegenden Ausführungen zum Begriff wird darunter jeweils ein bestimmtes Verhalten des Rezipienten zum Medienangebot verstanden, das von individuellen Voraussetzungen gelenkt wird, aber auch von den im Medienangebot angelegten Signalen abhängig ist. In beiden Fällen verhalten sich die Rezipienten dabei zum Medienangebot so, als ob die dort dargestellte fiktive Welt eher keine Entsprechung in der ‚Alltagsrealität‘ hat. Der Unterschied zwischen narrativer und ludischer Fiktionalität liegt nun darin – und dies wird vor allem im vierten Kapitel ausführlicher erläutert –, dass mit dem einen Modus ein Verhalten des Entweder-oder und mit dem anderen Modus ein Verhalten des Sowohl-als-auch gegenüber der dargestellten Welt beschrieben wird.
99
Zur Problematisierung des Begriffs vgl. F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 69 ff.
100 Vgl. F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 79. 101 F. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 293.
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2.4 B EGRÜNDUNG DES U NTERSUCHUNGSKORPUS Der eigentlichen Untersuchung soll an dieser Stelle noch eine Begründung des ausgewählten Analysekorpus vorangestellt werden: Das Buch konzentriert sich im Rahmen der Entwicklung seiner Ideen zunächst auf drei Figuren aus drei verschiedenen Spielfilmen, die hinsichtlich ihrer formalen und narrativen Ausgestaltung alle dem Klassischen Kino zugeordnet werden können.102 Dabei handelt es sich mit The Silence of the Lambs und The Dark Knight um zwei USamerikanische Filme, die als Hollywood-Produktionen entstanden sind, mit Cold Fish liegt zudem ein japanischer Film vor, der sich aber hinsichtlich seiner Motivik und der dramaturgischen Gestaltung vom Modell des traditionellen Unterhaltungsfilms – wenn überhaupt – nur in Details unterscheidet. Anhand der drei Figuren Hannibal Lecter, Joker und Yukio Murata werden im dritten Kapitel die Kennzeichen entgrenzter Figuren herausgearbeitet, zudem wird im fünften Kapitel eine Bivalenz in ihrer Präsentation nachgewiesen, die wiederum als Anlass für den Rezipienten zum Umschalten in den Modus der ludischen Fiktionalität gelesen wird. Um weitere Anwendungsgebiete für das Konstrukt von der entgrenzten Figur und das Modell der ludischen Fiktionalität nachzuweisen, findet im fünften Kapitel zudem die bereits erwähnte Anwendung der Analysestrategien auf William Forsythes Tanzperformance Angoloscuro statt. Der Typus der entgrenzten Figur scheint in vollständiger Ausprägung eher selten vorzukommen, umso spannender ist freilich die Frage, warum gerade hier die paradoxalen Rezeptionswirkungen in dieser Intensität ausgelöst werden. Hannibal Lecter aus dem Thriller The Silence of the Lambs, der inzwischen zu einem der meist analysierten Filme gehört, wird mit dem Joker aus The Dark Knight eine historisch jüngere Version der entgrenzten Figur gegenübergestellt. Dabei profitiert die Analyse von den Vorarbeiten zu The Silence of the Lambs, kann aber zugleich zeigen, dass Hannibal Lecter als Figurentypus keine Ausnahmeer-
102 Mit dem Begriff ‚Klassisches Kino‘ werden hier die spezifischen Gestaltungs- und Produktionsmechanismen bezeichnet, die David Bordwell, Janet Staiger und Kritin Thompson für den Hollywood-Film herausgearbeitet haben. Vgl. im besonderen Bordwell, David: „The Classical Hollywood Style“, in: David Bordwell/Janet Staiger/Kristin Thompson (Hg.), The Classical Hollywood Cinema, London: Routledge 2004, S. 1-84. Vgl. zur Verwendung des Begriffs im Deutschen: Krützen, Michaela: Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood, Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 10 f.
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scheinung ist. Mit der Analyse von Yukio Murata aus dem japanischen Cold Fish kann zudem gezeigt werden, dass es sich bei der entgrenzten Figur um ein internationales Phänomen handelt. Obwohl alle Beispiele aus der jüngeren Filmgeschichte stammen, soll keinesfalls suggeriert werden, dass es sich bei der entgrenzten Figur um ein nur in den letzten 23 Jahren auftretendes Phänomen handelt. Es geht in den vorliegenden Überlegungen um die Entwicklung einer Typologie und nicht einer Geschichte dieser besonderen Ausprägung der ‚bösen‘ Figur. Natürlich scheint es gerade in Weiterführung der diskutierten Thesen relevant zu sein, nach weiteren Auftritten der entgrenzten Figur in der Film- und Kulturgeschichte zu suchen, um damit gegebenenfalls auch historische Vorgänger identifizieren zu können. Es ist darüber hinaus ein Ziel, aufzuzeigen, dass konventionalisierte Theorien der Rezipientenbeteiligung meist von einer Dichotomie zwischen Innen und Außen ausgehen, dass aber mittels dieser Dichotomie die besondere Rezeptionswirkung entgrenzter Figuren nicht plausibel dargestellt werden kann, da mit den Theorieansätzen ein gleichzeitiges Beteiligtsein am fiktiven Geschehen sowie ein Betrachten der Herstellungsweisen dieser fiktiven Welt nicht gedacht werden kann. Diese den konventionalisierten Theorien zugrundeliegenden Dichotomien sind für alle Formen der Rezeption fiktionaler Welten auszumachen, lassen sich also sowohl in Beteiligungsansätzen für den Film, für die Literatur sowie für theatrale Aufführungen und Performances aufspüren. Besonders plakativ aber erfolgt die Verhandlung dieser Dichotomie (wie vor allem im fünften Kapitel dargestellt wird) am Beispiel der Rezipientenbeteiligung an fiktiven Figuren und hier insbesondere solchen, die in Spielfilmen dargestellt werden. Daher bieten sich solche Figurendarstellungen und die damit einhergehenden theoretischen Bearbeitungen als Startpunkt der Entwicklung eines Modells ludischer Fiktionalität besonders an. Im Rahmen der Analyse der entgrenzten Filmfiguren kann eindrücklich gezeigt werden, an welchen Punkten die konventionalisierten theoretischen Ansätze nicht mehr zur Anwendung kommen können. Hierdurch wird auch noch einmal die Notwendigkeit des Vorschlags einer erweiterten Perspektive unterstrichen. Die vorliegenden Überlegungen wollen aber an diesem Punkt nicht stehen bleiben: Vielmehr geht es um den Vorschlag einer erweiterten Perspektive auf die kulturwissenschaftliche Konzeption von Rezipientenbeteiligung an fiktionalen Hervorbringungen. Um die Breite des möglichen Anwendungsfeldes des hier vorgebrachten Vorschlags aufzuzeigen, wurde für die Analyse zudem eine Aufführung gewählt, die sich als Tanzperformance versteht und damit eigentlich per
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se die gängigen Muster und Theorieansätze narrativer Kommunikationssituationen infrage stellt. Dadurch wird natürlich auch die Rede von ‚entgrenzten Figuren‘ problematisch. Es kann aber dargestellt werden, wie deren Grundgedanke dennoch als ‚Figuration der Entgrenzung‘ auf die Tanzperformance angewandt und für die Analyse der Rezipientenbeteiligung an Angoloscuro fruchtbar gemacht werden kann. Am Ende soll die Analyse der Tanzperformance deutlich machen, mit welchem Gewinn das hier entwickelte Konstrukt der entgrenzten Figur sowie das Modell der ludischen Fiktionalität auf unterschiedliche mediale Ausprägungen fiktionaler Hervorbringungen angewandt werden können.
3. Der Typus der entgrenzten Figur
Ein Blick in die einschlägige Sekundärliteratur wie auch in individuelle Rezeptionsdokumente, welche beispielsweise über Kommentare in Internetforen verfügbar sind, bringt es ans Licht: Es gibt offenbar eine nicht zu unterschätzende Tendenz, bestimmte Antagonisten im Film – unter ihnen brutale Gewalttäter, blutrünstige Serienmörder und sogar Kannibalen – als faszinierend und bewundernswert, ja in besonderen Fällen sogar als nachahmenswert wahrzunehmen. Unter dem Titel Taboos and Totems hat die Filmwissenschaftlerin Janet Staiger eine Analyse der Rezeptionsdokumente (vor allem Filmkritiken) zum Film The Silence of the Lambs veröffentlicht. Die Autorin beschreibt ihre Methode darin selbst als historische Rezeptionsstudie – „historical reception studies“1 –, von der sie sich Erkenntnis über die kulturelle Bedeutung von Texten zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten sozialen Bedingungen für bestimmte Zuschauer erwartet.2 In ihrer Studie weist Staiger darauf hin, dass es die Zuschauer üblicherweise genossen haben, der Figur des Hannibal Lecter zuzusehen, obwohl er Kannibale ist: „Viewers routinely enjoyed Lecter, particularly as played by Anthony Hopkins […]. Lecter, of course, offers an interesting problem since he breaks a taboo which would so normally be described as the horror for a film.“3 Auch Maggie Kilgour betont die Bewunderung und Faszination, die man gegenüber dem inzwischen weltbekannten Film-Kannibalen empfinden kann: „Lecter is a man of great culture and refinement, a well-mannered gentleman (who never eats ladies), who quotes (if misquotes) Donne, a man of both culti-
1
Staiger, Janet: „Taboos and Totems: Cultural Meanings of The Silence of the Lambs"“, in: Sue Thornham (Hg.), Feminist Film Theory. A Reader, New York: NYU Press 1999, S. 210-223, hier S. 211.
2
Vgl. J. Staiger: Taboos and Totems, S. 211.
3
J. Staiger: Taboos and Totems, S. 213.
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vated aesthetic as well as a crude savage taste, who exposes the affinity between barbarism and civilization.“4 Und in einem Internet-Forum mit dem Namen The Hannibal Lecter Studiolo, welches sich der Aufgabe verschrieben hat, „to discover and discuss the novels, films, philosophy and culture of the Good Doctor“5, antwortet Mischa, eine 35 Jahre alte Frau aus Portugal, auf die Frage, welche Figur aus den Hannibal-Geschichten sie am liebsten treffen würde, folgendermaßen: „[…] I would be glad if I could spend one day, just one normal day in the life of Dr. Lecter. By a normal day, I understand it as day without any incidents, as I am not prepared (yet) for such thrilling, if you know what I mean. But I guess visiting the most fascinating places and hear him talk about music, art […] would definitely lead to a wonderful day!“6
Diese Aussagen, aus so unterschiedlichen Perspektiven sie auch getätigt wurden, deuten auf dieselbe Tatsache hin, nämlich dass der Kannibale Hannibal Lecter als zugleich bewunderns- und verachtenswert, als anziehend und abstoßend, als bedrohlich und vertrauenswürdig wahrgenommen werden kann. Bis heute hat die Figur Lecter nichts von ihrer Faszination für die Zuschauer verloren, obwohl sie beinahe schon 30 Jahre alt ist7: Das beweist auch die Tatsache, dass der USamerikanische Fernsehsender NBC erst 2013 eine neue TV-Serie des Drehbuchautors Bryan Fuller ins Programm genommen hat, in welcher der Serienkiller als eine der Hauptfiguren auftritt.8 Das Phänomen, das hier für die Wahrnehmung der Figur Hannibal Lecter beschrieben werden konnte, findet sich in ähnlicher Weise natürlich auch bei anderen ‚bösen‘ Figuren. In den folgenden Überlegungen soll das Augenmerk aber auf einen bestimmten Figurentypus gerichtet werden, bei welchem sich die Frage nach dem Warum und Wie der Wahrnehmung in besonders dringlicher Weise 4
Kilgour, Maggie: „The Function of Cannibalism at the Present Time“ , in: Francis Barker/Peter Hulme/Margaret Iversen (Hg.), Cannibalism and the Colonial World, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 238-259, hier S. 248 f.
5 6 7
The Hannibal Lecter Studiolo (Foreneintrag): http://www.hannibalstudiolo.com /php BB2/viewtopic.php?t=97 (05.07.2013). The Hannibal Lecter Studiolo (Foreneintrag): http://www.hannibalstudiolo.com /php BB2/ viewtopic.php?t=1340 (05.07.2013). Der Filmcharakter basiert auf der Roman-Tetralogie des amerikanischen Bestsellerautors Thomas Harris. Hannibal Lecter tauchte bereits 1981 im ersten Buch der Reihe namens Red Dragon auf.
8
Vgl. NBC/Hannibal (Serienseite): http://www.nbc.com/hannibal/ (04.10.2013).
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stellt, da bei diesem Figurentypus die in der Forschung gängigen Theorienansätze zur Rezipientenbeteiligung an fiktionalen Hervorbringungen keine Anwendung finden können. So kommt beispielsweise eine empirische Studie zur Hauptfigur der USamerikanischen Serie Dexter (2006-2013) zu dem Ergebnis, dass der titelgebende Serienmörder nur deshalb als sympathisch erlebt werden kann, da die Rezipienten auf Basis seiner Biografie oder aufgrund der Vergehen seiner Opfer – diese sind allesamt selbst Serienmörder und grausame Gewaltverbrecher – „spezifische Rechtfertigungsstrategien“9 entwerfen, welche es wiederum erlauben, mit der Figur Dexter Morgan mitzufühlen und sich sogar mit ihr zu identifizieren.10 Während dies – wie in der Studie gezeigt wird – bei einer Figur wie Dexter Morgan möglich ist, da der Rezipient etwa Informationen über dessen Kindheitsgeschichte und Tötungsmotive erhält, muss dieser Ansatz bei der Gruppe von Figuren, die im Folgenden in den Blick genommen werden, scheitern. Ein Hauptmerkmal des Typus der hier sogenannten entgrenzten Figur ist, dass der Rezipient keinerlei Informationen über deren Herkunftsgeschichte und vor allem keine gesicherten Informationen über die Motivation für ihre grausamen und brutalen Taten erhält, sodass eben keine solchen moralischen Rechtfertigungsstrategien entworfen werden können. Umso dringlicher stellt sich hier also die Frage, warum diese speziellen ‚bösen‘ Figuren zugleich als anziehend und abstoßend, als bewunderns- und verachtenswert wahrgenommen werden können. Zunächst soll aber in diesem Kapitel gezeigt werden, welchen Platz die entgrenzten Figuren im Bereich des fiktiven ‚Bösen‘ einnehmen, welche Merkmale für diesen Figurentypus kennzeichnend sind und inwiefern für seine Rezeption der oben bereits angedeutete besondere Wahrnehmungsmoment charakteristisch ist.
3.1 D AS
‚B ÖSE ‘ AM T YPUS ENTGRENZTEN F IGUR FIKTIVE
DER
Eine für die vorliegenden Überlegungen zentrale Unterscheidung bezüglich der Wahrnehmung und Untersuchung der Erscheinungsformen des ‚Bösen‘ trifft Karl-Heinz Bohrer in seinem Aufsatz über Die Ästhetik des Bösen, in welchem er auf die grundsätzliche Differenz eines Sprechens über das ‚Böse‘ „als ethische
9
Schlütz, Daniela et al.: „Mein Freund, der Serienkiller. Zuschauerbeziehung zum Hauptcharakter der TV-Serie Dexter”, in: tv diskurs 14 (2010), S. 73-77, hier S. 76.
10 Vgl. D. Schlütz et al.: Mein Freund, der Serienkiller, S. 77.
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Kategorie“ oder über seine „ästhetische Valenz“11 aufmerksam macht. Während das ethisch ‚Böse‘ stets „als Abwesenheit des Guten, als reine Negativität“12 definiert worden sei, sei die „rezeptions- und produktionsästhetische Qualität des Bösen […] auf einer rein inhaltlichen Ebene gar nicht zu finden, zumal dort das Böse immer als Widerpart des Guten unter einer moralischen Kontrolle steht“13. Bohrer versucht in seinen Überlegungen demnach – auch unter Rückgriff auf die Überlegungen von Sören Kierkegaard und George Bataille –, das ästhetisch ‚Böse‘, welches sich in fiktionalen Hervorbringungen vor allem als „eine bestimmte Form der Sprechweise“14 manifestiere, von der moralischen Bewertung der Rezipienten und deren „ethischen Kriterien“15 in gewisser Weise abzukoppeln. Freilich gelingt dies nicht vollkommen, auch wenn Bohrer nicht explizit auf dieses Problem eingeht, sondern es eher als selbstverständliche Grundannahme seiner Überlegungen nebenher laufen lässt: So sehr man beispielsweise nachvollziehen kann, dass die spezifische ästhetische Qualität des ‚Bösen‘ in den kurzen Prosatexten Kafkas von der Tatsache herrührt, dass dem Rezipienten hier „grausam-sadistische Handlungen, ohne daß man wüßte, warum“16 dargeboten werden, so deutlich wird hier doch, dass die Bewertung dieser Handlungen als grausam-sadistisch und damit als ‚böse‘ wiederum eben eine moralische Bewertung, eine Anwendung von ethischen Kriterien, ist. Auf diese Problematik geht auch Peter-André Alt ein, dessen Untersuchung sich hinsichtlich der Einbeziehung moralischer Kriterien bei der Betrachtung des ‚Bösen‘ in der Literatur nicht eindeutig festlegt: Zwar spricht er von einer „selbständigen Form der ästhetischen Erfahrung des Bösen jenseits empirischer Evidenz und moralischer Regulierung“17, welche Bestandteil der Rezeption von Literatur sei, gleichzeitig macht er aber darauf aufmerksam, dass das ‚Böse‘ „noch als Produkt der Fiktion auf seine mögliche Realität bezogen [bleibt], die durch ihren Zumutungscharakter ethische Wertungen herausfordert“18. Christian Kirchmeier umgeht das Problem der Frage nach einer Ästhetisierung beziehungsweise Fiktionalisierung des ‚Bösen‘ einerseits geschickt, indem er Moral – als das Entscheidungsinstrument zur Differenzierung zwischen den 11 Bohrer, Karl-Heinz: „Die Ästhetik des Bösen. Oder gibt es eine böse Kunst?”, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 536-550, hier S. 536. 12 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 536. 13 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 538. 14 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 540. 15 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 539. 16 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 549. 17 Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen, München: Beck 2010, S. 20. 18 P.-A. Alt: Ästhetik des Bösen, S. 26.
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Dichotomien ‚gut‘/‚schlecht‘ beziehungsweise ‚gut‘/‚böse‘ – als „eine kommunikative Praxis“19 begreift und „den Moralbegriff so als textanalytische Kategorie nutzbar“20 macht. Allerdings bindet Kirchmeier seinen Moralbegriff dann doch in mehrfacher Weise an außerfiktionale Bedingungen zurück: Zum einen erfolgt die Entwicklung der Theorie von Moral als kommunikativer Praxis direkt aus den Funktionsbedingungen von Kommunikation zwischen Individuen beziehungsweise innerhalb von Gesellschaften, die um Kontingenzreduktion bemüht sind.21 Zum anderen definiert Kirchmeier verschiedene Moraltypen, die direkt auf Entwicklungen in der Realgesellschaft reagieren beziehungsweise eng mit diesen zusammenhängen. So wird etwa beim „stabile[n] Moraltypus [Herv. i. O.]“22 von einem „moralischen Konsens in der Gesellschaft“23 darüber ausgegangen, was jeweils als ‚gut‘ oder ‚böse‘ aufgefasst wird. Schließlich begreift Kirchmeier die literarische Erzählung als „das paradigmatische Medium moralischer Kommunikation, da nur in ihr ein Verhalten kommunikativ verfügbar und als achtens- oder missachtenswert markiert werden kann“24. Was dort verhandelt wird, ist aber direkt auf die gesellschaftliche Realität bezogen, die Fiktionalität literarischer Hervorbringungen spielt hier nur insofern eine Rolle, als sie als eine „geschützte Versuchsanordnung“25 fungiert, mit der „Funktion […], die Denkmöglichkeiten von Moral durchzuspielen“26. Zwei Definitionsgrundsätze für das ‚Böse‘ sollen ausgehend von Bohrers und Alts Ästhetik sowie Kirchmeiers Verhandlungen über Moral in Literatur für die folgenden Überlegungen festgehalten werden: Zum einen ist unbedingt und auf jeden Fall ein Unterschied zu machen, zwischen der Wahrnehmung und Bewertung des ‚Bösen‘ in der ‚Alltagsrealität‘ und der Wahrnehmung des ‚Bösen‘ in Bezug auf fiktionale Hervorbringungen. Keine Unterscheidung soll jedoch zwischen den verschiedenen medialen Ausprägungen, also zwischen den Darstellungen des ‚Bösen‘ in Filmen, Romanen und Aufführungen, eingezogen werden. Diese Erscheinungen basieren jeweils auf denselben oder zumindest ähnlichen Fiktionsbedingungen und sind deshalb ver19 Kirchmeier, Christian: Moral und Literatur. Eine historische Typologie, München: Fink 2013, S. 22. 20 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 22. 21 Vgl. C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 56 f. 22 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 26. 23 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 26. 24 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 74. 25 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 75. 26 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 75.
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gleichbar. Damit können – selbstverständlich mit entsprechender Vorsicht – Theorien über das fiktive ‚Böse‘ beispielsweise in der Literatur auch auf ‚böse‘ Figuren im Film übertragen werden. Zum anderen soll festgehalten werden, dass man über das ‚Böse‘ – wie bei Bohrer, Alt und Kirchmeier gesehen – nicht sprechen kann, ohne dabei moralische Bewertungen und ethische Kriterien zu berücksichtigen, denn das ‚Böse‘ „als widerständiges, menschenfeindliches Übel“27 versteht sich ja per se eben als ein Verstoß gegen diese Bewertungen und Kriterien, als „nicht ein (gradueller) Mangel an Gut-Sein, sondern [als] der strikte Gegensatz“28, wie der Theologe Gerhard Ringshausen betont. Kirchmeier begreift entsprechend „[d]as radikal Böse […] nicht einfach nur [als] die negative Seite der Moral, es ist die glatte Negation desjenigen Problems, das Moral zu lösen versucht, nämlich Gesellschaft zu ermöglichen“29. Entsprechend baut freilich die in diesem Buch leitende Fragestellung auch auf ethischen und moralischen Grundannahmen über das ‚Böse‘ auf: Warum können die entgrenzten Figuren als bewundernswert, faszinierend, ja unter Umständen sogar als nachahmenswert erlebt werden, obwohl sie brutal und grausam sind und ‚böse‘ Taten begehen? Dennoch soll im Folgenden das ‚Böse‘ als vorwiegend strukturelle Kategorie in Narrativen begriffen werden. 3.1.1 Das ‚Böse‘ als strukturelle Kategorie Nun soll betrachtet werden, in welchen Strukturen und mit welchen formalästhetischen Markern das ‚Böse‘ in fiktionalen, narrativen Hervorbringungen in Erscheinung tritt, um damit für die folgenden Überlegungen eine Definition des fiktiven ‚Bösen‘ zu gewinnen. Wie Christian Kirchmeier für die Frage nach moralischen Bewertungen in Bezug auf literarische Hervorbringungen gezeigt hat, gibt es hier zwei Varianten, „wie Achtung und Missachtung kommunikativ verteilt werden: entweder intratextuell, indem der literarische Text diese Kommunikation zwischen Aktanten darstellt, oder extratextuell, indem die Aktanten zum Objekt von Achtung oder Missachtung durch ihre Rezipienten werden. Allerdings ist die bloße Zuteilung von Achtung oder Missachtung noch
27 Ringshausen, Gerhard: „Das Böse – nicht das Gute?“, “ in: Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute. Formen und Funktionen. München: Fink 2008, S. 51-66, hier S. 51. 28 G. Ringshausen: Das Böse – nicht das Gute?, S. 52. 29 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 65.
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nicht moralisch. Dazu wird sie erst, wenn der literarische Text Hinweise auf die Gründe gibt, die zu Achtung und Missachtung führen.“30
Da in der Fragestellung der vorliegenden Überlegungen der Fokus auf der Wahrnehmung der fiktiven Figur durch den Rezipienten liegt und damit auch die Zuordnung der Figur zu ‚Gut‘ oder ‚Böse‘ durch den Rezipienten relevant ist, interessiert an dieser Stelle vor allem die extratextuelle Perspektive. Aus dieser Perspektive lassen sich allerdings ebenfalls zwei Möglichkeiten unterscheiden, ‚böse‘ Erscheinungen in narrativen Hervorbringungen zu erfassen. Zum einen kann die Zuordnung des ‚Bösen‘ wiederum von der moralischen Perspektive des Rezipienten abhängig gemacht werden. Demnach wäre eben alles, was gegen gültige moralische und ethische Prinzipien verstößt, als ‚böse‘ anzusehen. Die fundamentale Problematik dieser Definition für eine wissenschaftliche Untersuchung liegt auf der Hand: Es stellt sich automatisch die Frage, wessen moralische Prinzipien zur Einschätzung eigentlich angewandt werden sollen. Denn, was moralisch ‚gut‘ und ‚richtig‘ oder ‚schlecht‘ und ‚falsch‘ ist, unterscheidet sich ja nicht nur von Kultur zur Kultur, von Generation zu Generation, sondern sogar von Subjekt zu Subjekt, worauf etwa Gerhard Ringshausen aufmerksam macht: „Auch im Blick auf die Widerfahrnis des Bösen zeigt sich dieses also bezogen auf eine Person. Die betroffene Person deutet eine Handlung als böse, weil sie das Böse als erlittenes Übel erfährt.“31 Damit würde eine Definition des ‚Bösen‘, welche auf der moralischen Bewertung der Rezipienten basierte, eine hochgradig subjektive sein, welche sich nicht für eine wissenschaftliche Untersuchung eignen würde. Als Ausweg bliebe hier alleine noch die Möglichkeit, moralische Regeln anzuwenden, welche als für die westliche Gesellschaft weitgehend verbindlich angesehen werden und die etwa von allgemein anerkannten Erklärungen, wie beispielsweise der UNMenschenrechtscharta, abgeleitet werden könnten. Es ist aber offensichtlich, dass auch dieses Vorgehen innerhalb eines Buches, das es sich zum Ziel setzt, einen bestimmten Typus von ‚bösen‘ Figuren zu untersuchen, wie er nur im fiktionalen, artifiziellen Kontext vorkommt, nicht zielführend wäre. Zum anderen kann jedoch in der Analyse fiktionaler Hervorbringungen das ‚Böse‘ auch anhand struktureller Zuordnungen und formalästhetischer Kriterien der fiktiven Welt definiert und beschrieben werden. Hier stellt sich demnach die Frage: Was wird im Rahmen der fiktiven Welt als ‚böse‘ gekennzeichnet und als solches durch den Rezipienten wahrgenommen? Einer der gängigsten Wege einer strukturellen Kennzeichnung ist die Darstellung eines oder mehrerer Prota30 C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 73. 31 G. Ringshausen: Das Böse – nicht das Gute?, S. 60.
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gonisten, die einem oder mehreren Antagonisten gegenüberstehen. Die Zuordnung der Figuren durch den Rezipienten läuft im Regelfall und in Bezug auf klassisch konstruierte Erzählungen automatisiert und jeweils ähnlich ab: So verkörpert beispielsweise James Bond immer das ‚gute‘ Prinzip – er ist der Protagonist, an welchem der Rezipient Anteil nehmen soll und dies ist selbst im Fall eines so gebrochenen Helden wie dem von Daniel Craig dargestellten Bond der neueren Filme (zum Beispiel Skyfall, GB/USA 2012, Rg. Sam Mendes) der Fall – während seine Widersacher eben der ‚bösen‘ Seite zuzuordnen sind. Ähnlich sind alle Narrative organisiert, die ein antagonistisches Prinzip in den Mittelpunkt stellen. Entsprechend hebt auch Knut Hickethier auf eine Definition des „narrative[n] Bösen“32 als Ordnungskriterium ab und betont dessen strukturgebende Funktion in narrativen und dramaturgischen Kontexten: „Das Antagonistische und das Böse ist ein Element der Darstellung von Welt, also ein Beschreibungs-, Wertungs- und Orientierungsmoment. Es ist ein narratologisches (bzw. dramaturgisches) Strukturelement, das für das Erzählen von Welt, also von Geschichten, gebraucht wird.“33
Anhand eines Strukturschemas des Fernsehkrimis macht Hickethier deutlich, dass das ‚Böse‘ als eine „im Dunkeln bleibende Störung […] eines harmonischen Zustands“34 definiert werden kann. Eigentlich ließe sich daraus schließen, dass diese Wahrnehmung der ‚Störung eines harmonischen Zustands‘ vollkommen unabhängig von moralischen Bewertungen der Rezipienten ablaufen müsste. Demnach würde der ‚harmonische Zustand‘ zu Beginn des Films, des Romans, des Dramas die ‚gute‘ Seite repräsentieren, während die jeweilige ‚Störung‘ den Einbruch des ‚Bösen‘ darstelle. Entsprechend bindet Hickethier seine Definition auch nur an wenigen Stellen in seinem Text tatsächlich an moralische Bewertungskriterien zurück – etwa wenn er vom „Erlaubten und dem Nichterlaubten“35 als Äquivalent des ‚Guten‘ und ‚Bösen‘ spricht – und belässt es sonst dabei, das ‚Böse‘ als etwas Schlechtes zu definieren, das „nicht nur als schädlich erscheinen, sondern selbst aktiv auftreten, als eine Bedrohung und Gefahr in das Leben der Menschen eindringen“36 muss. Mit Kirchmeier – der ja, wie oben referiert, innerhalb moralischer Kom32 Hickethier, Knut: „Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen”, in: W. Faulstich, Das Böse heute (2008), S. 227-243. 33 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 232. 34 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 232. 35 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 228. 36 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 228.
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munikation stets eine Begründung der Achtung oder Missachtung fordert – ließe sich argumentieren, dass beispielsweise in den Narrativen des Superheldenfilms allein die Tatsache, dass eine Figur als Gegenspieler des Protagonisten und damit Superhelden benannt wird, als Begründung für die Missachtung dieser Figur ausreiche. Auch hier kommt das Bestreben nach Kontingenzreduktion zum Tragen, allerdings in etwas anderer Weise als Kirchmeier diese in seinen Ausführungen charakterisiert. Oft geht es in narrativen Hervorbringungen darum, innerhalb der ersten wenigen Minuten dem Rezipienten die Ausgangslage der jeweiligen Konfliktentwicklung deutlich zu machen, um sich danach umso intensiver der eigentlichen Geschichte widmen zu können. In diesem Zusammenhang haben sich Muster ausgebildet, die eine schnelle und ökonomische Orientierung des Rezipienten innerhalb der Geschichte möglich machen, darunter fällt etwa die dichotomische Setzung von Protagonist und Antagonist. Neben der Tatsache, dass das ‚Böse‘ anhand struktureller Merkmale der Erzählung erkannt und benannt werden kann, besteht die Möglichkeit, die Kennzeichnung einer Figur als ‚böse‘ durch die Reaktionen der sie umgebenden Figuren oder andere formalästhetische Darstellungskriterien vorzunehmen. Wird eine Filmfigur von anderen Protagonisten gemieden37, filmt die Kamera die Figur vor allem schlecht ausgeleuchtet und dunkel oder suggeriert die musikalische Untermalung eine von der Figur ausgehende Bedrohung, so sind dies eindeutige Kennzeichen dafür, dass sie in der fiktiven Welt als gefährlich und damit eben meistens auch als ‚böse‘ markiert wird. Ein solcher Zugang zum fiktiven ‚Bösen‘ deckt sich mit Gerhard Ringshausens Entlarvung des ‚Bösen‘ als einer Bewertungskategorie, die vor allem vom Urteil des jeweils von der Handlung Betroffenen abhängig ist.38 Gleichzeitig wird damit die Beurteilung eines Handelns als ‚böse‘ unabhängig von der Motivation des Handelnden, denn dieser könnte die Handlung ja auch als ‚gut‘ beziehungsweise ‚nicht-böse‘ gemeint haben: „Wenn sich die Gesinnung des Handelnden […] nicht an der Handlung eindeutig ablesen lässt, ist ihre Interpretation [die der betroffenen Personen; SE] nur ein ‚mögliches‘ Urteil, das allein für den Betroffenen richtig erscheint.“39 Im Regelfall der Rezeption fiktionaler Hervorbringungen vertrauen die Rezipienten allerdings dem fiktionsinhärenten Urteil der Protagonisten, auch wenn – wie bei Ringshausen gesehen – immer eine andere Perspektive möglich ist. 37 Dies wäre nach Kirchmeier die intratextuelle Variante, wie Achtung oder Missachtung auf eine Figur zugeteilt werden. Vgl. C. Kirchmeier: Moral und Literatur, S. 73. 38 Vgl. G. Ringshausen: Das Böse – nicht das Gute?, S. 60. 39 G. Ringshausen: Das Böse – nicht das Gute?, S. 60.
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Für die folgenden Überlegungen soll (um die Diskussion der angeführten Ansätze abzuschließen) eine Definition des ‚Bösen‘ gelten, die sich (1) sehr stark an einer Erfassung des ‚Bösen‘ als Strukturelement und Ordnungsprinzip orientiert und die (2) filmische Kennzeichnungen des ‚Bösen‘ berücksichtigt, die entweder über formalästhetische Darstellungskriterien erfolgen oder an Bewertungen anderer fiktiver Figuren sichtbar werden. Letzteres verschafft den Vorteil, vom individuell unterschiedlichen und daher sehr subjektiven Kriterium der Moralität Abstand zu gewinnen und dennoch die moralische Bewertung als entscheidenden Baustein zur Definition des ‚Bösen‘ nicht völlig aus dem Blick zu verlieren. 3.1.2 Das ‚Böse‘ an den entgrenzten Figuren Im Folgenden soll anschaulich gemacht werden, inwiefern die hier im Mittelpunkt stehenden entgrenzten Figuren unter Bezugnahme auf die oben geleistete Definition des ‚Bösen‘ als eben solche ‚bösen‘ Figuren beschrieben werden können. Kennzeichnend für diesen Figurentypus ist, dass er in der fiktiven Welt zunächst recht konventionell auf die Seite des ‚Bösen‘, auf die Seite der Schurken und Verbrecher gestellt wird, wobei er allerdings als barbarischer Gewalttäter oder skrupelloser Mörder ein besonderes Extrem des ‚Bösen‘ verkörpert. Die Erbarmungslosigkeit und die Grausamkeit seiner Gewalthandlungen werden dementsprechend in der filmischen Inszenierung besonders hervorgehoben. Dabei lässt sich feststellen, dass sowohl Hannibal Lecter aus The Silence of the Lambs als auch der Joker aus The Dark Knight und Yukio Murata aus Cold Fish zum einen durch strukturelle Merkmale der Narration als ‚böse‘ Figuren gekennzeichnet werden, indem sie zum Beispiel in Opposition zu den Protagonisten gestellt werden, und zum anderen durch die dem Film inhärente moralische Wertung, die vor allem durch die Reaktionen der anderen Figuren, aber auch durch formalästhetische Merkmale, wie beispielsweise Kameraführung oder besondere Inszenierungsweisen der Figuren, zum Ausdruck gebracht wird. Bei der Betrachtung des – in The Silence of the Lambs als intelligent und extrem kultiviert dargestellten – Psychiaters Hannibal Lecter (Anthony Hopkins) ist zunächst festzuhalten, dass er eines der rigidesten Tabus der zivilisierten Gesellschaft bricht: Er ermordet Menschen, um danach mit Genuss ihre Innereien zu verzehren. In ihren Überlegungen zum Film macht auch Michaela Krützen deutlich, dass „in der Regel [...] der Anthropophage als Schreckensfigur der abendländischen Kultur“40 erscheint. Sie betont zudem die Sonderstellung, welche die 40 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 175.
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Figur des Hannibal Lecter innerhalb der Riege filmischer Kannibalen einnimmt und hebt damit das ‚Böse‘ seines Handelns zugleich noch deutlicher hervor: „Hannibal Lecter ist [...] der einzige ‚urbane‘ Kannibale im Klassischen Kino, der wissentlich, regelmäßig, aus freien Stücken und sogar genüsslich Menschenfleisch verzehrt.“41 Es ist vor allem also Lecters Kannibalismus, der ihn zunächst als ‚böse‘ Figur charakterisiert und folgerichtig ist es auch diese spezielle ‚Neigung‘, die dem Zuschauer als erstes Merkmal der Figur mitgeteilt wird, noch bevor er Lecter ein einziges Mal zu Gesicht bekommt. „Hannibal, the cannibal“42: Den ‚Spitznamen‘ der Medien für den berühmt-berüchtigten Serienmörder nennt FBI-Agentin Clarice Starling (Jodie Foster) im Gespräch mit ihrem Vorgesetzten Jack Crawford (Scott Glenn), als das erste Mal die Rede auf Lecter kommt. Unmittelbar und überdeutlich wird dadurch der Hang zur „grausame[n] Destruktion [Herv. i. O.]“43 menschlicher Körper mit der Figur Lecter verknüpft. Zusätzlich betont wird die extreme Grausamkeit der Figur aber auch in einer weiteren Szene, die ebenfalls ihrer Exposition dient: Bevor Starling den verurteilten Lecter in seiner Zelle im Baltimore State Hospital besucht, wird ihr von Haftanstaltsleiter Dr. Frederick Chilton (Anthony Heald) ein Bild von einer durch Lecter verstümmelten Krankenschwester gezeigt, das sie vor der Gefährlichkeit Lecters warnen und den Zuschauer auf dessen Grausamkeit aufmerksam machen soll. Allerdings bekommt der Zuschauer selbst das Bild nicht zu sehen, die Kamera zeigt nur – von vorne aus leichter Untersicht – den schockierten Gesichtsausdruck Starlings, während sie das Bild betrachtet. Zu hören sind dazu die warnenden Worte Dr. Chiltons: „The doctors managed to reset her jaw, more or less, save one of her eyes. His pulse never got above 85, even when he ate her tongue.“44 In Starlings erstem Gespräch mit Hannibal Lecter wird sein Kannibalismus zwei weitere Male erwähnt. Als Lecter erklärt, er habe – anders als andere Seri41 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 196. 42 Das Schweigen der Lämmer [The Silence of the Lambs] (2006). Rg. Jonathan Demme. DVD, 113 min., Frankfurt a. M.: Twentieth Century Fox, 00:06:40-00:06:41. 43 Scheffer, Bernd: „Das Gute am Bösen: Teuflisch gute Kunst“, in: W. Faulstich, Das Böse heute, S. 257-270, hier S. 257. Das Böse wird bei Scheffer definiert „als etwas […], das sich in nachvollziehbarer Weise als ‚grausame Destruktion‘ beobachten lässt und was dann konkretisiert werden kann [Herv. i. O.]“ (S. 257 f.), wobei als Konkretisierungen nicht nur „Beleidigung, Verletzung, Vernichtung, Zerstörung“ (S. 258), sondern ebenfalls „eine vor allem sinnlich spürbare Destruktion von Normen, Werten und Gütern“ (S. 258) benannt werden. 44 The Silence of the Lambs, 00:09:37-00:09:46.
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enmörder – nie Teile seiner Opfer als Trophäen behalten, kontert Starling: „No. No, you ate yours.“45 Später im Gespräch wird Lecter von einem Meinungsforscher sprechen, der einmal versucht habe, ihn zu testen: „I ate his liver with some fava beans and a nice Chianti.“46 Begleitet wird diese Aussage von einer animalischen Grimasse Lecters: Einem Schnüffeln oder Abschmecken, das an das Aufnehmen einer Fährte erinnert. Murray Smith versucht dies folgendermaßen zu beschreiben: „[…] he sucks his breath in rapidly in a chilling gesture of delight at the thought of consuming human flesh.“47 Marcus Stiglegger stellt in Bezug auf dieselbe Szene fest: „Um einen Schlusspunkt zu setzen, zieht er zischend die Luft durch die Zähne ein und simuliert ein genießerisch-schlürfendes Geräusch.“48 Deutlich wird neben dem Aspekt des Kannibalismus aber auch herausgestellt, dass Lecter als grundsätzlicher Opponent der Protagonisten zu verstehen ist: Bevor Starling Hannibal Lecter zum ersten Mal in der Haftanstalt besucht, wird sie beispielsweise von ihrem Vorgesetzten John Crawford eindringlich davor gewarnt, dem Gefängnisinsassen zu viel von sich preiszugeben: „Believe me, you don’t want Hannibal Lecter inside your head.“49 Im Gegensatz zu den Mitinsassen ist Lecter im Baltimore State Hospital nicht in einer normalen Zelle untergebracht: Statt hinter rostigen Gitterstäben lebt der Kannibale in einer komplett mit dickem Glas gesicherten Zelle. Ein Austausch mit der außerhalb seiner Zelle liegenden Welt ist nur mittels einer Schubladen-Konstruktion möglich, direkter Kontakt zu Gefängniswärtern und Besuchern soll unbedingt vermieden werden – ein deutlicher Hinweis auf die Gefahr, die von Lecter ausgeht. Beim Aufeinandertreffen mit US-Senatorin Ruth Martin (Diane Baker) am Flughafen in Memphis wird Lecter das erste Mal mit dem für ihn so typischen Beißschutz, einer Art ‚Maulkorb‘, inszeniert. Im Rahmen dieser Szene wird die Gefahr, die von Lecter ausgeht, erneut, diesmal aber noch eindringlicher illustriert.50 Lecter wird festgeschnallt auf einer Bahre transportiert, begleitet von mehreren bis an die Zähne bewaffneten Polizisten. Nur wenig später in der filmischen Erzählung 45 The Silence of the Lambs, 00:15:20-00:15:22. 46 The Silence of the Lambs, 00:17:11-00:17:18. 47 Smith, Murray: „Gangsters, Cannibals, Aesthetes, or Apparently Perverse Allegiances“, in: Carl Platinga/Greg M. Smith (Hg.), Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion, Baltimore/London: John Hopkins University Press 1999, S. 217-238, hier S.225. 48 Stiglegger, Marcus: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel & Sinnlichkeit im Film, Berlin: Bertz + Fischer 2006, S. 173. 49 The Silence of the Lambs, 00:07:41-00:07:43. 50 Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 225.
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wird der Zuschauer erfahren, dass dies durchaus keine übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen sind: Erneut eingesperrt, kann sich Lecter durch einen Trick von seinen Fesseln befreien und greift die beiden Polizisten an, die sich gerade in seiner Zelle befinden. Den einen Polizeibeamten beißt er mitten ins Gesicht, die Kamera zeigt Lecters blutigen Mund in Nahaufnahme. Dann prügelt er den anderen Polizeibeamten mit einem Schlagstock brutal zu Tode. Auch hierbei sieht man Lecter – immer noch mit blutverschmiertem Mund – in Nahaufnahme und aus leichter Untersicht (aus der Perspektive des Opfers also). Zu betonen ist darüber hinaus, dass der Kannibale und Psychiater Hannibal Lecter nicht nur zu körperlicher Brutalität fähig ist. Nicht weniger grausam erscheinen seine psychologischen Angriffe auf die ihn umgebenden Figuren, seine Fähigkeit, in ihren Verstand einzudringen und diesen auch zu manipulieren. So betonen auch Thomas Elsaesser und Warren Buckland: „Lecter penetrates Clariceʼs mind and gets under her skin in ways that turn out to be as brutal and almost as much of a violation of her personhood as Buffalo Bill’s violation of the young women’s bodies in order to get (at) their skins.“51 Die Liste der strukturellen und formalästhetischen Merkmale mittels derer Lecter als ‚böse‘ Figur charakterisiert wird, ließe sich fortsetzen, doch es dürfte an dieser Stelle schon deutlich geworden sein, dass der Film keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass Lecter ein besonders grausamer und gefährlicher Gewaltverbrecher ist, der nicht nur eine potenzielle, sondern tatsächliche Bedrohung für die anderen Figuren des Films darstellt. Auch in Bezug auf den Joker (Heath Ledger) lässt sich feststellen, dass er in der fiktiven Welt von The Dark Knight eindeutig als ‚böse‘ Figur inszeniert und charakterisiert wird. Hierbei muss zunächst konstatiert werden, dass es sich bei The Dark Knight nicht nur um eine Comicverfilmung, sondern mehr noch um eine klassische Superhelden-Geschichte handelt. Johannes Schlegel und Frank Habermann haben darauf hingewiesen, dass die grundlegende narrative Struktur von Superhelden-Erzählungen in der Darstellung des Kampfes von ‚Gut‘ gegen ‚Böse‘ besteht.52 Nach der Analyse von Stephan Ditschke und Anjin Anhut unter Rückgriff auf Jurij M. Lotmans Struktur literarischer Texte ist das
51 Elsaesser, Thomas/Buckland, Warren: Studying Contemporary American Film. A Guide to Movie Analysis, London: Arnold Publishers 2002, S. 248-283, hier S. 261. 52 Vgl. Schlegel, Johannes/Habermann, Frank: „You Took My Advice About Theatricality a Bit … Literally. Theatricality and Cybernetics of Good and Evil in Batman Begins, The Dark Knight, Spider-Man, and X-Men“, in: Richard J. Gray/Betty Kaklamanidou (Hg.), The 21st Century Superhero. Essays on Gender, Genre and
60 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN „dritte zentrale Handlungselement von Superheldenerzählungen […] mithin ein Problem für die Ordnung, das ihr Bestehen bedroht, aber von ihren Verteidigern – der Polizei, dem Militär usw. – nicht kontrolliert werden kann. Es kann u.a. in Form von Naturkatastrophen, Verbrechen oder in Gestalt eines Superschurken auftreten, der nur vom betreffenden Superhelden besiegt werden kann. All diese Formen der Bedrohung und Gefährdung wenden sich gegen etablierte Lebensformen, Werte- bzw. Gesellschaftsordnungen oder gegen die Existenz selbst und überschreiten dabei Gesetze, Regeln, Normen sowie Eigentumsund Körpergrenzen.“53
Betrachtet man die Expositionssequenz von The Dark Knight unter Berücksichtigung der hier dargelegten Struktur von Superhelden-Geschichten, dann wird auf den ersten Blick erkennbar, dass der Joker bereits in den Anfangsszenen als eben eine solche ‚Bedrohung und Gefährdung‘ für die Ordnung in Gotham City, als Verkörperung der ‚bösen‘ Seite, gekennzeichnet wird. Die Rezipienten beobachten ihn bei der Durchführung eines Banküberfalls, dem Mord an unbeteiligten Bürgern und dabei, wie er skrupellos seine Mitstreiter umbringt oder auch hinterrücks umbringen lässt. Er ist für die Rezipienten deutlich eine der Instanzen, die „in den Raum der bestehenden Ordnung [eindringen] und […] dessen innere Struktur durch ihre kriminellen Aktivitäten massiv [stören]“54. Damit ist der Joker als ‚böse‘ Figur nach der Definition von Hickethier zu verstehen und als direkter Opponent des Superhelden Batman für die Rezipienten klar erkennbar. Weiter unten wird gezeigt, dass der Joker – wie übrigens alle entgrenzten Figuren – jedermanns Opponent ist, dass er also im Vergleich zu anderen ‚bösen‘ Figuren keinen festen Helfer- oder Freundeskreis hat, der ihm uneingeschränkt zur Seite steht. Über diese strukturelle Setzung und damit Kennzeichnung des ‚Bösen‘ hinaus lässt sich feststellen, dass die Gewalttaten des Joker durch extreme Brutalität und Grausamkeit gekennzeichnet sind. Nachdem er von Gothams Polizei gefangen genommen worden ist, sieht man in Großaufnahme all die Waffen, die er mit sich geführt hat: Es handelt sich vor allem um Messer und andere Stichwaffen, sogar ein Kartoffelschäler ist darunter. Allesamt also Waffen, mit denen man seinen Opfern sehr nahe auf den Leib rücken muss, bei denen man die Gewalttat Globalization in Film, Jefferson/NC: Mc Farland & Company 2011, S. 29-45, hier S. 29. 53 Ditschke, Stephan/Anhut, Anjin: „Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics“, in: Stephan Ditschke/Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populären Mediums, Bielefeld: transcript 2009, S. 131-178, hier S. 141. 54 S. Ditschke/A. Anhut: Menschliches, Übermenschliches, S. 144.
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mit vollem Körpereinsatz begeht und ihre Wirkung hautnah mitverfolgen, im Falle des Joker sogar genießen kann: „Do you wanna know why I use a knife? Guns are too quick. You can’t savor all the … little emotions“55, begründet der Joker entsprechend die Wahl seiner Waffen. Deutlich wird die besondere Qualität der Gewalttaten des Joker in den entsprechenden Szenen oftmals auch an der Reaktion der anderen Figuren, die im Hintergrund mit schmerzverzerrten und ängstlichen Gesichtern zu sehen sind, so beispielsweise in der Szene, in welcher der Joker die Konferenz von Gothams-Mafia-Bossen stört und einem ihrer Bodyguards einen Bleistift durch das Auge in den Kopf rammt. Darüber hinaus lässt sich auch in Bezug auf den Joker die Ausübung psychischer Gewalt feststellen: So bringt er beispielsweise Bruce Wayne (Christian Bale) in extreme Bedrängnis, indem er ihn vor die Entscheidung stellt, sich für die Rettung einer von zwei Personen zu entscheiden. Verstärkt wird die psychische Grausamkeit hierbei noch dadurch, dass der Joker falsche Hinweise gibt und Batman letztendlich statt seiner großen Liebe Rachel Dawes (Maggie Gyllenhaal) ‚nur‘ den Bezirksstaatsanwalt Harvey Dent (Aaron Eckhart) aus den Flammen holt. Als formalästhetische Kennzeichnung des ‚Bösen‘ könnte man zudem die Maskierung des Joker, die letztendlich ja Schminke ist, begreifen.56 Knut Hickethier weist darauf hin, dass „[a]uf der Ebene der populären Motive […] das Böse als Gegner häufig sein Gesicht nicht [zeigt], und wenn der schwarze Helm vom Kopf genommen wird, wenn die Maske des Bösen fällt, ist durch die Sichtbarkeit oft auch das Böse gebannt“57. Dieses Prinzip wird im Kontext der entgrenzten Figuren invertiert: Die Bedrohung, welche von Lecter ausgeht, wird erst völlig sichtbar und vorstellbar, als er mit seiner charakteristischen Maske, seinem Beißschutz, inszeniert wird. Wiederum erhöht sich die vom Joker ausgehende Bedrohung, wenn dieser in einer kurzen Einstellung des Films ohne Schminke zu sehen ist und erkennbar wird, dass seine Fratze keine aufgemalte Maske, sondern eine optische Entstellung ist, die ihn zu etwas Anderem, etwas Fremdem und nicht mehr der sozialisierten Welt Zugehörigem macht. Dadurch wird endgültig klar, dass der Joker tatsächlich jenseits aller gesellschaftlichen
55 The Dark Knight (2008). Rg. Christopher Nolan. DVD, 146 min., Hamburg: Warner Bros, 01:29:32-01:29:49. 56 Vgl. zur Bedeutung der Maskierung des Joker die ausführliche Analyse im fünften Kapitel. 57 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 239.
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Konventionen und sozialen Regeln agiert, dass die Anarchie sein Prinzip ist, gegen das kaum anzukommen ist.58 Der Schrecken, der vom Serienmörders Yukio Murata (Denden) aus Cold Fish ausgeht, speist sich entsprechend daraus, dass er gar keine als solche erkennbare Maske oder keinen Helm mehr braucht, sondern dass er in wenigen Sekunden seine Mimik und Gestik von der Verstellung hin zur Grausamkeit und wieder zurück verändern kann. Hier gibt es keinen zentralen Moment mehr, an dem die Maske fällt: Vielmehr lässt sich beständig das Oszillieren zwischen Maskenhaftigkeit und vermeintlicher Wahrhaftigkeit im Gesicht Muratas beobachten. Im einen Moment klopft er dem in seine Fänge geratenen Fischhändler und Familienvater Shamoto noch beruhigend auf die Schulter, im nächsten Moment schon droht er ihm schreiend mit der Vernichtung seiner Familie und zwingt ihn dazu, bei der Beseitigung einer Leiche zu helfen. Was die Struktur des ‚Bösen‘ in Cold Fish betrifft, so tritt hier grundsätzlich die von Hickethier beschriebene Störung in Erscheinung, die in eine bestehende Ordnung einbricht. Allerdings muss das Modell etwas angepasst werden: Bereits in den ersten Szenen des Films wird nämlich deutlich, dass die bestehende Ordnung in Cold Fish bereits voller Störungen, also nicht mehr absolut intakt, ist. Dennoch befindet sie sich noch in seltsamer Balance, gerade so ausgeprägt, dass sie als Ordnung noch nicht kollabiert: Familienvater Nobuyuki Shamoto (Mitsuro Fukikoshi) betreibt ein kleines Geschäft für Tropenfische und lebt gemeinsam mit seiner Tochter Mitsuko (Hikari Kajiwara) aus erster Ehe und seiner jungen Frau Taeko (Megumi Kagurazaka), die von der Tochter nicht akzeptiert wird. Die Stimmung in der Familie – das macht die erste Sequenz mehr als deutlich – ist alles andere als liebevoll: Die Kamera fängt Taeko ein, wie sie im Supermarkt wahllos Fertiggerichte in ihren Einkaufskorb wirft und dann in der heimischen Küche gleichgültig zubereitet. In schneller Folge der Einstellungen werden das Auf- und Zuwerfen der Mikrowellentür sowie das Aufreißen der Essensverpackungen gezeigt. Beim Abendessen herrscht Schweigen, Tochter Mitsuko verschwindet grußlos, als ihr Handy klingelt. Nach dem Essen möchte sich Shamoto seiner Frau sexuell nähern, wird von dieser aber abgewiesen. In der folgenden vergleichsweise langen Einstellung übergibt sich Shamoto in die Toilettenschlüssel, bevor er einen Anruf erhält, in welchem er darüber informiert wird, dass seine Tochter Ladendiebstahl begangen hat.
58 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass allein die körperliche Entstellung ein im Batman-Universum bereits etabliertes Kennzeichen böser Figuren ist (vgl. beispielsweise die Figuren Cobblepot, Clayface oder Twoface).
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In den ersten sieben Minuten macht der Film also klar, dass hier nicht die harmonische Familienordnung zur Disposition steht, sondern – und das wird vor allem das Ende des Films auch deutlich zeigen – eine bereits gestörte Ordnung, die nur den entscheidenden Stoß benötigt, um endgültig auseinanderzubrechen. Dieser entscheidende Stoß – und noch mehr als das – erfolgt durch Yukio Murata, Inhaber von ‚Amazon Gold‘, des Supermarkts unter den Zierfischläden. Dabei wird Murata zunächst als strahlender Retter eingeführt, der die peinliche und besonders für Mitsukos Eltern extrem beschämende Situation des Ladendiebstahls auflöst sowie außerdem Mitsuko einen Job in seinem Laden und Shamoto scheinbar ein lukratives Kooperationsangebot verschafft. Etwa nach dem ersten Drittel des Films stellt sich jedoch heraus, dass mit Murata in Wirklichkeit ein feindliches, zerstörerisches – also ‚böses‘ – Prinzip in die bestehende Ordnung eingedrungen ist, das die bereits bestehenden Störungen für sich nutzt und in Unheil verwandelt. Er gibt Mitsuko die Möglichkeit, sich weiter von ihrem Vater und der verhassten Stiefmutter zu entfernen, er verführt Taeko zum Ehebruch und macht letztendlich Shamoto selbst zu seinem Komplizen und Gehilfen bei mehreren Morden: „Deine Erde ist rund und glatt und blau. Meine Erde ist aus Stein. Ein Haufen harter, fester Steine“59, erklärt Murata im Moment der Offenbarung seiner ‚wahren‘ Natur gegenüber Shamoto und stellt damit an einem entscheidenden Wendepunkt des Films sein ‚böses‘ Prinzip aus. Doch schon zuvor wird der Eintritt des ‚bösen‘ Prinzips in die Familienstruktur mehrfach angedeutet: Am eindrücklichsten ist wohl die Szene, in welcher Mitsuko vor den Augen des Vaters und als eine Art Provokation sichtbar genüsslich kleine Fische an einen Schwarm Piranhas verfüttert. Das sich im Wasser verteilende Blut der kleinen Fische ist ein Vorgeschmack, eine Referenz auf das, was Shamoto nur etwas später in Muratas Waldhütte miterleben muss. Denn auch formalästhetisch weist der Film den Fischhändler Murata sowie seine Frau Aiko (Asuka Kurosawa) als ‚böse‘ Figuren aus: Mit kindlicher Begeisterung zerlegen sie die Leiche eines Geschäftspartners, deutlich wird dargestellt, dass sie es genießen. Sichtbar gemacht wird in dieser Szene die Grausamkeit und Brutalität der Tat vor allem durch den Farbkontrast zwischen der Menge an rotem Blut und den weißen Fliesen des Badezimmers, in welchem die Prozedur stattfindet, und der weißen Nacht- und Unterwäsche, die Aiko und Murata tragen. Schreckenserregend wirkt auch die Großaufnahme des Arsenals an Messern, die zur Zerstückelung der Leiche dienen. Gleichzeitig wird durch die Hockhaltung der beiden Killer – die Kamera fängt die beiden von oben, also aus der Sicht eines nach unten blickenden Erwachsenen ein – und ihr albernes Lachen sowie durch 59 Cold Fish (2011), Rg. Sion Sono. DVD, 144 min., Köln: Rapid Eye Movies, 00:44:19-00:44:27.
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das Spielen mit der Leber des Opfers eine infantile Unbedarftheit und Emotionslosigkeit in Bezug auf ihre unbegreifliche Tat dargestellt. Filminhärent moralisch als ‚böse‘ gerahmt wird die grausame Tat, die nicht zum ersten Mal stattfindet – es ist Muratas 58. Opfer, das hier zerstückelt wird –, auch dadurch, dass der unschuldige Shamoto extrem schockiert reagiert und zum Beispiel am ganzen Leib zitternd die blutverschmierte Armbanduhr des Opfers als Geschenk von Murata entgegennimmt. Der Serienmörder zwingt Shamoto darüber hinaus nicht nur bei der Beseitigung der Leichen zu helfen, sondern fordert ihn nachdrücklich zum Geschlechtsakt mit seiner Frau Aiko auf – eine Szene, die letztendlich in einen als Vergewaltigung Shamotos zu interpretierenden Akt mündet. Shamoto fungiert in Cold Fish noch viel mehr als die Protagonisten in den beiden anderen Filmbeispielen als moralische Instanz für den Rezipienten – dies allerdings nur so lange, bis er am Ende des Films selbst zu einer ‚bösen‘ Figur wird.
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Im Verlauf des vorangegangenen Kapitels sollte deutlich geworden sein, dass eine der Haupteigenschaften der hier zu beschreibenden entgrenzten Figuren die besondere Brutalität und Grausamkeit ihrer ‚bösen‘ Handlungen ist und sie also nach der oben gegebenen Definition auf der Seite des ‚Bösen‘ zu verorten sind. Intensiviert und vertieft wird für die Rezipienten der Eindruck dadurch, dass diese Figuren neben ihrer physischen Gewalt auch in nicht geringem Maß Akte psychischer Grausamkeit verüben. Im Folgenden soll nun darauf eingegangen werden, welche Merkmale neben der Zuordnung zum ‚Bösen‘ für die entgrenzten Figuren bestimmend sind, woran man sie also erkennen kann. Drei Eigenschaften stehen hierbei im Fokus: Die entgrenzte Figur ist eine Art Zwischenfigur in einer bestehenden antagonistischen Konfliktstruktur, sie agiert mittels eines Gestus der Selbstermächtigung und die Zuschauer erhalten keine oder nur trügerische Informationen über ihre Hintergrundgeschichte und Motivation. Abgeleitet von diesen drei Merkmalen kann des Weiteren auch gezeigt werden, warum der Begriff der ‚Entgrenzung‘ geeignet erscheint, um diesen Figurentypus zu bezeichnen, und inwiefern die Figuren zudem als besonders artifizielle, die eigene Künstlichkeit exponierende Figuren begriffen werden können.
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3.2.1 Zwischenfigur in einer bestehenden antagonistischen Konfliktstruktur Im Kapitel über das ‚Böse‘ der entgrenzten Figuren ist zunächst festgestellt worden, dass die Figuren auch deshalb als ‚böse‘ beschrieben werden können, da sie sich innerhalb des in der fiktiven Welt etablierten Dualismus von Ordnung und Störung auf der Seite der Störung befinden. Diese Diagnose soll hier zwar nicht zurückgenommen, muss aber etwas verfeinert und modifiziert werden. Tatsächlich lässt sich nämlich bei genauerer Betrachtung feststellen, dass die entgrenzten Figuren viel eher als Zwischenfiguren in einer bestehenden antagonistischen Konfliktstruktur auftreten. Dies äußert sich unter anderem darin, dass sie zum Beispiel dem Protagonisten nicht mehr bloß direkt als Antagonisten, sondern in gewisser Weise auch als Helfer- oder Sinnstifterfiguren (The Silence of the Lambs/Cold Fish) gegenüberstehen, oder dass sie sich dezidiert von den anderen Antagonisten des Films abheben und in Opposition zu diesen treten (The Silence of the Lambs/The Dark Knight). Obwohl Hannibal Lecter vor allem im ersten Drittel des Films The Silence of the Lambs ganz konventionell auf die Seite des ‚Bösen‘ gestellt und als extrem grausam und kaltblütig-inhuman in Szene gesetzt wird, wandelt sich dieses Bild im weiteren Verlauf der Narration: Lecter ist mehr als nur ein einfacher Gegenspieler.60 Insbesondere im Hinblick auf seine Verbindung zu Clarice Starling lassen sich mehrere Beziehungsebenen ausmachen, in deren Rahmen Vertrauensverhältnisse begründet oder vorausgesetzt werden. Als FBI-Agentin in der Ausbildung auf der Suche nach dem Serienmörder Buffalo Bill tritt Starling in eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis zu dem mit den Profilen psychischkranker Menschen vertrauten Psychiater Dr. Lecter.61 Dieser gibt ihr meist in Rätselform Hinweise,
60 Vgl. dazu die Ausführungen von Kristin Thompson, die diskutiert, ob Hannibal Lecter nun als paralleler Protagonist zu Starling oder als paralleler Antagonist zu Buffalo Bill interpretiert werden kann. Thompson, Kristin: Storytelling in the New Hollywood. Understanding Classical Narrative Technique, Cambridge,MA: Harvard University Press 2001, S. 103 ff. 61 Auf ein „Lehrer/Schüler- bzw. Vater/Tochter-Verhältnis“ zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling weist auch Marcus Stiglegger hin, allerdings ohne näher auf die Konstruktionsweise dieser Verhältnisse einzugehen. Stiglegger, Marcus: „Der dunkle Souverän. Die Faszination des allmächtigen Gewalttäters im zeitgenössischen Thriller und Horrorfilm“, in: W. Faulstich, Das Böse heute (2008), S. 271-281, hier S. 274.
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die zur Auffindung Buffalo Bills beitragen sollen, und lobt und tadelt sie für ihre Leistungen bei der Aufklärung des Falles. Auf einer anderen Ebene entwickelt sich zwischen Lecter und Starling auch eine Art Arzt-Patient-Verhältnis. Unter dem Motto ‚quid-pro-quo‘ überredet Lecter Starling zu einem Deal: Für jeden Hinweis, den er zur Auffindung Buffalo Bills liefert, soll Starling ein intimes Detail aus ihrer Lebensgeschichte erzählen. Lecter erfährt auf diese Weise in den Gesprächen, die in ihrer Intensität und ihrem Frage-Antwort-Muster an psychoanalytische Therapiesitzungen erinnern, von einem unverarbeiteten Trauma aus Starlings Kindheit. Auf einer dritten Ebene stehen Lecter und Starling in einem – wenn auch nicht klassisch ausgeführten – Beschützer-SchutzsuchenderVerhältnis zueinander. Als Starling von Lecters Zellennachbar Miggs im Gefängnistrakt auf sexuell anzügliche Weise beleidigt und belästigt wird (er schleudert ihr schließlich sogar sein Ejakulat ins Gesicht), ruft Lecter Starling zu sich an die Zelle zurück und befreit sie so zunächst aus der unangenehmen Situation. Lecters ‚Beschützerinstinkt‘ geht hier sogar soweit, dass er in einer Art Racheakt für den Tod des Zellnachbarn sorgt. Interessant im Zusammenhang mit der Betrachtung der verschiedenen Vertrauensverhältnisse ist, dass die Begründung dieser Beziehungen jeweils vorrangig auf Lecters Initiative zurückgeht, während Starling – gewarnt und verängstigt durch die Geschichten, die sie im Vorfeld über Lecter erfahren hat – zunächst eher die Distanz sucht. Auch Werner Faulstich macht darauf aufmerksam, dass es in The Silence of the Lambs „eigentlich gar nicht um Jäger und Gejagte, um Täter und Opfer geht, sondern vielmehr um Lehrer und Schülerin, um Partner in einem Entwicklungsprozeß“62. Auf verschiedenen Ebenen, aber ausschließlich in seiner Beziehung zu Starling, tritt Lecter also in der Rolle der Mentor- und Helferfigur auf, wie auch Michaela Krützen anmerkt: „Dies ist eine Besonderheit, die Hannibal von seinen kannibalistischen Artgenossen unterscheidet: In THE SILENCE OF THE LAMBS – und nur in THE SILENCE OF THE LAMBS – hat der Anthropophage die Funktion eines Adjuvanten, eines Helfers [Herv. i. O.].“63 Wie sehr diese Eigenschaft Lecters seine Zuordnung zum konventionell ‚Bösen‘ unterläuft, ja beinahe ad absurdum führt, macht Krützen in einem anschließenden Vergleich deutlich, in dem sie ihn mit einer Heldenfigur Vgl. auch Smith, der von „mentor-like relationship“ und „parental relationship“ spricht. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 226 f. 62 Faulstich, Werner: „Der neue Thriller. The Silence of the Lambs (Das Schweigen der Lämmer, 1991)“, in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.), Fischer Filmgeschichte. Band 5: Massenware und Kunst. 1977-1995, Frankfurt a. M.: Fischer 1995, S. 270287, hier S. 273. 63 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 207.
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aus der Star-Wars-Saga vergleicht: „Der gemeingefährliche Kannibale Hannibal hat somit die gleiche narrative Funktion wie der edelmütige Ritter Obi Wan.“64 Die paradoxale Konstruktion der Figur Lecters, die dem Zuschauer zunächst als eine genuin ‚böse‘, da grausam präsentiert wird, dann allerdings durch die Initiierung verschiedener Vertrauensverhältnisse die Rolle einer Helferfigur bekommt, ist damit aber noch nicht zu Ende. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass gerade die hier dargestellten Vertrauensverhältnisse nur auf tönernen Füßen stehen. Es handelt sich eben nicht nur um rein positive, in einer kontinuierlichen Annäherungsbewegung verlaufende Beziehungen. Vielmehr bleibt weiterhin die Frage offen, wie viel von dem durch Starling und in zunehmendem Maße auch vom Rezipienten entgegengebrachten Vertrauen Lecter tatsächlich einzulösen bereit ist. Die Vertrauensbeziehungen scheinen in Wirklichkeit gar keine zu sein: Wenn Lecter Starling Hinweise zur Auffindung Buffalo Bills liefert, so ähnelt das eher einem für Lecter amüsanten Verwirrspiel, einer Art Test für Starlings Intelligenz und Persönlichkeit als einer echten Hilfestellung. Auch in Bezug auf die von Starling enthüllten Kindheitstraumata macht Lecter eher den Eindruck eines genüsslich die Informationen aufsaugenden Zuhörers als eines ärztlichen Ratgebers und Therapeuten: „You will let me know when those lambs stop screaming, won’t you?“65, ruft Lecter Starling am Ende ihres letzten Treffens nach, begierig auf weitere Details aus dem Leben der FBI-Agentin. In gleicher Weise haben Thomas Elsaesser und Warren Buckland darauf hingewiesen, dass Hannibal Lecter selbst den größten Gewinn aus der Erkundung von Starlings Trauma zieht: „Clarice Starling becomes deeper and deeper involveld in the world of Hannibal Lecter, who helps her but extracts his own price, by psychoanalyzing her and penetrating her personal psychic secret, the trauma of the lambs, whom she tried but failed to rescue as a young girl […].“66
Es ist in Anbetracht dieser doch wieder nur zwiespältig wahrnehmbaren Vertrauensverhältnisse nicht weiter verwunderlich, dass die Forschung in Bezug auf die Beziehung zwischen Lecter und Starling auch gerne und zu Recht von einer Variation des Teufelspaktes spricht.67 64 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 207. 65 The Silence of the Lambs, 01:10:07-01:10:10. 66 T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 255. 67 Vgl. W. Faulstich: Der neue Thriller, S. 276. Faulstich weist darauf hin, dass er die Idee des Teufelspaktes in The Silence of the Lambs der Rezension des Films von Gre-
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Wie dargestellt, ist Lecter schon allein durch die Übernahme verschiedener Helferfunktionen mehr als nur ein einfacher Gegenspieler der Protagonistin Clarice Starling. Zusätzlich gestützt wird dieses Merkmal aber auch durch die Tatsache, dass Lecter kaum eigene Konflikte begründet, sondern – quasi als dritte Komponente – in eine bereits bestehende dualistische Konfliktsituation eintritt. So hilft er dem FBI bei der Ergreifung Buffalo Bills, stellt sich zwischen Starling und einen anderen Anstaltsinsassen und unterstützt die FBI-Schülerin dabei, ihr verborgenes Kindheitstrauma zu erkennen. In all diesen Fällen begründet Lecter den eigentlich zugrunde liegenden Konflikt nicht und hilft auch nicht abschließend dabei, diesen zu lösen. Vielmehr tritt er als eine Art reflektierendes Moment in die Mitte der Konflikte und macht sie dadurch erst recht sichtbar. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Lecter als ‚böse‘ Figur mit anderen ‚bösen‘ Figuren kontrastiert wird. Eindrücklich illustriert wird dies schon beim erstmaligen Aufeinandertreffen von Lecter und Starling: Im Baltimore State Hospital muss Starling zunächst einen dunklen und etwas verkommenen Gefängnisgang entlanggehen, bevor sie Lecters Zelle erreicht. Ausführlich zeigt die Kamera dabei die dunklen und schmutzigen Zellen der anderen Insassen, die – wie etwa Miggs – an ihren Gitterstäben rütteln und Starling Beleidigungen zurufen. Bei Lecters Zelle angekommen, verändert sich das Bild deutlich: Weißes Licht erhellt den penibel aufgeräumten, fast sterilen, kleinen Raum. Lecter steht kerzengerade, stramm, adrett und ordentlich gekleidet in Erwartung seines Besuchs. Eine saubere Glasscheibe trennt Lecter statt rostiger Gitterstäbe von seinem Gast. Allein durch die Ausstattung wird in dieser Expositionsszene deutlich gemacht, wie sehr sich Lecter von den anderen ‚üblichen‘ Gewalttätern und psychisch Kranken unterscheidet. Auf diese besondere Inszenierungsweise eines Serienmörders und Kannibalen macht auch Marcus Stiglegger aufmerksam: „Gegenüber seinen Mithäftlingen, die wie ungeliebte Raubtiere im Dunkeln hinter ihren Käfiggittern hausen, erscheint der mörderische Psychiater Hannibal Lecter wie eine Lichtfigur – ganz im Gegensatz zu den grauenvollen Geschichten, die Clarice Starling und das Publikum zuvor über ihn mitgeteilt bekamen. Interessant ist hier auch die Blickdramaturgie: Die anderen Insassen, die in der Dunkelheit meist nur zu erahnen sind, zeigt die subjektive Kamera erst, nachdem Clarice Starling sich direkt neben der Zelle befindet. Anders bei Lecter: Hier nähert sich die Subjektive langsam der Lichtquelle, die Mauer schiebt sich förmlich zur Seite und gibt den Blick auf einen freundlich blickenden Mann mittleren
gor Dotzauer entnimmt (Dotzauer, Gregor: „Theistischer Teufelspakt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.04.1991, o.S.). Für den Hinweis auf diese Verknüpfung sei Ingo Leiß gedankt.
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Alters frei. Keine Zellengitter versperren den Blick, vielmehr ist die Zelle durch eine weitläufige Panzerglaswand begrenzt.“68
Auch in Sachen kultureller und sozialer Kompetenz ist der belesene Akademiker Hannibal Lecter, der die Florenzer Kathedrale Santa Maria del Fiore aus dem Gedächtnis nachzeichnen kann, den anderen Insassen des Baltimore State Hospitals sowie auch anderen ‚bösen‘ Figuren im Film überlegen, inklusive des Anstaltsleiters Frederick Chilton, der sich insbesondere in seinem sexuell anzüglichen Verhalten gegenüber Starling als Widerling erweist. Albrecht Koschorke hebt in seinem Text Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften den Wert einer sogenannten „Figur des Dritten“69 vor allem im Rahmen jüngster wissenschaftlicher Überlegungen hervor. Mit ihr werde das Festhalten an rein binären Strukturen aufgegeben und das Dritte nicht „nur in der Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit“70 anerkannt, sondern „als Größe, die neben den beiden Themen dualistischer Semantiken vom Typ wahr/falsch, Geist/Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur, innen/außen, eigen/fremd bestehen bleibt“71. Dabei lassen sich, so die Einführung Koschorkes, nicht nur triadische Strukturen, sondern tatsächlich auch bestimmte Ausprägungen von Figuren, wie etwa der Trickster, der Bote oder der Dolmetscher72, unter dem Sammelbegriff der Figur des Dritten erfassen. Während auf die Figur des Tricksters und ihre Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede mit den hier beschriebenen entgrenzten Figuren im folgenden Kapitel noch genauer eingegangen wird, soll an dieser Stelle zunächst festgehalten werden, dass die entgrenzten Figuren, die hier als Zwischenfigur in einer bestehenden antagonistischen Konfliktstruktur beschrieben wurden, auch mit der These von der Figur des Dritten erfasst werden können. Nach Koschorke „entstehen ‚Effekte des Dritten‘ immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird [Herv. i. O.]“73. 68 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän, S. 274. 69 Koschorke, Albrecht: „Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften“, in: Eva Eßlinger et al. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9-31, hier S. 9. 70 A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 9. 71 A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 9. 72 Vgl. A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 10. 73 A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 11.
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Man kann davon ausgehend folgern, dass mit der Charakterisierung Hannibal Lecters als Zwischenfigur also besonders auch die Unterscheidung zwischen konventionell ‚guten‘ und ‚bösen‘ Figuren, die Differenzen in ihrer Inszenierung und die für die Bewertung herangezogenen moralischen und ethischen Kriterien des Publikums zum Gegenstand der Reflexion werden. Gerade also das Moment des Dritten in einer etablierten Figurenkonstellation, mithin also auch das Moment der Entgrenzung, wird hier zum Fixpunkt der Rezeption, worauf noch genauer einzugehen sein wird. Als eine Figur des Dritten lässt sich auch der Joker aus The Dark Knight beschreiben. Wie bereits dargestellt, ist der Joker nicht nur Batmans Opponent, sondern der Gegner jeder Figur in der fiktiven Welt. Im Vergleich zu anderen Superschurken kann und will er keinen Helfershelferkreis um sich scharen, er sorgt sogar dafür – wie bereits in der ersten Sequenz des Films deutlich wird –, dass alle Mitwirkenden an seinen Verbrechen ausgeschaltet werden. Formalästhetisch wird die besondere Qualität der Figur auch in der Szene deutlich gemacht, in welcher der Joker das Treffen von Gothams Mafiabossen stört. Im Vergleich zu den gepflegten Männern im ‚feinen Zwirn‘ wirkt der schlampig geschminkte Joker im lila Anzug und mit ungewaschenen Haaren wie ein Fremdkörper und wird auch als solcher behandelt. Der Joker lässt sich demnach weder der ‚guten‘ noch der ‚bösen‘ Seite in Gotham City eindeutig zuordnen. Entsprechend haben Johannes Schlegel und Frank Habermann in Bezug auf die jüngst erschienenen Superhelden-Filme im Allgemeinen und in Bezug auf The Dark Knight im Besonderen festgestellt, dass eine klare Differenz zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ hier nicht mehr etabliert, diese aber auch nicht vollständig negiert werde74: „The Dark Knight relocates the focus from representations of ontological good or evil to the distinction itself. It still provides the genre’s traditional patterns and narrative structures, but beyond that it also points out their function. Therefore, on the one hand, it is still possible to extract the inscribed dialectics of good and evil and designate the Joker as the evil villain and Batman as the (dark, modern or anti-) superhero fighting the evil. On the other hand, the film offers the opportunity to interpret it contrarily [Herv. i. O.].“75
Wie der Joker selbst deutlich macht, steht er außerhalb beider Strukturen, denn er verfolge keinen Plan, sondern sei vor allem an der Verbreitung von Anarchie 74 Vgl. J. Schlegel/F. Habermann: Theatricality and Cybernetics of Good and Evil, S. 31 und S. 33. 75 J. Schlegel/F. Habermann: Theatricality and Cybernetics of Good and Evil, S. 44.
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und Chaos interessiert: „Do I really look like a guy with a plan? […] I’m a dog chasing cars. I wouldn’t know what to do with one if I caught it. You know? I just do things.“76 Zugleich erschafft der Joker mit der körperlichen Entstellung und psychischen Manipulation des Bezirksstaatsanwaltes Harvey Dent einen weiteren Opponenten Batmans: Two-Face tritt im letzten Drittel des Films als weitere ‚böse‘ Figur in Gotham City in Erscheinung.77 Als Schöpferfigur tritt der Joker damit zudem aus den Zusammenhängen der fiktiven Welt ein Stück weit heraus. In einem ähnlichen Gestus – mit gleichzeitigem Verweis auf die eigene Fiktionalität – macht der Joker darauf aufmerksam, dass Batman und er eben nicht für einen entscheidenden Endkampf, sondern vielmehr als ewige Gegenspieler konzipiert sind: „You won’t kill me out of some misplaced sense of selfrighteousness. And I won’t kill you because you’re just too much fun. I think you and I are destined to do this forever.“78 Für die Figur Murata aus Cold Fish kann ebenfalls eine Stellung außerhalb der dualen antagonistischen Ordnung festgestellt werden. Murata ist jedermanns Opponent und nicht nur ein Gegenspieler Shamotos: Seine Frau hat er für seine grausamen Taten als Unterstützerin instrumentalisiert, jede ihrer Bewegungen – wie beispielsweise auch die Verführung des Anwalts Tsutsui (Tetsu Watanabe) und seiner Ermordung – ist von Murata vorgeplant und angeleitet. Zwar ist der Fischhändler neben seiner Frau noch von einem Helferkreis umgeben, doch selbst dessen Mitglieder können im Handumdrehen zu Feinden Muratas werden. So lässt er nicht nur seinen Anwalt umbringen, Shamoto erfährt zudem von der Polizei, dass überdies Muratas vormaliger Assistent unauffindbar verschwunden ist. Zugleich kann Murata aber in einer gewissermaßen paradoxalen Umkehrung auch als Sinnstifter und Helfer für Shamoto gelesen werden: Dieser befindet sich zu Beginn der Erzählung, wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, bereits in einem zutiefst gestörten Familiensystem, aus welchem er aus eigener Kraft nicht mehr entkommen kann: „Hast du in deinem Leben ein einziges Mal dafür gesorgt, dass es dir gut geht?“79, schreit Murata Shamoto beim Kampf im Wald ins Gesicht. Durch Muratas fast schon als therapeutisch zu bezeichnende ‚Bearbeitung‘ gelingt es Shamoto, von seinem zutiefst passiven Lebensprinzip in einen aktiven Modus zu wechseln. Markiert wird die Verwandlung durch eine 76 The Dark Knight, 01:44:27-01:44:38. 77 Two-Face ist einer der Hauptcharaktere des Batman-Universums und zählt zu den ewigen Widersachern des Superhelden. 78 The Dark Knight, 02:10:03-02:10:22. 79 Cold Fish, 01:50:37-01:50:45.
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optische Veränderung: Ohne Brille und im blütenrein weißen Hemd kündigt Shamoto an, ‚jetzt aufräumen zu wollen‘.80 Inszeniert wird dies als zutiefst grausam und blutig durchgeführter Befreiungsschlag, der aber nichtsdestotrotz als Ermächtigungs- und Erlösungsgeste Shamotos interpretiert werden muss. Shamoto fängt an, sich selbst gegen die Zustände, in die er getrieben wurde, zu behaupten. Als ein Ausbruch aus der anfänglich gestörten Ordnung muss Shamotos Wandlung unter anderem deshalb gelesen werden, weil die Expositionsszene des Films, das gemeinsame Abendessen der Familie, nun wieder aufgegriffen, aber variiert dargestellt wird: Als seine Tochter Mitsuko während des Essens an ihr Mobiltelefon geht und nach draußen läuft, um ihren Freund zu sehen, schlägt Shamoto sie bewusstlos und schleppt sie wieder zurück ins Haus. Während Shamoto in der Expositionsszene des Films von seiner Frau sexuell abgewiesen wurde, stellt der Film nun in drastischer Nähe die Vergewaltigung Taekos durch Shamoto dar. Letztendlich scheidet Shamoto selbstbestimmt aus dem Leben, indem er das Messer gegen sich selbst wendet. Während man die Offenbarung der wahren Natur Muratas nach dem ersten Drittel des Films als einen entscheidenden Umschlagsmoment des Films benennen kann, markiert der Befreiungsschlag Shamotos und die Wiedererlangung seiner ‚Eigenständigkeit‘ nach etwa zwei Dritteln des Films einen weiteren Wendepunkt. 3.2.2 Gestus der Selbstermächtigung Ein weiteres Merkmal neben ihrer strukturellen Kennzeichnung als Zwischenfiguren beziehungsweise als Figuren des Dritten charakterisiert die entgrenzten Figuren: Ihr Auftreten wird stets von einen ausgeprägten Gestus der Selbstermächtigung begleitet. Mit dem Begriff ‚Selbstermächtigung‘ sollen hier all jene autoritären Handlungen bezeichnet werden, mittels derer sich die Figuren über bereits bestehende und sie eigentlich einschließende Ordnungssysteme erheben und diese demnach für sich selbst als ungültig erklären. Mit der Bezeichnung ‚Gestus‘ der Selbstermächtigung soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es in den vorliegenden Überlegungen nicht so sehr um die Frage geht, ob die Figuren ‚tatsächlich‘ mächtiger sind als die sie umgebenden Protagonisten, ob sie ‚tatsächlich‘ aus dem fiktionsinhärenten Wertesystem ausbrechen können,
80 Vgl. Cold Fish, 02:07:44.
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vielmehr liegt die Aufmerksamkeit auf der Beobachtung, dass sie sich selbst so geben und inszenieren, als wäre dies der Fall.81 Die entgrenzten Figuren agieren so, als würden die Wertordnungen und ihre Bedingungen sie nicht betreffen, sie inszenieren sich als außerhalb dieser Wertordnungen stehend und erschaffen sich damit ein eigenes Lebens- und Regelsystem. Der Gestus der Selbstermächtigung wird auch dadurch betont, dass die entgrenzten Figuren sowohl den anderen Antagonisten als auch den Protagonisten, ja meist selbst den Rezipienten, mindestens um einen Schritt voraus sind. So weiß beispielsweise Hannibal Lecter schon lange vor Clarice Starling und dem FBI, wie man den Serienmörder Buffalo Bill aufspüren kann. Hilfe bekommt Starling aber nur häppchenweise und in Form von Puzzlestücken, die oft verschlüsselt als Anagramme vermittelt werden. Im Fall des Kannibalen Lecter kommt bezüglich des Gestus der Selbstermächtigung noch hinzu, dass er gewisse, schon fast übernatürliche Fähigkeiten zu besitzen scheint: So kann er beispielsweise riechen, welches Parfum Starling normalerweise benutzt, selbst wenn sie es an diesem Tag nicht trägt, oder er kann ihr sagen, dass ihre Wunde aufgehört hat zu bluten, obwohl er diese gar nicht sehen kann.82 Aufgrund dieses ständigen ‚Hinterherhinkens‘ der Protagonisten und Rezipienten sind die nächsten Bewegungen der entgrenzten Figuren – anders als bei ‚gewöhnlichen‘ Antagonisten – nicht vorherzusehen, wodurch der Verlauf der Narration oft überraschend verändert wird. So führt beispielsweise der Joker Batman – und mit ihm auch den Zuschauer – bewusst in die Irre, als er ihm zwar die beiden Orte nennt, an denen sich zwei Geiseln in Todesgefahr befinden, die Adressen dieser Orte aber vertauscht. Der Plan des Joker geht auf, als Batman, der nur eines von beiden Opfern retten kann, zur falschen Adresse fährt und damit seine große Liebe Rachel Daws verliert. Erst als Batman die Tür zur Lagerhalle öffnet, wird ihm und dem Zuschauer klar, dass der Joker hier wieder einen Schritt voraus war und die Fäden so gezogen hat, dass sich das von ihm gewünschte Ergebnis einstellt.
81 In diesem Sinne könnte man auch von einer sich in performativen Akten ausdrückenden Coolness der entgrenzten Figuren sprechen. Vgl. Eisele, Sabrina: „‚And when you do it, you do it cool!‘ – Die coolen Bösen in Quentin Tarantinos Kultfilmen Pulp Fiction und Inglourious Basterds”, in: Daniela Otto/Roman Giesen (Hg.), Die Kunst, cool zu sein. Einsichten in eine Lebensart, Kindle e-book, http://www.amazon.de/DieKunst-cool-sein-Einsichten-ebook/dp/B00L0GBRC8/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid= 1404464730&sr=8-1&keywords=die+kunst+cool+zu+sein (04.07.2014), o.S. 82 Vgl. The Silence of the Lambs, 00:13:41-00:13:51 und 00:26:49-00:26:50.
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Zur Kennzeichnung des Gestus der Selbstermächtigung soll an dieser Stelle aber nicht vorrangig gezeigt werden, dass die entgrenzten Figuren sich eigenmächtig über die normativen und moralischen Wertordnungen der fiktiven Welt hinwegsetzen. Dies wurde bereits im Abschnitt über die Analyse des ‚Bösen‘ an den entgrenzten Figuren ausführlich demonstriert. Es lassen sich vielmehr vor allem zwei weitere Merkmale ausmachen, an denen sich der Gestus der Selbstermächtigung der entgrenzten Figuren besonders gut ablesen lässt: Erstens etablieren die entgrenzten Figuren eigene willkürliche Regelsysteme in der fiktiven Welt, auch wenn diese nie so umfassend sind, dass die von ihnen außer Kraft gesetzte normative Ordnung dadurch vollständig ersetzt werden würde. Zweitens werden die entgrenzten Figuren als Schöpferfiguren inszeniert. Bereits weiter oben wurde ausgeführt, dass sich der Joker zum einen als Erschaffer des Superschurken Two-Face als Schöpferfigur vom übrigen Personal des Films abhebt. Durch seine Vorhersage, dass das antagonistische Verhältnis zwischen Batman und ihm wohl ewig währen wird, kann der Joker zum anderen auch als eine Art Schöpfer auf der Metaebene des Films begriffen, zumindest aber in diesem Moment als eine Art allwissender Erzähler aufgefasst werden, der auf den weiteren Verlauf der Geschichte verweist.83 Obwohl oft als Teufelsfigur interpretiert, kann Hannibal Lecter ebenso als Schöpferfigur gedeutet werden.84 Zum einen inszeniert er sich als Herr über Leben und Tod: So versichert er etwa nach seiner erfolgreichen Flucht aus der Gefangenschaft Starling am Telefon, sie müsse sich keine Sorgen darüber machen, von ihm verfolgt und getötet zu werden: „I have no plans to call on you, Clarice. The world’s more interesting with you in it.“85 Ein Verweis auf die Metaebene des Films findet – ähnlich wie zuvor in Bezug auf den Joker gezeigt – auch bei der Figur Lecter statt. Er verspricht Starling bei ihrer ersten Begegnung, ihr zu 83 Vgl. dazu die Ausführungen von Charles K. Bellinger, welcher den Joker als Figuration des Satanischen im Sinne Girards begreift und ihn als „the most astute observer of human psychology in the film“ beschreibt. Bellinger, Charles K.: „The Joker is Satan, and So Are We: Girard and The Dark Knight“, in: Journal of Religion and Film 13 (2009), http://www.unomaha.edu/jrf/vol13.no1/JokerSatan.htm (12.07.2014). 84 Inwiefern auch Teufelsfiguren stets Schöpfercharakter besitzen, davon zeugt etwa Mephistos berühmter Ausspruch in Faust: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band III. Dramatische Dichtungen 1: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, hg. von Erich Trunz, Hamburg: Wegner 1949, V. 1335 f. Vgl. zur schöpferischen Energie der Dunkelheit auch P.-A. Alt: Ästhetik des Bösen, S. 109. 85 The Silence of the Lambs, 01:47:35-01:47:38.
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dem zu verhelfen, was sie sich am meisten wünscht und schließlich am Ende des Films tatsächlich bekommen wird: eine Karriere beim FBI. Wiederum könnte man Lecter hier als eine Art allwissenden Erzähler deuten, der am Anfang bereits weiß, wie die Geschichte enden wird. Im Vergleich zum Joker und zu Lecter erscheint Yukio Murata als eine Art Negativ-Schöpfer: Er erklärt, er könne Personen unsichtbar machen und meint damit, dass er ihre Leichen zerstückelt, das Fleisch von den Knochen trennt und die Bestandteile einzeln entsorgt. Auch Murata inszeniert sich selbst als Entscheidungsinstanz über Leben und Tod: „Jeder Mensch stirbt. Eines Tages fällt man um. Das ist so. Völlig normal. Man stirbt. Keiner weiß wann. Denkst du! Aber es gibt Leute, die das wissen. Ich zum Beispiel. Ich weiß genau, wer bis wann lebt und wann stirbt.“86 Was die von den entgrenzten Figuren neu etablierten Regelsysteme betrifft, so lässt sich feststellen, dass Lecter seine Begegnungen mit Starling nach dem Muster eines quid-pro-quo (lat. dieses für das), also als Pakt gegenseitiger Leistungen, organisiert. Dieses Verhaltens- und Handlungsmuster wird im Film mehrfach erwähnt und ist in Fan-Kreisen inzwischen zu einer beliebten sprachlichen Referenz avanciert. Dabei verkehrt Lecter sein eigenes Regelsystem immer wieder zu seinen Gunsten und entlockt beispielsweise Starling mehr Information, als er ihr zu geben bereit ist. Auch der Joker zwingt Gotham City sein neues Regel- oder eher NichtRegel-System auf: „Introduce a little anarchy, upset the established order and everything becomes chaos.“87 Murata folgt bei der Entsorgung der Leichen seiner Opfer einem festen, ritualhaften Regelsystem, das nicht durchbrochen werden darf: Dies wird formalästhetisch unter anderem durch Wiederholungen ähnlicher Kameraaufnahmen gekennzeichnet: Dreimal besucht der Zuschauer mit den Figuren die Waldhütte, in welcher die Entsorgung der Leichen stattfindet. Dreimal werden das Meer brennender Kerzen auf dem Küchentisch und das Arsenal an Messern gezeigt, das zur Zerteilung der Leichen dient. Dreimal hockt Aiko im weißen Nachthemd und mit einem Messer in der Hand auf dem über und über mit Blut besudelten weißen Boden des kleinen Badezimmers. Beim dritten Mal ist es jedoch Murata selbst, der hier als Leiche entsorgt werden soll.
86 Cold Fish, 00:43:26-00:43:45. 87 The Dark Knight, 01:46:47-01:46:02.
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3.2.3 Figur ohne motivierende Vorgeschichte Neben ihrer Konstruktion als Zwischenfiguren in einer bestehenden Konstellation und neben dem ausgeprägten Gestus der Selbstermächtigung, mit dem sie auftreten, kann an den entgrenzten Figuren noch ein drittes Merkmal identifiziert werden. Es lässt sich nämlich feststellen, dass im Rahmen der Narration keinerlei oder nur trügerische und unzureichende Informationen zur Vorgeschichte und zur Motivation der Figur geliefert werden. In ihrer Dramaturgie des Films stellt Michaela Krützen unter anderem unter Rückgriff auf verschiedene Anleitungen zum Drehbuchschreiben die Bedeutung der „Backstory“88 einer Figur für die Dramaturgie der erzählten Geschichte heraus. Es handelt sich dabei um die Vorgeschichte einer Figur, jene Ereignisse also, die vor dem Beginn der Erzählung geschehen sind.89 Als noch wichtiger erscheint in der Argumentation von Michaela Krützen allerdings die sogenannte „Backstorywound“90, die „ein unverarbeitetes Erlebnis in der Vorgeschichte einer Filmfigur [Herv. i. O.]“91 bezeichnet. Als Beispiele für eine solche Backstorywound nennt Krützen unter anderem das Kindheitserlebnis vom Schreien der vor der Schlachtung stehenden Frühlingslämmer, von welchem Clarice Starling in The Silence of the Lambs berichtet, sowie die Kindheitsgeschichte Edward Lewisʼ aus Pretty Woman (USA 1990, Rg. Garry Marshall), dessen Vater die Familie früh verlassen hat. Wichtig – auch für die folgenden Überlegungen – ist die Funktion, die dieser Backstorywound zugeschrieben wird: „Sie soll das Verhalten einer Figur verständlich machen, soll sie motivieren [Herv. i. O.].“92 Dabei kann Krützen am Beispiel von Edward Lewis zeigen, dass die Backstorywound das rücksichtslose Verhalten der Figur relativiert, sodass sie nicht mehr als „negative Figur“93 wahrgenommen wird: „Da es nun eine – zumindest innerhalb der Filmlogik – plausible Motivation für sein Verhalten gibt, erscheint Edward nicht länger als geldgieriger oder machthungriger Kapitalist, sondern als ein unglücklicher Mann.“94
88 Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt a. M.: Fischer 2006, S. 25. 89 Vgl. M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 28. 90 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 30. 91 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 30. 92 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 31. 93 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 31. 94 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 31.
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Wie einleitend bereits dargestellt, ist es die Backstorywound der Hauptfigur in der TV-Serie Dexter, welche es den Zuschauern möglich zu machen scheint, sich mit einem Serienkiller zu identifizieren oder sich zumindest empathisch einzufühlen. So erwähnt Dennis Eick: „Neben der Erzählerstimme werden Rückblenden eingesetzt, in denen Dexters Kindheit und Jugend geschildert werden. […] So gibt es in den Rückblenden auch Begründungsversuche für Dexters Verhalten, etwa der [sic] grausame Mord an seiner Mutter […].“95 Eine ebensolche relativierende Vorgeschichte oder sogar eine Backstorywound lassen die Konzeptionen der entgrenzten Figuren allerdings vermissen, womit den Rezipienten der Entwurf von moralischen Rechtfertigungsstrategien erschwert bis unmöglich gemacht wird. Auf diese Konsequenzen der fehlenden Vorgeschichte für die Wahrnehmung der Figuren soll zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher eingegangen werden. Bei der Betrachtung der hier analysierten Beispiele lässt sich feststellen, dass die entgrenzten Figuren hinsichtlich des Fehlens von motivierenden Vorgeschichten hierarchisch abgestuft werden können: Während in Bezug auf Lecters kannibalistische Triebe keinerlei Erklärung gegeben wird, sondern vielmehr die nicht aufzulösende Chiffrierung seiner Taten eine Rolle spielt, deutet sich bei Yukio Murata zwar eine Hintergrundgeschichte an, diese bleibt aber mehrdeutig und trägt – anders als erwartet – nicht zum Verständnis der Figurenmotivation bei. Die Figur des Joker betreffend ist es dann sogar so, dass dieser verschiedene motivierende Vorgeschichten präsentiert, die sich aber gegenseitig widersprechen und damit aufheben. Das komplette Fehlen einer Erklärung für seine kannibalistischen Gewalttaten fällt in Bezug auf Lecter vor allem ins Gewicht, wenn man ihn mit der Darstellung des anderen Serienmörders vergleicht, der in The Silence of the Lambs eine Rolle spielt. Dem etablierten Muster eines Thrillers folgend, geht es in der filmischen Narration darum, Buffalo Bills Geheimnis zu entschlüsseln und zu erfahren, warum er seine Opfer tötet und häutet. Nur durch das Erkennen und Verstehen seines Motivs könne er gefasst werden, das macht Lecter auch Starling klar und hilft ihr dabei, die richtigen Fragen zu stellen, um Buffalo Bills ‚wahre‘ Natur zu erkennen: „Of each particular thing ask: What is it in itself? What is its nature?
95 Eick, Dennis: „Das Wesen des Bösen. Oder: Warum wir in der TV-Serie Dexter mit einem Serienkiller mitfiebern. Eine handwerkliche Betrachtung der US-Serie aus Sendersicht“, in: Sascha Seiler (Hg.), Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen, Köln: Schnitt 2008, S. 148-159, hier S. 158.
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What does he do, this man you seek?“96 Diese Fragen nach dem Kern der Motivation für Buffalo Bills Verhalten, die Lecter stellt, während die Kamera sein Gesicht in Nahaufnahme zeigt, verweisen in dieser Szene durch die bildsprachliche Verknüpfung direkt auf den Umstand, dass Antworten in Bezug auf Lecter ebenfalls noch ausstehen. Durch jedes Treffen mit Lecter kommt Starling näher und näher an Buffalo Bills Geheimnis heran, entfernt sich aber in gegenläufiger Bewegung mehr und mehr davon, das des Kannibalen zu ergründen. „They don’t have a name for what he is“97, wird Starling folglich nach mehreren Begegnungen mit Lecter resümierend eingestehen müssen. Während Lecters Kannibalismus beim ersten Aufeinandertreffen bereits zweimal erwähnt wird, spielt seine ‚Neigung‘ bei den folgenden Begegnungen keine Rolle mehr.98 Im Gegensatz zu Buffalo Bill, dessen Taten und Vorgehensweise offen zu Tage liegen und dessen Vorgeschichte und Backstorywound im Laufe des Films ergründet werden („Our Billy wasn’t born a criminal, Clarice. He was made one through years of systematic abuse.“99), bleibt Hannibal, der Kannibale, ein Buch mit sieben Siegeln. Der Zuschauer erfährt, dass Lecter mit Vorliebe die inneren Organe seiner Opfer verspeist und in diesem Sinne vielleicht sogar als „Gourmet“100 bezeichnet werden kann. Eine Motivierung dieses Verhaltens jenseits der reinen Genussbefriedigung findet jedoch nicht statt. Von einer Backstorywound, die zu diesem auch in Bezug auf die filminhärente Welt abnormen Verhalten geführt hat, kann nicht die Rede sein.101 96
The Silence of the Lambs, 01:05:36-01:05:45.
97
The Silence of the Lambs, 01:03:28-01:03:29.
98
Michaela Krützen weist darauf hin, dass Lecters Kannibalismus in der ersten viertel Stunde des Films bereits vier Mal erwähnt wird. Vgl. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 202.
99
The Silence of the Lambs, 00:54:59-00:55:04.
100 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 204. 101 Vgl. M. Kilgour: The Function of Cannibalism at the Present Time, S. 253 f. Im Prequel Hannibal Rising (USA/F/GB 2007, Rg. Peter Webber), das in Bezug auf die erzählte Zeit vor Red Dragon und The Silence of the Lambs zu verorten ist, erfährt der Zuschauer dann allerdings durchaus von der Kindheits- und Jugendgeschichte Hannibal Lecters sowie von den erlittenen Traumata während des Zweiten Weltkrieges, die als direkte Ursache seines Kannibalismus und seiner Emotionslosigkeit dargestellt werden. In den vorliegenden Überlegungen sollen jedoch nur die in The Silence of the Lambs gegebenen Informationen zur Bewertung und Analyse der Figur herangezogen werden. Auch Michaela Krützen weist darauf hin, dass sowohl in The Silence of the Lambs als auch im direkt daran anschließenden Prequel Hannibal keine Hinweise auf eine Backstorywound zu finden sind, diese jedoch in der gleich-
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Interessant ist hierbei zudem, dass Lecter in keiner Weise dem gängigen Bild eines Film-Kannibalen entspricht. Wie Krützen in ihrer kurzen Geschichte des Kannibalismus im Film herausstellt, kamen Kannibalen im Kino lange Zeit nur als „Wilde“102 vor, als menschenfressende Ureinwohner und Bedrohung für die meist hellhäutigen Hauptfiguren.103 Diese wilden Kannibalen seien dabei nicht nur durch Dunkelhäutigkeit, sondern auch durch Schmutz und Nacktheit gekennzeichnet gewesen und bevorzugt in Gruppen aufgetreten: „Ihre Opfer verzehren sie roh; von einer schmackhafteren Zubereitung scheinen sie noch nie gehört zu haben.“104 Neben dieser Version unterscheidet Krützen noch drei weitere Arten von ‚zivilisierten‘ Kannibalen im Film. Für die erste dieser Gruppen sei kennzeichnend, dass die Kannibalen hier nicht wüssten, dass sie Menschenfleisch verzehren und dies unfreiwillig geschehe. Zur zweiten Gruppe zählt Krützen den „sogenannten Hungerkannibalismus“105, bei welchem die Protagonisten aus purem Überlebenswillen zu Kannibalen werden. Als dritte Gruppe von Kannibalen identifiziert Krützen letztendlich die Figuren aus den Serienmörder-Filmen, zu denen auch The Silence of the Lambs zu zählen ist. Dabei betont sie ausdrücklich die Sonderstellung Lecters.106 Während also die jeweilige Begründung und Motivation für den Kannibalismus in der Filmgeschichte des Motivs durchaus eine zentrale Rolle spielt, wird in The Silence of the Lambs – und das ist fundamental für das Verständnis der Wirkung dieser Figur – nicht erklärt, warum Lecter seine Opfer verspeist. Das Fehlen einer Begründung für das kannibalistische Handeln wird zudem dadurch betont, dass im Gegensatz dazu die im Film bildlich inszenierten Gewalttaten Lecters107 – wie beispielsweise der Biss in das Gesicht eines Polizeibeamten oder das Einprügeln auf einen Gefängniswärter mit einem Schlagstock – von einem auf den ersten Blick klar definierten Ziel – dem der Flucht – motiviert sind. Bei namigen Romanvorlage von Thomas Harris zu Hannibal durchaus thematisiert wird: „Diese Begründung wurde in der Verfilmung nicht eingesetzt; Hannibal bleibt aus unerklärlichen Gründen böse […].“ M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 213. 102 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 186. 103 Vgl. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 186 f. 104 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 188. 105 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 195. 106 Vgl. M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 196. 107 Murray Smith hat darauf hingewiesen, dass Lecter tatsächlich in keinem Moment des Films bei der Durchführung der kannibalistischen Akte gezeigt wird: „[…] though we hear a lot about Lecter’s cannibalistic antics and witness the gruesome aftermath of one of his attacks, we never see him chomping liver or defacing his victims […].“ M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227.
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genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass nicht der gesamte Ablauf des Angriffs aus diesem Motiv heraus erklärt werden kann, diesem zum Teil sogar widerspricht: So nimmt sich Lecter beispielsweise nach seinem Angriff auf die beiden Polizisten die Zeit, den Bauchraum des einen Opfers aufzuschneiden und es in einer Art Kreuzigungsposition an den Gitterstäben seiner Zelle aufzuhängen – oder vielmehr kunstvoll zu drapieren. Bevor Lecter die beiden Polizeibeamten angreift, lauscht er – scheinbar entrückt und konzentriert – einem klassischen Musikstück auf dem Kassettenrekorder in seiner Zelle. Im Moment des Angriffs verstummt diese diegetisch motivierte Musik und macht einem nichtdiegetischen, spannungsgeladenen Musikstück Platz. Nach Beendigung des Kampfes und einer Schwarzblende setzt das klassische Musikstück jedoch wieder ein: Die Kamera filmt Lecters Hände, wie sie die Musik vom Band dirigieren, bevor im Off das Stöhnen eines Opfers hörbar wird. Was Lecter dazu bewegt, so zu handeln, und welche Bedeutung der Kreuzigung des Polizisten zugeschrieben werden soll, bleibt letztlich von der Erzählung unaufgelöst.108 Vor allem im Vergleich mit der relativ eindeutigen Motivation Buffalo Bills, erscheinen Lecters Gewalttaten als nicht zu entschlüsselnde, aber bedeutungstragende Chiffren. In diesem Sinne kann etwa die ‚Kreuzigung‘ des Polizisten mit Karl-Heinz Bohrer als rein ästhetisch ‚Böses‘ verstanden werden: „Entscheidend nun für die Phänomenalität des ästhetisch Bösen ist, daß der Darstellung […] jede Sinnzuschreibung fehlt. Wenn diese Zeichen des Bösen, wie man sie nennen kann, einen allegorischen Bedeutungskern hätten, dann könnte man von einer Imagination des ästhetisch Bösen nicht sprechen. […] Es stellt sich vielmehr der Eindruck eines vollkommen rätselhaften Schweigens ein, in dem die Bilder des Schreckens und der Angst ein ästhetisch absolut verschlossenes Arrangement bilden.“109
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Hickethier, wenn er das Auftreten des fiktiven ‚Bösen‘ generell an das Fehlen einer Begründung für die destruktiven Handlungen bindet:
108 Inge Kirsner schlägt vor, Lecters Inszenierung des Leichnams des Polizisiten als Ablenkungsmanöver zu verstehen, welches ihm für seine Flucht genug Zeit verschaffen soll. Vgl. Kirsner, Inge: „Verzehrende Leidenschaft und andere Kannibalismen. Zum Schweigen der Lämmer (Jonathan Demme, USA 1990) und der Erlösung im Film“, in: Lothar Warneke/Massimo Locatelli (Hg.), Transzendenz im populären Film, Berlin: Vistas 2001, S. 179-190, hier S. 189. 109 K.-H. Bohrer: Die Ästhetik des Bösen, S. 548.
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„Die Ursachen, dass Figuren sich als böse erweisen, bleiben in der Regel ungeklärt. Wenn dies anders ist, erscheinen Figuren in den Fiktionen nicht wirklich als böse. So ist deshalb beispielsweise Mephisto in Goethes ‚Faust‘ nicht wirklich böse, weil er als im Auftrage handelnd, in bestimmten Grenzen sich bewegend dargestellt wird.“110
Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Definition des ‚Bösen‘ geht diese Auffassung freilich ein Stück zu weit, denn wenn sich das ‚Böse‘ allein aus seinem strukturellen Moment, als eine Störung der etablierten Ordnung, zu erkennen geben kann, so ist es in diesem Zusammenhang zunächst unerheblich, ob Begründungen für das ‚böse‘ Handeln mitgeliefert werden. Zugestimmt werden aber soll der Meinung, dass das ‚Böse‘ durch das Nicht-Nennen einer Begründung oder Motivation, durch das Verweigern einer entlastenden Backstorywound, eine andere Qualität gewinnt, ihm dann „etwas Unbestimmtes, Nicht-genauErkennbares, etwas Diffuses innewohnt“111. Wie dargestellt, wird in Bezug auf Lecter nicht einmal der Versuch gemacht – weder vonseiten des Serienmörders selbst noch vonseiten des FBI oder des behandelnden Personals im Baltimore State Hospital – seine ‚Neigungen‘ zu erklären und beispielsweise an Erfahrungen aus der Kindheit oder erlebte Traumata anzubinden. So spricht etwa Dr. Frederick Chilton auf die Nachfrage Starlings ziemlich vereinfachend davon, dass Lecter ein Monster sei, „a pure psychopath“112. Im Vergleich dazu wird in Cold Fish eine Hintergrundgeschichte, eine Art Kindheitstrauma Muratas zumindest angedeutet. Das Besondere hierbei ist, dass bewusst mit den Erwartungen der Zuschauer gespielt wird, die an dieser Stelle – geschult durch zahlreiche ähnlich verlaufende Narrationen des Klassischen Kinos – tatsächlich auf eine Erklärung für Muratas Brutalität und Grausamkeit beziehungsweise eine Begründung für seine Art zu morden warten. Nachdem die ‚Arbeit‘ getan und die Leiche seines Geschäftspartners präzise in ihre Bestandteile zerlegt ist, setzt sich Murata mit einer Tasse Kaffee in der Hand neben den immer noch im Schock befindlichen, zitternden Shamoto und hebt zu der erwähnten Erklärung an. Diese nimmt Bezug auf die mit christlichkatholischen Devotionalien – Kruzifixen, Jesus- und Marienfiguren, Rosenkränzen und Ikonen – dekorierte Hütte am Haragiri-Berg, die einst Muratas Vater gehört und in welche dieser seinen Sohn in dessen Kindheit eingesperrt haben soll.113 Damit endet die Erklärung, eine Verbindung zu seinen Morden stellt Mu110 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 236. 111 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 236. 112 The Silence of the Lambs, 00:07:49-00:07:52. 113 Vgl. Cold Fish, 00:53:22-00:54:39.
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rata nicht her, womit die Verweise auf den Vater und die Kindheitserlebnisse zur bedeutungsleeren Floskel verkommen. Sie könnten sogar als Parodie auf die gängigen narrativen Strukturen in Serienkiller-Filmen gelesen werden. In ähnlicher Weise ist auch die christlich-katholische ‚Dekoration‘ der Berghütte zu verstehen: Zunächst scheint es so, als müsste diese als außergewöhnlicher Verweis interpretiert werden, da sie auf besondere Art und Weise eingeführt wird. An der Blickdramaturgie in der Einführungsszene der Hütte lässt sich die scheinbar besondere Stellung der christlich-katholischen Devotionalien ablesen: Das große, weiße und von bunten Glühbirnen umrahmte Kruzifix ist das erste Detail der Berghütte, das von der Kamera eingefangen und, wie die Montage zeigt, von Shamoto wahrgenommen wird. Die Kameraperspektive, die dem Blick Shamotos aus dem rollenden Wagen entspricht, zeigt daraufhin japanische Schriftzeichen, die verkünden: „Fürchte und ehre den Herrn“ und „Nach dem Tod wirst du gerichtet“.114 Als die Männer die Leiche in die Hütte tragen, schwenkt die Kamera von der Tür nach oben und fängt in Nahaufnahme die dort befindliche große Christusfigur am Kreuz ein. Minutenlang werden im Wechsel weitere Kruzifixe, Marienstatuen, Ikonen und Rosenkränze sowie im Gegenschnitt Shamotos erstauntes, bisweilen erschrockenes Gesicht gezeigt. Durch die Montage der Einstellungen werden die Devotionalien kontinuierlich über die gesamte Sequenz hinweg in Verbindung mit der blutigen Zerstückelung der Leiche gebracht: Marienstatuen werden im Hintergrund des Messerarsenals und vor der Tür des zum Schlachtraum umfunktionierten Badezimmers platziert. Die Inszenierung dieser Elemente findet allerdings nur auf der Bildebene statt, in den Dialogen der Figuren ist von Religion im Allgemeinen oder Christentum und Katholizismus im Besonderen niemals die Rede. Murata geht in seiner angedeuteten Kindheitsgeschichte nicht auf die Devotionalien oder den Glauben seines Vaters ein, auch gibt es keine Hinweise darauf, wer von beiden eigentlich die Kruzifixe und Marienstatuen ins Haus gebracht hat.115 114 Cold Fish, 00:47:14-00:47:17. 115 Anton Bitel hat ausgeschlossen, dass Sion Sono das Motiv der Hütte am HaragiriBerg aus den ihm als lose Vorlage dienenden Quellen über ein tatsächliches, japanisches Serienmörder-Pärchen entnommen hat: „Likewise there is no such place as Mount Harakiri – the location of the isolated shack where the corpses are meticulously dismembered – though it isn’t hard to see why Sono has fixed on this name for a setting that will ultimately stage an act of suicide (also entirely unrelated to the facts of the real case).” Bitel, Anton: „Cold Fish“, in: Sight & Sound 5 (2011), S. 5455, hier S. 54. Während Anton Bitel vom ‚Mount Harakiri‘ spricht und den auf diese Weise vielsagenden Namen auch entsprechend interpretiert, taucht die Bezeichnung in den Untertiteln des Films nur als ‚Haragiri-Berg‘ auf. Haragiri ist allerdings eine
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Im polytheistisch geprägten Japan – eine Mehrzahl der Japaner gehört sowohl dem Shintoismus als auch dem Buddhismus an116 – ist das Christentum nicht nur eine ziemlich fremde, sondern auch junge und vergleichsweise wenige Anhänger zählende Religion. Erst im 16. Jahrhundert kam das Christentum nach Japan117, heute sind nur rund ein Prozent aller religiösen Anhänger dort – nicht ausschließlich – christlichen Glaubens.118 Die Geschichte christlicher Missionierungsbewegungen in Japan ist zunächst geprägt von Zurückweisung und Feindseligkeit: Im Gegensatz zu den ebenfalls von außen kommenden Religionen wie dem Buddhismus, dem Konfuzianismus und dem Taoismus, schien eine friedliche Verschmelzung des Christentums mit den anderen vorhandenen religiösen Sichtweisen aufgrund der Selbstwahrnehmung des christlichen Glaubens von sich als dem einzig gültigen Weg zur Erlösung nicht möglich119: „Herein lay the fundamental cause for the fact that Christianity was not really accepted in Japan and was subject of oppression.“120 Das Christentum wurde und wird verständlicherweise als Ausdruck westlicher und damit zunächst grundsätzlich fremder Zivilisation gesehen: Je nachdem, wie Japaner der westlichen Kultur gegenüberstehen, können sich daraus sowohl positive wie auch negative Bewertungen der Religion ergeben.121 Nichtsdestotrotz sind zahlreiche soziale Institutionen in Japan, wie beispielsweise Privatschulen und Kindergärten in christlicher Hand, und auch durch die Repräsentation des Christentums in Literatur und Film ist die christliche Lehre den Japanern zumindest in Grundzügen vertraut.122 Zugleich lässt sich ein populärkulturelles Interesse am exotischen Christentum, seinen auch als ‚Sen‘ bezeichnete bestimmte Laubholzart. Es ist aber davon auszugehen, dass Sion Sono die Lautgleichheit bewusst als Verweis einsetzt. 116 Vgl.
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Yearbook
2013
(Statistische
Daten):
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http://www.stat.go.jp/english/data/nenkan/index.htm (11.11.2013). 117 Vgl. Kentarō, Miyazaki: „Roman Catholic Mission in Pre-Modern Japan“, in: Mark R. Mullins (Hg.), Handbook of Christianity in Japan, Leiden/Bosten: Brill 2003, S. 1-18, hier S. 2. 118 Vgl.
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2013
(Statistische
Daten):
23-22
B.
http://www.stat.go.jp/english/data/nenkan/index.htm (11.11.2013). 119 Vgl. M. Kentarō: Roman Catholic Mission in Pre-Modern Japan, S. 1f. 120 M. Kentarō: Roman Catholic Mission in Pre-Modern Japan, S. 2. 121 Vgl. Ballhatchet, Helen J.: „The Modern Missionary Movement in Japan: Roman Catholic, Protestant and Orthodox“, in: M. R. Mullins, Handbook of Christianity in Japan (2003), S. 35-68, hier S. 36. 122 Vgl. Thomas, Jolyon Baraka: „Religion in Japanese Film: Focus in Anime”, in: John Lyden (Hg.), The Routledge Companion to Religion and Film, London/New York: Routledge 2009, S. 194-213, hier S. 199.
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Symbolen, Zeremonien und der damit verbundenen Ästhetik erkennen, was sich etwa an der wachsenden Zahl kirchlicher Trauungen ablesen123, sich aber auch an der Integration christlicher Symbole in japanische Filme oder Animes festmachen lässt: „Christian images like crosses appear in films as well, although Christian imagery is rarely explicitly associated with Christian teachings and is often used more for its exotic appeal than to inculcate belief or evoke religious sentiment.“124 Bei der Interpretation christlicher Symbole im japanischen Film ist also Vorsicht geboten, da diese wie beispielsweise in der inzwischen zum Kult avancierten Anime-Serie Neon Genesis Evangelion (1995) „seem to have been intentionally used more for their exotic flavor than for didactic purposes“125. In seinem Film Love Exposure (J 2008), der zusammen mit Cold Fish und Guilty of Romance (J 2011) Sion Sonos sogenannte „Hass-Trilogie“126 bildet, vereint der Autor all diese vielfältigen Referenzen des filmisch repräsentierten Christentums: Ein kritischer Blick auf die grundlegenden Praktiken des katholischen Glaubens, wie etwa die Möglichkeit von allen Sünden durch das Beichten freigesprochen zu werden, spielt hier eine ebenso wichtige Rolle wie der rein auf eine exotische Ästhetik bedachte Einsatz christlicher Symbolik als Accessoire beispielsweise in Form von Kruzifixen auf T-Shirts oder durch das Tragen von Rosenkränzen. So mehrdeutig Christentum und christliche Symbolik hier eingesetzt werden, so absolut referenzlos werden sie dem Rezipienten in Cold Fish präsentiert. Der Einsatz der christlich-katholischen Devotionalien wird nicht in Richtung auf eine bestimmte Bedeutung kanalisiert, von Sünde und Erlösung ist ebenso wenig die Rede wie von einem rein ästhetischen Einsatz der Kruzifixe und Marienstatuen. Während in Love Exposure die immer wiederkehrende Einblendung einer Marienstatue mit Bedeutung gefüllt werden kann – symbolisiert sie doch den Wunsch der verstorbenen Mutter des Protagonisten Yu, die eine Frau zu finden, die seine Maria ist – lässt sich eine Bezugnahme in Cold Fish neben dem rein durch die Bildmontage gegebenen Zusammenhang mit der Vernichtung der Leichen nicht herstellen. Ihr kann keine Bedeutung im Rahmen einer Backstory zugeschrieben und für das Verständnis der Figuren produktiv gemacht werden.127
123 Vgl. J.B. Thomas: Religion in Japanese Film, S. 199. 124 J.B. Thomas: Religion in Japanese Film, S. 199. 125 J.B. Thomas: Religion in Japanese Film, S. 208. 126 Rapid Eye Movies/Cold Fish (Filmseite): http://rapideyemovies.de/cold-fishtsumetai-nettaigyo/ (01.12.2013). 127 Für eine eher referenzlose Einbettung religiöser Symbolik in die Narration von Cold Fish votiert auch Anton Bitel. Vgl. A. Bitel: Cold Fish, S. 54.
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Die Tatsache jedoch, dass in Cold Fish somit auf mehreren Ebenen eine Bedeutungszuschreibung angedeutet, aber letztendlich nicht ausgeführt wird, bewirkt, dass dieser Mangel an Erklärung umso stärker betont wird. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass in Cold Fish zwar Gründe genannt werden, aus welchen Murata mordet, diese erklären jedoch nicht, weshalb er am Morden Gefallen findet und ebenso wenig seine ästhetische Freude an der ritualisierten Zeremonie des Leichenzerteilens. Vordergründig mordet Murata aus wirtschaftlichen Gründen und zur Selbsterhaltung: So tötet er seinen Geschäftspartner Yoshida direkt nach der Geldübergabe, bevor dieser erkennen kann, dass Murata ihn betrogen hat. Auch sein eigener Anwalt fällt Murata zum Opfer, da dieser Mordpläne gegen ihn gehegt hatte. An vielen Stellen wird dagegen deutlich die – oft kindlich anmutende – Begeisterung Muratas am Morden inszeniert, die sich eben nicht allein aus den oben angeführten recht rationalen Gründen erklären lässt. So spielt er beispielsweise mit der Leber eines seiner Opfer und begeistert sich über die von ihm selbst am Leichnam durchgeführte Kastration. Als die Leichenteile zum Entsorgen in den Fluss geworfen werden, kommentiert Murata: „Sehr hübsch. Wie es sich ausbreitet. Schöne Farbe.“128 Für diese Lust am Morden und an der Beschäftigung mit der Leiche werden jedoch keine Begründungen geliefert, die dem Rezipienten dabei helfen könnten, das Verhalten Muratas moralisch in irgendeiner Weise einzuordnen oder gar zu rechtfertigen. Eine weitere Steigerung erfährt das Prinzip der Figur ohne Backstory in Bezug auf den Joker aus The Dark Knight. Mehrfach wird im Film erwähnt, dass niemand weiß, wer der Joker eigentlich ist und wo er herkommt: Als er von Gothams Polizei geschnappt wird, kann in der Datenbank keine Übereinstimmung mit Fingerabdrücken, DNA-Merkmalen oder Zahnarztunterlagen gefunden werden. Der Anzug des Joker ist maßgeschneidert und trägt kein Label: „Nothing in his pockets but knives and lint.“129 Besonders auffällig an der Figur des Joker ist, dass er durchaus anderen Figuren seine Hintergrundgeschichte mitteilt. Jedoch erzählt er zwei verschiedene Versionen davon, wie er zu den Narben in seinem Gesicht gekommen ist, sodass letztendlich keine der Versionen als die gültige anerkannt werden kann. Bewusst wird eine Verunsicherung darüber provoziert, ob nun eine der Versionen, alle beide oder auch keine davon ‚richtig‘ ist. Beide Geschichten, die der Joker im Laufe des Films erzählt, handeln durchaus jeweils von einer Backstorywound, die dazu geeignet wäre, sein Verhalten beziehungsweise seinen ‚Wahnsinn‘ psy128 Cold Fish, 01:47:31-01:47:36. 129 The Dark Knight, 01:20:49-01:20:51.
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chologisch zu begründen, letztendlich müssen sie aber als ironische Verweise auf die aus dem Klassischen Kino gewohnten Strukturen gelesen werden. So stellen auch Johannes Schlegel und Frank Habermann, die unter anderem das theatrale Moment in der Darstellung des Joker als essenziell ausweisen, fest: „His disposition for travesty is best shown in his refusal of a meaningful background story of ‚how he got his scars‘. He tells two divergent stories and thus mocks conventionalized psychoanalytic patterns that try to establish causally determined explanations of his ‚insanity‘.“130
Eine finale Absage an eine mögliche, noch ausstehende Hintergrundgeschichte der Figur des Joker wird in einer der letzten Sequenzen des Films erteilt, als er Batman fragt: „You know how I got these scars?“131 Der Zuschauer erwartet jetzt, dass es im Rahmen eines Dreischritts zu einer Art Synthese kommt, dass also der Widerspruch zwischen den beiden ersten Varianten der Backstory in die eine oder andere Richtung aufgelöst wird. Doch weder wird an dieser Stelle eine der beiden vorherigen Versionen bestätigt, noch wird eine dritte Version erzählt, was die Unglaubwürdigkeit der Figur zementieren würde. Stattdessen verweigert sich Batman dem Spiel des Joker und setzt ihn außer Gefecht. So wird die auflösende und gegebenenfalls entlastende Synthese verweigert, wodurch deutlich betont wird, dass der Joker als Figur ohne Hintergrundgeschichte konzipiert ist. Diese Darstellungsweise fällt besonders dann ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass sowohl in den Comicerzählungen als auch in der Verfilmung durch Tim Burton 1989 die Verunstaltung des Joker als Folge eines Sturzes in ein Säurefass erklärt wird.132 3.2.4 Aspekt der Entgrenzung Drei zentrale Merkmale des hier zur Verhandlung stehenden Figurentypus wurden bisher benannt und anhand konkreter Filmbeispiele herausgearbeitet: Ihr Status als Zwischenfigur oder als Figur des Dritten, ihr ausgeprägter Gestus der Selbstermächtigung und die ihr fehlende motivierende Vorgeschichte. Mit Blick
130 J. Schlegel/F. Habermann: Theatricality and Cybernetics of Good and Evil, S. 42. 131 The Dark Knight, 02:09:21-02:09:22. 132 Vgl. dazu auch Gaine, Vincent M.: „Genre and Super-Heroism. Batman in the New Millenium“, in: R. J. Gray/B. Kaklamanidou, The 21st Century Superhero (2011), S. 111-128, hier S. 120 f.
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auf diese Merkmale kann nun auch dargelegt werden, warum die beschriebenen Figuren als ‚entgrenzte‘ Figuren bezeichnet werden sollen. Neben der Tatsache, dass sie die Grenzen133 gesellschaftlicher und moralischer Norm- und Regelsysteme (zumindest der fiktiven Welt, aber auch darüber hinaus) konsequent ignorieren (Status als ‚böse‘ Figuren und Gestus der Selbstermächtigung), kann auch als wesentlich erkannt werden, dass die entgrenzten Figuren etablierte narrative und dramaturgische Strukturen des Unterhaltungsfilms (Zwischenfiguren und fehlendende motivierende Vorgeschichte) aufbrechen, invertieren und bisweilen sogar ironisch kommentieren und aufheben. Der Begriff der Entgrenzung, so wie er in den vorliegenden Überlegungen verwendet wird, soll dabei mehr meinen als nur eine simple Übertretung bestehender Grenzen, vielmehr schon ein „Prinzip der Transgression“134, wie es PeterAndré Alt unter Bezugnahme auf Michel Foucaults Überlegungen zu George Bataille als strukturgebendes Moment des ‚Bösen‘ benannt hat. Bei der Transgression wird die jeweilige Grenze – so Foucault – nicht nur überschritten, sondern mittels dieses Verletzungsprozesses zugleich auch reaktiviert: „Die Überschreitung treibt die Grenze bis an die Grenze ihres Seins; sie bringt sie dazu, im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt (genauer vielleicht, sich darin zum ersten Mal zu erkennen), und um ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs zu erfahren.“135
133 Die Festlegungen von Grenzen sollen in den vorliegenden Überlegungen „als kulturelle Akte, die die menschliche Welt auf eine bestimmte Weise ordnen“ verstanden werden, wobei diese „den praktischen Orientierungen in Raum und Zeit, und zwar in allen Bereichen: in sozialen, religiösen, moralischen, politischen, ästhetischen usw.“ dienen. Rymar, Nikolaj T.: „Grenze als Sinnbildungsmechanismus“, in: Christoph Kleinschmidt/ Christine Hewel (Hg.), Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 159-169, hier S. 160. Zur Komplexität des Begriffs der Grenze und den verbundenen Definitionsschwierigkeiten vgl. unter anderem Wokart, Nobert: „Differenzierungen im Begriff ‚Grenze‘. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs“, in: Richard Faber/Barbara Nauman (Hg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 275-289. 134 P.-A. Alt: Ästhetik des Bösen, S. 23. 135 Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I. 1954-1969, Hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001[1963], S. 320-342, hier S. 325.
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Dabei ist die Überschreitung für Foucault kein einmaliger Vorgang, sondern ein kontinuierlicher, immer wieder in Gang kommender Prozess: „Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt […].“136 Mit dem Begriff der Entgrenzung soll eine in ähnlicher Weise funktionierende Überschreitung der als Einschließungs- und zugleich als Ausschließungsmechanismen137 fungierenden Grenzen bezeichnet werden und damit eine für die jeweilige Figur nicht mehr im umfassenden Sinne bestehende Gültigkeit des Grenzsystems. In diametraler Umkehrung der Grenzziehung kann die Entgrenzung als ein Phänomen aufgefasst werden, das die Differenz zwischen einem Diesseits und Jenseits der Grenze besonders betont und gleichzeitig die Durchlässigkeit von Grenzen in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rückt. Von einer ähnlichen Form der Unabschließbarkeit scheint auch die Figur des Dritten zu profitieren, worauf Albrecht Koschorke hinweist: „[D]ie entscheidende epistemologische Bruchlinie […] ist markiert durch das Ende der systemphilosophischen Weltentwürfe, die zwar die älteren Hierarchien in eine Entwicklungsdynamik von Widersprüchen überführen, aber Drittheit letztlich nur als versöhnliche Aufhebung der Dynamik und Schlussstein des großen Ganzen, in Gestalt einer dialektischen Synthese, anerkennen. Die eigentliche Karriere der Figur des Dritten beginnt hingegen erst dort, wo solche Schließungen und Ruhigstellungen unmöglich werden.“138
Aus dem Aspekt der Entgrenzung ergibt sich ein weiteres Kennzeichen des hier beschriebenen Figurentypus: Es handelt sich um die hochgradige Artifizialität der Figuren, welche auf besondere Weise und überdeutlich zur Schau gestellt wird. Unter anderem sind in allen drei Filmen für die Genres Psychothriller und Superhelden-Film eigentlich eher untypische Metaisierungsmomente festzustellen, die wie eine Art Kommentar zum Film mitlaufen und permanent auf dessen Status als fiktionales Produkt verweisen. Metaisierung im Film kann mit Marion Gymnich als „eine Bezugnahme auf Aspekte wie die Konventionen bestimmter Gattungen bzw. Sendeformate, die technischen Möglichkeiten von Film […], den Produktionsprozess audiovisueller Medienprodukte oder auch deren Rezeptionsbedingungen“139 verstanden werden. 136 M. Foucault: Vorrede zur Überschreitung, S. 324. 137 Vgl. N. Wokart: Differenzierungen im Begriff ‚Grenze‘, S. 279. 138 A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 14. 139 Gymnich, Marion: „Meta-Film und Meta-TV: Möglichkeiten und Funktionen von Metaisierung in Filmen und Fernsehserien“, in: Janine Hauthal et al. (Hg.), Metaisie-
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Als recht plakatives Beispiel für einen Moment „impliziter Metaisierung“140 kann etwa die Tatsache angesehen werden, dass sich in der Zelle des Kannibalen Hannibal Lecter unter all seinen Unterlagen und Dokumenten auch eine Zeitschrift namens ‚Bon Appetit‘ befindet. Die Kamera fängt den Titel der Zeitschrift ein, kurz bevor Lecter auf seiner Flucht einem Polizeibeamten mitten ins Gesicht beißt, ein Vorgang, der offensichtlich ganz und gar nichts mit ‚gutem Geschmack‘ zu tun hat. Hierdurch wird die Inszenierung der Figur Lecter als Gourmet ironisch kommentiert und so auf einen spezifischen Umgang des Filmtexts mit dem Romanmaterial hingewiesen. Die Artifizialität des Joker wird durch das Spiel mit Maske unterstrichen: Hinter der Clowns-Maske aus festem Material wird in der ersten Sequenz des Films gleich einer Mise-en-abyme-Struktur eine Joker-Maske aus Schminke sichtbar. Besonders ausgestellt wird die Artifizialität auch in den Momenten, in welchen der Joker seine ‚Karte‘ – eine Joker-Spielkarte aus einem französischen Blatt – mit den eigentlich auf eine Visitenkarte referierenden Worten „Here’s my card“141 überreicht. Durch den Verweis auf ihre eigentliche Herkunft aus dem Kartenspiel macht die Figur auf ihren Status als Kulturprodukt aufmerksam. Bereits früher eingegangen worden ist auf den Dialog zwischen Batman und Joker, in welchem letzterer deutlich macht, dass die beiden Kontrahenten dazu bestimmt sind, auf ewig gegeneinander zu kämpfen, womit der Joker eine Referenz auf die Comicvorgeschichte der beiden Figuren herstellt. Mit Marion Gymnich kann hier von einer sogenannten „fictum-Metaisierung“142 gesprochen werden: „Eine Thematisierung der Produktions- und Rezeptionsbedingungen audiovisueller Medien steht bisweilen im Zusammenhang mit dem Phänomen des ‚Aus-der-Rolle-Fallens‘, bei dem die Figuren ein Wissen über die ‚Gemachtheit‘ des Films oder der Serie, in der sie auftauchen, unter Beweis stellen, über das sie als Teil der fiktiven Welt gemäß den Konventionen audiovisuellen Erzählens eigentlich nicht verfügen sollten.“143 rung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, Berlin/New York: de Gruyter 2007, S. 127-154, hier S.127. 140 M. Gymnich: Meta-Film und Meta-TV, S. 127. Unter „impliziter Metaisierung“ versteht Marion Gymnich die Strategie von Filmen und Fernsehserien, „den Zuschauern die Konventionen der Informationsvermittlung über die Ton- und Bildspur bewusst zu machen“ (S. 131). 141 The Dark Knight, 00:24:54-00:24:57. 142 M. Gymnich: Meta-Film und Meta-TV, S. 148. 143 M. Gymnich: Meta-Film und Meta-TV, S. 148.
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Im Film Cold Fish wird die Künstlichkeit Muratas, seine Kennzeichnung als fiktive Figur, am deutlichsten in den Zerstückelungsszenen im Haus am HaragiriBerg ausgestellt: Aufgrund der kontrastreichen und dadurch besonders hervorgehobenen Farbigkeit – rotes Blut auf den weißen Fließen des Badezimmers und auf der weißen Nachtkleidung der Mörder – sowie der Kameraperspektive, welche die Szene relativ statisch durch einen (Tür)Rahmen einfängt, wird auf den Charakter der Einstellung als Bild und damit auf den Produktionsprozess der Bild- beziehungsweise Filmherstellung verwiesen. Auch die leerlaufenden Referenzketten der angedeuteten Backstorywound, wie oben bereits dargestellt, tragen ihren Teil zur Betonung der Fiktivität der Figuren und des filmischen Geschehens bei. Anton Bitel weist darauf hin, dass Sion Sono zur Entwicklung des Drehbuchs zwar von einer ‚true story‘ ausgeht, nämlich dem Fall eines tatsächlich im Japan der 1990er Jahre sein Unwesen treibenden Serienmörder-Pärchens144, doch scheint gerade der recht lockere Umgang des Regisseurs mit den Fakten der Vorlage die Gemachtheit der Erzählung, die dem Rezipienten schließlich präsentiert wird, noch deutlicher auszustellen: „Freely changing dates and names introducing preoccupations (religious imagery, deviant sexuality, the legacy of parental abuse) familiar from his previous Love Exposure (2008) and his outright inventing most of the details of his story (right down to the setting in the world of exotic fish trading), Sono is less interested in the facts of history than in more ‚cosmic‘ truths about the human condition […] [Herv. i. O.].“145
Abgesehen von den Merkmalen der einzelnen Filme trägt natürlich auch das Kennzeichen, dass die entgrenzten Figuren grundsätzlich nicht mit einer motivierenden Vorgeschichte ausgestattet werden, zur Betonung ihrer Fiktionalität in hohem Maße bei, da jede identifikatorische oder empathische Wahrnehmung der Figuren damit unterbunden wird. Auch Marion Gymnich weist darauf hin, dass „Metaisierung als künstlerisch-ästhetisches Gestaltungselement […] den fiktiven Charakter des Dargestellten aufzudecken vermag und so die Zuschauer von dem Medienprodukt distanziert sowie eine Identifikation mit der erzählten Welt oder den Figuren konterkariert“146. 144 „In the mid-1990s, in Japan’s Saitama Prefecture, exotic dog breeder Sekine Gen and his common-law wife Kazama Hiroko poisoned at least four people and then sliced up the bodies. The couple would eventually hang for their crimes, while Yamazaki Nagayuki an employee who helped them dispose of the bodies, would receive a three-year prison sentence.” A. Bitel: Cold Fish, S. 54. 145 A. Bitel: Cold Fish, S. 54 f. 146 M. Gymnich: Meta-Film und Meta-TV, S. 130.
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3.3 V ERBINDUNGSLINIEN ZU VERGLEICHBAREN F IGUREN : T RICKSTER UND S OUVERÄNE Nachdem nun die wesentlichen Kennzeichen der entgrenzten Figuren sowie die Gründe für ihre Benennung dargelegt worden sind, gilt es zu klären, inwiefern dieser Figurentypus tatsächlich Einzigartigkeit für sich beanspruchen kann beziehungsweise was ihn von jeweils benachbarten Figurenkonzeptionen wie etwa den Trickster-Figuren oder dem von Marcus Stiglegger vorgeschlagenen Typus des „dunkle[n] Souverän[s]“147 unterscheidet. Zunächst soll der Figurentypus des Tricksters näher betrachtet werden, der ja nach Korschorke ebenfalls als eine Figuration des Dritten gelten kann.148 Der Begriff ‚Trickster‘ stammt ursprünglich aus Nordamerika, wo er vor allem als Bezeichnung für „indianische Götter und Kulturheroen“149 verwendet wurde. Es handelt sich zuallererst um eine im Mythos beheimatete Figur.150 Wie Edith Jachimowicz betont, ist die Herkunft des Tricksters ähnlich wie bei den entgrenzten Figuren meist unbekannt.151 Ein wesentliches Kennzeichen des Trickster-Typus und eine der wichtigsten Ähnlichkeiten mit der hier konzipierten entgrenzten Figur ist seine Mehrdeutigkeit: „Der Terminus […] bezeichnet die Figur des listigen Betrügers, der allerdings auch Funktionen eines essenziellen Wohltäters ausüben kann.“152
147 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän, S. 271. 148 Vgl. A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 10. 149 Schüttpelz, Erhard: „Der Trickster“, in: Eßlinger et al., Die Figur des Dritten (2010), S. 208-224, hier S. 212. 150 Vgl. dazu unter anderem Geider, Thomas: „Trickster“, in: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 13, Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 913-924, hier S. 914. 151 Vgl. Jachimowicz, Edith: „Schaut her, ich bin’s, der Trickster! Tonio, Loge, Papageno & Co aus kulturanthropologischer Sicht“, in: Peter Csobádi et al. (Hg.), Die lustige Person auf der Bühne. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions 1993. Band II, Anif/Salzburg: Müller-Speiser 1994, S. 513-519, S. 515. 152 T. Geider: Trickster, S. 913. Vgl. dazu auch Schüürmann, Dania: „Betwixt and Between. Dämonen-Trickster im brasilianischen Theater“, in: Friedemann Kreuder et al. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld: transcript 2012, S. 663-676.
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Daraus ergibt sich seine Eigenschaft, als Zwischen- oder Schwellenfigur, als ein „Doppelagent zwischen zwei Welten“153 aufzutreten. So lässt sich der Trickster nie einer Seite einer vorhandenen Dualität − „bald wohlgesinnt, bald bösartig, je nachdem“154 − eindeutig zuordnen, vielmehr ist es sogar seine Bestimmung zwischen den zwei Seiten einer Unterscheidung vermittelnd tätig zu werden, wie Claude Lévi-Strauss in seiner Strukturalen Anthropologie betont hat: „Wie AshBoy und Aschenbrödel ist auch der trickster ein Vermittler, und diese Funktion erklärt, daß er etwas von der Dualität zurückbehält, die zu überwinden seine Funktion ist. Daher sein zweiseitiger und doppeldeutiger Charakter.“155 Den Trickster-Figuren und ihren Handlungen ist damit ein bis zu einem bestimmten Grad anarchischer oder zumindest subversiver Charakter zu bescheinigen, sie repräsentieren immer auch die Umkehrung, Störung oder Aufhebung der vorhandenen Ordnung, wie Erhard Schüttpelz betont: „[…] Menschen leben abwechselnd (und unaufhörlich) in beiden Welten, pendeln zwischen dem, was sie an Struktur befolgen und gestalten müssen, und dem Raum einer ständig hervorbrechenden Antistruktur. Die Tricksterfiguren erweisen sich in einer solchen Lesart als eine unwiderstehliche Kondensation der Übergängigkeit – der ‚Liminalität‘.“156
Schüttpelz verweist hier auf das Konzept der Liminalität von Victor Turner, das dieser ausgehend von Arnold van Genneps ethnologischem Modell der sogenannten Übergangsriten entwickelt hat, womit rituelle Handlungen bezeichnet werden, mit welchen Gesellschaften den Übertritt von einzelnen Mitgliedern in eine neue Lebensphase oder einen neuen sozialen Status regeln (zum Beispiel Hochzeitsrituale).157 Turner unterscheidet dabei mit van Gennep zwischen drei Phasen eines Übergangsritus: „separation, margin (or limen), and aggregation [Herv. i. O.]“158. Da sich Turner vor allem für Übergangsriten mit prägnanten liminalen Phasen interessiert, rücken bei ihm die Initiationsriten in den Fokus. 153 A. Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 10. 154 Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 226-254, hier S. 250. 155 C. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, S. 249. 156 E. Schüttpelz: Der Trickster, S. 221. 157 Vgl. Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a. M./New York: Campus 2005. 158 Turner, Victor W.: „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage“, in: June Helm (Hg.), Symposion of New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, Seattle: University of Washington Press 1964, S. 4-20, S. 5.
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Der Status von Personen ist innerhalb der liminalen Phasen ebenso von einem ‚nicht mehr‘ wie von einem ‚noch nicht‘ gekennzeichnet: „[…] transitional beings are particularly polluting, since they are neither one thing nor another, or may even be both, neither here nor there and may even be nowhere (in terms of any recognized cultural topography), and are at the very least ‚betwixt and between‘ all the recognized fixed points in space-time of structural classification.“159
Entsprechend beschreibt Turner die Phase der Liminalität als „interstructional situation“160 in einem auf der festgelegten Struktur von Positionen beruhenden Gesellschaftsmodell. Helena Bassil-Morozow weist in ihrer stark rezeptionspsychologisch orientieren Analyse, die sich vor allem mit den Trickster-Figuren im zeitgenössischen Unterhaltungsfilm befasst, nun gerade die liminalen Phasen des Übergangs zwischen zwei Zuständen als das prototypische Wirkungsfeld des Tricksters aus: „Between the points of ‚detachment‘ and ‚reattachment‘ there lies a grey middle area of uncertainty, turbulence and chanciness. This is the playground of the trickster.“161 Von Joseph Campbells Strukturmodell der Mythen, welches er in seinem Werk Der Heros in tausend Gestalten vorgestellt hat, leitet Michaela Krützen ihr Modell der Heldenreise ab, mit dem sie die Erzählstruktur in The Silence of the Lambs untersucht und als Reise von einer bekannten und sicheren in eine fremde und bedrohliche Welt beschreibt: „Clarice Starling verlässt die ihr vertraute FBIAkademie und betritt die ihr unbekannte Welt der Serienmörder.“162 Interessant ist hierbei, dass schon bei Campbell „[d]er Weg, den die mythische Abenteuerfahrt des Helden normalerweise beschreibt, […] in vergrößertem Maßstab, der Formel, wie die Abfolge der rites de passage sie vorstellt [Herv. i. O.]“163, entspricht. Der Dreischritt Trennung, Initiation und Rückkehr könne daher als „der einheitliche Kern des Monomythos“164 begriffen werden: „Der Heros verläßt die Welt des gemeinen Tages und sucht einen Bereich übernatürlicher Wunder auf, besteht dort fabelartige Mächte und erringt einen entscheidenden Sieg, dann 159 V. W. Turner: Betwixt and Between, S. 7. 160 V. W. Turner: Betwixt and Between, S. 4. 161 Bassil-Morozow, Helena: The Trickster in Contemporary Film, New York: Routledge 2012, S. 17. 162 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 98. 163 Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 [1949], S. 36. 164 J. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, S. 36.
94 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN kehrt er mit der Kraft, seine Mitmenschen mit Segnungen zu versehen, von seiner geheimniserfüllten Fahrt zurück [Herv. i. O.].“165
Die beiden genannten Modelle der Heldenreise und der Liminalität, wie schon bei Campbell vorgeschlagen, verschränkend, lässt sich Starlings Reise in diese unbekannte Welt der Serienmörder also auch als liminale Phase im Sinne Turners begreifen, wobei am Ende der Reise auch ein Statuszuwachs166 zu verzeichnen ist: Schließlich lernt der Rezipient zu Beginn der Erzählung Starling noch als ehrgeizige Schülerin kennen, am Ende dann „erhält [sie] den Status einer Agentin“167, womit eindeutig ein Aufstieg in der sozialen Ordnung und der Eintritt in eine neue Lebensphase verbunden ist. In der Phase des Übergangs allerdings – und hier können Parallelen zur Trickster-Figur gezogen werden – begegnet Starling dem Kannibalen Lecter, der – wie Krützen betont – nicht nur als ihr „Berater“168 in der unbekannten Welt fungiert – und in diesem Sinne als Helferfigur aufzufassen ist –, sondern sie auch dazu verführt, eine weitere Reise anzutreten: „Er konfrontiert Clarice mit ihren Erinnerungen, was direkte Folgen zeigt. Als Clarice das Gefängnis verlässt, bricht sie weinend zusammen. […] Lecter zwingt Clarice offenbar zu einer ‚Reise in das eigene Ich‘, deren Höhepunkt die Erzählung von Schreien der Lämmer ist.“169
165 J. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, S. 35. 166 Erfolgreich absolvierte Übergangsriten, insbesondere selbstverständlich Initiationsriten, sind häufig mit dem Erreichen eines neuen gesellschaftlichen Status verbunden, vgl. dazu V.W. Turner: Betwixt and Between, S. 5. Schon bei Campbell aber kehrt der Held von seiner Reise in das Unbekannte am Ende mit einer Art Gewinn zurück: „Wenn er am Nadir des mythischen Zirkels angekommen ist, hat er ein höchstes Gottesgericht zu bestehen und erhält seine Belohnung. Der Triumph kann sich darstellen als sexuelle Vereinigung mit der göttlichen Weltmutter (heilige Hochzeit), seine Anerkennung durch den Schöpfervater (Versöhnung mit dem Vater), Vergöttlichung des Helden selbst (Apotheose) oder aber, wenn die Mächte ihm feindlich geblieben sind, den Raub des Segens, den zu holen er gekommen war (Brautraub, Feuerraub); seinem Wesen nach ist er eine Ausweitung des Bewußtseins und damit des Seins (Erleuchtung, Verwandlung, Freiheit) [Herv. i. O.].“ J. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, S. 237 f. 167 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 99. 168 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 183 f. 169 M. Krützen: Dramaturgie des Films, S. 186.
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Wie eine Trickster-Figur agiert Lecter also nicht nur in der für Starling unbekannten Welt, sondern ist auch Auslöser dafür, dass sie in ein weiteres Übergangsstadium eintritt: „The trickster pushes the protagonist into the ‚liminal‘ phase of the personal or social transformative ritual.“170 Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass Lecter nicht nur durch das Auftreten innerhalb von Starlings liminaler Phase, sondern auch durch die ihn in seinen Funktionen kennzeichnende Ambivalenz, Ähnlichkeiten zu den Trickster-Figuren aufweist.171 Zwar hilft er Starling den Serienmörder Buffalo Bill zu finden und dingfest zu machen, gleichzeitig zwingt er sie aber zu dieser Selbsterfahrung, von der bis zum Ende des Films nicht abschließend klar wird, ob sie zu ihrem Nutzen oder Schaden ist. Mit der Offenbarung ihres Traumas scheint Starling vielmehr die – allerdings nicht eindeutig definierbaren – Bedürfnisse Lecters zu befriedigen. Auf das Freudsche Unheimliche, das mit Lecters Rolle als Psychiater verknüpft ist, hat Judith Halberstam hingewiesen.172 Helena Bassil-Morozow macht darüber hinaus auf die Verwandtschaft von Trickster-Figuren und Psychotherapeuten aufmerksam: „Cinematic tricksters tend to play the role of inadvertent and dangerous ‚psychotherapists‘. They heal by irritating the wound and driving the patient to the point of crisis (or catharsis).“173 Im Übrigen scheinen die Protagonisten der gewählten Filmbeispiele unter anderem auch deshalb für die Angriffe der entgrenzten Figuren so empfänglich zu sein, weil es ihnen allesamt an einer schützenden und intakten Herkunftsfamilie mangelt. So sind sowohl Starling als auch Bruce Wayne174 Waisenkinder, Shamotos erste Frau ist gestorben, die neue Familie weist – wie bereits dargestellt wurde – erhebliche strukturelle Störungen auf. Und inwiefern die durch eine Störung in den Herkunftsfamilien bedingten abweichenden Lebensläufe der Protagonisten zu deren erhöhter Verführbarkeit durch den Teufel – oder, so ließe sich hier parallelisieren, durch Trickster- be170 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 20. 171 Interessant wäre an dieser Stelle auch zu untersuchen, inwiefern Jack Crawford als Trickster-Figur beschrieben werden kann. Immerhin ist er ja derjenige, der Starling zu ihrer ersten Reise in die Welt der Serienmörder anstiftet. 172 Vgl. Halberstam, Judith: „Skinflick: Posthuman Gender in Jonathans Demme’s The Silence of the Lambs”, in: Camera Obscura 27 (1991), S. 37-52, hier S. 46 f. „Dr. Hannibal Lecter is considered an unsusual threat to society not simply because he murders people and consumes them, but because as a psychiatrist he has access to minds.“ J. Halberstam: Skinflick, S. 39. 173 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 56. 174 Vgl. zudem zum liminalen Status des Superhelden im Allgemeinen und Batman im Besonderen: V. M. Gaine: Genre and Super-Heroism.
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ziehungsweise entgrenzte Figuren – führen kann, darauf hat Volker Hoffmann in seinen umfassenden Untersuchungen hingewiesen.175 Ähnlich wie die entgrenzten Figuren können auch die Trickster als sehr brutal und grausam gekennzeichnet sein, wobei jedoch ein breiteres Spektrum an ‚böser‘ Destruktion von kleinen Gaunereien bis zur totalen Vernichtung abgedeckt wird: „Als Einzelgänger ist der Trickster ein nur auf seinen eigenen Vorteil bedachter Wanderer und damit ein prototypischer Egoist und Soziopath. Der Trickster ist ein schlauer Betrüger, Verführer und Redekünstler, der seine Gegenspieler (z. B. Autoritätspersonen, Eigentümer wertvoller Dinge, Frauen jeden Alters) mit durchtriebenen Tricks überlistet und als gewissenloser Räuber, Mörder, Schänder und Zerstörer existentiell schädigt.“176
Gleichzeitig – und hier kommt wieder die bereits angesprochene Ambivalenz der Figuren ins Spiel − können Trickster ähnlich den entgrenzten Figuren als Helferfiguren konzipiert sein. Als „altruistische[ ] Heilsbringer“177 oder „Beschützer der Schwachen“178 decken aber auch hier die Trickster-Figuren eine breitere Rolleninterpretation des Helfers ab als die entgrenzten Figuren, die niemals handeln, ohne dabei ihren eigenen Vorteil im Blick zu behalten. Als wie vielfältig und auf unterschiedlichen Ebenen die Helferfunktion der Trickster-Figuren beschrieben werden kann, wird unter anderem deutlich, wenn man sich der Interpretation der Beziehung zwischen Figur und Rezipient von Bassil-Morozow zuwendet. Hier hilft der Trickster den Rezipienten dabei, bestehende gesellschaftliche Strukturen besser zu verstehen: „I regard the trickster primarily as a psychological principle operating at the personal and collective levels. As such, trickster narratives – mythological, literary or cinematic – help societies understand the concepts of order and change.“179 In seiner Funktion als subversives Element trage der Trickster zudem dazu bei, bestehende gesellschaftliche Restriktionen nicht nur zu reflektieren, sondern diese – zumindest auf fiktionaler Ebene – auch kompensatorisch zu überwinden: „As such, the trickster principle is an intrinsically rebellious and artistic power in the human psyche 175 Vgl. unter anderem Hoffmann, Volker: „Strukturwandel in den ‚Teufelspaktgeschichten des 19. Jahrhunderts“, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 117-127, hier S. 125. 176 T. Geider: Trickster, S. 913. 177 T. Geider: Trickster, S. 914. 178 T. Geider: Trickster, S. 914. 179 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 5.
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which saves us from mental entropy and ensures our progress as individuals. The trickster principle keeps consciousness alive […].“180 So ähnlich die Konzeptionen der Trickster-Figur und der entgrenzten Figur im bisherigen Vergleich auch erscheinen, so sehr unterscheiden sie sich in Bezug auf das folgende Merkmal: Im Gegensatz zu den entgrenzten Figuren, die mit einem ausgeprägten Gestus der Selbstermächtigung ausgestattet sind und so gut wie nie als Verlierer inszeniert werden, kommt es durchaus vor, dass zumindest bestimmte Trickster-Typen auf verlorenem Posten gezeigt werden, „dass ihnen übel mitgespielt wird, dass sie den aus ihnen hervorbrechenden Gelüsten und den Streichen anderer Mitspieler und Gegenspieler hilflos ausgeliefert bleiben oder dass sie durch ihre Unbesonnenheit ihren eigenen Anschlägen und deren unbeabsichtigten Konsequenzen zum Opfer fallen“181.
Auch verfügt der Trickster nicht zuletzt aufgrund seiner ‚Tölpelhaftigkeit‘182 über „ein erhebliches komisches Potential“183, welches den entgrenzten Figuren in der Regel aufgrund ihrer besonders hervorgehobenen Grausamkeit und Brutalität nicht eigen ist. So stellt beispielsweise auch Bassil-Morozow in Bezug auf den – allerdings von Jack Nicholson in Batman (GB/USA 1989, Rg. Tim Burton) verkörperten – Joker fest: „The Joker, for instance, wears the traditional attire of a clown – motley colours, painted face and a mad smile – but he is more threatening than funny.“184 Diese Aussage gilt jedoch genauso – wenn nicht sogar noch eindeutiger – für den von Heath Ledger verkörperten Joker in The Dark Knight. Obwohl er sich clownesk schminkt und sein Wahlspruch ‚Why so serious?‘ nicht nur auf das Lachen seiner Fratze, sondern auch auf ein scheinbar enthaltenes komisches Potential verweist, wohnt den Taten des Joker niemals etwas Schelmenhaftes185 180 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 8. 181 E. Schüttpelz: Der Trickster, S. 212. 182 T. Geider: Trickster, S. 914. 183 T. Geider: Trickster, S. 914. 184 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 19. 185 Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle, dass die Bezeichnung ‚Schelm‘ schon in den Anfängen der Trickster-Forschung als nicht ausreichend zur Charakterisierung der Figur erkannt wurde. So ist – wie Thomas Geider hervorhebt – vor der amerikanischen Ausgabe von Paul Radins Standardwerk The Trickster (London: Routledge and Kegan Paul 1956) eine deutsche Version erschienen, die den Titel Der göttliche Schelm (Zürich: Rhein 1954) trägt. „Da dieser Begriff als semantisch
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inne. Frank W. Chandler unterscheidet zur Definition der Schelmenliteratur zwischen „Spitzenbubenstücken (roguery) [Herv. i. O.]“186 und „Schurkenstreichen (villainy) [Herv. i. O.]“187 und schlussfolgert weiter: „Wenn das typische Verbrechen des schurkischen Bösewichts der Mord ist, so ist das typische Verbrechen des Schelms der Diebstahl. Den Unterschied zwischen Mein und Dein auszulöschen ist das Hauptanliegen des Schelms. […] Aber sobald der Spitzbube andern Menschen gegenüber gewalttätig wird, hört er in der Regel auf, ein Schelm zu sein, und wird zum Schurken.“188
Als der Joker den Mafia-Bossen in einer Szene einen „magic trick“ anbietet – „I’m gonna make this pencil disappear“189 – so scheint hier zwar eindeutig das Schelmenhafte auf, doch als nur ein paar Sekunden darauf der Bleistift verunzureichend angesehen wurde, übernahm die deutschsprachige Ethnologie bald den englischen Begriff Trickster.“ T. Geider: Trickster, S. 915. Im von Paul Radin erfassten und interpretierten Schelmen-Zyklus der Winnebago lassen sich zwar durchaus Momente feststellen, in welchen der Schelm/Trickster Wakdjũnkaga anderen Figuren Streiche spielt oder Fallen stellt (vgl. etwa Episode 45, in welcher Wakdjũnkaga dem Nerz Fischöl und Artischockenwurzeln zu essen gibt, woraufhin dieser Durchfall bekommt und die Häuptlingstochter beschmutzt). Gleichzeitig wird aber in diesen Zusammenhängen häufig auch auf die Eigenschaft Wakdjũnkagas als Narr und die Tatsache, dass viele seiner Handlungen im Unglück oder in der Selbstverletzung enden, verwiesen (vgl. etwa Episode 14, in welcher Wakdjũnkaga seine eigenen Eingeweide isst). Schließlich macht Paul Radin bereits in Der göttliche Schelm darauf aufmerksam, dass die Herkunft des Wortes ‚Wakdjũnkaga‘ als ungeklärt angesehen werden muss und eine direkte Verbindung zum Aspekt des Schelmenhaften etymologisch nicht nachgewiesen werden kann. Wenn in den vorliegenden Überlegungen dennoch mit dem Begriff des Schelmenhaften operiert werden soll, dann deshalb, um auf einen wesentlichen Unterschied zwischen den entgrenzten Figuren und dem Trickster, der „seinen Lüsten und Leidenschaften ausgeliefert“ ist, deutlich hinzuweisen. Radin, Paul: „Vorwort“, in: Paul Radin/Karl Kerényi/C.G. Jung, Der göttliche Schelm, Zürich: Rhein 1954, S. 7-9, hier S. 7. 186 Chandler, Frank W.: „Definition einer Gattung“, in: Helmut Heidenreich (Hg.), Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 1-7, hier S. 2. Der Text ist im englischen Original The Type Defined zuerst 1907 erschienen. 187 F. W. Chandler: Definition einer Gattung, S. 2. 188 F. W. Chandler: Definition einer Gattung, S. 5. 189 The Dark Knight, 00:22:37-00:22:41.
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schwindet, indem der Joker diesen durch das Auge in den Kopf eines Mannes rammt, kippt die schelmische Erscheinung des Joker abrupt in existenzielle Gefahr und Bedrohung. Auch in Bezug auf die Szene der Leichenzerteilung in Cold Fish lässt sich feststellen, dass hier durchaus komische beziehungsweise schelmische Momente integriert werden, etwa wenn Murata die blutverschmierte goldene Uhr seines Opfers in Shamotos Hand legt, um ihm diese zum Geschenk zu machen. Das Tänzeln Muratas auf dem vom Blut rot gefärbten Badezimmerboden und das Summen eines Liedes, während er das Fleisch seines Opfers in kleine Stücke schneidet, mag gleichfalls auf eine gewisse Art belustigend wirken. Dennoch lässt die Rahmung der Situation, der brutale Mord und das abgebrühte Umgehen mit der Leiche, keine direkte Referenz auf das Schelmenhafte zu. Trotz ihrer Eigenschaften, den Protagonisten Fallen zu stellen, Streiche zu spielen oder ihnen Hinweise in Rätselform zu geben, bleibt hier vor allem die Wahrnehmung der Grausamkeit der entgrenzten Figuren bedeutsam, die dem Moment des Schelmenhaften entgegenläuft. Der Tatsache, dass tatsächlich auch einige Trickster-Figuren solche Momente des Unberechenbaren in sich tragen können, während andere Trickster als weniger gefährlich erscheinen, versucht Bassil-Morozow Rechnung zu tragen, in dem sie vorschlägt, die filmischen Trickster-Figuren mittels der Einordnung auf einer Skala zwischen den beiden extremen Ausprägungen zu verorten: „Cinematic tricksters occupy different positions on what I call the trickster-shadow spectrum, or the scale which ‚measures‘ the extent of malice in the character’s playfulness (and the amount of playfulness in the character’s cruel and thoughtless actions).“190 Ob eine Figur nun eher der ‚trickster‘- oder der ‚shadow‘-Seite dieses Spektrums zugeordnet wird, hängt laut Bassil-Morozow von der wahrgenommenen Intention des Tricksters ab, wobei die Frage nach der Vorsätzlichkeit beispielsweise in Bezug auf die Verletzung einer anderen Person eine große Rolle spielt.191 Es handelt sich damit auch um eine hochgradig rezipientenabhängige Zuordnung. Entsprechend vermerkt Bassil-Morozow: „There is a number of transitory moments where the frontier separating the mischievousness and hostility becomes blurred.“192 In den Überlegungen Bassil-Morozows fungiert der Trickster in fiktionalen Geschichten als Verkörperung der sich gegenseitig widerstreitenden Bedürfnisse des Rezipienten, welcher in der zivilisierten Welt
190 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 18. 191 Vgl. H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 18. 192 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 18.
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seine natürlichen Instinkte im Zaum halten muss.193 So sieht sie auch die einordnende Wahrnehmung einer Figur auf dem ‚trickster-shadow-spectrum‘ als eine Konsequenz dieser Bedürfnisspaltung an: „In other words, the trickster becomes the shadow only when people stop laughing at themselves and start using their rational, civilized and humanistic lifestyle as a protective barrier to ward off the evil spirits of unconscious.“194 Darauf aufbauend verortet Bassil-Morozow beispielsweise die von Jack Nicholson verkörperte Joker-Figur eher auf der ‚shadow‘-Seite des von ihr etablierten Spektrums. Die dargestellten Zusammenhänge legen einerseits nahe, aufgrund der auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den Trickster-Figuren und den entgrenzten Figuren eine Art von Verwandtschaft oder, mit Wittgenstein gesprochen, „Familienähnlichkeiten“195 zwischen den beiden Gruppen anzunehmen. Andererseits dürfen die großen Unterschiede, die sich vor allem im Aspekt der radikalen Bösartigkeit der entgrenzten Figuren, im weitgehenden Fehlen des komischen Potentials und im Gestus der Selbstermächtigung manifestieren, nicht übersehen werden. Daher wird unter Rückgriff auf Bassil-Morozows Überlegungen vorgeschlagen, die entgrenzten Figuren als solche Typen oder Strukturen anzusehen, die sich auf dem ‚trickster-shadow-spectrum‘ am äußersten Extrem auf der Seite des ‚shadows‘ befinden. Zwar sind noch Elemente des Schelmischen und Trickreichen zumindest andeutungsweise in der Konzeption der Figuren vorhanden, aufgrund ihrer hervorgehobenen Grausamkeit und Brutalität können sie jedoch nur noch an den Endpunkten der Skala zwischen ‚trickster‘ und ‚shadow‘ verortet werden. So können die entgrenzten Figuren als eine besondere Ausprägung der Trickster-Figur angesehen werden. Da mit den Taten der entgrenzten Figuren immer existenzielle Bedrohungen verbunden sind und diese nicht mehr als mehr oder weniger ‚harmlose‘ Streiche interpretiert werden können, stellt sich die forschungsleitende Frage nach der Faszinationskraft aber bei den entgrenzten Figuren deutlich dringlicher als bei den Trickster-Figuren. Eine andere – der entgrenzten Figur auf den ersten Blick frappierend ähnlich wirkende „Verkörperung[ ] des Bösen“196 – ist der ‚dunkle Souverän‘, ein Typus, auf den Marcus Stiglegger aufmerksam gemacht hat. Dabei ist für Stiglegger das 193 Vgl. H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 16. 194 H. Bassil-Morozow: The Trickster in Contemporary Film, S. 19. 195 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Hg. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 [1953], S. 57. 196 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän, S. 271.
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entscheidende Merkmal dieser Figurenkonzeption, dass sich die ‚böse‘ Figur über die gesellschaftlichen und moralischen Spielregeln ihrer Umgebung erhebt beziehungsweise diese für sich in gewisser Weise umformuliert. Gemeinsam sei den dunklen Souveränen nämlich „eine funkelnde Verführungskraft, eine sinnliche Herausforderung an die positiven Protagonisten, die nicht nur aus der äußerlichen Attraktivität erklärbar wird, […] sondern aus der Selbstermächtigung des Souveräns, der nach eigenen, selbsterklärten Gesetzen lebt“197. Was Stiglegger dabei besonders betont und was für die hier vorgestellten Überlegungen entscheidend ist, ist die Tatsache, dass von den ‚bösen‘ Figuren eine spezielle Faszination, Stiglegger bezeichnet sie ja sogar als ‚Verführungskraft‘, ausgeht. Auch auf das moralische Dilemma, welches sich für den Rezipienten aus dieser Faszination ergeben kann, weist Stiglegger hin, indem er von einem „Prüfstein der Integrität von Protagonist und Zuschauer gleichermaßen“198 spricht. Seine Darstellung konzentriert sich dabei vor allem auf die Beschreibung und Analyse zweier Prototypen des dunklen Souveräns, darunter auch Hannibal Lecter aus The Silence of the Lambs. Stiglegger kann unter anderem zeigen, wie sich das Moment der Selbstermächtigung in der Darstellung Hannibal Lecters generiert, etwa als er es bei der ersten Begegnung mit Starling schafft, „vom vermeintlich Verhörten immer wieder in die Position des Fragenden zu gleiten“199 und so „die unerfahrene FBI-Anwärterin Clarice Starling sogar aus einer panzerglassicheren Zelle heraus“200 zu lenken. Letztendlich gleicht die Figuration des dunklen Souveräns den hier vorgestellten entgrenzten Figuren aber auch nur in diesen beiden Aspekten: Es handelt sich um ‚böse‘ Figuren, deren Handeln von einem besonderen Gestus der Selbstermächtigung geprägt ist. So spielt letztendlich der Status als Zwischen- und Helferfigur sowie die fehlende motivierende Vorgeschichte in dieser Konzeption keine Rolle. Blickt man auf das zweite Beispiel Stigleggers für den Typus des dunklen Souveräns, so läuft die Konzeption diesen Aspekten sogar entgegen. Dies zeigt Stigleggers ausführliche Analyse der Figur des Colonel Kurtz (Marlon Brando) aus dem Film Apocalypse Now (USA 1979, Rg. Francis Ford Coppola), welche sich im Gegensatz zu den entgrenzten Figuren dadurch auszeichnet, dass sie eben eine Vorgeschichte hat, aus welcher sich zumindest in Teilen die Motivation für ihr Handeln und die besondere Form des dargestellten Aussteigertums ableiten lassen.
197 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän. S. 271. 198 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän. S. 271. 199 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän. S. 274. 200 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän. S. 274.
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Unter dem Eindruck dieser Überlegungen lassen sich die entgrenzten Figuren gegebenenfalls als den dunklen Souveränen in Bezug auf die Hierarchie der Kategorisierung untergeordnete und stärker spezifizierte Konzeptionen begreifen. Dies zeigt sich auch an der Ausrichtung der jeweiligen Fragestellung: Während es Stiglegger vor allem darum geht, zunächst einmal auf diese besondere Konzeption des Figurentypus hinzuweisen und ihn für die Analyse zugänglich zu machen, stellen die vorliegenden Überlegungen die Frage nach den Inszenierungsprinzipien und Wirkungsaspekten der entgrenzten Figuren. Stiglegger konstatiert zwar „eine Einladung zur Identifikation mit dem Immoralischen“201, welche vom dunklen Souverän auf den Rezipienten ausgeübt würde, er legt es aber nicht darauf an, diese besondere Rezeptionswirkung näher zu erläutern oder ihr Zustandekommen theoretisch zu plausibilisieren, was jedoch ein entscheidendes Ziel der vorliegenden Überlegungen ist.
3.4 B ESONDERER M ODUS DER W AHRNEHMUNG DIESES F IGURENTYPUS Nachdem auf den letzten Seiten gezeigt worden ist, um welch speziellen und durchaus einzigartigen Typus es sich bei den entgrenzten Figuren handelt, gilt es nun darzustellen, worin genau das wissenschaftliche Interesse an diesem Figurentypus besteht. Wie bereits einleitend erwähnt, geht es hierbei um die Frage, inwiefern es möglich ist, dass eine paradoxale Wahrnehmung der entgrenzten Figuren als zugleich anziehend und abstoßend, als bewunderns- und verachtenswert zustande kommt. Die Fragen danach, wie fiktive Figuren von Rezipienten wahrgenommen werden, inwiefern die Wahrnehmung mit bestimmten affektiven Reaktionen gekoppelt ist und wie emotionale sowie kognitive Nähe oder Distanz zwischen Rezipienten und fiktiven Figuren entsteht, sind seit jeher zentraler Bestandteil der Rezeptions- sowie der Medienwirkungsforschung. Dabei wird zumeist die Ansicht vertreten, dass es in der Regel der auf der ‚guten‘ Seite platzierte Protagonist ist, an welchem der Rezipient Anteil nimmt und für welchen er auf einen guten Ausgang hofft: „Das Gegeneinander von Gut und Böse im Drama ist die Voraussetzung, dass überhaupt Handlung entsteht und für ein Publikum in einer es ergreifenden Weise darstellbar wird. […] Dem Protagonisten wenden sich die Sympathien des Zuschauers zu, alle Varianten
201 M. Stiglegger: Der dunkle Souverän. S. 274.
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der Empathie lassen sich hier finden, der Gegenspieler ist der, der als Bedrohung erscheint, der bekämpft, ausgeschaltet werden muss.“202
In den letzten Jahren häufen sich aber insbesondere auch in der empirischen Forschung Beobachtungen, die von einer Wertschätzung des Rezipienten gegenüber den moralisch und/oder strukturell als ‚böse‘ gekennzeichneten Figuren berichten. Eine zunehmende Zahl von Studien versucht, diese – zumindest auf den ersten Blick – abnorme Wahrnehmungsweise der Rezipienten zu erklären. Bereits weiter oben ist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf die Forschungen zur Hauptfigur der TV-Serie Dexter eingegangen worden. Schlütz, Stock, Walkenbach und Zehrfeld, die eine Inhaltsanalyse von Blog- und Foreneinträgen zur Figur durchgeführt haben, arbeiten hier heraus, dass die Zuschauer nicht nur eine parasoziale Beziehung mit der Hauptfigur eingehen, sondern sich teilweise sogar mit ihr identifizieren beziehungsweise mit der Figur mitfühlen, und das, obwohl die Handlungen von Dexter Morgan moralisch von der Mehrheit der Zuschauer eher kritisch bewertet werden.203 Für diese scheinbare paradoxale Wahrnehmung der Figur machen die Autoren der Studie „spezifische Rechtfertigungsstrategien“204 der Rezipienten verantwortlich: Die Zuschauer würden Dexters Abnormität durch ein erlittenes Kindheitstrauma entschuldigen, die Opfer abwerten oder die Taten verharmlosen beziehungsweise sie als in bestimmten Zusammenhängen gerechtfertigt oder lohnend charakterisieren.205 Auf eine paradoxale Struktur in der Wahrnehmung konventionell als ‚böse‘ gekennzeichneter Figuren machen Elly A. Konijn und Johan F. Horn in ihrer Studie Some Like It Bad aufmerksam. Bei einer Untersuchung von im fiktionalen Kontext als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ markierter Charaktere, die zudem mittels der Faktoren ‚schön‘ oder ‚hässlich‘ und ‚realistisch‘ oder ‚unrealistisch‘ differenziert wurden, fanden die Autoren unter anderem heraus, dass Momente der Distanzierung oder Involviertheit gegenüber einer fiktiven Figur keine zuverlässige Vorhersage für die Wertschätzung dieser Figur liefern.206 Entsprechend konnten auch als ‚böse‘ interpretierte fiktive Figuren, denen Rezipienten aufgrund der moralischen Evaluation eher distanziert gegenübergestanden haben, wertgeschätzt werden: „For bad FCs [fictional characters; SE], the observers reported 202 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 235. 203 Vgl. D. Schlütz et al.: Mein Freund, der Serienkiller, S. 75 f. 204 D. Schlütz et al.: Mein Freund, der Serienkiller, S. 76. 205 Vgl. D. Schlütz et al.: Mein Freund, der Serienkiller, S. 76. 206 Vgl. Konijn, Elly A./Hoorn, Johan F.: „Some Like it Bad: Testing a Model for Perceiving and Experiencing Fictional Characters“, in: Media Psychology 7 (2005), S. 107-144.
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more distance than involvement, whereas appreciation did not strongly suffer.“207 Darüber hinaus gehen die Autoren davon aus, dass Momente der Distanzierung und Involviertheit gegenüber einem fiktiven Charakter simultan auftreten, insbesondere dann, wenn dieser als faszinierend erlebt wird: „We believe that characters deemed fascinating combine good and bad features, which for the observer, may evoke desirable inner conflicts, such as agreeable sensations of suspense. Accordingly, observers do not feel either at a distance or immersed, but both experiences run in parallel. In general, we suppose that most FCs stir mixed emotions and ambivalence.“208
Die Autoren verknüpfen ihre Befunde mit dem von Joseph R. Priester und Richard E. Petty für Realsituationen entwickelten Modell der „subjective ambivalence“209, welches einen Konflikt zwischen simultan auftretenden positiven und negativen Einstellungen gegenüber einem Objekt oder einer Person beschreibt: „It is interesting that feelings of ambivalence or imbalance, which are assumed to cause discomfort in real life […], can be used in fiction to enhance pleasure.“210 Diese beiden hier zitierten Untersuchungen sollen zunächst als einschlägige Beispiele für die Art und Weise dienen, wie versucht wird, der Wirkung fiktiver Charaktere im Allgemeinen und ‚böser‘ Figuren im Besonderen auf die Spur zu kommen. Eine ausführliche Forschungsdiskussion zu etablierten Beteiligungstheorien sowie zur Strukturierung von Nähe-Distanz-Relationen zwischen Rezipient und Figur wird im fünften Kapitel geführt. An dieser Stelle sollen vom eben Dargestellten zunächst die folgenden Punkte festgehalten werden: (1) Es lässt sich in der Forschung zur Rezeption von fiktiven Figuren eine klare Tendenz dazu erkennen, anzunehmen, dass sich im Normalfall die Sympathien des Rezipienten auf der Seite der moralisch und/oder strukturell als ‚gut‘ gekennzeichneten Figur befinden. (2) Sollten sich die Sympathien (im oftmals so interpretierten Ausnahmefall) dennoch ganz oder teilweise auf der Seite der moralisch und/oder strukturell als ‚böse‘ gekennzeichneten Figur befinden, dann wird tendenziell davon ausgegangen, dass es eine in der 207 E. A. Konijn/J. F. Hoorn: Some Like it Bad, S. 133. 208 E. A. Konijn/J. F. Hoorn: Some Like it Bad, S. 110. 209 Priester, Joseph R./Petty, Richard E.: „Extending the Bases of Subjective Attitudinal Ambivalence: Interpersonal and Intrapersonal Antecedents of Evaluative Tension”, in: Journal of Personality and Social Psychology 80 (2001), S. 19-34, hier S. 21. 210 E. A. Konijn/J. F. Hoorn: Some like it Bad, S. 132.
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Präsentationsform der Figur und/oder der Persönlichkeit des Rezipienten liegende Begründung für diese Umkehr gibt. Diese sorge dafür, dass die moralisch und/oder strukturell als ‚böse‘ gekennzeichneten Taten relativiert oder ins Gegenteil umgedeutet werden können (vgl. Prinzip der moralischen Rechtfertigungsstrategien bei der Figur Dexter aus der gleichnamigen TV-Serie). Durch diese Umdeutung wird der Ausnahmefall aber wieder in die Grundannahme, welche unter (1) geschildert wurde, zurückgeführt, da ja nun die Sympathien wiederum der als ‚gut‘ oder zumindest als teilweise ‚gut‘ interpretierten Figur zufallen. So dienen beispielsweise die Rechtfertigungsstrategien in Bezug auf die Figur Dexter dazu, das ‚Gute‘ in seinen als ‚böse‘ markierten Taten hervorzukehren und mit Dexter dann letztendlich als einer ‚guten‘ Figur zu sympathisieren, die aus ‚guten‘ Gründen ‚böse‘ Handlungen begeht. Diese als eine Art Paradigma im rezeptionswissenschaftlichen Kontext zu sehende Annahme über die Figurenrezeption lässt also keinesfalls den Schluss zu, dass – zumindest im Fall einer ‚normalen‘ Rezeption – ein Sympathisieren mit einer als ‚böse‘ gekennzeichneten Figur möglich wäre. Natürlich lassen sich – wenn auch weitaus weniger – Arbeiten finden, die sich von dem eben geschilderten Paradigma lösen: So stellen Konijn und Hoorn in der bereits erwähnten Studie die prinzipielle Annahme über die Rezipientenbeteiligung infrage, indem sie behaupten, dass Figuren, welche sowohl als ‚gut‘ als auch als ‚böse‘ gekennzeichnet sind, dem Rezipienten mehr Sympathie entlocken als ausschließlich als ‚gut‘ oder ‚böse‘ gekennzeichnete Figuren.211 Zudem gibt es diejenigen Ansätze, welche die Faszination am ‚Bösen‘ im Allgemeinen oder an ‚bösen‘ Figuren im Speziellen über ein Bedürfnis des Rezipienten erklären, seine oftmals als solche bezeichnete ‚dunkle‘ Seite im geschützten Raum der Fiktionalität auszuleben. So führt etwa Hickethier im Kontext der Rezeption des Kriminalfilms dazu aus: „Für den Einzelnen ist die Auseinandersetzung zwischen Unrecht und Recht, zwischen dem Bösen und dem Guten offenbar deshalb reizvoll, weil die Übertretung des Rechts, die Verletzung des Guten – die er sich selbst als Normalbürger versagt – reizvoll erscheint. Er erlebt das Böse als etwas, was er vielleicht selbst gern tun würde und sich gleichwohl versagt. Er kann sich zumindest als Betrachter ohne eigenes Risiko daran ‚ergötzen‘. Am Ende erhält er – zusätzlich zur spannenden Unterhaltung – die Gewissheit, dass sich das Verbrechen nicht lohnt, eine gesellschaftlich notwendige Bewertung, auch wenn sie sich mit den realen Verhältnissen vielleicht nicht unbedingt in Übereinstimmung befindet. Er wird deshalb in seiner ‚normalen‘ und angepassten Lebensart bestätigt.“212
211 Vgl. E. A. Konijn/J. F. Hoorn: Some Like it Bad, S. 131. 212 K. Hickethier: Das narrative Böse, S. 232.
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Eine speziell auf die Wahrnehmung von Gewalthandlungen im Medienangebot bezogene Katharsisthese, welche eine Art reinigende beziehungsweise entlastende Wirkung für den Zuschauer propagiert, gilt in einschlägigen Forschungskreisen dagegen als inzwischen widerlegt.213 Von dem oben geschilderten Paradigma der Beteiligungsforschung, welches ein Sympathisieren mit ‚bösen‘ Figuren in grundsätzlicher Art nicht zulässt, will und muss sich der hier vorzuschlagende Plausibilisierungsansatz lösen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich bei den entgrenzten Figuren um ‚böse‘ Figuren handelt, die sowohl als anziehend wie auch als abstoßend oder, um mit Konijn und Hoorn zu sprechen, distanziert und gleichzeitig involviert erlebt werden können. Der Einsatz des Modalverbs ‚können‘ ist an dieser Stelle bewusst gewählt: Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen ist nicht die Annahme, dass die Figuren immer, zu jeder Zeit und von jedem Rezipienten, in dieser Weise wahrgenommen werden. Betont werden soll, dass eine solche Wahrnehmungsweise aber potenziell möglich und – wie im weiteren Verlauf noch gezeigt werden wird – in das Medienangebot eingeschrieben und für die Rezipienten sozusagen vorstrukturiert ist. Hinzu kommt, dass, wie bereits dargelegt, die Darstellung der entgrenzten Figuren keinerlei Rechtfertigungsstrategien oder andere Begründungen für ihr Verhalten bereithält, die es erlauben würden, die ‚bösen‘ Handlungen als ‚gute‘ Handlungen zu verstehen. Die Annahme darüber, dass es tatsächlich im Rahmen der Rezeption zu einer solchen paradoxalen Wahrnehmung der entgrenzten Figuren kommen kann, stützt sich auf entsprechende Aussagen von Rezipienten, die (1) in der wissenschaftlichen Forschung zu den hier relevanten Filmbeispielen (Sekundärliteratur), (2) im Rahmen von Rezensionen der Filmbeispiele und (3) als weitgehend ‚direkte‘ Meinungen der Rezipienten beispielsweise in Blog- oder Foreneinträgen im Internet getätigt wurden. Dass Hannibal Lecter zur einer solchermaßen paradoxalen Wahrnehmung anregt, wurde bereits einleitend zu diesem Kapitel anhand einiger Beispiele aus der Sekundärliteratur sowie aus Blogeinträgen gezeigt. Auch für den Joker lassen sich ähnliche ‚Erfahrungsberichte‘ über die widersprüchliche Wahrnehmung der Figur finden. So gibt beispielsweise ein User mit dem Namen Yoitscami aus Toldeo in Ohio im Forum der Internet-Plattform The Joker Blogs zu: „I was actually never a big fan of The Joker until I saw TDK [The Dark Knight; SE], when I saw him my heart would start beating super fast and my stomach hurt… but I loved him! So I became obsessed and bought about 5 posters of him 213 Vgl. Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Publizistik. Ein Studienhandbuch, Köln: Böhlau 2001, S. 410.
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[…].”214 Randolph Lewis interpretiert in seinem Aufsatz The Dark Knight of American Empire den Joker sogar als eine Art Messiasfigur: „[…] the Joker is not just a devil but also a postmodern messiah who inveighs against the discreetly authoritarian order of late consumer capitalism in which brands and regulations have eclipsed the soul. It is a world that even Batman has grown reluctant to defend; the Joker, on the other hand, offers crazed salvation in a future shorn of dull certainties.“215
In ähnlicher Weise – ‚man kann nicht mit ihm, aber auch nicht ohne‘ – berichtet Anton Bitel in seiner Besprechung des Films Cold Fish über Yukio Murata: „[…] this brash and impulsive monster leaves no appetite unchecked, and kills anyone who gets in his way […]. Yukio proves irresistible to milquetoast Nobuyuki, becoming all at once his dark half, his rampaging id and his Tyler Durden […].“216 Als angsteinflößend und belustigend zur gleichen Zeit beschreibt Blogger Genki Jason den Serienmörder: „Denden [Darsteller des Charakters Murata; SE] is this force of energy who can mask his darkness behind smiles but flip at any moment and it is scary and funny in equal measure […].“217 Er fügt hinzu: „Witnessing Aiko and Murata in their underclothes and rubber boots as they cut up bodies and exchange cute jokes is darkly humorous.“218 Wie dargestellt wurde, scheint also ein Wahrnehmungsmodus, der simultan Anziehung und Abstoßung durch die Figuren zulässt, im Kontext der Rezeption der entgrenzten Figuren durchaus üblich oder sogar verbreitet zu sein. Während sich allerdings die Abstoßungsreaktion auf Seiten des Rezipienten durch eine sehr starke Negativaffizierung aufgrund der Darstellung von grausamen und brutalen Gewalthandlungen plausibilisieren lässt, lassen sich in der Forschungsliteratur kaum Ansätze finden, die eine Begründung der Anziehungsreaktion ermöglichen würden, insbesondere da – wie bereits mehrfach erwähnt – gängige Begrün214 The Joker Blogs (Foreneintrag): http://www.thejokerblogs.com/forum/viewtopic. php?f=17&t=21&start=30 (28.11.2013). 215 Lewis, Randolph: „The Dark Knight of American Empire“, in: Jump Cut 51 (2009), http://www.ejumpcut.org/archive/jc51.2009/DarkKnightBloch/index.html (29.11. 2013). 216 A. Bitel: Cold Fish, S. 55. 217 Genkinahito’s Blog (Blogeintrag): http://genkinahito.wordpress.com/2012/03/26/ cold-fish/ (01.12.2013). 218 Genkinahito’s Blog (Blogeintrag): http://genkinahito.wordpress.com/2012/03/26/ cold-fish/ (01.12.2013).
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dungsansätze wie etwa der Entwurf moralischer Rechtfertigungsstrategien in diesem Kontext nicht greifen können. Einen Plausibilisierungsansatz für diese Fälle vorzulegen und zu diskutieren, das ist das Ziel dieses Buches. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die paradoxale Beschaffenheit der entgrenzten Figuren – als Zwischenfiguren, als unberechenbare, selbstermächtigte Figuren, als Figuren ohne Hintergrundgeschichte – dadurch, dass sie gängigen Grundmustern der Inszenierung ‚böser‘ Figuren im Unterhaltungsfilm widerspricht, zunächst das Bewertungsgefüge des Rezipienten aus dem Gleichgewicht bringt. Aufgrund der Nicht-Anwendbarkeit an hergebrachten Strukturen sich orientierenden Wahrnehmungsweisen, der Zugriffsverweigerung vonseiten der Figuren, ergibt sich eine Unbestimmtheitsstelle in seiner Wahrnehmung, mit welcher der Rezipient umgehen muss. Er tut dies – so der Vorschlag –, indem er vom Modus einer Fiktionalität narrativ gerahmter Kommunikationssituationen in den Modus einer Fiktionalität ludisch – also spielhaft – gerahmter Kommunikationssituationen wechselt. Innerhalb des Modus der ludischen Fiktionalität ist es dem Rezipienten möglich, gleichzeitig gegensätzliche, sich eigentlich ausschließende Wahrnehmungszustände, wie beispielsweise Annäherung und Distanzierung in Bezug auf eine fiktive Figur, zu aktivieren.
4. Spiel im fiktionalen Kontext
In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, das Modell der ludischen Fiktionalität, welches später zur theoretischen Plausibilisierung der Rezeptionswirkungen der entgrenzten Figuren herangezogen werden wird, ausgehend von allgemeinen Überlegungen zum Spielbegriff zu entwickeln und des Weiteren darzulegen, was mit diesem Modell erfasst werden kann sowie welche spezifischen Potentiale es für das hier zentrale Vorhaben bereithält. Das lateinische Wort ‚ludus‘ fungiert als ein „Allgemeinbegriff von Spiel und spielen“1, der im Gegensatz zu den Begrifflichkeiten anderer Sprachen noch nicht auf die verschiedenen Varianten von Spiel beziehungsweise seine diversen Grunddifferenzierungen wie etwa zwischen Kinderspiel und Wettkampf im Griechischen2 festgelegt ist: „Etymologische Grundlage ist hier weniger die schnelle Bewegung als der Nicht-Ernst, der Spott und der Schein.“3 Diese Konzentration auf den ‚Nicht-Ernst‘ und den ‚Schein‘ ist es auch, welche die Nutzung des Begriffs ‚ludus‘ in der hier eingesetzten Wendung der ‚ludischen Fiktionalität‘ so interessant macht, wie im Laufe der Argumentation deutlich werden wird. Mit der Wendung ‚ludische Fiktionalität‘ sollen entsprechend all jene Merkmale bezeichnet werden, die die spezifischen Fiktionalisierungsbedingungen charakterisieren, welche für spielhaft gerahmte Kommunikationssituationen im Allgemeinen bestimmend sind. Grundlegend hierbei ist der Gedanke, dass sich die Fiktionalität spielhaft gerahmter Kommunikationssituationen von der
1
Wetzel, Tanja: „Spiel“, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 5. Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 577-618, hier 580. Vgl. zur Begriffsgeschichte vor allem auch die Ausführungen von Johan Huizinga, dessen Wendungen Wetzel hier teilweise übernimmt: Huizinga, Johan: Homo Ludens. Der Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg: Rowohlt 2006 [1938], S. 46 f.
2
Vgl. T. Wetzel: Spiel, S. 579.
3
T. Wetzel: Spiel, S. 579 f. Vgl. auch J. Huizinga: Homo Ludens, S. 46.
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Fiktionalität narrativ gerahmter Kommunikationssituationen grundlegend unterscheidet, und zwar darin, dass sie ein emotionales und kognitives Beteiligtsein an der fiktiven Welt ebenso zulässt wie eine Beobachtung ihrer Konstruktion, und dass diese beiden Wahrnehmungsweisen simultan aktiviert sein können. Was auf den folgenden Seiten nicht geleistet werden kann, ist eine vollständige Aufbereitung der Begriffs- und Philosophiegeschichte des Spiels. Hierzu existieren bereits umfassende Arbeiten, auf welche im Rahmen der Entwicklung der relevanten Hypothesen zurückgegriffen werden kann.4 Als Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen dient stattdessen die grundlegende Definition Johan Huizingas, die nicht nur im Kontext der spieltheoretischen und kulturwissenschaftlichen Forschung bereits eingeführt ist, sondern auch die nötige Offenheit und Weite besitzt, um für die Anwendung im hier relevanten Kontext geeignet zu sein. In einem zweiten Schritt soll auf den folgenden Seiten – in Konzentration auf die vorliegende Fragestellung – ein Forschungsüberblick über die Arbeiten gegeben werden, die sich bislang damit beschäftigt haben, spielhafte und narrativ gerahmte Kommunikationssituationen miteinander produktiv in Beziehung zu setzen. Neben einer pointierten Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Debatte über die Übertragbarkeit von Narrationstheorien auf Spielphänomene, wie sie jüngst vor allem im Kontext der Game Studies geführt wurde, soll das Hauptaugenmerk hier vor allem auf der Frage liegen, welche Aspekte des Spielbegriffs bei einer Übertragung auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen bisher besonders stark gemacht wurden. Es lässt sich zeigen, dass unter anderem die Thematisierung der Fiktionalität, welche sowohl für das Spiel als auch für die Narration prägend ist, großen Raum einnimmt. In diesem Zusammenhang kann gezeigt werden, dass gerade mit dieser größten Übereinstimmung zwischen Spiel und Narration zugleich auch der prägnanteste Unterschied zwischen ihnen benannt wird. Im weiteren Verlauf der Darlegungen werden dann verschiedene Konstruktionen von Fiktionalität im Spiel anhand einschlägiger spielphilosophischer und spieltheoretischer Überlegungen herausgearbeitet und in Bezug auf bestehende Spieltheorien kontextualisiert. Aus diesen Vorarbeiten lässt sich schließlich ein generelles Modell ludischer Fiktionalität entwickeln, welches dann im fünften Kapitel zur theoretischen Plausibilisierung der paradoxalen Rezeptionswirkung entgrenzter Figuren herangezogen werden wird.
4
Vgl. unter anderem T. Wetzel: Spiel. Neuenfeld, Jörg: Alles ist Spiel. Zur Auseinandersetzung mit einer Utopie der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
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Wie der Literaturwissenschaftler Thomas Anz in seinem Beitrag zum Phänomen des Spiels im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ausführt, basieren gleichermaßen „Schwierigkeiten wie Beliebtheit des Begriffs [auf] der Vielzahl und Heterogenität seiner Konnotationen und der mit ihm bezeichneten Phänomene“5. Die gleichzeitige Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Begriffs ‚Spiel‘ rührt wohl unter anderem von der Tatsache her, dass sich die Benennungen für ‚Spiel‘ und ‚spielhaftes Verhalten‘ in verschiedenen Sprachfamilien sehr unterschiedlich terminologisch ausdifferenziert haben. Im Deutschen ist der Begriff, worauf Tanja Wetzel hinweist, „von sprachgeschichtlich unbestimmter Herkunft und von einem im Laufe der Geschichte zunehmend breiten Bedeutungsspektrum. Bereits das althochdeutsche ‚spil‘ bezeichnet ganz unterschiedliche Tätigkeiten wie Schauspiel, Tanz, Musik, Scherz.“6 Der Kulturanthropologe Johan Huizinga, dessen Definitionsvorschlag des Spielbegriffs für mehrere fachwissenschaftliche Diskurse grundlegend ist und der – worauf Anz hinweist – „auch Kunst und Literatur einbezieht“7, betont ebenfalls, dass „die Sprache nicht im mindesten überall von Anfang an mit der gleichen Bestimmtheit eine solche allgemeine Kategorie unterschieden und unter einem Worte begriffen hat“8. So führt er aus, dass im Griechischen, im Sanskrit und im Chinesischen mehrere spezielle Wörter einen allgemeinen Spielbegriff ersetzen, wie er beispielsweise für das Deutsche typisch ist.9 Die Vieldeutigkeit des Spielbegriffs – Anz spricht sogar von einer „beinahe universale[n] Verwendung“10 – sowie die Frage danach, auf welcher Stufe der Ausdifferenzierung im Rahmen einer Definition am besten zu beginnen ist, ha-
5
Anz, Thomas: „Spiel“, in: Klaus Weimar et al. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 3: P-Z, Berlin: de Gruyter 2003, S. 469-472, hier S. 469. Diese Mehrdeutigkeit des Spielbegriffs scheint keine neuere Auffassung zu sein, sondern wird bereits vom Anthropologen Frederik Buytendijk diskutiert. Buytendijk, Federik J. J.: „Das Spielerische und der Spieler“, in: Ausschuss deutscher Leibeserzieher (Hg.), Das Spiel, Frankfurt a. M.: Wilhelm Limpert 1959, S. 13-29, hier S. 16.
6
T. Wetzel: Spiel, S. 580. Zur Herkunft des deutschen Wortes ‚Spiel‘ vgl. auch Buytendijk, Frederik J. J.: Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin: Kurt Wolff 1933, S. 18-21.
7
T. Anz: Spiel, S. 469.
8
J. Huizinga: Homo Ludens, S. 37 f.
9
Vgl. J. Huizinga: Homo Ludens, S. 38 ff.
10 T. Anz: Spiel, S. 470.
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ben zu unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der weiteren Begriffsbestimmung geführt. Während Huizinga in seinen bereits 1938 vorgelegten Überlegungen das Spiel als eine grundsätzliche Wahrnehmungshaltung oder auch Verhaltensweise definiert, die von ihm als vorkulturelles Phänomen und damit allen kulturellen Ausprägungen vorausgehend angesehen wird, nimmt beispielsweise Roger Caillois in seinem zwanzig Jahre später erschienenen und für die Spieltheorie inzwischen ebenso wesentlichen Werk Die Spiele und die Menschen neben einer allgemeinen Definition des Spiels vor allem auch eine Typologisierung und Einteilung der verschiedenen Spielformen vor. Hier differenziert er unter anderem zwischen „Agôn (Wettkampf)“, „Alea (Chance)“, „Mimicry (Verkleidung)“ und „Ilinx (Rausch)“.11 Diese Entscheidung Cailloisʼ speist sich vor allen Dingen aus seiner Kritik an Huizingas Spielbegriff, der eben eine solche „Beschreibung und Einteilung der Spiele völlig außer acht [lässt], ganz als ob sie alle den gleichen Bedürfnissen entsprächen oder als ob sie unterschiedslos die gleiche psychische Haltung zum Ausdruck brächten“12. Für Huizinga ist Spiel nämlich „eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘ [Herv. i. O.]“13.
Huizinga beabsichtigt zu zeigen, dass sich die menschliche Kultur aus solchen Spieltätigkeiten entwickelt hat, dass also beispielsweise spezifische kulturelle Ausprägungen wie Wettkampf, Dichtung oder auch bestimmte Rituale vormals reine Spieltätigkeiten waren, die allmählich jeweils an einer bestimmten Form der Ernsthaftigkeit gewannen14: „Erst in einer späteren Phase der Gesellschaft verbindet sich mit dem Spiel die Vorstellung, daß in ihm etwas ausgedrückt wird: eine Vorstellung vom Leben. […] In der Form und in der Funktion des Spiels, das eine selbständige Qualität ist, findet das Gefühl des Eingebettetseins des Menschen im Kosmos seinen ersten, höchsten und heiligsten Aus11 Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München/Wien: Langen Müller 1965 [1958], S. 46. 12 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 9. 13 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 37. 14 Wie zu erwarten fand diese Setzung Huizingas natürlich auch ihre Kritiker, auf welche unter anderem Andreas Flitner in seinem Nachwort hinweist. Vgl. Flitner, Andreas: „Nachwort“, in: J. Huizinga, Homo Ludens (2006), S. 232-238, hier S. 234.
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druck. Nach und nach dringt die Bedeutung einer heiligen Handlung in das Spiel ein. Der Kult pfropft sich auf das Spiel auf, das Spielen an sich aber war das Primäre.“15
Bei seinem Definitionsvorschlag geht es Huizinga daher auch darum, einen möglichst allgemeinen Spielbegriff zu entwickeln, der in der Lage ist, so gut wie alle existierenden Arten von Spiel zu erfassen – vom Spiel eines Rudels junger Hunde über die Metapher und das Wortspiel bis hin zu Wettkampfhandlungen. Als einzige (aber auch nicht immer bindende) Einschränkung vermerkt Huizinga, er wolle sich „in der Hauptsache auf die Spiele sozialer Art beschränken“16. Mögliche Ausdifferenzierungen in einzelne Spielformen, Spielmotivationen, Spielplätze oder Ähnliches werden im Rahmen der Definition bewusst noch nicht vorgenommen. Gerade dieses Charakteristikum, nämlich zugleich so präzise wie möglich und so unbestimmt wie nötig zu sein, um damit ein generelles vorkulturelles Spielmoment kennzeichnen zu können, macht die Definition von Huizinga für die Verwendung im vorliegenden Rahmen so geeignet. Auch hier soll es ja um ein Element des Spiels gehen, welches allen konkreten Ausprägungen von Spiel gemeinsam ist, nämlich seine besondere Art der Fiktionalität oder – wie Huizinga dies formuliert – das „Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘“17. In dieser Wendung ist zweierlei von Bedeutung: Zum einen wird hier die Tatsache benannt, dass „[i]n der Sphäre des Spiels […] die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung [haben]“18. Beim Spielen handle es sich um ein „Heraustreten“19 aus den Zusammenhängen des „eigentliche[n] Leben[s]“20 – in diesem Sinne also um eine fiktionale Situation. Zum anderen betont Huizinga aber auch, dass dieses Anerkennen von Fiktionalität im Spiel durch die Teilnehmer mehr oder weniger ‚bewusst‘ vonstattengeht. Das gewöhnliche Leben als das Andere, das im Moment des Spiels eben nicht aktiv, sondern 15 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 27. Mit seiner Annahme von „einem angeborenen Nachahmungstrieb“ (J. Huizinga: Homo Ludens, S. 10) des Menschen, der sich zunächst vor allem im Spiel Ausdruck verschaffe und sich folgend als Kultur ausdrücke, ruft Huizinga hier natürlich auch die Überlegungen Aristotelesʼ zur Mimesis auf. Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994, S. 11. Vgl. J. Stenzel: Begriffe des Aristoteles, S. 14. 16 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 15. 17 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 37. 18 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 21. 19 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 16. 20 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 16.
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außer Kraft gesetzt ist, bleibt dennoch während des Spielprozesses wie ein Fotonegativ der aktuellen Situation durchgehend präsent: „Schon das kleine Kind weiß genau, daß es ‚bloß so tut‘, daß alles ‚bloß zum Spaß‘ ist. Wie tief dies Bewußtsein in der Kinderseele haftet, wird m. E. besonders schlagend durch den folgenden Fall illustriert, den mir seinerzeit der Vater eines Kindes mitgeteilt hat: Er trifft sein vierjähriges Söhnchen an, wie es auf dem vordersten einer Reihe von Stühlen sitzt und ‚Eisenbahn‘ spielt. Er hätschelt das Kind, dies aber sagt: ‚Vater, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, es wäre nicht echt.‘“21
Zugleich – und darauf weist Huizinga besonders eindringlich hin – bedeutet dieses Anderssein als das gewöhnliche Leben nicht automatisch eine verminderte Ernsthaftigkeit der Spielsituation22: „Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß das Bewußtsein, bloß zu spielen, gar nicht ausschließt, das dies ‚bloße Spielen‘ mit dem größten Ernst vor sich gehen kann, ja mit einer Hingabe, die in Begeisterung übergeht und die Bezeichnung ‚bloß‘ zeitweilig vollkommen aufhebt. Jedes Spiel kann jederzeit den Spielenden ganz in Beschlag nehmen. Der Gegensatz Spiel–Ernst bleibt stets schwebend.“23
Neben ihrer Offenheit gibt es noch ein weiteres Merkmal in Huizingas Überlegungen zum Spielbegriff, welches diesen für die Anwendung im hier vorliegenden Kontext überaus geeignet erscheinen lässt. In einem Kapitel mit dem Titel Spiel und Dichtung führt Huizinga aus, dass die Dichtkunst als kulturelle Ausprägung genuin spielhaft ist. Hierbei benennt er als spielhafte Elemente zum einen die „Aktivitäten der poetischen Formgebung: das symmetrische oder rhythmische Einteilen der gesprochenen oder gesungenen Rede, das Treffen mit Reim oder Assonanz, das Verhüllen des Sinns, der künstliche Aufbau der Phrase“24, welche in die „Sphäre des Spiels von Natur gehören“25. Deutlich wird an dieser Stelle, dass Huizinga hier vor allem auf die Dichtkunst referiert, die in irgendeiner Art und Weise zur Aufführung kommt, er spezifisch also ihren performativen Charakter als spielhaft benennt. Zum anderen kommt er aber auch auf die Spielhaftigkeit der in der Dichtung verwirklichten 21 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 16 f. 22 Zum Zusammenhang von Spiel und Ernst vgl. auch Frey, Hans-Jost: Der unendliche Text, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 263-275. 23 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 17. 24 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 146. 25 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 146.
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Narration und dabei insbesondere auf das Moment der Spannungserzeugung beim Leser und Zuhörer zu sprechen, das für Huizinga ein ebenso wesentliches Kennzeichen des Spiels ist.26 Darüber hinaus wird das Dichterische – wie Huizinga konstatiert – von einem Wettkampfcharakter geprägt, der „uns direkt in das Gebiet des agonalen Spiels zurückführ[t]“27: „In einer großen Menge von Fällen liegt das zentrale Thema eines poetischen oder im allgemeinen literarischen Stoffes in einer Aufgabe, die der Held zu vollbringen hat, einer Prüfung, die er durchmachen, eines Hindernisses, das er überwinden muß.“28 Ohne Schwierigkeiten ließen sich die Überlegungen Huizingas zur Dichtkunst, die für ihn „ein Bollwerk von blühendem und edlem Spiel“29 in einer zunehmend das Spielhafte verlierenden Kultur darstellt, auch auf andere narrative Hervorbringungen wie beispielsweise Spielfilme oder auch Theateraufführungen und Performances übertragen, insbesondere da ja für Huizinga der performative Aspekt eine wesentliche Komponente des Spielhaften zu sein scheint. Dies gelingt umso leichter, als Huizinga selbst schon die Filmleinwand und die Bühne als ‚Spielplätze‘ beschrieben hat.30 Huizinga auf diesem Weg zu folgen, schafft jedoch mehr Probleme als damit gelöst werden. Deutlich wird dies vor allem bei der Durchsicht der Forschungsliteratur, die sich mit solchen Ansätzen beschäftigt hat. So weist beispielsweise Thomas Anz darauf hin, dass bei Huizingas Übertragung „die Perspektive weitgehend auf den Autor beschränkt bleibt“31, die Rolle des Lesers oder Zuhörers dagegen nicht thematisiert werde. Auch die unbedingte Regelhaftigkeit – wie sie nach Huizinga für das Spiel typisch ist – sieht Anz zum Beispiel in der Literaturproduktion nicht gegeben.32 Im folgenden Abschnitt über die Forschungsansätze zur Verknüpfung spielhaft und narrativer gerahmter Kommunikationssituationen wird auf die Probleme 26 Vgl. J. Huizinga: Homo Ludens, S. 147. 27 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 147. 28 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 147. 29 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 149. 30 „Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere eigene Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.“ J. Huizinga: Homo Ludens, S. 18 f. 31 Anz, Thomas: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: dtv 2002 [1998], S. 46. 32 Vgl. T. Anz: Literatur und Lust, S. 47.
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einzugehen sein, die sich bei einer Übertragung des Spielbegriffs auf narrative Hervorbringungen ergeben. Außerdem soll ein Vorschlag formuliert werden, wie im Rahmen der vorliegenden Überlegungen mit diesen Schwierigkeiten umgegangen werden kann.
4.2 F ORSCHUNGSÜBERBLICK : S PIEL UND M EDIENANGEBOTE
NARRATIVE
In diesem vierten Kapitel geht es vor allem darum, Aspekte spielhaft gerahmter Kommunikationssituationen produktiv mit bestimmten Aspekten narrativer Hervorbringungen, konkret: einer spezifischen Form der ‚bösen‘ Figur, zusammenzubringen. In diesem Zusammenhang ist es wohl hilfreich, sich zunächst einen Überblick darüber zu verschaffen, in welchen Kontexten bisher eine Übertragung des Spielbegriffs, sei es ganz oder teilweise, auf narrative Hervorbringungen vorgenommen worden ist. Daneben interessiert von welchen Problemen, aber vor allem auch von welchen Erfolgen eine solche Übertragung begleitet war. Aufgrund einer Besonderheit in der Geschichte der Spielforschung ist es notwendig, zunächst auf eine zwischen den Schulen der sogenannten Ludologen und der Narratologen geführte Debatte einzugehen und darzustellen, wie mit den in diesem Zusammenhang formulierten Bedenken bezüglich einer gegenseitigen Übertragbarkeit von Spiel- und Narrationsaspekten umgegangen werden soll. Im Folgenden wird dann auf die bisherige Anwendung des Spielbegriffs im Kontext der Analyse narrativer Medienangebote eingegangen, wobei hier zwei prinzipiell unterschiedliche Vorgehensweisen der Forschung diskutiert werden sollen. Im ersten Fall wird Narration als Spiel begriffen, wobei solche Übertragungen gleichermaßen auf literarische wie audiovisuell präsentierte Inhalte stattfinden. Im zweiten Fall wird Spiel als Metastruktur, beispielsweise als Medium, aufgefasst und als solche auf die Analyse narrativer Hervorbringungen übertragen. In einem abschließenden Teil dieses Kapitelabschnitts wird ausgehend von den Positionen in der Forschungsliteratur dargestellt, inwiefern der Aspekt der Fiktionalität zugleich als größte Übereinstimmung wie als prägnantester Unterschied zwischen Spiel und Narration begriffen werden kann. 4.2.1 Ludologie vs. Narratologie Wer zum heutigen Zeitpunkt über ein irgendwie geartetes Verhältnis von Spiel und narrativen Hervorbringungen spricht, dem ist es nicht möglich, zunächst
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nicht Stellung zu einer speziellen Auseinandersetzung von Denkweisen zu nehmen, die im Forschungsdiskurs mittlerweile unter dem Begriff „N/L-Debatte“33 bekannt ist. Obwohl es sich bei der N/L-Debatte um eine weitgehend nur im Forschungsfeld der sogenannten Game Studies und damit in Bezug vor allem auf elektronische Spielwelten geführte Diskussion handelt34, zielen wesentliche Teile der Auseinandersetzung auf grundsätzliche Differenzen zwischen Spielangeboten und Narrationsangeboten sowie Spielrezeptionen und Narrationsrezeptionen ab. Im Kontext der N/L-Debatte stehen einander im Kern die Gruppen der sogenannten Narratologen und der Ludologen gegenüber, wobei diese strenge Unterscheidung zwischen den Positionen als erst im Nachhinein von der Forschungsliteratur konstruierte Dichotomie angesehen werden muss. Tatsächlich zeigt sich schon in den aus der Mitte der neunziger Jahre stammenden frühen programmatischen Schriften der Debatte die Tendenz, durchaus Methoden und Ansätze der jeweils ‚gegnerischen‘ Position anzuerkennen, was auch Heidemarie Schuhmacher und Leonhard Korbel zu bedenken geben.35 Zudem weist Gonzalo Frasca, der 1999 in seinem Aufsatz Ludology Meets Narratology den Begriff der Ludologie als Gegenpol zur Narratologie eingeführt hat, darauf hin, dass es eine explizite N/L-Debatte eigentlich nie gegeben hat.36 Als Dreh- und Angelpunkt einer wie eifrig und nachhaltig auch immer geführten Auseinandersetzung kann das – häufig auch auf die Rechtfertigung existenzieller und institutioneller Belange gerichtete37 – Bestreben von Vertretern der Game Studies gesehen werden, 33 Schuhmacher, Heidemarie/Korbel, Leonhard: „Game Studies and Agency: Ein Forschungsbericht zu ihrem Verhältnis und ein Vorschlag zu einer neuen Forschungsperspektive“, in: Caja Thimm (Hg.), Das Spiel. Muster und Metapher der Mediengesellschaft, Wiesbaden: VS 2010, S. 55-78, hier S. 57. 34 Ausführliche Darstellungen sowie Kommentare zur Debatte finden sich unter anderem bei H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency und Simons, Jan: „Narrative, Games, and Theory“, in: Game Studies 7 (2007), http://gamestudies.org /0701/articles/simons (02.03.2014), o. S. 35 Vgl. H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency, S. 57 f. 36 Vgl. Frasca, Gonzalo: „Ludologists Love Stories, Too: Notes from a Debate That Never Took Place“, in: Marinka Copier/Joost Raessens (Hg.), Level-up: Digital Games Research Conference, Utrecht: Utrecht University 2003, S. 92-99. Frasca, Gonzalo: „Ludology Meets Narratology: Similitude and Differences between (Video)games
and
Narrative”,
http://www.ludology.org/articles/ludology.htm
(02.03.2014). 37 So stellt beispielsweise Jan Simons in Bezug auf die sich gegenüberstehenden Positionen fest: „Their arguments are ideologically motivated rather than theoretically
118 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN „[g]egenüber den literatur- und filmwissenschaftlich ausgerichteten Narratologen mit ihrem entsprechendem Instrumentarium […] für den Gegenstand eine angemessene und authentische Theorie entwickelt [zu] wissen, welche die technisch vermittelte Gestaltung der Spiele und die regelbasierten Handlungsmöglichkeiten der Spielerin angemessen berücksichtigen“38.
Dabei wehren sich die Ludologen vor allem gegen den von den Narratologen auf die Analyse von Spielen übertragenen Textbegriff, der ihrer Ansicht nach zentrale Konstituenten des Spiels wie beispielsweise die interaktive Erschaffung der fiktiven Welt erst durch und aus der Spieltätigkeit heraus, signifikant vernachlässige und damit einen zentralen Bestandteil des Spielhaften negiere. Diese häufig auch als ‚übergriffig‘ gewertete Übertragung der ‚spielfremden‘ Disziplin Narratologie auf die Untersuchung und Analyse von Spielen gipfelte zum Teil in recht polemischen Vergleichen wie beispielsweise dem vielzitierten Vorwurf Markku Eskelinens: „[…] if I throw a ball at you, I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.“39 Ob man nun bereit ist, sich auf eine Seite der Debatte zu schlagen oder den von Schuhmacher und Korbel betonten Vermittlungstendenzen40 zwischen den Positionen den Vorzug gibt, auf alle Fälle wird deutlich, dass sich Momente des Narrativen von Momenten des Spielhaften unterscheiden lassen, beide jedoch sowohl in narrativen als auch in spielhaften Hervorbringungen (zum Beispiel grounded, and don’t hold up against closer scrutiny.“ J. Simons: Narrative, Games, and Theory, o. S. Espen Aarseth schreibt recht polemisch vonseiten der Game Studies: „In the last few years, games have gone from media non grata to a recognized field of great scholarly potential, a place for academic expansion and recognition. The great stake-claiming race is on, and academics from neighboring fields, such as literature and film studies, are eagerly grasping ‚the chance to begin again, in a golden land of opportunity and adventure‘ (to quote from the ad in Blade Runner) [Herv. i. O.].“ Aarseth, Espen: „Genre Trouble“, in: Noah Wardrip-Fruin/Pat Harrigan (Hg.), First Person: New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge, MA: MIT Press 2004, S. 45-55, hier S. 45. 38 H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency, S. 57. 39 Eskelinen, Markku: „Towards Computer Game Studies“, in: N. Wardrip-Fruin/P. Harrigan (Hg.), First Person (2004), S. 36-44, hier S. 36. 40 Vgl. H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency, S. 57. Einen Spiel und Narration integrierenden Ansatz schlägt auch Backe vor: Backe, Hans-Joachim: „Mit Gefühlen spielen: Emotionalität zwischen den Regel- und Zeichensystemen von Spiel und Erzählung“, in: Jörg von Brincken/Horst Konietzky (Hg.), Emotional Gaming. Gefühlsdimensionen des Computerspielens, München: epodium 2012, S. 47-59.
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sowohl im Spielfilm als auch im Computerspiel) von Belang sein können und jeweils unterschiedliche Betrachtungsweisen erfordern. So übernimmt etwa Britta Neitzel die von Niklas Luhmann eingeführte Differenz zwischen Medium und Form und wendet sie auf die Analyse des Narrativen in Computerspielen an: In diesem Sinne handelt es sich bei Erzählungen und Spielen um Ausformungen bestimmter Medien, seien es Text, Film oder eben Computerspiele.41 Schuhmacher und Korbel gehen in ihren Überlegungen hier sogar noch einen Schritt weiter und machen die jeweilige Perspektive des (in ihrem Falle wissenschaftlichen) Beobachters dafür verantwortlich, ob das Narrative oder das Spielhafte am Spiel in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt: „Während die Narratologie auf ein Spiel in statu nascendi rekurriert, damit den ‚objektiven‘ Rahmen (story und discourse, dramaturgische Gestaltung des Spiels) jenseits seiner Nutzung in den Vordergrund stellt, konzentrieren sich die Ludologen auf das game play (Regelwerk; Spielmechanik), die Anwendung der Regeln im Vollzug des Spiels, damit auf ein Spiel in actu.“42
Die Autoren sprechen in Fortführung dieses Gedankens und in Bezug auf Computerspiele zudem von „Doppeldramaturgien von Narrativ und Spielhandlung“43, die simultan entfaltet werden können. Auch Martin Sallge setzt in seiner empirischen Untersuchung über die Bedeutung narrativer Elemente in elektronischen Spielen „explizit die Co-Existenz von Narration und Interaktion im Computerspiel und eine daraus resultierende Steigerung der Wirkung dieser beiden distinkten Ebenen“44 voraus. Wie im weiteren Verlauf des Kapitels bei der Aufarbeitung der Positionen der Forschungsliteratur noch gezeigt werden soll, dürfte eine solche ‚CoExistenz‘ oder auch ‚Doppeldramaturgie‘ nicht nur für elektronische Spiele, sondern auch für Spiele im Allgemeinen und in der Umkehrung schließlich auch für Narrationen jeglicher Art zutreffen, wobei sich dabei selbstverständlich Ausprägung und Gewichtung des Spielhaften und des Narrativen von Kommunikationssituation zu Kommunikationssituation unterscheiden und natürlich außerdem genreabhängig sind. Solche Überlegungen zur ‚Co-Existenz‘ sind zwar in Bezug 41 Vgl. Neitzel, Britta: „Narrativity in Computer Games“, in: Joost Raessens/Jeffrey Goldstein (Hg.), Handbook of Computer Game Studies, Cambridge, MA: MIT Press 2005, S. 227-245, hier S. 228. 42 H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency, S. 57. 43 H. Schuhmacher/L. Korbel: Game Studies and Agency, S. 69. 44 Sallge, Martin: „Interaktive Narration im Computerspiel“, in: C. Thimm, Das Spiel (2010), S. 79-104, S. 92.
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auf die Übertragung von Aspekten spielhafter Hervorbringungen auf narrative Hervorbringungen im Forschungsdiskurs nachzuweisen, gehen aber weit undifferenzierter vonstatten, als sie sich bereits in der N/L-Debatte ausagiert haben. Insofern lohnt es sich auch in Bezug auf künftige Zusammenführungen von Spiel- und Narrationsansätzen, Erkenntnisse der dezidiert auf Vermittlung ausgerichteten Ansätze der N/L-Debatte zu nutzen. Die durch die Debatte nachhaltig herausgearbeitete Unterscheidung zwischen dem Moment des Narrativen und dem Moment des Spielhaften stellt zudem einen Aspekt in den Mittelpunkt, der gerade für die in diesem Buch durchgeführte Betrachtung unterschiedlich medial gerahmter Kommunikationssituationen (Film und Tanz) von Belang ist. Es geht hierbei um die Behauptung, dass die fiktive Welt des Spiels erst während des Spielens unter Mitwirkung des Spielers hervorgebracht wird, während die fiktive Welt narrativer Hervorbringungen bereits vor der Rezeption mehr oder weniger vorhanden und eine Mitwirkung des Lesers/Zuschauers zur Hervorbringung grundsätzlich nicht vonnöten ist. So stellt beispielsweise Espen Aarseth fest: „In fact, while life and games are primary, real-time phenomena, consisting of real and virtual events, stories are secondary phenomena, a revision of the primary event, or a revision of a revision, etc.“45 Selbstverständlich lässt sich an dieser Stelle einwenden, dass eine Unterscheidung in dieser Strenge in Bezug auf eine rezipientenorientierte Perspektive (wie sie in den methodischen Vorüberlegungen im zweiten Kapitel explizit gemacht worden ist) nicht sinnvoll ist, da sowohl Fiktionalität als auch das Narrative rezipientenabhängige Zuweisungen sind und damit die fiktive Welt erst durch die Konstruktionsleistung des Rezipienten individuell als solche hervorgebracht wird.46 Dies ist ein wesentlicher Standpunkt, von welchem aus vonseiten der Literatur- und Filmwissenschaft häufig für eine zumindest partielle Gleichsetzung von Spiel und Narration plädiert wird.47 Festgestellt werden kann darüber hinaus, dass Aarseths Unterscheidung auf einer anderen Differenz beruht als auf der zwischen Spiel und Narration: Vielmehr geht es ihm offensichtlich um eine Art Aufführungs- oder Aktualisierungsmoment, welches er in Bezug auf das Spielhafte betont, in Bezug auf die Erzählung jedoch lenkt er sein Augenmerk auf ein vom Rezeptionsvorgang unabhängiges Textprodukt.48 Natürlich lassen sich aber auch Filmwahrnehmung 45 E. Aarseth: Genre Trouble, S. 50. 46 Vgl. unter anderem H.-J. Frey: Der unendliche Text. 47 Vgl. hierzu den Abschnitt im Kapitel 4.2.2. 48 Aarseth stellt hier also letztlich einen unzulässigen Vergleich an. Darüber hinaus lässt sich aber feststellen, dass es natürlich auch in Bezug auf das Spiel von der jeweiligen
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und Lektüre ebenso wie theatrale Aktionen und Performances als ‚real-time phenomena‘ beschreiben. Im Zusammenhang mit der Analyse des Spielhaften ist hier wiederholt auf den Begriff beziehungsweise das Phänomen der Interaktion zwischen Rezipient und Medienangebot verwiesen worden, den Gonzalo Frasca allerdings zurückweist und stattdessen für die Verwendung des Begriffs der Simulation plädiert.49 Jan Simons hat jedoch deutlich gemacht, dass auch die Unterscheidung zwischen Repräsentation und Simulation, wie sie gemäß Frasca für die Unterscheidung zwischen Narration und Spiel bestimmend ist, nur ein weiterer konstruierter Streitpunkt ist, an welchem sich die ‚N/L-Debatte‘ entzünden kann, da unter Zuhilfenahme der richtigen Argumente auch Narrationen als simulatorisch und Spiele als repräsentational begriffen werden könnten: „The proposed distinction between representation and simulation is itself a good example of how categories and definitions are set up strategically in an attempt to re-model the playground of humanities.“50 Es lässt sich feststellen, dass es unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis von Interaktion/Nachvollzug beziehungsweise Repräsentation/Simulation in Bezug auf Spiel und Narration gibt. Zudem kann und muss zumindest festgehalten werden, dass es eine grundsätzliche Differenz zwischen Spiel und Narration gibt, die im spezifischen Verhältnis zwischen Rezipient und Medienangebot zu suchen ist und sich in nichtstandardisierbarer Weise an einer Achse entlang Aktualisierung unabhängig existierende Textprodukte gibt (etwa das Regelwerk eines Spiels oder auch grundlegende Narrationsschemata wie Cowboy versus Indianer). Entsprechend können aber auch Narrative aus dem Stegreif (ohne konkretes vorher bestehendes Textprodukt) zur Aufführung kommen, wie etwa im Improvisationstheater. Aufgerufen wird mit Aarseths Unterscheidung natürlich auch die antike Gegenüberstellung von Mimesis und Diegesis. Versteht man aber Mimesis mit Julia Stenzel, welche die Begriffsentwicklung in der Aristotelischen Poetik einer Releküre unterzieht, nicht als „Nachahmung […], sondern im Sinne von Medienwechsel“, also einer Wiederholung in einem anderen medialen Rahmen, dann lässt sich wiederum sagen, dass sowohl im Spiel und in der theatralen Aufführung als auch in der klassischen Prosaerzählung ‚Inhalte‘ einer Wiederholung unterzogen und in diesem Sinne aktualisiert werden, wenn auch selbstverständlich in je unterschiedlichen, medialen Ausformungen. J. Stenzel: Stoffwechsel, o.S. 49 Vgl. Frasca, Gonzalo: „Simulation versus Narrative. Introduction to Ludology“, in: Mark J.P. Wolf/Bernard Perron (Hg.), The Video Game Theory Reader, New York: Routledge 2003, S. 221-235. 50 J. Simons: Narrative, Games, and Theory, o.S.
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bewegt, die mit den Aspekten ‚Interaktion, Simulation, Repräsentation‘ überschrieben ist. Auch Rainer Leschke hat mit Blick auf die zunehmende Integration von Spielelementen in die Narrative vor allem des Unterhaltungsfilms51 auf die Nicht-Identität von Spiel und Narration verwiesen, wobei sich die Differenz für ihn vor allem in Bezug auf die jeweilige Anlage der Zeitdimensionen und im „Umgang mit kausalen Strukturen“52 manifestiert. Für Leschke sind Spiel und Erzählung demnach, trotz ihres zunehmenden gemeinsamen Auftretens „nicht aufeinander reduzierbar, […] also inkompatibel“53. Von daher könnten zwar Spielelemente ohne Probleme in Narrationen integriert werden, ein Ineinanderaufgehen wäre allerdings nicht möglich und spielhafte wie narrative Momente könnten zweifelsfrei identifiziert werden, wie Leschke am Beispiel von Actionsequenzen im Film zu verdeutlichen sucht: „Die Narration reduziert sich tendenziell auf eine Art Narrationsradikal, das mit Actionsequenzen, also Handlungsstrukturen relativer Autonomie versetzt wird. […] Spielelemente in diesem Sinne stellen also autonome Sequenzen dar.“54 Unüberbrückbare Unterschiede zwischen Spiel und Narration sieht Leschke vor allem auch im Bereich der Rezeption selbst: „Die Differenzen, die sich auf dem Feld der Rezeption ergeben, sind immerhin die zwischen der Interpretation einer Erzählung und dem Spielen eines Spiels. Es handelt sich also um vollkommen verschiedene Operationen, die über unterschiedliche Freiheitsgrade verfügen und ebenso unterschiedliche Kompetenzen nachfragen.“55
Selbst wenn im Rahmen der vorliegenden Überlegungen von einer grundlegenden Nicht-Identität zwischen Spiel und Narration ausgegangen werden soll, aus denselben Gründen, aus welchen auch Leschke diese bekräftigt, so soll doch das Feld grundsätzlich in die Richtung geöffnet werden, die beispielsweise der Mög51 Mit dem umgekehrten Weg – der Integration von narrativen Elementen in das Computerspiel – beschäftigen sich Jürgen Sorg und Stefan Eichhorn, die „Spielhandlung im Computerspiel […] als Hybrid von erzählerischen und spielerischen Momenten“ verstehen. Sorg, Jürgen/Eichhorn, Stefan: „Playwatch – Mapping Cutscenes“, in: Navigationen 5 (2005), S. 225-240, hier S. 226. 52 Leschke, Rainer: „Die Spiele massenmedialen Erzählens oder Warum Lola rennt, Schiller zuschaut und Kant die Angelegenheit immer schon begriffen hat“, Vortrag an der Universität Regensburg vom 20.01.2004, http://www.rainerleschke.de/downloads /pdf/leschke_SpielErzaehlung.pdf (02.02.2014), S. 5. 53 R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 4. 54 R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 7. 55 R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 7.
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lichkeit eines spielerischen Umgangs mit Narrationen ebenso wie dem Erkennen von narrativen Strukturen in Spieltätigkeiten entsprechend Raum gibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass sowohl Leschke als auch Sorg und Eichhorn von einer vor allem in Bezug auf ökonomische Belange quasi symbiotischen Beziehung zwischen Spiel und Narration ausgehen: Während sich in die Narrative des Unterhaltungsfilms immer öfter Spielelemente einschreiben würden, um ein „drohendes Veralten“56 der zunehmend auf ähnlichen Konzeptionen basierenden Erzählungen zu verhindern, dienten die narrativen Cutscenes57 im Computerspiel dazu, das Spielgeschehen empathisch nachvollziehbar zu machen und scheinbar zufällige Spielherausforderungen zu motivieren.58 4.2.2 Übertragung des Spielbegriffs auf narrative Medienangebote Im Folgenden soll es nun um diejenigen Forschungsansätze gehen, die wie die Arbeiten der N/L-Debatte ebenfalls einen Übertrag zwischen Spiel und Narration vornehmen, allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Es handelt sich demnach nicht um Arbeiten, die versuchen, spezifische Spiele mit den Elementen der Literatur- beziehungsweise Filmtheorie zu erklären, sondern um Arbeiten, die versuchen, narrative Hervorbringungen unter Bezugnahme auf verschiedene spieltheoretische Ansätze zu durchdringen. Tanja Wetzel rekonstruiert in ihrem Lexikoneintrag zum Spiel als ästhetischer Kategorie, dass es in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben habe, „zwischen dem Phänomen des Spiels und dem der Kunst einen grundsätzlichen Zusammenhang herzustellen“59, was auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten zurückgeführt werden könne, die zwischen Spiel und künstlerischen Ausprägungen bestehen, wie beispielsweise etwa dem „Heraustreten aus zweckrationalen Zwängen“60 oder „der eigenen Regelhaftigkeit“61. Und gerade seit der Postmoderne habe das Spiel – wie Tanja Wetzel, den Aristotelischen Begriff der
56 R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 10. 57 Als ‚Cutscenes‘ definieren Sorg und Eichhorn „animierte oder filmische Videosequenzen, die keine Spielinteraktionen erlauben“. J. Sorg/S. Eichhorn: Playwatch, S. 225, Fußnote 3. 58 J. Sorg/S. Eichhorn: Playwatch, S. 228 f. 59 T. Wetzel: Spiel, S. 577. 60 T. Wetzel: Spiel, S. 577. 61 T. Wetzel: Spiel, S. 578.
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Poiesis aufgreifend, konstatiert – als „ästhetische Kategorie“62 wieder an Bedeutung gewonnen: „Es [das Spiel; SE] wird als Paradigma sog. ‚poietischer‘ Prozesse im Gegensatz zu gesellschaftlichen Handlungszwängen betrachtet und bestimmt zudem die Diskurse der ästhetischen Theorie und der ästhetischen Bildung, wenn es darum geht, den Bereich wie auch die Strategien der Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse zeitgenössischer Kunst in ihrer Offenheit und Polyvalenz neu zu bestimmen.“63
In Bezug auf die Forschungsansätze, die eine Übertragung von Spielaspekten auf narrative Medienangebote unternehmen, lassen sich zwei Varianten feststellen, wie diese Übertragung vonstattengeht64: Zum einen wird Narration selbst als ein Spiel begriffen – häufig auch in Bezug auf eine konkrete Forschungsfrage, die mittels dieser Gleichsetzung plausibler zu beantworten scheint. Oft wird dazu auf den von Huizinga erstellten beziehungsweise in der Nachfolge von Caillois erweiterten Kriterienkatalog des Spiels zurückgegriffen, der dann in Bezug auf eine konkrete narrative Hervorbringung (Film, Roman) auf seine Erfüllung hin überprüft wird. Probleme tauchen hierbei häufig aufgrund der Tatsache auf, dass versucht wird, die Kriterien des Spiels eins zu eins auf das narrative Medienangebot zu übertragen und Aspekte wie Regelhaftigkeit oder – und das deutet sich ja bereits in oben geleisteter Ausführung der Grundpositionen der N/L-Debatte an – Interaktivität sich eben häufig einer direkten Übertragung verweigern. Die andere bei Durchsicht der Forschungsliteratur zu erkennende Variante der Anwendung des Spielhaften auf narrative Medienangebote ist der Ansatz, Spiel als übergreifende Struktur des Narrativen zu begreifen, es also beispielsweise als ‚Medium‘, ‚Muster‘ oder ‚Metapher‘ zu konzipieren. Diese Ansätze 62 T. Wetzel: Spiel, S. 577. 63 T. Wetzel: Spiel, S. 577. 64 Anz und Kaulen legen eine ähnlich geartete Strukturierung für das Forschungsfeld von Spiel und Literatur vor: „Nach der einen Bedeutungsvariante ist Literatur ein Spiel innerhalb der Menge aller Spiele oder bestimmter Spielarten, nach der anderen ist Literatur kein Spiel, hat aber einige Ähnlichkeiten mit diversen Spielen. Im Sinne der zweiten Bedeutungsvariante können Spiele als Metaphern, Analoga oder Modelle bei Untersuchungen zu literarischen Kommunikationsprozessen dienen.“ Anz, Thomas/Kaulen, Heinrich: „Einleitung. Vom Nutzen und Nachteil des Spielbegriffs für die Wissenschaften“, in: Thomas Anz/Heinrich Kaulen (Hg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin: de Gruyter 2009, S. 1-8, hier S. 1.
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sind oftmals deshalb problematisch, da Spiel eben nicht als hierarchisch über Narration stehend gedacht werden kann, weil sich im Spiel – wie ja beispielsweise Schuhmacher und Korbel herausgestellt haben – immer auch mehr oder weniger ausgeprägte narrative Momente verwirklichen und vice versa.65 Forschungsansätze, die Narration als Spiel zu begreifen suchen, tun dies in der überwiegenden Zahl der Fälle, um Antworten auf spezifische Fragestellungen zur Rezeption von Erzählungen zu geben. In einigen Ansätzen wird darüber hinaus auch das Spielhafte an der Produktion von Narration in den Blick genommen.66 Beschäftigt man sich mit den Übertragungswegen des Spielbegriffs auf die Ausprägungen von Narration, so lässt sich feststellen, dass man hier theoretisch bereits bei den Anfängen der Beschäftigung mit Literatur und Ästhetik ansetzen kann.67 Schon in der Antike finden sich bei Platon und Aristoteles erste Bezugnahmen auf die Verbindung von Spiel und Kunst.68 Laut Anz kennzeichnen auch historische Wortbildungen wie „Wortspiel, Schauspiel (Drama), Lustspiel (Komödie) oder Trauerspiel (Tragödie) […] die Affinität von Literatur und Spiel [Herv. i. O.]“69, wobei er es hier versäumt, auf den doch so offensichtlich damit angesprochenen Aspekt des Performativen einzugehen, der offenbar zu einem der Kernelemente des Spielhaften zählt, worauf auch Erika Fischer-Lichte und Gertrud Lehnert hinweisen.70 Zur Entwicklung einer in der Antike ansetzenden und dann vor allem über Kant, Schiller, Nietzsche, Derrida fortgeführten philosophischen beziehungsweise ästhetischen Spieltheorie liegen zahlreiche Zusam65 So plädiert etwa auch Henriette Heidbrink dafür, Spiel und Narration „nicht als Gegensätze sondern als tendenzielle Formungen von Medienprodukten zu verstehen“. Heidbrink, Henriette: „Wie der Sinn über die Runden kommt. Zu den Grenzen der Integration von Spielformen“, in: Rainer Leschke/Jochen Venus (Hg.), Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld: transcript 2007, S. 117-153, hier S. 119, Fußnote 15. 66 Zum Reichtum des Anwendungsfeldes der Übertragung von Spielkonzepten auf Literatur vgl. T. Anz/H. Kaulen: Einleitung, S. 7. 67 Anz und Kaulen stellen fest: „Die Geschichte der literaturtheoretischen Verwendung des Spiel-Begriffs ist so alt wie die Überlieferung der Literatur selbst.“ T. Anz/H. Kaulen: Einleitung, S. 5. 68 Vgl. T. Wetzel: Spiel, S. 581 f. Vgl. J. Stenzel: Begriffe des Aristoteles, S. 14 und S. 29. 69 T. Anz: Spiel, S. 470. 70 Vgl. Fischer-Lichte, Erika/Lehnert, Gertrud: „Einleitung“, in: Paragrana 11 (2002), S. 9-13.
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menfassungen und Erarbeitungen vor, exemplarisch sei hier auf die Dissertation Literarische Spieltheorie von Stefan Matuschek sowie den bereits erwähnten Lexikonartikel von Tanja Wetzel verwiesen.71 Aufgrund der sehr dichten Forschungslage soll auf die Entwicklungsgeschichte ästhetischer Spieltheorien an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, stattdessen sollen vor allem aktuelle literatur-, film- und theaterwissenschaftliche Überlegungen zu dieser Art von Übertragung im Mittelpunkt stehen. Der Literaturwissenschaftler Thomas Anz hat sich im deutschsprachigen Raum mit am eindringlichsten mit der Frage nach der Übertragbarkeit des Spielbegriffs auf literarische Narrative befasst und stellt zunächst generell fest, dass das Spiel als „eine freiwillige, von Realitätszwängen entlastete, meist durch Regeln wie durch Zufälle gelenkte Tätigkeit, die vorrangig durch das mit ihr verbundene Vergnügen motiviert ist“72 als „Aspekt künstlerischer und literarischer Tätigkeit, aber auch das für diese Tätigkeiten jeweils konstitutive Regelsystem“73 angesehen werden kann. Anz, der auch eine ausführliche Forschungsdiskussion zur Herstellung dieser Analogie führt, steht trotz festgestellter Gleichartigkeit einem simplen Verständnis von Literatur als Spiel eher kritisch gegenüber: So gibt er zu bedenken, dass nicht jede Art von Literatur mit jeder Art von Spiel gleichzusetzen ist und es daher eine Verpflichtung der jeweiligen Forschungsansätze sei, darzulegen, „welche Art von Literatur mit welcher Art von Spielen […] verglichen oder gleichgesetzt wird, welche semantischen Merkmale dabei hervorgehoben werden und was mit solchen Bedeutungsfestlegungen jeweils beabsichtigt ist“74. Zugleich macht er deutlich, dass es durchaus Aspekte des Spiels gibt, die sich nur mühsam und in bestimmten Fällen auf Literatur oder ihre Lektüre übertragen lassen wie beispielsweise das Moment der Regelhaftigkeit75: „Gattungsregeln als ‚Spielregeln‘ aufzufassen erscheint zwar plausibel, 71 Vgl. Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998. T. Wetzel: Spiel. Vgl. auch die Darstellung von Ruth Burke, die sich explizit mit Spieltheorien des 20. Jahrhunderts befasst: Burke, Ruth E.: The Game of Poetics. Ludic Criticism and Postmodern Fiction, New York 1994, S. 636. Eine umfangreiche Bibliografie zur Untersuchung des Spielelements in literarischen Texten beziehungsweise zu Konstruktionen von Texten als Spiel hat Marino vorgelegt: Marino, James A. G.: „An Annotated Bibliography of Play and Literature”, in: Canadian Review of Comparative Literature 12 (1985), S. 306-358. 72 T. Anz: Spiel, S. 469. 73 T. Anz: Spiel, S. 469. 74 T. Anz: Spiel, S. 469. 75 Zur Bedeutung von Regeln und Konventionen für Spiele und literarische Texte vgl. auch Wilson, Robert R.: „Rules/Conventions. Three Paradoxes in the Game/Text
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doch so bindend wie etwa die Regeln eines Schachspiels sind sie nicht.“76 Darüber hinaus verorten Thomas Anz und Heinrich Kaulen eine Ähnlichkeit zwischen Literatur und Spiel auch auf der Ebene der Diskurse über die beiden Phänomene: „Literatur gleicht anderen Spielen nicht zuletzt darin, dass die Theorien und Debatten über sie ganz ähnlichen Mustern unterliegen. Vor pathologischer Lesesucht wird gewarnt wie vor der Spielsucht. Umgekehrt werden sowohl dem Spiel als auch dem literarischen Schreiben und Lesen therapeutische Potenziale zugeschrieben. Die Vorlieben für spezifische Lesestoffe wie Spielarten werden unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten untersucht. Spiel und Literatur werden pädagogisch ‚wertvollen‘ Zwecken untergeordnet oder aber für autonom erklärt.“77
Für Hans-Jost Frey ist jeder Text aufgrund der grundsätzlich im Rahmen der individuellen Textrezeption gegebenen Offenheit mit dem Spiel in Zusammenhang zu bringen, wobei er den Nutzen einer solch allgemeinen Definition gleich wieder selbst infrage stellt: „Der Text mit Spielraum ist der Text, der Spielraum ist. Als solcher ermöglicht er verschiedene Versionen seiner selbst. Er ist nicht auf einen einzigen Vollzug festlegbar, sondern läßt sich auf mehrere Arten aktualisieren [Herv. i. O.].“78 Ausgehend von den beiden bei Huizinga zu findenden Funktionen des Spiels, nämlich Wettkampf und Darstellung, bestimmt Frey den „spielerischen Text“79 dann jedoch enger als einen Text, „der die Gegenrede in sich hereinnimmt, der also seiner eigenen Darstellung entgegenredet und somit gleichzeitig Repräsentation und Kampf ist […]“80. Und hier ist selbstverständlich direkt eine Verbindungslinie wiederum zur postmodernen Literatur zu ziehen, deren Merkmal der Metafiktionalität oftmals eben ein solches Moment der Gegenrede im Text verwirklicht.81 Analogy“, in: South Central Review 3 (1986), S. 15-27. Später überarbeitet und in einem breiteren Kontext veröffentlicht in Wilson, Robert R.: In Palamedes’ Shadow. Explorations in Play, Game, and Narrative Theory, Boston: Northeastern University Press 1990. 76 T. Anz: Literatur und Lust, S. 47. 77 T. Anz/H. Kaulen: Einleitung, S. 2 f. 78 H.-J. Frey: Der unendliche Text, S. 282. 79 H.-J. Frey: Der unendliche Text, S. 282. 80 H.-J. Frey: Der unendliche Text, S. 288. 81 Auf den Zusammenhang zwischen Freys Spiel-Text-Auseinandersetzung und den Merkmalen der Postmoderne weist schon Anz hin: Anz, Thomas: „Das Spiel ist aus? Zur Konjunktur und Verabschiedung des ‚postmodernen‘ Spielbegriffs“, in: Henk
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Zudem gibt es eine Reihe von Überlegungen, welche von einer grundlegenden Gemeinsamkeit von Spiel und filmischen Narrativen ausgehen: Hierbei wird – wie unter anderem im Beitrag von Jens Eder – auf das gemeinsame Merkmal der Fiktionalität und das Erzeugen einer fiktiven Welt rekurriert und Film als ein „Imaginationsspiel“82 begriffen. Nicht verneint wird damit – so auch Eder – dass es dennoch bestimmte filmische Narrative gibt, die im „spezifischeren Sinn ‚spielerisch‘“83 sind, und zwar indem „ihre Produktion oder Rezeption in besonderem Maß durch ein Spielverhalten der Filmemacher und Zuschauer geprägt ist“84. Hier bleibt die weitere Definition allerdings unbestimmt: So fällt für Eder (und viele andere) anscheinend unter den Begriff spielerisches Verhalten – so könnte man polemisieren – weitgehend jede Tätigkeit, die auf irgendeine Art und Weise mit Lust- und Freiheitsgewinn gekoppelt ist.85 Was bei der Anwendung des Spielbegriffs in Bezug auf die Beschreibung und Analyse filmischer Narrative zudem auffällt, ist, dass Vergleiche hier verstärkt zu den elektronischen Spielen angestellt werden, während es sich bei der Übertragung des Spielbegriffs auf literarische Narrative meist um Parallelisierungen zu analogen Spielen oder dem Spielhaften im Allgemeinen handelt. Rückführbar ist dieses Moment unter anderem auf die Tatsache, dass es sich bei Filmen und elektronischen Spielen um vergleichsweise junge und darüber hinaus in beiden Fällen um bildschirmabhängige Medien handelt, während Literatur und analoge Spiele von der visuellen elektronischen Präsentation unabhängig sind. Obgleich auf den ersten Blick nachvollziehbar ist, warum ein Vergleich zwischen filmischen Narrativen und elektronischen Spielen vielversprechender erscheint als die Bezugnahme auf analoge Spiele, lässt sich hier durchaus auch kritisch fragen, inwiefern die Ähnlichkeit der visuellen Präsentationen dazu führt, die Vergleiche ausgehend von diesen Ähnlichkeiten zu konstruieren und damit den Blick auf genuin spielhafte Momente eher zu verstellen. So zeigt sich etwa, dass bestimmte Merkmale, die seit jeher sowohl Spiele als auch NarratioHarbers (Hg.), Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: Eine Ästhetik des Widerstands?, Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi 2000, S. 15-34, hier S. 25 f. 82 Eder, Jens: „Spiel-Figuren. Computeranimierte Familienfilme und der Wandel von Figurenkonzeptionen im gegenwärtigen Kino“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 271-298, hier S. 272. 83 J. Eder: Spiel-Figuren, S. 273. 84 J. Eder: Spiel-Figuren, S. 273. 85 „Manche Filmemacher gehen kreativ, experimentell und innovativ mit etablierten Gestaltungskonventionen um; manche Filme fordern ihre Zuschauer zu freieren, stärker selbstbestimmten Rezeptionsformen heraus, eröffnen ihnen ein Spektrum möglicher Lesarten.“ J. Eder: Spiel-Figuren, S. 273.
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nen im Film strukturieren, wie etwa das Rundenprinzip, nun als typisch spielhaftes Element im Film begriffen und in den Analysen verstärkt aufgegriffen werden, während Aspekte der Interaktivität beispielsweise relativ häufig unberücksichtigt bleiben. An dieser Stelle ist es wichtig, auch auf die Kritik hinzuweisen, die sich im Rahmen der generellen Spiel-Text-Vergleiche an einer allzu unreflektierten Analogiebildung geregt hat. Hierbei geht es letztendlich um die Schlussfolgerung, dass eine solche Vorgehensweise letztlich nur dann aufschlussreich sein kann, wenn einer der Vergleichsbegriffe besser theoretisch durchdrungen ist als der jeweils andere und dann gerade daraus der Erkenntnisgewinn aus dieser Methodik resultiert. Infrage gestellt wird hierbei entsprechend, ob der so umfassend verwendete und so schwierig zu erfassende Spielbegriff wirklich nachweisbaren Erklärungswert für narrativ gerahmte Kommunikationssituationen bieten kann. So stellt auch James A. G. Marino in Bezug auf Suzanne Langer fest: „[…] identity between two items precludes exploring one to find out more about the other. If literature is play, play can tell us nothing about literary texts that we cannot find out by examining literary texts.“86 Auch Tilmann Köppe geht auf diese Problematik ein und verweist dazu auf den Unterschied zwischen einer Analogiebildung und einer Prädikation „(also ein Urteil der Form ‚Literarische Texte sind Spiele‘)“87, wobei er sich dezidiert gegen den Einsatz letzterer ausspricht: „[…] denn erstens ist die bloße Bezeichnung von einem als etwas noch keine Erklärung, und zweitens steht zu vermuten, dass auf diese Weise offensichtliche Unterschiede zwischen Spielen und fiktionalen literarischen Texten verdeckt werden.“88 Dagegen hält Köppe es aber für eine legitime Strategie über ein „tertium comparationis“89 Analogien zwischen Spiel und fiktionalem Text herzustellen: „Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich anhand einer partiellen Merkmalsgleichheit beider Begriffe weitere Übereinstimmungen entdecken lassen.“90 Eine in der Forschungsliteratur verbreitete Vorgehensweise, um den dargestellten Problematiken von simpler Analogiebildung zwischen Spiel und Narration zu entkommen, ist eine Strukturierung des Themenfeldes, wie sie unter an86 J. A. G. Marino: An Annotated Bibliography of Play and Literature, S. 309. 87 Köppe, Tilmann: „Fiktion, Praxis, Spiel. Was leistet der Spielbegriff bei der Klärung des Fiktionalitätsbegriffs?“, in: T. Anz/H. Kaulen, Literatur als Spiel (2009), S.39-56, hier S. 41. 88 T. Köppe: Fiktion, Praxis, Spiel, S. 41. 89 T. Köppe: Fiktion, Praxis, Spiel, S. 40. 90 T. Köppe: Fiktion, Praxis, Spiel, S. 40.
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derem Robert Detweiler anhand der angloamerikanischen Postmoderne nachzuweisen sucht. Er unterscheidet drei Kategorien von Text-Spiel-Beziehungen, wobei er diese jeweils mit den unter anderem von Johan Huizinga und Roger Caillois übernommenen Spielkategorien Agon, Mimikry und Alea zusammenbringt: „[…] fiction as game with the reader, fiction containing games, and playful fiction.“91 Zur ersten Kategorie gehören entsprechend beispielsweise Puzzleaufgaben, welche der Leser zum lustvollen Verständnis der Lektüre lösen muss. Zur zweiten Kategorie gehören Spiele, die in den Texten dargestellt werden, worunter auch Sportspiele fallen. Unter der dritten Kategorie versucht Detweiler zu erfassen, was sich eigentlich nicht so richtig fassen lässt. Es geht hierbei im Grunde um eine Art von Literatur, die verschiedene Arten des uneigentlichen Sprechens (Ironie, Übertreibung) enthält: „[…] playful or whimsical fiction, writing that is based on exuberance and exaggeration, that appears spontaneous and casually composed (even though it is not), that is usually funny […].“92 Eine ähnlich geartete Strukturierung nimmt Ronald E. Foust vor, der insgesamt vier spielhafte Kategorien narrativer Hervorbringungen unterscheidet: Unter „synecdochical game [Herv. i. O.]“93 versteht er Spiele, die im Text thematisiert werden, wie beispielsweise die Schachspiele in Bram Stokers Dracula oder das Croquet-Spiel und die zahlreichen Rätsel, die in Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland vorkommen. Hierbei kritisch zu sehen ist, dass Foust bei der Benennung von Handlungen als spielhaft keinen Unterschied zwischen der Ebene der dargestellten Welt und der Ebene der Darstellung macht: So versteht er sowohl Fausts Ringen mit Mephistopheles als auch den von Shakespeares wiederholt eingesetzten Gebrauch des Schauspiels als einer Metapher für menschliche Erfahrungen als spielhaft, zudem ohne genau zu definieren, inwiefern hier tatsächlich Spiel verwirklicht wird.94 Mit der zweiten Variante des literarischen Spiels, dem „structural game [Herv. i. O.]“95, will Foust den Konflikt im Narrativen erfassen, der vom Autor eingesetzt wird, um die Dramaturgie der Erzählung zu gestalten und in dem Leser den Wunsch zu wecken, zu erfahren, wie die Geschichte endet.96 Als dritte und vierte Variante benennt Foust das „lo91 Detweiler, Robert: „Games and Play in Modern American Fiction“, in: Contemporary Literature 17 (1976), S. 44-62, hier S. 61. 92 R. Detweiler: Games and Play, S. 48. 93 Foust, Ronald E.: „The Rules of the Game: A Para-Theory of Literary Theories”, in: South Central Review 3 (1986), S. 7. 94 Vgl. R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 8. 95 R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 8. 96 Vgl. R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 8.
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gos game [Herv. i. O.]“97, das als Wortspiel beziehungsweise Intertextualitätsspiel verstanden werden kann, und das „anagogic game [Herv. i. O.]“98, das die Kooperation und den Wettkampf des Autors mit dem Leser bei der Konstruktion und Rekonstruktion der Erzählung beschreibt und das Spiel damit auf einer Metaebene der Narration verortet.99 Über Nutzung von Medienspielen – Spiele der Mediennutzer geht es im 2004 erschienenen Sammelband von Patrick Rössler, Helmut Scherer und Daniela Schlütz, der die Ergebnisse einer Tagung der Fachgruppe Rezeptionsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaften festhält, deren Anliegen es war, „erste Anstöße für eine systematische Analyse der Beziehung von Medien und Spiel zu geben“100. Der Einleitungstext gibt einen umfassenden Überblick über den – wie die Autoren belegen können – noch relativ wenig beachteten Forschungsgegenstand der sogenannten Medienspiele.101 Mit diesem Begriff werden von den Autoren vier verschiedene Varianten der Kombination von Medien und Spiel erfasst: „Spiele als Medieninhalt“, „Medieninhalte als Spiel“, „Spielerische Medienrezeption“ und „Medien als Spielgerät“.102 Dabei lässt allerdings nur eine Variante, nämlich die spielerische Medienrezeption, im Grunde auch eine Erfassung des Spielcharakters narrativer Medienangebote zu, während es bei der für diesen Sammelband offensichtlich relevantesten Kategorie, der Spiele als Medieninhalt, vor allem um die Kategorisierung und Untersuchung von Fernseh-Game-Shows103 und die Übertragungen von Fußballspielen104 geht. Was die jeweiligen Untersuchungen des Spielhaften in filmischen Narrativen betrifft, so zeigt sich, dass tatsächlich in den wenigsten Fällen von einer tragfähi97
R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 9.
98
R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 9.
99
Vgl. R. E. Foust: The Rules of the Game, S. 9.
100 Scherer, Helmut/Schlütz, Daniela/Rössler, Patrick: „Medienspiele als Forschungsfeld“, in: Patrick Rössler/Helmut Scherer/Daniela Schlütz (Hg.), Nutzung von Medienspielen – Spiele der Mediennutzer, München: Reinhard Fischer 2004, S. 9-39, hier S. 9. 101 Vgl. H. Scherer/D. Schlütz/P. Rössler: Medienspiele als Forschungsfeld, S. 11. 102 H. Scherer/D. Schlütz/P. Rössler: Medienspiele als Forschungsfeld, S. 9 ff. Herv. i. O. 103 Vgl. die Beiträge von Eggo Müller und Anna-Laura Sylvester/Sabine Trepte/Helmut Scherer. 104 Vgl. die Beiträge von Volker Gehrau/Rene Weber und Reimar Zeh/Maike MüllerKlier.
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gen Definition des Spiels oder des Spielhaften ausgegangen wird, vielmehr finden auch hier nur individuelle Strukturierungen des Forschungsfeldes statt, bei denen Bereiche unterteilt werden, in welchen sich Spiel und filmische Narrative jeweils unterschiedlich zueinander verhalten. Dabei wird oftmals differenziert zwischen Spiel als Inhalt und Spiel als Form der filmischen Erzählung105, wie beispielsweise Jahn-Sudmann vorschlägt, der auf der einen Seite Filme unterscheidet, die „eine Ähnlichkeitsbeziehung zu digitalen Spielen aufweisen“106 und auf der anderen Seite Filme, die „spielerisch mit Bedeutungen umgehen“107. Der Notwendigkeit einer konkreten Definition des Spielhaften entgeht man vermeintlich auch dadurch, dass von einer Übertragung ‚nur‘ einzelner Spielaspekte auf filmische Narrative gesprochen wird. So spielt etwa in den Beiträgen des von Leschke und Venus herausgegebenen Sammelbandes bevorzugt das Auffinden von spielhaften Aspekten wie etwa „Game-Over-RestartKonfigurationen“108, Portalen109 oder Bullet-Time-Momenten110 in den narrativen Hervorbringungen eine Rolle. Problematisch hierbei ist, dass mehr oder we105 Eine Unterscheidung in diese Richtung trifft auch Stiglegger, Marcus: „Prometheischer Impuls und Digitale Revolution? Kino, Interaktivität und Reißbrettwelten“, in: R. Leschke/J. Venus. Spielformen im Spielfilm (2007), S. 103-116, S. 103. 106 Jahn-Sudmann, Andreas: „Spiel-Filme und das postklassische/postmoderne (Hollywood-)Kino: Zwei Paradigmen“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 155-178, hier S. 155. 107 A. Jahn-Sudmann: Spiel-Filme, S. 155. 108 Liebrand, Claudia: „‚Here, we’ll start all over again‘ – Game Over und Restart in Screwball Comedies mit dem Fokus auf Preston Sturgesʼ Unfaithfully Yours“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 21-40, hier S. 23. 109 Rainer Leschke macht in seinem Beitrag auf die Integration von sogenannten ‚narrativen Portalen‘ in vormals herkömmlich strukturierte Erzählungen aufmerksam: „Narrative Portale implementieren relativ offene, aber keineswegs unbegrenzte Entscheidungssituationen, wie sie in interaktiven Medienangeboten gegeben sind, in narrative Umgebungen. […] In Erzählungen sind narrative Portale zunächst einmal Orte, Umgebungen und Konstellationen, die den Zufall und damit Wahlmöglichkeiten plausibilisieren.“ Leschke, Rainer: „Narrative Portale. Die Wechselfälle der Verzweigung und die Spiele des Erzählens“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 197-224, hier S. 200. 110 Laut Jens Meinrenken „behauptet die Bullet Time einen Moment der totalen Beherrschbarkeit des simulierten Geschehens, in der Zeit, Raum und Bewegung dem Einfluss des Spielers unterliegen [Herv. i. O.]“. Meinrenken, Jens: „Bullet Time & Co. Steuerungsutopien von Computerspielen und Filmen als raumzeitliche Fiktion“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 239-270, hier S. 245.
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niger selbstverständlich von einer Herkunft dieser Aspekte aus dem Spielbereich ausgegangen und diese daher nicht mehr explizit nachgewiesen wird. Die hiermit verbundene Schwierigkeit fällt umso deutlicher auf, wenn man statt von einer ‚Game-Over-Restart-Konfiguration‘ wie Henriette Heidbrink von Wiederholungen und Dopplungen spricht: „Die ‚Wiederholung‘ in Form von Runden, Zügen, Restarts ist ein wohlbekanntes Prinzip des Spiels.“111 Bei dieser – sicher teilweise korrekten – Zuordnung wird aber zu wenig Gewicht auf die Tatsache gelegt, dass die Wiederholung immer schon ein beliebtes Prinzip des Narrativen war, worauf unter anderem auch Jahn-Sudmann verweist.112 Ein anderer Vorschlag betrifft die Unterscheidung, wie komplett die Übernahme des Spielhaften in das filmische Narrativ erfolgt. So grenzt unter anderem etwa Henriette Heidbrink „die partielle Integration einfach reflektierter Formen von der strukturellen Integration von Spielformen [Herv. i. O.]“113 ab: „In den ersten Bereich fallen abgrenzbare Elemente, bspw. Zitate, Selbst- und Fremdreferenzen sowie der Einsatz bekannter Stereotype, mit denen sich Filme additiv anreichern lassen. In den zweiten Bereich gehört der intermediale Transfer von Formen, die strukturellen Einfluss auf das gesamte Medienprodukt nehmen, bspw. narrative ‚Restarts‘ oder Portalkonstruktionen.“114
111 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 123. 112 „Spieltypische Merkmale wie Time-Out-Verfahren, Wettkampfsituationen, Rundenprinzip, Levelstrukturen gehörten bereits, in unterschiedlicher Ausprägung, zum narrativen Repertoire etwa des klassischen Hollywoodkinos […].“ A. Jahn-Sudmann: Spiel-Filme, S. 164. Für Jürgen Sorg ist das Spielhafte „konstitutiver Bestandteil des Action-Kinos“. Sorg, Jürgen: „Enter the Games of Death. Zu Form, Rezeption und Funktion der Kampfhandlung im Martial Arts Film“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 331-366, hier S. 333. Im Vergleich dazu schlägt Rainer Leschke in Bezug auf die Integration von Portalsituationen vor, diese zwar nicht generell als außergewöhnlich für narrativ gerahmte Kommunikationssituationen zu klassifizieren, jedoch die Art ihres Einsatzes als hervorstechend zu betonen, indem sie nämlich nicht als einzelne Elemente auftreten, sondern „zum konstruktiven Prinzip“ der Erzählung werden. R. Leschke: Narrative Portale, S. 201. Jochen Venus hebt den „strategischen Charakter“ der Spielintegrationen im postmodernen Film im Vergleich zur filmgeschichtlich begründeten Nutzung von Spielelementen als Attraktionen hervor. Venus, Jochen: „Teamspirit. Zur Morphologie der Gruppenfigur“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 299-327, hier S. 301. 113 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 118. 114 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 118.
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Nicht uninteressant an diesen Auseinandersetzungen rund um die Integration des Spielhaften in filmische Narrative erscheint die Tatsache, dass auch hier wieder von einer Art Konkurrenzsituation zwischen dem spielhaften und dem narrativen Moment ausgegangen wird. So vertritt zum Beispiel Heidbrink die These, dass die Kohärenz der im Spielfilm erzählten Welt durch die Integration von Spielformen tendenziell gefährdet sei, weshalb vonseiten der Produktion mit dem Einsatz von spielhaften Elementen mit Bedacht verfahren werden sollte.115 Als problematisch an Heidbrinks Überlegungen kann allerdings angesehen werden, so zumindest legt es die Struktur ihrer Ausführung nahe, dass sie die spielhaften Momente als vorwiegend kognitive Herausforderung an den Rezipienten begreift, das Verfolgen der filmischen Narration hingegen als hauptsächlich emotionale Aufgabe: „Rezeptive Energie ist stets begrenzt, daher stehen emotionale und kognitive Rezeptionsanteile in einem Konkurrenzverhältnis zueinander: Erhöhter kognitiver Aufwand mindert die Hingabe an den emotionalen Prozess und emotionales Involvement schränkt die Energie für kognitive Operationen ein. Die Dominanz des Spielfaktors im Verhältnis zu kompensatorischen Strategien bestimmt also, wie viel Energie für eine genuin erzählerische, auf komplexe intranarrative Zusammenhänge gerichtete Rezeption übrig bleibt.“116
Unberücksichtigt bleibt dabei, dass selbstverständlich auch die Beschäftigung mit Spielformen emotionale Energien freisetzt117 (beispielsweise die Freude darüber, ein bestimmtes Spielprinzip verstanden zu haben) und dass die Rezeption von Narrationen hohen kognitiven Einsatz erfordert: So findet ja beispielsweise die Rekonstruktion der Motivation des Protagonisten nicht – wie von Heidbrink dargestellt – ausschließlich auf empathischer Ebene statt, sondern verlangt unter anderem auch Vergleiche mit Figurenkonstruktionen in ähnlichen Filmen. Im Übrigen ist die Annahme einer wie auch immer gearteten Trennung zwischen den emotionalen und kognitiven Anteilen des Rezeptionsprozesses wenig zielführend, da die Prozesse tatsächlich beinahe undifferenzierbar miteinander verquickt sind. So sind beispielsweise Stärke und Richtung der Aufmerksamkeit gegenüber einem Medieninhalt grundsätzlich auch an emotionale Bedingungen 115 Vgl. H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 120. 116 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 148. 117 Vgl. zur Vielfalt emotionaler Aspekte im Computerspiel: Brincken, Jörg von/Konietzny, Horst: „Emotional Gaming – Gefühlsdimensionen der Video Game Culture“, in: J. von Brincken/H. Konietzky: Emotional Gaming (2012), S. 9-43. Zu einer aus der Verbindung von Spiel und Narration entstehenden Emotionalität vgl. H.-J. Backe: Mit Gefühlen spielen.
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gebunden und auch die Funktionsweisen des Gedächtnisses von emotionalen Einflüssen abhängig. Emotionen fungieren in der Medienrezeption sozusagen als Türöffner für bestimmte Inhalte. In diesem Sinne beschreibt Ciompi Affekte als „Pforten oder Schleusen, die je nach Stimmung und Kontext bestimmte Gedächtnisspeicher aufschließen und andere wegsperren“.118 Nichtsdestotrotz betont Heidbrink mit ihren Überlegungen einen Aspekt des Spielhaften, der auch im folgenden Kapitel zur besonderen Konfiguration des Fiktionalen im Spiel nochmals aufgegriffen werden soll: Es handelt sich dabei um die Annahme, dass es im Spielprozess in besonderer Weise möglich – ja eigentlich zur Durchführung des Spiels sogar nötig – ist, auf einer Art Metaebene, das Konstruktionsprinzip des Spiels und den eigenen Spielprozess zu beobachten und zwar während das Spiel in vollem Gange ist: „Konstruktions- und Kombinationsspiele lenken den Blick auf die Konstruiertheit der Erzählung und sorgen dafür, dass dem Publikum die Gemachtheit und damit die prinzipielle Beliebigkeit des narrativen Geschehens bewusst wird.“119 Doch nicht nur bei Heidbrink tritt das Spiel in Konkurrenz zur Narration, auch in mehreren anderen Forschungsansätzen wird auf ein irgendwie geartetes Ungleichgewicht bei der Integration von Spielmomenten in filmische Narrative verwiesen.120 Häufig wird hierbei vergleichend Bezug auf die Überlegungen des Filmhistorikers Tom Gunning genommen, der den Begriff eines „Kino[s] der Attraktionen“121 für das frühe Kino vor 1906/07 entwickelt hat: Gunning unterscheidet in seinem gleichnamigen Aufsatz zwischen Filmen, die vorwiegend um die Inszenierung von Spektakeln bemüht sind, und Filmen, die darauf aus sind, eine Geschichte zu erzählen, also das Narrative in den Mittelpunkt stellen. Erwähnenswert ist, dass Gunning selbst für das frühe Kino nicht von einer absolut trennscharfen Unterscheidung ausgeht, was die Erfüllung des einen oder anderen
118 Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Goettingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 97. Vgl. hierzu auch Schmidt, Siegfried J.: „Medien und Emotionen: Zum Management von Bezugnahmen“, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Medien und Emotionen, Münster: Lit 2005, S. 11-39. Vgl. hierzu ebenso einschlägige Theorien zur mentalen Repräsentation von Strukturen, die jeweils auch emotional markiert erscheinen: Lakoff, George/Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg: Carl Auer 1997. P. N. Johnson-Laird: Mental Models. 119 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 148. 120 Vgl. unter anderem J. Venus: Teamspirit, S. 303. 121 Gunning, Tom: „Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde“, in: Meteor 4 (1996) [1990], S. 25-34.
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Kriteriums betrifft.122 Dennoch formuliert er eine Art Konkurrenzsituation zwischen Attraktion und Narration: „Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang gegeben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oder Überraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Erschaffen eines diegetischen Universums.“123 Parallel zu Gunnings Argumentation wird in den aktuellen Forschungsansätzen das Spiel als eine eben solche Attraktion begriffen, die eine stringente Narration überflüssig oder kompensierbar erscheinen lässt.124 Dabei wird sowohl die ‚Bedrohung‘ der klassischen Erzählung durch die Integration von Spielformen125 thematisiert, wie auch ein Gewinn formuliert, der durch die kluge Kombination von Spiel und Erzählung entstehen kann. So sprechen beispielsweise Leschke und Venus – dabei dezidiert und nicht ganz unproblematisch von spezifischen Intentionen der Urheber ausgehend – von einer Aufwertung herkömmlicher narrativer Situationen durch Spielelemente: „Immer mehr Spielfilme realisieren ihren primären Rezeptionswert durch eine geglückte Kombination und Integration von Spielformen. Das versorgt noch bekannte Narrationsmuster mit Raffinement und wertet selbst standardisierte Plotstrukturen auf – mit unterschiedlichen Konsequenzen für die einzelnen Genres.“126
Zugleich bleibe – so Leschke und Venus – das narrative Moment dominant vorhanden: „Spielformen im Spielfilm machen den Spielfilm nicht zum Spiel.“127
122 So bietet die Erzählung des Méliès-Films Le Voyage dans la Lune (F 1902, Rg. George Méliès) – so Gunning – „nur den Rahmen für eine Demonstration der magischen Möglichkeiten des Kinos“. T. Gunning: Das Kino der Attraktionen, S. 28. 123 T. Gunning: Das Kino der Attraktionen, S. 29 f. 124 Auf die nur geringe Aussagekraft einer solchen Bezugnahme auf Gunnings ‚Kino der Attraktionen‘ zur Erklärung postmoderner Momente im ansonsten doch nach wie vor recht klassisch angelegten Erzählkino verweist A. Jahn-Sudmann: SpielFilme, S. 162. 125 So etwa Stiglegger, der in dem Einsatz einer „Stationendramaturgie […] einen langsamen Niedergang der Finessen amerikanischer Filmdramaturgie im verzweifelten Versuch, am Puls der Zeit zu bleiben“ sieht. M. Stiglegger: Prometheischer Impuls, S. 114. 126 Leschke, Rainer/Venus, Jochen: „Spiele und Formen. Zur Einführung in diesen Band“, in: R. Leschke/J. Venus (Hg.), Spielformen im Spielfilm (2007), S. 7-18, hier S. 8. 127 R. Leschke/J. Venus: Spiele und Formen, S. 8.
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Über alle Beiträge hinweg zeigt sich, dass ein Vorteil der Strategie, das Spielhafte schlicht als Attraktion in Konkurrenz zum Narrativen zu konstruieren wohl darin besteht, dass das Spielhafte als solches dann gar keiner eigenen, eindeutigen Definition mehr bedarf. Dass dies zwar eine in den Forschungsansätzen verbreitete, aber auch kritisch zu sehende Taktik ist, mahnen Peter Ohler und Gerhild Nieding in ihrem Beitrag zur Antizipation und Spieltätigkeit bei der Rezeption narrativer Filme an, in welchem sie sich dafür einsetzen, „jeden metaphorischen Gebrauch des Spielbegriffs zu vermeiden und stattdessen eine möglichst starke, naturwissenschaftlich orientierte Spielpsychologie heranzuziehen, um diese dann für andere Bereiche fruchtbar zu machen, sei es für präzise gefasste kognitive Rezeptionsprozesse oder sei es für präzise beschriebene Kunstprozesse […]“128.
Eine weitere in der Forschung verbreitete Strategie Narration und Spiel in Zusammenhang zu bringen, ist, die Rezeption narrativer Hervorbringungen als ein Spiel zu begreifen, wie dies unter anderem Volker Bohn vorschlägt.129 Als Belege für eine solchen Analogie nennt Bohn unter anderem die Tatsachen, dass der Leser in der Lektüre stets gefordert ist, die gegebene fiktive Welt als gerade aktuelle anzuerkennen („das Moment der bewußten Selbsttäuschung“130), dass die Lektüre ihren Zweck in sich selbst hat („die Frage nach dem Ergebnis [ist] mindestens zweitrangig“131) und dass sich der Leser an bestimmte Regeln, an ein bestimmtes Prozedere halten muss, wenn er will, dass die Lektüre gelingt („geforderte freiwillige Disziplinierung“132). Auf einer sehr viel allgemeineren Ebene begreift Brandes Rezeption als Spiel, indem er nämlich den Leseprozess als die Generierung von Bedeutung „im Sinne eines hermeneutischen Prozesses“133 als Spiel versteht. Mit der Frage danach, inwiefern die Rezeption narrativer Hervorbringungen als Spiel begriffen werden kann, geht häufig auch die Zuschreibung von bestimmten Funktionen einher, die sowohl das Spiel als auch die Rezeption narra128 Ohler, Peter/Nieding, Gerhild: „Antizipation und Spieltätigkeit bei der Rezeption narrativer Filme“, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 42 (2001), S. 1330, hier S. 28. 129 Vgl. Bohn, Volker: „Lektüre als Spiel“, in: Neue Rundschau 95 (1984), S. 20-34. 130 V. Bohn: Lektüre als Spiel, S. 31. 131 V. Bohn: Lektüre als Spiel, S. 31. 132 V. Bohn: Lektüre als Spiel, S. 31. 133 Brandes, Peter: „Das Spiel der Bedeutungen im Prozess der Lektüre. Überlegungen zur Möglichkeit einer Literaturtheorie des Spiels“, in: T. Anz/H. Kaulen, Literatur als Spiel (2009), S.115-134, hier S. 128.
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tiver Hervorbringungen erfüllen können. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang evolutionspsychologische Begründungen, welche sowohl Spielhandlungen als auch Rezeptionshandlungen den Nutzen eines konsequenzverminderten Probehandelns zur Einübung bestimmter Aktionen zuschreiben.134 Ohler und Nieding heben entsprechend in ihrem Versuch, Antizipationsprozesse des Rezipienten bei der Wahrnehmung von Narration mittels des Konstrukts eines „spielerischen Denkmodus“135 zu erklären, auf spielpsychologische Begründungen ab, die das Vermögen zum Spiel als evolutionär selektierten Überlebensvorteil begreifen, da es das Subjekt dazu befähigt, Varianten von Handlungen und Reaktionen vorab mental durchzuspielen.136 Auch wenn das von Ohler und Nieding vorgeschlagene Modell im fünften Kapitel dieses Buches als Plausibilisierungsansatz zur paradoxen Wahrnehmung der entgrenzten Figuren wichtig werden wird, so gilt es doch an dieser Stelle anzumerken, dass mit evolutionspsychologisch orientierten Ansätzen zum Spiel ebenso vorsichtig umzugehen ist, wie mit dem bei Ohler und Nieding kritisierten ‚metaphorischen Gebrauch des Spielbegriffs‘. Auch evolutionsbiologisch und psychologisch basierte Annahmen beruhen letztendlich auf meist introspektiv konstruierten Ableitungen und der Rekonstruktion von Bedeutungen, die bei aller Plausibilität auch nicht abgesicherter sind als eine intuitive Ableitung des Spielbegriffs aus dem persönlichen Erlebniszusammenhang. Eine bedeutende Rolle nimmt der Spielbegriff in den Diskursen rund um die europäische und angloamerikanische Postmoderne ein.137 Hierbei spielen in Bezug literarische Hervorbringungen vor allem Produktelemente wie etwa Selbstrefle134 Vgl. Eibl, Karl: „Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Ein evolutionsbiologischer Zugang“, in: T.Anz/H. Kaulen, Literatur als Spiel (2009), S. 11-25. Zur diesen Text überspannenden Kulturtheorie vgl. Eibl, Karl: Animal Poeta. Bausteine einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn: mentis 2004. Vgl. zudem auch Mellmann, Katja: Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Paderborn: mentis 2006, S. 69. Vgl. zum evolutionspsychologischen Zugang zu Spielhandlungen: Boulton, Michael J./Smith, Peter K.: „The Social Nature of Play Fighting and Play Chasing: Mechanism and Strategies Underlying Cooperation and Compromise“, in: Jerome H. Barkow/Leda Cosmides/John Tooby (Hg.), The Adapted Mind. Evolutionary Psychology and the Generation of Culture, New York/Oxford: Oxford University Press 1992, S. 429-444. 135 P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 23. 136 Vgl. P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 23. 137 Vgl. dazu T. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 22.
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xivität der Fiktion (Stichworte: Metafiktionalität oder auch „Surfiction“138) und Intertextualität eine sehr große Rolle. Anz benennt seinerseits sechs Aspekte, welche den Spielbegriff für die Postmoderne anziehend gemacht hätten: Neben einer „Befreiung vom Zwang“, welche im „pluralen Nebeneinander“ von literarischen Formen münde, und dem „Merkmal der ‚Offenheit‘, vor allem im Sinne einer Mehrdeutigkeit der Texte umgesetzt, werden als weitere zentrale Attraktionen des Spiels „Anspielungen“, „Lust“, „Simulation“ sowie der Aspekt der Interaktivität genannt.139 Vor allem der zuletzt genannte Aspekt wird im Kontext des Forschungsdiskurses zur Postmoderne gerne dazu genutzt, sowohl Autor als auch Leser als „Mitspieler“140 zu konstruieren und so in eine Unmittelbarkeit suggerierende Beziehung zueinander zu setzen. So wird etwa die Implementation eines intertextuellen Verweisungsspiels auf der einen Seite als Spiel des Autors gesehen, der sich – frei von Zwängen – bei verschiedenen Genres und Epochen bedienen kann, das Umgehen damit wiederum wird als Spiel des Lesers konstruiert, der daraus „zusätzlichen Lustgewinn“141 zieht.142 Ruth E. Burke hebt in ihrer Theorie des Spiels als literaturästhetisches Phänomen der Postmoderne in besonderer Weise auf den Standpunkt des aktiven Rezipienten ab und beschreibt ihn als einen Spieler, der sich das literarische Werk in einem spielerischen Akt selbst ‚neu‘ zusammensetzt: „That is, the work of fiction is not presented as a fait accompli, but as a kaleidoscopic artifice from which the reader can choose to construct a number of patterns of equal value by [1] rearranging the pieces given and/or [2] supplying missing pieces hinted and/or [3] filling the lacunae with pieces from his own repertoire. At any rate, it means that the reader no longer stands in parasitic relationship to the text, but must work as vigorously as the writer to produce a text [...] [Herv. i. O.].“143
138 Federman, Raymond: „Surfiction – Four Propositions in Form of an Introduction“, in: Raymond Federman (Hg.), Surfiction. Fiction Now… and Tomorrow, Chicago: The Swallow Press 1975, S. 5-18, S. 7. 139 T. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 23 ff. 140 T. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 26. 141 T. Anz: Das Spiel ist aus?, S. 31. 142 Vgl. dazu unter anderem Claas, Dietmar: „Entgrenztes Spiel: Zum Spielbegriff in der postmodernen amerikanischen Literatur“, in: Gerhard Hoffmann (Hg.), Der zeitgenössische amerikanische Roman: Von der Moderne zur Postmoderne. Band 1: Elemente und Perspektiven, München: Wilhelm Fink 1988, S. 364-378. 143 R.E. Burke: The Games of Poetics, S. 53.
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In Abgrenzung von der Anwendung einer Theorie des Spielhaften (im Sinne des englischen play), wie sie für die bisherigen Ausführungen kennzeichnend war, ist auch mehrfach versucht worden, eine Spieltheorie (im Sinne des englischen game) beziehungsweise auch in Anlehnung an die in den vor allem mathematisch geprägten Naturwissenschaften vorhandene Konzeption einer Spieltheorie auf literarische Narrative anzuwenden.144 Der Unterschied zwischen den Begriffen play und game ist, dass ersterer generell das Moment des Spielhaften bezeichnet, während sich der zweite auf bestimmte konkrete Ausprägungen von Spiel (zum Beispiel Schach) bezieht.145 Steven D. Scott, der für eine Anwendung des Game-Konzepts auf die literarische Postmoderne plädiert, schreibt den Aktivitäten des play zudem eine „anarchic, possibly violent, free, and freeing acitivity“146 zu, die eben nicht kennzeichnend für das game „with its rules and precisions“147 sei. Im Vergleich also zum weniger strikt geregelten play besteht im game die Notwendigkeit, dass es ein Spielziel gibt, dem der Spieler näher kommen kann, es muss also die Chance zu gewinnen oder verlieren geben, womit freilich auch eine mehr oder weniger explizite Aufforderung an den Spieler ergeht, dem Gewinnen entgegenzustreben.148 Nun besteht genau darin das Problem, will man literarische Narrative als game verstehen, denn das Lesen eines Romans hat, worauf auch Scott hinweist, bei allen wie auch immer damit verbundenen Resultaten doch im Kern nur sich selbst zum Ziel:
144 Vgl. hierzu unter anderem die Arbeiten von De Ley, Herbert: „The Name of the Game: Applying Game Theory in Literature”, in: SubStance 17 (1988), S. 33-46 und Füger, Wilhelm: „Literatur und Spieltheorie: Erprobung eines ungenutzten Interpretationsmodells“, in: Jörg Hasler (Hg.), Anglistentag 1981. Vorträge, Frankfurt a. M./Bern: Peter Lang 1983, S. 152-169. 145 „Die englische Sprache unterscheidet […] zwischen to play als Tätigkeit und Ablauf einerseits und game als dem Regelgebilde andererseits (auch dort hat sich allerdings daneben noch die verbalisierte Partizipialbildung gaming eingebürgert für das Ausüben von Regelspielen, während to play demgegenüber mehr die freien spielhaften Abläufe akzentuiert, die es innerhalb wie außerhalb von game geben kann) [Herv. i. O.].“ Scheuerl, Hans: „Zur Begriffsbestimmung von ‚Spiel‘ und ‚spielen‘“, in: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 341-349, hier S. 346 f. 146 S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 35. 147 S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 35. 148 Vgl. S. D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 40 f. Scott argumentiert hier unter anderem unter Bezugnahme auf Suits, Bernhard: The Grasshopper: Games, Life and Utopia, Toronto: University of Toronto Press 1990.
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„The prelusory goal of reading a novel is connected, of course, to various motivations for reading generally: escape; entertainment; relaxation; aesthetic bliss; the gathering for information; and so on. In short, the reading of a novel is usually done fundamentally for its own sake.“149
Auch ergibt es natürlich keinen Sinn eine Art ‚richtiges‘ Lesen im Sinne einer Rekonstruktion der Autorintention als Gewinnen des Spiels anzusehen, müsste man hierbei doch davon ausgehen, dass es jeweils immer nur eine gültige Art und Weise gibt, beispielsweise einen Roman zu verstehen. Scott schlägt einen etwas zweifelhaften Umgang mit diesem Problem vor, indem er die Frage nach dem ‚richtigen‘ Lesen auf eine Metaebene hebt und denjenigen Leser als Gewinner des Spiels betrachtet, welcher die ‚richtigen‘ Vorzeichen wählt, unter welchen postmoderne Literatur aufzufassen ist, wodurch natürlich die Annahme eines ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Umgangs mit den Texten nicht aufgehoben, sondern nur verschoben wird: „The rule is: when one is reading a postmodernist novel, one must know that one is doing so, and read ‚postmodernly.‘ That is, on one hand, one must read playfully, not expecting closure, not expecting traditional novelistic elements to be the primary mode of exposition; and, on the other, one must expect and look for the limits, the borders, the signs of the parameters of the discourse, and the limits of the fiction.“150
In Betrachtung der Forschungsansätze, die Spielaspekte mit filmischen Narrativen zusammendenken, fällt zunächst auf, dass auch hier im Wesentlichen der postmoderne beziehungsweise postklassische Film151, der im Mainstreamkino vor allem in den 1990er Jahren situiert wird, relevant zu sein scheint.152 So konstatieren etwa Leschke und Venus in diesen Kinoproduktionen einen „signifikanten Formwandel filmischen Erzählens“153, dem sie entsprechend seiner wahrgenommenen Relevanz ihren Sammelband widmen. Parallel zu den Übertragungswegen des Spielbegriffs in Bezug auf die Postmoderne in der Literatur werden auch bei den filmwissenschaftlichen Ansätzen 149 Steven D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 60. 150 Steven D. Scott: The Gamefulness of American Postmodernism, S. 60. 151 Zur Differenzierung zwischen den Begriffen ‚Postmoderne‘ und ‚Postklassik‘ vgl. auch Distelmeyer, Jan: „Die Tiefe der Oberfläche. Bewegungen auf dem Spielfeld des postklassischen Hollywood-Kinos“, in: Jens Eder (Hg.), Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, Hamburg: LIT 2008, S. 63-95. 152 Vgl. unter anderem H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 117. 153 R. Leschke/J. Venus: Spiele und Formen, S. 15.
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verstärkt Aspekte eines Spiels mit Bedeutungen, das heißt Momente der Intermedialität154, Intertextualität155, Selbst- und Metareferenz156 betont. In diesem Sinne konstruiert etwa Andreas Jahn-Sudmann ein sogenanntes „Intertextualitätsspiel des postmodernen Kinos“157 als ein „auf Vergnügen zielendes Spiel um Bedeutungen, Dekodierungen“158, an welchem der Zuschauer freiwillig teilnehmen kann. Zugleich gibt es offenbar filmische Narrative, denen das Spielhafte aufgrund ihrer Genrezugehörigkeit genuin immanent ist: Henriette Heidbrink macht in diesem Kontext etwa auf den sogenannten „Rätselfilm“159 aufmerksam, womit im Grunde „jeder Kriminal-, Thriller- oder Mysteryfilm“160 gemeint ist, der „die zentrale ‚Whodunnit?‘- oder ‚Whathappened?‘-Frage stellt und die Rezipienten anhand der Zeichen der Erzählung auf die Suche nach einer passenden Lösung schick[t]“161. Als eine Art Weiterentwicklung, die wiederum vor allem im postmodernen Kino an Bedeutung gewinnt, sieht Heidbrink den sogenannten „Puzzle-Film“162, der das Rätsel auf die Ebene der Struktur der Narration verschiebt, sodass die Zuschauer mit der Frage beschäftigt sind, „wie und ob die einzelnen Elemente des Films überhaupt in ein logisch stimmiges Verhältnis zu bringen sind“163. Ein immer wieder thematisiertes Problem bei der Übertragung des Spielbegriffs auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen ist die Frage danach, ob und 154 Vgl. zur Intermedialität als einer „ubiquitären Produktionsstrategie“ im postmodernen Film: R. Leschke/J. Venus: Spiele und Formen, S. 8. 155 Vgl. Eder, Jens: „Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre“, in: J. Eder, Oberflächenrausch (2008), S. 9-61, hier S. 12 ff. 156 Vgl. J. Eder: Die Postmoderne im Kino, S. 20 f. 157 A. Jahn-Sudmann: Spiel-Filme, S. 169. 158 A. Jahn-Sudmann: Spiel-Filme, S. 169. 159 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 138. 160 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 138. 161 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 138. Ähnliche Überlegungen existieren freilich auch für den Bereich der Literatur, so etwa von Bernard Suits, der die Detektiv-Geschichte als Spiel für den Leser beschreibt. Vgl. Suits, Bernard: „The Detective Story: A Case Study of Games in Literature“, in: Canadian Review of Comparative Literature 12 (1985), S. 200-219. 162 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 139. 163 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 138. Die Autorin nennt als Beispiele für solche Puzzle-Filme unter anderem die Produktionen Cube (CA 1997, Rg. Vincenzo Natali), Memento (USA 2000, Rg. Christopher Nolan) und Fight Club (USA/D 1999, Rg. David Fincher).
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wie das Moment der Interaktivität, welches in eigentlich allen Fällen als zentral für spielerische Tätigkeiten angenommen wird, auf die Rezeption von Narration übertragen werden kann.164 Hier lassen sich im Großen und Ganzen zwei relevante Lösungsansätze unterscheiden: Zum einen jene Ansätze, welche die (Inter-) Aktivität als den Unterscheidungsfaktor zwischen Spiel und Narration konstruieren und unter dieser Prämisse dann eben nur die anderen übereinstimmenden Merkmale der beiden Varianten in den Blick nehmen und zum anderen jene Überlegungen, welche das Vorhandensein einer – mal mehr, mal weniger intensiv konzipierten – Aktivität des Rezipienten bei der Wahrnehmung des Narrativen betonen.165 Darunter fallen erstens die unmittelbar sichtbaren und hörbaren Reaktionen eines Publikums auf das Medienangebot166 und zweitens die „kognitive Aktivität“167 der Rezipienten, die sich weitgehend unbeobachtet von anderen
164 Eine überblickshafte, aber dichte Darstellung der (Inter-)Aktivitätsdiskussion liefert Distelmeyer, Jan: „Spielräume. Videospiel, Kino und die intermediale Architektur der Film-DVD”, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 389416, hier S. 389 ff. 165 Vgl. dazu aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft: „Abgleitet vom Konzept der ‚Interaktion‘ im Sinne von Wechselbeziehungen […], rekurriert die Kommunikationswissenschaft in der Regel auf eine soziologischer Perspektive von Interaktionen als wechselseitig aufeinander bezogene menschliche Handlungen. Das Verständnis reicht dabei von einer vollständigen geistigen Interaktion bis hin zu einer komplett tätigen. Kognitive Zuwendung steht am einen Ende des Kontinuums, konative Auseinandersetzung am anderen.“ H. Scherer/D. Schlütz/P. Rössler: Medienspiele als Forschungsfeld, S. 15 f. In diesem Sinne hänge es jeweils vom gerade angenommenen Konzept der Interaktivität ab, ob beispielsweise schon das bloße Miträtseln beim Krimi oder erst das Zappen durch die Fernsehkanäle oder nur unumkehrliche folgenreiche Interaktionen wie beispielsweise bei Bildschirmspielen als die Kategorie erfüllend angesehen werden. 166 „Seit der Entstehung des Films prägen mehr als nur kognitiv aktive Zuschauerinnen und Zuschauer seine Wahrnehmung: Durch Zwischenrufe, Beifallsbekundungen, Unmutsäußerung, Störungen, Kommentare und sonstige sicht- und hörbare Aktionen wird das audiovisuelle Film-Erleben anderer verändert.“ J. Distelmeyer: Spielräume, S. 391. Parallel zu Distelmeyer, der die spielerische Aktivität des Rezipienten auch mittels besonderer DVD-Architekturen herausgefordert sieht, weist Marcus Stiglegger auf den Wunsch und die Erwartung des Zuschauers hin, „zum Mitproduzenten und Schöpfer des Artefakts zu werden“. M. Stiglegger: Prometheischer Impuls, S. 104. 167 J. Distelmeyer: Spielräume, S. 390.
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Rezeptionsteilnehmern vollzieht. So schlussfolgert etwa Sorg in Bezug auf die Rezeption der Kampfhandlungen in Martial-Arts-Filmen: „Der Zuschauer wird zum spielenden Beobachter und Begutachter regelgeleiteter Bewegungsvollzüge und -abfolgen. Und obgleich der Zuschauer hier nicht aktiv spielt, handelt es sich doch um eine Form spielerischer Beschäftigung mit dem (Spiel)Material [Herv. i. O.].“168
In diesem Zusammenhang verweist Sorg auf Jochen Venusʼ Dissertation Masken der Semiose169, in welcher dieser davon ausgeht, dass Spiel – allerdings in direktem Gegensatz zu Narration170 – sich durch die „zwei Operationstypen […] Spielen und Bewerten“171 auszeichnet: Die Verwirklichung des Spiels obliegt bei Venus damit nicht nur der spielenden Person, sondern kann zum Teil eben auch vom Publikum mitgetragen werden.172 Einen ähnlichen Ansatz, die kognitive Aktivität des Rezipienten als Spieltätigkeit zu begreifen, verfolgen auch Ohler und Nieding. Für sie begründet sich die Fähigkeit des Rezipienten, selbst bei ungesicherter Informationslage Antizipationen über den weiteren Verlauf der Narration zu bilden, aus der evolutionspsychologischen Funktion des Spiels, auf verschiedene Umgebungen weitgehend spontan und flexibel reagieren zu können.173 Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Erika Fischer-Lichte in ihrer Theorie von der „autopoietischen feedback-Schleife“174 die gegenseitige Beeinflussung von Rezipient und Darstellung
168 J. Sorg: Enter the Games of Death, S. 346 f. 169 Sorg nimmt in seiner Arbeit Bezug auf das unveröffentlichte Skript der Dissertation von Jochen Venus, das 2005 an der Universität Siegen eingereicht wurde. 170 Jedoch begreift Venus die Erzählung auch – wie für die vorliegende Argumentation relevant – als vonseiten des Rezipienten erschaffbar und zwar im Rahmen eines „interpretativen Operationsmodus“. J. Venus: Masken der Semiose, S. 356. 171 J. Venus: Masken der Semiose, S. 357. 172 Vgl. J. Venus: Masken der Semiose, S. 357. 173 Vgl. P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit. Mehr dazu im fünften Kapitel dieses Buches. 174 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 66. Vgl. dazu auch Wolf-Dieter Ernst, der in Bezug auf Medienkunst Performativität als Bedingung von Interaktivität beschreibt: Ernst, Wolf-Dieter: „Interaktivität und Performance“, in: Christopher Balme/Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen: Francke 2003, S. 487-495.
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und damit eine spezifische Interaktivität stets mitdenkt, sich mit ihrer Idee jedoch spezifisch auf ko-präsente Aufführungssituationen bezieht. Im Hinblick auf den Aspekt der Interaktivität hat beispielsweise auch Gero Tögl auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Computerspiel Grand Theft Auto IV (2008) und der Performance The Ruby Town Oracle (2007) des dänischen Künstlerkollektivs SIGNA verwiesen, welche er beide als „simulation of everyday life“175 charakterisiert. Er betont hierbei besonders die Rolle des Rezipienten in der Performance, die von einer intensiveren Form der Mitwirkung geprägt sei.176 Darüber hinaus verursacht der Begriff ‚Interaktivität‘ Probleme bei der Übertragung des Spielbegriffs auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen, da auch hier unklar ist, was genau mit ‚Interaktivität‘ erfasst wird, sich also beispielsweise die Frage stellt, welche Qualität und welches Ausmaß die Einwirkung des Spielers/Zuschauers auf das Spiel beziehungsweise das Narrative haben muss, um als Aktivität zu gelten, sowie ob und inwiefern eine Reaktion vonnöten ist, um Interaktivität bescheinigen zu können. So hebt beispielsweise Rainer Korte das Verständnis der Ludologen vom Computerspiel als einem unbedingt als interaktiv zu bezeichnendem Medienangebot aus den Angeln, indem er in Bezug auf das Spiel The Secret of Monkey-Island anmerkt, dass „sich der Spieler immer in einem vom Computerprogramm vorgegebenen Rahmen bewegen muß“177: „[…] von einer Interaktivität im echten Sinne ist hier keineswegs zu sprechen, denn dies würde ja voraussetzen, daß sich das Spiel auf die individuelle Eigenart des jeweiligen Spielers einstellen kann, zum Beispiel bei entsprechender Aversion eines Spielers gegen Gewalt und Grausamkeit würden davon geprägte Muster und Elemente völlig aus dem
175 Tögl, Gero: „Remediating Theatre. From Grand Theft Auto to The Ruby Town Oracle”, in: Jörg von Brincken/Ute Gröbel/Irina Schulzki (Hg.), Fictions/Realities. New Forms and Interactions, München: Meidenbauer 2011, S. 21-38, hier S. 27. Gero Tögl weist auch auf die Rolle hin, welche partizipatorische Strategien und damit der Aspekt der Interaktivität im Postdramatischen Theater nach Hans-Thies Lehmann spielen. Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2011. 176 Vgl. G. Tögl: Remediating Theatre, S. 25 ff. 177 Korte, Rainer: „Elektronische Spiele und interaktive Qualitäten. Versuch einer spielpädagogischen Deutung“, in: Wolfgang Zacharias (Hg.), Interaktiv. Im Labyrinth der Wirklichkeiten, Essen: Klartext 1996, S. 248-259, hier S. 255.
146 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN Spiel verbannt. Oder es könnten bevorzugte Szenarien vom Spieler selbst gestaltet und gewählt werden.“178
Am Beispiel dieser Argumentation, die zugegebenermaßen aus einem in Hinblick auf die neuen Medien doch noch sehr verhalten wirkenden Text aus dem Jahre 1996 stammt, wird deutlich, wie unterschiedlich der Begriff ‚Interaktivität‘ in der praktischen Analyse angewandt wird und wie unterschiedlich vor allem die jeweiligen Geltungsbereiche definiert werden. In diesem Sinne scheint es nicht zielführend zu sein, die Grenze zwischen Spiel und Narration strikt entlang einem diffusen Begriff von Interaktivität zu ziehen, vielmehr gilt es – wie Jan Distelmeyer vorgeschlagen hat – die jeweiligen Formen von Rezipientenaktivität zu beschreiben.179 Neben der Herstellung von Analogien zwischen spielhaft und narrativ gerahmten Kommunikationssituationen sowie dem Auffinden von einzelnen spielhaften Aspekten in Narrativen wird Spiel in einigen Forschungsansätzen auch als eine Art Metastruktur verstanden. Das Spiel wird dann als ‚Muster‘ oder ‚Metapher‘ beschrieben. So vereint beispielsweise ein von Caja Thimm herausgegebener Sammelband vorwiegend aus soziologischer Perspektive argumentierende Beiträge, deren Ziel es ist, das Spiel „als Muster medialen Handelns und als Metapher für eine gesellschaftliche Entwicklung, in der das Spielerische als ein zentrales Grundmotiv des menschlichen Handelns anzusehen ist“180, zu beschreiben. Das Spiel als Konstrukt wird hier demnach als netzartige Organisationsstruktur verstanden, unter welche sich unterschiedliche gesellschaftliche und mediale Phänomene fassen lassen. Udo Thiedeke bestimmt in seinem Beitrag ausgehend von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme das Spiel als „eine symbolische Kommunikationsform der Entgrenzung von Normalitätserwartungen 181 [Herv. i. O.]“ , also als eine Struktur, die die Agierenden stets auf den Unterschied zwischen Alltags- und fiktiver Spielwelt hinweist. Häufiger jedoch als im Sinne einer Metastruktur, wird Spiel darüber hinaus als Medium oder Mediales charakterisiert. Einen der Ursprünge des Gedankens vom Spiel als Mediales findet man bereits in Friedrich Schillers Konzeption des
178 R. Korte: Elektronische Spiele, S. 255. 179 Vgl. J. Distelmeyer: Spielräume, S. 392. 180 Thimm, Caja: „Spiel – Gesellschaft – Medien. Perspektiven auf ein vielfältiges Forschungsfeld“, in: C. Thimm, Das Spiel (2010), S.7-13, hier S. 7 f. 181 Thiedeke, Udo: „Spiel-Räume: Kleine Soziologie gesellschaftlicher Exklusionsbereiche”, in: C. Thimm, Das Spiel (2010), S. 17-32, hier S. 18.
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Spieltriebs als vermittelndem Moment182 – als „regulative[s] anthropologische[s] Prinzip“183 – in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Die Aufgabe des Spieltriebs ist es demnach, einen Ausgleich zwischen den beiden im Menschen angelegten Grundtrieben herzustellen, sie beide in sich zu verwirklichen, sodass eine ideale Balance realisiert werden kann: „Der sinnliche Trieb schließt aus seinem Subjekt alle Selbstthätigkeit und Freyheit, der Formtrieb schließt aus dem seinigen alle Abhängigkeit, alles Leiden aus. Ausschließung der Freyheit ist aber physische, Ausschließung des Leidens ist moralische Notwendigkeit. Beyde Triebe nöthigen also das Gemüth, jener durch Naturgesetze, dieser durch Gesetze der Vernunft. Der Spieltrieb also, als in welchem beyde verbunden wirken, wird das Gemüth zugleich moralisch und physisch nöthigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung aufheben, und den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit setzen.“184
Die Frage, inwiefern sich Spiel durch eine eigene Medialität auszeichnet, also als Medium zu denken ist, stellt auch Claus Pias in Rückgriff auf eine bei Schiller185 angelegte Wendung: „Kultur, Mensch oder Spiel fallen schon deshalb zusammen, weil sie allesamt sich anschicken, eine leere Mitte zu besetzen, einen Ab- oder Ungrund aufzufüllen, einen Graben zwischen aufragenden Dichotomien zu schließen, und (je nachdem, welches Bild man benutzen will) Passagen herzustellen, ‚Wechselwirkungen‘ zu vermitteln, ‚Urteile‘ zu ermöglichen oder ‚Gleichgewichte‘ zu tarieren. Als Füllung sind sie aber zugleich das, was 182 Zum Medialen als Modus der Vermittlung vgl. S. Münker: Was ist ein Medium? und die Ausführungen im Kapitel 2.3.1 dieses Buches. 183 R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 1. 184 Schiller, Friedrich: „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Benno von Wiese (Hg.), Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwanzigster Band: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar: Böhlau 1962, S. 309412, hier S. 354. 185 Der Begriff ‚Medium‘ bei Schiller, auf den Pias hinweist und den er recht anachronistisch liest, steht allerdings zunächst nicht im Kontext des Spiels, sondern bezieht sich auf die Funktionsweise des sogenannten ‚sinnlichen Triebs‘ und lautet: „Soweit der Mensch endlich ist, erstreckt sich das Gebiet dieses Triebs; und da alle Form nur an einer Materie, alles absolute nur durch das Medium der Schranken erscheint, so ist es freylich der sinnliche Trieb, an dem zuletzt die ganze Erscheinung der Menschheit befestiget ist.“ F. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 345.
148 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN immer eine Fassung fordert und bestimmt; das, was die Figur einer Frage erhalten muss, um Antwort auf sie sein zu können; das, was die Polaritäten erzeugen muss, um oszillierend und produktiv zwischen ihnen vermitteln zu können.“186
Mit Blick auf dieses Zitat von Pias wird schnell deutlich, welche Gefahr einer Konzeption von Spiel als Medium grundsätzlich inhärent ist: Um dem weit gefassten Phänomen des Spiels über den eigentlich noch weiter gefassten Begriff des Mediums näher kommen zu können, ist eine klare Definition dessen, was denn hier nun als medial gelten soll, unabdingbar. Freilich scheint dem Spiel als Rahmung von Kommunikationssituationen, in welchen eine fiktive Gegenwelt zur ‚Alltagsrealität‘ ermöglicht wird, eine grundlegende Medialität eigen zu sein.187 Doch würde man das Spiel ‚nur‘ als Mediales begreifen, so könnte man damit zwar eine spezifische Eigenart des Spielphänomens, das Moment der Vermittlung zwischen Realität und Fiktion, beschreiben, aber andere konkrete Aspekte der Ausprägung von Spiel, wie sie etwa in Huizingas Merkmalskatalog beschrieben werden, müssten notwendigerweise unberücksichtigt bleiben. So kritisiert auch Jochen Venus: „Wenn aber alle Medien und Künste Formen des Spiels sind (oder sein sollten) und der Begriff des Spiels nur das allgemeine, aber kein spezifisches mediales Formprinzip zu verstehen gibt, dann erscheinen als besonders spielerisch vor allem ästhetische Innovationen, wie immer sie motiviert und gestaltet sein mögen, denn der Neuigkeitscharakter ästhetischer Innovationen beruht darauf, dass im konventionellen Formengefüge medialer Praktiken noch unspezifizierte mediale Alterität vergegenwärtigt wird [Herv. i. O.].“188
4.2.3 Fiktionalität als Übereinstimmung und Unterschied Im Rahmen der in diesem Kapitel erfolgten Durchsicht und Prüfung der Forschungsansätze, in welchen eine Übertragung des Spielbegriffs auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen unternommen wird, haben sich im Großen
186 Pias, Claus: Computer Spiel Welten, München: sequenzia 2002, S. 311. 187 Vgl. zum Aspekt der Rahmung von Kommunikationssituationen, die jeweils auch von medialen Bedingungen abhängig sind, die Darstellungen in Rückgriff auf Werner Wolfs Erzähltheorie im Kapitel 2.2 dieses Buches. Vgl. im Kontrast dazu auch Rainer Leschke, der eine Unabhängigkeit des Medialen vom Spielhaften und Narrativen betont: R. Leschke: Spiele massenmedialen Erzählens, S. 3. 188 J. Venus: Teamspirit, S. 300.
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und Ganzen zwei unterschiedliche Varianten herauskristallisiert, mit dem Begriff des Spiels umzugehen: Zum einen handelt es sich um die Entscheidung, einen eher wenig bis gar nicht ausdifferenzierten Spielbegriff als Ausgangspunkt zu setzen, das Moment des Spielhaften eher aus Evidenzen und Alltagserfahrungen zu rekonstruieren und damit spezifische Momente schließlich auf diese Weise als spielhaft oder nicht-spielhaft zu bestimmen. Diese Vorgehensweise bietet den Vorteil, dass sich zunächst nicht näher bestimmbare Ähnlichkeiten zwischen Spiel und Narration leichter erfassen lassen und so einer weiteren Untersuchung zugänglich gemacht werden (vgl. Bestimmungskennzeichen der Postmoderne/Postklassik in der Literatur wie im Film). Zugleich stellt sich bei dieser Variante aber die Frage, inwiefern eine solche Ähnlichkeitsbeziehung über die reine Feststellung der Analogie hinaus einen spezifischen Erklärungswert besitzt, da ja die beiden miteinander verglichenen Phänomene ähnlich unbestimmt bleiben und es sich um einen nicht falsifizierbaren Spielbegriff handelt. Zum anderen lässt sich die Vorgehensweise erkennen, eine explizite, häufig an den Theorien Huizingas und/oder Caillois orientierte Definition des Spielbegriffs zu entwerfen und diese dann mittels konkreter Merkmalskataloge auf die Analyse narrativ gerahmter Kommunikationssituationen anzuwenden. Hiermit lassen sich genauer die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Rahmungen bestimmen, auch können Ansätze, die in der Vergangenheit bereits für die Untersuchung des Spiels entwickelt wurden (vgl. etwa den evolutionspsychologischen Ansatz zur Erklärung der Funktion des Spiels), direkt auf die Untersuchung des Narrativen übertragen werden. Als nachteilig erweist sich aber, dass mit dieser Vorgehensweise eigentlich nur bestimmte Ausprägungen des Narrativen (zum Beispiel Rätselplots oder metrische Lyrik) erfasst werden können und auch diese nicht vollständig, da es doch Aspekte gibt, die nur schwer und unter Zugeständnissen von spielhaft auf narrativ gerahmte Kommunikationssituation übertragen werden können (zum Beispiel Interaktivität). Um dem dargestellten Dilemma, mit der Entscheidung für eine der beiden Vorgehensweisen zugleich deren Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, zu entgehen, sollen für die im nächsten Kapitel folgenden Überlegungen zum Spielbegriff und seine Übertragung auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen folgende Bedingungen festgehalten werden: (1) Ludwig Wittgenstein, für den ‚Spiel‘ „ein Begriff mit verschwommenen Rändern“189 ist, hat in seinen Philosophischen Untersuchungen vorgeschlagen, beim Umgang mit dem Spielbegriff (und anderen unscharfen Begriffen) statt von 189 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 790.
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einem feststehenden Merkmalskatalog eher von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen allen Arten von Spielen auszugehen, die er „Familienähnlichkeiten“190 nennt: „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, u.s.w.. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es m u ß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘ – sondern s c h a u , ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn, wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was a l l e n gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe [Herv. i. O.].“191
In ähnlicher Weise konzentriert sich Tilmann Köppe wie weiter oben bereits erwähnt in seinem Beitrag zum Vergleich des Spiels mit dem Phänomen der Fiktionalität in der Literatur auf ein, von ihm so bezeichnetes „tertium comparationis“192, also einen Vergleichsaspekt, über welchen dann die Konstruktion einer Analogiebeziehung erfolgt. In diesem von Wittgenstein und Köppe vorgeschlagenen Sinne werden sich auch die folgenden Überlegungen auf nur einen Aspekt beziehen, in welchem sich zugleich eine große Übereinstimmung wie auch ein prägnanter Unterschied zwischen spielhaft und narrativ gerahmten Kommunikationssituationen ausdrücken. Es handelt sich hierbei um das Moment der Fiktionalität, das beiden Rahmungen – wie die oben ausgeführten Erkenntnisse der Forschungsliteratur zeigen – grundsätzlich zu eigen ist, aber jeweils radikal unterschiedlich konzipiert wird, wie im folgenden Kapitel zur Fiktionalität im Spiel zu zeigen sein wird. Zugleich wird hier auch das dem Spiel eigene Moment der Vermittlung, auf welches ebenfalls im Rahmen der Diskussion der Forschungsliteratur bereits eingegangen wurde, eine Rolle spielen. (2) In den folgenden Überlegungen zur Fiktionalität im Spiel soll es weniger um eine irgendwie geartete Realität des Spielhaften gehen, sondern vielmehr darum, wie Spiele und Spielhandlungen im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses rekonstruiert und konzeptualisiert werden beziehungsweise wie das hier relevante ‚tertium comparationis‘ Fiktionalität konzipiert wird.
190 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 787. 191 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 786 f. 192 T. Köppe: Fiktion, Praxis, Spiel, S. 40.
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4.3 F IKTIONALITÄT
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Wie bereits im Absatz zum Spiel als Metastruktur erwähnt, ist es durchaus ein gemeinsamer und wesentlicher Aspekt der Ansätze zum Spielbegriff, diesem eine vermittelnde Funktion oder ausgleichende Kraft zuzuschreiben. Vor allem aus historischer Perspektive zeigt sich, dass dieses Moment der Vermittlung zwischen eigentlich einander widersprechenden Zuständen, welches damit im Grunde ein paradoxales Moment ist, bereits seit den Anfängen des Nachdenkens über den Spielbegriff ein zentrales Motiv darstellt. So lässt es sich unter anderem schon in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft als „freie[s] Spiel[ ] der Einbildungskraft und des Verstandes“193 bei der Betrachtung des Kunstwerkes auffinden, worauf auch Tanja Wetzel in ihrem umfassenden Forschungsüberblick verweist.194 Hierauf baut schließlich unter anderem Schiller mit seiner Konzeption des Spieltriebs als – wie oben bereits dargestellt – Vermittler zwischen Formtrieb und Stofftrieb auf.195 Darüber hinaus lässt sich nachweisen – und das soll das Ziel dieses Kapitels sein –, dass ein solch vermittelndes Moment dem Spiel auch in den aktuellen Forschungsansätzen noch zugeschrieben wird, und zwar vorwiegend, was die Konzipierung einer besonderen Art der Fiktionalität betrifft. Auf den folgenden Seiten soll gezeigt werden, dass nahezu alle Ansätze – bis auf einige kritische Gegenstimmen, die hier aber ebenfalls zu Wort kommen sollen – Fiktionalität im Spiel beziehungsweise genauer die Wahrnehmung von Fiktionalität im Spiel durch den Rezipienten als ein synergetisches Sowohl-als-auch konstruieren, in welchem simultan sowohl die emotionale und kognitive Beteiligung des Rezipi-
193 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg: Felix Meiner 2001, S. 67. 194 Vgl. T. Wetzel: Spiel, S. 587. „‚Interesseloses Wohlgefallen‘ soll die Sicht des Zuschauers auf das Kunstwerk bestimmen, weil sie weder von einer theoretischen noch von einer praktischen Absicht geleitet ist. Diese Zwecklosigkeit und Interesselosigkeit bestimmt Kant als einen ‚Gemütszustand‘, in dem sich die zwei hier wirkenden Erkenntniskräfte – die Einbildungskraft und der Verstand – in einem ‚freien Spiel‘ miteinander befinden, ‚weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt‘ – eben weil kein theoretisches Ziel oder kein praktischer Zweck sie leitet.“ T. Wetzel: Spiel, S. 587. 195 Vgl. T. Wetzel: Spiel, S. 588.
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enten am fiktiven Geschehen als auch die Beobachtung der Herstellung des fiktiven Geschehens verwirklicht werden können.196 Dieser Ansatz lässt sich bereits bei Huizinga finden, der „das Bewußtsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘“197 im Spiel nicht nur als zentrales Element seiner Definition betont, sondern zudem darauf hinweist, dass eben dieses Nebeneinanderbestehen von fiktiver Welt und ‚Alltagsrealität‘, aus welcher heraus die Fiktion beobachtet wird, der Grund dafür ist, dass Ernst kein grundsätzlich dem Spiel widersprechender Zustand ist: „Das Kind spielt in vollkommenem – man kann mit vollem Rechte sagen – heiligem Ernst. Aber es spielt und weiß, daß es spielt. Der Sportsmann spielt mit hingebendem Ernst und mit dem Mut der Begeisterung. Er spielt und weiß, daß er spielt. Der Schauspieler geht in seinem Spiel auf. Trotzdem spielt er und ist sich bewußt, daß er spielt.“198
Auffällig ist hierbei – das soll in diesem und im folgenden Kapitel genauer erläutert werden –, dass eine solche Konzeption von Fiktionalität, wie sie in den Theorieansätzen zum Spiel dominiert, grundsätzlich von der konventionalisierten Konzeption der Fiktionalität narrativ gerahmter Kommunikationssituationen unterschieden werden kann, wo traditionell von einem Entweder-oder statt von einem Sowohl-als-auch ausgegangen wird. Es ließe sich sogar von einer wissenschafts- oder kulturgeschichtlich geprägten Tradition der Annahme sprechen, dass man entweder die eigene Rezeptionstätigkeit und damit die Herstellung der Fiktion beobachten oder an der Fiktion Anteil nehmen kann. Interessant ist, dass in Bezug auf Momente des Spielhaften grundsätzlich von einer solchen Gleichzeitigkeit ausgegangen, in narrativ gerahmten Kommunikationssituationen eine solche Gleichzeitigkeit von beinahe allen Theorien von 196 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch Jens Roselt in seiner 1999 erschienenen Dissertation zur Ironie des Theaters das Begriffspaar Entweder-oder und Sowohl-als-auch gebraucht, um eine charakteristische Eigenschaft des Spiels zu beschreiben. Roselt, Jens: Die Ironie des Theaters, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 107-109. Er hebt mit dem ludischen Sowohl-als-auch dabei im Besonderen auf das Verhältnis von Schauspieler und Figur ab und vermerkt die Eigenart des Spiels eine einfache Unterscheidung von Realität und Fiktion nicht zuzulassen: „Für die Arbeit des Schauspielers kann mit der Betonung des Spielmoments eine Eigenwertigkeit formuliert werden, die über die Unterstellung einer bloßen Opposition von fiktiv versus real sinnvoll hinausgeht (…)[Herv. i. O.].“ J. Roselt: Ironie des Theaters, S. 109. 197 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 37. 198 J. Huizinga: Homo Ludens, S. 27.
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vornherein negiert wird. Exemplarisch zeigt sich dies etwa an dem Erfolg des Diktums einer „willing suspension of disbelief“199, das bereits 1817 von Samuel T. Coleridge in die Debatte rund um die Wahrnehmung von Fiktion eingebracht wurde und dem noch heute großes Erklärungspotential bescheinigt wird.200 Mit seiner Wendung versuchte Coleridge das Phänomen zu beschreiben, dass sich Rezipienten auf die fiktive Welt einlassen können, egal, wie übernatürlich und weit entfernt von ihrer eigenen ‚Alltagsrealität‘ diese sein mag. Laut Coleridge ist es Aufgabe des Poeten, die fiktive Welt so zu gestalten, dass sie eine Rezeptionshaltung herstellt oder zumindest begünstigt, bei der es möglich ist, sich auf die Fiktion einzulassen. Eine solche Haltung sei wesentlicher Bestandteil des für die Rezeption fiktionaler Werke grundlegenden poetischen Glaubens („poetic faith“201).202 Im Grunde meint aber schon Coleridge hiermit nicht weniger als die Tatsache, dass der Rezipient in irgendeiner Art und Weise die ihn umgebende ‚Alltagsrealität‘ (und seinen Status als Rezipient) ausblenden kann und in die Lage versetzt wird, sich uneingeschränkt den in der fiktiven Welt gegebenen Bedingungen zu widmen und diese zu akzeptieren. Interessanterweise hat bereits Kendall L. Walton 1978 darauf hingewiesen, dass es sich eher um ein „game of make-believe“203 als um ein suspension of disbelief handelt, da den Rezipienten ja durchaus klar sei, dass etwa die Leinwandmonster, vor welchen sie sich fürchteten, nicht wirklich eine Gefahr darstellen, dass sie sich also stets der Fiktionalität des Dargestellten bewusst seien.204 In diese Richtung argumentieren darüber hinaus auch solche Ansätze, die von dem Zustandekommen einer Art von Vertrag zwischen dem Medienangebot 199 Coleridge, Samuel T.: Biographia Literaria. Volume II, hg. von John Shawcross, London: Oxford University Press 1949 [1907], S. 6. 200 Auch Jochen Venus weist auf Coleridges willing suspension of disbelief als einem naheliegenden Beispiel für die Annahme einer „unbedingte[n] Grenze zwischen Faktischem und Fiktivem“ in der Narration und im Gegensatz zum Spiel hin. J. Venus: Teamspirit, S. 305 f. 201 S. T. Coleridge: Biographia Literaria, S. 6. 202 Vgl. S. T. Coleridge: Biographia Literaria, S. 6. 203 Walton, Kendall L.: „Fearing Fictions“, in: The Journal of Philosophy 75 (1978), S. 5-27, hier S. 11. 204 Vgl. K. L. Walton: Fearing Fictions, S. 6 ff. Entsprechend ist es für Walton im Rahmen der Annahme eines game of make-believe durchaus plausibel, dass der Rezipient unterschiedliche, einander widersprechende Wünsche bezüglich des Ausgangs der narrativen Handlung haben kann, dass er sowohl das Konstruktionsprinzip der Fiktion/der Narration würdigen als auch in das fiktive Geschehen involviert sein kann. Vgl. S. 25.
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und dem Rezipienten ausgehen, mit dem sowohl spezifische Verhaltensweisen des Rezipienten gegenüber der Darstellung (zum Beispiel: ‚nicht eingreifen‘) als auch bestimmte Verpflichtungen der Produzenten (zum Beispiel: ‚keine körperliche Gefährdung des Rezipienten‘) geregelt werden.205 Diese beiden Positionen sollen hier zunächst exemplarisch für eine Debatte stehen, auf welche im fünften Kapitel anhand der Darstellung konventionalisierter Beteiligungstheorien wie unter anderem Identifikation und Immersion noch detaillierter eingegangen werden soll, um die Abgrenzung zur spezifisch spielhaften Fiktionalität deutlich herauszustellen.206 An dieser Stelle gilt es jedoch, 205 Vgl. dazu für die Literatur: Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München: Hanser 1994, S. 103. Vgl. dazu für den Film: Casetti, Francesco: „Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag“, in: montage/av 10 (2001), S. 155-173. Zum Film und zur theatralen Aufführung vgl. Wulff, Hans J.: „Konstellationen, Kontrakte, Vertrauen. Pragmatische Grundlagen der Dramaturgie“, in: montage/av 10 (2001), S. 131-154. In diesem Zusammenhang relevant sind auch Erving Goffmans Überlegungen zur Rahmenanalyse, die davon ausgehen, dass in bestimmten sozialen Situationen eine bestimmte Art von sozialem Rollenverhalten erwartet und dementsprechend auch gezeigt wird, vgl. E. Goffman: Rahmenanalyse. So rekonstruiert beispielsweise Jody Enders aus historischen Quellen einen Vorfall bei den Passionsspielen in Metz im Jahr 1437, bei welchen ein Darsteller im Rahmen der Kreuzigungsszene beinahe gestorben wäre, wenn nicht ein Zuschauer beherzt eingegriffen hätte. Jody Enders beschreibt die Situation als Rahmenkollision im Sinne Goffmans, als Bruch mit dem Rahmen ‚Aufführung‘, den der Retter, welcher seine passive Zuschauer-Rolle verlässt, bewirkt: „When he opted to remove himself from his ‚organized role‘ at the theater, he broke frame […]. But his self-removal was the only thing that could remove Nicholas from the cross and ensure the survival of both the priest and his acting career […].” Enders, Jody: Death by Drama and Other Medieval Urban Legends, Chicago: University of Chicago Press 2002, S. 58. 206 Zur Debatte rund um das ‚Fiktionsparadoxon‘ vgl. K. Mellmann: Emotionalisierung, S. 59-63. Mellmann versucht das ‚Fiktionsparadoxon‘ mit der Anwendung eines emotionspsychologischen Modells zu lösen, das sich auf evolutionsbiologische und psychologische Ansätze stützt. Demnach würden bei der Betrachtung fiktionaler und realer Situationen die gleichen Auslösemechanismen für Emotionsprogramme greifen. Als Korrektiv tritt dann der mitlaufende Kognitionsmechanismus ein, der hilft, adäquate Reaktionen auf die jeweilige Situation auszuwählen. Vgl. S. 75 ff. Auch hier ist die im weiteren Kapitelverlauf noch näher zu erläuternde dichotomische Beschreibungssituationen zwischen Beteiligtsein und Beobachten zu erkennen, wenn auch auf die Aspekte Emotion und Kognition verlagert. Warum die strikte Trennung
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zunächst darzustellen, wie Fiktionalität im Spiel vonseiten der einschlägigen Ansätze der Forschungsliteratur konstruiert wird. Neben Huizinga, dessen anthropologische Spieltheorie bereit in ihren wesentlichen Umrissen vorgestellt wurde, haben auch mehrere andere Autoren auf dieses besondere Sowohl-als-auch der Fiktionalität im Spiel hingewiesen. Schon Caillois, der mit seinen Überlegungen ja direkt auf Huizinga reagiert, rekurriert in dem von ihm konzipierten Spielmoment, den er als „mimicry [Herv. i. O.]“207 bezeichnet, auf eine Situation in der „das Spiel aber von dem Bewußtsein begleitet wird, daß die eingenommene Haltung etwas Scheinbares oder einfach Mimik ist“208. Dieses „Bewußtsein der absoluten Irrealität“209 steht für Caillois stellvertretend für die einzelnen Gesetze im Regelspiel. Zugleich konzipiert Caillois das Spiel allerdings auch als „eine abgetrennte und sorgfältig vom übrigen Dasein isolierte Beschäftigung“210, ohne jedoch auf diesen offensichtlichen Widerspruch auf irgendeine Art und Weise einzugehen.211 In Bezug auf Caillois hat Britta Neitzel – entsprechend der hier vorgestellten Annahme eines Sowohl-als-auch – das Rollenspiel als „ein gleichzeitiges to be and not to be“212 beschrieben. Eindeutiger die oben vorgestellte Position in Bezug auf die Fiktionalität im Spiel zu vertreten scheinen Hallenberger und Foltin, die in ihrer im Hauptaugenmerk auf das Spielhafte beim Fernsehen gerichteten Studie auf den „Doppelcharakter jeder Spieltätigkeit“213 und auf die ‚Alltagsrealität‘ als Ausgangspunkt und Rückbezug jedes Spiels hinweisen:
von emotionalen und kognitiven Momenten der Wahrnehmung und Verarbeitung nicht haltbar ist, ist bereits an früherer Stelle ausgeführt worden. 207 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 28. 208 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 15. 209 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 15. 210 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 13. 211 Noch weiter in diese Richtung des Entweder-oder geht Caillois, wenn es um die Beschreibung des mimicry-Modus geht: „Der Mensch vergißt, verstellt sich, er entäußert sich vorübergehend seiner Persönlichkeit, um dafür eine andere vorzutäuschen.“ R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 28. Für Caillois zählen auch „Theateraufführungen und die Interpretation dramatischer Werke“ zu dieser Kategorie. R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 30. 212 Neitzel, Britta: „Spielerische Aspekte digitaler Medien – Rollen, Regeln, Interaktionen“, in: C. Thimm, Das Spiel (2010), S. 107-125, hier S. 119. 213 Hallenberger, Gerd/Foltin, Hans-Friedrich: Unterhaltung durch Spiel. Die Quizsendungen und Game-Shows des deutschen Fernsehens, Berlin: Spiess 1990, S. 37.
156 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN „Sie [die Spieltätigkeit; SE] konstituiert zwar einen eigenständigen und für die Dauer des Spiels autonomen Handlungsraum, in dem die Spieler spielspezifische Handlungsrollen annehmen, gleichzeitig bleiben die Spieler natürlich die Personen, die sie vor Spielbeginn waren – ihre Spieler-Rollen entwickeln sie auf der Grundlage ihrer sonstigen Handlungsrollen und nicht als autonome neue.“214
Auf eine solche für das Fiktionale zunächst eigenartig erscheinende Doppelung kommt auch Jochen Venus in seinen Überlegungen zu sprechen, wobei er den Grund dafür vor allem in der Konstruktion des Spiels aus Spielregeln heraus sieht, die immer zugleich auch Vorschriften für das Nicht-Spielhafte enthalten müssen: „Spielregeln unterscheiden das spielkonforme Verhalten von einem Verhalten, das die Spielgrenze überschreitet. […] Im Spiel ist die Außenseite des Spiels im Spiel ständig anwesend.“215 Diese besondere Struktur – so lautet die Schlussfolgerung vieler Autoren und diese Argumentation soll hier übernommen werden – setzt sich von der Angebotsseite des Spiels genauso auf dessen Rezeptionsseite fort. Thomas Anz merkt dazu an: „Das spielende Ich ist dabei gleichsam gespalten in eines, das sich in der Illusion verliert, und in ein anderes, das als distanzierter Beobachter zurückbleibt und den Realitätssinn aufrechterhält.“216 Laut Henriette Heidbrink ist es das Annehmen genau dieser besonderen Rezeptionshaltung, welches mit der so oft genutzten und doch eigentlich wenig aussagekräftigen Wendung, ‚ein Spiel mit dem Zuschauer spielen‘, bezeichnet werden soll: „Mit jemandem zu spielen deutet in diesem Sinne auf die Fähigkeit und Macht hin, sie [die Zuschauer; SE] zu irritieren, den Referenzpunkt ihrer Aufmerksamkeit wechseln zu lassen, sie emotional einzubinden und zu involvieren, um im nächsten Moment zu betonten, das diese Hingabe an die Erzählung intendiert war, gesteuert wurde und jederzeit wieder unterbrochen werden kann.“217
Hingewiesen werden soll an dieser Stelle darauf, dass Heidbrink hier zwar eine Rezeptionshaltung anspricht, die im Grunde der hier propagierten sehr ähnlich, 214 G. Hallenberger/H.-F. Foltin: Unterhaltung durch Spiel, S. 37. Vgl. hierzu die Ausführungen von Erika Fischer-Lichte, welche auf die gegenseitige Bedingtheit von Schauspielerkörper und Rollenverkörperung in der theatralen Aufführung und damit auf ein dem hier beschriebenen Moment des Spiels ähnliches Phänomen hingewiesen hat: E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 129. 215 J. Venus: Teamspirit, S. 306. 216 T. Anz: Literatur und Lust, S. 67. 217 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 140.
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mit ihr aber dennoch nicht identisch ist. Denn immerhin geht Heidbrink von einem Nacheinander der beiden Zustände aus (‚im nächsten Moment‘) und nicht von einer Simultanität, zumindest lässt sich diese ihren Formulierungen nicht entnehmen. Einer der wichtigsten Theorieansätze zur besonderen Konzeption spielhafter Fiktionalität stammt von Gregory Bateson. In seinem Aufsatz A Theory of Play and Fantasy geht es Bateson im Grundsatz um die Entwicklung einer linguistisch basierten Kommunikationstheorie als Basis einer psychiatrischen Theorie.218 Als Ausgangspunkt dient Bateson die Frage, wie Menschen Signale interpretieren und aufgrund dieser Interpretation sich für je unterschiedliche Reaktionsweisen entscheiden. Seine Argumentation setzt dann allerdings zunächst bei einer im Zoo angestellten Beobachtung von Affen an, die miteinander kämpften ohne wirklich zu kämpfen, die also miteinander in ein Spiel verwickelt waren: „I saw two young monkeys playing, i.e., engaged in an interactive sequence of which the unit actions or signals were similar to but not the same as those of combat [Herv. i. O.].“219 Aus der Tatsache, dass sich die Ausdrucksformen220 des wirklichen Kampfes und des Spielkampfes so sehr gleichen, schließt Bateson, dass es eine Form der Metakommunikation geben muss, über welche die Botschaft über den Status der Interaktion – in diesem Fall: ‚Das ist Spiel‘ – vermittelt wird 221: „Expanded, the statement ‚This is play‘ looks something like this: ‚These actions in which we now engage do not denote what those actions for which they stand would denote [Herv. i. O.].‘“222 Es wird deutlich, inwiefern Batesons Überlegungen als weiterer Beleg zur hier diskutierten Fragestellung nach der besonderen Fiktionalität im Spiel gelten können. Seiner These von einer das Spiel begleitenden Metakommunikation liegt nämlich die Annahme zugrunde, dass sich Spielhandlung und Alltagshandlung zunächst im Grunde nicht unterscheiden, dass die ausgeführte Handlung 218 Vgl. Bateson, Gregory: „A Theory of Play and Fantasy“, in: Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind, Chicago/London: University of Chicago Press 2000 [1972], S. 177-193. Erstabdruck des Essays in A.P.A. Psychiatric Research Reports 2 (1955). 219 G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 179. 220 „Das spielerische Boxen ist ein ikonisches Zeichen des ‚wirklichen‘ Boxens.“ Neitzel, Britta: „To Be and Not to Be. Zum Spiel mit Identitäten im neueren populären Spielfilm“, in: R. Leschke/J. Venus, Spielformen im Spielfilm (2007), S. 367-387, hier S. 371. 221 Vgl. G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 179. 222 G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 180.
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zunächst beides sein kann und ihr Status immer erst durch die begleitende Metakommunikation geklärt wird und kontinuierlich während des Spielverlaufs immer neu geklärt werden muss. In Anlehnung an Batesons Beispiel der spielenden/kämpfenden Affen stellt hierzu Britta Neitzel fest: „Das Spiel unterscheidet nicht vollständig zwischen Karte und Territorium – dies würde einfach nicht-Biss bedeuten – oder innen und außen, sondern benutzt Metakommunikation, um die Differenz zu markieren.“223 Zudem geht Bateson in seinem Essay auf zwei weitere Aspekte ein, die im Kontext der hier geführten Argumentation relevant sind: Zum einen erklärt auch er das Funktionieren von Schauspiel über die sie stets begleitende Metakommunikation und plädiert dafür, den Zuschauer in dieses theoretische Modell einzubeziehen224, womit sich die Überlegungen als anschlussfähig an die hier interessierende Rezipientenperspektive erweisen. Zum anderen betont Bateson die Tatsache, dass Spielhandlungen zwar immer auf etwas Fiktionales Bezug nehmen225, doch dabei nicht nur der Drang nach Illusionierung, sondern eben stets auch das Aufdecken dieser Fiktionalität, das Oszillieren zwischen Beteiligung an der Fiktion und der Beobachtung der Fiktion eine Rolle spielt: „At the human level this leads to a vast variety of complications and inversions in the fields of play, fantasy, and art. Conjurers and painters of the trompe l’oeil school concentrate upon acquiring a virtuosity whose only reward is reached after the viewer detects that he has been deceived and is forced to smile or marvel at the skill of the deceiver [Herv. i. O.].“226
Ergänzend sei erwähnt, dass auch Udo Thiedeke vorschlägt, Spiel als ein Phänomen aufzufassen, das mittels Kommunikation hergestellt wird, jedoch schließt er sich hierbei nicht den Überlegungen Batesons, sondern der Theorie Niklas Luhmanns an und verwendet dementsprechend einen systemtheoretischen 223 B. Neitzel: To Be and Not to Be, S. 371. Neitzel spricht hier mit Bateson auch vom „Paradox des Spiels“. S. 370. 224 Vgl. G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 181 f. 225 Vgl. G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 182. 226 G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 182. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Bateson seine Annahme von einem ständigen Oszillieren zwischen dem Beteiligtsein an der Fiktion und der Beobachtung der Fiktion nicht durchgehend aufrechterhält, sondern darauf verweist, dass es Situationen gibt, wo dies nicht der Fall ist. So würde zum Beispiel im Albtraum das Gefühl des Fallens tatsächlich für die Dauer des Traums Schrecken auslösen. Vgl. G. Bateson: A Theory of Play and Fantasy, S. 183.
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Kommunikationsbegriff.227 Im Gegensatz zu Bateson und auch zu der hier vertretenen Auffassung geht Thiedeke entsprechend von einer weitgehend autonomen und gegenüber der ‚Alltagsrealität‘ abgegrenzten Spielsphäre aus und thematisiert daher nicht die besondere Fiktionalitätsform im Spiel.228 Neben der Theorie zur Metakommunikation im Spiel von Bateson erscheinen für die hier geführte Argumentation die Überlegungen des russischen Literaturwissenschaftlers und Semiotikers Jurij M. Lotman zum Spiel als „zweischichtige[r] Verhaltensweise“229 relevant.230 Er geht unter Bezugnahme auf den Spieltheoretiker Karl Groos231 von einer grundsätzlich evolutionspsychologisch geprägten Annahme über die Funktionen von Spiel aus, dass also durch Spiel lebenswichtige Verhaltensweisen in einer Modellsituation gefahrlos erprobt und eingeübt werden können.232 Anschließend daran vertritt Lotman die Position, dass im Spiel anders als bei der Realisierung einer Situation, in welcher der Rezipient nicht unmittelbar leiblich an der Fiktion beteiligt ist (er führt hier das Beispiel eines kartenlesenden Touristen an), konventionales und praktisches Verhalten simultan realisiert werden: „Spiel impliziert gleichzeitige Realisierung (nicht aber chronologische Alternation!) von praktischem und konventionalem Verhalten. Dem Spielenden muß bewußt sein, daß er an einer konventionalen (nicht echten) Situation teilnimmt (das Kind ist sich darüber im klaren, daß es einen Spielzeugtiger vor sich hat, und fürchtet sich nicht), und dies gleichzeitig nicht bewußt sein (das Kind hält den Spielzeugtiger im Spiel für einen lebendigen). Vor dem lebenden Tiger hat das Kind nur Angst; vor dem Puppentiger hat es nur keine Angst; den gestreiften Morgenrock aber, der über den Stuhl geworfen ist und den Tiger im Spiel darstellt, fürchtet es ein wenig, d.h. es hat gleichzeitig Angst und keine Angst [Herv. i. O.].“233
Besonders interessant an Lotmans Ausführungen ist nun, dass er diesen Willen zum zweischichtigen Verhalten – man könnte im Sinne der noch folgenden Ar227 Vgl. U. Thiedeke: Spiel-Räume, S. 18. 228 Vgl. U. Thiedeke: Spiel-Räume, S. 18. 229 Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 [1970], S. 105. 230 Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Lotman war ein Verweis in T. Anz/H. Kaulen: Einleitung, S. 4. 231 Vgl. Groos, Karl: Die Spiele der Thiere, Jena: Fischer 1896. 232 Vgl. J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 102. 233 J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 103 f.
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gumentationsschritte sagen: diesen besonderen Rezeptionsmodus – auch als exemplarisch für den künstlerischen Bereich ansieht, nämlich bezüglich der Frage, wie sich empathische Einfühlung und das Bewusstsein von Fiktionalität miteinander vertragen: „Eine wichtige Eigenschaft des künstlerischen Verhaltens ist, daß derjenige, der es praktiziert, quasi gleichzeitig zwei Verhaltensweisen realisiert: er erlebt alle Emotionen, die eine analoge praktische Situation hervorrufen würde, und ist sich zur gleichen Zeit doch klar bewußt, daß die mit dieser Situation verbundenen Handlungen (z. B. dem Helden Hilfe zu erweisen) nicht ausgeführt werden dürfen.“234
An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass Lotman mit seiner Bezugnahme auf den „künstlerischen Text“235 von einem verhältnismäßig weiten Textbegriff236 ausgeht und seine konkreten Beispiele sich entsprechend nicht nur auf literarische Texte, sondern auch auf filmische und theatrale Texte beziehen. Im Sinne Lotmans betont wohl auch Peter Wuss in einem bisher unveröffentlichten Skript den „zweischichtigen Charakter sowohl des spielerischen Verhaltens als auch von Prozessen bei der Kunstrezeption und -produktion“237, wobei hier auch die si-
234 J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 108 f. 235 J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 99. 236 Vgl. J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 85 ff. 237 P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 27. Ohler und Nieding nehmen hier Bezug auf ein unveröffentlichtes Konzeptpapier von Peter Wuss aus dem Jahr 2000. In seinem Aufsatz Film und Spiel, der später erschienen ist und in welchem Wuss ebenfalls ausdrücklich Lotmans Grundüberlegungen als Ausgangspunkt nimmt, betont er zwar wörtlich das „zweischichtige[ ] Verhalten[ ]“(S. 220) in der Spielsituation, geht aber in diesem Zusammenhang dennoch von der Konstruktion einer „Sphäre mit Sonderbedingungen [aus], die es in der realen Lebenswelt so nicht [gäbe]“ (S. 220) und die zeitweilig den Platz der ‚Alltagsrealität‘ einnehme. Entsprechend realisiert sich bei Wuss – zumindest, was die aufgrund verfügbarer Quellen nachprüfbare Argumentation betrifft, ein Entweder-Oder statt ein Sowohl-alsauch. Obwohl er im Prozess des Filmerlebens eine „spezifische BedeutungsOszillation von unterschiedlichen Reizangeboten aus der physischen Realität und der filmischen Fiktion“ (S. 229) annimmt, konstruiert er den Akt der Rezeption doch als „ein Heraustreten aus der eigentlichen Lebenspraxis in eine andere Erlebnissphäre“ (S. 229). Wuss, Peter: „Film und Spiel. Menschliches Spielverhalten in Realität und Rezeptionsprozess“, in: T. Schick/T. Erbbrecht, Emotion – Empathie – Figur (2008), S. 217-248.
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multane Aktivierung von ‚Alltagsrealität‘ und fiktiver Welt eine zentrale Rolle spielt.238 Gerade in Bezug auf die beiden zuletzt genannten Forschungsansätze fällt auf, dass eine Simultanität im Rezeptionsprozess nun anscheinend nicht mehr nur für spielhaft gerahmte Kommunikationssituationen angenommen, sondern eine Übertragbarkeit auf narrativ gerahmte Kommunikationssituationen zumindest mitgedacht wird. Trotzdem soll die These, dass bezüglich der Modellierung von Fiktionalität narrativer Hervorbringungen verstärkt auf ein Entweder-oder statt auf ein Sowohl-als-auch gesetzt wird, aufrecht erhalten werden. Denn zum einen lässt sich feststellen, dass diese Übertragbarkeit bisher nur auf theoretischer Basis existiert und konkrete Anwendungsmodelle nach wie vor ausstehen. Zum anderen lässt sich zeigen – und das soll vor allem Ziel des fünften Kapitels sein –, dass bevorzugt dann, wenn es um die emotionale und kognitive Beteiligung der Rezipienten an fiktiven Figuren geht, in den Forschungsansätzen nach wie vor fast ausschließlich auf die Modellierung eines Entweder-oder gesetzt wird. Wie groß die Herausforderungen zu sein scheinen, vor welche die Frage nach einer Bewusstheit oder Nicht-Bewusstheit von Fiktionalität im Rezeptionsprozess die Theoretiker stellt, zeigt sich exemplarisch an den Überlegungen Katja Mellmanns. Unter Rückgriff auf die Überlegungen Batesons schließt sie sich zunächst seiner Idee von Metakommunikation an, die bestimmte Situationen als ‚nicht ganz wahr‘ oder ‚so nicht gemeint‘ rahmt, und propagiert das Vorhandensein einer solchen Metakommunikation auch für die Rezeption literarischer Texte.239 Zugleich kann sich Mellmann aber nicht von der Annahme einer – wie sie es wortneuschöpfend nennt – weitgehend vollständigen „Illudierung“240 des Lesers im Rezeptionsprozess lösen: Bezugnehmend auf Batesons Konzeption von „‚primären‘ (spontanen) und ‚sekundären‘ (bewussten) psychischen Prozessen 238 Vgl. P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 27. 239 Vgl. Mellmann, Katja: „Das ‚Spielgesicht‘ als poetisches Verfahren. Elemente einer verhaltensbasierten Fiktionalitätstheorie“, in: T. Anz/H. Kaulen, Literatur als Spiel (2009), S. 57-78, hier S. 58. 240 K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 61. „Um die irreführende Konnotation einer ‚(Selbst-)Täuschung‘ zu vermeiden, spreche ich im Folgenden nicht von ‚Illusion‘, sondern leicht abwandelnd von ‚Illudierung‘ und meine damit eben jenen Prozess des unwillkürlichen Hineingleitens in das ‚Als-Ob‘ einer fiktiven Wirklichkeit. Das anschauliche Bild des ‚Versinkens‘ (‚immersion‘) umschreibt diesen Sachverhalt recht gut, sofern man hinzudenkt, dass es sich nicht um ein finales Versinken handelt, sondern ein ‚Auftauchen‘ jederzeit möglich ist.“
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bei Spiel“241, geht Mellmann davon aus, dass ein Bewusstsein über die Fiktionalität der Situation im Lektüreprozess zwar als „latente[ ] Metainformation“242 immerzu anwesend ist, aber erst im Rahmen eines – nicht pauschal, sondern vor allem bei Störungen243 auftretenden – „‚sekundäre[n]‘ Bewusstseinsprozess[es]“244 akut wird: „[…] der rein illudierte Leser ist zunächst als Standardfall belletristischer Lektüre anzusehen.“245 Abgesehen davon, dass es sehr problematisch zu sein scheint, unterschiedlich bewusstes Wissen über Fiktionalität zu konzeptualisieren – müssen doch alle Formen von Bewusstsein auf dieselben Fiktionalitätssignale (zum Beispiel das Aufschlagen des Buches vor Beginn der Lektüre) Bezug nehmen – wenden sich die vorliegenden Überlegungen dezidiert gegen die von Mellmann vertretene Annahme (1) einer wie auch immer gearteten Unwillkürlichkeit des Einlassens auf Fiktion vonseiten des Rezipienten und (2) der Möglichkeit eines vollständigen ‚Versinkens‘ oder ‚Aufgehens‘ in der fiktiven Welt. Jacques Ehrmann spricht sich mit vehementer Kritik an Huizingas und Cailloisʼ Überlegungen dagegen aus, Spiel per se als etwas Mimetisches aufzufassen.246 Dies setze das Primat einer ontologisch gegebenen Realität voraus, welche im Spiel dann abgebildet würde.247 Er plädiert für eine Spieldefinition, die sowohl eine Definition von Realität als auch von Kultur mitdenkt: „To define play is at the same time and in the same movement to define reality and to define culture. As each term is a way to apprehend the two others, they are each elaborated, constructed through and on the basis of the two others [Herv. i. O.].“248 Auch wenn sich die hier diskutierte Fragestellung nach der Bewusstheit der Fiktionalität im Spiel für Ehrmann in dieser Form freilich nicht stellt, so wird in seinen Ausführungen doch deutlich, dass er die fiktive Spielwelt eben nicht als abgegrenzte, vollkommen von der Realität getrennte Welt ansieht, sondern er im Ge241 K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 62. 242 K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 66. 243 Mellmann benennt etwa die Kommunikation von Werthaltungen, die jenen des Rezipienten entgegenstehen, als Beispielfall einer solchen Störung. Vgl. K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 67. 244 K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 66. 245 K. Mellmann: Das Spielgesicht als poetisches Verfahren, S. 66. 246 Ehrmann versteht Mimesis hier als gestaltete Abbildung der Wirklichkeit: „[…] an embellished, ennobled representation.“ Ehrmann, Jacques: „Homo Ludens Revisited”, in: Yale French Studies o. Jg. (1968), S. 31-57, hier S. 37. 247 Vgl. J. Ehrmann: Homo Ludens Revisited, S. 33. 248 J. Ehrmann: Homo Ludens Revisited, S. 55.
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genteil ausgeprägte Wechselwirkungen zwischen beiden Welten annimmt. So soll auch in diesem Rahmen davon ausgegangen werden, dass jede Art von fiktiver Welt – sei sie nun im Rahmen spielhafter oder narrativer Kommunikationssituationen hergestellt – nicht als das bloßes Abbild einer ontologisch vorhandenen und unabänderlich feststehenden Realität angesehen werden kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass jede Fiktionalitätszuschreibung (1) sich laufend im Abgleich mit der sie umgebenden ‚Alltagsrealität‘ und in Abhängigkeit von den wahrnehmenden Personen ändert und (2) immer auch auf die ‚Alltagsrealität‘ verändernd zurückwirkt.249
4.4 D AS M ODELL
DER LUDISCHEN
F IKTIONALITÄT
In David Lynchs Film Mulholland Drive (USA/F 2001) gibt es eine außerordentlich eindrückliche Szene: Um zwei Uhr nachts besuchen die beiden Protagonistinnen spontan den sogenannten Club Silencio, der mit seiner Guckkastenbühne, der Deckenmalerei und den gepolsterten Sitzen auf den Zuschauerrängen an ein altes Theater erinnert. Ausführlich und sich dabei ständig wiederholend erklärt eine Art Moderator auf der Bühne zu Beginn das Prinzip des Clubs Silencio: Hier kommen sämtliche Töne vom Band, alles ist aufgezeichnet, alles ist Illusion. Illustriert wird das Ganze zusätzlich durch einen Trompetenspieler, der mit dem Instrument an den Lippen die Bühne betritt, dieses aber dann von seinem Mund abhebt, ohne dass die bereits zuvor gehörte Trompetenmusik verstummen würde. Unter der Prämisse ‚Alles ist Illusion‘ betritt nun die lateinamerikanische Singer-Songwriterin Rebekah del Rio, die sich in Mulholland Drive selbst spielt, die Bühne und performt mit der Ballade Llorando das Lied, das sie auch in der ‚Realität‘ berühmt gemacht hat. Von ihrem Auftritt sind die beiden Protagonistinnen derart bewegt, dass sie anfangen zu weinen, bis Rebekah del Rio mit einem Mal auf der Bühne umkippt und von Helfern davongetragen wird, während vom Band weiterhin Llorando zu hören ist. In dieser nur knapp sechsminütigen Szene verhandelt Regisseur David Lynch die gesamte Bandbreite der vermeintlichen Dichotomie zwischen emotionaler und kognitiver Beteiligung an der Fiktion und Beobachtung der Konstruktionsprinzipien von Fiktion und stellt die Möglichkeit ihrer unbedingten Trennung infrage. Dies funktioniert auf mehreren Ebenen: Die Protagonistinnen wissen zwar, dass es sich bei der auf der Bühne des Club Silencio gezeigten Inszenierung um pure Illusion handelt, dennoch reagieren sie empathisch auf das Büh-
249 Vgl. dazu auch A. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 24.
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nengeschehen.250 Stärker verwickelt in das Geflecht aus Fiktionalität, Illusion und Realität ist darüber hinaus der Rezipient, der die Club-Silencio-Szene ja nicht nur während des Rezeptionsprozesses eines fiktionalen Films wahrnimmt und sich gegebenenfalls von der Performance der Sängerin empathisch mitreißen lässt, sondern der möglicherweise Rebekah del Rio als tatsächlich in seiner ‚Alltagsrealität‘ existierende Sängerin und auch ihren berühmten Song wiedererkennt. David Lynch illustriert und inszeniert mit der Club-Silencio-Szene eine Rezeptionssituation, die jener ähnlich ist, wie sie Hans-Jost Frey für den Text zwischenspiel von Konrad Bayer – eine Art Metatext über eine Theateraufführung, der zugleich die Regieanweisungen und den kompletten Dramentext enthält – imaginiert hat: „Gewöhnlich besteht die Vorstellung, man lebe in einer wirklichen Welt, in der man auch als Theaterbesucher insofern bleibt, als man sich als Zuschauer im Zuschauerraum aufhält. Auf der Bühne, jenseits des Vorhangs, ist dann das andere, Nichtwirkliche angesiedelt: die Repräsentation, die Fiktion, das Sprachliche. Das Theater bleibt so lange ungefährlich, als die Bodenständigkeit der Zuschauersituation intakt bleibt, an der die Fiktion gemessen werden kann. Man behält dann einen festen Standpunkt, von dem aus man beurteilt, was auf der Bühne geschieht. Man bleibt außerhalb des Spiels und schaut es an. Alle diese klaren Trennungen sind in Bayers Theater verwischt. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht der Zuschauer nichts anderes als andere Zuschauer, die wie er bezahlt haben, um das Stück zu sehen. Das Zuschauen selbst ist also die Handlung des Stücks, das gespielt wird. Das heißt aber, daß die ‚Wirklichkeit‘ des Zuschauers gefährdet, aufs Spiel gesetzt ist und in das Spiel hineingezogen wird. Aus dieser Verunsicherung der Zuschauerposition gibt es keinen Ausweg, weil Bayers Theater ein totales Theater ist; es sind die beiden Hälften der Menschheit, die sich in ihm begegnen.“251
250 David Lynch kommentiert hier im Übrigen auch ironisch die Annahme einer Einszu-eins-Übertragung von Empfindungen: Als der Moderator ein kleines Gewitter mit Blitz und Donner im Bühnenraum ‚heraufbeschwört‘, wird Protagonistin Betty wie von einem Erdbeben durchgeschüttelt. Der Song Llorando, eine spanische Version von Roy Orbisons Crying, handelt vom Weinen und tatsächlich fangen die beiden Protagonistinnen – scheinbar ohne zu wissen, warum – zu weinen an, als sie das Lied hören. 251 H.-J. Frey: Der unendliche Text, S. 278 f.
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In beiden Fällen – in der Club-Silencio-Szene von Mulholland Drive und in Konrad Bayers fiktionaler Theateraufführung252 – wird die Wahrnehmung des Zuschauers von der Beobachtung der fiktiven Welt auf die Beobachtung ihrer Konstruktionsprinzipien gelenkt und dadurch zugleich die eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmungserwartungen beobachtbar. Gleichzeitig wird aber eine empathische Wahrnehmung nicht unterbunden, auch wenn sich diese nicht unbedingt wie gewöhnlich auf den Mitvollzug von Figurenhandlung bezieht.253 Es wird hier ein gleichzeitiges Innerhalb und Außerhalb der Fiktion dargestellt und damit gleichzeitig eine Fiktionalität illustriert, wie sie im vorangegangen Kapitel als charakteristisch für das Spielhafte erklärt wurde. Eine solche Art der Fiktionalität, die simultan einen Mitvollzug fiktiver Handlungen sowie die Beobachtung der eigenen Rezeption und der Konstruktionsprinzipien von Fiktionalität ermöglicht, soll im weiteren Verlauf als ludische Fiktionalität bezeichnet werden. Ausgangspunkt des vierten Kapitels war die anthropologisch orientierte Definition des Spielhaften, wie sie Johan Huizinga in Homo Ludens vorgelegt hat. Bei Durchsicht der Forschungsansätze zur Übertragung des Spielbegriffs auf narrative Hervorbringungen konnte erstens festgestellt werden, dass Probleme dadurch entstehen, dass ungenügende Definitionen dessen vorliegen, was Spiel überhaupt ist und es dadurch immer wieder zu Problemen bei der intendierten Übertragung kommt. Es konnte daraus mit Wittgenstein der Schluss gezogen werden, dass es keine Merkmale gibt, die allen Spielen gemeinsam sind, sondern dass stattdessen nach ‚Familienähnlichkeiten‘ zwischen Spielen (beziehungsweise zwischen Spiel und Narration) zu fahnden ist. Zweitens konnte mittels Bewertung der Forschungsansätze festgestellt werden, dass eine einfache Analogiebildung zwischen Spiel und Narration nicht zielführend ist, da hierdurch ein unspezifiziertes Phänomen durch ein anderes unspezifiziertes Phänomen erklärt werden soll. Die Überlegungen folgten deshalb der Annahme, dass spielhaft und narrativ gerahmte Kommunikationssituationen zumindest hinsichtlich einer großen Übereinstimmung, nämlich der Tatsache, dass in beiden Fiktionalität generiert wird, vergleichbar sind. Diese große
252 Vgl. Bayer, Konrad: „der stein der weisen“, in: Konrad Bayer, Sämtliche Werke. Band 2, hg. von Gerhard Rühm, Stuttgart: Klett-Cotta 1985 [1954-1962], S. 157166, S. 161. 253 Bei Frey heißt es dazu unter anderem: „Spiel zwischen zwei Spielen, den beiden Zuschauerhälften, die einander gegenseitig den Boden entziehen.“ H.-J. Frey: Der unendliche Text, S. 279.
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Übereinstimmung birgt in sich aber zugleich einen prägnanten Unterschied, nämlich die Form, in welcher Fiktionalität konzipiert wird. Nachfolgend wurde die spezifische Konzeption von Fiktionalität im Spiel erarbeitet, die als grundsätzlich der Fiktionalität narrativ gerahmter Kommunikationssituationen entgegengesetzt dargestellt wurde. Während im Rahmen der ludischen Fiktionalität – wie gezeigt werden konnte – stets ein Sowohl-als-auch präsent ist, organisiert sich die narrative Fiktionalität – so wurde bisher behauptet – über ein Entweder-oder. Diese Behauptung gilt es nun im Rahmen des folgenden Kapitels zu belegen, wobei hierzu der Blick bevorzugt auf die Theorieansätze gelenkt werden soll, die versuchen, die emotionale und kognitive Beteiligung des Rezipienten am fiktiven Geschehen und insbesondere an fiktiven Figuren zu beschreiben. Davon ausgehend wird dann Kurs genommen auf die Entwicklung eines theoretischen Ansatzes in Bezug auf die Leitfragestellung dieses Buches, nämlich warum der besondere Typus der entgrenzten Figur eine simultane Anziehung und Abstoßung in der Wahrnehmung des Rezipienten hervorrufen kann.
5. Die Bivalenz in der Präsentation entgrenzter Figuren
In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, den zuvor erarbeiteten Typus der entgrenzten Figur und das Modell der ludischen Fiktionalität zusammenzuführen, um damit die Möglichkeit der besonderen Wahrnehmungsweise der entgrenzten Figuren als zugleich anziehend und abstoßend, bedrohlich und vertrauenswürdig, bewunderns- und verachtenswert theoretisch zu plausibilisieren. Dazu ist es notwendig, zunächst auf die Reichweite konventionalisierter Theorieansätze zur Beteiligung des Rezipienten an narrativen Hervorbringungen wie etwa Identifikation, Empathie oder auch Immersion einzugehen: Hierbei kann einerseits gezeigt werden, dass die Beteiligung des Rezipienten am fiktiven Geschehen meist über die Annahme einer kognitiven und/oder emotionalen Anteilnahme an den fiktiven Figuren geregelt wird und dass andererseits diese konventionalisierten Ansätze sich nicht für die Plausibilisierung einer paradoxalen Wahrnehmungsweise, wie sie gegenüber den entgrenzten Figuren typisch ist, eignen. In einem zweiten Schritt wird dann der Blick auf die konkrete Rezeption der entgrenzten Figuren gelenkt: Es wird gezeigt, dass aufgrund der Tatsache, dass die entgrenzten Figuren etablierte narrative und dramaturgische Strukturen aufbrechen und gängigen Grundmustern der Inszenierung ‚böser‘ Figuren widersprechen, es also zu einer Nicht-Anwendbarkeit sich an hergebrachten Strukturen orientierender Wahrnehmungsweisen kommt, Unbestimmtheitsstellen auf der Ebene der Rezeption entstehen, welche die Wahrnehmung des Rezipienten zunächst stören. Die Neutralisierung dieser Unbestimmtheitsstellen kann nur dadurch geleistet werden, dass vom Rezipienten der Modus einer ludischen Fiktionalität, also der Modus eines Sowohl-als-auch, aktiviert wird. Der Wechsel zum Modus der ludischen Fiktionalität ist bereits – so die These – im Text des narrativen Medienangebots vorstrukturiert. Um dies zu zeigen, wird der Text – in diesem Fall die Filmbeispiele sowie die Tanzperformance Angoloscuro – auf vorhandene ‚Zweischichtigkeiten‘ oder
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– um bereits zuvor verwendete Begriffe von Schuhmacher/Korbel und Sallge aufzugreifen – ‚Doppeldramaturgien‘ und ‚Co-Existenzen‘ hin untersucht. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels kann so gezeigt werden, dass diese sich in der bivalenten Präsentation der Figuren Hannibal Lecter, Joker und Yukio Murata äußern. Abschließend wird William Forsythes Tanzperformance Angoloscuro thematisiert, die im Sinne des entwickelten Typus nicht nur als Figuration der Entgrenzung gelten kann, sondern mit deren Textstruktur ebenfalls die Anregung zum Wechsel in den Modus der ludischen Fiktionalität einhergeht.
5.1 R EICHWEITE KONVENTIONALISIERTER T HEORIEANSÄTZE ZUR R EZIPIENTENBETEILIGUNG Mit seiner Leitfragestellung nach dem Warum der besonderen Wirkungsweise entgrenzter Figuren bewegen sich dieses Buch vor allem auf dem Feld der Rezeptionsforschung. Ein wesentlicher und umfangreicher Teil dieses Forschungsbereichs befasst sich mit der Frage nach der Anteilnahme des Rezipienten an der dargestellten und im Falle von narrativen Hervorbringungen meist fiktiven Welt. Die bestehenden Theorieansätze zur Anteilnahme des Rezipienten sind alle mehr oder weniger – selbst im nichtfiktionalen Kontext – auf die Wahrnehmung der medialen Akteure und ihrer Handlungen ausgerichtet. In diesem Sinne betont auch Murray Smith die Bedeutung der Figuren für die Beteiligung der Rezipienten am dargestellten Geschehen: „Our imaginative engagement with fictional narratives requires, I will argue, a basic notion of human agency or ‚personhood‘, which is a fundamental element of both our ordinary social interactions and of our imaginative activities.“1 5.1.1 Immersion Eine Ausnahme bildet hier das Konstrukt der Immersion, das zunächst nur ein generelles Eintauchen in die präsentierte Welt beschreibt und überwiegend an bestimmte Darstellungsmodi (Perspektive, Realitätsnähe) als Auslöser rückgebunden wird. So definieren etwa Britta Neitzel und Rolf F. Nohr das Phänomen der Immersion als ein „Hineingezogenwerden eines Zuschauers, Lesers oder Benutzers in die Welt des Textes“2. Während der Begriff der Immersion seine Be-
1 2
M. Smith: Engaging Characters, S. 17. Neitzel, Britta/Nohr, Rolf F.: „Das Spiel mit dem Medium. Partizipation, Immersion, Interaktion“, in: Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.), Das Spiel mit dem Medium. Parti-
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deutung zunächst vor allem an der Beschreibung virtueller Realitäten3 sowie daran anknüpfend an der Analyse der Rezipientenbeteiligung an elektronischen Spielen entfaltete und in diesem Kontext eng verbunden ist mit Aktivitätsbegriffen wie Interaktion und Partizipation4, wird das Konstrukt mittlerweile auch häufig dazu genutzt, bestimmte Rezeptionsphänomene zu beschreiben, wie sie im Gefolge anderer Medienangebote, wie beispielsweise bei Spielfilmen oder Romanen auftreten. Grundsätzlich inhärent ist dem Konstrukt das Moment einer völligen Ablösung des Rezipienten von der ‚Alltagsrealität‘, gepaart mit einem gleichzeitigen Aufgenommenwerden in die fiktive Welt. Entsprechend weisen Neitzel und Nohr darauf hin, dass Strategien zur Herstellung von Immersion vor allen Dingen „Techniken [beinhalten], die die Konstruktion der Fiktion verstecken“5. So deutlich aber Immersion ein Primat der fiktiven Welt über die ‚Alltagsrealität‘ für die Dauer der Rezeption betont – Kosfeld vergleicht den Rezipienten sogar mit einem Taucher, der erst mit Auflösung des immersiven Zustands wieder an die Oberfläche zurückkehrt6 –, so schwer fällt es dann doch bestimmten Autoren, eine solche Unbedingtheit der Illusionierung anzunehmen, sodass jeweils versucht wird, das Konstrukt der Immersion entsprechend umzudeuten. Ausgehend von einer Betrachtung mediengeschichtlicher und filmtheoretischer Ansätze und insbesondere André Bazins „Mythos vom totalen Kino“7 weist Schweinitz die Idee einer „totalen Immersion“8 des Rezipienten als eine zipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel, Marburg: Schüren 2006, S. 9-17, hier S. 16. 3
Vgl. Schweinitz, Jörg: „Totale Immersion und die Utopien von der virtuellen Realität. Ein Mediengründungsmythos zwischen Kino und Computerspiel“, in: B. Neitzel/R. F. Nohr, Das Spiel mit dem Medium (2006), S. 136-153, hier S. 138. Vgl. auch Kosfeld, Christian: Eintauchen in mediale Welten. Immersionsstrategien im World Wide Web, Wiesbaden: DUV 2003, S. 9.
4 5
Vgl. B. Neitzel, R. F. Nohr: Das Spiel mit dem Medium, S. 15 ff. B. Neitzel/R. F. Nohr: Das Spiel mit dem Medium, S. 16. Vgl. dazu das rhetorische Prinzip der dissimulatio artis, bei der es darum geht, die kunstfertige Gestaltung vor den Zuhörern zu verbergen. Till, Dietmar: „Verbergen der Kunst (lat. dissimulatio artis)“, in: Gerd Veding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 9, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 1034-1042.
6 7
Vgl. C. Kosfeld: Eintauchen in mediale Welten, S. 14. J. Schweinitz: Totale Immersion, S. 141. Schweinitz nimmt mit seiner eigenen Übersetzung Bezug auf den Originaltitel von Bazin, André: „Le Mythe du Cinéma Total“, in: Critique o. Jg. (1946), o. S.
8
J. Schweinitz: Totale Immersion, S. 140.
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damals wie heute vorhandene Utopie des Medialen und insbesondere des Filmischen aus.9 Zugleich macht er deutlich, dass schon die historischen Überlegungen trotz ihrer identifizierbaren Anleihen am Immersionsbegriff „nicht auf die Nicht-Unterscheidbarkeit des Erlebens im Kino und in der Realität“10 zielten. Und so distanziert sich auch Schweinitz von einer solcherart gestalteten Konzeption des Rezeptionserlebens: „Nicht allein die Intensität des Illusionismus von Gefahr und Schrecken sorgt für die Attraktion etwa des Horror- oder Spannungskinos – um ein populäres Beispiel zu wählen. Die gesuchte spielerische Erlebnisqualität entfaltet sich erst dadurch, dass die Rezipierenden die Chance haben, zwischen höchster Involviertheit und dem Bewusstsein von dieser ‚Filmsituation‘ psychisch zu oszillieren.“11
In ähnlicher Weise arbeitet sich Christiane Voss am Immersionsbegriff ab: Für sie stellt sich die zentrale Frage, inwiefern das immersive Filmerleben als ästhetische Erfahrung nach der Theorie von John Dewey beschrieben werden kann, obwohl das Konstrukt der Immersion grundsätzlich keine Betrachtung der Konstruktionsprinzipien des Kunstwerkes, bei Dewey als ‚Selbstreflexivität‘ beschrieben, zulässt.12 Die einzige Lösung für Voss liegt nachvollziehbarerweise darin, das Konstrukt der Immersion letztendlich zu unterwandern und eine grundsätzliche Unterscheidbarkeit von Realität und Fiktion im immersiven Zustand anzunehmen: „Während der Rezeption wird unser Bewusstsein nie, wie in Traumzuständen, vollständig von einem Filmgeschehen besetzt. Die reale Rezeptionsumgebung und die filmische Wirklichkeit werden weiterhin von uns unterschieden, wie subliminal auch immer.“13 Die vorliegenden Überlegungen unterstützen die Ansicht von Schweinitz und Voss, dass es nicht sinnvoll ist, von einer vollständigen Illusionierung des Rezipienten in welcher medialen Situation auch immer auszugehen. Zugleich zeigt sich an beiden Beispielen, dass eine solche Annahme im Konstrukt der Immersion grundsätzlich eben nicht angelegt ist, dass mit der Metapher vom Eintauchen eben immer auch die Anlage einer Dichotomie, ein Entweder-oder, verbunden ist. Nur deshalb müssen sich beide Autoren ja so dezidiert dieser Position entgegenstellen und sich argumentativ abgrenzen. 9
Vgl. J. Schweinitz: Totale Immersion, S. 140 ff.
10 J. Schweinitz: Totale Immersion, S. 147. 11 J. Schweinitz: Totale Immersion, S. 148. 12 Vgl. Voss, Christiane: „Fiktionale Immersion zwischen Ästhetik und Anästhesierung“, in: Image o.Jg. (2008), S. 3-15, hier S. 8. 13 C. Voss: Fiktionale Immersion, S. 13.
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Entsprechend zeigt sich, welche Probleme das Konstrukt der Immersion bei jeder Anwendung mit sich führt: Im Sinne einer Suspendierung von Realitätsanbindung während der Rezeption fiktiver Welten leistet das Konstrukt der Immersion so beispielsweise Forschungsansätzen Vorschub, die einen Anstieg gesellschaftlicher Gewalt in der Folge der Rezeption gewalthaltiger Medien prophezeien oder Eskapismus-Tendenzen einer sich durch die Rezeption fiktiver Welten von der sozialen Realität abwendenden Jugend erwarten.14 5.1.2 Parasoziale Interaktion, Einfühlung/Empathie, Identifikation Befasst man sich nun spezifischer mit den theoretischen Ansätzen zur Rezipientenbeteiligung, die mediale Akteure beziehungsweise fiktive Figuren als Orientierungspunkte setzen, so lässt sich feststellen, dass man zwischen jenen unterscheiden kann, die eine Perspektivenübernahme durch den Rezipienten in jeweils verschiedener Ausprägung berücksichtigen und jenen, die den Rezipienten als zusätzlichen Akteur im Austausch mit den Figuren denken.15 Zugleich fällt auf, dass die Beteiligungstheorien emotionale und kognitive Anteile der Rezeption in ganz unterschiedlicher Gewichtung berücksichtigen. So lassen sich beispielsweise in Bezug auf die erste Variante – der Perspektivenübernahme durch den Rezipienten – als wesentlich theoretische Ansätze zur Einfühlung/Empathie sowie zur Identifikation verorten, wobei letztere in der Regel stärker den kognitiven Abgleich des Rezipienten mit der Figur betonen. Zugleich können die Ansätze zur Einfühlung und Empathie als Grundvoraussetzung für
14 Vgl. Furtwängler, Frank: „Computerspiele am Rande des metakommunikativen Zusammenbruchs“, in: B. Neitzel/R. F. Nohr, Das Spiel mit dem Medium (2006), S. 154-169, hier S. 154 f. Furtwängler bringt in seinem Beitrag auch die demnach einander widersprechenden Konzepte der Immersion und der Metakommunikation im Spiel von Gregory Bateson (wie im vierten Kapitel dieses Buches dargestellt) zusammen. 15 Zur Frage danach, wie das inzwischen breite Feld der theoretischen Beteiligungsansätze sinnvoll strukturiert werden kann, liegen ganz unterschiedliche Vorschläge vor. So unterscheidet beispielsweise Eder fünf Aspekte zur Erklärung emotionaler Reaktionen. Vgl. Eder, Jens: „Drei Thesen zur emotionalen Anteilnahme an Figuren“, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), S. 362-378, hier S. 367 f.
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die Annahme von Identifikationsprozessen angesehen werden.16 Beide Herangehensweisen dienen wiederum als Ausgangspunkt theoretischer Plausibilisierung noch differenzierterer Möglichkeiten der Beteiligung des Rezipienten am medialen Geschehen, wie beispielsweise der Phänomene des mentalen Probehandelns17 oder der projektive Anteilnahme18. An dieser Stelle sei angemerkt, dass alle theoretischen Ansätze zur Rezipientenbeteiligung keineswegs trennscharf zueinander sind, sondern sich häufig auch gegenseitig bedingen beziehungsweise Teilaspekte einer umfassenderen Theorie darstellen.19 Probleme bereitet hier erneut die Tatsache, dass viele Ansätze nicht ausreichend genau definierte Begrifflichkeiten in den Mittelpunkt stellen und häufig unklar bleibt, auf welche Ebene der Rezeption sie sich beziehen, wie Heinz Bonfadelli exemplarisch für das Phänomen der Identifikation herausgear16 Vgl. Roselt, Jens: „Einfühlung“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 83-85, hier S. 83. 17 Indem sich der Rezipient mental an die Stelle der fiktiven Figur oder Konstellation setzt, kann er in seinen Gedanken quasi ‚risikolos‘ verschiedene Situationen durchleben und bisher unbekannte Rollen sowie neue Handlungen testen. Vgl. Charlton, Michael/Neumann, Klaus: Lebensbewältigung und Medienkonsum in der Familie. Methode und Ergebnisse der strukturanalytischen Rezeptionsforschung – mit fünf Falldarstellungen, München/Weinheim: Psychologie-Verlags-Union 1986, S. 46. Während Charlton und Neumann das mentale Probehandeln vor allem im Kindesalter thematisieren, gehen andere Autoren auf die lebenslange Bedeutung dieser Imaginationsmöglichkeit für die Weiterentwicklung des persönlichen Entscheidungsverhaltens und den Erhalt der geistigen Gesundheit ein. Vgl. Schwender, Clemens: Medien und Emotionen. Evolutionspsychologische Befunde einer Medientheorie, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2001, S. 87 f. Vgl. auch K. Eibl: Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 16. Zur Herkunft dieser Ansätze aus der philosophischen Anthropologie vgl. insbesondere die Idee vom „Hiatus“ in Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkristische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940. Teilband 1, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M.: Klostermann 1993, S. 393-400. 18 Bei der projektiven Anteilnahme übertragen die Rezipienten ihre eigenen Emotionen und Überlegungen auf die Figur: Sie gehen also davon aus, dass die Figur ebenso fühlt und denkt wie sie. Jens Eder hat die Projektion als umgekehrte Identifikation beschrieben. Vgl. J. Eder: Drei Thesen, S. 368. 19 Dies hat beispielsweise Jens Eder auch für die von ihm herausgearbeiteten Formen imaginativer Nähe festgestellt. Vgl. Eder, Jens: „Imaginative Nähe zu Figuren“, in: montage/av 15 (2006), S. 135-160, hier S. 151.
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beitet hat.20 Darüber hinaus muss davon ausgegangen werden, dass sich während der Dauer der Rezeption nicht nur eine Form der Anteilnahme realisiert, sondern dass die verschiedenen Arten einander ablösen oder ergänzen können.21 Im Kontext der Beteiligungstheorien, die nicht von einer Perspektivenübernahme durch den Rezipienten ausgehen22, sondern die ihn als zusätzlichen Akteur im Austausch mit den Figuren konzipieren, scheint vor allem der Ansatz der Parasozialen Interaktion von Bedeutung zu sein. Diese Variante der inneren Teilnahme wurde von den amerikanischen Soziologen Donald Horton und Richard Wohl vor allem für die Beschreibung des Umgangs mit Bildschirmakteuren des Fernsehens, wie zum Beispiel Moderatoren, herausgearbeitet.23 In aktuelleren Forschungsansätzen wird auch die Möglichkeit einer parasozial-interagierenden Teilnahme in Bezug auf fiktive Medienangebote in Betracht gezogen.24 Der Ansatz der Parasozialen Interaktion geht davon aus, „daß das Fernsehen dem Zuschauer die Illusion eines Face-to-face-Kontakts zu den auf dem Bildschirm agierenden Personen vermittelt“25 und ihm damit erlaubt, „so zu reagieren, als ob er mit den Medienakteuren in einer direkten personalen Interaktion stünde [Herv. i. O.]“26. Jens Eder hat darauf hingewiesen, dass auch in Bezug auf para20 Vgl. Bonfadelli, Heinz: Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven, Konstanz: UVK 2001, S. 198. 21 Vgl. J. Eder: Drei Thesen, S. 367 f. Vgl. Mikos, Lothar: Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens, Berlin: VISTAS 2001, S. 119. 22 Zum Abgleich des Konzepts der Parasozialen Interaktion mit verschiedenen Formen der Identifikation vgl. Giles, David C.: „Parasocial Interaction. A Review of the Literature and a Model for Future Research“, in: Media Psychology 4 (2002), S. 279-304, hier S. 289 f. 23 Vgl. Horton, Donald/Wohl, R. Richard: „Mass Communication and Para-Social Interaction: Observations on Intimacy at a Distance“, in: Gary Gumpert/Robert Cathcart (Hg.), Inter/media. Interpersonal Communication in a Media World, New York/Oxford: Oxford University Press 1979, S. 32-55. Erstmals erschienen in Journal of Psychiatry 19 (1956). 24 Vgl. Gleich, Uli: Parasoziale Interaktion und Beziehungen von Fernsehzuschauern mit Personen auf dem Bildschirm. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zum Konzept des Aktiven Rezipienten, Landau: Verlag Empirische Psychologie 1997, S. 38. Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 140. Giles hat darauf hingewiesen, dass in Bezug auf diese Erweiterung des Konzepts noch beträchtliche Forschung zu leisten ist, vgl. D. C. Giles: Parasocial Interaction, S. 291. 25 U. Gleich: Parasoziale Interaktion, S. 36. 26 U. Gleich: Parasoziale Interaktion, S. 36.
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soziale Interaktionen die ganze Bandbreite von einer eher kognitiven bis zu einer starken emotionalen Beteiligung des Rezipienten verwirklicht werden kann.27 Als einer der kulturtheoretisch ältesten Beteiligungsansätze mit Perspektivenübernahme erscheint die Idee der Einfühlung, in der aktuellen Forschung vorwiegend als ‚Empathie‘ bezeichnet, die „den Vorgang des Hineinversetzens, Hineindenkens oder Einlebens in einen anderen Menschen [beschreibt], wobei sich die Relation zwischen dem eigenen und fremden Ich zu einer Wechselwirkung steigern kann“28. Die Idee von der Einfühlung, die zunächst vor allem das Mitfühlen mit Personen der ‚Alltagsrealität‘ erfasst, wird vor allem im Kontext des bürgerlichen Trauerspiels ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und in Lessings Dramentheorie auch in Bezug auf das emotionale Verstehen fiktiver Figuren angewandt.29 Das Moment der empathischen Teilnahme ist so heute auch ein wesentliches Kriterium zur Beschreibung der Wirkung fiktiver Figuren aus Literatur und Film.30 Dabei ist die empathische Teilnahme von der Sympathie gegenüber den fiktiven Figuren systematisch zu trennen: „Die Zuschauer können zum einen die dargestellten Emotionen der Figur teilen und mit ihr fühlen […]; sie können aber auch Gefühle für eine Figur entwickeln, welche auf der Bewertung dieser Figur beruhen und prinzipiell unabhängig von ihren dargestellten Emotionen sind […][Herv. i. O.].“31 Diese differenzierte Unterscheidung geht auf Murray Smith zurück, für welchen in der „structure of sympathy“32 im Vergleich zur Empathie entsprechend eher kognitive Verstehensanteile wirken, wodurch die Sympathie bei Smith auch näher in Richtung des Konstrukts der Identifikation rückt.33 Dolf Zillmann hat dagegen angemerkt, dass sowohl wahrgenommene
27 Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 141. 28 J. Roselt: Einfühlung, S. 83. 29 Vgl. J. Roselt: Einfühlung, S. 83 f. Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: „Hamburgische Dramaturgie“, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 6: Werke 1767-1769, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985 [1769], S. 181-694. 30 Vgl. Zillmann, Dolf: „Empathy: Affect from Bearing Witness to the Emotions of Others“, in: Jennings Bryant/Dolf Zillmann (Hg.), Responding to the Screen. Reception and Reaction Processes, Hillsdale/NJ: Lawrence Erlbaum 1991, S. 135-167, S. 135 f. 31 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 142. 32 M. Smith: Engaging Characters, S. 102. 33 Vgl. M. Smith: Engaging Characters, S. 81 f. und 102 f.
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Emotionen als auch eigene Reaktionsemotionen eine Rolle in Bezug auf Empathie spielen.34 Eng verknüpft mit dem der Einfühlung/Empathie ist wie bereits angemerkt das Konstrukt der Identifikation35: Mit ihm wird die emotionale und/oder kognitive Gleichsetzung des Rezipienten mit einem oder mehreren Protagonisten bezeichnet.36 Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Rezipient „denkt, fühlt oder sich verhält, als ob die jeweiligen Charakteristika des Helden die eigenen wären“37 beziehungsweise dass er zeitweise die Perspektive der Figur übernimmt38. Jens Eder hat in diesem Zusammenhang auf das offensichtlich psychoanalytisch inspirierte Konstrukt der sogenannten „Wunsch-Identifikation [Herv. i. O.]“39 hingewiesen: „Die Zuschauer stellen sich vor, selbst (wie) die Figur zu sein oder versetzen sich gezielt in deren Situation, um tabuisierte Wünsche auszuleben oder einem Ich-Ideal näher zu kommen […].“40 Auch den Beteiligungsansätzen zur Parasozialen Interaktion, Empathie und Identifikation ist wie dem der Immersion die Denkweise eines Entweder-Oder grundsätzlich eingeschrieben. Im Rahmen der Parasozialen Interaktion werden die Interaktionspartner der ‚Alltagsrealität‘ für die Dauer der Rezeption durch fiktive beziehungsweise mediale Interaktionspartner ersetzt. Die Einfühlung oder Empathie als das Mitfühlen der Emotionen eines Akteurs oder einer fiktiven Figur setzt grundsätzlich das zumindest kurzzeitige Verdrängen oder Vergessen der eigenen akuten Emotionen voraus, ebenso wie im Rahmen einer gelungenen Identifikation der Rezipient stets von seiner gerade aktuellen persönlichen Situation abstrahieren muss. 34 Vgl. D. Zillmann: Empathy, S. 136. 35 Vgl. Fontius, Martin: „Einfühlung/Empathie/Identifikation“, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 2. Dekadent – Grotesk, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 121-142, hier S. 122. Zur Problematisierung des Begriffs der Identifikation vgl. K. Mellmann: Emotionalisierung, S. 134 ff. 36 Vgl. Brosius, Hans-Bernd: „Identifikation“, in: Günter Bentele/Hans-Bernd Brosius/Otfried Jarren (Hg.), Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden: VS 2006, S. 94. 37 H. Bonfadelli: Medienwirkungsforschung, S. 198. 38 Vgl. Cohen, Jonathan: „Audience Identification With Media Characters“, in: Jennings Bryant/ Peter Vorderer (Hg.), Psychology of Entertainment, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum 2006, S. 183-197, hier S. 184 f. 39 J. Eder: Drei Thesen, S. 368. 40 J. Eder: Drei Thesen, S. 368.
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Interessanterweise ist dagegen in den Anfängen einer Theorie der literarischen Identifikation innerhalb der Rezeptionsästhetik ein Sowohl-als-auch mitgedacht worden: So hat Hans Robert Jauß das Phänomen der Identifikation nicht nur als wesentlichen Aspekt ästhetischer Erfahrung bestimmt – worauf auch Fontius hinweist41 –, sondern gerade das paradoxale Moment eines – ja man könnte mit Blick auf das vierte Kapitel behaupten spielhaften – Oszillierens zwischen Nähe und Distanz als den Kernpunkt von Identifikation bestimmt: „Identifikation in ästhetischer Einstellung ist ein Schwebezustand, der in ein Zuviel oder Zuwenig an Distanz – in ein uninteressiertes Abrücken von der dargestellten Figur oder in ein emotionales Verschmelzen mit ihr umkippen kann.“42
Zu betonen ist an dieser Stelle zudem, dass Jauß fünf Varianten identifikatorischer Prozesse unterscheidet, wobei er die sogenannte „Assoziative Identifikation“43 als idealtypisch im Spiel und im Wettkampf verwirklicht sieht und zwar im Sinne einer Perspektivenübernahme beziehungsweise eines Schlüpfens in andere Rollen.44 Dabei denkt Jauß aber gerade nicht den Doppelcharakter der spielhaften Struktur mit, der sich – wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt – daraus ergibt, dass Spielregeln und Spielrollen in Kontrast zu Aspekten der ‚Alltagsrealität‘ wie beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften der Spieler gebildet werden, die während des Spiels dauerhaft präsent bleiben, sondern spricht von „der geschlossenen imaginären Welt einer Spielhandlung“45. Doch obwohl bereits Jauß den Aspekt der Simultanität in Bezug auf Identifikation mitdenkt, scheint es so, als ob in späteren theoretischen Entwürfen eine solche Gleichzeitigkeit wieder vehement ausgeschlossen wird. So sieht beispielsweise auch Henriette Heidbrink in der Einbindung von spielhaften Elementen, die auf die Gemachtheit der Fiktion verweisen, „eine tendenzielle Bedrohung des genuin antizipierten Rezeptionsgenusses“46: „Eine Rezeptionshaltung, die auf intensives emotionales Involvement spekuliert, ist auf eben jene Ingredienzien angewiesen, die den Rezeptionsstimulus Film so ausstatten, dass er die notwendigen Prozesse bei den Rezipienten auslöst und ihre weitere Entfaltung un41 Vgl. M. Fontius: Einfühlung/Empathie/Identifikation, S. 125. 42 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 244. 43 H. R. Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 260. 44 Vgl. H. R. Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 260. 45 H. R. Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 260. 46 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 120.
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terstützt. Dazu gehört insbesondere eine enge Bindung der Rezipienten an entsprechend differenziert dargestellte Figuren, denn diese dienen als Voraussetzung für die normative Einbindung in tragische oder melodramatische Formungen eines problem- und konfliktorientierten Plots.“47
Dolf Zillmann hat die Idee von einer empathischen Stellvertreter-Reaktion („vicarious reaction [Herv. i. O.]“48), also die Annahme, dass sich der Rezipient genau in die Situation der Figur versetzt und aufgrund dieser kompletten Perspektivenübernahme auch dieselben Emotionen fühlt, vehement zurückgewiesen.49 Für ihn setzen sich die empathischen Reaktionen sowohl aus eigenen Emotionen als auch aus mitgefühlten Emotionen zusammen, wodurch Zillmann grundsätzlich Fiktionalität und ‚Alltagsrealität‘ im Rahmen der Rezeptionssituation zusammendenkt. Zugleich allerdings spricht er sozialen Akteuren die Fähigkeit ab, zwischen den eigenen und den empathischen Empfindungen zu unterscheiden („misreadings of contributions to affect in empathetic experiences“50) – leugnet also die Fähigkeit den eigenen Wahrnehmungsprozess beobachten zu können –, wie beispielsweise im Fall der Eltern, die davon ausgehen, sich mit ihrem Kind über das eben erhaltene College-Diplom zu freuen, während sie in Wirklichkeit vor allem Stolz auf sich selbst und ihre Erziehungsleistung empfinden beziehungsweise Vorfreude auf die Party im Anschluss.51 Auch in Keith Oatleys Arbeiten, in welchen er sich intensiv mit Rezeptionsprozessen bei der Lektüre von Romanen und dem Sehen von Theateraufführungen und Filmen beschäftigt, gibt es Widersprüche, was die Verbindung von Ansätzen zur Identifikation/Empathie und der Frage nach einem Modus des Sowohl-als-auch betrifft. Zunächst nämlich unterscheidet Oatley in Bezug auf die Untersuchung von Rezeptionsemotionen zwischen Rezipienten, die außerhalb des Kunstwerkes verweilen, und denjenigen, die in es ‚eindringen‘ (entering), er reproduziert also die bekannte Dichotomie eines Entweder-oder.52 Und noch mehr: Oatley nimmt ausgehend von Erwin Goffmans Theorie sozialer Interaktionen die Anwesenheit einer „semi-permeable membrane“53 zwischen dem Innen und Außen eines fiktionalen Werkes an. Trotzdem betont er – allerdings ohne 47 H. Heidbrink: Wie der Sinn über die Runden kommt, S. 119 f. 48 D. Zillmann: Empathy, S. 141. 49 Vgl. D. Zillmann: Empathy, S. 141. 50 D. Zillmann: Empathy, S. 139. 51 D. Zillmann: Empathy, S. 139. 52 Vgl. Oatley, Keith: „A Taxonomy of the Emotions of Literary Response and a Theory of Identification in Fictional Narrative“, in: Poetics 23 (1994), S. 53-74, hier S. 54. 53 K. Oatley: A Taxonomy of the Emotions, S. 55.
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diese Feststellung in irgendeiner Art und Weise konkret mit der Weiterführung seiner theoretischen Ausarbeitung zu verbinden –, dass er das Verhältnis des Innen zum Außen eher als eine Art Kontinuum denn als Dichotomie begriffen wissen will und dass der Rezipient auch beide Zustände simultan erleben kann.54 Obwohl Oatley diese Einschränkung trifft, erscheinen bei ihm gerade die Rezeptionsmodi, in welchen der Rezipient in irgendeiner Weise emotional oder kognitiv an den fiktiven Figuren beteiligt ist (sympathy, emotions of identification), als diejenigen, die von innerhalb des Werkes erlebt werden.55 Und besonders in seiner Konzeption von Identifikation, welche er als elementaren Bestandteil der fiktionalen Simulation versteht (die bei ihm den für ihn unzureichenden Begriff der Mimesis ersetzt), wird ein simultanes Wahrnehmen der fiktiven Welt und der Herstellung von Fiktionalität keinesfalls zugelassen: „[…] the central process is that the reader runs the actions of the character on his own planning processes, taking on the character’s goals, and experiencing emotions as these plans meet vicissitudes.“56 Im Vergleich dazu positionieren sich Beteiligungstheorien der Theaterwissenschaft oft näher an einer Konstruktion des Sowohl-als-auch als literatur-, film- oder generell medienwissenschaftliche Ansätze. Dies mag auch an der Nähe der Theateraufführung zum Spiel (vgl. den Begriff des Theaterspiels) liegen, die sich vor allem dadurch bestimmt, dass hier Herstellung und Wahrnehmung der Fiktion zeitlich und räumlich so gut wie zusammenfallen, also eine Situation nicht nur der „leiblichen Ko-Präsenz“57, sondern auch der Gleichzeitigkeit verschiedener Wahrnehmungssituationen hergestellt wird. In diesem Sinne geht auch Bruce McConachie, der Coleridges Diktum von der willing suspension of disbelief als zu sehr mit religiösen Vorstellungen vom Glauben (faith) behaftet kritisiert58, von einer „doubleness of engaging theatre“59 aus. Er beschreibt hiermit eine spezifische Wahrnehmungsweise der Zuschauer, die sich oszillierend einerseits auf den Schauspieler, der die Rolle spielt, andererseits auch auf die 54 Vgl. K. Oatley: A Taxonomy of the Emotions, S. 55. 55 Vgl. K. Oatley: A Taxonomy of the Emotions, S. 57 und S. 61. 56 K. Oatley: A Taxonomy of the Emotions, S. 66. In einem später erschienenen Aufsatz spricht Oatley sogar davon, dass der Leser oder Zuschauer von der fiktionalen Welt ‚absorbiert‘ werde, wodurch sich ausgeprägte Referenzen an den Immersionsbegriff ergeben. Oatley, Keith: „Meetings of Minds: Dialogue, Sympathy, and Identification, in Reading Fiction“, in: Poetics 26 (1999), S. 439-454, hier S. 441. 57 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 58. 58 Vgl. McConachie, Bruce: Engaging Audiences. A Cognitive Approach to Spectating in the Theatre, New York: Palgrave MacMillian 2008, S. 43. 59 B. McConachie: Engaging Audiences, S. 46.
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dargestellte Figur fokussieren können, wobei dieser Wechsel nach McConachie meist nicht bewusst vonstattengeht.60 Um diese – nach Meinung des Autors speziell in der Theaterwahrnehmung auftretende Oszillation zu plausibilisieren – greift er auf die bei Gilles Fauconnier und Mark Turner61 entwickelte Theorie des „blending“62 zurück: Demnach können Zuschauer im Theater den Schauspieler und die Figur in einem Bild vermengen beziehungsweise in einem „concept of identity“63 zusammendenken, wobei das Gewicht jeweils abhängig von der Darstellungsweise und der Rezeptionssituation ein Mal mehr auf der actor-Seite und ein anderes Mal mehr auf der character-Seite liegt.64 60 Vgl. B. McConachie: Engaging Audiences, S. 41 f. Vgl. hierzu das „Phänomen der perzeptiven Multistabilität“, wie es Fischer-Lichte in Bezug auf die Wahrnehmung theatraler Aufführungssiuationen beschrieben hat und das bei ihr auch den Wechsel der Fokussierung des Zuschauers einerseits auf den Schauspielerkörper und andererseits auf die dargestellte Figur beszeichnet: E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 256. Auch Fischer-Lichte konzipiert hier allerdings keine Gleichzeitigkeit, sondern ein „Umspringen[ ]“ (S. 255), also wiederum ein dichotomisches Verhältnis. Vgl. dazu auch Jens Roselt, der den Spielbegriff dafür einsetzt, um das „Verhältnis von Schauspieler und Rolle“ als ein Sowohl-als-auch zu beschreiben. J. Roselt: Ironie des Theaters, S. 109. Auch für Rezeptionstätigkeit des Zuschauers stellt Roselt fest, dass die Annahme, „der Zuschauer versenke sich einfühlend in die Figur auf der Bühne, ohne dabei gewahr zu werden, daß diese nur von einem Schauspieler dargestellt wird [Herv. i. O.]“, zu einseitig sei. J. Roselt: Ironie des Theaters, S. 110. Er greift dabei auf Klaus Schwinds Modell vom Zuschauer als Mitspieler zurück, welches wiederum auf einem „dialogisch [Herv. i. O.]“ ausgerichteten Spielbegriff beruht, durch welchen verschiedene Bedeutungsebenen (zum Beispiel wahr und fiktiv) miteinander verknüpft werden können. Schwind, Klaus: „Schau-Spiel im Theater. Darstellende und zuschauende Mitspieler bei der Berliner Aufführung von Botho Strauß‘ Kalldewey Farce“, in: Forum Mordernes Theater 10 (1995), S.3-24, hier S. 14. 61 Vgl. Fauconnier, Gilles/Thurner, Mark: The Way We Think: Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York: Basic Books 2002. 62 B. McConachie. Engaging Audiences, S. 42. 63 B. McConachie: Engaging Audiences, S. 42. 64 Interessant ist hierbei, dass McConachie selbst an dieser Stelle auf das Kinderspiel als vergleichbare Erfahrung verweist, in welcher Person und Rolle übereinandergeblendet werden können: „Children performing ‚mummy and daddy‘ can drop their roleplaying for each other and quickly revert to more singular identities. Spectators can slip out of the blend of performance to adjust their bodies in their seats or to mentally note that an actor’s costume fits him poorly.“ B. McConachie: Engaging Audiences, S. 44.
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Obwohl McConachie hier also grundsätzlich ein Sowohl-als-auch zwischen Anteilnahme an der fiktiven Welt und Wahrnehmung der Herstellung der Fiktion mitdenkt, kehrt er aber schließlich doch wieder zu der etablierten Dichotomie eines Innerhalbs und Außerhalbs der fiktiven Welt zurück und erklärt, dass beide Wahrnehmungszustände nur abwechselnd aktiviert werden können: „On the one hand, spectators collaborate with blended actor/characters when they are immersed in the affective flow of the performance. Audiences happily adjust their perceptions to accommodate theatre artists who push the blend toward the actor or the character end of the continuum. On the other hand, if spectators are considering the person on stage simply as an actor or are thinking about the character written by the playwright apart from the performer playing the role, they have momentarily reversed the blend; its component parts fall into the separate concepts of actor and character. We oscillate between these inside and outside positions throughout all theatrical performances. And, as with all forms of conscious attention, we can shift from inside to outside perspectives in a matter of milliseconds.“65
Hier zeigt sich deutlich, dass auch Bruce McConachie trotz seines eigentlich integrativen Ansatzes doch wieder die Dichotomie des Entweder-oder anwendet: Der Rezipient kann nur entweder Schauspieler und Figur als vermengte Identität wahrnehmen, was mit einer immersiven Haltung beziehungsweise mit emotionaler und kognitiver Anteilnahme verbunden ist, oder die Strukturen der Aufführung als solche beobachten.66 Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, dass die Beteiligungsansätze zur Einfühlung/Empathie und insbesondere zur Identifikation ebenso wie der zur Immersion eine Dichotomie, ein Entweder-oder, explizit oder implizit voraussetzen. Selbst in den Fällen, in welchen die Autoren versuchen ein Sowohl-alsauch, eine Simultanität der Beteiligung am fiktiven Geschehen und der Beobachtung der Herstellung von Fiktion mitzudenken, gelingt ihnen das nur soweit, wie sie sich nicht konkret auf die einzelnen, sehr rigide angelegten Begrifflichkeiten beziehen. Zugleich konnte aber in Bezug auf die Abgrenzungsversuche der Forschungsliteratur gezeigt werden, dass gerade diesem totalen Aufgehen des Rezi65 B. McConachie: Engaging Audiences, S. 42. 66 McConachie weitet seinen Ansatz des blending vom Schauspieler auch auf die anderen Bühnenobjekte aus, die dann sowohl als Bezeichnetes als auch als Bezeichnendes wahrgenommen werden und verhandelt unter diesem Aspekt auch die Frage nach dem Fiktionalitätsstatus von Theateraufführungen generell. Vgl. B. McConachie: Engaging Audiences, S. 47 ff.
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pienten in der fiktiven Welt mit Skepsis begegnet und grundsätzlich eine Simultanität der Rezeptionszustände auf die eine oder andere Weise favorisiert wird. So schlägt beispielsweise auch Jens Eder vor, dass „die beiden Zuschauerhaltungen – objektive Bewertung von Figuren und subjektive ‚Identifikation‘ mit ihnen – die Pole eines Kontinuums bilden, das wiederum nur ein Teil eines komplexen Netzwerks imaginativer Verhältnisse zu Figuren ist“67. 5.1.3 Theorieansätze zur Bewertung von fiktiven Figuren Eng verknüpft mit der Frage danach, auf welche Weise sich Rezipienten an fiktiven Figuren beteiligen, ist jeweils die Überlegung, wie die Bewertung der fiktiven Figuren durch die Rezipienten abläuft, wie also zum Beispiel zwischen sympathischen und unsympathischen Figuren unterschieden wird. Im Kontext der sogenannten Appraisal-Forschung haben unter anderem Cynthia Hoffner und Joanne Cantor drei wesentlichen Komponenten herausgearbeitet, die als entscheidend dafür angesehen werden können, dass sich der Rezipient von einer fiktiven Figur angezogen fühlt: Dazu zählen das generelle Gefallen, welches der Rezipient an der Figur empfindet, die wahrgenommene Ähnlichkeit zur eigenen Person und der Wunsch, so zu sein wie der fiktive Charakter.68 Bezüglich der wahrgenommenen Ähnlichkeit zur eigenen Person zählen sowohl allgemeine Charakteristika wie Geschlecht, Ethnizität, sozialer Rang und das Alter als auch spezifischere Gemeinsamkeiten wie Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Erfahrungen oder die Lebenssituation.69 Sympathie brächten die Rezipienten des Weiteren solchen Figuren entgegen, die Attribute (wie beispielsweise gutes Aussehen oder Erfolg) aufwiesen, welche sich die Rezipienten für sich selbst wünschten.70
67 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 139 f. 68 Vgl. Hoffner, Cynthia/Cantor, Joanne: „Perceiving and Responding to Mass Media Characters“, in: J. Bryant/D. Zillmann, Responding to the Screen (1991), S. 63-101, S. 83. Die Autorinnen zitieren zudem verschiedene Studien, die als Ergebnis erbracht hätten, dass Charaktere, welche sich hilfsbereit und fair in ihrem Verhalten gegenüber anderen gezeigt hätten, eher und stärker von den Rezipienten gemocht wurden als solche, die sich unfreundlich und unfair verhielten. Vgl. S. 84. 69 Vgl. C. Hoffner/J. Cantor: Perceiving and Responding to Mass Media Characters, S. 84. 70 Vgl. C. Hoffner/J. Cantor: Perceiving and Responding to Mass Media Characters, S. 84.
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Murray Smith hat darüber hinaus wiederholt auf den zentralen Unterschied zwischen dem Aspekt der textuell gesteuerten Perspektivierung (alignment) und der Anregung einer Form des Zugehörigkeitsgefühls (allegiance) beim Zuschauer zur fiktiven Figur hingewiesen, welche er beide als zentrale Faktoren des Sympathieempfindens benennt: „Simply put, then, the contrast between alignment and allegiance is one between the narrative information that a text provides us with and the way a text directs our evaluation of this information.“71 Er betont mehrere Aspekte, welche sich auf die moralische Bewertung der fiktiven Figur auswirken, darunter allen voran die Handlungen des Charakters, aber auch formale Gestaltungsmittel wie Ikonografie und Musik.72 Bezüglich der Wirkung des Kannibalen Hannibal Lecter auf die Rezipienten stellt Smith die gängige paradoxale Struktur fest („an evil yet attractive character“73), erklärt jedoch, dass diese nicht zustande komme, weil, sondern obwohl Lecter ein Kannibale sei.74 Dafür würden die zahlreichen positiven Eigenschaften, die Lecter in der filmischen Darstellung zugeschrieben werden, sowie die Kontrastierung mit noch ‚widerlicher‘ gestalteten Figuren wie Miggs oder Dr. Chilton sorgen.75 Im Vergleich zu den bis hierher dargestellten theoretischen Ansätzen zur Bewertung fiktiver Figuren hat Jens Eder ein Modell vorgelegt, welches die Anteilnahme der Rezipienten an den fiktiven Figuren mittels der individuell wahrgenommenen Nähe beziehungsweise Distanz zu konzipieren sucht.76 Hierfür unterscheidet Eder fünf verschiedene Typen der imaginativen Nähe: „raumzeitliche Nähe; kognitive Nähe durch Verstehen und Perspektivenübernahme; soziale Nähe durch Vertrautheit, Ähnlichkeit und Gruppenzuordnung; parasoziale Interaktion und emotionale Nähe.“77 Im Zusammenhang mit der Bewertung der Figuren scheinen insbesondere die ‚kognitive Nähe‘ und die ‚soziale Nähe‘ von besonderer Bedeutung zu sein: So ist laut Eders Ausführungen zum einen beispielsweise das Verstehen einer fiktiven Figur, also sowohl das Kennen ihrer Persönlichkeitsmerkmale als auch Erfassen ihrer „mentalen Vorgänge, flüchtigen Erlebnis-
71 M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 220. 72 Vgl. M. Smith: Engaging Characters, S. 187 ff. 73 M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 226. 74 Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227. 75 Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227. 76 Eder kritisiert in diesem Kontext auch die bisherigen Forschungsansätze, die „das komplexe Zusammenspiel weiterer Faktoren der Figuren-Bewertung – jenseits von Biologie und Moral – noch nicht genügend berücksichtig[en]“. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 135. Vgl. J. Eder: Die Figur im Film, S. 628 ff. 77 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 157.
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se, Handlungsmotive“78, ein ausschlaggebendes Moment, um sich der fiktiven Figur nahe zu fühlen. Zum anderen betont Eder ebenso wie Hoffner und Cantor die Bedeutung der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen Rezipient und Figur für die Konstruktion imaginativer Nähe.79 Darüber hinaus kann Nähe zu fiktiven Figuren aber nicht nur durch solche inhaltlichen Aspekte der Figurenpräsentation hervorgerufen werden, sie ist auch das Ergebnis der formalästhetischen Gestaltung: So weist Eder unter anderem auf die Bedeutung von Kameraführung, Musik und Montage zur Evokation eines Gefühls der Nähe hin.80 Jedoch mündet wahrgenommene Nähe nicht automatisch in das Empfinden positiver Emotionen gegenüber der Figur, wie Eder deutlich herausstellt: „Kognitive Nähe zu Figuren trägt oft, aber keineswegs immer zu affektiver Nähe, also positiven Gefühlen bei. Man kann eine Figur gut verstehen und in physischer Nähe mit ihr parasozial interagieren; wenn es sich um eine sadistische Mörderin handelt, werden sich dennoch keine positiven Gefühle, sondern Angst und Abscheu einstellen.“81
Für die Übertragung auf die Analyse der entgrenzten Figuren ist zudem entscheidend, dass Eder als einer der wenigen ein Sowohl-als-auch in seinem Modell imaginativer Nähe mitdenkt. So sei es „möglich, einer Figur auf eine Weise nahe zu sein und auf eine andere nicht; es ist sogar möglich, dass Nähe in einer Hinsicht Distanz in einer anderen voraussetzt“82. 5.1.4 Blinde Flecken konventionalisierter Beteiligungsansätze Als Ergebnis der in diesem Kapitel erfolgten Darstellung konventionalisierter Theorieansätze zur Rezipientenbeteiligung und der sie begleitenden Forschungsdiskussion sollen zwei wesentliche Aspekte festgehalten werden, die zugleich blinde Flecken der bisherigen Auseinandersetzung markieren: (1) Die in Bezug auf die Analyse narrativer Medienangebote und der mit ihnen präsentierten fiktiven Figuren konventionell angewandten Beteiligungstheorien sind – trotz aller Versuche ihr zu entkommen – von einer markanten Dichotomie geprägt: Es wird davon ausgegangen, dass der Rezipient entweder an den Geschehnissen der fiktiven Welt teilhaben oder die Konstruktion der Fiktion
78 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 145 f. 79 Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 149 f. 80 Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 144. 81 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 151. 82 J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 157.
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beobachten kann. Eine Simultanität einander scheinbar widersprechender Wahrnehmungszustände kann im Kontext der dargestellten Theorieansätze nicht gedacht werden. Somit findet sich hier ein ausgeprägtes Prinzip des Entwederoder, welches dem Sowohl-als-auch einer ludischen Fiktionalität, wie sie in dieses Buch modellhaft entwickelt wurde, grundlegend entgegensteht. (2) Die positive Bewertung einer fiktiven Figur hängt den konventionalisierten Beteiligungsansätze und Bewertungstheorien zufolge – analog zur Einschätzung von Akteuren der ‚Alltagsrealität‘ – nicht nur von der wahrgenommenen Ähnlichkeit mit der eigenen Person und der moralischen Bewertung des Verhaltens der Figur, sondern auch von der Chance ab, die Figur möglichst vollständig mit all ihren Attributen erfassen und insbesondere ihre Handlungsmotivation nachvollziehen zu können. Hierbei weichen die moralischen Normen der Rezipienten für die Einschätzung von Alltagssituationen – so behaupten zumindest die hergebrachten Bewertungstheorien – wenn überhaupt, nur minimal ab von den moralischen Normen, die vom Rezipienten für die Einschätzung fiktiver Situationen und Handlungen genutzt werden. Aus beiden Gründen – (1) der Nichtzulassung von Simultanität und (2) der Anwendung von Kriterien aus der ‚Alltagsrealität‘ zur positiven Bewertung von Figuren – eignen sich die konventionalisierten Beteiligungsansätze nicht oder nur in unzureichender Weise zur Plausibilisierung der Rezeptionswirkung entgrenzter Figuren. Denn diese lösen ja – wie im dritten Kapitel ausgeführt wurde – (1) simultan unterschiedliche Wahrnehmungszustände (Angezogen- und Abgestoßensein) im Rezipienten aus und widersetzen sich (2) einer positiven Bewertung im Sinne der Anwendung von auf die ‚Alltagsrealität‘ bezogenen Kriterien. So sind die entgrenzten Figuren einerseits von großer Artifizialität geprägt und können in diesem Sinne von den Rezipienten weder als ähnlich zur eigenen Person wahrgenommen noch in Bezug auf ihre wesentlichen Attribute vollständig erfasst werden. Andererseits fehlen dem Rezipienten essenzielle Informationen über die Handlungsmotivation und die Hintergrundgeschichte der entgrenzten Figuren, sodass diese nicht im Sinne eines Verstehens rekonstruiert und wiederum moralisch bewertet werden können. Zudem – und das soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden – handelt es sich bei den entgrenzten Figuren um äußerst brutal und destruktiv agierende Figuren, für die auch deshalb keine positive Bewertung aufgrund oben genannter Bewertungskriterien erwartet werden kann.
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Wie Henriette Heidbrink exemplarisch für postmoderne Figurenkonzeptionen – und ganz in der Tradition konventionalisierter Theorien – ausführt, wird „das für ‚Normalnarrationen‘ typische Andocken des Rezipienten an die Figuren via kognitiver Identifikation oder Empathie“83 durch „Rätselhaftigkeit, Fremdheit, körperliche und physische Versehrtheit, normative Abweichungen, Ironie, Zynismus, de[n] Verlust von Motiven, Zielen und Überzeugungen“84 unterbunden. Oder anders ausgedrückt: Die fiktiven Figuren sind auf der Darstellungsebene so gestaltet, dass sich die Rezipienten ihnen nicht auf den gewohnten Wegen nähern oder sich von ihnen distanzieren können. Gleiches gilt für die Wahrnehmung und Bewertung entgrenzter Figuren: Da diese etablierte narrative Strukturen invertieren und gängigen Grundmustern der Inszenierung widersprechen, es also zu einer Nicht-Anwendbarkeit sich an hergebrachten Strukturen orientierender Wahrnehmungsweisen kommt, entstehen zunächst Momente der Verunsicherung auf der Ebene der Rezeption. Diese Momente sollen im weiteren Verlauf in Anlehnung an Roman Ingardens bekannte Konzeption als ‚Unbestimmtheitsstellen‘ bezeichnet werden. Ingarden, dessen Arbeiten großen Einfluss auf die spätere Rezeptionsästhetik hatten, geht in seiner Theorie vom literarischen Kunstwerk davon aus, dass alle literarischen Werke sogenannte „Unbestimmtheitsstellen“85 enthalten. Diese könnten vom Autor aus Gründen des ästhetischen Werts gesetzt worden sein, die Mehrheit aller Unbestimmtheitsstellen sei aber aus der schlichten Unmöglichkeit literarischer Gestaltungsweisen vorhanden, einen Gegenstand86 in allen seinen
83 Heidbrink, Henriette: „Das Summen der Teile. Über die Fragmentierung von Film und Figur“, in: Navigationen 5 (2005), S. 163-195, hier S. 181. Heidbrink setzt hier den Begriff ‚Normalnarrationen‘ als Gegensatz zu postmodernen Erzählstrukturen ein, wobei natürlich fraglich bleibt, was genau darunter zu verstehen ist. 84 H. Heidbrink: Das Summen der Teile, S. 181. 85 Ingarden, Roman: „Konkretisation und Rekonstruktion“, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Wilhelm Fink 1979, S. 42-70, hier S. 43. Es handelt sich bei diesem Text um für den Band Rezeptionsästhetik ausgewählte Auszüge aus Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen: Max Niemeyer 1968, S. 11-12, S. 49-63 und S. 300-311. 86 Ingarden spricht hier im Sinne einer Abgrenzung zu realen und idealen Gegenständen von „rein intentionale[n], durch Bedeutungseinheiten entworfene[n] Gegenständlich-
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Aspekten umfassend genau darzustellen.87 Eine Unbestimmtheitsstelle meint entsprechend „[d]ie Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstands, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist“88. Die Werkebene des Textes konfrontiert Ingarden mit den spezifischen „Konkretisationen“89 des Werkes, „welche bei den einzelnen Lesungen des Werkes (eventuell bei der Aufführung des Werkes im Theater und deren Erfassen durch den Betrachter) entstehen“90, also die jeweils performativ bestimmten Rezeptionsprozesse des literarischen Werkes bezeichnen. So obliegt es dem einzelnen Rezipienten die Unbestimmtheitsstellen während seines Rezeptionsprozesses durch „Konkretisieren“91 individuell zu ergänzen – beziehungsweise mit Ingarden gesprochen: ‚auszufüllen‘92 –, was in den meisten Fällen mehr oder weniger automatisiert geschieht.93 Das Ergebnis jeder Konkretisation kann unterschiedlich ausfallen: „Wie dies im einzelnen Fall geschieht, hängt sowohl von den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch vom Leser, dem Zustand, bzw. der Einstellung ab, in der er sich gerade befindet. Infolgedessen können zwischen den Konkretisationen desselben Werkes bedeutende Unterschiede bestehen, auch dann, wenn sie vom selben Leser bei verschiedenen Lektüren vollzogen werden.“94
Wolfgang Iser hat in seiner Wirkungsästhetik an Ingardens Idee von der Unbestimmtheitsstelle angeschlossen und die Rolle des Lesers in Bezug auf die Wirkung des Kunstwerkes noch stärker aufgewertet beziehungsweise die Interaktion zwischen Text und Leser als solche in den Blick genommen95, welche von im Text angelegten „Leerstellen“96 und „Negationen“97 angeregt und kanalisiert keiten“. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, Tübingen: Max Niemeyer 1960, S. 230. 87 Vgl. R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 45 f. 88 R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 44. 89 R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 43. 90 R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 43. 91 R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 47. 92 Vgl. R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 43. 93 Vgl. R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 46 f. 94 R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 47. 95 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Wilhelm Fink 1994, S. 257-355. 96 W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 283.
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werde. Auch Iser geht entsprechend davon aus, dass literarische Texte aufgrund ihrer Fiktionalität immer ein „gewisses Maß an Unbestimmtheit“98 enthalten, welche dann vom „Leser im Akt der Lektüre ‚normalisier[t]‘“99 wird. Das Konstrukt der Unbestimmtheitsstelle wird aber von Iser in Abgrenzung zu Ingarden100 noch weiter spezifiziert beziehungsweise auf eine etwas andere Textproblematik bezogen: Bei Iser geht es nämlich primär nicht darum, welche Attribute eines fiktiven Gegenstands unbestimmt bleiben (Unbestimmtheitsstelle bei Ingarden), sondern er konzentriert sich auf die nichtbestimmten Anschlüsse zwischen den verschiedenen vom Text vorgegebenen Bestimmungen, die ebenfalls vom Leser rekonstruiert werden müssen. Zur Benennung dieser Momente des literarischen Textes wählt Iser den Begriff der ‚Leerstelle‘: „Zwischen den ‚schematisierten Ansichten‘ entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander stoßenden Ansichten ergibt. Solche Leerstellen eröffnen dann einen Auslegungsspielraum für die Art, in der man die in den Ansichten vorgestellten Aspekte aufeinander beziehen kann. Sie sind durch den Text selbst überhaupt nicht zu beseitigen. Im Gegenteil, je mehr ein Text sein Darstellungsraster verfeinert, und das heißt, je 97
W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 283. Die Negation stellt nach Iser eine spezifische Form von Leerstelle dar, die nicht auf der syntagmatischen, sondern auf der „paradigmatischen Achse der Lektüre“ (S. 328) operiert: „Als gestrichene Geltung markiert sie eine Leerstelle in der selektierten Norm; als das verschwiegene Thema der Streichung markiert sie die Notwendigkeit, eine bestimmte Einstellung zu entwickeln, die es dem Leser erlaubt, das in der Negation Verschwiegene zu entdecken.“ (S. 328). Auf Isers Konzeption der Negation soll im vorliegenden Kontext nicht näher eingegangen werden, da sie von der hier angestrebten Verwendung des Unbestimmtheitsbegriffs wegführt.
98
Iser, Wolfgang: „Die Appellstruktur der Texte“, in: R. Warning: Rezeptionsästhetik (1979), S. 228-252, hier S. 233.
99
W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 233.
100 Bernhard J. Dotzler hat bezüglich der Abgrenzung zwischen Ingardens und Isers Konzeption darauf hingewiesen, dass Ingardens Begriff der Unbestimmtheit „den Aspekt der Plastizität des Dargestellten in den Vordergrund [Herv. i. O.]“ rückt, während in Isers Leerstellen-Begriff „der Aspekt der Kohärenz der Darstellung [Herv. i. O.]“ einflussreicher ist. Dotzler, Bernhard J.: „Leerstellen“, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg im Breisgau: Rombach 1999, S. 211-229, hier S. 222. Zur Unterscheidung zwischen Ingardens und Isers Konzeption vgl. auch Dablé, Nadine: Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen, Bielefeld: transcript 2012, S. 48 ff.
188 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN mannigfaltiger die ‚schematisierten Ansichten‘ sind, die den Gegenstand des Textes hervorbringen, desto mehr nehmen die Leerstellen zu.“101
Da Iser die Leerstelle also im Moment des Aufeinanderprallens verschiedener Ansichten verortet, weist er zum Exempel auf parallel ablaufende, aber in der linearen Erzählung hintereinander geschaltete Handlungsstränge hin.102 Zudem spricht er in Bezug auf die Verfahren der Leerstellengenerierung von einer „Schnitt-, Montage- oder Segmentiertechnik“103, die „eine verhältnismäßig hohe Freigabe hinsichtlich der Anschließbarkeit ihrer Textmuster aneinander gewähren“104. Von hier aus ist es nun nur noch ein kleiner Schritt zur Anwendung des Leerstellen-Begriffs auf die Analyse der Rezeptionswirkung filmischer Texte105, wie sie unter anderem von Fabienne Liptay vorgelegt wurde, die zwei Varianten filmischer Leerstellen unterscheidet: Zum einen den Normalfall der Leerstelle, der durch die spezifische Struktur filmischen Erzählens bedingt beispielsweise durch die Montagetechnik zustande kommt, und zum anderen Leerstellen als „Stolpersteine, Irritationsmomente oder ungelöste Rätsel“106, die von den Produzenten meist bewusst als erzählerisches beziehungsweise künstlerisches Mittel eingesetzt werden.107 Interessant in Bezug auf die in diesem Buch geführte Argumentation ist, dass Liptay ausgehend von ihrer Leerstellenkonzeption von einer „prinzipiellen Doppelexistenz des filmischen Bildraumes“108 ausgeht, sich
101 W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 235. 102 Vgl. W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 235. 103 W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 241. 104 W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, S. 241. 105 Iser selbst hat bereits auf Siegfried Kracauers Beispiel der Funktion von Leerstellen in Filmtrailern hingewiesen. Vgl. W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 298. Vgl. bezüglich der Übertragung auf filmische Texte auch N. Dablé: Leerstellen transmedial sowie Kimmich, Dorothee: „Die Bildlichkeit der Leerstelle. Bemerkungen zur Leerstellenkonzeption in der frühen Filmtheorie: Béla Balázs, Sergej Eisenstein, Siegfried Kracauer“, in: Wolfgang Adam/Holger Dainat/Gunter Schandera (Hg.), Wissenschaft und Systemveränderung: Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg: Winter 2003, S. 319-339. 106 Liptay, Fabienne: „Leerstellen im Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung“, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: edition text+kritik 2006, S. 108-134, hier S. 110. 107 Vgl. F. Liptay: Leerstellen im Film, S. 110. 108 F. Liptay: Leerstellen im Film, S. 122.
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der Rezipient also sowohl auf das Vorhandene als auch auf das NichtVorhandene konzentrieren kann109: „Beide Lesarten existieren stets gleichzeitig in einem dialektischen Verhältnis. Vielleicht können wir diese Dialektik der Lesarten als ein Vexierbild begreifen. Die Leerstelle, die Wolfgang Iser als ‚das wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser‘ bezeichnet, markiert den Punkt, an dem das Bild kippt, an dem wir die negative Fläche durch die positive hindurch lesen.“110
Hier soll der Begriff der Unbestimmtheitsstelle, wie ihn Roman Ingarden geprägt hat, übernommen werden, auch wenn teilweise Aspekte der Leerstellentheorie Berücksichtigung finden. Hauptgrund für die Orientierung an Ingardens Konzeption ist die Annahme, dass sich das hier zu beschreibende Phänomen ähnlich wie Ingardens Unbestimmtheitsstelle am besten durch das mangelnde Vorhandensein von Festlegungen charakterisieren lässt. Ein wesentlicher Unterschied zu Ingardens Konzeption zeigt sich allerdings in der Frage, auf welchen Aspekt der Rezeption dieser Mangel Bezug nimmt: Während bei Ingarden ja tatsächlich eine zu geringe Bestimmung von Textelementen im Fokus steht – welche vom Rezipienten erst als solche wahrgenommen und dann entsprechend ausgefüllt werden muss – thematisiert die hier angestrebte Verwendung des Begriffs der Unbestimmtheitsstelle Orientierungsschwierigkeiten hinsichtlich adäquater Reaktionsalternativen auf die vom Text gegebenen Informationen, also eine Unbestimmtheit auf der Rezeptionsebene.111 Es lassen sich also im Folgenden zwei Ebenen unterscheiden: Auf der ersten Ebene nimmt der Rezipient die Konzeption der entgrenzten Figuren im Text wahr, die von Unbestimmtheits- beziehungsweise Leerstellen geprägt ist, zum Beispiel was das Fehlen der Hintergrundgeschichte betrifft. Hierbei handelt es sich um Unbestimmtheits- beziehungsweise Leerstellen im herkömmlichen Sinne, wobei mit Liptay – insbesondere in Bezug auf das Fehlen einer Hintergrundgeschichte – von einem Irritationsmoment, einem Stolperstein gesprochen wer109 Vgl. F. Liptay: Leerstellen im Film, S. 122. 110 F. Liptay: Leerstellen im Film, S. 122 f. 111 Hiermit soll auch einer Schwierigkeit des Konzepts der Unbestimmtheitsstellen begegnet werden, welche Iser aufgedeckt und ausführlich kommentiert hat. So kritisiert er unter anderem, dass Ingarden seine Unbestimmtheitsstellen nicht als „Kommunikationsbegriffe“ (W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 280) entwirft. Außerdem betont er den „Suggestionsreiz“ (S. 278), welcher von den Unbestimmtheitsstellen ausgehe und plädiert für eine Untersuchung des „Interaktionsspiels“ (S. 279), welches diese auszulösen fähig seien.
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den kann, es sich also nicht um einen konventionellen Fall von Unbestimmtheit handelt. So konnte ja bereits in der Analyse der Merkmale der entgrenzten Figuren im dritten Kapitel gezeigt werden, dass die Figuren nicht nur keine Hintergrundgeschichte besitzen, sondern dass das Fehlen dieser Hintergrundgeschichte im Rahmen der Narration auch besonders betont und der Rezipient explizit darauf hingewiesen wird. Auf die Bedeutung der Gestaltungsweise einer Figur als einem „Bündel von handlungsmotivierenden Eigenschaften“112 für die Dramaturgie klassischer und populärer Narrationen hat unter anderem Jens Eder unter Bezugnahme auf David Bordwells Erzähltheorie hingewiesen. Darüber hinaus – und das ist hier von entscheidender Bedeutung – ist auf einer zweiten Ebene nun aber auch die Rezeptionsweise dieser entgrenzten Figuren von Unbestimmtheit geprägt: Wie gezeigt werden konnte, kann sich der Rezipient aufgrund der ungewöhnlichen Gestaltungsweise der entgrenzten Figuren, mit der hergebrachte Strukturen invertiert werden, diesen nicht auf den gewohnten Wegen nähern oder sich von ihnen distanzieren. Dies führt zu einer kurzfristigen Orientierungslosigkeit des Rezipienten, der sich auf die ‚Suche‘ nach passenden Rezeptionsweisen machen muss. Diese Orientierungslosigkeit beziehungsweise mangelnde Festlegung auf der Rezeptionsebene soll als Unbestimmtheitsstelle zweiter Ordnung bezeichnet werden.113 Auch diese Unbestimmtheitsstelle zweiter Ordnung hat den Charakter eines Irritationsmomentes nach Liptay und gehört keinesfalls zum ‚Normalfall‘ filmischer Rezeption. Während Unbestimmtheitsstellen erster Ordnung bei Ingarden durch spezifische und individuelle ‚Konkretisationen‘ des Rezipienten beseitigt beziehungsweise ‚ausgefüllt‘ werden, können Unbestimmtheitsstellen zweiter Ordnung – so die These – durch die Aktivierung des Modus der ludischen Fiktionalität, in welchem einander widersprechende Zustände simultan erlebbar werden, wenn auch nicht aufgelöst so doch neutralisiert werden. Im Modus der ludischen Fiktionalität können simultan die Teilhabe an der fiktiven Welt sowie die Beobachtung der Fiktion verwirklicht werden und auf den beiden Ebenen können unterschiedliche (auch einander widersprechende) Bewertungen des Gesehenen beziehungsweise Rezipierten vorgenommen werden. Diese Annahme von der Möglichkeit einer differenzierten Bewertung auf verschiedenen Ebenen folgt unter anderem Eders 112 Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films: Drehbuchpraxis und Filmtheorie, Hamburg: Lit 1999, S. 81. 113 Vgl. in Hinblick auf unterschiedliche Bezugsebenen von Leerstellen die Unterscheidung von Bernhard J. Dotzler zwischen „textimmanent[ ]“ und „textextern[ ]“, wobei mit letzterem ‚nur‘ der Einbezug von Kontexten der ‚Alltagsrealität‘ für die Konstruktion und Auflösung von Leerstellen gemeint ist, aber nicht wie hier Orientierungsschwierigkeiten auf der Rezeptionsebene. B. J. Dotzler: Leerstellen, S. 223.
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Konzeption von der imaginativen Nähe zu fiktiven Figuren, in welcher er davon ausgeht, dass es verschiedene Formen der imaginativen Nähe gibt und sich das Verhältnis zwischen Rezipient und Figur in diesen jeweils unterschiedlich entwickeln kann.114 Es liegt auf der Hand, dass es sich bei der eben erfolgten Darstellung des Rezeptionsprozesses im Hinblick auf die Unbestimmtheitsstelle zweiter Ordnung um ein Modell handelt. Tatsächlich wird angenommen, dass sowohl das Moment der Orientierungslosigkeit als auch das Umschalten auf den Modus der ludischen Fiktionalität spontan und eher präkognitiv geschieht, ebenso wie auch Ingarden für das Konkretisieren der Unbestimmtheitsstelle von einem automatisierten und unbewussten Prozess ausgeht.115 Eine der hier vorgelegten These ähnliche Argumentation verfolgen Ohler und Nieding, die in Bezug auf die Rezeption narrativer Filme einen Moment des Umschaltens „in einen spielerischen Denkmodus“116 beschreiben, der in Situationen mit unklaren Bestimmungen verschiedene Varianten von Erwartungshaltungen simultan zulässt beziehungsweise „[d]ivergentes Denken“117 anregt. Relevant ist hierbei insbesondere, dass auch Ohler und Nieding davon ausgehen, dass dieses Umschalten in den spielerischen Modus immer dann erfolgt, wenn ‚einfache‘ Erklärungsmuster nicht mehr greifen beziehungsweise sich die Unsicherheit des Rezipienten aufgrund in verschiedene Richtung weisender Zeichen erhöht.118 Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten kann das hier vorgestellte Konstrukt der Unbestimmtheitsstelle zweiter Ordnung, die durch das Umschalten in den Modus der ludischen Fiktionalität neutralisiert wird, sowohl als Ausweitung als auch als Spezifizierung der Gedanken von Ohler und Nieding angesehen werden. Als Ausweitung, da nicht grundsätzlich die Rezeption narrativer Filme, sondern der Umgang mit einer bestimmten Form der fiktiven Figur im Narrativen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht, und als Spezifizierung, da sowohl die auslösenden Bedingungen des Umschaltens (Unbestimmtheitsstel-
114 Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren, S. 157. 115 Vgl. R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 46 f. 116 P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 23. 117 P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 23. 118 Vgl. P. Ohler/G. Nieding: Antizipation und Spieltätigkeit, S. 23. Die Autoren verweisen in diesem Kontext zudem erneut auf die Gedanken von Peter Wuss, die dieser im unveröffentlichten Konzeptpapier Hypothesen zu Spiel und Kunst ausgeführt haben soll. Vgl. S. 27 f. In seinem Aufsatz Film und Spiel geht Peter Wuss entsprechend darauf ein, dass der Zuschauer durch Antizipationen zum Handlungsverlauf des Filmgeschehens „passive Kontrolle ausübe[ ]“, was einem dem Spiel ähnlichen „kognitive[n] Training“ gleichkomme. P. Wuss: Film und Spiel, S. 230.
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le zweiter Ordnung) als auch die Charakterisierung des ‚spielerischen Denkmodus‘ (Ludische Fiktionalität) hier konkreter ausgearbeitet sind. Des Weiteren kann festgestellt werden, dass die Vorgehensweise des Rezipienten, nämlich zur Neutralisierung der Unbestimmtheitsstellen zweiter Ordnung in den Modus der ludischen Fiktionalität umzuschalten, nicht allein der Entscheidung des Rezipienten zuzuschreiben ist, sondern auch als in den entsprechenden narrativen Medienangeboten vorstrukturiert angesehen werden kann. Ähnlich haben ja schon Ingarden, Iser und Liptay in ihren Konzeptionen der Unbestimmtheits- beziehungsweise Leerstellen argumentiert.119 Das bedeutet, dass es bestimmte Momente im narrativen Medienangebot gibt, die den Rezipienten zur Anwendung einer solchen Vorgehensweise anregen:120 Diese kann entsprechend vom Rezipienten individuell verwirklicht werden, sie muss es aber nicht. Der Rezipient hat immer die Möglichkeit, eine vollkommen andere Lesart anzuwenden und das Wahrgenommene entsprechend anders zu interpretieren. Die Annahme einer bereits im Medienangebot vorstrukturierten Vorgehensweise gibt den vorliegenden Überlegungen damit auch die Möglichkeit, den Beleg für die oben genannte These – dass nämlich die Rezipienten, konfrontiert mit den entgrenzten Figuren, in den Modus der ludischen Fiktionalität wechseln – über das Aufdecken bestimmter Elemente im Text zu führen. Obwohl eine objektive Beobachtung individueller Rezeptionsprozesse grundsätzlich nicht mög119 Vgl. R. Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 48 f; W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 265 f. und S. 301-315; F. Liptay: Leerstellen im Film, S. 123. Ausgehend von der Annahme einer vom Text vorgegebenen Strategie betrachtet Ingarden die möglichen Konkretisationen eines Werkes als „nicht gleichwertig“ (Konkretisation und Rekonstruktion, S. 49), sondern geht davon aus, dass es passendere („getreue Erfassung“; R. Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 169) und weniger passende Konkretisationen eines Werkes gibt, die den Wert eines Kunstwerkes bestimmen (vgl. R. Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, S. 304 f). Dies hat unter anderem Iser vehement kritisiert, da Ingarden hiermit „statt eines reziproken Verhältnisse [sic] […] ein unilineares Gefälle vom Text zum Leser“ postuliere. W. Iser: Der Akt des Lesens, S. 271. In den vorliegenden Überlegungen soll grundsätzlich nicht von einer Werthaftigkeit des Kunstwerkes, die konkret ermittelt werden kann beziehungsweise von den Konkretisationen des Rezipienten abhängt, ausgegangen werden. Auch wenn angenommen wird, dass die Vorgehensweise des Umschaltens in den Modus der ludischen Fiktionalität im Werk vorstrukturiert ist, soll die Frage nach ihrer Aktualisierung unabhängig von einer Bewertung des Werkes gedacht werden. 120 Mit Marcus Stiglegger könnte hier entsprechend auch von einer Verführung durch den Film gesprochen werden. Vgl. M. Stiglegger: Ritual & Verführung, S. 33.
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lich ist, bietet sich hiermit die Möglichkeit mittels der Analyse von Textelementen, plausible Unterstellungen bezüglich stattfindender Rezeptionsprozesse zu machen. Im folgenden Kapitelabschnitt sollen deshalb ‚Doppeldramaturgien‘, ‚Zweischichtigkeiten‘ und ‚Co-Existenzen‘ – zusammenfassend also Bivalenzen – in der Präsentation entgrenzter Figuren aufgedeckt werden.
5.3 B IVALENTE F IGURENPRÄSENTATION : L ECTER , J OKER UND M URATA In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, in den ausgewählten Filmbeispielen einschlägige Momente der ‚Doppeldramaturgie‘, der ‚Zweischichtigkeit‘ oder auch der ‚Co-Existenz‘ in Bezug auf die Darstellung der entgrenzten Figuren aufzudecken. Unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns Differenzbegriff121 und im Sinne einer Betrachtung der Rezeptionsebene ließe sich in diesem Zusammenhang auch von einer Unterscheidung sprechen, welche der Rezipient entlang bestimmter Differenzkriterien unternimmt, wobei sowohl die Aufforderung zur Unterscheidung als auch das Merkmal, anhand dessen differenziert wird, im Medienangebot vorangelegt wäre. Dies bedeutet aber zugleich, dass der Rezipient immer die Möglichkeit hat, auch mit ganz anderen Unterscheidungen zu operieren und so andere Wahrnehmungsergebnisse zu erzielen. In Bezug auf die Darstellung der entgrenzten Figuren gilt, dass innerhalb dieser wiederum eine Aufhebung von Differenzen erzeugt und so ihr besonderer Status untermauert wird. Anders ausgedrückt: Der Rezipient wird vom filmischen Text zur Wahrnehmung einer besonderen Unterscheidung angeregt beziehungsweise dazu, das Filmgeschehen entlang dieser Unterscheidung zu rekonstruieren. Folgt der Rezipient dieser Vorgehensweise, so zeigt sich als zweiter Schritt, dass gerade in Bezug auf Konstruktion und Präsentation der entgrenzten Figuren eine Aufhebung eben dieser Differenz stattfindet, dass in der Konstruktion der entgrenzten Figuren beide Seiten der Unterscheidung zugleich präsent sind. Bei der Betrachtung des hier relevanten Untersuchungskorpus zeigt sich, dass in den drei Beispielen ganz unterschiedliche Varianten der Differenzerzeugung vorherrschen, die jeweils auch von den genrebedingten Besonderheiten der
121 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996 [1984], S. 26 und 35 ff. Vgl. zudem Müller, Julian: „Differenz, Differenzierung“, in: Oliver Jahraus et al. (Hg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 73-75.
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Filme beeinflusst sind. So wird etwa das Moment der ‚Zweischichtigkeit‘ im Splatter-Drama Cold Fish vorrangig durch Differenzen in Bezug auf Körperlichkeit hergestellt, während im Thriller The Silence of the Lambs vor allem Motive des Innen und Außen sowie der Transgression eine Rolle spielen. Konkret kann im Folgenden gezeigt werden, dass die Figur des Hannibal Lecter in The Silence of the Lambs im Wesentlichen anhand der Differenz von Innen und Außen inszeniert wird, deren Wirkung für das gesamte fiktive Geschehen sowohl auf räumlich-konkreter als auch auf symbolischer Ebene bestimmend ist. Mit der Figur des Joker in The Dark Knight wird die Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit betont, welche sich vor allem mittels der Motive von Maske und Spur ausagiert. Im Film Cold Fish steht in Bezug auf die Figur des Yukio Murata eine speziell inszenierte Körperlichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit, mittels derer Differenzierungsprozesse zwischen Materialität und Zeichenhaftigkeit verhandelt werden. 5.3.1 Lecter und die Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen Im Hinblick auf die Inszenierung von Differenz im Thriller The Silence of the Lambs ist zunächst festzustellen, dass das Motiv einer Dichotomie des Innen und Außen beziehungsweise einer Überschreitung der damit einhergehenden Grenze, also Momente der Transgression, über den gesamten Filmverlauf hinweg vorhanden sind und sowohl auf konkret-räumlicher als auch auf symbolischer Ebene realisiert werden.122 Auf diese grundlegende Inszenierung der Differenz ist zunächst einleitend einzugehen, bevor thematisiert werden kann, wie in der Konstruktion der Figur Hannibal Lecter die Aufhebung von Differenz erzeugt wird. Beispielhaft für die grundlegende Inszenierung der Differenz kann etwa die Tatsache stehen, dass es sich bei der Erzählung des Films vor allem auch um die Geschichte eines am Ende erfolgreichen Initiationsprozesses Starlings als Agentin, also ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft des FBI, handelt.123 Das damit zu-
122 Thomas Elsaesser und Warren Buckland weisen auch auf die besondere Form des „body horror“ in diesem Film hin, „where the boundaries of inside and outside, of skin and flesh, of seeing and knowing, of bodies and minds are transgressed and traversed“. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 261. Vgl. zum Motiv der Bewegung von innen nach außen in The Silence of the Lambs auch S. 278 f. 123 Vgl. K. Thompson: Storytelling in New Hollywood, S. 110 f.
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nächst verbundene Begehren, einer Gruppe zugehörig zu werden beziehungsweise die Grenze zum Inneren der Gemeinschaft passieren zu können, von welchem Starling – als Waisenkind schon lange von ihrer Herkunftsfamilie getrennt – geleitet wird, stellt der Film in mehreren Szenen explizit aus. Dabei handelt es sich um konkrete, tatsächliche Bewegungen Starlings von einem Außen- in einen Innenraum hinein: Exemplarisch kann hierfür bereits die zentrale Einführungssequenz des Films stehen, in welcher Starling von ihrem Fitnesstraining im bewaldeten Gebiet in das Büro ihres Vorgesetzten Crawford gerufen wird. Fast zwei Minuten der Filmzeit verfolgt die Kamera Starlings Weg durch verwinkelte, scheinbar labyrinthische Strukturen124 immer weiter in das FBI-Gebäude hinein. Besonders relevant erscheint diese Einführungssequenz jedoch, wenn man sie mit der unmittelbar daran anschließenden Szene, die im Baltimore State Hospital spielt, vergleicht. Auch hier legt Starling nämlich – diesmal gemeinsam mit Anstaltsleiter Chilton – einen fast unendlich erscheinenden Weg von Chiltons Büro bis zu Lecters Gefängniszelle zurück, wobei die Bewegungsrichtung diesmal nicht nur als ein Nach-Innen, sondern auch als ein Nach-Unten gekennzeichnet wird: Mehrfach eilen die Figuren treppab und auch die rötliche Beleuchtung am Ende des Weges scheint den Eindruck eines Tiefunten, ja unter Umständen sogar Höllen-Assoziationen, zu bestätigen.125 Noch zwei weitere Male werden Bewegungen Starlings in ein Inneres konkret räumlich inszeniert, wobei das Moment der Transgression hierbei jeweils besonders betont wird: So etwa in der Szene, in welcher Starling ein altes Mietlager erkundet und sich dafür unter einem eingerosteten Tor hindurchzwängen muss, wobei sie sich am Bein verletzt. Besonders interessant an dieser Grenzüberwindung ist zudem, dass Starling von Lecter mit dem Hinweis „Look deep within yourself, Clarice Starling!“126 auf das Mietlager aufmerksam gemacht wird, womit hier also auch das symbolische Moment dieser Transgression, nämlich die Aufforderung zur Selbsterkundung, in den Blick rückt. Im Finale schließlich muss Starling dem Serienmörder Buffalo Bill in das Innere seines ebenfalls labyrinthisch strukturierten Kellers127 folgen, bevor sie am Schluss
124 Vgl. zum Motiv des Labyrinths die Ausführugen von Thomas Elsaesser und Warren Buckland, die Starling als zeitgenössische Ariadne interpretieren. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 257. 125 Marcus Stiglegger weist darauf hin, dass The Silence of the Lambs „[b]ei seiner komplexen seduktiven Konstruktion […] primär mit klassischen Polaritäten wie Oberwelt und Unterwelt“ operiert. M. Stiglegger: Ritual & Verführung, S. 169. 126 The Silence of the Lambs, 00:18:18-00:18:20. 127 Vgl. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 257.
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endlich das begehrte FBI-Abzeichen in ihren Händen halten kann und ihre Phase der Liminalität128 damit abgeschlossen ist. Die entgegengesetzte Bewegungsrichtung beschreitet Starlings Gegenspieler, der Serienmörder Buffalo Bill alias Jame Gump (Ted Levine), der aufgrund seiner Transsexualität129 sein Inneres nach außen kehren beziehungsweise von außen sichtbar machen möchte. Um sein inneres Bedürfnis nach Weiblichkeit erfüllen zu können, fertigt er sich sogar ein Kostüm aus weiblicher Haut. Symbolisch betont werden diese Sehnsüchte nach Transgression unter anderem auch durch die Puppen der Totenkopfschwärmer, die Buffalo Bill in den Kehlen seiner Opfer platziert. Nicht nur der zentrale Prozess der Entpuppung, wenn der Kokon sein Inneres nach außen preisgibt, spielt hier eine entscheidende Rolle und wird entsprechend in Lecters Analyse130 dieses Vorgehens betont, selbst das Extrahieren der Puppen aus den Kehlen der Leichen, wie in einer Szene exemplarisch vorgeführt, ist für die Inszenierung der Bewegungsrichtung von Innen nach Außen relevant. Während Starlings Begehren also auf ein Inneres gerichtet ist – sie möchte in die Gemeinschaft der FBI-Agenten aufgenommen werden – geht es Buffalo Bill darum, sein Äußeres, seinen Körper, zu verändern.131 Beiden Figuren gemeinsam ist, dass sie versuchen unter Kraftanstrengung eine Grenze zu passieren: Während Buffalo Bill am Ende allerdings scheitert und stirbt, hat Starling mit ihrem Vorgehen Erfolg. Was die entgrenzte Figur im Film The Silence of the Lambs betrifft, so lässt sich feststellen, dass Hannibal Lecter zunächst ebenfalls von der Differenz zwischen Innen und Außen geprägt zu sein scheint. Als Gefangener im Baltimore State Hospital ist er seit acht Jahren in das Innere seiner Zelle gebannt. Die eine Seite 128 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.3 dieses Buches. 129 Lecter weist zwar im Gespräch mit Starling darauf hin, dass es sich bei Buffalo Bill nicht um einen gewöhnlichen Transsexuellen handle, dass sein Wunsch nach einem Frauenkörper eher einem durch systematischen Missbrauch in der Kindheit entstammenden Hass auf seine eigene Identität entspringe (vgl. The Silence of the Lambs, 00:54:27-00:55:15), dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Serienmörder die Strategie verfolgt, ein inneres Wunschbild seiner selbst von außen sichtbar zu machen. 130 „The significance of the moth is change. Caterpillar into chrysalis, or pupa, and from thence into beauty. Our Billy wants to change, too.” The Silence of the Lambs, 00:53:18-00:53:30. 131 Vgl. dazu Inge Kirsner, die jeweils die entgegengesetzten TransgressionsRichtungen für Buffallo Bill und Clarice Starling veranschlagt: I. Kirsner: Verzehrende Leidenschaft, S. 185.
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der Zelle vollständig bedeckende Glasscheibe schirmt ihn fast gänzlich von der Außenwelt ab. Ein paar kleine kreisrunde Luftlöcher und Transportschubladen sind die einzigen Austauschmöglichkeiten zwischen dem Innen und Außen. So scheint auch Lecter – analog zu Buffalo Bill – von einem Begehren nach dem Passieren der Grenze zum Außen getrieben zu sein. Mit Starling verhandelt er im Austausch gegen ein psychologisches Gutachten des Serienmörders Buffalo Bill um ein Fenster, das ihm zumindest eine Sicht nach außen gewähren würde. Auch nutzt Lecter die Möglichkeit zur Flucht, als sie sich ihm bietet, und schafft es somit tatsächlich, die Grenze zwischen dem Innen und Außen zu passieren, eine Parallele zu Starling, die dies allerdings am Ende des Films in die entgegengesetzte Richtung unternimmt. Bei genauerer Betrachtung der Figurenkonzeption lässt sich allerdings feststellen, dass Lecter schon vor seiner Flucht gar nicht so sehr an das Innen gebunden zu sein scheint, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Tatsächlich besitzt er nämlich die Fähigkeit, die Grenze zwischen dem Innen und Außen auf verschiedenen Ebenen wenn nicht aufzuheben, so doch zumindest durchlässig zu machen, sie in eine semipermeable Membran zu verwandeln und somit eine Art Aufhebung der Differenz zu erzeugen.132 Schon Judith Halberstam hat in ihrem Aufsatz Skinflick festgestellt, wie viel Bestimmungsmacht Lecter gegenüber Grenzen hat: „Lecter illustrates to perfection the spooky and uncanny effect of confusing boundaries, inside and outside, consuming and being consumed, watching and being watched. He specializes in getting under one’s skin, into one’s thoughts and he makes little of the classic body/mind split as he eats bodies and sucks minds dry.“133
Lecters Fähigkeit zur Transgression beziehungsweise zur Aufhebung der Differenz und damit gleichzeitigen Verwirklichung von Innen und Außen zeigt sich am deutlichsten in seinen Begegnungen und seinem Umgang mit Starling. Hier ist vor allem der stete Wechsel zwischen Annäherung und Distanz zu nennen, der formal durch Kameraeinstellungen unterstützt wird, welche die jeweiligen Materialitäten der Trennung zwischen Lecter und Starling unsichtbar werden lassen. So steht das erste Treffen der beiden deutlich unter dem Eindruck von 132 Vgl. Judith Halberstam, die ausführt, dass Lecter nicht an die Grenzen seiner Zelle gebunden ist, um beispielsweise Zugang zu der Psyche anderer Menschen zu erlangen. J. Halberstam: Skinflick, S. 44. 133 J. Halberstam: Skinflick, S. 39. Vgl. hierzu auch Janet Staiger, die ebenfalls Lecter die Fähigkeit zur Zerstörung von Grenzen zuschreibt: J. Staiger: Taboos and Totems, S. 214.
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Warnungen, auf Distanzwahrung und die besondere Berücksichtigung der Grenzmaterialitäten zu achten. Schon ihr Vorgesetzter Crawford gibt Starling den Ratschlag, Lecter nichts Persönliches von sich zu erzählen: „Believe me, you don’t want Hannibal Lecter inside your head.“134 Auf dem Weg zum Gefängnistrakt gibt Dr. Chilton klare Instruktionen zur Beachtung der Grenzen: „Do not touch the glass. Do not approach the glass.“135 Schon in den ersten Minuten des Treffens bringt Lecter Starling jedoch dazu, beide Warnungen zu ignorieren, in dem er sie dazu auffordert, sich mit ihrem FBI-Ausweis der Glasscheibe zu nähern („Closer, please! Closer!“136) und ihr entlockt, was sein Zellennachbar Miggs ihr im Vorbeigehen zugezischt hat („He said: ‚I can smell your cunt.‘“137). Im Verlauf des Gesprächs wird zudem deutlich gemacht, dass normale physische und soziale Grenzen für Lecter nicht gelten: So riecht er beispielsweise, welches Parfum Starling normalerweise trägt und beginnt ungefragt ihr Verhalten und ihre Persönlichkeit zu analysieren. Am eindrücklichsten scheint er aber die Grenze zwischen einem Innen und Außen aufzuheben, indem er permanent und unvorhersehbar zwischen Signalen der Annäherung und der Distanzierung zu Starling wechselt. Besonders auffällig ist dies etwa in dem Moment, in welchem er Starling mit einem Lächeln zuzwinkert, bevor er einen Blick in den von ihr überbrachten FBI-Fragebogen wirft und sie danach als Bauerntölpel (rube) beschimpft. Zudem schickt er Starling nach Beendigung des Gesprächs rüde fort, ruft sie aber dann doch wieder zu sich, nachdem sie von seinem Zellennachbarn Miggs beschmutzt worden ist („Discourtesy is unspeakably ugly to me.“138) und gibt ihr einen Hinweis, den sie befolgen und der ihr dabei helfen soll, die Karriereleiter des FBI zu erklimmen. Auffällig an dieser Sequenz ist zudem, dass sich die Kamera quasi mit Lecter verbündet und die materiellen Grenzen zwischen Lecter und Starling in den entscheidenden Momenten jeweils sichtbar beziehungsweise unsichtbar werden lässt. Hergestellt wird diese Möglichkeit unter anderem dadurch, dass Lecter im Gegensatz zu den anderen Häftlingen im Zellentrakt durch eine Glasscheibe statt durch Gitterstäbe von den Besuchern getrennt ist. So inszeniert die Kamera die Grenze, indem sie Lecter von außerhalb der Glasscheibe filmt und dadurch Spiegelungen oder auch die Scheibe haltende Metallstreben deutlich sichtbar macht. Annäherungsmomente dagegen werden unterstrichen durch eine Aus134 The Silence of the Lambs, 00:07:41-00:07:43. 135 The Silence of the Lambs, 00:09:04-00:09:06. 136 The Silence of the Lambs, 00:12:20-00:12:24. 137 The Silence of the Lambs, 00:13:26-00:13:28. 138 The Silence of the Lambs, 00:18:10-00:18:11.
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blendung der materiellen Grenze, indem Lecter von innerhalb der Zelle gefilmt wird und dadurch Spiegelungen in der Glasscheibe vermieden werden.139 So stellt auch Marcus Stiglegger fest: „Seine [Lecters; SE] blauen Augen scheinen die Glaswand zu durchdringen und die junge Frau ihrer Schutzzone endgültig zu berauben.“140 Wie die Kamera den steten Wechsel zwischen Annäherungs- und Distanzierungsmomenten inszeniert und so die Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen unterstreicht, wird auch im Rahmen des dritten Treffens zwischen Starling und Lecter deutlich: Hier schließen sie ihren quid-pro-quo-Pakt, der beinhaltet, dass Starling Lecter private Details aus ihrem Leben erzählt und dafür von ihm Informationen erhält, die ihr bei der Ergreifung Buffalo Bills dienen. Um diesen – somit thematisch gedoppelten – Dialog in Szene zu setzen, wird eine besondere Form von Kameraeinstellung gewählt: In den Momenten, in welchen Starling über ihre Kindheitserlebnisse berichtet, wendet sich Lecter von ihr ab, aber der Kamera zu, die ihn in Großaufnahme im Innern der Zelle filmt. Kommt die Sprache dann allerdings auf den Buffalo-Bill-Fall, so wird mittels Schnitt und 180-Grad-Sprung eine andere Kameraeinstellung gewählt. Nun nimmt die Kamera Lecter zwar Starling zugewandt, aber von außen und damit sichtbar hinter der Glasscheibe auf. Dieser zunächst recht künstlich wirkende Blickwechsel Lecters dient dazu, ein spezifisches Nähe-Distanz-Verhältnis zum einen gegenüber Starling, zum anderen aber vor allem auch gegenüber dem Rezipienten zu inszenieren: Indem Lecter seinen Blick von Starling abwendet, wendet er ihn zugleich der sehr nahe positionierten Kamera und damit dem Rezipienten zu. Der Rezipient passiert mit der Kamera von einem auf den anderen Moment die Zellengrenze und befindet sich in stetem Wechsel zwischen Innen und Außen, wodurch die durch Lecter vermittelte Aufhebung der Differenz betont wird. Über das bereits Gesagte hinaus wird das Moment der Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen beziehungsweise die Fähigkeit Lecters zur Transgression auch noch in Bezug auf einen anderen wesentlichen Aspekt illustriert: Es handelt sich hierbei um das Motiv der Haut141 und die Tatsache, dass mit 139 Vgl. dazu auch die etwas andere Interpretation der Spiegelung von Thomas Elsaesser und Warren Buckland. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 256. 140 M. Stiglegger: Ritual & Verführung, S. 172. 141 Zur Kulturgeschichte der Codierung menschlicher Haut als einer Grenzfläche vgl. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 49-76.
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Buffalo Bill und Hannibal Lecter sowohl ein Häuter als auch ein Kannibale in die Geschichte von The Silence of the Lambs eingeführt werden. Schon Elsaesser und Buckland haben darauf hingewiesen, dass diese beiden Zuordnungen der Filmantagonisten zu einer bestimmten Form der Körpereinverleibung miteinander in Verbindung stehen: „Quite clearly, the totemic behavior of Buffalo Bill (dressing himself in his victims’ skins like a suit of armour) and the atavistic-tribal power politics of Hannibal Lecter (eating people’s livers, biting off their faces, or otherwise ingesting their body parts) are symmetrically related […].“142
Auf diese Komplementarität der Vorgehensweisen der beiden Serienmörder weist auch Maggie Kilgour hin: „[…] where Lecter takes others inside himself, Bill puts himself inside others.“143 Buffalo Bill geht es dabei im Großen und Ganzen darum, die Haut der Frauen als etwas Äußeres zu erhalten, sich ein Kostüm aus den Hautstücken anzufertigen und diese so mehr oder weniger ihrer ursprünglichen Funktion wieder zuzuführen. Wieviel Wert er der Haut als solcher dabei beimisst, wird unter anderem in der Szene deutlich, in der er fast liebevoll seinem aktuellen Opfer über den makellosen Rücken streicht.144 Auch Judith Halberstam stellt in diesem Kontext die Bedeutung des Motivs der Haut als etwas Äußeres fest: „Buffalo Bill symbolizes the problem of a kind of literal skin dis-ease […]. Skin, in this movie, creeps and crawls, it is the most fragile of covers and also the most sticky. Skin
142 T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 277. Vgl. zur Parallelität von Buffalo Bill und Hannibal Lecter auch K. Thompson: Storytelling in New Hollywood, S. 106. 143 M. Kilgour: The Function of Cannibalism at the Present Time, S. 252. 144 Vgl. The Silence of the Lambs, 00:33:07-00:33:14. Claudia Benthien hat darauf hingewiesen, dass im Film The Silence of the Lambs eine kulturgeschichtlich eher seltene Form der Häutung vorgenommen wird, nämlich die Häutung eines Frauenkörpers, die zudem auch nicht dem Motiv des Strafens zugeschrieben wird, und der Film damit neben dem Kannibalismus Hannibal Lecters ein weiteres gesellschaftliches Tabu thematisiert: „Daß dabei – wie zufällig – das Phantasma der hautlosen Frau berührt wird, macht den subtilen Horror des Films aus, der so auf die kollektive Abwehr weiblicher wie männlicher Zuschauer setzen kann.“ C. Benthien: Haut, S. 106.
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becomes a metaphor for surface, for the external; it is the place of pleasure and the site of pain, it is the thin sheet that masks bloody horror.“145
Im Gegensatz dazu geht es Lecter als Kannibalen um die Zerstörung der Haut und die Transgression der Grenze zwischen Innen und Außen. Als ‚Gourmet‘ verspeist er am liebsten die Innereien seiner Opfer und die sie überdeckende Haut ist dabei freilich nur störend. Maggie Kilgour hat zudem darauf hingewiesen, inwiefern Kannibalismus als Differenz generierende sowie zugleich Differenz aufhebende Praxis verstanden werden kann: „In fact, cannibalism involves both the establishing of absolute difference, the opposite of eater and eaten, and the dissolution of that difference, through the act of incorporation, which identifies them, and makes the two one [Herv. i. O.].“146 Doch auch auf symbolischer Ebene inszeniert sich Lecter bei seiner Flucht aus der Gefangenschaft als Transgressor: Einen der getöteten Polizeibeamten drapiert er in Kreuzigungsposition an die Gitterstäbe seiner Zelle und schneidet dessen Bauchraum auf: Mittels dieser Geste betont Lecter nicht nur seine eigene Machtposition, sondern macht auch deutlich, dass die Haut als natürliche Barriere für ihn keine Bedeutung hat und kein Hindernis darstellt. Zudem nutzt Lecter bei seinem Ausbruch aus der Gefängniszelle seine Fähigkeit zur Verkehrung des Innen und Außen, indem er sich mit der Gesichtshaut eines getöteten Polizeibeamten maskiert.147 Wie deutlich geworden sein sollte, spielt im Film The Silence of the Lambs die Differenz von Innen und Außen eine besondere Rolle und wird auch explizit in der Inszenierung hervorgehoben. Dabei werden Clarice Starling und Buffalo Bill, die jeweils auf ihre eigene Art versuchen, die Grenze zu überwinden, von der entgrenzten Figur Hannibal Lecter konterkariert, welche die Fähigkeit zur Aufhebung von Differenzen besitzt und als Verwirklicher der Transgression etabliert wird. So scheinen gerade in den Auftritten Lecters die Situationen gedoppelt als ein Innen und Außen, als Annäherung und Distanzierung, wobei zur Erzeugung des Eindrucks nicht nur die ‚histoire‘-Ebene der Narration genutzt
145 J. Halberstam: Skinflick, S. 39. 146 M. Kilgour: The Function of Cannibalism at the Present Time, S. 277. 147 Diese Vorgehensweise Lecters kann zudem als ironischer Kommentar in Bezug auf die Obsessionen Buffalo Bills gelesen werden: Zwar nutzt Lecter hier – ebenso wie Buffalo Bill – eine fremde Haut zur Maskierung seines Äußeren, zugleich handelt es sich bei ihm ja nicht um einen irgendwie gearteten identitätsstiftenden Prozess, sondern nur um die ‚pure‘ Verkleidung.
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wird, sondern auch formale Mittel wie etwa Kameraeinstellungen eingesetzt werden.148 5.3.2 Joker und die Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit Betrachtet man nun die Konzeption der entgrenzten Figur im Superhelden-Film The Dark Knight, so lässt sich feststellen, dass auch hier Momente der ‚Zweischichtigkeit‘ realisiert sind: Charakteristisch für die Figur Joker ist nämlich, dass sie die Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit aufhebt und damit beide zugleich repräsentiert. Diese Repräsentation erfolgt auf verschiedenen Ebenen, wobei sowohl die Herkunft der Jokerfigur aus dem französischen Kartenblatt, die intensive Präsenz der Maskerade als auch die Tendenz, willentlich Spuren zu hinterlassen, eine Rolle spielen. Auf die Herkunft seiner Figur aus Kartenspielen mit französischen Farben macht der Joker selbst aufmerksam. Mit den Worten „Here’s my card!“149 überreicht er den Mafia-Bossen eine französische Joker-Spielkarte. Später werden an den Tatorten des Joker ebenfalls Joker-Spielkarten zu finden sein, wobei diese teilweise ungewohnte Züge tragen. Die auf diesen Karten normalerweise zu findende Figur des Hofnarren mit Narrenkappe, Spitzschuhen und Marotte wird hier ins Dämonische verkehrt, auszumachen sind ein Teufelsschweif und angedeutete Hörner. Für den Zusammenhang zwischen der Referenz auf die Joker-Spielkarte und der gleichzeitigen Repräsentation von Anwesenheit und Abwesenheit relevant ist nun mitunter die Rolle, welche der Joker-Karte in den meisten Kartenspielen zukommt. Sie hat zum einen keinen bestimmten Wert und kann zum anderen zugleich jeden beliebigen Wert annehmen und alle Anschlüsse realisieren.150 In vielen traditionellen Kartenspielen (etwa Canasta) bedeutet es einen großen Punkteverlust, den Joker nach Ende des Spiels noch auf der Hand zu haben, während er als ausgespielte Karte häufig zu großem Punktegewinn führen und das Spiel drehen kann. Auf die grundsätzliche ‚Wertlosigkeit‘ des Joker macht unter anderem auch Mafia-Boss Salvatore Maroni aufmerksam, indem er
148 Vgl. hierzu die ähnlichen Eigenschaften des Tricksters als einer Verkörperung des Liminalen, wie sie in Kapitel 3.3 herausgearbeitet wurden. 149 The Dark Knight, 00:24:54-00:24:55. 150 Vgl. R. Leschke/J. Venus: Spielformen im Spielfilm, S. 16. Vgl. hierzu die ähnlichen Eigenschaften des Trickster-Typus, wie in Kapitel 3.3 ausgeführt.
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den Joker als „Nobody“151 bezeichnet. Genau wie die Joker-Spielkarte, hat aber auch die Figur Joker die Fähigkeit, das Spiel plötzlich wenden zu können. Am Ende des finalen Kampfes gegen Batman spielt der Joker nämlich noch einen Trumpf aus, indem er darauf verweist, dass er es geschafft habe, aus dem Bezirksstaatsanwalt Harvey Dent, dem vormals weißen Ritter von Gotham City, einen neuen Superschurken zu machen: „You need an ace in the hole. Mine’s Harvey.“152 So verweist der Zusammenhang zwischen der Figur Joker und der Joker-Spielkarte auf die Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit eines tatsächlichen Wertes. Als ein weiteres Moment der gleichzeitigen Repräsentation von Anwesenheit und Abwesenheit in Bezug auf die Figur Joker kann die Tatsache angesehen werden, dass die Inszenierung der Figur von einer sehr intensiven Präsenz der Maskerade begleitet wird. Bereits in der Einführungssequenz des Films The Dark Knight wird das Moment der Maskierung besonders hervorgehoben: Der Zuschauer wird mit den Clownsgesicht-Masken konfrontiert, die von den Bankräubern und Gehilfen des Joker getragen werden, zudem wird gleich die dritte Einstellung vom Zoom auf eine Clownsmaske bestimmt, die von einem Mann in der Hand getragen wird, also noch ‚leer‘ ist. Hier scheint bereits auf, was Friedemann Kreuder als die „charakteristische Dialektik des Zeigens und Verhüllens“153, die für das Moment der Maskerade im Allgemeinen bestimmend ist, bezeichnet hat. Die Maske verweist sowohl auf die mit ihr verbundene Rolle als auch auf eine darunter liegende, verborgene, mehr oder weniger als ‚wahr‘ zu bezeichnende Persönlichkeit. In diesem Sinne schreibt auch Richard Weihe: „Zur Maske gehört die Suggestion eines Dahinter, und erst die Existenz eines Dahinter weist die Maske als Maske aus; auch wenn nichts hinter der Maske ist, so braucht es doch die Maske, um zu zeigen, dass dahinter nichts ist.“154 In Bezug auf diesen Aspekt zeigt sich aber bereits in der ersten Filmsequenz das Besondere an der Maskerade des Joker: Als dieser nämlich seine Gesichtsmaske 151 The Dark Knight, 00:21:19. 152 The Dark Knight, 02:11:00-02:11:04. 153 Kreuder, Friedemann: „Maske/Maskerade“, in: E. Fischer-Lichte/D. Kolesch/M. Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie (2005), S. 192-194, hier S. 192. 154 Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München: Wilhelm Fink 2004, S. 17. In seinem Text geht Weihe zudem auf die Präsentation von Abwesenheit mittels der Maske ein. Vgl. S. 22 und S. 50. Interessant erscheint zudem, dass Weihe im Sinne der hier verwendeten Terminologie sowohl von der Maske als Differenzmoment (S. 43) als auch von der Verwirklichung eines Sowohl-alsauch im Moment der Maskerade spricht (S. 47).
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mit dem Clownsgesicht abnimmt, wird dahinter – gleich einer Mise-en-abymeStruktur – sein geschminktes Gesicht als weitere Maske sichtbar. Im Vergleich zu den zahlreichen anderen maskierten Figuren des Films – allen voran natürlich Batman selbst – erscheint damit hinter seiner Maske keine ‚wahre‘ Personenidentität, sondern nur eine weitere Schicht der Verhüllung.155 Dass die Schminke des Joker Charakteristika der Maske156 besitzt, darauf weisen verschiedene Momente hin: So wird in der Sequenz, die den Anschlags im Rahmen der Beisetzung von Commissioner Loeb enthält, der Joker für drei kurze Einstellungen ungeschminkt gezeigt und der Zuschauer erhascht einen Blick auf sein tatsächliches, sehr vernarbtes Gesicht. In der Gefängnis-Szene ist die Schminke des Joker bereits stark verlaufen. Auch in mehreren anderen Momenten des Films wird auf den Akt des Schminkens hingewiesen, so etwa als die Komplizen des Joker darüber spekulieren, er würde sich schminken, um die Menschen zu erschrecken, also eine Art Kriegsbemalung tragen.157 Mit diesen Verweisen wird deutlich gemacht, dass es sich bei dem geschminkten Gesicht des Joker tatsächlich um eine künstlich hergestellte Maskerade und nicht um eine ‚natürliche‘ Situation handelt, als welche das Clownsgesicht zumindest in der fiktiven Welt der Superheldengeschichten ja auch eingeführt werden könnte.158 Im Sinne der von Kreuder hervorgehobenen Dialektik werden an anderen Stellen des Films aber wiederum der Schminke die Charakteristika einer Maskerade abgesprochen, indem nämlich der Verweis auf ein Hinter-der-MaskeLiegendes referenzlos bleibt. Dazu dienen unter anderem die verschiedenen Backstorys, welche der Joker erzählt und auf welche bereits im dritten Kapitel eingegangen wurde. Auch mit diesen Hintergrundgeschichten verweist der Joker nämlich einerseits darauf, dass es eine Persönlichkeit hinter der Maskerade, hinter der gespielten Rolle gibt, andererseits markiert die Tatsache, dass alle Backstorys sich als falsch erweisen beziehungsweise ihre ‚Richtigkeit‘ nicht überprüft 155 Zum Aspekt der bloßen Maske als Ausdruck des Bösen und sogar Teuflischen vgl. R. Weihe: Paradoxie der Maske, S. 53. 156 Richard Weihe definiert die „Schminkmaske[ ]“ als sowieso zugehörig zu den verschiedenen Erscheinungsformen der Maske. R. Weihe: Paradoxie der Maske, S. 18. 157 Interessanterweise ist der Schreckmoment – zumindest für den Zuschauer – viel größer in der oben erwähnten Szene, in welcher der Joker das einzige Mal ungeschminkt gezeigt wird. Hier wird nämlich explizit deutlich gemacht, dass sich hinter der Maske kein ‚normales‘ Gesicht verbirgt, dass eine Dopplung der Masken stattfindet. 158 Vgl. hierzu die Ausführungen von Vincent M. Gaine, für welchen der Joker aufgrund seines Make-Ups eher „a social product rather than an accidental victim of science“ ist. V. M. Gaine: Genre and Super-Heroism, S. 125.
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werden kann, die Ungültigkeit dieser Referenz und damit das tatsächliche Fehlen einer Persönlichkeit hinter der Maske. In diesem Sinne haben auch Schlegel und Habermann darauf hingewiesen, dass für die Figur des Joker keine bestätigbare Identitätskonstruktion angeboten wird und dadurch die Artifizialität und der performative Akt der Hervorbringung der Figur besonders betont werde: „Since the Joker’s background story is not known and as he has no verifiable identity, the Joker comes into being only as performance and as staging [Herv. i. O.].“159 Diese Inszenierungsstrategie erhält ihr besonderes Gewicht, weil sie im Kontrast dazu steht, dass Batman immer wieder mit und ohne Maskierung gezeigt wird und dass der Joker ja explizit auch an Batman die Aufforderung richtet, er solle seine Maske ablegen: „Batman must take off his mask and turn himself in.“160 Das Moment der Maskierung also, das zugleich auf die gespielte Rolle wie auf die dahinter verborgene Persönlichkeit verweist, markiert in Bezug auf die Inszenierung der Figur Joker in The Dark Knight die Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, da den Verweisen nicht Rechnung getragen wird, tatsächlich also weder Rolle noch Persönlichkeit klare Konturen erhalten. Als dritter Aspekt, der auf die Differenzaufhebung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit verweist, kann in der Inszenierung des Joker dessen Tendenz gesehen werden, absichtlich lesbare Spuren zu hinterlassen – nicht nur für Gothams Polizei, sondern vor allem auch für den Rezipienten. Bereits hingewiesen worden ist auf die Spielkarten, die der Joker an seinen Tatorten zurücklässt. Zudem schminkt er seine Opfer in der für ihn typischen Weise. Hier liegen also Spuren vor, die auf die vergangene Anwesenheit einer Entität verweisen, der Joker macht durch diese Spuren seine Beteiligung an den Taten deutlich. Es handelt sich hierbei um die konventionelle Form einer Spur im Sinne einer Fährte, wie sie unter anderem Nora Hannah Kessler beschrieben hat, die hierbei auch die Anwesenheit in der Abwesenheit als spezifisches Charakteristikum der Spur herausstellt: „Ein Jäger, der auf dem Boden kauernd die Fährte des Wildes aufspürt, liest Spuren, weil er das Wild nicht direkt beobachten kann. Diese vergleichsweise banale Feststellung markiert aber tatsächlich eine spezifische Besonderheit von Spuren. Denn während der jeweilige Gegenstand, der als Spur erkannt wird, im Hier und Jetzt gegenwärtig anwesend ist, scheint das, was als Ursache der Spur in Frage kommt, bereits vergangen zu sein. […] Und was die Spur dabei anzeigt oder vergegenwärtigt, ist nicht so sehr das Abwesende selbst; eine Spur kann dieses Abwesende zu keiner Zeit kompensieren, indem sie es dar159 J. Schlegel/F. Habermann: Theatricality and Cybernetics of Good and Evil, S. 42. 160 The Dark Knight, 00:41:33-00:41:36.
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Kessler greift hierbei auch auf die umfassenden Überlegungen Sybille Krämers zur Spur zurück, die auf deren prinzipielle „Janusköpfigkeit“162 verwiesen hat: „So kreuzen sich in der Spur Präsenz und Absenz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Gegenwart und Vergangenheit [Herv. i. O.].“163 Genau wie Gothams Polizei kommt auch der Rezipient hier also immer zu spät und kann nur noch die Unterschrift des Joker unter seinen Taten wahrnehmen, ihn aber selbst bei der Durchführung nicht beobachten oder ihn gar daran hindern. Darüber hinaus aber hinterlässt der Joker auch Spuren, die nicht auf eine bereits vergangene Anwesenheit hinweisen, sondern auch solche, die als Hinweise auf eine zukünftige Anwesenheit gelesen werden können. Kessler hat in Bezug auf die Zeitbezogenheit von Spuren festgestellt: „[D]er Jäger begreift die gegenwärtig anwesende Spur nicht nur als Zeugin einer vergangenen Ursache, sondern auch als richtungsweisendes Anzeichen, das ihm die Möglichkeit einer zukünfti-
161 Kessler, Nora Hannah: Dem Spurenlesen auf der Spur. Theorie, Interpretation, Motiv, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 33. 162 Krämer, Sybille: „Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur“, in: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 155-181, hier S. 158. 163 S. Krämer: Immanenz und Transzendenz, S. 159. Krämer hat auch darauf hingewiesen, dass die „Unmotiviertheit“ des Hinterlassens einer Spur zentrales Kriterium für deren Definition ist. Wo eine Spur absichtlich hinterlassen werde, handle es sich nicht mehr um eine solche. Vgl. Krämer, Sybille: „Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme“, in: S. Krämer/W. Kogge/G. Grube: Spur (2007), S. 11-33, hier S. 16. In Bezug darauf, dass hier die auf die Analyse des Films The Dark Knight angewandte Differenz von Anwesenheit und Abwesenheit im Mittelpunkt der Betrachtung steht, soll die Frage nach der Absichtlichkeit der Spur allerdings zurückgestellt werden, zumal ja auch Krämer selbst betont, dass als Spur definiert werden kann, „was als Spur betrachtet und verfolgt wird“, womit sie zugleich das Definitionskriterium der Motiviertheit wieder relativiert und den Beobachter der Spur ins Zentrum rückt. S. Krämer: Was also ist eine Spur, S. 17. In Bezug auf die hier vollzogene Analyse soll also vor allen Dingen die Tatsache ausschlaggebend sein, dass sowohl Gothams Polizei als auch Batman bereit sind, die Hinterlassenschaften des Joker als Spuren zu interpretieren und sie teilweise direkt als solche benannt werden.
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gen Begegnung mit dem Tier eröffnet [Herv. i. O.].“164 So finden sich unter anderem auf einer der Joker-Spielkarten die DNA-Spuren von drei Mitgliedern der Gothamer Justizverwaltung, die zukünftige Opfer des Joker sein werden. An einem Tatort finden die Ermittler zudem einen Zeitungsausschnitt, der mittels Todesanzeige ein Attentat auf den Bürgermeister Gothams ankündigt. Darüber hinaus verweisen Namensschilder auf den Kleidungen von Gehilfen des Joker auf dessen künftige Opfer.165 Auch durch diese Spuren werden Anwesenheiten in Abwesenheiten realisiert, nämlich die Anwesenheit von zukünftigen Ereignissen, die tatsächlich – wie sich im Verlauf der Geschichte herausstellt – weder von Batman noch von der Polizei abgewendet werden können. Es handelt sich bei den Spuren, die der Joker hinterlässt, also tatsächlich nicht um Hinweise, die zu seiner Ergreifung dienen, sondern um die exzessive Zurschaustellung seiner Selbstermächtigung. Relevant in diesem Zusammenhang ist zudem, dass es zur Geschichte und zum Motiv des Joker selbst – wie bereits im dritten Kapitel dargestellt – keinerlei Spuren gibt, worauf Commissioner Gordon im Rahmen der Gefängnisszene deutlich hinweist: „No matches on prints, DNA, dental. Clothing is custom, no labels. Nothing in his pockets but knives and lint. No name. No other alias.“166 Charakteristisch für die Verkörperung der gleichzeitigen Anwesenheit und Abwesenheit in der Figur des Joker ist zudem die Tatsache, dass dieser erst dann von Batman gefasst werden kann, als es jenem mittels ausgeklügeltem Sonarsystem gelingt, das Erzeugen von Spuren und ihr Auffinden zeitlich so gut wie zur Deckung zu bringen. Gleich einem Echolot in einem U-Boot kann Batmans Wunderwerkzeug mittels Handydaten die Position von Personen und Gegenständen im Stadtraum abbilden und so Produktion und Interpretation der Spur zeitlich zusammenfallen lassen. Damit handelt es sich aber nun, wie Sybille Krämer herausgestellt hat, nicht mehr um eine Spur, sondern um einen Index: „So, wie die Gleichzeitigkeit die Ordnungsform des Index ist, so ist die Ungleichzeitigkeit also die ‚Ordnungsform‘ der Spur. Ohne Zeitverschiebung keine Spur [Herv. i. O.].“167 In dem Moment also, in dem Batman das Grundprinzip der Aufhebung der Differenz zwischen Abwesenheit und Anwesenheit gegen den Joker selbst wendet, kann er einen Sieg über die entgrenzte Figur erzielen. 164 N. H. Kessler: Dem Spurenlesen auf der Spur, S. 33. 165 Vgl. hierzu auch Bernhard Waldenfels Überlegungen zur „leibhaftige[n] Abwesenheit“. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 26. 166 The Dark Knight, 01:20:44-01:20:54. 167 S. Krämer: Immanenz und Transzendenz, S. 164. Vgl. auch N.H. Kessler: Dem Spurenlesen auf der Spur, S. 33.
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Wie gezeigt werden konnte, ist die Präsentation der Figur Joker in dem Film The Dark Knight von einer spezifischen ‚Zweischichtigkeit‘ geprägt, die sich in der Aufhebung der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ausdrückt. Die Repräsentation dieser Aufhebung erfolgt auf mehreren Ebenen: Erstens in Bezug auf den Verweis der Herkunft der Figur aus den Spielkarten des französischen Blattes und dem ihr dort zugewiesenen oder eben nicht zugewiesenen Wert, zweitens in Bezug auf die spezifische Präsenz der Maskerade, die auf das Vorhandensein einer Dopplung zwischen Person und Rolle hinweist, diese aber zugleich negiert, und drittens in der Tendenz der Figur, willentlich Spuren zu hinterlassen, in welchen grundsätzlich Anwesenheiten in Abwesenheiten realisiert werden und auf welche im Rahmen der Inszenierung auch zeichenhaft hingewiesen wird. 5.3.3 Murata und die Aufhebung der Differenz zwischen Materialität und Referentialität Die folgende Analyse konzentriert sich nun zuletzt auf die als dritte Variante vorgestellte Konzeption der entgrenzten Figur und damit auf den Serienmörder Yukio Murata. Hier lässt sich zunächst feststellen, dass der gesamte Film intensiv durch eine ‚Doppeldramaturgie‘ geprägt ist: So wechseln sich Momente, die sich einer zeichenhaften Lektüre nahezu verweigern, mit jenen ab, die sich auf der Ebene der zeichenhaften Lektüre geradezu anbieten. Häufig treten diese beiden Varianten auch zugleich in einem Moment der Inszenierung auf. Damit stehen sich in Cold Fish Momente der Materialität, welche bevorzugt durch die Inszenierung von Körperlichkeit hergestellt werden, und Momente der Referentialität gegenüber. In den Auftritten der entgrenzten Figur findet im Sinne der hier vorgelegten Argumentation wiederum eine Aufhebung der Differenz zwischen Materialität und Referentialität statt. Die Differenz zwischen Materialität und Referentialität kann dabei als eine der von Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt für die Aufführungsanalyse in der Theaterwissenschaft eingeführten Unterscheidung zwischen Performativität und Semiotizität weitgehend parallele Differenz angesehen werden. Mit dieser Gegenüberstellung wird zunächst ausgedrückt, dass „[d]ie Materialien, mit denen in einer Performance gearbeitet wird, […] in ihrem phänomenalen So-Sein Verwendung [finden] und nicht als Zeichen, mit denen Bedeutungen vermittelt werden sollen“168, womit also zugleich der Gehalt an „codierter Semiotizität“169 in der Performance sinkt. Die materiellen Erschei-
168 E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Attraktion des Augenblicks, S. 243. 169 E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Attraktion des Augenblicks, S. 246.
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nungen verweisen entsprechend zunächst nur auf sich selbst, aber nicht über sich hinaus auf eine damit verknüpfte Bedeutung: „Die Handlungen, welche die Performer durchführen, bedeuten zunächst einmal nichts anderes, als was sie vollziehen: sich den Rücken peitschen, sich mit ausgebreiteten Armen auf ein Kreuz von Eisblöcken legen, einen Sack mit Salz füllen, den Sack auf die Schulter heben, mit dem Sack auf der Schulter im Kreis herumgehen usf. Auch die Objekte, die bei den Handlungen Verwendung finden, bedeuten zunächst nichts anderes als sich selbst […]. Da die Wahrnehmung auf die spezifische Materialität der Objekte gelenkt wird, also eher als eine Wahrnehmung vollzogen wird, welche sich auf das je besondere So-Sein des Objektes richtet – z. B. auf die Glätte der Rasierklinge oder die Textur des Sacks –, denn als eine konzeptionalisierende Wahrnehmung, kann momentan durchaus die Bedeutung der Objekte ‚Rasierklinge‘ oder ‚Sack‘ vor der Eigenart der Wahrnehmung ihrer je spezifischen materiellen Eigenschaften in den Hintergrund treten.“170
Fischer-Lichte und Roselt weisen aber zudem darauf hin, dass gerade durch diese Verringerung an Verweishaftigkeit Bedingungen dafür geschaffen werden, dass der „Grad an Semiotiziät“171 wieder steigt: „Reduktion der Semiotizität und Pluralisierung des Bedeutungsangebots stellen insofern keine Gegensätze dar; vielmehr bedingt und ermöglicht ersteres letzteres.“172 Übertragen auf die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Materialität und Referentialität als Analysekategorie für Cold Fish lässt sich also entsprechend festhalten, dass in den Momenten der Materialität das ‚So-Sein‘ der inszenierten Körper und Objekte, ihre Verweishaftigkeit eher überwiegt und sich in den Momenten der Referentialität verringert. Auch wenn in anderen Teilen des Films Körperlichkeit noch viel nachdrücklicher zur Schau gestellt wird, so kann man doch bemerken, dass gerade in den Einführungssequenzen die oben erwähnten Inszenierungsmomente explizit vorgestellt und gegeneinander ausgespielt werden. So weist schon der Beginn des Films auf die in ihm verhandelte zentrale Differenz hin. Kurz nachdem Familie Shamoto Yukio Murata kennengelernt hat, lädt dieser zu einer Besichtigung seines Tropenfischladens ‚Amazon Gold‘ ein. Die spezifischen performativen Qualitäten dieses Rundgangs, die grundlegend durch das Moment der Materialität geprägt sind, werden insbesondere im Vergleich mit der direkt dahinter montierten Besichtigung von Shamotos Fischladen sichtbar, in welchem vermehrt Mo170 E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Attraktion des Augenblicks, S. 246. 171 E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Attraktion des Augenblicks, S. 246. 172 E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Attraktion des Augenblicks, S. 247.
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mente der Referentialität aufscheinen. So fällt, was den ersten Besuch in Muratas Laden betrifft, die explizit am Zeigen beziehungsweise Herzeigen orientierte Performativität des Rundgangs auf, die Murata ja auch mit dem Ausspruch „Business ist für mich Entertainment“173 unterstreicht: Von der Begrüßung des Papageis bis zu Muratas als ‚kindlichem Rennen‘ ausgestellten Lauf durch die Reihen der Aquarien ist hier alles Show und Expressivität. Kurz nach Ankunft im Laden schaltet Murata die Musikanlage ein und eine Variante des bekannten hawaiischen Volkslieds Aloha Oe erklingt. Diese soll nicht nur dafür sorgen, dass sich die Fische schöner bewegen und dadurch der Verkauf gesteigert wird, Murata selbst wandelt die Musik direkt in Körperbewegung um und tänzelt durch den Laden. So kommt auch Shamoto nicht umhin, den besonderen Schauwert der Besichtigung und des Ladens im Allgemeinen zu betonen, als er feststellt: „Das ist fast schon wie ein Aquarium im Zoo.“174 Mit seinem Verhalten provoziert Murata zudem direkte körperliche Reaktionen seines Publikums in Form von Lachen, etwa wenn er gespielte Kampfgesten gegenüber Shamotos Frau Taeko ausführt oder sie und die Tochter Mitsuko mit einer Königspython in der Hand neckt. Nicht umsonst hat sich Sion Sono wohl für die Verkörperung Muratas durch einen von Japans bekanntesten Komikern, den Schauspieler Denden, entschieden. Einen starken Kontrast dazu bildet die Sequenz der Besichtigung von Shamotos Laden, von welchem der Besitzer im Vorfeld bereits selbst zugibt: „Bei mir gibt es gar nichts zu sehen.“175 Auch Muratas Frau Aiko betont während der Besichtigung des Fischladens den Kontrast, als die Gruppe auf die offensichtlich gute Pflege der Tiere zu sprechen kommt, und sie erklärt, bei ‚Amazon Gold‘ ginge es im Gegensatz dazu nur um den Schein.176 Interessant in Bezug auf die Analyse dieser Sequenz ist vor allem die Einstellung kurz nach Betreten des Ladens: Der lange Durchgang zwischen den Aquarien, welcher bei der Besichtigung von ‚Amazon Gold‘ noch von der expressiven Körperlichkeit Muratas geprägt ist, welcher zwischen den Aquarien ‚durchrennt‘ und tänzelt, stellt sich in Shamotos Geschäft gänzlich anders dar, auch wenn sich die Einstellungen bezüglich der Kameraperspektive stark ähneln. In Shamotos Laden spiegelt der Boden derart, dass sich die aufgestapelten Aquarien nach unten ins scheinbar Unendliche zu vervielfältigen scheinen. Dies kann – gerade auch in Bezug auf die eben erwähnte Parallelität der einander ähnelnden Einstellungen – als Hinweis auf Shamotos beständige Reflektiertheit gese173 Cold Fish, 00:10:04-00:10:07. 174 Cold Fish, 00:13:20-00:13:22. 175 Cold Fish, 00:16:33-00:16:35. 176 Vgl. Cold Fish, 00:18:45-00:18:50.
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hen werden. Diese ist dem Zuschauer zuvor bereits in einer Flashback-Sequenz zur schwierigen Beziehung zwischen Shamotos Frau und seiner Tochter vor Augen geführt worden. Zusätzlich von Referentialität geprägt wird die Szene durch den Verweis auf Shamotos Hobby, der Astronomie. Dabei erschließt sich die Bedeutung der zahlreichen im Laden vorhandenen Darstellungen von Himmelskörpern, darunter besonders der Erde, erst im weiteren Verlauf der Erzählung: Es handelt sich um eine besondere Form des Memento Mori, welche Shamoto mit der Geschichte vom Werden und Vergehen des blauen Planeten verbindet. So ist es immer ein bestimmter Satz aus der Vorführung im Planetarium, auf welchen durchgängig verwiesen und mit dem auf die ‚Janusköpfigkeit‘ der Situation referiert wird: „Vor 4 Milliarden 600 Millionen Jahren wurde der blaue Planet, auf dem wir leben, geboren. Und in 4 Milliarden 600 Millionen Jahren soll das Leben auf der Erde zu Ende gehen.“177 So wird deutlich, dass die Montage der beiden Einführungssequenzen, die zum Teil recht ähnliche Einstellungen und Bildmotive aufweisen, auf die zentrale Differenz zwischen Materialität und Referentialität verweist. Eine deutliche Steigerung erfährt das Ausspielen von Momenten der Materialität gegenüber Momenten der Referentialität in der Sequenz von der Hütte am Haragiri-Berg, also im Zusammenhang mit der Entsorgung der Leiche von Muratas Geschäftspartner Yoshida. Hier wird auch deutlich hervorgehoben, inwiefern es im Zusammenhang mit dem Wirken Muratas zu einer Aufhebung der Differenz zwischen Materialität und Referentialität kommt. Im Sinne einer expliziten Materialität steht hier natürlich der Leichenkörper im Mittelpunkt der gesamten Sequenz: Dieser muss zum einen umständlich transportiert werden und der Transport – in den Kofferraum hinein, wieder aus dem Kofferraum hinaus, in die Hütte und dort letztendlich in das Badezimmer – wird von der Kamera ausführlich begleitet und damit in besonderer Weise ausgestellt. Zum anderen – und das ist Dreh- und Angelpunkt der Sequenz – wird Yoshidas Körper von Murata und Aiko in seine Einzelteile zerlegt, die Knochen werden vom Fleisch getrennt, welches möglichst klein geschnitten wird. Der seiner Menschlichkeit beraubte Körper wird überdeutlich in seinen einzelnen Bestandteilen von der Kamera aufgenommen, es lassen sich Schädel und einzelne Organe identifizieren. Insbesondere auch die Farbigkeit der zentralen Einstellungen – das rote Blut auf dem weißen Boden des Badezimmers und auf der weißen Wäsche der Mörder – thematisiert die Unmittelbarkeit der hier präsentierten Materialität.
177 Cold Fish, unter anderem 01:29:37-01:29:46.
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Unterstützend tragen zu dieser besonderen Inszenierung des Materiellen auch die Reaktionen der drei beteiligten Figuren bei, die jeweils ebenfalls bestimmte Formen von Körperlichkeit explizieren. So wird zum einen Shamotos Reaktion auf den Anblick der Leichenteile ausdrücklich als Ekelempfinden charakterisiert: Er hält sich die Hand vor den Mund, stürzt aus dem Badezimmer, wäscht sich hektisch die vom Blut rot gefärbten Hände. Im Kontrast dazu steht wieder die besondere Expressivität Muratas, welcher über den mit Blut besudelten Badezimmerboden tänzelt, während der Zerteilung der Leiche japanische Kinderlieder singt und mit der Leber des Opfers spielt, dem also die Leichenschändung offensichtlich große Freude bereitet. Verbunden wird diese explizit thematisierte und dem Zuschauer drastisch vor Augen geführte Materialität mit besonderen Aspekten der Referentialität, welche sich sowohl in der vorhandenen religiösen Symbolik wie auch in dem Aspekt der Ritualhaftigkeit ausdrücken. Bereits im dritten Kapitel wurde auf die deutliche und eigenartige Inszenierung der christlich-katholischen Devotionalien – Kruzifixe, Marienstatuen – im Rahmen der Sequenz eingegangen. Diese scheinen einerseits hohen Verweischarakter zu besitzen, lassen sich aber andererseits keiner konkreten Bedeutung insbesondere im Kontext einer Backstorywound zuordnen und bleiben gerade deshalb auf ihre angedeutete Referentialität beschränkt, ohne tatsächlich Referenz zu sein. Darüber hinaus weist Muratas besondere Praxis des ‚Unsichtbarmachens‘178 von Leichen unverkennbar Merkmale des Ritualhaften auf. Für Wolfgang Braungart stellen Rituale „ästhetisch besonders ausgezeichnete, geregelte Wiederholungshandlungen [Herv. i. O.]“179 dar, die sich in verschiedenen Kontinuen zwischen Differenzen wie beispielsweise „streng fixiert und verbindlich“ und „spielerisch-reflexiv“ oder „kontrolliert“ und „exzessiv“ entfalten.180 Blickt man 178 Vgl. Cold Fish, 00:58:54-00:58:56. 179 Braungart, Wolfgang: Ritual und Literatur, Tübingen: Max Niemeyer 1996, S. 72. Braungart konzipiert seinen Ritualbegriff mit Blick auf die Anwendung für narrative und spielhafte Hervorbringungen, weshalb dieser für die hier durchgeführte Analyse geeignet erscheint. Zum theaterwissenschaftlichen beziehungsweise performativitätstheoretischen Ritualbegriff vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Ritualität und Grenze“, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Ritualität und Grenze, Tübingen: Franke 2003, S. 11-30. Fischer-Lichte, Erika: Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre, New York: Routledge 2005, S. 30 ff. Schechner, Richard: Performance Studies. An Introduction, New York: Routledge 2007, S. 52 ff. 180 W. Braungart: Ritual und Literatur, S. 73.
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auf die im Film Cold Fish mehrfach inszenierten Zeremonien des Leichenzerteilens, werden Wiederholungen beziehungsweise offenbar einem festen Muster folgende Abläufe deutlich, die immer wieder in gleicher Weise vollzogen werden, wie beispielsweise das Vorbereiten der Messer, das Anzünden der Kerzen in der Hütte, das Verbrennen der Knochen und das Verstreuen der Knochenasche im Wind sowie das Entsorgen des Leichenfleisches in den Fluss, wo es nach Muratas Angaben als Futter für die Fische dienen soll. Wie Braungart in seiner Definition des Ritualhaften deutlich macht, „lassen sich Rituale als symbolische, bedeutsame Handlungen verstehen, in denen sich religiöse, natürliche und soziale Beziehungen darstellen“181. Einen Symbolgehalt seiner Handlungen deutet Murata selbst an, etwa wenn er mit den ausgelösten Knochen des Leichnams spricht und sich brüllend von diesen verabschiedet, bevor er sie in das vorbereite Feuer wirft: „Yoshida, leben Sie wohl! Yoshida, wir sehen uns wieder!“182 So lassen sich die Abläufe der Hütte am Haragiri-Berg auch als Bestattungs- beziehungsweise Trennungsritual183 deuten. Dabei zeigt sich aber auch hier – wie zuvor für die religiöse Symbolik festgestellt – dass zwar eine decodierbare Referentialität angedeutet wird, tatsächlich aber keine dem Ritual entsprechende Bedeutungszuschreibung möglich ist, es sich also um quasi-rituelle Akte handelt. Dies gilt insbesondere deswegen, da die rituellen Handlungen nicht – wie von Wolfgang Braungart als essenziell für die Erfüllung der Kategorie angesehen184 – von einer ganzen Gruppe getragen und von dieser in einer bestimmten Form interpretiert, sondern nur von einer Person, nämlich Murata (ergänzt höchstens noch durch seine Frau Aiko), eingeführt und umgesetzt werden. So wird deutlich, wie sich in Bezug auf die Inszenierung der entgrenzten Figur im Film Cold Fish Momente der Materialität und der Referentialität überlagern, wie also eine Aufhebung der in den ersten Filmsequenzen als zentral eingeführten Differenz stattfindet. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Kontrastierung beider Momente im Verlauf der Narration weiter zunimmt und die Gegenüberstellung damit sukzessive expliziter wird. Zudem verlagert sich die Bindung des Aspekts der Materialität vor allem im letzten Drittel der Erzählung von der entgrenzten Figur Yukio Murata auf dessen Opfer Shamoto, der am Ende des Filmes im Grunde selbst als entgrenzte Figur beschrieben werden kann. So wird zum einen die Darstellung der materiellen Körperlichkeit durch diejenige Szene extremer, in welcher der Zuschauer der intensiven Versehrung Muratas bei181 W. Braunhart: Ritual und Literatur, S. 109. 182 Cold Fish, 00:56:26-00:56:37. 183 Vgl. A. van Gennep: Übergangsriten, S. 142 ff. 184 W. Braungart: Ritual und Literatur, S. 101 f.
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wohnt, dem von Shamoto – damit ein wahres Blutbad anrichtend – mit einem Stift unzählige Male in den Brustkorb gestochen wird. Zum anderen zeigen sich referentielle Momente deutlich in mehreren Spiel-im-Spiel-Konstruktionen, zum Beispiel als Shamoto seine Lüge gegenüber Freunden und Verwandten eines von Muratas Opfern einübt: Murata, dessen Frau Aiko, sein Anwalt und dessen Gehilfe sitzen Shamoto im Büro wie ein Publikum gegenüber, während er – wieder und wieder – denselben Monolog aufsagen und dabei möglichst natürlich und entspannt wirken muss. 5.3.4 Aufhebung der Differenz zwischen Nähe und Distanz In den in diesem Kapitel vorgestellten filmanalytischen Überlegungen konnte dargelegt werden, inwiefern Inszenierung und Präsentation der entgrenzten Figuren von einer spezifischen Bivalenz geprägt sind: Diese zeigt sich im Besonderen darin, dass den Darstellungen der entgrenzten Figuren spezifische Kontraste zu Grunde liegen, die den Rezipienten wiederum dazu anregen können, bestimmte Unterscheidungen vorzunehmen. So kommt es einerseits auf der Rezeptionsebene explizit zur Konstruktion bestimmter Differenzen, andererseits findet – angeregt durch die filmische Darstellung – in Bezug auf die entgrenzten Figuren aber wieder die Aufhebung dieser eingeführten Differenzen statt. Betrachtet man nun die Charakteristika der einzelnen festgestellten Differenzen – Innen und Außen bei Hannibal Lecter, Anwesenheit und Abwesenheit beim Joker sowie Materialität und Referentialität bei Yukio Murata – so lässt sich konstatieren, dass es sich um Differenzen handelt, die parallel zur Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz in Aktion treten. In Bezug auf The Silence of the Lambs wurde bereits festgestellt, dass Lecter die Grenze zwischen einem Innen und Außen vor allem passieren kann, indem er – auch unterstützt durch die Kameraführung – spezifische Annäherungs- und Distanzierungsmomente herstellt. In Bezug auf die Figur des Joker deutet die Abwesenheit in der Anwesenheit von Spuren, die als charakteristisch für die Darstellung der Figur herausgestellt wurde, ebenso auf eine spezifische Verwirklichung von Nähe in der Distanz hin. So markiert die Spur eine vormalige, aber vergangene Nähe (‚X was here!‘) und bereits erfolgte Distanzierung. In Bezug auf die Differenz von Materialität und Referentialität, wie sie in Cold Fish ausagiert wird, ließe sich argumentieren, dass materielle Momente unmittelbarer wirken als referentielle Momente und daher dem Wahrnehmenden in einer spezifischen Weise näher stehen, da sie nicht ‚bedeuten‘, sondern zuvorderst ‚sind‘. Die Bedeutung der Unterscheidung von Nähe und Distanz als zentrales Kriterium für die Anteilnahme an fiktiven Figuren hat darüber hinaus – wie bereits
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dargestellt – Jens Eder herausgearbeitet.185 Eders Gedanken weiterführend würden die entgrenzten Figuren, wenn die in ihnen aufgehobenen Differenzen zugleich eine Aufhebung von Nähe und Distanz markieren, zu einer spezifischen Form der Anteilnahme anregen, die sowohl eine Annäherungs- als auch gleichzeitig eine Distanzierungsbewegung zum Rezipienten darstellt, oder – um die hier eingeführte Terminologie an dieser Stelle passend wieder aufzugreifen – Anziehung und Abstoßung verwirklicht.
5.4 F ORSYTHES T ANZPERFORMANCE A NGOLOSCURO ALS F IGURATION DER E NTGRENZUNG In Bezug auf die nun folgende Analyse von William Forsythes Tanzperformance Angoloscuro, auf welche ebenfalls das Konstrukt der entgrenzten Figur sowie das Modell der ludischen Fiktionalität angewandt werden soll, nimmt die Differenz zwischen Nähe und Distanz darüber hinaus noch einmal einen besonderen Stellenwert ein. Während sich in Bezug auf das filmische Narrativ Nähe und Distanz höchstens auf übertragener Ebene ausagieren können, ist es möglich, dass dem Zuschauer im Rahmen der Tanzperformance Körper tatsächlich räumlich ‚auf den Leib rücken‘ oder sich sehr weit von ihm entfernen. In der rund sechzig Minuten dauernden Performance des Tänzers und Choreografen William Forsythe aus dem Jahr 2007 mit dem Namen Angoloscuro, aus dem Italienischen etwa mit ‚dunkler Winkel‘ übersetzbar, erschaffen laut Programmankündigung „die Figuren eine Welt der alternativen Ästhetik, die den Zuschauer in eine Erzählung entführt, die einem verstörenden Traum gleicht“186. Schon durch die Wortwahl ‚Erzählung‘ wird an dieser Stelle deutlich, dass das Moment des Narrativen in der Inszenierung eine zentrale Rolle spielt. Insbesondere thematisiert und problematisiert Forsythe in seiner Tanzperformance, worauf an späterer Stelle noch genauer eingegangen wird, den Gegensatz sowie die gegenseitige Bedingtheit von narrativen und spielhaften Momenten in Tanzaufführungen.
185 Vgl. J. Eder: Imaginative Nähe zu Figuren. 186 The Forsythe Company/Angoloscuro (Projektseite): http://www.theforsythecompany.com/angoloscuro.html (27.04.2014). Uraufführung: 3. Mai 2007, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main. Musik: Thom Willems, Bühne/Licht: William Forsythe, Kostüme: William Forsythe, Dorothee Merg, Issey Miyake, Dramaturgie: Dr. Freya Vass-Rhee.
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Was die Konzeption des Bühnen- und Zuschauerraumes betrifft, so handelt es sich um eine quadratische Grundform, in deren Mitte sich die Tänzer bewegen. An zwei aneinander grenzenden Seiten des Quadrats befinden sich die Zuschauerränge, während die beiden anderen Seiten mittels hoher schwarzer Wände die Abgrenzung des Bühnenraumes bilden. So verlängert sich die Bühne an ihrer Mittellinie nach hinten in eine überwiegend schlecht ausgeleuchtete und damit – dem Titel der Performance entsprechend – ‚dunkle Ecke‘ hinein. Die Performance ist über einzelne Sequenzen organisiert – abhängig von den jeweiligen Unterscheidungskriterien rund 45 an der Zahl –, die entweder durch komplette Blackouts oder andere Veränderungen der Beleuchtung visuell voneinander abgegrenzt werden und überdies an Abgänge und Auftritte einzelner oder aller Tänzer gekoppelt sind.187 Was den Inhalt der Performance betrifft, so lässt sich hier keine Handlung oder ein Thema im konventionellen Sinne ausmachen. Die einzelnen Sequenzen scheinen auf den ersten Blick nicht aufeinander aufzubauen, sondern vielmehr zufällig hintereinander montiert zu sein. Auch Anfangs- und Endsequenzen lassen sich in Bezug auf die dargestellten Handlungen und ihre Gestaltung nicht einwandfrei als solche identifizieren. So setzt die Aufführung zum Beispiel schon ein, während die Zuschauer auf den Rängen Platz nehmen: Während der Einlassphase ist auf der Bühne ein Tänzer mit einem teppichartigen Stoffgebilde über dem Kopf zu sehen, der kleine, wiegende Bewegungen vollführt, akustisch begleitet von einem intensiven Summgeräusch, wie von Fliegen erzeugt. Doch stehen die einzelnen Sequenzen auch nicht völlig unverbunden nebeneinander, sondern sind beispielsweise durch die Auftritte bestimmter figuraler Typen oder Motiv-Wiederholungen miteinander verknüpft, wie später noch explizit gezeigt werden wird. Was den Versuch betrifft, die Performance thematisch zu erfassen, so sei hier wieder auf die offizielle Programmankündigung verwiesen, die von einem „Mikrokosmos des Verfalls“188 spricht, der dem Zuschauer vorgeführt werde: Entsprechend radikal wird hier Körperlichkeit, konkretisiert durch Momente von Krankheit, Schmerz, Verwesung und Zersetzung, ausgestellt. Aber auch mythische und magische Elemente finden ihren Platz in der Performance, Animali187 Die nachfolgende Analyse orientiert sich zum einen an der eigenen Seherfahrung einer Aufführung von Angoloscuro am 29.01.2014 im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm. Zum anderen stand für die Analyse eine Aufnahme aus dem Archiv der Forsythe Company zur Verfügung, welcher hiermit für ihre Unterstützung gedankt sei. 188 The Forsythe Company/Angoloscuro (Projektseite): http://www.theforsythecompany. com/angoloscuro.html (27.04.2014).
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sches und Technisches wird miteinander konfrontiert. Es handelt sich bei Angoloscuro in jedem Fall um eines von Forsythes weniger direkt zugänglichen choreografischen Werken, vor allem deshalb, weil – etwa im Vergleich zu anderen Arbeiten wie Human Writes (2005) oder Nowhere And Everywhere At The Same Time (2005) – die referentielle Ebene extrem reduziert ist und damit klare Verweise auf eine Bedeutungszuschreibung fehlen. So ist es dem Zuschauer im Verlauf der Aufführung nicht nur nicht möglich, sie „als Ganzes in den Blick zu nehmen“189, auch die von Erika Fischer-Lichte für den ästhetischen Prozess als zentral bezeichnete rückbezügliche Verknüpfung des eben Erlebten mit dem bereits Gesehenen scheint erschwert zu sein. 5.4.1 Von der entgrenzten Figur zur Figuration der Entgrenzung Mit der Betrachtung von Forsythes Tanzperformance Angoloscuro wurde nun scheinbar der für die bisherigen Beispiele gültige Rahmen des Narrativen verlassen, zumindest muss ein deutlicher Unterschied in Bezug zu den anderen, hier für die Analyse in Anschlag gebrachten Beispiele aus dem Unterhaltungsfilmbereich festgestellt werden, was das Moment des Narrativen und die Präsentation einer in sich konsistenten Handlung betrifft. So folgt Angoloscuro im Gegensatz zu den analysierten Spielfilmen keinem dramaturgischen Verlauf mit identifizierbarem Anfang, Höhepunkt und eindeutigem Ende. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern sich das in diesem Buch entwickelte Konstrukt der entgrenzten Figur auf Angoloscuro überhaupt anwenden lässt. Da innerhalb der Tanzperformance kein konventioneller Handlungsstrang und damit auch keine Protagonisten und Antagonisten vorgestellt werden, lässt sich ein ‚Böses‘ innerhalb einer figuralen Ordnung, wie es im dritten Kapitel definiert wurde, hier nicht konstatieren. Damit entfällt freilich die Möglichkeit, den Begriff der entgrenzten Figur als konkrete figurale Erscheinung auf die Tanzperformance anzuwenden. Vielmehr jedoch lässt sich das Moment der Entgrenzung in Bezug auf die Aufführung von Angoloscuro auf der Ebene der Rezeption verorten: Hier sind vor allem die extrem ausgestellte Körperlichkeit und das Groteske der Inszenierung zu nennen, welche sich auf der Ebene der Rezeption als Julia Kristevas Abjektes entfalten, sowie die Verweigerung jedweder Art von Nachvollzug und figuraler Motivierung. Im dritten Kapitel wurden die entgrenzten Figuren als grundsätzlich ‚böse‘ Figuren beschrieben, die aber innerhalb eines bestehenden Antagonismus als Figuren
189 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 270.
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des Dritten auftreten, von einem ausgeprägten Gestus der Selbstermächtigung geprägt sind sowie keine Hintergrundgeschichte und damit keine Motivation für ihre Taten aufweisen. Will man nun die erste Eigenschaft der entgrenzten Figuren, also das Moment des ‚Bösen‘ und das ihm innewohnende Destruktive, auf die Ebene der Rezeption übertragen, so lässt sich folgern, dass es sich hierbei um Effekte handeln muss, die den Rezipienten direkt negativ affizieren und damit unmittelbar angreifen. Eine Möglichkeit, solche Effekte hervorzurufen, ist die Evokation von Ekelreaktionen, bei denen die Zuschauer in der Regel die direktesten körperlichen Reaktionen, verbunden auch mit einer gegenüber der destruktiv einwirkenden Kraft typischen Abwehrreaktion, zeigen. So hat auch Nina Tecklenburg das Bedrohliche der Ekelreaktion beschrieben: „Ekliges ist aufdringlich, oder besser: ein-dringlich: Es verfügt über eine starke materielle Fülle, scheint sich ekstatisch über die eigene physische Grenze hinaus auszubreiten. Diese eindringliche Nähe stellt eine ungewollte Intimität her, die die eigene körperliche, individuelle oder kollektive Integrität bedroht.“190
Verbindungslinien lassen sich hier – nicht zuletzt, weil Tecklenburg das auch selbst tut – zu Julia Kristevas Begriff der Abjektion ziehen, den sie in ihrem Essay Powers of Horror herausgearbeitet hat.191 Dabei bezeichnet Kristeva mit dem Begriff des Abjekten nicht das ekelerregende Objekt selbst, sondern die Reaktion auf diese Empfindung, die – wie Tecklenburg herausgearbeitet hat – als Reaktion auf eine Grenzüberschreitung und damit als „Neuziehung dieser Grenze, einer Wiederherstellung der verloren gegangenen Ordnung [Herv. i. O.]“192 zu begreifen ist. Exemplarisch hat Kristeva den Vorgang am Beispiel der Konfrontation mit der Milchhaut anschaulich gemacht: „When the eyes see or the lips touch that skin of the surface of milk – harmless, thin as a sheet of cigarette paper, pitiful as a nail paring – I experience a gagging sensation and, still farther down, spasms in the stomach, the belly; and all the organs shrivel up the body, 190 Tecklenburg, Nina: „How to Do Art with Shit. Ekel als ästhetische Erfahrung”, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: Wilhelm Fink 2006, S. 247-259, hier S. 247. Zugleich macht Tecklenburg aber auch auf den eigentümlichen Effekt der Anziehung durch das ekelerregende Objekt aufmerksam. Vgl. S. 247 f. 191 Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982 [1980]. 192 N. Tecklenburg: How to Do Art with Shit, S. 249.
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provoke tears and bile, increase heartbeat, cause forehead and hands to perspire. Along with sight-clouding dizziness, nausea makes me balk at that milk cream, separates me from the mother and father who proffer it. ‚I‘ want none of that element, sign of their desire; ‚I‘ do not want to listen, ‚I‘ do not assimilate it, ‚I‘ expel it. But since the food is not an ‚other‘ for ‚me‘, who am only in their desire, I expel myself, I spit myself out, I abject myself within the same motion through which ‚I‘ claim to establish myself [Herv. i. O.].“193
Übertragen nun auf die hier zur Diskussion stehende Rezeption von Forsythes Tanzperformance lässt sich schlussfolgern, dass die Evokation von Ekelreaktionen oder des Abjekten nicht nur eine kurzzeitige körperliche Versehrtheit des Zuschauers zur Folge hat, sondern auch eine zeitweilige Aufhebung der identitätskonstituierenden Ordnung zwischen Subjekt und Objekt. In beiden Fällen handelt es sich um destruktive Wirkungen, die dementsprechend als ‚Böses‘ auf der Ebene der Rezeption rekonstruiert werden können. Und tatsächlich lässt sich feststellen, dass Forsythe in Angoloscuro Momente integriert, die sich als Effekte des Abjekten auf die Rezeption auswirken können: In vielen Sequenzen ist das Summen von (Aas-)Fliegen als penetrantes Begleitgeräusch zu hören, die Tänzer erzeugen Verdauungsgeräusche und winden sich – der Gestik nach zu urteilen, von einer Magen-Darm-Erkrankung geplagt – unter Schmerzen, Tänzer in Morphsuits194 bewegen sich spinnenartig übereinander hinweg, ein in einem Tuch eingehüllter Schädel wird mit voller Wucht gegen die Bühnenwand geschmettert. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass einige Tänzer überwiegend zuckende, ruckartige Bewegungen ausführen: Bewegungen also, die im Gegensatz zur konventionellen Erscheinung von Tanz nicht von der Kontrolliertheit, sondern vom Kontrollverlust in Bezug auf den eigenen Körper und seine Bewegungen zu zeugen scheinen. Erwähnenswert sind an dieser Stelle darüber hinaus die zahlreichen grotesken Momente der Inszenierung, die ebenfalls zu einer unmittelbaren Affizierung des Rezipienten und zu einer Abwehrreaktion führen können.195 Beispielhaft hierfür kann 193 J. Kristeva: Powers of Horror, S. 2 f. 194 Es handelt sich hierbei um Ganzkörperanzüge aus Elasthan, bei denen alle Körperteile, darunter auch der komplette Kopf, von Stoff umhüllt sind. 195 Das Groteske wird hier mit Christian W. Thomsen als „Umschlag von Komik in Grauen, [als] Bewußtwerden und Bewußtsein der Janusköpfigkeit von gleichzeitig vorhandener Komik und Tragik, Sublimem […] und Niedrigem, Ordnung und Chaos“ verstanden. Thomson, Christian W.: „Groteske“, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler 2004, S. 240-241, hier S. 240. In Bezug auf die hier angesproche-
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etwa die erwachsene Tänzerin stehen, welche in mehreren Sequenzen in einem schwarzen Morphsuit auftritt, an welchem eine gigantische, schwarze Nabelschnur befestigt ist, und die sich konsequenterweise auch selbst sprachlich als ‚Baby‘ einführt. Diese Momente der Affizierung des Rezipienten, welche im Regelfall mit einer Abwehrreaktion verbunden sind, können als Momente des ‚Bösen‘ verstanden werden, welche sich zwar nicht wie in den filmischen Beispielen auf figuraler Ebene, dafür aber auf der Rezeptionsebene verorten lassen. Dadurch aber, dass diese Momente des ‚Bösen‘ – parallel zu Kristevas Abjektem – nicht auf die Darstellungsebene der Performance beschränkt bleiben, sondern als ein Moment des Dazwischen, schon abgelöst von der figuralen Ebene, aber noch nicht wirklich Interpretation des Rezipienten, betrachtet werden können, lassen sie sich zugleich als Momente des Dritten begreifen, wie sie als Charakteristika dem Typus der entgrenzten Figur zugeschrieben wurden. Vergleichbar ist dieses Phänomen mit dem von Fischer-Lichte beschriebenen Moment der leiblichen Affizierung des Zuschauers, welches ein Verstehen zunächst ausschließt: „Es hat vor allem darin seinen Grund, daß hier Materialität, Signifikant und Signifikat zusammenfallen und damit jegliche Möglichkeit zur ‚Entschlüsselung‘ der Bedeutung entzogen ist. Die Bedeutung lässt sich von der Materialität nicht ablösen, nicht als ein Begriff fassen. Sie ist vielmehr mit dem materiellen Erscheinen des Objektes identisch.“196
Die beiden anderen Merkmale, welche für den Typus der entgrenzten Figur herausgearbeitet wurden, zeigen sich in Bezug auf Forsythes Tanzperformance ebenfalls vor allem auf Rezeptionsebene, und zwar spezifisch dadurch, dass kein Nachvollzug, kein ‚Verstehen‘ der dargestellten Handlungen möglich ist beziehungsweise konsequent verweigert wird. Einleitend wurde bereits erwähnt, dass die einzelnen Sequenzen von Angoloscuro weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen und keine Handlungsabfolge kreieren, der Bedeutung beigemessen werden könnte. Dabei weist die Inszenierung auf verschiedenen Ebenen explizit darauf hin, dass hier ein Nachvollzug deutlich und willentlich verweigert wird. Mit am eindringlichsten zeigt sich ne Affizierung des Publikums stellt Thomson auch fest, dass einem angesichts des Grotesken „das Lachen im Halse stecken“ (S. 240) bleibe. Für die vorliegenden Überlegungen zudem interessant, ist, dass Peter Fuß das Groteske als einen Moment der Hervorbringung von „Ambiguität und Ambivalenz“ im Unterlaufen des „Prinzip[s] dichotomischer Stabilisation“ beschrieben hat. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium kulturellen Wandels, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 193. 196 E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 271 f.
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dies etwa an der Gestaltung der sprachlichen Äußerungen: Tatsächlich ist die Inszenierung nämlich durchaus mit monologischen und dialogischen Momenten versetzt, jedoch sprechen die Tänzer unverständliche, erfundene Kunstsprachen, sodass die Bedeutung der Sprechakte – wenn überhaupt – nur aus dem gegebenen Kontext und der Gestik der Tänzer zu erschließen ist.197 Verstärkt wird dieser Aspekt darüber hinaus in jenen Sequenzen, in welchen explizit der Eindruck einer narrativ gerahmten Kommunikationssituation evoziert wird, etwa wenn die Tänzer direkt zum Publikum sprechen und dieses dabei auch anblicken, also ausdrücklich auf einer Meta- oder Vermittlerebene agieren, eine Vermittlung zumindest von sprachlichen Inhalten aber de facto nicht stattfindet. Ausgestellt wird der Aspekt, dass ein Nachvollzug der dargestellten Handlungen kaum möglich ist, weiterhin durch die Tatsache, dass die einzelnen Sequenzen zwar nicht miteinander verknüpft sind, aber den Eindruck einer Verknüpfung durch Momente der Wiederholung und einer identifizierbaren figuralen Gestaltung erwecken, worauf im folgenden Unterkapitel noch genauer eingegangen wird. Wenn der Zuschauer etwa einen Tänzer durch eine bestimmte Kostümierung als figural identifiziert und dadurch in verschiedenen Sequenzen wiedererkennen kann, so unternimmt er automatisch den Versuch, Eigenschaften der Figur zu identifizieren und Zusammenhänge zwischen ihren Handlungen in den einzelnen Sequenzen zu konstruieren. Da Forsythe in seiner Inszenierung eine eindeutige Verknüpfung der Sequenzen aber nicht nur nicht angelegt hat, sondern Momente kreiert, die einer solchen Verknüpfung konsequent entgegenlaufen, muss der Rezipient in der Mehrzahl aller Fälle scheitern. Damit geht zudem eine gewisse Selbstermächtigung der Aufführung gegenüber der Wahrnehmung des Rezipienten einher, da diese seine gerade aufgestellten Hypothesen umstürzt und ihn mit seinen Interpretationen ins Leere laufen lässt. Entsprechend berichtet auch Melanie Suchy – einige der hier ausgeführten Punkte streifend – von ihrer Seherfahrung: „Eine in einen [sic] kleinen schwarzen Stoffberg versunkene Frau plaudert mit hoher Stimme etwas, vielleicht Japanisches. Einer hustet heftig, ein anderer würgt Bauchrednersilben aus sich heraus, eine Frau in schwarzem Plüschumhang erzählt in einer Phantasiesprache mit lauter Rachelauten eine mahnende Geschichte, einer isoliert roboterhaft seine Bewegungen, sein müdes Röhren simuliert den Motor; einer kann sein Becken erstaunlich zittern machen. Fratzen. Filzmatten, um den Kopf gelegt, wirken wir großmäulige Mas-
197 Wenn überhaupt, dann sind nur in wenigen Momenten allenfalls Lautgleichheiten zu bekannten Wörtern aus dem Englischen, Lateinischen und anderen Sprachen zu identifizieren.
222 | E NTGRENZTE F IGUREN DES BÖSEN ken. Geräusche, Körpertöne, Unsprache, nichts ist klar entzifferbar; alles entrinnt dem Eindeutigen.“198
Konventionalisierte Regeln des Erzählens werden in Angoloscuro nicht berücksichtigt, eine zu Grunde liegende narrative Struktur jedoch mehrfach angedeutet („eine mahnende Geschichte“). Tatsächlich funktioniert die Aufführung aber nach ganz eigenen, individuellen ‚Regeln‘, die sich im Rahmen der Rezeption nicht abbilden lassen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Bezug auf William Forsythes Angoloscuro zwar nicht von dem Auftreten entgrenzter Figuren gesprochen werden kann, es bietet sich jedoch an, Angoloscuro als eine Figuration der Entgrenzung zu beschreiben. Maßgeblich ist hierfür zum einen das Auftreten des ‚Bösen‘ als einem Moment des Dritten auf der Ebene der Rezeption ebenso wie die Tatsache, dass ein Nachvollzug des Geschehens von der Inszenierung konsequent verweigert und eine narrative Struktur zwar angedeutet wird, sich konventionalisierte Regeln der Entschlüsselung von Narrativen jedoch nicht anwenden lassen. Nachfolgend soll entsprechend gezeigt werden, inwiefern mittels der Anwendung des in diesem Buch entwickelten Modells der ludischen Fiktionalität mögliche Rezeptionsvarianten in Bezug auf die Wahrnehmung von Angoloscuro dargestellt werden können. 5.4.2 Thematisierung des Wechselspiels von narrativen und spielhaften Momenten Was die Identifikation von ‚Doppeldramaturgien‘, ‚Co-Existenzen‘ und ‚Zweischichtigkeiten‘ in Forsythes Tanzperformance betrifft, so lässt sich feststellen, dass in und durch die Aufführung eine Unterscheidung verhandelt wird, die zumindest begrifflich jener ähnelt, die ausführlich im vierten Kapitel verhandelt wurde: Es handelt sich um die Differenz zwischen narrativen und spielhaften Momenten. In den methodischen Vorüberlegungen wurden Narrativ und Spiel als Rahmungen von Kommunikationssituationen beschrieben, daher siedelt sich auch die Verhandlung der Differenz zwischen narrativen und spielhaften Mo198 Suchy, Melanie: „Verkehrt und verklärt. Angoloscuro/Camerascura von William Forsythe in Frankfurt“, in: tanzjournal o. Jg. (2007), S. 38-39, hier S. 39. Melanie Suchy bezieht sich zwar hier auf die Vorgängerinszenierung von 2007, die Forsythe dann zu Angoloscuro weiterentwickelt hat, jedoch berichtet sie von Elementen, die auch in der hier analysierten Inszenierung eine Rolle spielen, weshalb geschlussfolgert werden kann, dass die beschriebenen Seherfahrungen auch auf Angoloscuro zutreffen.
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menten nicht nur auf der Ebene der Darstellung, sondern vor allem auf der Rezeptionsebene an. Dies stellt sich so dar, dass auf der Darstellungsebene Narreme199 beziehungsweise Ludeme200 verwirklicht werden, die den Rezipienten zur Aktivierung des narrativen beziehungsweise spielhaften Rahmens veranlassen. An dieser Stelle muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass hier ein von Huizingas Definition abweichender Spielbegriff angesetzt wird, der vor allem als Kontrastbegriff zum Narrativen in tänzerischen Aufführungen dient und mit dem besonders die performativen Qualitäten, die Inszenierung von selbstbezüglichen Körperbewegungen in der Aufführung benannt werden sollen. Bevor konkrete Beispiele aus Forsythes Tanzperformance gegeben werden, in welchen diese Differenz ausgestellt wird, soll zunächst auf die grundlegende Beschaffenheit des Tanzes als einer Ausdrucksform zwischen Spiel und Narration eingegangen werden. Dabei lässt sich die Unterscheidung zwischen Momenten des Narrativen und Momenten des Spielhaften im Tanz vor allem entlang der Differenz von Bewegung rekonstruieren, die auf der einer Seite als eher selbstbezüglich und auf der anderen Seite als eher referentiell bezeichnet werden kann.201 Christina Thurner hat in ihrem Aufsatz Narrative Spielarten die Geschichte des Narrativen im Tanz als eine Art antizyklische Wellenbewegung zweier entgegengesetzter Strömungen rekonstruiert und weist entsprechend darauf hin, dass klassische Narrationen im Sinne von abgeschlossenen Geschichten in Tanzaufführungen vor allem im 18. und 19. Jahrhundert an Bedeutung gewannen, bevor sich im 20. Jahrhundert gegen diese Praxis Widerstand regte, man „wollte im Tanz nicht mehr erzählen, sondern vielmehr Stimmungen ausdrücken oder aber ganz von narrativen Dramaturgien wegkommen zugunsten von Forma199 Vgl. W. Wolf: Das Problem der Narrativität, S. 43 ff. 200 Zum Begriff der ‚ludeme‘ vgl. die Ausführungen von David Parlett: „[…] ludeme or ‚ludic meme‘ is a fundamental unit of play, often equivalent to a ‚rule‘ of play; the conceptual equivalent of a material component of a game. A notable characteristic is its mimetic property - that is, its ability and propensity to pass from one game or class of game to another.“ Parlett, David: „What’s a Ludeme – and Who Invented It?“, in: The Incompleat Gamester 2014, http://www.davidparlett.co.uk/gamester/ ludemes.html (12.07.2014), o. S. 201 Analog könnte man an dieser Stelle auch zwischen Präsentation beziehungsweise Performativität und Repräsentation unterscheiden. Vgl. Roselt, Jens: „Performativität und Repräsentation im Tanz: Tanz als Aufführung und Darstellung“, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 63-75.
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tionen, die sich etwa an musikalischen und räumlichen Strukturen orientierten“202. Dem entgegen stand dann wiederum das „frühe deutsche Tanztheater“203, das „ab den 1960er Jahren wieder auf narrative, u.a. literarische Stoffe“204 Bezug nahm. Für die zeitgenössische Performance und den Tanz konstatieren sowohl Gabriele Brandstetter als auch Christiane Thurner einen Siegeszug des fragmentarischen Erzählens beziehungsweise des narrativen Fragments, wie es auch für Forsythes Tanzperformance Angoloscuro als relevant erachtet werden kann. So stellt Brandstetter allerdings in Bezug auf Performances und Theater der neunziger Jahre und nicht explizit bezogen auf tänzerische Aufführungen fest: „Hier aber geht es mir um ein anderes Geschichte(n)-Erzählen: ein punktuell gesetztes story-telling, das szenisch ist, ohne aber doch die ‚Szene‘ (als Handlungszusammenhang) erst herzustellen oder auszufüllen. Es handelt sich fast immer eher um einen narrativen ‚Spot‘ als um einen Plot; d.h., die erzählte Geschichte gibt keine Fabel für eine ‚ganze‘ Geschichte (als Handlung), sondern sie präsentiert sich selbst als Erzähl-Akt: eine Redesituation, die sich selbst immer wieder unterbricht […] [Herv. i. O.].“205
Ausgehend von Brandstetters Überlegung schließt Thurner auch für den zeitgenössischen Tanz auf den Einsatz von „narrativen Splittern“206, deren Reiz für den Zuschauer unter anderem darin liege, dass er diese selbst zu vollständigen Geschichten ergänzen könne, „selber Anteil an der Szenerie“207 habe. Auffällig in Bezug auf die konkreten Untersuchungen des Narrativen in tänzerischen Aufführungen ist die Tatsache, dass jeweils kein Gegenbegriff zum Narrativen im Tanz gebildet wird. So wird der Eindruck erweckt, dass Momente des Tänzerischen, welche keine Merkmale des Narrativen aufweisen, nicht besonders markiert sind, allenfalls als ursprünglich tänzerisch (was auch immer darunter zu verstehen ist) bezeichnet werden können. An dieser Stelle soll – zumindest geltend für die nachfolgende Analyse von Angoloscuro – das spielhafte Moment als Gegensatz zum narrativen Moment im Tanz etabliert werden. 202 Thurner, Christina: „Narrative Spielarten. Es war einmal – eine Erzählung“, in: Reto Clavadetscher/Claudia Rosiny (Hg.), Zeitgenössischer Tanz. Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: transcript 2007, S. 32-42, hier S. 35 f. 203 C. Thurner: Narrative Spielarten, S. 36. 204 C. Thurner: Narrative Spielarten, S. 36. 205 Brandstetter, Gabriele: „Geschichte(n)-Erzählen in Performances und im Theater der Neunzigerjahre“, in: Gabriele Brandstetter, Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 116-133. 206 C. Thurner: Narrative Spielarten, S. 37. 207 C. Thurner: Narrative Spielarten, S. 37.
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Eine Begründung hierfür liefert unter anderem die Wortherkunft des deutschen Begriffs ‚Spiel‘ selbst und seine Verbindung zum Performativen: „Bereits das althochdeutsche ‚spil‘ bezeichnet ganz unterschiedliche Tätigkeiten wie Schauspiel, Tanz, Musik, Scherz.“208 In detaillierter Weise hat Hans Ulrich Gumbrecht den Zusammenhang zwischen Tanz und Spiel überprüft und kommt zu dem Ergebnis: „Tanz ist Spiel und zugleich nicht Spiel.“209 Als spielähnliche Merkmale des Tanzes identifiziert Gumbrecht dabei das Fehlen einer extrinsischen Motivation sowie „[d]ie Koordination verschiedener Körper […] durch Rhythmus oder durch oft vorher festgelegte Choreografien“210. Während im Rahmen der hier geführten Argumentation die erstgenannte Übereinstimmung tatsächlich auf einen Gegensatz zur narrativen Koordination von Sequenzen verweist, die eben im Regelfall motiviert ist, benennt Gumbrecht mit Nennung der zweiten Übereinstimmung das Spielhafte im Moment der Körperbewegung allerdings in Bezug das Regelhafte in der Tanzaufführung. Andererseits ordnet Gumbrecht Tanz der sogenannten „Präsenzkultur“211 zu, in welcher die Differenz zwischen Spiel und Ernst außer Kraft gesetzt sei und sich deshalb Spiel tatsächlich nicht verwirklichen könne, sondern nur als eine Art Wunschbild der Rezipienten aufscheine.212 In einer noch spezifischeren Weise ließe sich der Spielaspekt in Bezug auf die tänzerischen Elemente in Forsythes Tanzperformance mit Annemarie Matzke fassen: Sie beschreibt tänzerische Elemente unter Rückgriff auf Roger Cailloisʼ Spielvariante des Rausches (ilinx) als Momente des körperlichen „Kontrollverlust[es]“213. In Bezug auf die choreografische Arbeit The Host (2010) von Andros Zins-Browne stellt sie fest: „Die Maschinerie inszeniert eine Situation des Außersichseins, die das Subjekt des Darstellers selbst aufs Spiel setzt. […] Mit dem Spiel kommt die Willkür der Bewegung auf die Bühne. […] Zum Auftritt kommen Körper, die ausgeliefert sind.“214 Auch wenn es sich ins Matzkes Analyse mehr um den Verlust der Kontrolle über die Aufführung handelt und weniger (aber auch) um den Kontrollverlust der 208 T. Wetzel: Spiel, S. 580. 209 H. U. Gumbrecht: Anmut und Spiel, S. 60. 210 H. U. Gumbrecht: Anmut und Spiel, S. 59. 211 H. U. Gumbrecht: Anmut und Spiel, S. 60. 212 Vgl. H. U. Gumbrecht: Anmut und Spiel, S. 60. 213 Matzke, Annemarie: „Den Körper ins Spiel werfen. Zum Verhältnis von Körper und Spiel im gegenwärtigen Theater und Tanz“, in: Nadja Elia-Borer et al. (Hg.), Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld: transcript 2014, S. 409422, hier S. 421. 214 A. Matzke: Den Körper ins Spiel werfen, S. 421.
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Performer über ihre eigenen Körper, so lässt sich letzteres auf jeden Fall für Angoloscuro konstatieren. Ausgestellt werden immer wieder Bewegungen und Abläufe, die keiner tänzerischen Kontrolle mehr zu unterliegen scheinen: Die Tänzer bewegen sich unter anderem zuckend über die Bühne oder werfen ihre Körper mit voller Wucht gegen die eiserne Bühnenbegrenzung. Bei Cailloisʼ Kategorie der rauschhaften Spiele geht es darum „durch eine rapide Rotations- oder Fallbewegung in sich selbst einen organischen Zustand der Verwirrung oder des Außersichseins hervorzurufen“215. In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass die Performer in Angoloscuro durch die besondere Inszenierung ihrer Körperbewegungen – sowohl was die allgemeinen tänzerischen Elemente als auch was den performativ ausagierten Kontrollverlust betrifft – spielhafte Momente im Kontext der Aufführung verwirklichen. Zudem kann festgestellt werden, dass Momente des Narrativen und Momente des Spielhaften in Angoloscuro noch wesentlich deutlicher, als es im Allgemeinen für Tanz üblich ist, ausagiert und gegeneinandergestellt werden. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass explizit Konfigurationen des Narrativen integriert werden, deren Referenzen allerdings ins Leere laufen. Das heißt, es wird zwar ein Erzählen angedeutet, jedoch kann nicht erkannt werden, was erzählt wird. Durch diese Entfunktionalisierung der Narreme tritt als Kontrast das spielhafte, tänzerische Bewegungsmoment der Aufführung noch deutlicher hervor. Diesen Rezeptionseindruck hat auch Christiane Berger beschrieben, wobei sie sich zwar auf von Forsythe choreografierte Inszenierungen (und Performances des Japaners Saburo Teshigawara), jedoch nicht explizit auf Angoloscuro bezieht: „Ihre Aufführungen irritierten und faszinierten mich zugleich: Sie irritierten, weil das Geschehen sich der Einordnung in gewohnte Kategorien verweigerte – und gerade weil sie sie nicht erlaubten, faszinierte mich die Art und Weise, wie sich die Tänzerkörper bewegten, umso mehr.“216
Mit Gerald Siegmund ließen sich zudem die ins Leere laufenden Momente des Narrativen auch als Funktionen einer den Tanzaufführungen generell „einge-
215 R. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 19. Caillois definiert tatsächlich auch den Walzer als zur Kategorie des illinx gehörend, wobei dieser eher auf der paidiaSeite der kategorialen Zuordnung und damit in der Nähe der unkontrollierten Spiele und Kinderspiele und weniger in der Nähe der regelhaften Spiele (ludus) platziert wird. Vgl. S. 46. 216 C. Berger: Körper denken in Bewegung, S. 10.
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schriebenen strategischen Abwesenheit“217 begreifen. Darüber hinaus verweist Siegmund auch auf die gegenseitige Bedingtheit von Absenz und Präsenz218, welche sich entsprechend auch bei Angoloscuro finden lässt: Durch die referenzlosen Momente des Narrativen – also durch die Absenz der Referenz – tritt die in der Aufführung vorhande Präsenz – nämlich der agierende, tanzende Körper – intensiver hervor. Die Einbettung von Momenten des Narrativen zeigt sich vor allem und zuerst im strukturellen Aufbau der Tanzperformance: Wie einleitend bereits erwähnt, ist diese in circa 45 einzelne Sequenzen unterteilt, die jeweils meist durch Blackouts oder andere Lichtveränderungen sowie einen Tänzer-/Figuren-Wechsel markiert werden. Diese Einteilung in Kapitel, Szenen oder Mini-Erzählungen kann als originär narratives Moment angesehen werden, insbesondere auch deshalb, da das Prinzip der Montage, also die unverbundene Aneinandersetzung der einzelnen Sequenzen, den Rezipienten dazu anregt, ihn geradezu herausfordert, kausale, temporale oder modale Verbindungen zwischen ihnen herzustellen und so eine gewisse Verlaufshaftigkeit anzunehmen. Verstärkt wird die Andeutung einer Verbindung zwischen den unterschiedlichen Sequenzen noch durch die besondere Organisation des Übergangs: So wird in den Szenenwechseln, welche durch einen Blackout – also mittels eines totalen Dunkelwerdens der Bühne – charakterisiert sind, so vorgegangen, dass die Tänzer nicht während der Zeit der Dunkelheit ab- und auftreten, sondern dass die Tänzer der vorherigen Sequenz während des dunklen Bühnenmoments noch in statischer Position stehen bleiben und der Wechsel der Tänzer erst mit dem Wiederangehen des Lichtes stattfindet. Gleichzeitig wird mit diesem eindeutig nicht auf Illusionierung gerichteten Verfahren auf die Artifizialität, die Gemachtheit der Performance, verwiesen. Diesem strukturellen Aufbau der Performance, welcher deutlich auf eine narrative Konstruktion verweist, steht nun die relative inhaltliche Unverbundenheit der einzelnen Sequenzen kontrastiv gegenüber. Wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, dürfte es dem Rezipienten im Regelfall nicht oder nur schwer möglich sein, auf Basis der aneinandergereihten Sequenzen eine Geschichte zu kon217 Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006, S. 171. Siegmund verwendet im Kontext seiner Tanztheorie der Abwesenheit auch den Begriff der ‚Leerstelle‘ (Vgl. S. 10), wodurch sich Parallelen zum hier vorgeschlagenen Modell der ludsichen Fiktionalität ziehen lassen, welches ja zentral mit dem sehr ähnlichen Begriff der ‚Unbestimmtheitsstelle‘ arbeitet. 218 Vgl. G. Siegmund: Abwesenheit, S. 10.
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struieren. Auch ein empathischer Nachvollzug ist, wenn überhaupt, nur punktuell möglich. Dominant sind in den einzelnen Sequenzen vielmehr die mehr auf die pure Materialität und die Affizierung des Rezipientenkörpers gerichteten Aspekte der Performance, wie im vorausgegangenen Unterkapitel beschrieben, die eher einen ‚unmittelbaren‘ Eindruck evozieren als Referenzen zuzulassen. Narrative Qualitäten der Tanzperformance zeigen sich darüber hinaus darin, dass Forsythe seine Tänzer nicht nur als Tänzer auftreten lässt, sondern viele von ihnen auch figural konstruiert, ihnen also bestimmte Merkmale etwa in der Kostümierung oder in ihrem Bewegungsverhalten mitgibt, die sie einerseits wiedererkennbar machen, und daher im Sinne einer Sequenzierung verknüpfend wirken lassen, und andererseits von den anderen nicht in vergleichbarer Weise markierten Tänzern deutlich abheben. Eines der prägnantesten Beispiele hierfür ist die bereits angesprochene ‚Baby-Figur‘: Diese wird von einer erwachsenen, aber recht kleinen Tänzerin dargestellt, die einen schwarzen, hautengen Morphsuit und eine schwarze Mütze trägt. An dem schwarzen Anzug ist ein langes schwarzes Seil befestigt, das in den Bereich hinter der Bühne führt und die Anmutung einer Nabelschnur hat. Die Baby-Figur tritt während der Performance in insgesamt zwanzig Sequenzen auf und stellt schon allein aufgrund dieser Häufigkeit ihres Erscheinens eine zentrale Figur innerhalb der Inszenierung dar. Zudem handelt es sich bei der Baby-Figur um die am eindeutigsten figural konstruierte Tänzer-Figur in der gesamten Performance. Hierzu trägt vor allem bei, dass sie als Einzige ihre Zuordnung sprachlich formuliert sowie zugleich dekonstruiert und hinterfragt. Als einzige Performerin, die eine für das Publikum vollständig verständliche Sprache benutzt, stellt sie gleich während ihres ersten Auftritts die Fragen: „Am I a baby?“ und „Am I your baby?“ In einer späteren Sequenz wird sie dann aber auch feststellen: „This is not a baby.“ Dadurch aber, dass die Figur die ihr durch Kostümierung und Sprechakt gegebene Zuordnung zugleich selbst infrage stellt, verweist die Inszenierung darauf, dass es sich bei den figuralen Konstruktionen eben nur um teilweises, nicht vollständig durchorganisiertes Figurales handelt. Dementsprechend ist auch bei der Baby-Figur, obwohl sie derart oft während der Performance auftritt, keine Entwicklung im Sinne einer narrativen Ausgestaltung zu erkennen. Am ehesten wäre in einer der letzten Sequenzen noch das Zitieren eines Unabhängigkeitstopos zu identifizieren, wenn die Baby-Figur beginnt, die Nabelschnur aus ihrem Kostüm abzuwickeln und sich sozusagen von dieser zu ‚befreien‘. Interessant bei der Betrachtung von Angoloscuro ist nun, dass hier nicht einfach Figuren und nicht figural markierte Tänzer gegeneinandergesetzt werden,
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vielmehr gibt es eine Abstufung in der Wiederkennbarkeit der einzelnen auftretenden Akteure: So ist beispielsweise die männliche Figur, die einen an Gandalf aus den Herr-der-Ringe-Filmen erinnernden Hut trägt, nicht nur durch ihre Kostümierung auffällig charakterisiert, sondern auch dadurch, dass sie in den meisten Szenen als Beobachterfigur fungiert, dass sie spricht, wenn auch in einer unverständlichen Sprache, und dass sie offensichtlich eine gewisse Macht über die anderen Tänzerinnen und Tänzer hat, sie in ihren Bewegungen innehalten lassen und aus der Starre wieder erlösen kann. Im Vergleich dazu lässt sich bei den einzelnen in schwarzen Morphsuits auftretenden Figuren weniger wiederkehrendes Verhalten erkennen und die in ‚gewöhnlicher‘ Sportkleidung auftretenden Tänzerinnen und Tänzer sind kaum noch figural identifizierbar. Parallel zu den Aspekten des Figuralen stehen zudem auch Aspekte von Wiederholungen beziehungsweise des Wiederkehrenden: So tauchen bestimmte Gegenstände – wie etwa das teppichartige Stoffgebilde oder eine Fernbedienung – in verschiedenen Sequenzen der Performance auf und weisen so auf eine mögliche Verknüpfung der Sequenzen und damit wiederum auf narrative Qualitäten von Angoloscuro hin. Letztendlich ist es aber ein falsches Versprechen, welches von den wiederkehrenden Elementen ebenso wie von den figuralen Konstruktionen ausgeht, denn auch unter Bezug auf sie gelingt es dem Rezipienten nicht, eine konsistente Geschichte zu konstruieren. Ein dritter wesentlicher Aspekt des Narrativen in Forsythes Tanzperformance kann in der Integration von dezidierten Sprechakten beziehungsweise ausgewiesenen Erzählakten auf der Darstellungsebene gesehen werden. Hierbei lassen sich zwei Arten von Erzählakten unterscheiden: solche, die nur aufgrund ihrer Struktur und strukturellen Einbindung in den Kontext als Erzählakte zu identifizieren sind, und solche, deren Inhalt oder verhandeltes Motiv tatsächlich von den Rezipienten auch wiedergegeben werden könnte. Als Beispiel für die erste Variante kann der aufgrund seiner Positionierung am Beginn der Aufführung als eine Art Prolog erkennbare Sprechakt angeführt werden. Dieser wird von einer weiblichen Figur ausgeübt, die in einer fremden, unverständlichen Sprache mit vielen kehligen Lauten spricht. Allerdings spricht sie nicht zu der anderen auf der Bühne befindlichen Figur, sondern wendet sich – gleich der Präsentation eines Metatextes – mit Mimik und Gestik an das Publikum. Begleitet wird der Sprechakt von Hand- und Armbewegungen, die gestisch unterstützend wirken und deshalb den Aspekt des Narrativen unterstreichen. Untermauert wird die Interpretation über die Funktion dieses Sprechaktes zusätzlich dadurch, dass eben jene Tänzerin auch in späteren Sequenzen als eine Art Metafigur auftritt, die die Fähigkeit besitzt, die anderen Tänzer in ihren Bewegun-
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gen innehalten zu lassen und aus der Starre wieder zu erlösen. Konterkariert wird der Sprechakt freilich durch die Tatsache, dass sein Inhalt für das Publikum nicht zu verstehen ist, dass also zwar eine narrative Dynamik angedeutet, aber tatsächlich keine Geschichte vermittelt wird. Die Inszenierung stellt hier wieder die Referenzlosigkeit der narrativen Momente dezidiert aus: Formal weist die Situation alle Elemente eines Sprechaktes, eines Prologs auf, inhaltlich jedoch findet keine Vermittlung statt, wird also auch die Möglichkeit zum kognitiven und emotionalen Nachvollzug verweigert. Was die oben genannte zweite Variante der Erzählakte betrifft, also jene, in welchen die Zuschauer sogar inhaltliche Aspekte wiedergeben könnten, so sei hier beispielhaft auf eine äußerst prägnante Szene verwiesen, in welcher eine Art Teppichverkauf dargestellt wird. In der zwölften Sequenz der Tanzperformance zieht die bereits aus früheren Auftritten bekannte Hut-Figur, eine andere Figur auf einer Art Teppich auf die Bühne. Auf der Bühne kommt es zu einer offensichtlich dialogischen Situation zwischen der Hut-Figur und einem Tänzer in einem Morphsuit, wobei beide wiederum eine unverständliche Kunstsprache sprechen. Dabei möchte die Hut-Figur die Morphsuit-Figur von den besonderen Qualitäten des Teppichs überzeugen: Dies geschieht, indem sie beispielsweise versucht, den Teppich zu zerreißen, was ihr aber nicht gelingt. Verdeutlicht wird die Verkaufsästhetik zudem dadurch, dass die Hut-Figur mehrfach nach erfolgreicher Präsentation mit Blick zur Morphsuit-Figur über den Teppich streicht. Gestisch wird schließlich nahegelegt, dass es sich um einen fliegenden Teppich handelt, denn die Morphsuit-Figur nimmt auf dem Teppich Platz und hält sich mit beiden Händen am vorderen Ende fest, zugleich deutet die Hut-Figur mit den Armen schräg vor sich in die Luft.219 Hier haben es die Rezipienten also mit einer Szene zu tun, in welcher tatsächlich auch dekodierbare Inhalte kommuniziert werden. Kontrastierend dazu wirkt zum einen wiederum die Tatsache, dass auch hier ein wirkliches sprechsprachliches Verstehen nicht möglich ist (obwohl in dieser Szene ununterbrochen gesprochen wird) und zum anderen, dass keine beziehungsweise kaum eine Anbindung dieser Szene an andere Sequenzen der Performance besteht und daher das eben Verstandene nicht zur Entschlüsselung des Gesamten beitragen kann. Zudem zeigt sich, dass kodierbare und nicht-kodierbare Gesten in unterschiedlicher Anzahl und Intensität in der Performance eine Rolle spielen: So gibt es relativ eindeutig interpretierbare Bewegungen, wie beispielsweise in der 18. 219 Hiermit wird natürlich auch eine bekannte Ikonografie zitiert, wie sie sich beispielsweise in den Darstellungen Aladins oder der Figur aus der SarottiSchokoladenwerbung finden.
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Sequenz das Tippen der Hut-Figur auf ihr Handgelenk, welche das zu schnelle Verstreichen der Zeit beziehungsweise eine drohende Verspätung anzeigen soll, während wiederum andere, vor allem tänzerische Bewegungen nicht in dieser Form als referentiell zu erkennen sind.220 Es sollte bis hier deutlich geworden sein, dass Angoloscuro explizit narrative Momente ausstellt, diese jedoch in ihrer Referentialität in unterschiedlicher Weise scheitern lässt, wodurch die spezifischen materialen, performativen Qualitäten des Tanzes, die spielhaften Momente deutlicher hervortreten: Hierbei wird aber nicht nur der Kontrast betont, vielmehr macht die Choreografie auch deutlich, wie narrative und spielhafte Momente in jeder Tanzaufführung zusammenspielen. Auch Christiane Berger hat festgestellt, dass in vielen Choreografien Forsythes „die Wirkung von Bewegtheit an die Stelle von zu erzählenden Geschichten oder Episoden, an die Stelle der Darstellung von gesellschaftlichen oder sozialen Phänomenen“221 tritt. Gerald Siegmund hat die These aufgestellt, dass in den Choreografien Forsythes Abwesenheit als Kernelement seiner „Auseinandersetzung mit dem Ballet“222 betrachtet werden muss. Diese These ließe sich nun auch auf Angoloscuro anwenden, wenn man annimmt, dass narrative Momente des Tanzes und kausallogische Verknüpfungen einzelner Szenen grundlegende Erkennungsmerkmale des Ballets sind. So würde Forsythe hier explizit diese Erkennungsmerkmale anzitieren, sie jedoch durch die fehlenden Referenzen ihrer Funktion entheben und an ihre Stelle die performative Inszenierung der Tänzerkörper setzen. Durch diese Konstruktion auf der Darstellungsebene kann nun der Rezipient entsprechend zur Aktivierung des Modus der ludischen Fiktionalität anregt werden. Während in Bezug auf die Verwirklichung der narrativen Momente der Rezipient zur kognitiven und emotionalen Beteiligung veranlasst wird, rückt ihr Scheitern bezüglich einer Referentialisierbarkeit sowie die dadurch erfolgte besondere Ausstellung der performativen Qualität des Tanzes vor allem die Kon220 Diesen auf den ersten Blick nicht als referentiell zu erkennenden tänzerischen Bewegungen ließe sich aber gegebenenfalls mittels Anwendung der von Julia Stenzel entwickelten ‚Mapping Theory‘ auf die Spur kommen. So können etwa eine „organologische[r] Metaphorik“ identifiziert oder die Tänzerkörper als „BEHÄLTER“ interpretiert werden, die im spezifischen Fall von Angoloscuro in mehreren Szenen offenbar bestrebt sind, ihr Innerstes nach Außen zu kehren (so etwa die Baby-Figur durch die Abwicklung ihrer ‚Nabelschnur‘ aus dem Inneren des Kostüms heraus). J. Stenzel: Der Körper als Kartograph?, S. 178. 221 C. Berger: Körper denken in Bewegung, S. 150. 222 G. Siegmund: Abwesenheit, S. 234.
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struktionsprinzipien und Herstellungsbedingungen der Darstellung in den Vordergrund. Die Aktivierung des Modus der ludischen Fiktionalität macht demnach die Tanzperformance für die Zuschauer erst in vollem Maße zugänglich, da in ihm die Gegenüberstellung von narrativen und spielhaften Momenten ästhetisch wirksam werden kann. 5.4.3 Ludische Fiktionalität und Momente der Kopräsenz Es hat sich im Verlauf des Kapitels gezeigt, dass das in diesem Buch entwickelte Konstrukt der entgrenzten Figur produktiv auf Forsythes Tanzperformance Angoloscuro angewandt und diese somit als Figuration der Entgrenzung beschrieben werden kann. Das Besondere an Angoloscuro ist nun, dass die Merkmale der entgrenzten Figur aufgrund der mangelnden Handlungsstruktur der Performance gar nicht mehr vorwiegend auf der Darstellungs-, sondern vor allem auch auf der Rezeptionsebene verwirklicht und so die Aspekte der Entgrenzung noch viel unmittelbarer erleb- und beobachtbar werden. Zum Wechsel in den Modus der ludischen Fiktionalität regt die Inszenierung entsprechend ebenso, wie es bei den Filmbeispielen der Fall war, durch die Einführung einer Differenz und die Thematisierung der Aufhebung dieser Differenz an. Radikal werden bei Angoloscuro Momente des Narrativen mit Momenten des Spielhaften kontrastiert und der Zuschauer so in einen Zustand versetzt, in welchem er am Bühnengeschehen teilhaben und zugleich die Konstruktionsbedingungen der Aufführungssituation beobachten kann. Es ließe sich sogar sagen, dass im Fall der Tanzperformance die Verwirklichung einer solchen Doppeldramaturgie noch deutlicher zu beobachten ist, als dies bei den Filmbeispielen der Fall war, da bei Angoloscuro kein narrativer Rahmen den Blick auf den Wechsel der Rezeptionsmodi verstellen kann. In dieser Analyse deutet sich zudem an, auf welche Weise und mit welchem Gewinn eine Anwendung der hier entwickelten Modelle auch auf andere, filmfremde Analysebereiche stattfinden kann. Die Unterscheidung von narrativen und spielhaften Momenten auf der Darstellungsebene ebenso wie von narrativer Fiktionalität und ludischer Fiktionalität kann dabei helfen, vielgestaltige und bisher nur schwer erfassbare Rezeptionsphänomene plausibel beschreibbar zu machen. Dies scheint insbesondere für ästhetische Momente der Kopräsenz zu gelten, da hier Herstellung und Darstellung der Fiktion überwiegend zusammenfallen. Somit bieten sich die Modelle auch für eine künftige Anwendung auf Analysen von Theater-, Tanz- und Performancerezeptionen an, wobei insbesondere die Beobachtung zeitgenössischer theatraler Situationen, in welchen der Zu-
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schauer selbst zum Akteur wird223, wie zum Beispiel in der Inszenierung Situation Rooms (2013) von Rimini Protokoll, hierbei von besonderem Interesse sein kann. In dem von den Produzenten sogenannten „Multi Player Video-Stück“ wird der Teilnehmer der ‚Theateraufführung‘ mit einem Tablet-PC und Kopfhörern ausgestattet in eine Bühnenkulisse geschickt, die aus verschiedenen Räumen besteht. Dabei nimmt der Teilnehmer im Verlauf der ‚Aufführung‘ die Rollen von zehn unterschiedlichen Figuren ein, die nacheinander wie ein Art ‚Avatar‘ auf seinem Tablet-PC erscheinen, ihn durch die Kulisse führen und währenddessen ihre Geschichte erzählen.224 Hierbei kommt es auch zur Interaktion der einzelnen Teilnehmer untereinander. Die besondere Erlebnisqualität der Inszenierung lässt sich unter anderem als Verschmelzung zweier kontrasierender Rahmungen beschreiben, durch welche einerseits mediale Vermitteltheit und körperliche Ko-Präsenz sowie andererseits eigene Einflussmächtigkeit und Fixiertheit des Narrativs in der Wahrnehmung der Rezipienten/Spieler aufeinander prallen.225
223 Zu weiteren Inszenierungen und Performances, in welchen der Zuschauer zum Akteur wird, ‒ den sogenannten „participative forms of art“ (S. 51) – sowie zum damit verbundenen Verhältnis von ‚Realität‘ und Fiktion vgl. Bergović, Monika: „Transforming Reality in the Magic Mirror of Fiction: From Boal to SIGNA“, in: J. von Brincken/U. Gröbel/I. Schulzki, Fictions/Realities (2011), S. 39-52. 224 Vgl.
Rimini
Protokoll/Situation
Rooms
(Projektseite):
http://www.rimini-
protokoll.de/website/de/project_6009.html (23.07.2014). 225 Zur Analyse der Rezeptionssituation in Situation Rooms vgl. Eisele, Sabrina: „Produktive Verbindungen. Zur wiedergewonnenen Ko-Präsenz in theatralen Computerspielsituationen“, in: Martin Hennig/Hans Krah (Hg.), Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Werner Hülsbusch 2016, S. 285-306.
6. Fazit „We shall not cease from exploration And the end of all our exploring Will be to arrive where we started And know the place for the first time.“
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Dieses Buch versteht sich vor allem als Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung: Im Mittelpunkt des Interesses der hier geleisteten Überlegungen stand die Frage, wie paradoxale Wahrnehmungen einer bestimmten Form der ‚bösen‘ Figur, die im Rahmen des dritten Kapitels als entgrenzte Figur konzipiert wurde, theoretisch plausibilisiert werden können. Die Notwendigkeit eines ergänzenden theoretischen Plausibilisierungsansatzes zeigte sich deutlich bei Durchsicht der Forschungsliteratur: Es konnte dargelegt werden, dass es mit den bis dato zur Verfügung stehenden Ansätzen nicht möglich ist, das Moment der paradoxalen Rezeptionswirkung bei der Wahrnehmung entgrenzter Figuren adäquat beschreibbar zu machen. Der hier neu eingebrachte Ansatz vom Modus der ludischen Fiktionalität leitet sich von dem Gedanken ab, dass Fiktionalität, welche in spielhaft gerahmten Kommunikationssituationen eine Rolle spielt, grundlegend anders konzipiert wird, als die Fiktionalität, welche für den Kontext narrativ gerahmter Kommunikationssituationen angenommen wird. Dies konnte unter anderem im Rahmen der Untersuchung von Ansätzen dargelegt werden, die das Moment des Spielhaften auf die Analyse narrativer Medienangebote übertragen. Im Kontext der Analyse dreier verschiedener Figuren aus Spielfilmen sowie einer Tanzperformance von William Forsythe konnte darüber hinaus deutlich gemacht werden, wie die gleichzeitige Einführung und Aufhebung von Differen-
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Eliot, Thomas S.: „Little Gidding“, in: Thomas S. Eliot, Four Quartets, New York: Harvest Books 1968 [1943], S. 49-59, hier S. 59.
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zen in der Darstellung der Entgrenzungen zur Wahrnehmung von Unbestimmtheitsstellen durch den Rezipienten führen, welche ihn wiederum dazu anregt, einen Moduswechsel in Richtung ludische Fiktionalität vorzunehmen. Bereits durch die Analyse der Tanzperformance Angoloscuro dürfte darüber hinaus plausibel geworden sein, dass sich das Modell der ludischen Fiktionalität nicht als eines versteht, welches nur im Rahmen der Analyse als ‚böse‘ gekennzeichneter Filmfiguren Anwendung finden kann. Die entgrenzten Figuren dienten hier vor allem als prototypisches Beispiel, anhand dessen die Notwendigkeit und die Möglichkeiten des entwickelten Ansatzes aufgezeigt wurden. Das Modell der ludischen Fiktionalität wird daher als generalisierbarer Vorschlag verstanden, wie über Rezeptionswirkungen verschiedenster Art gesprochen werden kann, und bietet eine Perspektive für die Analyse von Medienangeboten, die Facetten zum Vorschein bringen kann, welche im Rahmen der Anwendung hergebrachter theoretischer Ansätze noch nicht so deutlich hervortraten. An dieser Stelle muss zudem gesagt werden, dass der hier gemachte Vorschlag nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um die paradoxalen Rezeptionswirkungen entgrenzter Figuren zu plausibilisieren, auch wenn es sich wohl um den bisher umfassendsten beziehungsweise um einen an der Basis der Figurenwahrnehmung ansetzenden Ansatz handelt. So ist die positive Bewertung von Figuren beispielsweise ebenso davon abhängig, in welcher Konstellation mit anderen Figuren diese präsentiert werden.2 Besonders in Bezug auf Hannibal Lecter, der ja in der Tat von abscheulichen Figuren wie beispielsweise seinem Zellennachbarn Miggs oder dem Leiter der Gefängnisanstalt Dr. Chilton kontrastiert wird, ist dies als Beleg dafür genannt worden, dass dieser nicht durchgängig als ‚böse‘ Figur erlebt wird.3 Im Rahmen des vorgestellten Typus der entgrenzten Figur wurde der Aspekt der Figurenkonstellation mittels des Moments von der Figur des Dritten umgesetzt. Murray Smith hat darüber hinaus dargelegt, dass eine positive Bewertung der Figur Hannibal Lecter – den er entsprechend auch als „only partially evil“4 bezeichnet – vor allem auch deshalb möglich sei, da seine negativen im Gegensatz zu seinen positiven Eigenschaften auf der Darstellungsebene nicht so präsent inszeniert würden.5 Smith geht zudem auf die besondere Präsenz des Starkörpers ein, durch den die Rolle der ‚bösen‘ oder in diesem Fall ‚perver-
2
Vgl. J. Eder: Filmfiguren, S. 142. Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 223 f.
3
Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227.
4
M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 225.
5
Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227.
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sen‘ Figur zur Darstellung gebracht wird.6 Durch das (Wieder-)erkennen des Starkörpers durch den Rezipienten tritt einerseits die Fiktionalität der Rolle noch deutlicher hervor, sodass eine empfundene Faszination für die Figur moralisch weniger problematisch sei, zum anderen würde das positive Starimage auf das ‚böse‘, ‚perverse‘ Rollenimage einwirken und dieses entsprechend abmildern.7 Auch im Rahmen der Wahrnehmung der entgrenzten Figuren scheint der Starkörper eine besondere Rolle zu spielen, vor allem, wenn man bedenkt, dass sowohl Hannibal Lecter als auch der Joker bereits von anderen Schauspielern in anderen Filmen verkörpert wurden (Brian Cox in Manhunter, Jack Nicholson in Batman), die Figuren hier aber weit weniger Publikumsaufmerksamkeit erfahren haben.8 Diese alternativen Plausibilisierungsvarianten der paradoxalen Rezeptionswirkungen entgrenzter Figuren stehen nicht in Kontrast zu dem in diesem Buch gemachten Vorschlag, sondern wirken größtenteils mit diesem zusammen. Teilweise wurden sie bereits in den Ansatz integriert (Figurenkonstellation), teilweise sollen sie als ergänzende Theorien neben dem hier gemachten Vorschlag bestehen bleiben (Starkörper). An dieser Stelle soll auf das Beispiel zurückgekommen werden, mit welchem die vorliegenden Überlegungen begonnen wurden: In der Einleitung wurde Gustavo Fring aus der US-Serie Breaking Bad als Prototyp der entgrenzten Figur im seriellen Erzählen benannt. Nun zeigt allerdings die Erfahrung der letzten Jahre, dass bei der Erwähnung von Breaking Bad im Rahmen der Diskussion um den Typus der entgrenzten Figur in der Mehrheit aller Fälle eine andere Figur der Serie im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand: Denn es ist ja der Protagonist Walter White, zunächst ein einfacher, aber hochintelligenter Chemielehrer an einer Highschool in New Mexiko, welcher gemäß des Serientitels seinen ‚Durchbruch‘ als ‚böser‘ Held erlebt. Die daran anschließende Frage lautet, ob Walter White als entgrenzte Figur bezeichnet werden kann, und an der Antwort auf diese Frage zeigt sich, dass der Typus der entgrenzten Figur nicht als statisches, sondern vielmehr dynamisches Beschreibungskonstrukt zu verstehen ist. So lässt 6 7
Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227. Vgl. M. Smith: Gangsters, Cannibals, Aesthetes, S. 227. Vgl. hierzu auch Bruce McConachies Ausführungen zum Einfluss der Star-Persona auf das vom Zuschauer individuell erzeugte blending von Schauspieler und Figur: „If a star actor with a strong persona is playing a role, the spectator might mix in a cup full of ‚actor‘ with only a teaspoon of ‚character‘ to create a particular actor/character in their mind/brains.“ B. McConachie: Engaging Audiences, S. 44.
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Vgl. für die Figur Hannibal Lecter die Angaben von M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 196 f. und 200.
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sich in Bezug auf Walter White sagen, dass er sowohl zu Beginn als auch am Ende der Serie die Merkmale der entgrenzten Figur nicht erfüllt, im Mittelteil der Erzählung jedoch als hierfür prototypisch angesehen werden kann. Während der als tödlich krebskrank diagnostizierte White zu Beginn der ersten Staffel in das Drogengeschäft nur einsteigt, um das Auskommen seiner Familie nach seinem Tod zu sichern, verliert sich dieses Motiv zwischen der zweiten und vierten Staffel, in welchen White bevorzugt als unberechenbar und oft keiner klaren Motivation mehr folgend dargestellt wird. Sein Sprechen über den Erhalt der Familie verkommt zur leeren Floskel, die nur noch scheinbar als moralische Rechtfertigung für seine Taten dient, vom Rezipienten als solche aber nicht mehr anerkannt wird. Zum Schluss der letzten Staffel allerdings wird wiederum Whites Einsicht thematisiert, den falschen Weg eingeschlagen zu haben, die Kennzeichen des Typus einer entgrenzten Figur werden hier nicht mehr erfüllt. Diese Wechsel zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Figurentypus können als mit ausschlaggebend für den großen Erfolg der Serie angesehen werden. Damit dürfte zudem deutlich geworden sein, inwiefern das Konstrukt der entgrenzten Figur auch für die Analyse von Typveränderungen angewandt werden kann. Aus den gemachten Vorschlägen ergeben sich eine Reihe von Anschlussfragestellungen: So hat beispielsweise Herbert Grabes darauf hingewiesen, wie wesentlich eine historisierende Perspektive für die Untersuchung von Figurenwahrnehmungen ist.9 Thomas Elsaesser und Warren Buckland verweisen in ihrer Analyse zu The Silence of the Lambs auf die spezifischen Reaktionen des Publikums auf den Film unmittelbar nach dessen Erscheinen in den frühen neunziger Jahren: Unter anderem aufgrund der besonderen gesellschaftlichen Situation – einer zu dieser Zeit breit und besonders engagiert geführten feministischen und schwulenrechtlichen Debatte – wurde Regisseur Jonathan Demme in Bezug auf die Darstellung von Clarice Starling und Buffalo Bill Sexismus sowie Homophobie vorgeworfen.10 Im Gegensatz dazu, so stellen die Autoren fest, habe Hannibal Lecter, die dritte Figur in dieser Konstellation, die Meinungen des Publikums nicht annähernd so bewegt.11 Ausgehend von dieser Feststellung ließe sich nun fragen, inwiefern sich die Wahrnehmung Lecters als Figur im Laufe der Zeit abhängig von der historisch gebundenen Wahrnehmung der ihn umgebenden Figuren ändert und warum er zu einem historisch späteren Zeitpunkt zur meist diskutierten Figur des Films avanciert. Generell gilt mit Blick auf eine his9
Vgl. H. Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden, S. 413.
10 Vgl. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 252. 11 Vgl. T. Elsaesser/W. Buckland: A Guide to Movie Analysis, S. 252.
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torisierende Perspektive zu untersuchen, ob sich ein Beginn der Darstellung entgrenzter Figuren ausmachen oder sich beispielsweise für bestimmte zeitliche Abschnitte eine Zunahme solcher Darstellungen beobachten lässt, ob es also ‚Epochen‘ entgrenzter Figuren gibt. Es würde sich zudem lohnen, einen genaueren Blick auf die Frage zu werfen, inwiefern die Wahrnehmung einer Motivation für die Konstruktion von Figuren durch den Rezipienten schon immer von entscheidender Bedeutung war oder ob sich auch hier Veränderungen im historischen Verlauf ergeben haben. Als Anschlussforschung bietet sich zudem die Analyse weiterer Inszenierungen von entgrenzten Figuren aus dem theatralen Bereich an, da ja hier (wie bereits oben schon angedeutet) die Wahrnehmung der fiktiven Welt durch den Rezipienten und die Herstellung der Fiktion durch die Akteure zeitlich zusammenfällt. Eine interessante Variante hat beispielsweise der schwedische Regisseur Markus Öhrn in seiner als Oper deklarierten Performance Bis zum Tod vorgestellt, die 2014 im Rahmen des Festivals Theater der Welt in Mannheim uraufgeführt wurde. In direkter Anlehnung an den 1967 entstandenen Kurzfilm The Perfect Human (OT: Det Perfekte Menneske) des dänischen Filmmachers Jorgen Leth filmt Markus Öhrn unter anderem eine seiner Figuren, den pädophilen Liebhaber eines dreizehnjährigen Jungen, in einem leeren weißen Raum. Eine Stimme, welche die Anatomie (Ohren, Mund) sowie die Fähigkeiten (rennen, springen) der Figur beschreibt, stellt auch Fragen nach deren Hintergrundgeschichte und ihrer Motivation, welche ebenfalls direkt aus Leths Film übernommen sind: „Who is he? What can he do? What does he want?“ Im Gegensatz zum Original entfaltet die Filmsequenz in Markus Öhrns Oper jedoch eine besonders intensive Qualität. Da mittels der Gestaltung des Voice-Overs immer wieder auf die pädophilen Neigungen der Figur hingewiesen wird („Look at the perfect human, who is a pedophile!“), erscheinen die Fragen nach der Motivation der Figur als besonders relevant, werden jedoch zugleich nicht beantwortet. Hier ließe sich fragen, inwiefern es sich für Öhrn anbietet, seine Figuren auf diese Art und Weise zu inszenieren und ob sie als Prototypen entgrenzter Figuren charakterisiert werden können oder nur teilweise Merkmale entgrenzter Figuren aufweisen. Darüber hinaus würde die Frage interessieren, inwiefern Öhrn in seiner Oper auf einer Metaebene generell die typische Vorgehensweise bei der Inszenierung von Figuren ironisch kommentiert. Von den zahlreichen Fragestellungen, welche sich an die hier vorgelegten Überlegungen anschließen lassen, seien an dieser Stelle nur die eben genannten exemplarisch herausgegriffen. Mit diesem Buch ist aber explizit die Hoffnung verbunden, zu weiterer theoretischer und analytischer Auseinandersetzung mit
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den Inszenierungspraktiken und Wahrnehmungsweisen von Figuren in fiktiven Welten anzuregen. Höchst wünschenswert ist hierbei die Anwendung theoretischer Ansätze, welche über die Annahme einer dichotomischen Relation zwischen Wahrnehmungsrealität und fiktiver Welt, zwischen Mitfühlen und Beobachten, zwischen einem Innen und Außen hinausgehen können.
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Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2
Antje Dresen, Florian Freitag (Hg.) Crossing Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten November 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3538-6
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Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
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Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus August 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
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Mai 2016, 390 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.) Europa – Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts
Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (unter Mitarbeit von Jakob Peter)
Januar 2017, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2737-4
Melanie Gruß Synästhesie als Diskurs Eine Sehnsuchts- und Denkfigur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft November 2016, ca. 480 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3489-1
Stephanie Lavorano, Carolin Mehnert, Ariane Rau (Hg.) Grenzen der Überschreitung Kontroversen um Transkultur, Transgender und Transspecies September 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3444-0
Tommaso Speccher Die Darstellung des Holocausts in Italien und Deutschland Erinnerungsarchitektur – Politischer Diskurs – Ethik August 2016, ca. 346 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3207-1
April 2016, 330 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven April 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Februar 2016, 360 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Januar 2016, 338 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
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