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German Pages XIII, 407 [412] Year 2020
Rekonstruktive Bildungsforschung
Karl-Theodor Stiller
„Elternarbeit“ aus Kindersicht Habitusbildung im Krisenerleben
Rekonstruktive Bildungsforschung Band 30 Reihe herausgegeben von Martin Heinrich, Wissenschaftlichen Einrichtung Oberstufen-Kolleg, Universität Bielefeld, Bielefeld, Nordrhein-Westfalen, Deutschland Andreas Wernet, Hannover, Deutschland
Die Reihe ‚Rekonstruktive Bildungsforschung‘ reagiert auf die zunehmende Etablierung und Differenzierung qualitativ-rekonstruktiver Verfahren im Bereich der Bildungsforschung. Mittlerweile hat sich eine erziehungswissenschaftliche Forschungstradition gebildet, die sich nicht mehr nur auf die Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden beschränkt, sondern die vielmehr eigenständig zu methodischen und methodologischen Weiterentwicklungen beiträgt. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher methodischer Bezüge (Objektive Hermeneutik, Grounded Theory, Dokumentarische Methode, Ethnographie usw.) sind in den letzten Jahren weiterführende Forschungsbeiträge entstanden, die sowohl der Theorie- als auch der Methodenentwicklung bemerkenswerte Impulse verliehen haben. Die Buchreihe will diese Forschungsentwicklung befördern und ihr ein angemessenes Forum zur Verfügung stellen. Sie dient vor allem der Publikation qualitativ-rekonstruktiver Forschungsarbeiten und von Beiträgen zur methodischen und methodologischen Weiterentwicklung der rekonstruktiven Bildungsforschung. In ihr können sowohl Monographien erscheinen als auch thematisch fokussierte Sammelbände.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11939
Karl-Theodor Stiller
„Elternarbeit“ aus Kindersicht Habitusbildung im Krisenerleben
Karl-Theodor Stiller Bielefeld, Deutschland Die Studie wurde von Prof. Dr. Martin Heinrich und Prof. Dr. Ullrich Bauer betreut und im November 2019 von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen.
Rekonstruktive Bildungsforschung ISBN 978-3-658-31646-4 ISBN 978-3-658-31647-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorbemerkung
Ausgangspunkt dieser Studie ist die Frage, wie sich Kinder zur Kooperation zwischen Eltern und Lehrkräften bzw. Familie und Schule äußern. Diese Frage stand am Ende eines langwierigen Lernprozesses, den der Forscher als Lehrer an Haupt-, Grund- und Förderschulen absolvierte, denn er war ein begeisterter Vertreter schulischer „Elternarbeit“. Ausgehend von positiven Erfahrungen mit den Eltern seiner ersten Grundschulklasse hatte er begonnen, sich für die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften zu interessieren in der Erwartung, wenn sie nur „an einem Strang ziehen“ würden, sei für den schulischen Lernerfolg der Kinder alles getan. Der Erfolg gab ihm in vielen, aber längst nicht in allen Fällen Recht. Dank der Möglichkeiten, als Lehrer im Hochschuldienst zu promovieren, wurde trotz aller Widrigkeiten die Öffnung des Blicks in Richtung Kindheitsforschung und Bildungssoziologie möglich, damit auch die Überwindung einer institutionell und generational beschränkten Sicht. Die method(olog)ischen Diskussionen rekonstruktiver Bildungsforschung und ihre unterschiedlichen Ebenen der Beobachtung und Theoriebildung stellten für den Autor einen Anschluss an biografische Erfahrungen selbstständiger Theorieaneignung in den 1970er Jahren dar, in denen es um die Entschlüsselung ideologischer Formationen ging. Die vorliegende Studie wurde im November 2019 von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Ohne die Unterstützung durch viele zugewandte Menschen hätte sie in dieser Form nie realisiert werden können. Für die vielfältig erfahrene Hilfe bedanke ich mich an dieser Stelle herzlich, insbesondere für ausdauernde und liebevolle Unterstützung von Ulrike Aßhoff und Valentin Klaus sowie im Gedenken für die meiner akademischen und pädagogischen Lehrer Arno Klönne und Helmut Rosemann.
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Vorbemerkung
Mein besonderer Dank gilt meinen Betreuern Martin Heinrich und Ullrich Bauer, die meine Arbeit mit viel Verständnis unterstützt haben. Für die entscheidende ‚Starthilfe‘ und die Beratung zahlreicher Textentwürfe bin ich Stefan Hahn zu tiefem Dank verpflichtet. Isabell Diehm danke ich für die Aufnahme in ihr Kolloquium und die damit verbundene Schärfung des Blicks auf Kindheitsforschung. Für die Diskussion der methodischen Ausrichtung und thematischen Eingrenzung danke ich den Kolleginnen und Kollegen zahlreicher CES-Workshops, für Ideenaustausch, Diskussionen und Korrekturen Anne Reh und André Brandhorst. Im Rahmen der Veröffentlichung und Drucklegung gilt mein Dank den Herausgebern der Reihe „Rekonstruktive Bildungsforschung“ Martin Heinrich und Andreas Wernet und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des VS-Verlags. Bielefeld den 15. Juli 2020
Karl-Theodor Stiller
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht . . . . . . . . . . . 5 2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1 Entwicklungslinien der Debatte um schulische „Elternarbeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1.2 Schulische „Elternarbeit“ als organisationsbezogenes Konstrukt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“. . . . 22 2.2.1 Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2.2 Vernachlässigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.3 Passungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2.4 Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.5 Beteiligungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.6 Ausblendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.7 Zusammenfassende Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3 Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse. . . . . . . . . 77 3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität. . . . 77 3.1.1 Biografische Standortgebundenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.1.2 Kindheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.2 Forschungsfrage: Peerperspektiven von Grundschulkindern. . . . . . . 90 3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen. . . . . . . . . . . . . 94 3.3.1 Peerbeziehungen allgemein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.3.2 Peerbeziehungen in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.3.3 Peerbeziehungen in der Grundschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie. . . . 118 4.1.1 Kommunikatives und konjunktives Wissen. . . . . . . . . . . . . . 118 4.1.2 Erfahrungsraum, Orientierungsrahmen und Habitus. . . . . . . 125 4.1.3 Praxeologische Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.2.1 Schulische Erfahrungsräume. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.2.2 Kindliche Erfahrungsräume. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.2.3 Generationale Erfahrungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4.3 Heuristische Gegenstandskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik. . . . . . . . . . . . . . . . . 171 5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern . . . . . . . . . . . . . 171 5.2 Datensicherung: Videobasierte Texttranskription . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.3.1 Passagen-Interpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.3.2 Proposition und Performanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3.3 Ergänzende Bildinterpretation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.3.4 Komparative Analyse und Typenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.4 Fall und Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.1 Feldzugang und Realgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.2 Die Jungen-Gruppe „Puppen“ in der Grundschule Feuerberg. . . . . . 217 6.2.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.2.2 Themenverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6.2.3 Ausgewählte Passagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.2.4 Orientierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6.3 Die Mädchen-Gruppe „Räder“ in der Grundschule Feuerberg. . . . . 230 6.3.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.3.2 Themenverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.3.3 Ausgewählte Passagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3.4 Orientierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.4 Die Jungen-Gruppe „Tiere“ in der Windeck-Grundschule . . . . . . . . 244 6.4.1 Eingangspassagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.4.2 Themenverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 6.4.3 Ausgewählte Passagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 6.4.4 Ergänzende Bildinterpretationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6.4.5 Orientierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
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IX
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich. . . . 274 6.5.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.5.2 Themenverlauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 6.5.3 Ausgewählte Passagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.5.4 Orientierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung. . . . 291 7.1 Propositionsbezogene Vergleiche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7.1.1 Peerbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7.1.2 Klassenfahrten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7.1.3 Lehrkräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 7.1.4 Schulleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 7.1.5 Elternsprechtage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.1.6 Orientierungsproblem Krisenerleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 7.2 Performanzbezogene Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 7.2.1 Diskurse mit dem Forscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 7.2.2 Diskurse der Peers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 7.2.3 Orientierungen zur Krisenbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 7.3 Sinngenetische Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 7.3.1 Korrespondenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 7.3.2 Mehrdimensionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 7.3.3 Habitusbildung und Orientierungsrahmen. . . . . . . . . . . . . . . 329 8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 8.1 Kontext Forschungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 8.1.1 Gruppendiskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 8.1.2 Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 8.2 Kontext Kindheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 8.3 Kontext Peerforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 8.4 Kontext Schulforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 8.4.1 Habitusbildung von GrundschülerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . 348 8.4.2 Institution und Organisation Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 8.4.3 Schulische „Elternarbeit“ aus Kindersicht. . . . . . . . . . . . . . . 354 9 Forschungsergebnisse: Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4 Abb. 2.5 Abb. 2.6
Abb. 2.7 Abb. 2.8 Abb. 2.9 Abb. 2.10 Abb. 2.11 Abb. 2.12
Verhältnis Schule – Familie (Neuenschwander/Balmer/ Gasser-Dutoit 2005: 14). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Ergebnisse der Umfrage unter SchülerInnen nach Schulstufen (Sacher 2008b: 12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Ergebnisse der Umfrage unter SchülerInnen nach Geschlecht (Sacher 2008b: 13). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Mehrebenensystem der symbolisch-generationalen Ordnung (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 50). . . . . . . . . . . . . . 36 Anerkennung in Familie und Schule (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009: 55). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Passungsverhältnis familialer und schulischer Generationsbeziehungen (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Schulisches Arbeitsbündnis (Helsper/Hummrich 2008: 66) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Anerkennungsmuster (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 390) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Individueller Orientierungsrahmen und Habitus (Kramer/ Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 47). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Schulwahl-Perspektiven – SchülerInnen und Eltern (Wohlkinger 2014: 72). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Häufigkeitsverteilung der Schulwahl-Perspektiven (Wohlkinger 2014: 156). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Antinomische Beziehungen zwischen Familie und Schule (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 38). . . . . . . . . . . . . . 69
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Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3
Abb. 4.1 Abb. 4.2 Abb. 4.3 Abb. 4.4 Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3
Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3 Abb. 6.4 Abb. 6.5
Abbildungsverzeichnis
Treffpunkte von 6- bis 11-jährigen Kindern 2013 und 2017 (World-Vision 2018: 137) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Wertschätzung der kindlichen Meinung nach Geschlecht und Alter (World-Vision 2018: 159) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Kinder in der Grundschule ohne ‚Spielkameraden‘ nach Armutsbetroffenheit und Geschlecht (Fritzsche/Krüger/Pfaff 2009: 271) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Drei Sinngehalte im Verständnis der dokumentarischen Methode (Nohl 2017: 6). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (Bohnsack 2017a: 103). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Mehrdimensionalität der Typenbildung (Bohnsack 2017a: 119). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Modell der schul- und bildungsbezogenen Habitustypen (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 139) . . . . . . . . . . . . . . 150 Ebenen und Elemente der dokumentarischen Bildinterpretation (Bohnsack/Michel/Przyborski 2015) . . . . . . 196 Mehrdimensionalität eines Falls (Bohnsack 2010b: 64). . . . . . 205 Ungefähre Position der wohnortnahen Schuleinzugsbereiche der drei ausgewählten Grundschulen (Stadt Bielefeld 2014: 39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Bild 1 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Bild 2 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Bild 3 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Werbefoto einer Bildagentur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Die drei „Knaben“ in einer Inszenierung der „Zauberflöte“ Mozarts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Tabellenverzeichnis
Tab. 4.1 Tab. 4.2 Tab. 4.3 Tab. 4.4 Tab. 5.1 Tab. 5.2 Tab. 6.1 Tab. 6.2 Tab. 6.3 Tab. 6.4 Tab. 7.1 Tab. 7.2 Tab. 7.3 Tab. 7.4
Tab. 7.5 Tab. 7.6 Tab. 7.7
Doppelstruktur von Institution und Organisation. . . . . . . . . . . . . 138 Doppelstruktur von Institution und Organisation in der schulischen „Elternarbeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Mögliche Formen der Habitusbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Habitusbildung in inner- und intergenerationalen Beziehungen von Grundschulkindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Raster sinngenetischer Typenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Qualitatives Sampling nach zwei Belastungskategorien. . . . . . . . 212 Orientierungen der Gruppe „Puppe“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Orientierungen der Gruppe „Räder“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Orientierungen der Gruppe „Tiere“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Orientierungen der Gruppe „Spiele“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Sampling der Fälle nach Schule und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . 292 Aufgabenlösung und SprecherInnenfolge im Diskurs mit dem Forscher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Positionierung der Akteure im Kontext der Orientierungen. . . . . 320 Gemeinsame Orientierungen der Kindergruppen zur Krisenbewältigung im Krisenerleben schulischer „Elternarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Vergleichsdimensionen der sinngenetischen Typenbildung. . . . . 322 Korrespondenzen im Hinblick auf eine soziogenetische Typisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Typisierte kollektive Orientierungen im Krisenerleben schulischer „Elternarbeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
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Einleitung
Diese Studie rekonstruiert die Perspektiven von Grundschulkindern auf schulische „Elternarbeit“ und versucht dabei, den Bruch mit institutionell und generational beschränkten Sichtweisen zu ermöglichen und den Blick über Schulpädagogik hinaus in Richtung Kindheitsforschung und Bildungssoziologie zu öffnen. Die Diskussionen rekonstruktiver Bildungsforschung machen dabei die unterschiedlichen Ebenen der Beobachtung und Theoriebildung sichtbar. Die Darstellung berücksichtigt Gütekriterien textueller Performanz und Originalität, u. a. indem sie eine realistische Erzählperspektive einnimmt, durchaus mit impressionistischen Einsprengseln. Dabei ist eine konsequente Distanzierung von den rahmenden Begriffen des Forschungsgegenstands wie „Elternarbeit“ oder „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ besonders relevant, wie sie schon durch den Titel der Arbeit markiert wird, indem sie in Anführungszeichen gesetzt werden, um sie als soziale Konstrukte erster Ordnung aus dem theoretischen Diskurs auszugrenzen und selbst zum Gegenstand der Rekonstruktion zu machen1: „In Akten der Auslegung begreifen Menschen ihre Lebenswelt. Im Verhältnis zu diesem lebensweltlichen Verstehen ist sozialwissenschaftliches Verstehen eine Auslegung zweiter Ordnung. Genau darauf zielt der Begriff Rekonstruktion (im Verhältnis zur Konstruktion erster Ordnung), wenn von dem rekonstruktiven Paradigma die Rede ist“ (Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 65).
1Ähnlich
verfahren Karin Bräu und Laura Fuhrmann (2015), wenn sie in ihrem Aufsatz „Die soziale Konstruktion von Leistung und Leistungsbewertung“ konsequent alle Begriffe wie „leistungsstark“ oder „leistungsschwach“ als Attribuierungen in Anführungszeichen setzen (ebd.: 50).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_1
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1 Einleitung
Dementsprechend sind Rekonstruktionen dringlich, die die apostrophierten Begriffe „Elternarbeit“ und „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ in ihrer Funktionalität darstellen. Schulische „Elternarbeit“ wird hier als institutionsbezogenes Konstrukt verstanden, das, organisationsbezogen differenziert, den interorganisationalen Erfahrungsraum zwischen Schule und Familie und seine Spannungsverhältnisse zwischen normativen Rahmungen und habitualisierten Praxen bewältigt. Diese gegenstandstheoretischen Bestimmungen erscheinen wichtig, weil in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung, aber auch in der Professionalisierung von Lehrkräften „Elternarbeit“ eine eigenartig untergeordnete Rolle spielt und in zahlreichen Ratgebern ‚verballhornisiert‘ wird, bis hin zu vorgefertigten Entwürfen für die Einladung zum Elternabend. Das ist vermutlich kein Zufall, die Studie wird jedenfalls mögliche Motive für eine Verdrängung dieses Themas aufspüren, denn Lehrerinnen und Lehrer, Bildungsforscherinnen und -forscher waren selbst Schulkinder, und es liegt nicht fern, dass sie bedrängende Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit ‚vergessen‘ haben und nicht wieder thematisieren wollen. Andererseits spielt das Verhältnis von Elternhaus und Schule, in dem das Thema schulischer „Elternarbeit“ gerahmt ist, allem Anschein nach eine besondere Rolle in der Entwicklung der Erziehungswissenschaft, wie der Forschungsantrag junger Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin 1968 zeigt, der mit einem Mix aus Sozialisationsforschung und pädagogisch-psychologischer Empirie reüssieren sollte (Oevermann/Krappmann/Kreppner 1968), und in der besonderen Rolle der dort gewonnenen Fallbeschreibungen aus Familien für die Entwicklung eines Verständnisses von Fällen einerseits, für die Entwicklung von Theorien andererseits (vgl. Garz/Raven 2015: 16 ff). Es ist nur folgerichtig, dass Oevermann – damals Leiter des Forschungsprojekts „Elternhaus und Schule“ (ebd.) – darauf beharrt, Erziehung, Lernen und Sozialisation dort zu erforschen, wo sie tatsächlich stattfindet: „Die privilegierten Strukturorte der Erforschung von Sozialisationsprozessen als solchen der Erzeugung des Neuen durch Krisenbewältigung sind in den ersten 12 Lebensjahren des Kindes die Familie und die Schule. An beiden Orten wäre es naheliegend und methodologisch einzig vernünftig, Daten nicht primär durch standardisierte Befragung und Tests zu erheben und zu sammeln, sondern durch die Sammlung und Archivierung von ‚natürlichen Protokollen‘, also gerätevermittelten Aufzeichnungen des realen Geschehens, also einer ‚in situ‘ Forschung. Aber sobald man das als Normalfall zu realisieren versucht, hält einem die pädagogische Psychologie entgegen, das seien ja keine ‚designs‘ experimenteller Forschung und bedeute die Erhebung von lauter Störvariablen“ (Oevermann 2014: 65).
1 Einleitung
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Theoretisch wird der Gegenstand der kindlichen Perspektive hier mit Hilfe wichtiger Ergebnisse der Kindheits- und Habitusforschung als eine durch die Institution Schule fremdgerahmte Habitusbildung der Grundschülerinnen und Grundschülern gefasst. Die Ergebnisse des dokumentierten Forschungsprozesses zeigen Prozesse der Habitusbildung im Hinblick auf die Kontakte und Zusammenarbeit von Familienmitgliedern und Lehrkräften, stärker aber in Bezug auf die Peers. Sie rekonstruieren die Perspektiven von Jungen und Mädchen aus dritten Klassen unterschiedlicher Grundschulen und stoßen dabei auf ein Krisenerleben, dass vor allem in Peerbezügen bewältigt wird. Die kindliche Wahrnehmung fehlender Regeln und Normen des interorganisationalen Erfahrungsraums schulischer „Elternarbeit“ wird als differente Differenzerfahrung zum relevanten Moment dieses Krisenerlebens. Die Frage nach der Normativität des Forschungsdesigns (Heinrich 2016: 436) gilt natürlich auch für diese Studie, und so zufällig sich die Wahl der dokumentarischen Methode auf den ersten Blick darstellen mag, in ihrer Thematisierung der Differenz der Wissensformen und der Standortgebundenheit von Forscherinnen und Forschern liegt ein geeigneter Ansatz zur Reflexion methoden- und empiriebezogener – auch persönlicher – Normierungen. Diese Studie sollte daher auch als Versuch verstanden werden, am Ende eines Berufslebens als Lehrer einen Beitrag zur „Aufklärung der Prozesse und Mechanismen in der Prozessierung und (Wieder-)Herstellung der Bildungsungleichheit“ (Kramer/Helsper/Thiersch 2009: 199) zu leisten. Da dieser Versuch im Kontext universitärer LehrerInnenbildung stattfindet, in der der Autor zehn Jahre tätig war, ist die Studie implizit auch ein Appell, Bildung und Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern gegenüber den „Fremdrahmungen“ zu emanzipieren, dem Dogma der Schulförmigkeit – im doppelten Sinn – zu entziehen und in jeder Hinsicht auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Dazu bedarf es allerdings der Rekonstruktion der Standortgebundenheit aller Akteure, auch der der Institutionen.
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Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Die Frage, wie Kinder die Zusammenarbeit zwischen ihren Eltern (oder anderen älteren Familienmitgliedern) und den Lehrkräften ihrer Schule wahrnehmen, erleben und bewerten, wurde in der erziehungswissenschaftlichen Forschung in den letzten 30 Jahren nur gelegentlich gestellt. 2002 erschien die Jugendstudie „null zoff & voll busy“ von Jürgen Zinnecker, Imbke Behnken, Sabine Maschke und Ludwig Stecher, in der knapp 8.000 10- bis 18-jährige Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen konkret befragt wurden, u. a. zu ihrer Lernfreude, zum Klassenklima und zum Zusammenhalt in den Klassen, aber auch zur schulischen Hilfe durch Eltern und zu ihrem Urteil über Lehrerinnen und Lehrer (Zinnecker/Behnken/Maschke/Stecher 2002: 10, 43 ff, 140, 149). Der Versuch, Wahrnehmungen der Kinder und Jugendlichen auch qualitativ empirisch zu erfassen, führte zu teilweise sehr kritischen Ergebnissen für schulische Lehrkräfte, vor allem in der Sekundarstufe I. 2005 veröffentlichten Markus P. Neuenschwander, Thomas Balmer, Annette Gasser-Dutoit, Stefanie Goltz und Ueli Hirt, Hans Ryser, Hans und Hermann Wartenweiler ihre Untersuchung zu „Schule und Familie – Was sie zum Schulerfolg beitragen“ über Forschungen im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern in der Schweiz, bei denen sie sechs Jugendliche im Rahmen von Fallstudien befragten (vgl. Abschnitt 2.2.1). 2008 hielt Werner Sacher in Nürnberg seine Abschiedsvorlesung in Form eines Forschungsberichts mit dem Titel „Schüler als vernachlässigte Partner der Elternarbeit“, in dem er die ablehnende Haltung von Schülerinnen und Schülern dokumentierte (vgl. Abschnitt 2.2.2). 2009 stellten Werner Helsper, Rolf-Torsten Kramer, Merle Hummrich und Susanne Busse ihre Untersuchungen zu pädagogischen Generationsbeziehungen in Schule und Familie vor, die als Rahmung für die aufgeworfene Forschungsfrage dienen könnte, sie befragten Schülerinnen und Schüler aus 10. Klassen einer Sekundarschule, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_2
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
eines Gymnasiums und einer Gesamtschule (vgl. Abschnitt 2.2.3). Im gleichen Jahr veröffentlichten Kramer und Helsper mit Sven Thiersch und Carolin Ziems (2009) eine Studie zum habituellen Umgang von GrundschülerInnen mit dem Übergang in die Sekundarstufe. Die Untersuchung von Florian Wohlkinger 2014 thematisierte das gleiche Thema, nämlich den Einfluss von Grundschulkindern auf die Entscheidungen der Eltern und Lehrkräfte. 2015 und 2017 schließlich veröffentlichte Tanja Betz mit ihren Mitarbeiterinnen Forschungsbefunde, in denen sie die Sicht der Kinder aus ungleichheitstheoretischer Perspektive diskutiert. Zur Orientierung im derzeitigen Stand der Gegenstandstheorien (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014) konzentriert sich die Darstellung des Forschungsstands auf die eingangs gestellte Frage, gibt aber zuvor einen kursorischen Überblick zum Begriff der schulischen „Elternarbeit“, der spezifische Eigenheiten aufweist, und zu seiner Diskussion in den letzten 30 Jahren; erst danach folgt die Vorstellung von Untersuchungen zu Meinungen und Perspektiven der Schülerinnen und Schüler1. Die Darstellung folgt der Vorstellung eines themenbezogenen Diskurses2 innerhalb und außerhalb wissenschaftsbezogener Grenzen (vgl. Keller 2007; Diaz-Bone/Weischer 2015: 93 ff), sie orientiert sich in der Nachzeichnung der Debatte übergreifend an folgenden Fragen: Welche Stellung nehmen Schülerinnen und Schüler in den Gegenstandstheorien zur schulischen „Elternarbeit“ ein? Was wissen wir über ihre Haltung zur „Elternarbeit“? Wie werden sie als Akteure3 in Forschung und Theorie-
1Zur
weiteren Auseinandersetzung mit dem Begriff der kindlichen Perspektive siehe unten Abschnitt 3.1.2. 2„Der Bezug auf den Begriff ‚Diskurs‘ erfolgt dann, wenn sich die theoretischen Perspektiven und die Forschungsfragen auf die materiale Konstitution und Konstruktion von Welt im konkreten Zeichengebrauch, auf zugrunde liegende Strukturierungen der Bedeutungs(re-)produktion und auf die gesellschaftlichen Effekte dieser Prozesse beziehen“ (Keller 2007: 199). 3Der Begriff des „Akteurs“ wird hier zunächst unspezifisch gebraucht, er folgt dem Diktum Beckers (2011b: 11): „Akteure – das können Menschen aus Fleisch und Blut sein, das können Gruppen sein, das können Organisationen (korporative Akteure) oder der Staat sein.“ Und damit schränkt er zugleich ein: „Soziologische Erklärungen haben im Unterschied zu anderen (vermeintlich ‚harten‘) Wissenschaften als Besonderes das soziale Handeln und seiner Folgen als Gegenstand. Weil ihre ‚Objekte‘ selbst handlungsfähige ‚Subjekte‘ sind, die mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden, ist die soziologische Erklärung ein schwieriges Unterfangen, weil sie im Unterschied zur Naturwissenschaft auch eine „interpretative Dimension“ (die subjektiven Erwartungen und Bewertungen von Akteuren) beinhaltet […]“ (ebd.). Der Begriff wird wieder aufgegriffen im Abschnitt 3.1.2.
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
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konstrukten berücksichtigt? Welche Ausgangslage für weitere Forschung zum Thema ist vorzufinden? Das Kapitel diskutiert abschließend Desiderata und leitet damit zur Darstellung des Erkenntnisinteresses und der Forschungsfrage über.
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“ Der Begriff der „Elternarbeit“ meint in seiner tradierten Bedeutung jede Form der Zusammenarbeit zwischen schulischen Lehrkräften und Eltern, unabhängig davon, ob diese Zusammenarbeit sich auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler bezieht oder auf sonstige schulische Ereignisse. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ist „Elternarbeit“ ein schillernder Begriff, seine Verwendung in Theorien, Konzepten und empirischen Untersuchungen ist ungenau und unklar, wie vielfach beklagt wird. Er wird seit ca. 40 Jahren immer wieder genutzt (vgl. Fried 2007: 285) und weist Bezüge zu einem Begriffsfeld auf, in dem verwandte Begriffe aus unterschiedlichen theoretischen und praktischen Kontexten aufgerufen werden: „Elternpartizipation“ (Melzer 1985), „Erziehungsgemeinschaft“ (Bönsch 2000), „Elternbildung“ (TschöpeScheffler 2006), „Elternpädagogik“ (Bauer/Brunner 2006), „Elternedukation“ (Hartung/Kluwe/Sahrai 2010) oder neuerdings „Elternbeteiligung“ (Hertel/ Hartenstein/Sälzer/Jude 2018). Wo Bezüge zu sozial- und bildungspolitischen Konzepten angestrebt werden, wird der Begriff seit einiger Zeit durch den der „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ ersetzt oder ihm gleichgestellt (vgl. Stange/Krüger/Henschel/Schmitt 2012; Sacher 2014); dort, wo grundlegende Differenzierungen vorgenommen werden, wird er teilweise auch durch den Begriff der „Kooperation“ ersetzt (vgl. Melzer 1996; Stiller 2009; Krumm 2010; Wild/Lorenz 2010). „Als Elternarbeit werden alle Maßnahmen und Aktivitäten von sozialpädagogischen Fachkräften in Kindertagesstätten bezeichnet, die sich an Eltern richten bzw. diese einbeziehen.“ (Horn/Kemnitz/Marotzki/Sandfuchs 2012a: 303)
Wie in diesem Zitat thematisiert Martin Textor „Elternarbeit“ seit 25 Jahren in der Früh- und Elementarpädagogik als Zusammenarbeit von Eltern und Fachkräften der Kindergärten und Kindertagesstätten. Er gilt als Urheber des Begriffs der „Erziehungspartnerschaft“, den er zur „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ erweiterte (Bauer/Brunner 2006: 9; Textor 2011, 2014): Wenn Kinder
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
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ko-konstruktiv4 in der Interaktion mit anderen Kindern und Erwachsenen lernen, so Textor (2014: 6), seien Eltern und Erzieherinnen „Ko-Konstrukteure“ kindlicher Entwicklung und eine Zusammenarbeit zwischen ihnen unverzichtbar5. Die Begrenzung des Begriffs der „Elternarbeit“ auf die Elementarpädagogik, wie ihn Textor vornimmt, ist aber keinesfalls Konsens. Sacher definiert ihn vielmehr aus schulpädagogischer Sicht als „Partnerschaft zwischen Schule und Familie“ (2009: 519) und erläutert zur Tragweite des Begriffs: „Sofern wir künftig noch von Elternarbeit sprechen, haben wir solche Partnerschaft zwischen Familie und Schule bzw. zwischen Familie, Schule und Gemeinde im Blick. Im Anschluss an die internationale Entwicklung sollte man vielleicht besser von 'Familie-Schule-Partnerschaft' sprechen. Diese Begrifflichkeit ist allerdings noch nicht eingeführt, so dass wir fürchten müssten, damit unsere Zielgruppe nicht zu erreichen“ (ebd.: 30).
4Der
Begriff der „Ko-Konstruktion“ wird James Youniss (1994) zugeschrieben, der ihn gern und häufig benutzt habe, um damit sein Verständnis des Konstruktivismus zu verdeutlichen (Krappmann/Oswald 1994: 7 f); er versteht ihn als Kooperation und „soziale Konstruktion“ (Youniss 1994: 68 f) und grenzt ihn gegenüber den gängigen theoretischen Ansätzen wie folgt ab: „Diese Alternative zur Kognitionstheorie ist ein bewußter Versuch, die in der Vorstellung der Selbstreflexion verborgenen Probleme zu umgehen. Sie wirft die Annahme über Bord, daß das Subjekt seine rationalen Schlüsse entwickelt, indem es versucht, sich nach innen zu wenden und den Gesetzen der logischen Herleitung zu folgen. Die Gesetze der logischen Herleitung werden durch die Regeln der Kommunikation ersetzt, die durch die Beteiligung an kommunikativen Prozessen entdeckt werden. Formal gesehn wird Rationalität durch eine Validierung ersetzt, die über das im Dialog entwickelte Einverständnis erreicht wird. Kurz gesagt, konstruiert das Subjekt in dieser Theorie zwar auch eine Realität, aber nicht als Subjekt, das sich nur auf die Regeln des Denkens und Begründens verläßt. Das in kommunikativen Beziehungen stehende Subjekt ko-konstruiert seine Konzepte der Wirklichkeit zusammen mit anderen“ (ebd.: 70). 5Allerdings sieht Textor tiefgreifende Veränderungen in der Gegenwart, da Erzieherinnen in Kindertagesstätten zu den „Haupterzieherinnen“ (Textor 2015: 3) von Kindern würden, sodass Erziehungspartnerschaften nicht mehr aktuell sein: „Wenn Erzieher/innen heute versuchen, eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern einzugehen, wie sie um 1995 herum möglich war, werden sie in hohem Maße frustriert werden – und dies gilt erst recht, wenn sie 2020 oder 2025 diesen Versuch machen würden. Die Erziehungspartnerschaft wird zunehmend zu einem nicht erreichbaren Ideal, zu einer Utopie werden. So wird diese Konzeption irgendwann von einer neuen ‚Philosophie‘ der Elternarbeit abgelöst werden“ (Textor 2015: 6).
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
9
Volker Krumm stellt im selben Jahr in einer grundlegenden Bestandsaufnahme fest, eine Definition schulischer „Elternarbeit“ gebe es nicht, ihre Methoden und Wirkungen seien vollkommen unklar, sodass man bestenfalls Umrisse skizzieren könne, die erläuternden Begriffe würden zeigen, „dass es um Partizipation von Eltern am Schulgeschehen geht, um Informationsaustausch, Mitwirkung und Kooperation bei der Lösung von Schul- und Unterrichtsproblemen“ (Krumm 2009: 590). Eine identische Begrifflichkeit von Kindergarten und Schule in Sachen „Elternarbeit“ muss in Frage gestellt werden, denn die Strukturunterschiede sind zu groß und zu relevant, wie Diehm (2008: 559 f) am Beispiel von Gruppenbildungsprozessen deutlich macht: Schule versuche, per Selektion Leistungsklassen zu homogenisieren, während im Kindergarten, pädagogisch begründet, heterogene Gruppen angestrebt würden; im Unterschied zur Schulpflicht gebe es keine Kindergartenpflicht, trotzdem besuchten mehr als 90 Prozent aller 3bis 6-jährigen Kinder in Ost- und Westdeutschland einen Kindergarten. Auch Wiezorek (2006: 49) weist in einem anderen Zusammenhang darauf hin, dass Erziehungspartnerschaft nicht aus der vorschulischen Pädagogik in die Schule übertragen werden könne; es entstehe sonst die Gefahr einer bevormundenden Pädagogisierung der Eltern. Schärfer könnte man formulieren, dass im Wunsch nach harmonischer Erziehungspartnerschaft schulische Selektion, Machtgefälle und soziale Brüche zwischen Schule und Familien ‚unsichtbar‘ werden könnten (vgl. Stiller 2009). Ein Nachvollzug und Vergleich der Diskussionen von Früh- und Schulpädagogik würden für diese Untersuchung zu weit führen, eine systematische Einbeziehung der Diskussion in der Frühpädagogik wird auf die Rezeption der Untersuchungen von Tanja Betz und ihren MitarbeiterInnen (2015, 2017) beschränkt. Eine andere Perspektive auf die Zusammenarbeit von Schule und Familie nimmt Marc Willmann ein, wenn er sie unter dem Stichwort „Kooperation in pädagogischen Institutionen“ thematisiert; allerdings ruft er gleich wieder einen partnerschaftlichen Kontext auf: „Hiermit wird die Perspektive einer kooperativen Pädagogik entwickelt, die sich auf einem umfassenden Netzwerk der Kooperation zwischen allen Beteiligten gründet: Schule/Lehrer, andere Einrichtungen und professionelle Helfer, Familie/Elternhaus und die Schüler arbeiten in educational partnerships“ (Horn/Kemnitz/Marotzki/ Sandfuchs 2012b: 241).
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Der Forscher selbst hat im Kontext der Praxisforschung6 Fallstudien über zwei Schüler einer Klasse und deren Familien durchgeführt (Stiller 2004), dabei kritisierte er den Begriff der „Elternarbeit“ und entwickelte ebenfalls die Idee, ihn durch den der Kooperation zu ersetzen, denn der scheine „geeignet zu sein, Interaktionen und Spielräume zwischen den beiden Systemen der Schule und der Familie besser wahrzunehmen und zu gestalten“ (Stiller 2004: 157). Aus sonderpädagogischer Sicht differenzierte er den Begriff dann als „Empowerment in sozial differenzierter Kooperation“ (Stiller 2009: 469); das sei die pädagogische Antwort auf die Frage, wie die Zusammenarbeit mit Eltern zugunsten der Bildung ihrer Kinder gestaltet werden muss, ohne dass der soziale Status eine ausschlaggebende Bedeutung gewinne. In der aktuellen Veröffentlichung des „Handbuchs Schulpädagogik“ wird der Begriff der „Elternarbeit“ aus Sicht der pädagogischen Psychologie nur noch als ein organisationsbezogener Indikator für „Elternbeteiligung“ neben anderen genannt (Hertel/Hartenstein/Sälzer/Jude 2018: 364); de facto wird die „Elternberatung“ durch „Elterngespräche“ in den Mittelpunkt gestellt, da diese am häufigsten vorkommen würden (ebd.: 361). Dem Begriff der „Elternarbeit“ fehlt es, so der Überblick, an Eindeutigkeit in der Reichweite, in den Inhalten und in den Bezügen auf Praxis; kein Wunder, dass Sacher wiederholt feststellen muss, der Terminus sei eigentlich obsolet, man solle besser von einer „Optimierung des Verhältnisses zwischen Lehrkräften, Eltern und Schülern“ sprechen (Sacher 2008a: 259; 2014: 24). Dies steht in einem engen Zusammenhang mit fehlenden Forschungen, es gibt essentielle Desiderate, Wünsche und Klagen wiederholen sich ständig: 1985 versuchte Tyrell aus strukturfunktionalistischer Sicht Forschung anzuregen, um die institutionelle Trennung von Schule und Familie in ihren Wirkungen auf Schulkinder zu erfassen; er wollte verdeutlichen, dass die „Schulferne“ der Familien und die „Elternferne“ der Schulen (ebd.: 81) nicht durch mehr Kooperation beseitigt werden könne, da sie ein Moment funktionaler Ausdifferenzierung seien; er forderte, dass die Basis aller Kooperation, das kindliche Handeln zwischen Schule und Familie, empirisch analysiert werden müsse:
6Praxisforschung
ist dadurch charakterisiert, „dass Gegenstand und Fragestellung aus Praxiskontexten stammen und dass die Ergebnisse zur Lösung von Praxisproblemen herangezogen werden können. Die Forschung nimmt nicht nur von Praxisgegebenheiten ihren Ausgangspunkt, sondern der gesamte Forschungsprozess steht in Verbindung zur Praxis: Die Forschung wird im Praxisfeld durchgeführt“ (Fichten 2014: 75).
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
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„[…] wichtiger scheint es mir, den über das Kind in beide Richtungen verlaufenden Kommunikationsfluß zwischen der Schule und den Familien in ihrer Umwelt empirisch zu analysieren. Hier wissen wir sehr wenig“ (Tyrell 1985: 92).
Über 20 Jahre später beklagt Sacher, die Forschung stecke in den Anfängen, daher liege keine elaborierte Theorie zur Elternarbeit vor (Sacher 2008a: 11); er stellt fest: „Elternarbeitsforschung wurde in Deutschland bisher nur in geringem Umfang und hauptsächlich deskriptiv betrieben“ (Sacher 2009, 525). Elke Wild und Fiona Lorenz (2010), die ein pädagogisch-psychologisches Lehrbuch zum Thema verfassten, begründeten 2010 ihren Rückgriff auf US-amerikanische Studien mit dem Hinweis, es mangele an „systematischer Begleitforschung“ zur schulischen Praxis in Deutschland (ebd.: 166). Erst die jüngsten Veröffentlichungen von Betz und ihren MitarbeiterInnen (2015, 2017) scheinen – zumindest im Bereich der Früh- und Primarpädagogik – ein erweitertes und tiefergehendes Forschungsinteresse zu dokumentieren.
2.1.1 Entwicklungslinien der Debatte um schulische „Elternarbeit“ Im Folgenden wird der Begriff der schulischen „Elternarbeit“ zunächst als handlungs- und organisationsbezogener Common-Sense-Begriff verstanden, der bisher als wissenschaftlicher Begriff genutzt wurde, ohne ihn einer ausreichenden Rekonstruktion zu unterziehen. „Sozialwissenschaftliche Konstruktionen, Kategorien und Typenbildungen müssen an diese Konstruktionen und Typenbildungen des Alltags – den Common Sense – anschließen. Diese wissenschaftlichen Begriffsbildungen sind dann (sekundäre) Konstruktionen von implizit im alltäglichen Handeln immer schon vollzogenen Konstruktionen. Entsprechend ist auch das Verhältnis qualitativer Methoden der Sozialwissenschaft zu ihrem Gegenstand zu charakterisieren: Es ist per se rekonstruktiv“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 12).
Eine Gegenüberstellung theoretischer Ansätze und Standpunkte zeigt Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Entwicklungslinien in der Debatte um schulische „Elternarbeit“ der letzten 30 Jahre. Der erziehungswissenschaftliche Diskussionsstand der späten 1980er Jahren, den Wolfgang Melzer (1987) explizierte, thematisierte einen neu gestalteten Sozialisationsprozess durch ElternPartizipation und Schulreform im Rahmen gesellschaftlicher Demokratisierung und stellte das methodologische Instrumentarium eines „Lebensweltensembles“
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
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vor. Dieser Ansatz wurde in den 1990er und 2000er Jahren nicht weiter entwickelt, sondern machte einer Rezeption des „Parental Involvement“ Platz; mit ihr wurden Epsteins Modelle und deren Diskussion sowie zahlreiche empirische Untersuchungen aus unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten importiert (vgl. Krumm 2009; Sacher 2008a, 2014; Wild/Lorenz 2010). Nur die empirischen Daten der regionalen Erhebungen von Werner Sacher (2004), von Markus P. Neuenschwander, Thomas Balmer, Annette Gasser-Dutoit u. a. (2005) und Elke Wilds Detailuntersuchungen (Wild 2003; Exeler/Wild 2003; Wild/Rammert/ Siegmund 2006; Gerber/Wild 2008; Wild/Lorenz 2010) hatten direkte Bezüge zu deutschsprachigen Schulsystemen. Den ‚Empirismus‘ dieser Richtung kritisierte Volker Krumm 2009 grundsätzlich: „Die meisten empirischen Arbeiten über Elternarbeit sind Befragungen. Sie führen zu interessanten deskriptiven Daten, Häufigkeitsverteilungen, Korrelationen, Regressions-, Faktoren- und Pfadanalysen. Die Befunde gründen jedoch auf Antworten der Befragten, somit auf subjektiven Meinungen, Schätzungen, Wahrnehmungen, Eindrucksurteilen […] Wenn Wirkungen von pädagogischen Maßnahmen oder Materialien interessieren, sind Methoden erforderlich, die zu objektiven Daten führen. Deutsche Wirkungsstudien über Elternarbeit sind nicht aufzufinden“ (Krumm 2009: 597).
Der unsichere, empirische Grund der bisherigen Debatten wird in der Kritik sichtbar. Es geht Krumm um den Nachweis, wie Maßnahmen schulischer „Elternarbeit“ wirken, dieser ist aber nur sehr aufwändig zu erbringen, da in den Daten anstelle von Korrelationen eindeutige Kausalbeziehungen hergestellt werden müssten (vgl. Trautwein 2013: 55). Die aktuellen, zumeist von Firmen oder Stiftungen in Auftrag gegebenen Umfragen (Vodafone 2013a, 2013b, 2015; Killus/Tillmann 2011, 2012, 2014, 2017) dokumentieren die Entwicklungen unterschiedlicher Meinungen aus unterschiedlichen Perspektiven, stellen in dieser Hinsicht aber keine neue Qualität dar. Auf Krumms Forderung nach „objektiven Daten“ wird weiter unten noch einzugehen sein. Der Import7 der Modelle und Daten von Joyce L. Epstein u. a. (vgl. Epstein/ Sanders/Simon/Salinas/Jansorn/Van Voorhis 2009; Epstein 2011; Krumm 2009;
7Der
Begriff des „Imports“ wird hier bewusst gewählt, um auf die fehlende Prüfung der Übertragbarkeit des Modells hinzuweisen; schon ein Vergleich der Einschulungszeremonie (vgl. Hummrich/Kramer 2017: 20 ff) offenbart die tiefliegenden Unterschiede zwischen den Schulsystemen der USA und Deutschlands, die nicht einfach unberücksichtigt bleiben können.
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
13
Wild/Lorenz 2010; Sacher 2014; Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017) verdeutlicht aus heutiger Sicht das bestehende Theoriedefizit eher, als es auszugleichen, denn er half zwar, die Akteursbeziehungen in gewisser Weise zu systematisieren, prüfte aber nicht, inwieweit der soziale Entstehungskontext dieser Modelle dem der schulischen „Elternarbeit“ überhaupt vergleichbar ist8. Die Übertragbarkeit stand aber von Anfang an in Frage, denn Hartmann Tyrell bemerkte schon 1985, also vor der eigentlichen Epstein-Rezeption, zur Frage der gegenseitigen Beeinflussung von Schule und Familie, dass in den USA, anders als in der damaligen Bundesrepublik, „die Position der Eltern der Schule gegenüber natürlich eine stärkere“ (Tyrell 1985: 93) sei, weil die Gemeinden mit Eltern als WählerInnen oder Privatschulen, von Eltern organisiert, Schulträger seien (vgl. Böttcher 2003: 130). Grundlegender noch ist die Kritik Maria de Carvalhos9 an Epsteins Konzept zum Abschluss ihrer Analyse „Rethinking School-Family Relations“ mitzudenken, die auf die Selektionsfunktion der Schule hinwies, um zu schlussfolgern: „The fact that teachers expect more from students who have involved parents (because those students are more likely to respond and corroborate their efforts) tells about the importance of symbolic exchanges in the production oft school outcomes. And it also tells of where and with whom resides the ultimate power of reproduction within schooling – in the school's cultural (i.e. arbitrary) standards, and with the teachers“ (de Carvalho 2001: 135 f).
Damit ist „Parental Involvement“ nicht länger als Begriff theoretischer Erschließung zu verstehen, sondern als symbolisches Moment des Lernens und der Machtverteilung in schulischen Beziehungen von SchülerInnen und Lehrkräften, das als Einflussgröße im Kontext schulkultureller Rekonstruktionen zu thematisieren wäre (vgl. Helsper 2008a, 2008b; Böhme/Hummrich/Kramer 2015). Dies ist umso bedeutsamer, als Krumm in einer Differenzierung der Begriffe herausstellt, dass „Parental Involvement“ (im folgenden Zitat: PI) einen familiären Fokus hat, während „Elternarbeit“ schulbezogen zu verstehen ist:
8Der
Forscher hat in einer Veröffentlichung (Stiller 2016: 144) darauf Bezug genommen und beklagt, Epsteins Modelle „fungieren als Platzhalter qualitativer Strukturierung und Ersatz für theoretische Fundierung, ohne dass ein tieferes Verständnis von ‚Elternarbeit‘ zustande gekommen wäre.“ 9Sacher (2009: 525) spricht davon, dass Carvalhos Veröffentlichung „eine in der internationalen Diskussion stark beachtete Monografie“ sei.
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht „PI bezieht sich auf all das, was Eltern als Erzieher, als Förderer ihrer Kinder tun und leisten. Die Definition von PI macht bewusst, dass PI Elternarbeit mit einschließt: Elternarbeit ist ‚PI at School‘. Die Position von Elternarbeit […] deutet an, dass Eltern in der Schule vor allem mit Lehrkräften interagieren. PI hingegen bezieht sich vor allem auf Interaktionen der Eltern mit ihren Kindern“ (Krumm 2009: 590).
Tanja Betz (2015; vgl. auch Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017) schließlich stellt explizit die Frage, inwiefern die „Types of Parental Involvement“ dazu dienen, Familien und Familienleben „zu regulieren, zu orientieren und zu dirigieren, und zwar in Bezug auf Kinder und Eltern“ (Betz 2015: 34). Es müsse analysiert werden, in welchen Praxisbeispielen und Programmen es um eine Einmischung in familiale Belange und Entscheidungen und nicht um die Einbeziehung der Eltern in schulische Belange gehe. Damit kritisiert die Autorin im Grunde, dass „Parental Involvement“ den Fokus der Zusammenarbeit verlagert, und zwar weg von der Beziehung zwischen Lehrkräften und Eltern, ggf. unter Einbeziehung von Kindern bzw. Jugendlichen, hin zur Beziehung zwischen Eltern und Kind. In letzter Konsequenz hieße das, darüber nachzudenken, wie und durch welche Maßnahmen die Eltern-Kind-Beziehung beeinflusst und verändert werden müsse, wenn Elternkompetenzen unzureichend seien oder fehlten. Damit wird die Stellung der Akteure zueinander aber grundlegend verändert, es findet keine kooperative Begegnung statt, sondern außerfamiliäre, also schulische oder andere Akteure beurteilen Konstellation und Kompetenzen innerfamiliärer Akteure. Ihre Kritik hat die Autorin an anderer Stelle vertieft, und zwar mit explizitem Bezug auf die Situation in Deutschland (Bischoff/Betz 2015), sie wird hier referiert, um Zielrichtung und Dimension des Gedankens deutlich zu machen. Mit Hilfe einer thematischen Diskursanalyse haben Bischoff und Betz Aussagen zu Kindheit und Bildung aus der Bildungs-, Jugendhilfe-, Sozial- und Familienpolitik zwischen 2004 und 2010 untersucht, um zu rekonstruieren, welche Vorstellungen „guter Elternschaft“ darin auftauchen (ebd.: 273). Das Interesse richtete sich darauf, „wie Eltern und Elternschaft, Aufgabenzuschreibungen oder direkte Adressierungen von Eltern konstruiert sind“ (ebd.). Aus dem Datenmaterial wurde das Konstrukt „defizitäre[r] Eltern“ herausgearbeitet, das eine spezifische Merkmals-Verkettung aufwies: „Die […] aufgezeigte Verkettung der Merkmale defizitärer Eltern (Unerfahrenheit, Bildungsferne, fehlendes Unterstützungspotenzial, Schulversagen der Kinder) – die
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
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im untersuchten Diskurs einen wesentlich breiteren Raum einnehmen, als diejenigen Eltern, die alles ‚richtig‘ machen – taucht in dieser oder ähnlicher Form auch in weiteren Kontexten auf. Nicht selten fügen sich dabei die strukturellen Merkmale Migrationshintergrund, nicht-deutsche Muttersprache oder Armut nahtlos in diese Verkettung ein. Die entsprechenden Eltern werden über Defizitzuschreibungen als Unwissende oder auch Unfähige adressiert, die ihre Kompetenzdefizite im Hinblick auf ihre elterlichen Aufgaben zur Unterstützung des Kindes durch Wissenserwerb ausgleichen und in entsprechendes Handeln umsetzen sollen […]. Grundlage hierfür bildet die vorkonstruierte Verantwortlichkeit von Eltern für den Bildungserfolg der Kinder, der sich im Material fast ausschließlich am Schulerfolg festmacht. Gleichzeitig zeichnet sich eine Lagerbildung zwischen Familie und Staat bzw. Gesellschaft im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für die (frühe) Bildung von Kindern ab“ (ebd.: 278).
Die angesprochene Lagerbildung findet sich in der Gegenüberstellung von ressourcenarmen Familien und politischem Ressourcenmanagement. Als ungleichheitsrelevante Aspekte des untersuchten Diskurses stellen Bischoff und Betz heraus, dass Elterngruppen erstens entlang der „Differenzlinie kompetent/ nicht kompetent“ (ebd.: 279) differenziert und kontrastiert werden, je nachdem, ob sie die positiv konnotierten Vorstellungen der politischen Texte erfüllen oder nicht. Zweitens wird die Gruppe der gutverdienenden, schulisch erfolgreichen deutschsprachigen bzw. deutschstämmigen Eltern als Kontrastfolie genutzt, ohne sie näher zu explizieren, so dass „gute Elternschaft“ an Merkmale bestimmter sozialer Gruppen gebunden wird. Drittens werden Eltern durch spezifische Adressierungen als selbst verantwortlich für geringere schulische Bildungschancen ihrer Kinder u. a. konstruiert. Betz öffnet mit ihrer Kritik am „Parental Involvement“ und am darüberhinaus gehenden Konstrukt „defizitäre Eltern“ den Blick für eine auf politische Entscheidung und Steuerung bezogene Version schulischer „Elternarbeit“. Diese Konstruktion einer defizitären Elternschaft, die den Schulerfolg von Kindern bzw. Jugendlichen aufgrund fehlender Kompetenzen verhindert, taucht auch in der Veröffentlichung von Stange, Krüger, Henschel und Schmitt (2012) auf, in der „Erziehungs- und Bildungspartnerschaften“ als rahmende „Grundlagen und Strukturen“ schulischer Elternarbeit interpretiert werden. Stange (2012) betont dort in seiner theoretischen Grundlegung die außerordentliche Bedeutung des „Faktors Eltern“ (vgl. auch Frank/Sliwka 2015), verbindet ihn mit gestiegener Hilfsbedürftigkeit und steigendem Resilienzbedarf von Familien einerseits, der Wirkung von Elterntrainings andererseits und bezieht dabei den volkswirtschaftlichen Nutzen und den Kostendruck der Sozialleistungsträger ein – im weitesten
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
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Sinn politische Fragestellungen.10 Wippermann, Wippermann und Kirchner (2013) betonen demgegenüber die Bedeutung und Funktion differentieller sozialer Milieus für die Einstellung von Eltern zur Schule und zur Zusammenarbeit mit Lehrkräften, ohne eine Verantwortung der Eltern für den Schulerfolg ihrer Kinder zu spezifizieren. Elke Wild lieferte in der Debatte um schulbezogene „Elternarbeit“ mit ihren auf Forschungsdesigns der pädagogischen Psychologie basierenden Detailuntersuchungen belastbare Daten (s. o.). In einer neueren Untersuchung zur „Rolle der Familie beim Erwerb komplexer sprachlicher Fähigkeiten in der Sekundarstufe I“, der sich nicht auf diese Debatte bezieht, zeigt sich bei ihr und den Mitautorinnen (Krah/Quasthoff/Heller/Wild u. a. 2013) eine ähnliche Tendenz, in zentralen Fragen des schulischen Kompetenzerwerbs die damit verbundenen Probleme auf Familien zu projezieren. Unter der Überschrift „Bisheriges Fazit: Besserer Unterricht allein reicht nicht“ referieren die Autorinnen ihre bisherigen Überlegungen: „Je anspruchsvoller der Lernstoff wird, desto komplexere – fachkulturell spezifische […] – argumentative Routinen dürften in der Schule in allen Fächern erwartet werden. Argumentationen prägen also die Unterrichtsinteraktion im Sinne eines Unterrichtsmediums zunehmend mehr. Andererseits dürfte mündliche Argumentationskompetenz als Unterrichtsgegenstand nur selten explizit/direkt vermittelt werden. Selbst im Fach Deutsch scheint mündliches Argumentieren unterrichtspraktisch oft eher implizit eine Rolle im Rahmen von unterrichtlichen Diskussionen […] zu spielen, obwohl die nationalen Bildungsstandards für Deutsch für den Mittleren Bildungsabschluss das Argumentieren auch im Mündlichen als Zielkompetenz aufführen. Im Ergebnis dürften gerade wegen des impliziten Charakters argumentativen Lernens kumulative Defizite von sozial benachteiligten Kindern dazu führen, dass sie die anspruchsvolleren schulisch geforderten argumentativen Routinen im Mündlichen und nachfolgend auch im Schriftlichen auf Grund der Eingeschränktheit ihrer häuslichen Diskurs- und Unterstützungserfahrungen immer weniger umsetzen können. Diese Problematik wird gegen-
10Susanne
Frank und Anne Sliwka (2015) argumentieren in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes ähnlich und stellen einen „Bildungsdruck“ auf Eltern und Familien fest; der Ausdruck des „Bildungsdrucks“ stammt mutmaßlich von Jesper Juul aus einem Interview mit dem Spiegel in der Ausgabe 11/2012, in dem er auf die Frage „Welchen Blick haben Sie auf das deutsche Schulsystem?“ antwortete: „Ich bin bisweilen erschrocken. Alle sind traumatisiert. Die Lehrer finden die Schüler schrecklich, die Schüler fühlen sich gegängelt, die Eltern überfordert. Das liegt an dem ungeheuren Bildungsdruck, der in Deutschland zuletzt aufgebaut wurde“ (Juul 2012).
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
17
wärtig aufgegriffen, um ein Elterntraining zu konzipieren, durchzuführen und zu evaluieren“ (ebd.: 85).
Damit werden – trotz der eingestandenen Unklarheiten und Probleme in der schulischen Kompetenzvermittlung – „kumulative Defizite“ und letztlich die Herkunftsfamilie mit ihrer „Eingeschränktheit“ für eine sich nicht entwickelnde mündliche Argumentationskompetenz von Schülerinnen und Schülern verantwortlich erklärt, so dass Eltern – „defizitäre Eltern“? – für deren schulischen Erfolg trainiert werden müssen. Zusammengefasst zeichnen sich zwei unterschiedliche Richtungen in der Debatte um schulische „Elternarbeit“ ab, die im Folgenden differenziert werden. Beide Richtungen beziehen sich auf Erziehungsinstitutionen bzw. -organisationen11 und ihre Handlungspraxen, das hier diskutierte und definierte Themengebiet ist also nicht ohne organisatorische Rahmung denkbar. Das wird von Betz berücksichtigt, wenn sie in ihrer Definition formuliert, was sie als „Elternarbeit“ bzw. Zusammenarbeit zwischen Laien und Professionellen im Bereich der Frühpädagogik versteht: „[…] jegliche Formen der (organisierten) Kommunikation und/oder Kooperation zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien bzw. zwischen pädagogischen Fachkräften, Lehrkräften sowie Müttern und Vätern bzw. Erziehungsberechtigten […]“ (Betz 2015: 18).
Die Differenz zwischen den beiden Richtungen liegt, wie bereits angedeutet, in der Stellung der Beteiligten zueinander. Schulische „Elternarbeit“ bringt familiäre und schulische Akteure in eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit miteinander, daher wird sie vorläufig als Sammelbegriff für alle Formen der Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie, Lehrkräften und Eltern bzw. anderen Familienangehörigen verstanden; ihr entspricht aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eine Perspektive auf professionsbezogene bzw. schulkulturelle Handlungsstrategien und -konzepte für diese Zusammenarbeit. Davon wird der Begriff der „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ abgesetzt und als eine auf Differenzsetzung zwischen Elterngruppen basierende und auf politische und staatliche Steuerung bezogene Zusammenarbeit verstanden; ihr entspricht aus erziehungswissenschaftlicher Sicht eher eine Perspektive auf sozial- und
11Zur
theoretischen Differenzierung des Institutions- und Organisationsbegriffs siehe Abschnitt 4.2.1.
18
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
bildungspolitische Steuerungs-, also Governance-Strategien. Unter Governance wird hier und im Folgenden verstanden, was Herbert Altrichter und Katharina Maag Merki (2016) definiert haben: „Mit dem Begriff „Governance“ soll die Untersuchbarkeit und Untersuchungswürdigkeit von Steuerungshandlungen deutlich gemacht und die Komplexität der Steuerungshandlungen im Bewusstsein gehalten werden […]. War ‚Governance‘ vorerst eher ein Konzept, mit dem in Soziologie oder Politikwissenschaft gesellschaftliche Strukturierungen und Veränderungen studiert wurden, wird es seit einigen Jahren auch in der Bildungsforschung diskutiert. Die GovernancePerspektive als Forschungsansatz der Bildungsforschung untersucht in unserem Verständnis – das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Transformation sozialer Ordnung und Leistung im Bildungswesen – unter der Perspektive der Handlungskoordination – zwischen verschiedenen Akteuren – in komplexen Mehrebenensystemen“ (Altrichter/Maag Merki 2016: 8).
Auch die oben zitierte Forderung nach „objektiven Daten“ kann jetzt als Zugang auf diese Governance-Perspektive gedeutet werden: Krumm forderte „objektive Daten“ zum Nachweis der Wirksamkeit von Maßnahmen schulischer „Elternarbeit“ und erhoffte sich davon eine Klärung der Frage nach deren Nutzen. Er meinte damit zweifellos Daten, mit deren Hilfe eindeutige Kausalbeziehungen zwischen entsprechenden Maßnahmen und dem Schulerfolg von Kindern bzw. Jugendlichen hergestellt werden können. Damit suggerierte er eine „sachliche Evidenz“, in der weder die Perspektiven und Beteiligungen der ForscherInnen noch die der Beforschten berücksichtigt sind. Grundlegend hat Martin Heinrich (2016) in der – an dieser Stelle notgedrungen nur sporadisch rezipierten – jüngeren Diskussion um empirische Bildungsforschung die damit verbundene „Neutralitätsfiktion“ und damit das Verständnis einer scheinbar rein deskriptiven Bildungsforschung kritisiert; er betont insbesondere, „[…] dass (Einzel-) Phänomene empirisch nicht ohne Bezug zu einem gesellschaftlichen Ganzen und damit immer auch dem damit verbundenen sozial-normativen Referenzsystem interpretiert werden können […].Demzufolge können soziale Phänomene nicht in einer wie auch immer gedachten ‚Reinform‘ als ‚normative‘ oder ‚deskriptive‘ in Erscheinung treten, sondern beide Dimensionen sind sowohl auf Seiten der sozialen Akteure als auch der Forschenden dialektisch ineinander verwoben“ (Heinrich 2016: 432).
Daher müsse „Prämissennormativität“, „Operationalisierungsnormativität“ und „Performativitätsnormativität“ thematisiert werden, so Heinrich. Die von Krumm geforderten und hier bereits zitierten „objektiven Daten“ würden
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
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demzufolge die „Fiktion eines neutralen Beobachters“ (ebd.: 435) suggerieren, ebenso „objektive“ forschungsmethodische Operationalisierungen, die keine „dem Forschungsprozess immanente Normativitätsverstrickung“ (ebd.: 437) aufweisen. Bezieht man diese Kritik nicht nur auf Krumms Äußerung, sondern auf die Debatte um schulische „Elternarbeit“ insgesamt, wäre zu fragen, welche mehr oder weniger versteckten Normativitätsaspekte in ihr wirksam sind, so etwa in der Anlage von Meinungsumfragen (vgl. Trautwein 2013), in der Konstruktion „defizitärer Elternschaft“ (s. o.) oder in darauf bezogenen Governance-Strategien. Nimmt man die Argumentation Edgar Forsters (2015) hinzu, der in der angesprochenen Diskussion um empirische Bildungsforschung betont, dass der Rückgriff auf Begriffe wie ‚objektiv‘ und ‚wertend‘ irreführend sind, da sie das Verhältnis von Bildungsforschung und Politik durch neue Governancestrategien nicht ausreichend theoretisieren (vgl. Forster 2015: 66)12, muss die Frage gestellt werden – ohne dass sie hier beantwortet werden kann –, in welchem Verhältnis die Debatte um schulische „Elternarbeit“ bzw. „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ und die damit verbundene Forschung zur (Bildungs-)Politik stehen und ob auch hier „neue Formen von Governance“ (ebd.) sichtbar werden. Unschwer lässt sich beispielsweise erkennen, dass die Veröffentlichung von Stange, Krüger, Henschel und Schmitt (2012) einem normorientierten Steuerungsimpuls unterliegt, der auch offen formuliert wird. Die Autorinnen und Autoren, die teilweise universitär, teilweise professionell in der Sozialen Arbeit tätig sind, teilweise auch in sozialpolitischen Steuerungsgremien, Projekten und Stiftungen, orientieren sich an der Vorgabe: „Gelingende Erziehungs- und Bildungspartnerschaften – wie lässt sich dieser Zielvorgabe Leben einhauchen?“ (Stange/Krüger/Henschel/ Schmitt 2012: 10). Das Konglomerat der Herausgeberinnen, VerfasserInnen und sonstigen Beteiligten mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Interessen, Themen und Konzepten ähnelt dem, was Forster (2015) als „Grenzverwischungen“ einer „unpolitischen Politik“ beschreibt: „[…] nationale und transnationale gesellschaftliche Institutionen wie Medien, Wissenschaften oder Interessenverbände gehen mit politischen und administrativen Entscheidungsträgern in vorparlamentarischen Netzwerken der Interessen-
12Forster
bezieht sich dabei auf den Werturteilsstreit, zum einen auf die Diskussion Max Webers mit den sogenannten Kathedersozialisten zur Stellung der Wissenschaft gegenüber ideologischen Wertungen (vgl. Horn/Kemnitz/Marotzki/Sandfuchs 2012c: 411; Schäfers/ Kopp 2006: 193, 276), zum anderen auf den Positivismusstreit (ebd.: 281 f; Heinrich 2016: 440).
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht formierung und -aggregation, der Entscheidungsfindung und -vorbereitung sowie der Kontrolle formelle und informelle Verbindungen ein […]“ (Forster 2015: 67).
Auch die Untersuchung von Wippermann/Wippermann/Kirchner (2013) zeigt solch ein Netzwerk aus Familienministerium, parteipolitischer Stiftung, kirchlicher Fachhochschule und professoral verbundenem sozialwissenschaftlichem Institut. In diesem Fall handelt es sich um einen Forschungsansatz, der vermutlich auf potentielle WählerInnengruppen – Eltern und Lehrkräfte – zielt und mit einem aktuellen sozialwissenschaftlichen Design sozialer Milieus in einem traditonell relevanten Thema der Familienpolitik unterwegs ist. Für die Debatte um „Elternarbeit“ erweist sich diese Thematisierung insofern als bereichernd, als sie für eine soziale, damit auch differenziertere und vertiefte Perspektiven auf Eltern und Familien sorgt, ohne den ‚Haushalt‘ normativer Vorgaben in der Debatte aufzustocken. Die Charakterisierung der angesprochenen Untersuchungen als Netzwerk-Veröffentlichungen kann als weiterer Hinweis auf die Relevanz der Governance-Perspektive verstanden werden, die verstehen will, was „Steuern von sozialen Systemen“ heißen könnte (vgl. Altrichter/Maag Merki 2016: 6 f). Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Tanja Betz in ihren Veröffentlichungen auf ihre Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung hinweist bzw. bei diesem Akteur publiziert (vgl. Betz 2015). Für die weitere Untersuchung wird sichtbar, dass die Debatte um schulische „Elternarbeit“ Konstrukte unterschiedlichen Zuschnitts behandelt, die sinnvoller Weise mit Hilfe governanceanalytischer Kriterien diskutiert werden können, wie es hier nur sehr vorläufig und nur im Hinblick auf die Akteurskonstellation geschieht; weitere Fragen könnten sich darauf beziehen, welche Unterschiede zwischen den beiden Konstrukten im Hinblick auf die Handlungskoordination existieren und welches Mehrebenensystem das Konstrukt der „Bildungsund Erziehungspartnerschaft“ innerhalb des Netzwerks (vgl. Stange 2012) konstitutiert.
2.1.2 Schulische „Elternarbeit“ als organisationsbezogenes Konstrukt Für diese Studie wird die Diskussion nur bis zu dem Punkt geführt, an dem – in Absetzung zur bisherigen Diskussion – folgende Begriffsdifferenzierungen herausgestellt werden: Der Begriff der „Elternarbeit“ wird als handlungsrelevantes, organisationsbezogenes Konstrukt aus professioneller und schulkultureller Sicht für alle Formen der Zusammenarbeit zwischen Schule und
2.1 Der Begriff der schulischen „Elternarbeit“
21
Familien bzw. zwischen Lehrkräften und Eltern oder anderen Familienangehörigen verstanden – der Einfachheit halber wird im Folgenden weiter von schulbezogener „Elternarbeit“ gesprochen; der Begriff der „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ wird davon deutlich unterschieden und als eine auf Differenzsetzung zwischen Elterngruppen basierende und implizit auf prekäre soziale Milieus bezogene Governance-Strategie verstanden. Die grundlagentheoretische Theoretisierung des hier diskutierten Themas wurde in der Schulpädagogik mit der Untersuchung über Jugendliche zwischen Schule und Familie von Werner Helsper, Rolf-Torsten Kramer, Merle Hummrich und Susann Busse (2009) wieder aufgenommen, auch wenn sie schulische „Elternarbeit“ gar nicht direkt beforschten. Vielmehr stellten sie pädagogische Generationenbeziehungen13 in den Mittelpunkt und entwickelten damit einen theoretischen Bezugsrahmen, in dem der generationale Aspekt dieses Themas sichtbar wird. Diese Bestimmung wird auch für die zuvor gegebene vorläufige Definition schulischer „Elternarbeit“ relevant, so dass wir – quasi im Vorgriff auf die folgende Darstellung (s. u. Abschnitt 2.2.3) – genauer von einem handlungsrelevanten, organisations- und generationsbezogenem Konstrukt aus professioneller, aber auch schulkultureller Sicht sprechen müssen. Das bleibt dem folgenden Kapitel vorbehalten, in dem Untersuchungen zu kindlichen bzw. jugendlichen Perspektiven auf die Beziehungen von Elternhaus und Schule vorgestellt werden. Kinder und Jugendliche bzw. Schülerinnen und Schüler tauchen als Akteure in den hier diskutierten Modellen und Konzepten schulischer „Elternarbeit“ durchaus auf, wir finden sie in Melzers methodologischem Konzept des Lebensweltensembles, in Sachers systemischem Modell, im Epsteinschen Modell der überlappenden Sphären in Wilds Adaption sowie in Stanges Netzwerk. Obwohl Kinder also in den wissenschaftlichen Abhandlungen auftauchen, formuliert Betz die „markante Beobachtung“ (2015: 47), es gebe zwar eine „weit verbreitete […] Semantik zum ‚Wohl des Kindes‘“ (ebd.: 48), aber den Sozialisationsinstanzen Familie und Kindertageseinrichtung oder Schule werde ein wesentlich größeres Gewicht zugeschrieben als den Kindern bzw. Schülerinnen und Schülern selbst; es überwiege eine „deutliche Instrumentalisierung der Kinder“ (ebd.: 48), sie würden „nicht in ihrer Position als Kinder oder in der Sprache der Kindheitstheorie als ‚Personen aus eigenem Recht‘ […] gedacht“ (ebd.: 49), vielmehr würde ihre zeitweilige oder punktuelle Integration anderen Zielen dienen, sie würden als ‚Mittel zum Zweck‘ benutzt. Betz resümiert:
13Zum
Generationsbegriff siehe unten Abschnitt 4.2.3.
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht „Kinder, so kann man die aktuelle Literatur zusammenfassen, werden damit eher als Objekte der Zusammenarbeit gedacht, denn als Subjekte.“ (Betz 2015: 48)
Wolle man das Wohl der Kinder berücksichtigen, müsse man zunächst feststellen, dass sie mit einer „Normierung von Kindheit“ (ebd.: 49) konfrontiert seien, in der ihre positive Entwicklung und ihr schulischer Erfolg offiziell erklärte Ziele der „Elternarbeit“ seien, so dass die Gefahr bestehe, sie nicht nur zeitlich, sondern auch in ihrer „Privatsphäre“ (ebd.: 50) zu kontrollieren und diese transparent zu machen. „Selbstschutz“ (ebd.) könnte sie veranlassen, die Zusammenarbeit zu boykottieren oder zu stören. Andererseits könnten Kinder davon profitieren, indem die Risken von Konflikten zwischen Elternhaus und Schule gesenkt würden und sie potenziell mehr Erwachsene als Ressource zur Unterstützung ihres Lebens in Schule und Familie gewinnen könnten. Das gelte insbesondere für Kinder in prekären Lebenslagen, die unter einem besonderen Druck stünden, ihre Familien gegenüber der Institution zu schützen. De facto, so Betz’ Resümee, wäre es notwendig, den Fokus auf schulische „Elternarbeit“ systematisch zu erweitern: „Interessant wäre es daher, den Fokus in der Debatte und der darauf bezogenen Forschung zur Zusammenarbeit verstärkt auf die Kinder zu legen, die hierbei als soziale und eigenwillige Akteure zu konzeptualisieren wären. Dafür wäre es wesentlich, die Kinder nach Alter und weiteren Differenzierungsmerkmalen wie Geschlecht, soziales Milieu, Migrationshintergrund etc. zu unterscheiden und zu eruieren, wie sich die Zusammenarbeit aus ihrer Perspektive bzw. ihren Perspektiven gestaltet bzw. konzeptualisieren lässt“ (ebd.: 49).
Darauf wird näher einzugehen sein, zuvor aber werden ausgewählte Untersuchungen mit Bezugnahmen auf Kinder und Jugendliche im Kontext der Relationen von Schule und Familie vorgestellt.
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“ 1985 hatte Melzer in einem Sammelband zum Thema „Eltern – Schüler – Lehrer“ einen Aufsatz von Uwe-Jörg Jopt und Petra Dedering herausgegeben, in dem diese die Notwendigkeit von Elternpartizipation in Schülersicht diskutierten. Dabei definierten sie „Schülersicht“ als Kindeswohl; es gehe ihnen darum,
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
23
„[…] am Beispiel des gerad heute nur allzu verständlichen Interesses vieler Eltern an möglichst guten Schulleistungen ihres Kindes aufzuzeigen, wie eine zweifellos zu dessen Wohl gedachte Erziehung letztendlich mit – vorsichtig gesagt, um keinen vorschnellen Kausalschlüssen zu erliegen – psychischen, d. h. kognitiven wie emotionalen Beeinträchtigungen einhergeht, die weder mit wissenschaftlichem noch alltagsprachlichem Verständnis von Kindeswohl in Einklang zu bringen sind. Auf diesem Hintergrund verbindet sich mit der Forderung nach einer Intensivierung des Kontakts zwischen Elternhaus und Schule die Hoffnung, den Lehrern könnte es dabei aufgrund ihrer meist fundierten pädagogischen und psychologischen Qualifikation gelingen, Eltern auf diese von ihnen nicht gewollten ‚Begleiterscheinungen‘ ihres Erziehungsengagements aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, was getan werden kann, um dessen kindeswohlfeindlichen psychischen Gesundheitsschädigungen zu begegnen“ (Jopt/Dedering 1985: 173).
Sie stellten Untersuchungen vor, in denen zum einen die Kovarianz von elterlichem Erfolgsstreben und kindlichen Stressmerkmalen belegt wurde, zum anderen die Wahrnehmungsunterschiede zwischen Eltern und Lehrkräften im Hinblick auf die kindliche Belastung, die je nach Anlage der Untersuchung mehr oder weniger sichtbar wurden (ebd.: 181 ff). Abschließend argumentierten sie, Elternpartizipation müsse Elternbildung einschließen, um die elterlichen Lernziele gegen pädagogische auszutauschen und – dabei bezogen sie sich auf die Richtlinien und Lehrpläne der Grundschule von 1973 – einer „freien und befreienden Atmosphäre“ Platz zu schaffen, in der „sich Kinder glücklich fühlen“ sollten (ebd.: 185 f). Damit wurde schon 1985 der unbestimmte Rechtsbegriff des „Kindeswohls“ aus dem damaligen Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, heute Teil des SGB VIII) als „Schülersicht“ quasi verrechtlicht, objektiviert, und zentral gestellt. Dieser wurde dann mit Merkmalen psychischer Gesundheit verbunden, um elterliche Forderungen an das Kind nach guten oder besseren schulischen Leistungen als tendenziell gesundheitsgefährdend zu identifizieren und die Lehrkräfte als ExpertInnen kindlichen Lernens und Glücks in der Partizipation der Eltern zu ‚Befreiern‘ der Kinder zu machen. Den Interessen der Eltern an einer erfolgreichen Schullaufbahn ihrer Kinder wurde Verständnis gezollt, nicht mehr. Eine irgendwie näher definierte oder gar kritische Sicht auf die Professionalität der Lehrkräfte und die Institution Schule sowie auf die Möglichkeiten, dort das Kindeswohl zu berücksichtigen, findet sich nicht. Konstruktionen der schulischen „Elternarbeit“ mit Bezug auf den Rechtsbegriff des Kindeswohls finden sich entsprechend in Melzers (1987) Modell, aber auch aktuell bei Stange (2012). Im Aufsatz von Jopt und Dedering von 1985
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
wird ein juristischer Begriff schulpädagogisch übernommen und als Schülersicht definiert, um Eltern, denen mittels der Rechtskonstruktion „Kindeswohl“ die Bestimmung des kindlichen Wohls zugesprochen wird (vgl. Horn/Kemnitz/ Marotzki/Sandfuchs 2012b: 201), als dessen potenzielle Gefährder auszumachen. Auch damals wurden die Akteure der Szenerie „Elternarbeit“ in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt, dabei wurden die SchülerInnen und ihre Sichtweisen auf eine verrechtlichte Bestimmung reduziert, um so einen ‚Erziehungsauftrag‘ für Lehrkräfte gegenüber den Eltern daraus abzuleiten Wie wird die Sicht von Schülerinnen und Schülern in den aktuelleren Untersuchungen der letzten 15 Jahre modelliert und diskutiert? Eine erste Annäherung an den Forschungsbereich rezipiert im Folgenden Untersuchungen zum Kontext von Schule, Familie und Kind aus den letzten 15 Jahren, in denen Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichster Form zu Wort kommen, unabhängig davon, ob die Untersuchung empirisch-quantitativ oder qualitativ angelegt ist (vgl. Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013)14. Damit folgt die Auswahl anderen Kriterien als denen von Tanja Betz und ihrem Team (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017: 135), die nur Studien mit explizitem Bezug auf Kinder als Akteure in der Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie berücksichtigt habe. Hier werden zum einen zwei Befragungen vorgestellt, in denen die Meinungen und Perspektiven von Schülerinnen und Schülern zur Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften direkt erhoben wurden, und zwar von Neuenschwander und MitautorInnen (2005) sowie Sacher (2008). In der Schweizer Untersuchung von Neuenschwander wurden sechs Jugendliche aus sechsten und achten Klassen zur Zusammenarbeit zwischen ihren Eltern und Lehrkräften interviewt, Sacher befragte ca. 1400 SchülerInnen unterschiedlichster Schulformen in Bayern zur „Elternarbeit“ an ihren Schulen. Zum anderen wird eine Studie einbezogen, die den Kontext Schule – Familie – Kind selbst untersuchte, und zwar von Helsper, Kramer, Hummrich und Busse (2009), die autobiografisch-narrative Interviews mit ca. 30 Schülerinnen und Schüler aus
14Wolgang
Einsiedler spricht in der genannten Veröffentlichung vom „deduktiv-hypothetischen Paradigma“ und sinngleich von einer entsprechenden Forschungsstrategie (ebd.: 27); Helga Kelle nennt die drei Begriffe qualitativ, rekonstruktiv und interpretativ gleichrangig und verwendet den Oberbegriff „qualitativ“, um dieses Richtungen als eigenständiges Paradigma zu kennzeichnen (ebd.: 59); hier wird bis auf Weiteres an dieser Differenzierung festgehalten.
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
25
zehnten Klassen an einem Gymnasium sowie einer Gesamt- und einer Sekundarschule führten. Darüber hinaus werden exemplarisch zwei Studien berücksichtigt, die den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule beforscht haben, da dieses Thema viel häufiger Gegenstand von Untersuchungen ist als die Interaktion zwischen Schule, Familie und Kind in anderen Situationen. Damit ist die Hoffnung auf weitere Hinweise zur Interaktion zwischen den Akteuren, aber auch zur Erfassung der Schülerinnen-Perspektive verbunden. Zum einen handelt es sich um die rekonstruktive Studie von Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009), zum anderen um die quantitative von Wohlkinger (2014). Kramer und MitautorInnen legten den ersten Teil einer Längsschnittstudie vor, in der sie Grundschulkinder nach dem Übergang um Interviews baten und insgesamt 70 Interviews an fünf selektiv gewählten Schule erhielten (Kramer/Helsper/Thiersch/ Ziems 2009: 57). Wohlkinger (2014: 65 ff) analysierte die Befragung von 1138 GrundschülerInnen sowie deren Eltern und Lehrkräften aus der Befragung KOALA-S von 2005 bis 2007, die sich zu Fragen der Übergangsentscheidung an Gymnasien am Ende der zweiten, dritten und vierten Klasse geäußert hatten. Abschließend wird die Studie „Partner auf Augenhöhe?“ (Betz/Bischoff/Eunicke/ Kayser/Zink 2017) vorgestellt, die internationale Ergebnisse zur Perspektivität von Kindern referiert. Die Untersuchungen werden in ihren unterschiedlichen Zuschnitten vorgestellt und dann vergleichend zusammengefasst, um die derzeitigen Ergebnisse zum Forschungsbereich herauszustellen.
2.2.1 Einflüsse Der erste Versuch jüngeren Datums, die Perspektiven von SchülerInnen auf die Zusammenarbeit von Schule und Familie empirisch zu erforschen, wurde im Rahmen einer Untersuchung für den deutschsprachigen Teil des Kantons Bern von Markus P. Neuenschwander, Thomas Balmer, Annette Gasser-Dutoit u. a. (2005) unternommen. Die ForscherInnengruppe formulierte das Ziel, „die Beziehungen zwischen Eltern, Lehrpersonen und Schülerinnen/Schülern wissenschaftlich zu analysieren“ (Neuen-schwander/Blamer/Gasser-Dutoit 2005: 5), dabei stellten sie „die Analyse des Verhältnisses von Eltern und ihren Kindern in der Rolle der Schülerinnen und Schüler“ (ebd.: 15) ins Zentrum. Als Untersuchungsgegenstand beschrieben sie „die Wechselwirkung zwischen den Eltern und den Schülerinnen
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
und Schülern“ und damit „familiäre Bedingungen des Kinderverhaltens in der Schule“ (ebd.). In Bezug auf Schülerverhalten interessierten die ForscherInnen zwei Aspekte, „die Schülerleistungen (kognitiver Aspekt) und die Unterrichtsstörungen (sozialer Aspekt)“ (ebd.). Die Formulierungen machen sichtbar, dass der Forschungsgegenstand der Untersuchung in Absehung von der formulierten Zielsetzung auf spezifische Aspekte des komplexen Verhältnisses von Schule und Familie reduziert wird. Während eingangs der Untersuchung die Beziehungen zwischen Schule und Familie im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung mit Hilfe der Systemtheorie als Umwelten eigenständiger Systeme dargestellt werden (s. Abb. 2.1), konzeptionieren die Forscherinnen den Gegenstand im Weiteren als Governanceund Steuerungs-Problem, indem sie – als „vorläufige Arbeitsdefinition“ – (ebd.: 28) Leistungen von SchülerInnen zum zentralen Merkmal der „Schulqualität“ erklären und dann fragen, welchen Einfluss Eltern darauf nehmen:
Abb. 2.1 Verhältnis Schule – Familie (Neuenschwander/Balmer/Gasser-Dutoit 2005: 14)
„In vielen Studien wird Schulqualität über die Schülerleistungen operationalisiert, die in Tests erbracht worden sind (zum Beispiel PISA-Studie). Insbesondere das Ausmass der Förderung von sozialen und personalen Kompetenzen kann mit diesen Tests nicht erfasst werden. Im folgenden werden daher neben den Schülerleistungen auch Unterrichtsstörungen als Indikator für soziale Störungen im Unterrichtsprozess untersucht. Daraus ergeben sich die Fragen, ob und wie Eltern die Leistungen und das Verhalten ihrer Kinder im Unterricht beeinflussen. Das Problem
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
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spitzt sich unter den eingeführten systemtheoretischen Prämissen zu, wonach einerseits Familie und Schule/Unterricht als getrennte Systeme konzipiert worden sind, weshalb der Einfluss der Eltern auf das Unterrichtsverhalten sehr schwach sein müsste. Andererseits besitzen die Heranwachsenden eine biologische Bindung zu Eltern und Geschwistern und erfahren hohe Intimität in der Familie, die über die Familie hinausstrahlen könnte. Es stellt sich die (empirische) Frage, in welchem Ausmass die Kinder familiäre Erwartungen und Werte so weit verinnerlicht haben, dass diese das Verhalten auch bei einem Rollenwechsel, wie er bei synchronen und diachronen Übergängen in andere soziale Systeme notwendig wird, steuern. Anders formuliert: Obwohl die Eltern nicht zur Schule gehören, könnten sie das Schülerverhalten beeinflussen, weil die Schülerinnen und Schüler aufgrund der biologischen Bindung, der hohen Interaktionsdichte und Intimität deren Wissen, Erwartungen und Einstellungen in hohem Mass verinnerlicht haben“ (Neuenschwander/Balmer/ Gasser-Dutoit et.al. 2005: 28 f).
Die Länge des Zitats soll die Argumentation sichtbar machen, denn hier wird die Verantwortung für „Schulqualität“ durch eine Umdeutung externalisiert: SchülerInnenleistungen werden nicht mehr irgendwelchen unterrichtlichen und fachlichen Leistungen der Lehrkräfte zugerechnet, sondern ganz überwiegend den Eltern (ebd.: 94). Offenbar handelt es sich um eine Reifizierung (vgl. Kelle/ Schweda-Möller 2017: 126; Demmer/Heinrich 2018: 180; Strübing/Hirschauer/ Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 87) aus Sicht der Organisation Schule, deren Zugehörigkeit zum Forschungsgegenstand nicht thematisiert wird – eine „Problematik der dichten Verwobenheit von Normativität und Methode bzw. analytischer Erkenntnisoperation“ (Demmer/Heinrich 2018: 179). Systemtheoretisch hätten die Autorinnen Kinder als „psychische Systeme“ konzeptionieren müssen: „Es bleibt die Einsicht, dass die getrennt operierenden Systeme, hier die psychischen und die sozialen Systeme, eine Innenansicht ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten entwickeln müssen, gleichsam eine vereinfachte Version dessen, was in ihrer Umwelt hochkomplex und für sie intransparent abläuft. Auf Seiten des sozialen Systems konstruiert man, wie oben erörtert, ‚Personen‘, um sich eine Erfassung der Details ihrer körperlichen und psychischen Operationen zu ersparen und sich mit einem symbolischen Substitut zu begnügen“ (Luhmann 2012: 285).
Im systemtheoretischen Blick dieses Luhmann-Textes, der ursprünglich 2002 veröffentlicht wurde und der Forschungsgruppe zugänglich gewesen sein müsste, sind Kinder und ihre Eltern als Umwelt der Schule zu bestimmen, die von Seiten der Organisation Schule in Form „symbolischer Substitute“ der eigenen Innenansicht zugeführt werden. Hier kommt es aber zu einer indirekten Beteiligung
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
der Forschungsgruppe an der Konstruktion dieser Substitute, wenn sie das Theorem „biologischer Bindung“, möglicherweise in Anlehnung an Bowlbys Bindungstheorie (vgl. Schnabel 2012: 956), unreflektiert als Fremdkörper in die systemtheoretische Sicht einfügen und damit einer offenbar nicht hinterfragten „Prämissennormativität“ (Heinrich 2016: 436) Genüge tun. So entsteht eine Perspektive auf den Forschungsgegenstand, in der – um es einmal dramatisch auszudrücken – Agenten- und Verschwörungstheorien anklingen: „Obwohl Eltern nicht zur Schule gehören, könnten sie das Schülerverhalten beeinflussen, weil die Schülerinnen und Schüler aufgrund der biologischen Bindung, der hohen Interaktionsdichte und Intimität deren Wissen, Erwartungen und Einstellungen in hohem Mass verinnerlicht haben“ (ebd.: 29). Hier wird die wissenschaftliche Sichtweise so konstruiert, dass die Tatsachen menschlicher Reproduktion in familiärer Form, der Abstammung des „familiären Erbes“ (vgl. Kramer 2008: 145 f; Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 45) zur Ursache verdächtiger Umtriebe an den primordial gesetzten Schweizer Schulen erklärt werden. Im Weiteren konzentriert sich diese Darstellung daher auf die sechs Fallstudien, die die ForscherInnen anfertigten. In ihnen kommen auch Jugendliche in Einzelgesprächen zu Wort, vier Schüler und zwei Schülerinnen, je drei aus sechsten und achten Klassen, die eine Zusammenarbeit ihrer Eltern und Lehrkräfte bei Fragen der Leistungsbeurteilung und des Schulübergangs befürworteten, aber mit Misstrauen auf Absprachen zur Durchführung erzieherischer Maßnahmen reagierten. Im Einzelnen wurde deutlich, dass • die Jugendlichen für Fragen der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften eine hohe Sensibilität zeigten (vgl. Neuenschwander/Blamer/GasserDutoit et.al. 2005: 175). • Gespräche zum Lernstand für die sechs Jugendlichen nur dann eine Bedeutung hatten, wenn sie teilnehmen konnten (ebd.: 177). • die Jugendlichen Lehrkräften ein zuverlässiges Leistungsurteil zutrauten und ihre Laufbahnberatung als kompetent erlebten (ebd.: 176). • bei den Jugendlichen ambivalente Gefühle entstanden, wenn es um Absprachen zu erzieherischen Maßnahmen zwischen Eltern und Lehrkräften ging (ebd.: 178). • die Jugendlichen bei allen Fragen nach der Zusammenarbeit an einer Abgrenzung zwischen den Lebensbereichen Schule und Familie interessiert waren (ebd.: 179).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
29
• die Jugendlichen die Zusammenarbeit auf schulisches Lernen (Leistungen, Übergänge) begrenzten und damit eine Autonomieperspektive einbrachten (ebd.: 180 ff). Die entscheidenden Ergebnisse der gesamten Untersuchung werden von Krumm (2009: 595 f) gewürdigt, er fasst sie in drei Aussagen zusammen: Erstens werde laut dieser Untersuchung durch Information, Koordination und Vertrauen zwischen Lehrkräften und Eltern eine Akzeptanzsicherung der Schule ermöglicht, während die Verantwortungszuschreibung Quelle kleinerer und größerer Konflikte sei. Zweitens seien die direkten Einflüsse der Eltern auf die schulischen Leistungen der Kinder nach den Daten sehr hoch, sie würden durch die Zusammenarbeit nicht verbessert, ebensowenig die Zahl der Unterrichtsstörungen. Drittens – und hier werden auch die Schülerinnen und Schüler angesprochen – werde die Leistungsbeurteilung der Lehrkräfte für Eltern und Kinder zum Prüfstein ihrer „Schulzufriedenheit“, Sorgfalt in der Darstellung und Begründung der Bewertungen beeinflusse das Urteil der Eltern über die Schule ins Positive und damit auch das der Jugendlichen.
2.2.2 Vernachlässigungen Werner Sachers Abschiedsvorlesung 2008 unter dem Titel „Schüler als vernachlässigte Partner der Elternarbeit“ referiert die Ergebnisse einer quantifizierenden Befragung im Rahmen eines Modellversuchs. Zunächst begründet er zur Notwendigkeit einer schülerorientierten Elternarbeit, dass der schulische Lernprozess und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehen müsse, um die Ungleichheit der Bildungschancen nicht zu vergrößern. Zudem überbrächten sie „Botschaften“ (Sacher 2008b: 2) zwischen Schule und Familie, sowohl offizielle als auch inoffizielle, sowohl sprachliche als auch körpersprachliche. Die bisherige Forschung in diesem Bereich war nach Sachers Feststellung zum damaligen Zeitpunkt 2008 gleich Null, jedenfalls in Deutschland; die Untersuchung Neuenschwanders in der deutschsprachigen Schweiz berücksichtigte er nicht. Einige internationale Veröffentlichungen aus der Zeit vor und nach 2000 veranlassten ihn zu den Hinweisen, dass „Elternarbeit“ zum einen als Kontrolle der älteren Generation, zum anderen als kindliche Autonomie
30
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
begünstigendes Klima verstanden werden könne; SchülerInnen sähen in ihren Eltern „Fürsprecher“ gegenüber der Schule, solange sie diskret blieben, wenn es um das Familienleben gehe; schließlich würden Schülerinnen und Schüler eine eigene Beteiligung an Gesprächen zwischen Lehrkräften und Eltern trotz einiger Bedenken befürworten (ebd.)
Abb. 2.2 Ergebnisse der Umfrage unter SchülerInnen nach Schulstufen (Sacher 2008b: 12)
Die Meinungen der Schülerinnen und Schülern zur Zusammenarbeit von Lehrkräften und Eltern hatte Sacher in den Modellversuch einbezogen. Er entwickelte Maßnahmen zur Optimierung der Elternarbeit, die im Schuljahr 2006/2007 an 11 Schulen in Bayern erprobt wurden. Beteiligt waren zwei Förderzentren, zwei Grundschulen, zwei sogenannte „Volksschulen“, zwei Realschulen, eine Wirtschaftsschule und zwei Gymnasien. Um den Erfolg der Maßnahmen zu überprüfen, wurde
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
31
je eine Erhebung zu Beginn und Ende des Schuljahrs 2006/2007 durchgeführt. Im Zusammenhang dieses Modellversuchs befragte er 2006 1383 Schülerinnen und Schüler, 2007 an denselben Schulen 1491 Schülerinnen und Schüler. „Ergebnis einjähriger Bemühungen um Optimierung der Elternarbeit: An 10 von 11 Schulen lehnten die SchülerInnen am Ende Kontakte und Kooperation zwischen Schule und Elternhaus stärker ab als zuvor. An einer Schule akzeptierten die SchülerInnen Kontakte und Kooperation zwischen Schule und Elternhaus am Ende stärker als zuvor. An dieser Schule wurden vor allem Eltern-Lehrer-SchülerGespräche eingeführt“ (Sacher 2013b),
resümiert Sacher in zwei Internet-Veröffentlichungen (2013a, 2013b). Offenbar hatte das Modellprojekt unerwartete Ergebnisse im Hinblick auf die Wahrnehmungen, Meinungen und Haltungen der beteiligten Schülerinnen und Schüler. Sacher musste, nachdem er die Befragung vor und nach dem Modellversuch verglichen hatte, feststellen, Schülerinnen und Schüler seien bisher „als passive 'Auftrefffläche'“ (Sacher 2008b: 44) der „Elternarbeit“ gesehen worden. Grundlage seiner hier vorgestellten Auswertung war die Befragung 2006 vor dem Modellversuch. Zunächst stellte er über alle Schulformen hinweg einen „Selbstvertretungsanspruch“ der Schülerinnen und Schüler fest: „Schüler betrachten ihr häusliches und außerschulisches Leben einerseits und ihr Schülerdasein andererseits offensichtlich als zwei Segmente ihrer Privatsphäre“ (ebd.).
Dabei sorgen sie sich vor allem um den Informationsfluss zwischen Schule und Elternhaus, sie wollen für ihr Familienleben Diskretion, für ihr Schulleben nur bedingte Transparenz (ebd.). Auch Gesprächskontakte zwischen Lehrkräften und Eltern werden skeptisch gesehen, auch wenn an den Schulen der Sekundarstufe I immerhin noch 70,2 Prozent der Jungen und 73,3 Prozent der Mädchen glauben, „dass sie [Eltern und Lehrkräfte – K.S.] gemeinsam für mein Wohlergehen an der Schule sorgen“ (ebd.: 7, 10 f). 32,6 Prozent der Jungen und 27,3 Prozent der Mädchen äußerten ein „ja“ oder ein „eher ja“ zum Statement „Die Eltern sollten sich aus der Schule heraushalten“.
32
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Abb. 2.3 Ergebnisse der Umfrage unter SchülerInnen nach Geschlecht (Sacher 2008b: 13)
Sacher führte eine Clusteranalyse der erhobenen Daten durch und beschrieb die Haltungen der Schülerinnen und Schüler anhand von vier Typen, nach Geschlecht und Schulstufe unterschiedlich ausgeprägt (s. Abb. 2.2 und 2.3): • „Umfassende Befürworter“ mit Hoffnung auf Unterstützung und zurückhaltender Akzeptanz schulischer Elternpräsenz (Grundschule: 36,5 %, Sekundarstufe: 6,5 %) (ebd.). • „Befürworter mit Vorbehalt“, ebenfalls mit Hoffnung auf Unterstützung, aber gegen Elternpräsenz in der Schule (Grundschule: 40,9 %, Sekundarstufe:13 %) (ebd.) • „Skeptiker“ mit bedingter Akzeptanz von Kontakten, Angst vor Druck, aber auch Hoffnung auf Unterstützung (Grundschule: 15,4 %, Sekundarstufe: 45,8 %) (ebd.) • „Gegner“ schulischer Elternpräsenz mit viel Angst vor Druck und sehr ausgeprägtem Selbstvertretungsanspruch (Grundschule: 7,2 %, Sekundarstufe: 34,7 %) (ebd.).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
33
Die Geschlechterdifferenzen entwickelten sich von der Primar- zur Sekundarstufe hin als Prozess der Annäherung: Während an den Grundschulen nur in wenigen Items des Fragebogens eine Übereinstimmung der Mittelwerte zwischen Jungen und Mädchen zu finden war (3 von 24), gab es in den Schulen der SI nur noch wenige Items mit einer Abweichung (4 von 24). Die empirischen Werte der Sacher’schen Untersuchung müssen als Effekt der bis dahin an den untersuchten Schulen durchgeführten „Elternarbeit“ verstanden werden, vor allem die Veränderung der Schülermeinungen von der Primar- zur Sekundarstufe spiegeln mehrjährige Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler wider. Es ist davon auszugehen, dass die bis dahin praktizierte Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern von Kindern und Jugendlichen insgesamt negativ bewertet wurde.
2.2.3 Passungen Werner Helsper, Rolf-Torsten Kramer, Merle Hummrich und Susann Busse untersuchten in ihrer Veröffentlichung 2009 die pädagogischen Generationsbeziehungen Jugendlicher in Familien und Schulen. Damit bieten sie eine strukturtheoretische Rahmung des Themas schulischer „Elternarbeit“ und der Perspektiven von SchülerInnen. Ihr Interesse richtete sich zunächst auf generationsbezogene Zukunftsentwürfe in den symbolischen Ordnungen von Schulkulturen, weitergehend setzten sie sich dann das Ziel, einen grundlegenden „Beitrag zu einer empirisch fundierten Theorie der pädagogischen symbolischen Generationsordnung“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 12) zu leisten, und zwar für die beiden Bildungs- und Erziehungsfelder Familie und Schule15. Auch wenn dieses Forschungsprojekt generational bezogene Lebensverhältnisse Jugendlicher untersucht und weder auf das Konstrukt „Elternarbeit“ noch auf Kinder direkt Bezug nimmt, wird es im Folgenden als eines der wenigen theoriefundierten Untersuchungen breit rezipiert, zumal es den Anspruch erhebt, verallgemeinerbare Ergebnisse zu generieren.
15Die
AutorInnen weisen darauf hin, dass „die Fülle an möglichen Fragen aus dem thematischen Gesamtkomplex der Generationen in einer Untersuchung allein nicht aufzunehmen“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 63) ist; das gilt auch für diese Untersuchung, die ebenfalls eine Auswahl an Fragen und Zielen vorzunehmen hat – s. u. Abschnitt 4.2.3.
34
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Die ForscherInnengruppe erhob an drei verschiedenen Schulen, einer Sekundarschule, einer Gesamtschule und einem Gymnasium Interviews mit Lehrkräften (jeweils 9–10) und Schulleitungen, zeichnete Unterricht auf (je 30–60 h) und dokumentierte die Begrüßungsreden an neue Schülerinnen und Schüler. Darüber hinaus interviewte sie SchülerInnen der Schulen aus einer zehnten Klasse (jeweils 10–12) und ließ sich von diesen in deren Familie führen, sofern diese zustimmte. Auf der Ebene der Familien wurden Familieninteraktionen (je Schule 2–4) bzw. Eltern- oder Familieninterviews (je Schule 3–4) aufgezeichent (ebd.: 77). Die Samplebildung (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 177 ff) wurde aus forschungspragmatischen Gründen selektiv gehalten. Dabei wurden Schulform, Schulprofil und Einzugsgebiet als Kriterien berücksichtigt, um angesichts des gegliederten deutschen Schulsystems eine „möglichst breite Varianz“ (Helsper/ Kramer/Hummrich/Busse 2009: 70) abzusichern. Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner in den Schulen erfolgte in Orientierung an der Haltung zur Schulkultur maximal kontrastiv; der Fokussierung auf die zehnten Klassen lag die Einsicht zugrunde, dass es in diesem Alter im Kontext jugendlicher Autonomieentwicklung zu deutlichen Verschiebungen und Problematisierungen generationaler Beziehungen kommen kann (ebd.: 72). Die einzelnen Fälle wurden, wie im theoretischen Sampling, im Kontext der erhobenen Fälle kontrastiert, allerdings perspektivisch gebrochen, da die Auswahl maximal kontrastierender Schülerinnen und Schüler nicht zwingend mit maximalen Kontrasten der familialen Generationsbeziehungen einherging. Die Gegenstandskonzeption der Untersuchung fokussiert die Generationsbeziehungen von Schülerinnen bzw. Schülern in Schule und Familie, sofern pädagogische Aspekte generationsbezogener Interaktionen rekonstruierbar waren. Dabei handelt es sich nach dem Eingeständnis der ForscherInnen um einen „begrenzten Teilbereich“, der aber nicht vorstrukturiert wird, um eine möglichst offene Heuristik zu ermöglichen, und „die Inhalte und die interaktive Strukturierung der Wissensweitergabe und des Wissenserwerbs“ (ebd.) insgesamt untersucht, also sowohl die schulischen Vermittlungsleistungen als auch die Weitergabe kultureller Kapitalien in Eltern-Kind-Beziehungen. „Familie und Schule erscheinen hier als im Kern unterschiedliche Bildungsbereiche. Mit Oevermann […] lässt sich von Familie als diffuser Sozialisationsbeziehung sprechen, die auf Emotionalität, Diffusität, Nähe und Liebe gründet. Im Großen und Ganzen ist sie durch die Nichtrollenförmigkeit und die prinzipiell unkündbaren Beziehungen zwischen ganzen Personen sowie einer Nichtsubstituierbarkeit des Personals gekennzeichnet […]. Schule ist demgegenüber als professionelles Arbeitsbündnis zu fassen, in dem die Beziehungen nicht, wie in der Familie, in Dyaden
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
35
mit wechselseitigem Ausschließlichkeitsanspruch aufgehen, sondern stärker rollenförmig und universalistisch ausgeformt sowie an der Vermittlung von Inhalten und an Unterrichten ausgerichtet sind“ (ebd.: 39).
Die ForscherInnen gehen für die Bereiche der Familie und der Schule grundlegend von „jeweils eigenen symbolischen Generationsordnungen“ (ebd.: 64) aus, deren Übereinstimmungen und Unterschiede analytisch zu bestimmen sind. Den Begriff der symbolischen Generationsordnung definieren sie als „die jeweils spezifische kulturelle Ausformung des Zusammenspiels und Ineinandergreifens von generationalen Regeln, Strukturen, Deutungsmustern, Orientierungen und Akteurspositionen“ (ebd.: 47) und beziehen sich damit auf Konzepte der Kulturtheorie und der Kindheitsforschung (ebd.: 21), die den Begriff analytisch und theoretisch als relationalen Zusammenhang verstehen. Sie differenzieren ihn als Mehrebenensystem16 (s. Abb. 2.4) mit den Ebenen der einzelnen AkteurInnen und ihrer Generationsbeziehungen (Mikroebene), der generationsspezifischen Milieus und Instutionen (Mesoebene) sowie der Generationsverhältnisse (Makroebene) (ebd.: 46). Jede der Ebenen differiert in Bezug auf die Sinnebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären (ebd.: 64), die – in einer Art kulturtheoretischem Übertrag und in einer „definitorische[n] Verschiebung“ (Hummrich 2015: 80)17 – symbolische Ordnungen strukturieren:
16Kramer
(2008: 699) kommentiert, dass Franz-Xaver Kaufmann (2007), auf den das Mehrebenensystem zurückgeht, eine „besonders bedeutsame Ausdifferenzierung des Generationsthemas“ vorgenommen habe. Er unterscheide drei Bezüge: „[…] auf der Makroebene den Bevölkerungsrückgang als Ausdruck eines veränderten Generationsverhältnisses, auf der Mesoebene die Verlagerung von Hilfs- und Pflegeleistungen aus der Familie in die öffentliche Hand […] und auf der Mikroebene die neue Qualität von ElternKind-Beziehungen als Ausdruck veränderter Generationsbeziehungen. Insgesamt wird damit der Generationskomplex als Mehrebenenproblematik gefasst“ (ebd.). 17Merle Hummrich (2015) erläutert die genannten Sinnebenen am Beispiel der Diskussion um Schulkultur in ihrer Genese aus dem subjekttheoretischen Modell Lacans hin zu einer Kulturanalyse, die die kaum berücksichtigte Fragmentierung als symbolische Ordnung abbildet; dafür bedürfe es eines Kulturbegriffs, der zum einen die Kontingenz von Kultur in den Blick nimmt und gleichzeitig ihre ordnende Strukturierung sieht, zum anderen Allgemeines und Besonderes miteinander zu vermitteln in der Lage ist (ebd.: 79 ff; vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 49).
36
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Abb. 2.4 Mehrebenensystem der symbolisch-generationalen Ordnung (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009: 50)
• Das Imaginäre meint „soziale (Ideal-)Konstruktionen“ (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009: 48): Bilder, Mythen und Entwürfe generationaler Beziehungen; sie bilden Ansprüche und Entwürfe ab, in denen Generationsbeziehungen und -positionen gefasst werden und markieren Normalitätsvorstellungen und Erwartungshorizonte dessen, was ideal, angemessen, noch tolerierbar, was anomal und auszuschließen ist. • Das Symbolische gilt als die „Rekonstruktion der interaktiven Sinnstrukturen im konkreten, lokalen Handeln der Generationsakteure“ (ebd.: 48 f), in deren Handlungsketten sich die latenten Sinnstrukturen der Generationsbeziehungen zeigen, nicht nur implizite Routinen und Regeln des generationalen Miteinanders, sondern auch Latentes, Unbewusstes und Unsagbares. • Das Reale wird ebenfalls durch das Handeln der Akteure und Akteurinnen konstituiert und symbolisch strukturiert: Es sind übergreifende „Regeln, Rechte, Pflichten und Verhältnisbestimmungen zwischen Kindern, Jugendlichen und den familiären und sonstigen pädagogischen generationalen Anderen“ (ebd.: 49) festgeschrieben, die aber erst in der konkreten Bearbeitung dieser Beziehungen ausgeformt werden.
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
37
Den Begriff der Generation beschränken die VerfasserInnen auf die „genealogische Perspektive“ (ebd.: 45)18, allerdings erweitern sie diese „Linie der biologischen Erzeugung und der Übergabe des familiären Erbes […] um die Linie der kulturellen Hervorbringung und des kulturellen Erbes“ (ebd.), wobei dieser „erweiterte genealogische Generationsbegriff“ auf familiäre Generationsbeziehungen bezogen bleibt. Daran anschließend entwerfen die AutorInnen eine „Theorie der Anerkennung zwischen den Generationen“ (ebd.: 53), indem sie Axel Honneths Anerkennungsformen der Liebe (emotionale Dimension), des Rechts (moralische Dimension) und der Solidarität (individuelle Dimension) als übergeordnet konzipieren, denen die Antinomien generationaler Beziehungen in der unhintergehbaren Generationsdifferenz zugeordnet werden (s. Abb. 2.5). Diese Antinomien sind „ein begründetes Spektrum von Spannungsverhältnissen“, die als heuristisches Konzept genutzt werden, und zwar sowohl für die familiären als auch die schulischen Generationsbeziehungen, wenn diese Antinomien auch in Familie und Schule „jeweils unterschiedliche Ausformungen mit wiederum vielfältigen feldspezifischen Varianten annehmen können und spezifische Antinomien in der Schule bzw. in der Familie einen anderen Stellenwert besitzen“ (ebd.: 53).
18Sie
schließen nicht an Mannheim und seine Differenzierung von Generationslagen, -gestalten und -einheiten an, sondern verweisen auf die Weiterführungen Bohnsacks, der „auf die Überschneidung, Überlagerung und die Mischformen der kollektiven Prägungen hingewiesen und dabei besonders die Überschneidung von Generationstypiken mit Entwicklungs- bzw. Alters-, Bildungs-, Milieu- und Geschlechtstypiken herausgearbeitet hat“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 20) – siehe unten Abschnitt 4.2.3.
38
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Abb. 2.5 Anerkennung in Familie und Schule (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 55)
So entsteht eine Gegenstandskonzeption, die die Kinder bzw. Jugendlichen in den jeweiligen pädagogischen Generationsbeziehungen verortet, die imaginär, symbolisch und real bestimmt sind; das sind „[…] Relationen, die durch mehr oder weniger deutliche Asymmetrien (strukturelle Generationsdifferenzen) gekennzeichnet sind, in denen es um die Weitergabe bzw. Vermittlung und Aneignung von Inhalten, Kenntnissen, Fähigkeiten, Haltungen, Stilen, Normen, Regeln und Werten in der Spannung von Reproduktion und Transformation, von Konvergenz und Divergenz, geht. Dabei kann sich Asymmetrie auf Kenntnis- und Wissensvorsprünge in ganz spezifischen Bereichen beziehen, aber auch – je jünger Heranwachsende sind – umfassend auf die kognitive, sprachliche, sozialkognitive und emotionale Entwicklung bezogen sein. Asymmetrie bzw. Differenz ist dabei situativ-interaktiv zu denken: So können auch Lehrerinnen und Lehrer oder Eltern zu „Belehrten“, Jugendliche zu Lehrenden und Vermittelnden werden […]“ (ebd.: 65).
Darüber hinaus thematisiert die Gegenstandskonzeption das jeweilige „Passungsverhältnis“ zwischen den pädagogischen Generationsbeziehungen und kalkuliert
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
39
dabei mehr oder weniger deutliche „Überlappungen“ zwischen den beiden Bereichen ein, sodass unterschiedliche Passungsvarianten möglich sind (ebd.: 64). Der Begriff des Passungsverhältnisses meint einen „Strukturabgleich“ (ebd.: 67) zwischen den eigenständig rekonstruierten familial-pädagogischen und der schulisch-pädagogischen Generationsbeziehungen (s. Abb. 2.6), dabei wird unterschieden zwischen den Ebenen der Passung von Familie und Schule als „Passung I“ und der von familialen Generationsbeziehungen und biografischer Individuationsproblematik einerseits und schulisch-pädagogischen Generationsbeziehungen andererseits als „Passung II“ (ebd.: 143).
Abb. 2.6 Passungsverhältnis familialer und (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 64)
schulischer
Generationsbeziehungen
Die Ergebnisse ihrer Untersuchung präsentieren Helsper, Kramer, Hummrich und Busse in je sechs Fallstudien und Fallporträts von Schülerinnen und Schülern, die den drei Schulen zugeordnet sind. Darin werden je spezifische Ausformungen der pädagogischen Generationsbeziehungen sichtbar. Sie werden miteinander kontrastiert, zum einen in Bezug auf die spezifische Schulkultur der einzelnen Schulen, die hier nicht weiter thematisiert wird, zum anderen schulübergreifend. Dabei werden die rekonstruierten schulischen Entwürfe eines ‚gelungenen Schülers‘ als idealer sekundärer Schüler-Habitus19 der einzelnen Schulen verstanden, als
19Zum
näheren Verständnis des Habitus- und Milieusbegriffs siehe Abschnitt 4.1.2.
40
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
institutionalisierte Modelle der jeweiligen schulischen Generationsbeziehungen (ebd.: 275). Diese werden mit sozialen Milieus in Beziehung gesetzt, die diesen Entwürfen mehr oder weniger nahe stehen, da mentale Strukturen integraler Bestandteil des Milieusbegriffs und damit anschlussfähig zu Bourdieus Habitusbegriff sind. Im Ergebnis sehen die Autorinnen und Autoren in der Passung I zwischen Schule und Familie je drei unterschiedliche Milieugruppen, die sich auf die einzelne Schule als Institution beziehen, „primäre homologe Milieus“, „sekundäre Bezugsmilieus“ und „antagonistische Abstoßungsmilieus“ (ebd.: 276). Damit werden die einzelnen Schulen quasi in einer ‚Landschaft‘ sozialer Milieus verortet, sodass „InstitutionenMilieu-Komplexe“ entstehen: „Als Mesoebene und als Wirkungen in den Mikrokomplex der ‚Schulkultur‘ hinein sind wir dort auf ‚Institutionen-Milieu-Komplexe‘ gestoßen, die zwischen Einzelschulen (auch desselben Schultyps) deutlich variieren und im Sinne von Dominanzverhältnissen als Ergebnis der Aushandlungen markiert werden können […]“ (ebd.: 67).
Für die Mikroebene der Generationsakteure und -beziehungen stellt die Studie Bezüge zu strukturtheoretischen Modellen (nach Oevermann) her, die im „pädagogischen Arbeitsbündnis“ (ebd.: 290) einerseits, in der „antinomischen Einbettung familärer Generationsbeziehungen“ (ebd.: 309) andererseits dargestellt sind. Das schulische Arbeitsbündnis20 (s. Abb. 2.7) basiert auf der Professionstheorie Oevermanns, der die pädagogischen Berufe dem Typus professionalisierten Handelns zurechnet (ebd.: 288), das durch drei Merkmale bestimmt ist: Erstens liegt immer ein konkreter Klientenbezug vor, in dem es um eine „stellvertretende Krisenbewältigung“ (hier und im Folgenden Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 288) geht; zweitens ist dafür neben einem quasi „ingenieuralen“ auch „interventionspraktisches“ Wissen erforderlich, das nicht standardisierbar ist; drittens resultiert daraus „eine gesteigerte Bewährungsdynamik für den Berufsakteur“, die auch berufliches Scheitern nach sich ziehen kann. Damit ist der Lehrerberuf als widersprüchliche Einheit von spezifischen und diffusen Beziehungsanteilen bestimmt, wesentlich geprägt durch die Krise der Adoleszenz der Schülerinnen und Schüler. Es handelt sich um ein dreifaches Bündnis, zwischen Lehrkraft (L) und einzelnem Schüler bzw. einzelner Schülerin (P1 usw.) um die Sache (S) – das meint Inhalte, Werte, Normen, Regeln, somatopsychosoziale Integrität (ebd.: 290) –, zwischen Lehrkraft und der gesamten Klasse sowie zwischen Lehrkraft und Eltern, gerahmt von den institutionellen bzw. organisatorischen Bedingungen der 20Das idealtypische schulische Arbeitsbündnis wird hier nicht in seiner ganzen Komplexität vorgestellt, um den Umfang textlicher Reproduktion zu verringern.
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
41
Schulkultur (s. o.). Die Beziehungen zwischen Lehrkraft und SchülerInnen sind dabei zwangsläufig antinomisch strukturiert. Die schulisch-pädagogischen Generationsbeziehungen konstituieren sich, so das Ergebnis der Studie, in unterschiedlichen Varianten des dyadischen Kernbündnisses, teilweise um die Sache organisiert, teilweise um die Person von SchülerInnen. Es handelt sich um schulkulturell hegemoniale Entwürfe pädagogischer Arbeitsbündnisse, Strukturvarianten des Imaginären der schulischen symbolischen Generationsordnung (ebd.: 292). Hier mag eine Auflistung unterschiedlicher Typen des Arbeitsbündnisses als zentrales Ergebnis der vorgestellten Studie genügen (ebd.: 297 ff): • • • • • •
1: konventionelles schulisches Arbeitsbündnis 2: reformpädagogisches schulisches Arbeitsbündnis 3: entgrenztes bzw. diffundiertes Arbeitsbündnis (Lehrkraft/SchülerIn) 4: symmetrisches, in den Sachbezügen leerlaufendes Arbeitsbündnis 5: beiderseits entgrenztes Arbeitsbündnis (durch Familialisierung) 6: einseitig spezifisch-formalisiertes, bürokratisches Arbeitsbündnis
Abb. 2.7 Schulisches Arbeitsbündnis (Helsper/Hummrich 2008: 66)
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Familale Beziehungen basieren im Entwurf Oevermanns (ebd.: 305) auf ganz unterschiedlichen Formen der Leiblichkeit (Sexualität/Pflege), auf Unkündbarkeit, bedingungsloser Gewährung wechseitigen Vertrauens, und wechselseitiger affektiver Bindung. Die familialen pädagogischen Generationsbeziehungen siedeln – wie die schulischen – in einem Feld von Antinomien, die um emotionale Qualität und die Anerkennung der Einzigartigkeit der Beziehung zentriert sind (ebd.: 308 f). Dabei ist aber an die Stelle der Antinomie von Subsumption und Rekonstruktion die von Bindung und Ablösung getreten, an die Stelle der Antinomien von Organisation und Interaktion sowie Homogenisierung und Differenzierung die Antinomie von Kollektivität und Individualität. Die Studie entwickelt für die familialen pädagogischen Generationsbeziehungen folgende Typisierungen (ebd.: 316 ff): • • • • • • • •
1: konventionelle familiale Generationsbeziehung 2: umgekehrte Generationsdifferenz 3: anerkennungsreduzierte familiale Generationsbeziehung 4: Ausstoßung aus der familialen Generationsbeziehung 5: Anerkennungswünsche sanktionierende familiale Generationsbeziehung 6:Ausstieg aus der Familie 7: Zentripetale Ablösung 8: scholarisierte familiale Generationsbeziehung
Die Passung II nimmt das Verhältnis schulischer und familialer Generationsbeziehungen mit ihren jeweiligen pädagogischen Einschreibungen in den Blick und bezieht sich dabei auf die Adoleszenz als Individuationskrise (ebd.: 322). Individuation wird verstanden als Aufforderung an die Individuen, sich mit den Ansprüchen an Autonomie und Selbstbestimmung auseinanderzusetzen: „Die Herausbildung (der Imagination) von Autonomie und Selbstbestimmung entsteht dabei unter Bezugnahme auf sozial präformierte Deutungsmuster, die in der Adoleszenz in besonderer Weise wirksam werden, aber auch bereits vorher, im Laufe der Sozialisationsgeschichte, in engem Zusammenhang mit den Objektbeziehungen (als den Beziehungen zu anderen) und der Biografie stehen […]“ (ebd.).
Diese abschließende Relationierung familialer und schulischer pädagogischer Generationsbeziehungen, die auf Individuationschancen der Jugendlichen bezogen werden, entwickelt folgende typisierende Verallgemeinerungen (ebd.: 331 f):
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
• • • • • •
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1: Individuationsgewinne durch Schule 2: Verwehrte Individuation (Ausstoßung aus der Familie) 3: Individuationsblockierung (Verkehrung familialer Generationsbeziehungen) 4: Schulisch verhinderte Individuation 5: Doppelt gestützte Individuationsermöglichung 6: Gebremste Individuation (trotz hoher Familie-Schule-Passung)
Zusammenfassend werden in der Studie die Ergebnisse im Hinblick auf die drei Ebenen der Anerkennung – Liebe, Recht und Solidarität (s. Abb. 2.5) – verglichen. Dabei sehen die AutorInnen ein wichtiges Ergebnis ihrer empirischen Forschung darin, dass sie in der Annahme bestätigt wurden, dass die unterschiedlichen Dimensionen der Anerkennung in familialen und schulischen pädagogischen Generationsbeziehungen von Bedeutung sind und nicht, wie es strukturfunktionalistische Argumentationen nahe legen, in den beiden Bereichen getrennt bearbeitet werden (ebd.: 374, 381). Ferner werden die theoretischen Erträge für die „Passungsverhältnisse zwischen Familie und Schule“ (ebd.: 337) thematisiert. So sollen sie für eine anerkennungstheoretisch fundierte Sozialisationstheorie fruchtbar werden. An dieser Stelle genügt zunächst ein Überblick über die „Idealtypen“ der Anerkennungsmuster in Familie und Schule (s. Abb. 2.8). Die vier Modelle realisierten sich, so die AutorInnen, in den untersuchten Fälle als „Mischformen“ (ebd.), die in unterschiedlichster Weise auf die Individuationschancen von Jugendlichen wirkten. Als günstig für die jugendliche Individuation werden die Modelle konventionell-komplementärer Anerkennung und reformpädagogische Anerkennungsentwürfe herausgestellt. Die Fälle, die diesen Modellen zuzuordnen waren, wiesen ein „hohes Maß an Exzellenz- und Erfolgsorientierung“ (ebd.: 391) auf, im reformpädagogischen Modell allerdings unter der Bedingung, dass entgrenzende „Näheforderungen“ der Schule zurückgewiesen werden können. Dabei wirken die unterschiedlichen Milieus und ihr Verhältnis zur jeweiligen schulischen Institutionen auf die Anerkennungsformen und ihre Wahrnehmung durch die Akteure. Zusammenfassend müssen als besonders relevant für jugendliche Individuation die emotionale Anerkennung in der Familie und die moralische und individuelle Anerkennung in der Schule gesehen werden. Gelinge es in Familien, so die AutorInnen, trotz fehlender emotionaler Anerkennung die moralische Anerkennung zu sichern und individuelle Anerkennung minimal zu gewährleisten, so sei es möglich, schulische Selbstachtung aufzubauen. Die Schule wiederum entscheide über die Vergabe von Zugangsberechtigungen und die Beurteilung von Leistungsfähigkeit, damit stelle sie eine „ grundlegende
44
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Ermöglichungsstruktur individueller Transformation“ (ebd.: 392) her. Dies könne durch moralische und individuelle Anerkennung in der Familie nicht dauerhaft kompensiert werden. Abschließend betonen Helsper und seine MitautorInnen, dass Individuation im Besonderen unter der Bedingung gelinge, dass Anerkennungsbeziehungen sicher seien.
Abb. 2.8 Anerkennungsmuster (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 390)
2.2.4 Übergänge Aus dem Forschungskontext der gerade vorgestellten Studie erschien im selben Jahr eine weitere, publiziert von Rolf-Torsten Kramer, Werner Helsper, Sven Thiersch und Carolin Ziems, mit Forschungsergebnissen zum Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009). Im Rahmen einer größer angelegten Studie mit dem Titel „Erfolg und Versagen in der Schulkarriere – ein qualitativer Längsschnitt zur biografischen Verarbeitung schulischer Selektionsereignisse“21 hatten sie Kinder und Jugendliche von der vierten bis zur neunten Klasse befragt. Dabei ging es weniger um Interaktionszusammenhänge als um „unterschwellige Passungsverhältnisse“ (ebd.: 12).
21Das
Forschungsprojekt wurde als Teil des Projektverbundes „Mikroprozesse schulischer Selektion bei Kindern und Jugendlichen“ von der DFG seit April 2005 finanziell gefördert (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 11).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
45
„Diese Passungsverhältnisse zwischen einer biografisch sich vollziehenden Ordnungsbildung – den jeweils lebensgeschichtlich generierten Sichtweisen und Haltungen – einerseits und den im Verlauf der Schulkarriere kumulativ wirksam werdenden schulisch geforderten Einstellungen und Fähigkeiten andererseits sollten im zeitlichen Verlauf analysiert werden“ (ebd.).
Da der frühe Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I als ein zentrales Strukturmerkmal des deutschen Bildungssystems weitreichende Folgen für Schülerbiografien hat (ebd.: 17), wurden für die hier vorgestellte Studie 70 Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Schulen in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen interviewt, und zwar vor und nach dem Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. In beiden Bundesländern herrschte zum Zeitpunkt der Datenerhebungen der sogenannte „Elternwille“, d. h. Eltern entschieden über die Anmeldung eines Kindes in einer Schule (ebd.: 21 f)22. Das Sample war selektiv angelegt, orientiert an den unterschiedlichen Schulformen in der Sekundarstufe I. Die Interviews mit den etwa 10-jährigen Kindern waren zum einen am autobiografischen Stegreiferzählen Fritz Schützes orientiert (ebd.: 58), zum anderen an dem „sich quasi automatisch einstellende[n] Generationenverhältnis in der Interviewsituation“ (ebd.: 60), das durch eine besondere Gestaltung des Interviewsettings und der Gesprächsatmosphäre austariert werden sollte. Aus den erhobenen Fällen wurden nach dem Auswahlkriteriums des Kontrasts für jede Schulform drei sogenannte „Eckfälle“ ausgewählt: • Ein Fall mit positiven Schul- und Leistungsbezügen und einer sich andeutenden harmonischen Passung zur Schule • Ein Fall mit Schwierigkeiten auf der Leistungsebene, zum Teil verbunden mit einer Kumulation weiterer Problemfelder • Ein Fall mit weder deutlich positiven noch deutlich negativen Schul- und Leistungsbezügen und der Perspektive einer unauffälligen Schulkarriere
22Allerdings
unterschlägt das Schlagwort vom „Elternwillen“ die Rolle und Funktion der aufnehmenden Schule, die über interne Auswahlkriterien, Aufnahmekapazitäten und anderes mitsteuern kann. Für Streit- und Zweifelsfälle hatte NRW einen sogenannten „Prognoseunterricht“ eingeführt. Sachsen-Anhalt regelte 2005, ein Jahr nach der Datenerhebung, für SchülerInnen ohne gymnasiale Schullaufbahnempfehlung gesetzlich, dass sie eine sogenannte „Eignungsfeststellung“ mit zentralen Aufgaben in Mathematik und Deutsch für die Aufnahme an Gymnasium oder Gesamtschule zu absolvieren haben.
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Die Perspektiven der ForscherInnen auf den Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe differenzierten sich in eine „gesellschaftstheoretische Perspektive“ (ebd.: 23), die den Übergang als „strukturell schulischen Selektionsmechanismus“ sah, und eine „subjektorientierte“, die ihn als „bildungsbiografisches Ereignis und als Chance oder Risiko für die kindliche Bildungskarriere“ verstand. „Am Übergang in die Sekundarstufe findet demnach im Zusammenspiel familiärer und schulischer Akteure eine Selektion statt, die nicht allein von Leistungskriterien geleitet ist, sondern schulische Leistung immer milieuspezifisch und sozial vermittelt einbezieht.“ (ebd.: 36)
Für ihre Studie knüpfen die AutorInnen an die Befunde biografieanalytischer und psychologischer Studien an, dass „dieser Übergang als individuelles und darin einmaliges Ereignis zu fassen sei, das mit vielfältigen Anforderungen und Veränderungsmöglichkeiten (oder auch -risiken) verknüpft ist“ (ebd.: 43). Die Bedeutung von Freundschafts- bzw. Peerbeziehungen23 lag nach Ansicht der VerfasserInnen darin, dass sie den Schulwechsel beeinflussen, aber auch von ihm beeinflusst werden. Damit wird die Wirkung des Übergangs nicht als Gegenüberstellung von „Bruch“ und „Übergangsmotiv“ erfasst, sondern in Beziehung zueinander gesetzt (ebd.: 38). Die Effekte, die durch eine früh veränderte Bezugsgruppe und Leistungsumwelt für die Selbstwahrnehmung der SchülerInnen entstehen, halten sie für gravierend. Kommt es schon durch die Tatsache der Segregation bei bestimmten SchülerInnen zu Verunsicherung und Leistungsabfall, so erzeugen die „differenziellen Entwicklungsmilieus“ (ebd.: 39; vgl. Baumert/Maaz/Stanat/ Watermann 2009) weitere, paradoxe Effekte: GrundschülerInnen an Gymnasien erleben Einschränkungen ihrer Fähigkeitskonzepte, weil sie plötzlich eine „Verschlechterung ihrer Leistungsplatzierung in der neuen Gymnasialklasse“ (ebd.) erfahren, obwohl sich ihre Leistungen und Kompetenzen im Vergleich zu den anderen Schulformen verbessern. Die in die Hauptschule wechselnden SchülerInnen erleben plötzlich eine positive Entwicklung, denn sie gehören zu den besseren Schülern, obwohl sie eher „Leistungs- und Kompetenznachteile gegenüber den anderen Schulformen“ erfahren (ebd.). Eine Problemgruppe seien darüber hinaus jene SchülerInnen, die sich als ‚VersagerInnen‘ erleben, weil sie den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht erreichen. „Im schulischen Verlauf erleiden sie die deutlichsten Einbrüche ihrer Selbsteinschätzung und ihres psychosozialen Wohlbefindens“ (ebd.).
23Der Peerbegriff, von Oswald und Krappmann in Gruppe, Geflecht und Interaktionsfeld unterschieden (Oswald 2012: 14) wird für diese Untersuchung im Abschnitt 3.3 näher definiert.
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
47
Abb. 2.9 Individueller Orientierungsrahmen und Habitus (Kramer/Helsper/Thiersch/ Ziems 2009: 47)
Für die Untersuchung wurde eine spezifische Gegenstandskonzeption erarbeitet, die sich als Strukturmodell eines „individuellen Orientierungsrahmens“ darstellt (s. Abb. 2.9), mit dem die individuellen, peerbezogenen und sozial bedingten Orientierungen zu Schule und Bildung erforscht wurden. Die AutorInnen sprechen von einem „Mehrebenenmodell“, an dessen Spitze sie den individuellen, biografischen Orientierungsrahmen stellen, dessen Erfahrungsaufschichtung sie mit Fritz Schützes Narrationsanalyse untersuchten; darunter liegt der kollektive Rahmen der spezifischen Gruppenzusammenhänge, in denen die Kinder leben, der mit der dokumentarischen Methode analysiert wurde; drittens schließlich die Basis der individuellen und kollektiven Orientierungen, der klassenbezogene Habitus, der mit Bourdieus Kultursoziologie erschlossen wurde. Die AutorInnen kommentierten, dass sie von „unterschiedlichen Aggregierungsebenen dieser impliziten handlungsleitenden Wissensbestände und Hervorbringungsmodi“ ausgehen, die nicht trennscharf zu unterscheiden seien.
48
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht „Dabei begreifen wir dieses Zentrum bzw. den biografischen Kern des Habitus – anders als Bohnsack […] – nicht lediglich als Überschneidungsbereich von differenten konjunktiven Erfahrungsräumen und damit als Schnittmenge oder Restkategorie verschiedener kollektiver Orientierungsrahmen […], sondern wir setzen die biografische Erfahrungsaufschichtung als primären Erfahrungszusammenhang, innerhalb dessen kollektive Orientierungen und konjunktive Erfahrungen angelegt sind, die jedoch an der individuellen Prozesslogik der Erfahrungsqualität der Biografie ihren zentralen Referenz- und Bezugspunkt finden“ (ebd.: 48).
Das beschriebene Mehrebenenmodell zielte damit auf die Integration individueller und kollektiver Erfahrungen in den kindlichen Bildungshabitus, die – begrenzt auf unmittelbare Schul- und Bildungsbezüge – kontrastiert und typisiert wurden. Entsprechend wurde in der Datenauswertung ein Abgleich der narrationsstrukturellen Analyse von Fritz Schütze, der objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevemann und der dokumentarischen Methode von Ralf Bohnsack vorgenommen, gemessen an der Passung zum Material einerseits, an Aufwand und Ertrag andererseits (ebd.: 62 ff). Die dokumentarische Interpretation erwies sich als angemessen, allerdings in entsprechenden Modifikationen, die nicht nur den individuellen Einzelfall betonen, sondern auch eine weit nach hinten verlagerte Kontrastierung und Typenbildung sowie eine wenige starke Gewichtung der Ebene der Diskursorganisation (ebd.: 67). Die primäre, singuläre Fallerschließung erhielt daher eine besondere Bedeutung, um die „jeweils einzigartige Entfaltung und Ausprägung allgemeiner Merkmale und Mechanismen, die diesen Fall als Fall konstituieren,“ (ebd.: 121) wahrzunehmen. Das „vielleicht zentralste Ergebnis“ der Studie, so die AutorInnen, bestehe darin, „dass schon 10-Jährige konturierte schul- und bildungsbezogene Orientierungen aufweisen, die sich zu einem frühen Bildungshabitus verdichten lassen“ (ebd.: 209). Die AutorInnen haben unterschiedliche Bildungshabitus (s. o. Abschnitt 2.2.3) herausgearbeitet, die sie als „grundlegende […] Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata der Kinder im Schul- und Bildungskontext“ beschreiben (ebd.: 131 ff): • Habitus der Bildungsexzellenz und -distinktion • Habitus der Strebenden mit den drei Unterformen des exklusiven, des maßvollen und des leidvoll auferlegten Strebens • Habitus der Bildungskonformität und -notwendigkeit
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
49
• Habitus der Bildungsfremdheit mit drei Unterformen der Spannung zwischen Bildungskonformität und -fremdheit, der „Bildungsferne“ mit angedeuteter Opposition sowie der Bildungsferne und -hilflosigkeit24. Die AutorInnen betonen, es handele sich bei den von ihnen analysierten Habitus um „habituelle Frühformen“ (ebd.: 131, 192, 202), die durchaus konturiert seien, aber auch formbar, da sie „[…] Ergebnis der primären Sozialisation und frühester biografischer Erfahrungsaufschichtungen sind“ (ebd.: 202). Die von ihnen analysierten Habitus befänden sich in Entwicklung, weitere Erlebnisse und Erfahrungen und deren Bearbeitung würden sie bestätigen oder modifizieren und verändern, sowohl durch stetige und unauffällige Erlebnisse und Erfahrungen der Schulkarriere als auch durch einschneidende Ereignisse des Scheiterns oder der Anerkennung (ebd.). Die jeweiligen Orientierungsrahmen der Habitus beeinflussen nicht nur die Antizipation der neuen Schule und des Übergangs, auch die Erfahrungen in der Sekundarstufe werden in seinem Horizont gedeutet und führen bei Problemen und veränderten Passungsmöglichkeiten zu einem Transformationsdruck (ebd.: 209). „Habitusinkonsistenz“ und eine „Gespaltenheit“ (ebd.: 200) des Habitus können entstehen, wenn ein Druck auf die Kinder existiert, einen Habitus zu übernehmen, der keinen Abgleich mit ihrer realen Lage vornimmt. Die Gegenstandskonzeption des Orientierungsrahmens erwies sich als nützlich, da der analytische Blick auf positive und negative Gegenhorizonte sowie auf die Enaktierungspotenziale es in der Interpretation erlaubten, den Orientierungsrahmen schrittweise zu konkretisieren (ebd.: 193). Für die Gegenstandskonzeption spricht die Tatsache, dass auf der individuellen Ebene tatsächlich substanzielle und differente schul- und bildungsbezogene Orientierungsrahmen gefunden wurden, die nicht auf Familien- und Milieuzugehörigkeiten reduziert werden können. Das wurde dort geradezu erlebbar, wo interviewte Kinder auf Erfahrungs- und Wahrnehmungsunterschiede zu ihren Eltern zu sprechen kamen (ebd.: 198).
24Auffällig
und kritikwürdig ist in dieser Untersuchung, wie den AutorInnen die in den einzelnen Habitusformierungen der Kinder festgestellte Fremdheit gegenüber Schule unter der Hand zur „Bildungsferne“ gerät, ein Begriff, der von ihnen nicht definiert wird, der aber die Oberhand gegenüber dem sehr viel konkreteren Begriff der „Schulfremdheit“ gewinnt (Kramer/Helsper/Thiersch 2009: 130, 139); in ihrer Veröffentlichung 2013 korrigieren sie dies insofern, als sie betonen, dass es sich um einen schulisch bezogenen Bildungshabitus handle (Kramer/Helsper/Thiersch 2013: 79); insofern müsste man von „Schulferne“ sprechen.
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Bemerkenswerte Ergebnisse der Fallkontrastierung waren darüber hinaus, dass Schul- und Bildungsbezüge durch Eltern und familiale Erfahrungszusammenhänge im Sinne eines primären Habitus geprägt sind (ebd.: 200). In den meisten Fällen wurde aber auch sichtbar, „in welcher Weise ein schulund bildungsbezogener Orientierungsrahmen auf konkrete Erfahrungen der Schule bzw. konkrete Erfahrungen in der Schule zurückgeht“ (ebd.: 124). Diese Orientierungsrahmen bestimmen mit, wie die Schülerinnen und Schüler „das schulische Spiel (mit-)spielen, welche Trümpfe sie in der Hand halten und wie sie die weitere Bildungslaufbahn entwerfen“ (ebd.: 129). Schon 10-jährige Schülerinnen und Schülern hatten die ‚Schülerrolle‘ in ganz unterschiedlicher Weise internalisiert und konzipierten Schule implizit als ‚natürliche Lebenswelt‘, als Kontext ihrer „Statusaspirationen“ oder als fremd und bedrohlich (ebd.: 124). Dabei entwickelten Kinder schulbezogene Haltungen, die ihren Eltern fremd waren, da diesen eigene Erfahrungen in diesem Bildungssystem fehlten bzw. dessen Strukturen so verändert waren (ebd.: 139). Die Ergebnisse der Untersuchung zur schulpädagogischen Übergangsforschung sind im Kontext dieser Studie auch deshalb von Interesse, weil sie auf die „Bedeutung der […] eher vernachlässigten Perspektive der Kinder“ hinweisen, die von den AutorInnen als „eine Art ‚black-box‘“ (ebd.: 205) der Forschung beschrieben wird (ebd.: 205). Sie arbeiten heraus, dass Kinder „der Schule und dem Übergang einen Eigensinn verleihen“ und daran beteiligt sind, wenn Schule als Raum der Vergemeinschaftung, der Leistungs- und Statusplatzierung oder der Erfahrung von Zurückweisung und Missachtung erscheint. „Damit können wir einerseits die Perspektive der neueren Kindheitsforschung bestätigen, dass Kinder als eigenständige Akteure zu verstehen sind, die mit ihrem kindlichen Eigensinn dem Schulgeschehen erst seine konkrete Bedeutung verleihen […]. Wenn man also Kinder nicht per se durch theoretische Setzungen bereits als Ko-Konstrukteure des Übergangsgeschehens eliminieren will, indem allein die Perspektive der Schule und der Eltern in den Blick genommen wird, dann muss der eigene Beitrag der Kinder zwischen den Polen aktiver eigenständiger Mitentscheidung und passivem Erleiden von Fremdentscheidungen, zwischen Fremd- und Selbstplatzierung in den Blick genommen werden“ (ebd.: 209).
Die ForscherInnen kritisieren in diesem Zusammenhang die Rational-ChoiceTheorie, weil sie daran beteiligt sei, dass Schülerinnen und Schüler – Kinder und Jugendliche – als Akteure und Mitgestalter ihrer Schulkarriere gar nicht erst in den Blick kämen. Die Fallrekonstruktionen zeigten, dass die Altersgruppe der etwa 10-jährigen Schülerinnen und Schüler über implizites Wissen zu Schule und Bildung verfüge. Diese „habituellen Schul- und Bildungsorientierungen“ (ebd.:
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
51
192) würden in Forschungen im Rahmen des Kosten-Nutzen-Paradigmas überhaupt nicht auftauchen.
2.2.5 Beteiligungen Die aktuellste Untersuchung, die Schülerinnen-Meinungen und -Perspektiven im Kontext des Zusammenwirkens von Schule und Familie empirisch erfasst, beschäftigt sich ebenfalls mit dem Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule, isb. zum Gymnasium, in den beiden Bundesländern Bayern und Sachsen (vgl. Wohlkinger/Ditton 2012; Wohlkinger 2014)25. Der Autor thematisiert die Übergangsentscheidung als einen „zwischen mehreren Akteuren und über einen längeren Zeitraum ablaufenden Abstimmungsprozess“ (Wohlkinger 2014: 30), dessen „adäquate Abbildung“ zahlreiche weitere Faktoren wie etwa die Lebenssituation, Personenmerkmale und institutionelle Gegebenheiten berücksichtigen müsse, auch die jeweilige organisatorische Struktur des Schulsystems in den beiden Bundesländern. Daher sieht er Modelle kritisch, die auf der Rational-Choice-Theorie (RCT) beruhen: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die RCT mit ihrer Kosten- und Nutzendimension sowie der Berücksichtigung der Erfolgswahrscheinlichkeit zwar ein hilfreiches Instrument zur Analyse von zahlreichen Entscheidungssituationen darstellt, diese bei der hohen Komplexität des Übergangs in die weiterführende Schule allerdings an ihre Grenzen gerät“ (Wohlkinger 2014: 29).
Wohlkinger diskutiert die Bedeutung und Integration der Schülerperspektive für Übergangsentscheidungen; in Bezug auf die bisherige Forschung kritisiert er sehr deutlich, dass Schülerinnen und Schüler und ihre Freunde zumeist nur dann in den Fokus gerieten, wenn es um die Bewältigung des Übergangs selbst
25Vorweggenommen
sei ein zentrales Ergebnis der Studie zum Verhältnis von Ost- und Westdeutschland: „Vor dem Hintergrund der entdeckten Zusammenhänge erscheint eine gemeinsame Analyse von neuen und alten Bundesländern wenig sinnvoll. Die lange Trennungszeit hat offenbar nicht nur äußerlich das Leben der Bürger nachhaltig geprägt, sondern auch zu einer grundsätzlich unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung struktureller Bedingungen geführt, die sich trotz der inzwischen vielen gemeinsamen Jahren kaum aneinander angeglichen haben. Wie gezeigt wurde, führt diese unterschiedliche Wahrnehmung hinsichtlich der von den ehemaligen DDR-Bürgern ausgeübten Erziehung zu systematischen Differenzen, und wird darüber hinaus auch auf die Denkweise der nachfolgenden Generation übertragen“ (Wohlkinger 2014: 191).
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
als „Bruchstelle“ gehe (ebd.: 35), ansonsten sei wenig bekannt, lediglich die Tatsache unterschiedlicher Aspirationen bei Eltern und Kindern. Die Desiderate der bisherigen Forschung seien aber nicht einfach durch eine Integration der Kinderperspektive zu eliminieren: „Für einen solchen Paradigmenwechsel fehlt es […] nicht nur an empirischen Ergebnissen, sondern darüber hinaus auch an einer theoretischen Einbettung der Stellung des Kindes“ (ebd.: 38).
Daher stellt er die Frage „Warum das Kind berücksichtigen?“ und beantwortet sie zum einen mit der Diskussion von fünf Gegenargumenten, zum anderen mit Blick auf die Entwicklung der Familie und den familiären Verhandlungshaushalt (ebd.: 41 ff). Als Gegenargumente führt er solche an, die einen kindlichen Einfluss als irrelevant abtun, und solche, die ihn negieren (ebd.: 42 f): • „Unfähig zur Entscheidung“: Damit sind Voreinstellungen gemeint, der unzureichende Entwicklungsstand des Kindes schließe eine Beteiligung aus. • „Unentschlossen“: Damit ist die Meinung umrissen, dem Kind fehle an Vorstellungen seiner zukünftigen Perspektiven und damit auch an genauen Präferenzen. • „Unnötig“: Dieses Stichwort umreisst die Einschätzung, Perspektiven und Präferenzen der Kinder seien ohnehin identisch mit denen der Erwachsenen. • „Unberücksichtigt“: Damit wird die Behauptung angesprochen, dass Eltern unbewusst oder bewusst unabhängig von den Wünschen ihrer Kinder entscheiden. • „Unbedeutend“: Damit ist die Vorstellung verbunden, dass Eltern zwar die Präferenzen ihrer Kinder berücksichtigen, deren Einfluss ab unbedeutend sei. Alle fünf Gegenargumente werden als unzutreffend oder vereinseitigend zurückgewiesen: Die Entwicklungspsychologie, isb. Piaget und Erikson, gäben eindeutige Hinweise darauf, „dass Kinder in diesem Alter zumindest ein Grundverständnis davon haben, dass die bevorstehende Entscheidung eine hohe Bedeutung für ihr gesamtes späteres Leben hat“ (ebd.: 43). Zudem habe eine kanadische Studie von Helwig und Kim (1999), so Wohlkinger, nachgewiesen, „[…] dass Kinder bei der Beurteilung der Angemessenheit einer Entscheidungsprozedur (Konsens, Mehrheitsentscheid oder Autoritätsentscheidung) bereits mit sechs Jahren sowohl unterschiedliche soziale Kontexte (Freundeskreis, Familie, Klassenzimmer) berücksichtigen als auch den Bereich, in dem die Entscheidung getroffen wird (z. B. das pünktliche Erledigen von Hausaufgaben oder die Wahl eines Kleidungsstückes)“ (ebd.: 44).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
53
Eine vermutete Unentschlossenheit von Kindern im Alter von neun bis zehn Jahren sei durch die Studie von Helsper, Kramer, Thiersch und Ziems (2009) und deren Vorstudien zurückgewiesen (s. o. Abschnitt 2.2.4), vielmehr ließen sich konkrete Vorstellungen bei den befragten Kindern nachweisen. Dass die Berücksichtigung der kindlichen Perspektive nicht unnötig sei, hätten Wohlkingers eigene Voruntersuchungen gezeigt, bei denen in circa 25 Prozent aller Fälle abweichende Vorstellungen bei Eltern und Kindern sichtbar geworden seien. Was die Fragen der Bedeutung und Berücksichtigung von kindlichen Meinungen durch die Eltern angehe, sei einzig die Frage wichtig, welchen Einfluss von Kindern auf ihre Entscheidung deren Eltern zuließen, inwieweit sie kindlichen Vorstellungen Gehör schenkten, ob sie diese berücksichtigen und ob damit dem Kindereinfluss auf die Schulanmeldung tatsächlich eine bedeutsame Rolle zukomme – diese Fragen seien bisher kaum erforscht (ebd.: 45). Daher nimmt Wohlkinger im zweiten Schritt Bezug auf die Familienforschung und deren Ergebnisse hinsichtlich der Bewältigung des sozialen Wandels und des damit verbundenen Wertewandels (ebd.: 47 ff). Kurz thematisiert er die Thesen von der Pluralisierung der Lebensformen, der Verschiebung von Kinderwunsch-Motiven und der Entdifferenzierung familialer Rollen. Entscheidend ist aus seiner Sicht, dass eine veränderte Eltern-Kind-Beziehung zu konstatieren ist, die zu einem veränderten Erziehungsverhalten und veränderten Leitbildern der Erziehung führt. Die Beziehungen in den meisten Familien seien durch das Modell des sogenannten „Verhandlungshaushalts“ geprägt; allerdings stehe diese Feststellung in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft – am häufigsten fänden sich traditionelle Erziehungswerte bei Familien in benachteiligter sozialer Lage (ebd.: 50). Selbstständigkeit und freier Wille seien Erziehungsziele, um Kindern die Möglichkeit zu geben, zukünftig unbekannte Lebensbedingungen und Herausforderungen zu bewältigen. „Das kindliche Mitspracherecht an Entscheidungen erstreckt sich einerseits auf persönliche Belange, räumt ihnen aber daneben auch eine Beteiligung an Familienentscheidungen ein. Kindern kommt damit ein steigender Einfluss auf innerfamiliale Entscheidungsprozesse zu, die Machtbalance zwischen Eltern und Kind hat sich deutlich zu ihren Gunsten verschoben“ (ebd.).
Die Daten, die Wohlkinger im Folgenden genauer untersucht, stammen aus der Studie „Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem“ (KOALA-S), die den Erwerb schulischer Kompetenzen und den Übergang in die Sekundarstufe untersucht. Sie wurde in einer ersten Phase von 2003 bis 2004 an bayerischen Grundschulen sowie in einer zweiten Phase von 2005 bis 2007 an bayerischen
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
und sächsischen Grundschulen durchgeführt. Erklärtes Ziel war die Erforschung der sozial-familialen, institutionellen und regionalen Bedingungen für das Übergangsverhalten der Schüler und Schülerinnen auf weiterführende Schulen (ebd.: 65). Dafür wurden zu drei Messzeitpunkten in der zweiten, dritten und vierten Klasse schulische Leistungen erhoben, und zwar die Fachleistungen in Deutsch und Mathematik, außerdem „Auskünfte zu Schülerleistungen und Zeugnisnoten sowie übergangsrelevante Einschätzungen zu jedem Schüler“ der Lehrkräfte; zudem wurden sowohl Eltern als auch Schüler schriftlich befragt, dabei kamen „neben soziodemographischen Angaben auch Themenbereiche wie Unterrichtsgestaltung und Klassenzusammensetzung, Werte und Orientierungen, lebensund sozialräumliche Bedingungen sowie Interessen und Motivation“ (ebd.) zur Sprache. Auch die Erziehungsziele der Autonomie bzw. Konformität wurden im Rahmen der Elternbefragung in der zweiten Klasse erfasst und „als Indikatoren für die Erziehungswertdimensionen ‚Selbständigkeit und freier Wille‘ bzw. ‚Gehorsam und Unterordnung‘ herangezogen“ (ebd.: 72)26. Damit entstand eine Längsschnittstudie, die zum einen die Perspektiven der unterschiedlichen Akteure, zum anderen den Prozess selbst abbildete.
Abb. 2.10 Schulwahl-Perspektiven – SchülerInnen und Eltern (Wohlkinger 2014: 72)
26Dabei
war auffällig, dass die Wahlen der Eltern in Bezug auf die jeweiligen sechs Items für Autonomie (Selbständigkeit, Selbstvertrauen, Einfühlungsvermögen, eigene Urteilsfähigkeit, Entwicklung der Persönlichkeit, Erwerb von Kenntnissen) und Konformität (gute Umgangsformen, Fleiß, Gehorsam, Ordnung, Disziplin, sich anpassen können) in den beiden Bundesländern „sehr ähnliche Ansichten“ zeigten, die genannten Werte allerdings in Bezug auf die Schule sehr unterschiedlich wahrgenommen wurden (Wohlkinger 2014: 74, 183).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
55
Wohlkingers Ziel war es, „grundsätzliche Erkenntnisse zur Position des Schülers im Abstimmungsprozess um die Laufbahnentscheidung und die dahinter liegenden Mechanismen und Prozesse zusammenzutragen“ (ebd.: 67). Dafür analysierte er die Daten der zweiten Phase komplexitätsreduzierend im Hinblick auf die Gymnasialentscheidungen, bedingt auch durch die unterschiedliche Ausformung des Schulsystems in den beiden Bundesländern. Die Erfassung der SchülerInnen-Perspektiven war durch die Frage erfolgt „Auf welche Schule würdest du gerne gehen, wenn du es dir aussuchen könntest?“ „Zur Untersuchung der Präferenzen der an der Bildungsentscheidung beteiligten Akteure und ihrer Verhältnisse zueinander ist von zentraler Bedeutung, dass in KOALA-S die Vorstellungen der Schüler von der zu wählenden Schulform explizit mit erhoben wurden. Jeweils am Ende der dritten und vierten Klasse wurde ihnen dazu die Frage gestellt, auf welche Schule sie gehen würden, wenn sie es sich selbst aussuchen könnten. Zu beiden Zeitpunkten wurden ihnen dabei neben den für das jeweilige Bundesland üblichen Schulformen auch die Kategorie ‚weiß ich nicht‘ als Antwortalternative angeboten“ (ebd.: 68).
In der Auswertung der Daten wurden auch sogenannte „kombinierte Perspektiven“ (ebd.: 71) berücksichtigt, nicht nur die zwischen Eltern und SchülerIn, sondern auch zwischen Lehrkraft und Eltern sowie Lehrkraft und SchülerIn. Deren Veränderungen erlaubten weitere Einblicke in die Meinungsbildungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den Akteuren. Hier werden die Varianten der kombinierten Perspektiven von Eltern und Kindern dokumentiert (s. Abb. 2.10), da sie die Relevanz der Perspektivendifferenzierung eindrucksvoll belegen. Im Ergebnis zeigt sich in beiden Bundesländern, dass 60–70 Prozent der Übergangsentscheidungen konsensuell erfolgen, 33–38 Prozent gegen das Gymnasium, 26–31 Prozent dafür. Eine Gymnasialpräferenz von Eltern und Kindern ohne Zustimmung der Lehrkräfte zeigte sich in 8–11 Prozent der Fälle. Ca zwei Prozent der Fälle repräsentieren eine Übereinstimmung von Eltern und Lehrkräften für das Gymnasium ohne Zustimmung des Kindes (ebd.: 156).
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Abb. 2.11 Häufigkeitsverteilung der Schulwahl-Perspektiven (Wohlkinger 2014: 156)
Über die Schuljahre der Grundschule anwachsend zeigen sich Schülerinnen und Schüler als eigenständige Akteure. Dabei geht es nicht nur um die „Berücksichtigung der Kinderwünsche durch die Eltern“ (ebd.: 189): „Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen den vermuteten Kindereinfluss auf die Übergangsentscheidung: Sowohl in der bayerischen als auch in der sächsischen Teilstichprobe fanden sich Belege dafür, dass Kinderwünsche neben den elterlichen Aspirationen und unter Kontrolle von Schulleistungen, Lehrerempfehlungen, Erziehungszielen und sozialen Herkunftsmerkmalen eine Rolle für die Wahl der weiterführenden Schule spielen“ (ebd.: 195).
Allerdings muss dabei festgehalten werden, dass die Kinder in Bayern und Sachsen „auf ganz unterschiedliche Art und Weise in den Entscheidungsprozess eingebunden“ sind (ebd.: 188). Allgemein gesprochen, sehen sächsische Eltern und Kinder eine stärkere Dichotomisierung der sozialen Struktur als bayrische, ferner ist auch die Wahrnehmung der Lehrkraft und der Zeugnisnoten durch die Familien in beiden Bundesländern unterschiedlich. Insgesamt bewertet der Autor den selbstständigen Einfluss der bayrischen Kinder größer und belegt das mit den unterschiedlichen Werten in der Gymnasialpräferenz bei Schülerinnen und Schülern, deren Eltern und Lehrkräfte anderer Meinung sind, während der Einfluss der sächsischen Kinder teilweise in die kombinierten Perspektiven aller Akteure einzugehen scheint (s. Abb. 2.11). Interessanter Weise steigt die Zahl der Dissens-Fälle innerhalb der Familie sowohl in Bayern als auch in Sachsen von der dritten auf die vierte Klasse. Das heißt, dass sich auf Kinder-, aber auch auf Elternseite ein E ntwicklungsprozess
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
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im Hinblick auf die Übergangsentscheidung abspielt, der nicht zwangsläufig auf einen gemeinsamen Nenner hinauslaufen muss. Es scheinen sich ganz unterschiedliche Dynamiken abzuspielen, in einigen Fällen kann es auch zu „Auseinandersetzungen zwischen den Generationen“ kommen. Belegt ist damit, dass die in der Übergangsforschung übliche Sichtweise auf die Familie als „korporativen Akteur“ vielleicht einen einseitigen Ausschnitt der Familie liefern, auf jeden Fall aber nicht die ganze Familie repräsentieren kann (ebd.: 177). Die Einflüsse von Peerwahlen werden mit der Frage thematisiert, ob die Schulwahl von Freunden Einfluss darauf hat, wie ein Kind sich in den Entscheidungsprozess einzubringen versucht. Die Korrelation wird als „mittlerer Zusammenhang“ gewertet (ebd.: 151). Die Ergebnisse sind auch hier eindeutig, auch wenn die Regressionsanalysen Wohlkingers an ihre Grenzen stoßen: „Bei Schülern, deren Freunde im Anschluss an die Grundschule ein Gymnasium besuchen werden, liegt der Wunsch selbst ein solches zu besuchen in Bayern bei 64,0 Prozent und in Sachsen bei 59,6 Prozent. Umgekehrt präferieren nur 37,8 Prozent der Schüler in Bayern bzw. 30,8 Prozent der Schüler in Sachsen das Gymnasium, wenn die Freunde nicht auf ein Gymnasium gehen. Dazu passend lässt sich auch für die ‚weiß nicht‘-Fälle beobachten, dass die Unsicherheit der Schüler in der Gruppe mit zum Gymnasium tendierenden Freunden gegenüber der Vergleichsgruppe etwas geringer ausfällt. Offenbar spielt für die Herausbildung einer Schulformpräferenz bei den Kindern der Freundeskreis eine Rolle“ (ebd.: 152 f).
Wohlkinger stellt fest, dass auch Eltern eine deutlich höhere Gymnasialpräferenz zeigen, wenn die Freunde ihrer Kinder ein Gymnasium besuchen. Ob diese Aspirationen dadurch beeinflusst werden, wird nicht deutlich, wahrscheinlich ist, dass Eltern auf den Umgang ihrer Kinder Einfluss nehmen und damit auch auf deren Entwicklung. Weitere Ergebnisse waren aufgrund von Modellproblemen (ebd.: 154) nicht festzuschreiben. Wohlkingers Forschungsergebnisse müssen insgesamt als deutliches Plädoyer für die Berücksichtigung einer eigenständigen Kinderperspektive nicht nur in der Übergangsforschung, sondern in der Grundschulforschung generell verstanden werden, zumal er darin auch die Bestätigung sieht, dass Kinder im Grundschulalter bereits über einen eigenständigen Orientierungsrahmen verfügen (ebd.: 180). Dadurch geraten bisherige Forschungskonstrukte, die keine eigenständigen Perspektiven der Schülerinnen und Schüler annahmen, unter Legitimationsdruck, denn
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht „[…] der Ausschluss der Kinderperspektive, überwiegend basierend auf schwachen theoretischen Annahmen zu Alter bzw. Entwicklungsstand des Kindes zum Entscheidungszeitpunkt, [ist] nicht plausibel begründbar. Aus einer kulturhistorischen Perspektive finden sich demgegenüber deutliche Anhaltspunkte dafür, dass in modernen Familienverhältnissen den kindlichen Wünschen zur zukünftigen Schulkarriere eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Darüber hinaus lieferte die Theorie vom Verhandlungshaushalt […] konkrete Hinweise auf Einflussfaktoren, die in Zusammenhang mit dem Kindereinfluss stehen“ (ebd.: 194 f).
2.2.6 Ausblendungen Tanja Betz und ihr Team erforschen – ausgehend von der referierten Kritik am Diskurs um die „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ und am „Parental Involvement“ – zum einen im Rahmen des sogenannten „Educare“-Projekts die „bildungsbezogenen Vorstellungen und Praktiken von Kindern im Grundschulalter“ (vgl. de Moll/Bischoff/Lipinska/Pardo-Puhlmann/Betz 2016). Dabei versuchten sie habitusbezogene Indikatoren zu erfragen: „Bei der Auswahl und Konzeption der gemessenen Konstrukte waren habitus- und milieutheoretische sowie kindheitstheoretische Annahmen leitend. Im Projekt ging es darum, ein möglichst breites Bild der im schul- und bildungsbezogenen Habitus von Kindern verankerten Vorstellungen, Ziele und Sollensvorstellungen zu erhalten. Zudem wurde die Praxis der Kinder innerhalb und außerhalb der Schule in den Blick genommen, um Rückschlüsse auf eine milieuspezifische Lebensführung von Kindern und deren Familien ziehen zu können“ (ebd.: 1).
Eine Auswertung der Daten steht noch aus. Ferner forschen Betz und Team in einer zweiten Teilstudie mit dem Projekt „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Familie und Grundschule: Positionen und Perspektiven von Kindern“ (Betz/Eunicke/Kayser 2015) zu folgenden Fragen: • Welche Position haben Kinder in der Zusammenarbeit von Bildungsinstitutionen und Familien aus kindheitstheoretischer Perspektive? (ebd.) • Welche Vor- und Nachteile gibt es in der Zusammenarbeit für sie, auch und gerade im Zusammenhang mit „Bildungs- und Erziehungspartnerschaften“? (ebd.) Im Vordergrund dieser Studie stehen die Perspektiven von Kindern im Grundschulalter und die der erwachsenen Vertreterinnen und Vertreter der Grundschule (ebd.).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
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Bisher liegt die Auswertung der nationalen und internationalen Literatur vor, die von den Autorinnen kritisch diskutiert wird; hier interessieren die Befunde in Bezug auf die SchülerInnen-Perspektive (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017). Zuvor muss die Perspektive der Forschungsgruppe gewürdigt werden, die die Bildungseinrichtungen der KiTa und der Grundschule nicht nur unter dem Aspekt der Zugangsmöglichkeiten diskutiert, sondern fragt, inwiefern sie an der Herstellung von Bildungungleichheit beteiligt sind und welche Rolle sie im „kindlichen Lebenszusammenhang“ spielen, der insgesamt in den Blick genommen werden müsse (ebd.: 30). Die Gruppe entwickelt eine dezidiert ungleichheitstheoretische Kritik als Ausgangspunkt ihrer Arbeit, die Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit diskutiert und vier Punkte betont (ebd.: 25 ff): • Erstens sei nicht geklärt, auf welchen Endzustand hin soziale Bildungsungleichheit hin diskutiert und kritisiert werde, es gebe keinen gesellschaftlichen Konsens zur moralischen Bewertung einer – hier vom Forscher einmal so genannten – ‚Bildungsgleichheit‘; • zweitens werde künstlich getrennt zwischen individuellen und sozialen Aspekten der Bildungsungleichheit, also zwischen Begabung, Talent, Leistung einerseits, familiären Bedingungen und Ressourcen andererseits, obwohl sie zusammengedacht werden müssten, da sie sich gegenseitig beeinflussen; • drittens fehle eine „Systematisierung“ in der Debatte um Bildungsungleichheit – egal ob bei quantitativen oder qualitativen Studien –, was jeweils als Ausgangspunkt, Problem, Ursache und Lösung zu sehen sei; stattdessen gebe es viele konkurrierende Konzepte, die z. T. theoretisch bzw. empirisch einseitig seien. • viertens müssten sich alle Beteiligten der Debatte darüber einig sein, dass eine zentrale Frage sei, ob und wie Bildungsinstitutionen Bildungsungleichheit herstellen bzw. vermindern können, da nicht einfach unterstellt werden könne, dass sie Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit realisieren. Da „keine publizierten Analysen zum Thema ‚Kinder als Akteure in der Zusammenarbeit‘ in Deutschland vorliegen“ (ebd.: 137), stützen sie sich auf eine belgische, drei britische, eine norwegische und zwei schwedische Studien aus den Jahren 1999–2015. Das Kriterium der Auswahl ließ – anders als in dieser Studie – nur empirische Publikationen zu, die Kinder bis zu 12 Jahren als potenzielle Akteure im Kontext der Zusammenarbeit sahen und beforschten (ebd.: 135). Alle Studien kritisieren die bisherige „Ausblendung“ der Kinder und wollen diese sichtbar machen; dafür erhoben sie Daten, die wie folgt interpretiert
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
wurden: Kinder gestalten das Verhältnis zwischen Schule und Familie aktiv mit, sie „schaffen, regulieren oder verhindern Verbindungen und Interaktionen“ (ebd.: 138); dies beinhalte Chancen, Erwachsene für sich zu nutzen, aber auch Risiken verstärkter Kontrolle. Kinder erleben Erwachsene oft als dominant und machtvoll, seltener als interessiert an Gleichberechtigung, sie erleben Zusammenarbeit dann als gut, wenn sie subjektive Bedeutung für sie hat und wenn sie beteiligt sind (ebd.: 139). Offenbar gibt es für Kinder gar nicht einfach die Zusammenarbeit, sondern ganz unterschiedliche und individuell unterschiedlich erlebte und bewertete Situationen (ebd.: 142). Über diese empirischen Informationen hinaus stellen die Autorinnen der Studie „Partner auf Augenhöhe?“ fest, dass es eine entwickelte kinderrechtliche Argumentation gibt, die betont, dass Kinder Rechtsträger sind und Kinderrechte in den Bildungsinstitutionen berücksichtigt und umgesetzt werden müssen (ebd.: 134). Es wird auch immer wieder betont, dass Kinder ExpertInnen in eigener Sache seien, auch in Bildungs- und Erziehungsplänen sowie in Schulgesetzen. Trotzdem gebe es keine entwickelten Perspektiven für die Zusammenarbeit mit Kindern, erst recht nicht für den Bereich der Zusammenarbeit zwischen Institution und Familie. Die Autorinnen fassen ihre Ergebnisse in vier Thesen zusammen, die hier zitiert werden: • These 1: „Kinder sind aktive Gestalter des Verhältnisses von Elternhaus und Bildungsinstitution, deren spezifischer Beitrag bislang kaum empirisch analysiert wird“ (ebd.: 138). • These 2: „Kinder sind genauso wie Erwachsene in generationale Ordnungsverhältnisse eingebunden. Ihre Zugehörigkeit zur generationalen Kategorie der Kinder strukturiert ihre Perspektiven und Positionen im Kontext der Zusammenarbeit. Ihre Perspektiven und Positionen nicht zu beachten bedeutet, einen wichtigen Einflussfaktor in der und für die Interaktion aller Akteure zu übersehen“ (ebd.: 139). • These 3: „Die Auseinandersetzung mit den Perspektiven von Kindern eröffnet neue Einsichten in das Verhältnis von Bildungsinstitution und Familie. Die Positionen und Sichtweisen von Kindern sind dabei ebenso heterogen wie diejenigen der beteiligten Erwachsenen“ (ebd.: 140). • These 4: „Die Sichtweisen der Kinder auf und ihre Erfahrungen mit Zusammenarbeit sind nicht zufällig: Neben ihrer Position in der generationalen Ordnung sind
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sie beeinflusst durch soziale und individuelle Merkmale, das Alter und die Form(en) der Zusammenarbeit“ (ebd.). Zusammenfassend muss den Autorinnen zugestimmt werden, wenn sie feststellen, dass eine differenziertere Auseinandersetzung mit Kinderperspektiven in der Zusammenarbeit von Schule und Familie, vor allem unter der Fragestellung der Reproduktion von Ungleichheit, bisher nicht stattgefunden hat. Diese Feststellung ist umso bedeutsamer, als die Projektgruppe um Betz damit nicht der lange geübten Praxis folgt, die gerade im Kontext des „Parental Involvement“ üblich war, Studien aus anderen Ländern ohne Überprüfung und Diskussion ihrer Transferierbarkeit zu zitieren und daraus Schlussfolgerungen für Theorie und Praxis der hiesigen „Elternarbeit“ zu ziehen.
2.2.7 Zusammenfassende Diskussion Welche Beiträge haben welche Erkenntnisse für die Debatte um schulische „Elternarbeit“ und die Sicht von Schülerinnen und Schüler darauf erbracht? Wie sind sie zu bewerten? Sachers (2008) erwartungswidrige Forschungsergebnisse (s. o. Abschnitt 2.2.2) dürfen ohne Weiteres als auffälligstes Indiz einer Debatte gewertet werden, die noch in den Anfängen steckt: Vermutlich wurde ein in diesem Themengebiet renommierter Professor der Schulpädagogik vom „Stiftungspakt Bayern“, einer Public Private Partnership aus Landesregierung und 143 Unternehmen, mit einem Modellprojekt zur schulischen „Elternarbeit“ beauftragt, das den Titel „Vertrauen in Partnerschaft“ trägt, dessen Ergebnisse aber eine weitgehende Ablehnung des Modellprojekts von Seiten der Schülerinnen und Schüler dokumentierten, ohne dass sie in der Dokumentation auftauchen (vgl. Sacher 2013a, 2013b; Staatsinstitut 2008). Dieses Modellprojekt weist Merkmale einer Governancestrategie auf, die in dieser Arbeit mit dem Begriff der „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ verbunden werden (s. o. Abschnitt 2.1.2). Die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler spielen in diesem Steuerungsversuch offenbar keine große Rolle. Allerdings ist ein anderer relevanter Akteur der heutigen Bildungspolitik, die Bertelsmann-Stiftung, Drittmittelgeber der Studien von Tanja Betz und Mitarbeiterinnen (s. Betz/Eunicke/Kayser 2015), sodass in der Hinsicht möglicherweise Veränderungen zu erwarten sind. Im Folgenden werden die in der Rezeption der Literatur gewonnenen theoretischen und empirischen Erkenntnisse zur kindlichen Perspektive auf schulische „Elternarbeit“ und zur sozialen Strukturierung des Umfelds kurz
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
umrissen, stichwortartig markiert und mit Verweisen versehen, damit ein Überblick entsteht, aus dem heraus Desiderata sichtbar werden können. Dabei werden auffällige Aspekte kritisch diskutiert. Der erste Versuch, die SchülerInnen-Perspektive mit einzubeziehen, ohne sie auf den unbestimmten Rechtsbegriff des „Kindeswohls“ zu reduzieren, geht von der Schweizer Forschungsgruppe um Neuenschwander aus, die zwar ebenfalls vom Kindeswohl sprach (Neuenschwander/Blamer/Gasser-Dutoit et.al. 2005: 16), sich aber dennoch der Mühe unterzog, einige Jugendliche selbst zu interviewen (s. o. Abschnitt 2.2.1). Sachers (2008) Befragung bayrischer Schülerinnen und Schüler stellte darüber hinaus die Entwicklung der SchülerInnen-Wahrnehmung von der Primarstufe zur Sekundarstufe dar. Wohlkingers Forschung zum Übergang fundiert die Vermutung, dass Schülerinnen und Schüler über Einfluss in Fragen der Schulwahl verfügen, und zwar nicht nur auf ihre Eltern, sondern zumindest auch auf Peers, vermutlich auch auf Lehrkräfte (s. o. Abschnitt 2.2.5). Er diskutiert Gegenargumente zur Berücksichtigung von Kindern in der Übergangsforschung und weist sie als unzutreffend oder vereinseitigend zurück. Die Projektveröffentlichungen von Betz u. a. schließlich geben einen aktuellen Überblick über die internationale Forschung zum Thema und formulieren zentrale Topoi zum Thema. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen, aufeinander bezogen: Erstens: Zehnjährige Kinder verfügen zumindest über ein Grundverständnis für Entscheidungen, die eine hohe Bedeutung für ihr gesamtes späteres Leben haben, wie die Entwicklungspsychologie feststellt; sie entwickeln Gestaltungswillen und Partizipations-Wünsche für Gespräche zwischen Eltern und Lehrkräften und befürworten eine Zusammenarbeit bei Fragen der Leistungsbeurteilung und des Schulübergangs. Zweitens: Kinder sind mit zunehmendem Grundschulbesuch immer mehr selbstständige Akteure, ihre Wünsche spielen, kontrolliert man Schulleistungen, Lehrerempfehlungen, Erziehungsziele und soziale Herkunft, eine relevante Rolle; sie entwickeln Autonomiebestrebungen bzw. Selbstvertretungsansprüche und beeinflussen die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften aktiv. Drittens: Der sogenannte „Verhandlungshaushalt“ ist in den meisten Familien – in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft – Basis des Zusammenlebens, er zeigt laut Familienforschung eine veränderte Eltern-Kind-Beziehung und verändertes Erziehungsverhalten; die Akzeptanz der Einflussnahme von Kindern durch die Eltern ist entscheidend dafür, inwieweit diese wirksam werden kann. Viertens: Schülerinnen und Schüler entwickeln eine generelle Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern und lehnen sie
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im zeitlichen Ablauf von der Primar- zur Sekundarstufe immer mehr ab, dabei nähern sich Jungen und Mädchen in der Wahrnehmung zunehmend an; sie befürchten vor allem Absprachen zu erzieherischen Maßnahmen. Fünftens: Die Erforschung der Perspektiven von Schülerinnen und Schülern ist von Strukturen der Kindheit nicht unbeeinflusst, isb. von sozialstrukturellen und generationalen Aspekten, außerdem von solchen der Bildungsungleichheit, sie macht neue Aspekte des Verhältnisses in der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule sichtbar, dabei ist von differenten Sichtweisen auszugehen. Die grundlegende Frage, inwieweit Kinder als Akteure wahrgenommen werden können, ist mit diesen Ergebnissen positiv beantwortet. Diese Erkenntnis gilt es sowohl theoretisch als auch empirisch zu vertiefen. Die Relationierung der kindlichen Einflussnahme zur erwachsenen Akzeptanz – von Wohlkinger nur für den familiären Verhandlungshaushalt festgestellt – betrifft natürlich nicht nur die Familie, sondern auch die Schule; aus schulpädagogischer Sicht ist deshalb zu fragen, welche Akzeptanz ihrer Einflussnahme kindliche Akteure dort erleben und wie sich dies auf ihre Selbstwahrnehmung, Positionierung und Einflussnahme auswirken könnte (vgl. Huf 2018). Aus der empirisch von Sacher über die Schuljahre nachgewiesenen wachsenden Ablehnung gegenüber schulischer „Elternarbeit“ und der zunehmenden Annäherung der Meinungen von Jungen und Mädchen ergibt sich die Frage, wie diese Tendenzen motiviert sein könnten. Zum einen werden vermutlich konkrete Erfahrungen in der individuellen Schulkarriere eine Rolle spielen, zum anderen muss gefragt werden, welche Einflüsse die Peers über den Zeitraum des Schulbesuchs in der Grundschule und der Sekundarstufe auf die Wahrnehmung ihrer MitschülerInnen in Sachen schulische „Elternarbeit“ ausüben. Die vorgestellten Ergebnisse werden durch die rekonstruktiven Untersuchungen von Helsper, Kramer und anderen AutorInnen (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009) gerahmt, vertieft und theoretisiert. In deren Mittelpunkt stehen zum einen die pädagogischen Generationsbeziehungen zwischen Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften, zum anderen die schülerbezogenen Habitusformationen. Sie stellen – als rekonstruktive Forschung – methodologische Begründung und Herleitung der Untersuchung auf eine andere reflexive Ebene: Anders als quantitative Forschung versuchen sie nicht, Konstruktionen und Interpretationen der Beforschten zu eliminieren (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 12 f), sondern begründen im Gegenteil ihre Konstruktionen mit Bezug auf diese primären Konstruktionen:
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht „Sozialwissenschaftliche Konstruktionen, Kategorien und Typenbildungen müssen an diese Konstruktionen und Typenbildungen des Alltags – den Common Sense – anschließen. Diese wissenschaftlichen Begriffsbildungen sind dann (sekundäre) Konstruktionen von implizit im alltäglichen Handeln immer schon vollzogenen Konstruktionen. Entsprechend ist auch das Verhältnis qualitativer Methoden der Sozialwissenschaft zu ihrem Gegenstand zu charakterisieren: Es ist per se rekonstruktiv“ (ebd.: 12).
Daher wird die Darstellung dieser Ergebnisse hier getrennt von den bereits vorgestellten quantitativen und interpretativen Ergebnissen vorgenommen, gleichwohl werden sie aufeinander bezogen. Die rekonstruktiven Untersuchungen werden auch in ihrem methodischen Vorgehen rezipiert, da sie einen anderen Bezug zum Forschungsgegenstand und zu den Beforschten herstellen. So legen beide Studien ihr Sampling qualitativ an, d. h. sie nehmen eine gezielte Auswahl von Schulen vor, um dadurch das seggregative deutsche Schulsystem näherungsweise abzubilden, natürlich unter Berücksichtigung der erforderlichen Forschungspragmatik (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009: 70; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 57); ihre theoretischen Bestimmungen zum Forschungsgegenstand sind immer vorläufig, um eine möglichst offene, sensibilisierende Heuristik zu ermöglichen (vgl. Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009: 65; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 51) und sie thematisieren das Verhältnis zwischen ForscherInnen und Beforschten als relevanten Aspekt der Gegenstandskonstitution, zumal es sich um Jugendliche und Kinder handelt, und ziehen Schlüsse für ihre Methodik (vgl. Helsper/ Kramer/Hummrich/Busse 2009: 75; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009: 58 ff). So reflektieren die AutorInnen der Studie, die zehnjährige Kinder interviewen, ihre Interviewkonzeption als „[…] eine ideale und sehr fragile Konstruktion, die Widersprüche und Spannungsmomente enthielt, die nicht aufzulösen, sondern eher auszubalancieren waren. Ein solches Spannungsmoment resultierte z. B. daraus, dass die sprachlichen und biografisch-reflexiven Fähigkeiten, die bei Kindern sehr unterschiedlich entwickelt sind, vorauszusetzen waren. Sie betrafen aber auch das sich quasi automatisch einstellende Generationenverhältnis in der Interviewsituation (das interviewte Kind und der interviewende Erwachsene) oder den Umstand, dass vermutlich eine Erzählaufforderung wie die hier verfolgte – also die Aufforderung einer längere Zeiträume übergreifenden lebensgeschichtlich orientierten Darstellung – für viele Kinder ganz neuartig war“ (ebd.: 60).
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Gleichwohl sind die Gegenstandskonzeptionen beider Studien elaboriert und bilden komplexe Beziehungen zwischen Schule und Familie, Individuellem und Kollektivem, Generationalem und Sinnbezogenem ab. Für die Darstellung und Diskussion der Beziehungen zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Eltern bzw. Lehrkräften greifen sie auf Oevermanns Bestimmungen der Familie als diffuse Sozialbeziehung und der Schule als dyadisches Arbeitsbündnis zurück (s. o. Abb. 2.7), die sie mit Honneths Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der Solidarität verbinden. Die Sinnebenen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären (s. o. Abb. 2.4) übertragen sie für den Komplex des Generationalen in ein Mehrebenenmodell, das auf der ersten Ebene Akteure bzw. Indviduen, auf einer zweiten Ebene Generationsbeziehungen, auf einer dritten Generationsmilieus und -institutionen sowie auf einer vierten gesellschaftliche Generationsverhältnisse differenziert. Es gilt, für diese Untersuchung zu diskutieren, welche Aspekte der komplexen Rahmungen aufgegriffen werden könnten und welche nicht. Unterschiedliche Formate kindlicher schulbezogener Habitus’ sind das Ergebnis der Studie zum schulischen Übergang (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009), typisiert in vier grundlegend unterschiedlichen „Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata“ (ebd.: 131) zur Bildung zwischen Exzellenz, Streben, Konformität und „Bildungsferne“. Damit billigt diese Studie – ganz basal – Schülerinnen und Schülern einen Akteursstatus in der Institution Schule zu, wie es Neuenschwander und Wohlkinger auch getan haben, wenn auch mit ganz anderen Begründungen. Wichtig für das richtige Verständnis dieser Habitusformen ist die absolute Gleichsetzung, die von Seiten der AutorInnen zwischen Bildung und Schulbildung, Bildungssystem und Schulsystem, Bildungserfolg und Schulerfolg vorgenommen wird. Sie ist keineswegs selbstverständlich, wenn man die geläufige Differenzierung des Bildungsbegriffs – dieses „Kernbegriff[s] der Erziehungswissenschaft und Pädagogik“ (Horn/Kemnitz/Marotzki/Sandfuchs 2012a: 154) zwischen formeller, nicht-formeller und informeller Bildung (vgl. Böllert 2008; Krüger 2016) bzw. zwischen formaler, non-formaler und informeller Bildung (Maschke/Stecher 2018: 153). „Informelle Bildung ist ungeplantes, keinem Lehr-, Erziehungs- oder Hilfeplan folgendes Lernen, das zumeist als Kompetenzerwerb im Alltag von Familien, im Freundeskreis und in der Freizeit beschrieben wird. Formelle Bildung hat ihren Ort in erster Linie im Schul- und Ausbildungssystem. Hierbei handelt es sich um geregelte Bildungsprozesse, die umfänglichen Vorgaben folgen, Bildungslaufbahnen begründen und deren Erfolg nach festgelegten Kriterien geprüft und zertifiziert wird. Jenseits des formellen Schul- und Ausbildungssystems finden geplante und gewollte Bildungsprozesse in nicht-formellen Bildungsbereichen wie der Kinder-
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht und Jugendhilfe statt. Diese werden ebenfalls professionell gestaltet, die Teilnahme daran geschieht aber zumeist auf freiwilliger Basis, sie wird in aller Regel nicht bescheinigt und benotet, Bildung ist hier stärker an den jeweiligen Bedingungen des Einzelfalls denn an verallgemeinerbaren Inhalten orientiert“ (Böllert 2008: 10).
Mit der Differenzierung des Formalisierungsgrads von Bildung ist häufig eine Hierarchisierung verbunden, die sich unschwer auf die Bedeutung von Schulabschlüssen und -zeugnissen als Zugangszertifikate zum Arbeitsmarkt und seinen Sektoren zurückführen lässt; über die tatsächlichen Bildungsleistungen der verschiedenen Bildungssektoren ist damit nichts ausgesagt; es gibt Schätzungen, nach denen Bildung nur zu 30 Prozent im formellen Sektor stattfindet (ebd.). Daraus ist für diese Studie zu schlussfolgern, dass wir es nicht mit einem bildungsbezogenen, sondern zunächst mit einem schulbezogenen Habitus zu tun haben, ferner, dass Forschungsfeld und -gegenstand genau bestimmt werden müssen, um solche implizierten Verständnisse bzw. Missverständnisse zu vermeiden. Diese Differenzierung ist umso wichtiger, als die Frage nach der Akzeptanz kindlicher Einflussnahme in der Schule eine völlig andere Relevanz bekommt, wenn man sie im Kontext von Bildung stellt, denn Bildung ist ohne Beteiligung der Lernenden gar nicht zu denken, sie wird nicht zufällig als „Umgang mit Schlüsselproblemen“, „Selbstständigkeit im Denken“, „Emanzipation“, „Kritik“ und „skeptisch-kritische Haltung“, gar als „Lebenskunst“ apostrophiert (vgl. Horn/Kemnitz/Marotzki/Sandfuchs 2012a: 155). Entscheidendes Ergebnis dieser Studie ist nicht nur der Nachweis schulbezogener Habitusformationen bei zehnjährigen Grundschulkindern, sondern auch deren grundlegende Formbarkeit und Beeinflussbarkeit als konturierte „Frühformen“, die sich in Entwicklung befinden (Kramer/Helsper/Thiersch/ Ziems 2009: 131, 192, 202). Ihr schulbezogener Habitus kann durch problematische Passungen unter Transformationsdruck geraten, eingeschränkte familäre Passungsmöglichkeiten können für die Kinder zur Habitusinkonsistenz führen (ebd.: 202, 209). Das gilt insbesondere auch für die individuellen und kollektiven Orientierungsrahmen und ihre positiven und negativen Horizonte als Kern des individuellen bzw. kollektiven Habitus, sie bringen die Perspektiven der Beforschten pointiert zum Ausdruck. Die Beziehung zwischen Milieu und Habitus wird nur beiläufig thematisiert und bleibt – von einigen Analogien abgesehen – im Grunde unbestimmt: „Obwohl wir nicht die familiären Lebenslagen und Milieus rekonstruieren konnten und auch keine Studie zum geforderten ‚sekundären Habitus‘ der Aufnahmeschulen durchführten […], können diese kindlichen Habitustypen zu Milieu- und Lebensstilstudien zwischen den Polen einer distinktiven Absetzung, verschiedenen
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Varianten der Strebenden sowie zu den Formen der Angepasstheit und Notwendigkeit in Beziehung gesetzt werden […]. Damit aber bleibt unsere Studie nicht individualistisch begrenzt, sondern kann mit der durch die Fallkontrastierung der individuellen Orientierungsrahmen gewonnenen Habitustypologie genau die Nahtstelle zu sozialen Milieus und Lebenslagen herausarbeiten“ (ebd.: 210).
Diese „Nahtstelle“ wird hier nur theoretisch bestimmt und bedarf empirischer Bezüge und Fundierungen. Dies geschieht teilweise in der zweiten Studie aus Halle-Wittenberg, deren Gegenstand die jugendliche Autonomieentwicklung zwischen pädagogischen Generationsbeziehungen in Schule und Familie mit je unterschiedlichen Passungen ist (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Die AutorInnen sehen Passungen zwischen Schulen und Milieus, die zwischen dem schulisch geforderten sekundären Schüler-Habitus und dem familial geprägten primären Habitus stattfinden und keinesfalls immer harmonisch sind (ebd.: 275 f); sie verdichten sich zu sogenannten Institutionen-Milieu-Komplexen. Dieses Modell wird in der Bildungssoziologie als hilfreich gesehen, in der Bildungsforschung teilweise kritisiert (s. u.): „Gerade in dieser Verortung von Schulen in sozialen Milieus liegt ein besonderer Gewinn, weil damit empirisch eingeholt und auch symbolisch ausgedrückt werden kann, wie Bildungseinrichtungen von bestimmten Milieus regelrecht bewohnt werden – und sich dadurch für andere Milieus gerade als ‚unbewohnbar‘ erweisen konnen“ (Bremer 2012: 839).
Die damit jeweils verbundenen pädagogischen Beziehungen in den Familien und Schulen werden in der Untersuchung grundlegend als generationale strukturiert, und zwar auf Basis eines Mehrebenen-Modell, das zwischen Akteuren, Beziehungen, Institution(alisierungen)en und gesellschaftlichen Verhältnissen differenziert. Dazu wird eine Gegenstandskonzeption entwickelt, in der die Beziehungen zwischen Kind bzw. Jugendlichem und den Eltern einerseits, den Lehrkräften andererseits als Dreieck angelegt sind, so dass die ältere und die jüngere Generation auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet sind und die Beziehungen in ihrer Sinnstruktur jeweils in Reales, Symbolisches und Imaginäres differenziert werden. Die AutorInnen beschreiben dieses Dreieck als „Passungsverhältnis zwischen zwischen familialen und schulischen Generationsbeziehungen“ (ebd.: 64), sie lassen dabei die Beziehungen zwischen der älteren Generation – Eltern und Lehrkräften – unbestimmt. Passungsverhältnisse stehen im Zentrum der Studie, in der als allgemeines Ziel formuliert wird, man wolle „Passungskonstellationen von Familie und Schule“ (ebd.: 63) herausarbeiten, und die als relevantes Teilziel angibt, „eine
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
Kontrastierung und Vermittlung der familial- und der schulischpädagogischen Generationsbeziehungen im Sinne differenter Passungsvarianten und der darin eingelagerten Konsequenzen für die jugendliche Biografie“ vorzunehmen (ebd.: 64). Der Begriff der Passung suggeriert eine Affinität mit seiner umgangsprachlichen Verwendung, dass etwas „passe“ oder „nicht passe“, daraus resultiert auch die Vorstellung einer Passung als harmonisch. Aber auch als wissenschaftlicher Begriff ist „der Begriff der Passung in vielen Zusammenhängen bisher theoretisch unterentwickelt geblieben, sodass eine Schärfung des Konzeptes noch aussteht“ (Möller 2016: 1). Das führt zu Missverständnissen, die hier am Beispiel einer Kritik von Sandra Rademacher und Andreas Wernet (2014) diskutiert werden, die sich – fünf Jahre später – gegen den Begriff der Passung richten; sie kritisieren ihn, weil sein „Kernmodell“ aus Bourdieus Analyse des Bildungssystems stamme, in dem der universalistische Anspruch der Schule negiert und als ideologisch kritisiert werde; seine Analyse behaupte, die schulischen Anforderungen ‚passten‘ zu den sozialen Klassen mit kulturellem Kapital, sie ‚passten nicht‘ zu den Klassen ohne kulturelles Kapital (Rademacher/Wernet 2014: 171). Helsper und Kramer, so die Kritik weiter, würden zwar – empirisch triftig – eine Analyse der Passungen von Schulkultur und Schüler-Habitus vornehmen, sie würden aber durch den Vergleich der Passungen zwischen unterschiedlichen Schulen und Milieus die zugrunde liegende „Ebene des schulischen Leistungsuniversalismus“ (ebd.) unterschlagen. Diese Kritik von Rademacher und Wernet vereinfacht den Passungsbegriff allerdings, da sie die Rezeption Boudieus, aber auch die des Passungsbegriffs bei Helsper und Kramer nicht weit genug treiben; wir wollen uns hier zunächst auf die beiden letztgenannten Autoren konzentrieren27: Diese sprechen immer von unterschiedlichen Passungen, Passungsvarianten und Passungskonstellationen (s. o., vgl. auch Kramer/Helsper 2010; Kramer 2011; Möller 2016), die harmonisch, komplementär, konflikthaft, krisenanfällig oder antagonistisch sein können.
27Rademacher
und Wernet kritisieren auch den Begriff des Schülerhabitus grundsätzlich, belegen damit aber gleichzeitig die hier geäußerte Kritik an ihrer Kritik des Passungsbegriffs: „In gewisser Weise unterstellt diese Konstruktion einen Idealzustand, der darin besteht, dass Schulkulturen und Herkunftsmilieus derart aufeinander abgestimmt sind, dass sich homogene, reibungsfreie Zugehörigkeiten ergeben. Dies setzt wiederum voraus, dass wir überhaupt mit homogenen, ungebrochenen und insofern ‚passenden‘ Herkunftsmilieus rechnen können“ (Rademacher/Wernet 2014: 159).
2.2 Perspektiven der Schülerinnen und Schülern auf „Elternarbeit“
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„Damit wird die relativ dichotome These Bourdieus ausdifferenziert, der von einem sekundären Schülerhabitus als Erfordernis des schulischen Feldes ausgeht, der zu den primären Habitusfigurationen der Kinder zwischen einem Passungs- und Abstoßungsverhältnis oszillieren kann: Demgegenüber gehen wir davon aus, dass in unterschiedlichen Schulkulturen je spezifische Schule-Milieu-Passungen bzw. Schule-Milieu-Abstoßungen entstehen. Der feldspezifische sekundäre Habitus der Schule kann somit sehr unterschiedliche Formen annehmen. Die Deutlichkeit und Stärke der Schule-Milieu-Homologie und -Passung kann allerdings schwanken: Schulkulturen können […] enge Korrespondenzverhältnisse mit spezifischen Milieus aufweisen. Sie können aber auch offener und milieuunspezifischer gestaltet sein“ (Kramer/Helsper 2010: 110).
Abb. 2.12 Antinomische Beziehungen zwischen Familie und Schule (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009: 38)
Kramer (2011) argumentiert, dass je nach Grundtyp des Habitus „eher harmonische und ergänzende oder aber konflikthafte und antagonistische Passungen“ vorlägen (ebd.: 105), und verweist auf die Theorie der kulturellen Passung von Bourdieu und Passeron. Demnach sei der schulische Erfolg nicht auf „Begabungen“ zurückzuführen, sondern auf eine mehr oder weniger große Affinität zwischen „den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse“ (Kramer 2011: 86) und den Anforderungen des Bildungssystems; die dort geforderten Kenntnisse und Techniken seien immer mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen verbunden, die für die Angehörigen bestimmter Klassen in einem Gegensatz zu denen ihrer „Herkunftsklasse“ (ebd.) stünden.
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„Damit ist von Bourdieu und Passeron die These der kulturellen Passung expliziert, die sich mit unterschiedlicher Nähe oder Distanz zu den Anforderungen des Bildungssystems für Angehörige verschiedener sozialer Klassen herstellt“ (Kramer 2011: 86).
Diese These der kulturellen Passung und die damit angesprochene Nähe bzw. Distanz zwischen schulischen Anforderungen und Herkunftsklassen und -milieus lässt sich nicht auf den von Rademacher und Wernet beschriebenenen Gegensatz von Passung oder Nichtpassung reduzieren. Um die Bezüge zwischen Schule und Familie zu verdeutlichen, stellen Helsper, Kramer, Hummrich und Busse außerdem ein Schema vor (s. Abb. 2.12), das die grundlegenden Beziehungen zwischen Familie und Schule antinomisch darstellt; es greift dazu Oevermanns Bestimmungen auf, die sich wiederum auf Talcott Parsons „Pattern Variables“ beziehen (Helsper 2012a: 457). Schule und Familie besetzen demnach unterschiedliche Positionen in der Spannung von Individualität und Universalismus, Emotionalität und Rationalität, Nähe und Distanz, Diffusität und Spezifik. Dabei werden auch die Passungsverhältnisse explizit thematisiert: „In der wechselseitigen Bezugnahme entstehen somit unterschiedliche Passungskonstellationen, in denen sich Überlappungen und Entsprechungen jeweiliger Beziehungslogiken, aber auch Konflikt- und Widerspruchszonen niederschlagen […]. Mit diesem Schema [s. o. - KS] kann also die vereinseitigte strukturfunktionale Perspektive einer Familie-Schule-Dichotomie überwunden und Ansätzen Rechnung getragen werden, die auf die Differenziertheit familialer und schulischer Beziehungen eingehen“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 39).
Damit muss die oben dargestellte Kritik in diesem Punkt als entweder uninformiert oder undifferenziert zurückgewiesen werden, denn der schulische Universalismus wird von Helsper und Kramer explizit berücksichtigt und thematisiert, aber auch relativiert28. Ein letzter relevanter Gesichtspunkt in der Darstellung des derzeitigen Forschungsstands zur Frage nach kindlichen Perspektiven auf schulische „Eltern-
28Die
hier geäußerte Kritik am Begriff der Passung sollte Überlegungen Platz schaffen, inwieweit es sinnvoll ist, dass er rückübersetzt und in Anlehnung an den originären Begriff Bourdieus „ajustement“ als „Justierung“ bezeichnet wird. Der Begriff betont den Vorgang der Anpassung und behauptet keine ‚passende Passung‘, allerdings ist seine Verwendung bisher technisch geprägt.
2.3 Desiderata
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arbeit“ ist die Bezugnahme der rekonstruktiven Studien auf den Entwicklungsaspekt in der Individuation der Schülerinnen und Schüler: In der Studie zur Stellung der Jugendlichen in den generationalen Beziehungen von Familie und Schule wird dieser Aspekt als Adoleszenz und Autonomie-Entwicklung thematisiert (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 72, 322), in der Studie zum schulbezogenen Habitus von Kindern als Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept der Kinder, aber auch über die Peerbeziehungen (vgl. Kramer/Helsper/ Thiersch/Ziems 2009: 28 ff). In beiden Studien werden die Wechselwirkungen zwischen dem jeweils beforschten biografischem Ereignis und der individuellen Entwicklung als komplexe, nicht-lineare Prozesse entwickelt und gekennzeichnet, die der Aufmerksamkeit und Integration bedurften. Im Folgenden werden im Anschluss an diese Darstellung des Forschungsstands relevante Forschungslücken identifiziert, um, darauf aufbauend, im nächsten Kapitel Erkenntnisinteresse und Forschungsfrage dieser Studie zu präzisieren.
2.3 Desiderata Die offenen Fragen und Forschungslücken werden anhand der bereits zu Beginn formulierten Fragen zusammengefasst: Welche Stellung nehmen Schülerinnen und Schüler in den Gegenstandstheorien zur schulischen „Elternarbeit“ ein? Was wissen wir heute über ihre Haltung zur „Elternarbeit“? Wie werden sie als Akteure zum einen in die Theoriekonstrukte, zum anderen in die Forschung einbezogen? Welche Ausgangslage für weitere Forschung zum Thema ist vorzufinden? Fasst man den derzeitigen Forschungsstand zur SchülerInnen-Perspektive in Bezug auf das organisationale Konstrukt schulischer „Elternarbeit“ zusammen, ist festzustellen: In theoretischen Reflexionen wird die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften immer wieder mit dem Hinweis auf Kinder und Jugendliche begründet, ebenso in praxisbezogenen Konzepten, und teilweise mit dem unbestimmten Rechtsbegriff des Kindeswohls legitimiert; nirgendwo werden diese jedoch als aktive Akteure anerkannt und in dieser Rolle konzeptionell integriert. Mehr noch: In den bisher diskutierten theoretischen Konstruktionen findet sich keine konsistente Gegenstandstheorie für die Zusammenarbeit, insofern hat es seit Krumms Bestandsaufnahme, es gebe nur „wenige theoretisch gut fundierte Texte über Elternarbeit“ (Krumm 2009: 596), keine grundlegende Veränderung gegeben. Der Denkansatz des „Parental Involvement“ brachte unterschiedliche Ansätze hervor, die, wie andere Konzepte auch, den Kindern bzw. Jugendlichen als „Zielgruppe“ einen Platz einräumten (vgl. Sacher 2014, Wild/Lorenz 2010),
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2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
die aber die inhärenten Widersprüche zwischen Theorie- und Praxiskonzept sowie zwischen Professionalisierung und Governance nicht lösten – mit Auswirkungen auf die Berücksichtigung der Schülerinnen und Schüler. Neuere Konzepte zur „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ (Stange/Krüger/Henschel/Schmitt 2012) entwickeln als Governance-Strategien allem Anschein nach eine zunehmende Entfernung von den Betroffenen, Kindern wie Eltern (vgl. Betz/Bischoff 2018). Dem Forschungszusammenhang um Neuenschwander gebührt das Verdienst, Jugendliche schon vor über zehn Jahren zum Thema befragt zu haben, Werner Sacher, seine offensichtlich erwartungswidrigen Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und zumindest für die eigene Systematik Konsequenzen daraus gezogen zu haben. Eine Integration der Schülerinnen und Schüler als Akteure steht in der Gegenstandstheorie zur schulischen „Elternarbeit“ jedoch aus. Daher formulierte Tanja Betz 2015 zu Recht (s. o. Abschnitt 2.2.6), dass es interessant wäre „den Fokus in der Debatte und der darauf bezogenen Forschung zur Zusammenarbeit verstärkt auf die Kinder zu legen, die hierbei als soziale und eigenwillige Akteure zu konzeptualisieren wären“ (Betz 2015: 49). Die bisherigen Interpretationen und Rekonstruktionen der kindlichen Perspektive fundieren, ungeachtet aller Unterschiede, die Erkenntnis, dass es eine eigenständige kindliche Perspektive auf schulische „Elternarbeit“ gibt, die zusammenfassend so formuliert werden kann: Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus nehmen schulische „Elternarbeit“ wahr, fühlen sich davon betroffen, entwickeln, geschlechtsspezifisch und vermutlich auch milieuspezifisch unterschiedlich, zunehmend skeptische Meinungen und Standpunkte, versuchen Einfluss zu nehmen, auch auf ihre Peers, und müssen Auswirkungen der sogenannten „Elternarbeit“ bewältigen. Die Autorinnen und Autoren teilen dabei überwiegend die Kritik am Rational-Choice-Paradigma (vgl. auch Kramer/ Helsper 2010; Becker 2011b), in dem die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler den Familien zugerechnet und damit ‚entscheidungslogisch‘ zum Verschwinden gebracht werden, wie die Diskussion um den Übergang in die Sekundarstufe zeigte. Die unterschiedlichen Zugänge der Interpretationen und Rekonstruktionen, zum Teil quantitativ, zum Teil rekonstruktiv, führen dazu, dass sie ihren Forschungsgegenstand nicht immer systematisch thematisieren und diskutieren. Die Reflexionen zur generationalen Beziehung zwischen ForscherInnen und Beforschten und zum Forschungskontext fallen ganz unterschiedlich aus, sie zeigen in den rekonstruktiven Fallstudien eine deutliche Perspektivenerweiterung von der Schulpädagogik auf die Kindheitsforschung. Welche Forschungslücken, offenen Fragen und Desiderata gibt es, wenn die Sichtweisen von Schülerinnen und Schülern auf das organisationale Konstrukt schulischer „Elternarbeit“ in den Blick genommen werden?
2.3 Desiderata
73
Erstens ist festzustellen, dass das Thema mit Ausnahme der genannten Studien bis heute nicht eingehender untersucht und dargestellt wurde, die beiden Studien beziehen sich z. T. auf Jugendliche, zum Teil auf Kinder und Jugendliche, sie sind bereits älter und weisen methodische Mängel auf (s. o. Neuenschwander/ Balmer/Gasser-Dutoit et.al. 2005; Sacher 2008b). Die Forschungsgruppe um Betz hat sich die Relationierung der Perspektiven von Fachkräften, Lehrkräften, Eltern und Kindern unter der Fragestellung von Bildungsungleichheiten zum Ziel gesetzt (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017a, 2017b). Aus dieser Richtung sind unter den vorgegebenen Perspektiven mit Sicherheit neue, fundierte Erkenntnisse zu erwarten. Darüber hinaus ist im Kontext des Übergangs von der Primarzur Sekundarstufe die Konstellation von Kindern, Eltern und Lehrkräften wiederholt und mit unterschiedlichen Zugängen beforscht worden, fokussiert auf die Übergangsentscheidungen als einem hochbrisanten ‚Ereignis‘ der individuellen Grundschulkarrieren. Damit stellt sich nach wie vor die Aufgabe, kindliche Wahrnehmungen der Zusammenarbeit von Erwachsenen im Kontext von Schule genauer in den Blick zu nehmen und insbesondere zu untersuchen, inwieweit Kinder bzw. Jugendliche sich selbst als Akteure in Schule und Familie sehen, welche Vorstellungen sie damit verbinden und wie sie sich selbst und ihre Peers dazu positionieren (vgl. Machold 2018). Das betonte schon 2008 Kramer, als er feststellte, für die Schülerseite bestehe größerer Nachholbedarf als für die der Lehrkräfte: „Wichtig wäre es, Schülerstudien zu den generationsspezifischen Habitusbildungen im Kindes- und Jugendalter durchzuführen“, vor allem auch „Studien, die das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zu Erwachsenen in der Schule unter dem Fokus der Partizipationsverhältnisse untersuchen“ (Kramer 2008: 710). Zweitens weiß man wenig über die Rolle der schulischen und außerschulischen Peers für die Wahrnehmung und Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen zur schulischen „Elternarbeit“; sie scheinen einen nicht unbedeutenden und wachsenden Einfluss auszuüben, wie sich aus den Daten von Wohlkinger (2014), aber indirekt auch aus der Sacher-Untersuchung von 2008 ablesen lässt: Schüleransichten zeigen bei zunehmendem Alter eine stark abnehmende Zustimmung, diese Entwicklung könnte auf direkte Erfahrungen, aber auch auf Einflussnahmen von Peers zurückgeführt werden. Insofern fehlt es an genaueren Erkenntnissen zu kollektiven Wahrnehmungen der Zusammenarbeit von Erwachsenen aus Sicht von Schülerinnen und Schülern. Drittens muss im Anschluss an die Ergebnisse von Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009) gefragt werden, ob und wenn ja, welche Aspekte habituellen Handelns und Wissens die Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen gegenüber schulischer „Elternarbeit“ bestimmen, ferner, inwieweit kindliche
74
2 Forschungsgegenstand: „Elternarbeit“ aus Kindersicht
ahrnehmungen bereits habitualisiert sind. Diese Frage ist umso interessanter, W als die Autorinnen selbst von Frühformen des Habitus sprechen, sodass hier Aspekte der Habitusbildung29 sichtbar werden könnten. Im Kontext der Peerbeziehungen wäre das eine Frage nach kollektiver Habitusbildung. Allerdings sind die methodischen Ansprüche an eine solche Untersuchung hoch, das hat die Rezeption der Studie deutlich gemacht. Viertens wird der Zusammenhang zwischen der sogenannten schulischen „Elternarbeit“ als Moment der jeweiligen Schulkultur und sozialen (Herkunfts-) Milieus sowie deren mögliche Wirkung auf die Wahrnehmungen von Schülerinnen und Schülern zwar immer wieder einmal angedeutet worden, aber nicht weiter thematisiert. In der Untersuchung von Wippermann u. a. (2013) werden die sozialen Milieus und ihren Differenzierungen sichtbar, die ForscherInnengruppe um Helsper begründet ihre jeweiligen Samples bewusst qualitativ (s. o. Abschnitte 2.2.3 und 2.2.4), um die strukturellen und sozialen Differenzierungen des deutschen Schulsystems abzubilden, aber eine systematische Berücksichtigung sozialer Faktoren und eine darauf ausgerichtete Forschung fehlt. Fünftens ist angesichts der methodischen Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Forschungsansätzen zu fragen, ob eine Befragung von Schülerinnen und Schülern geeignet ist, tieferliegende Einstellungen und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Die Typisierung, die Sacher (2008) vornimmt, hat keine hohe Aussagekraft, da sie Meinungen zu Typen korreliert, aber keine weitergehenden Einsichten ermöglicht, ob z. B. kollektive Einflüsse wirksam sind, wie sie wirken und wie sich kindliche Wissensformen eigentlich zum Ausdruck bringen. Eine Befragung ist außerdem bereits im Projekt „Educare“ vorgesehen, von dem erste Daten vorgestellt, aber noch nicht ausgewertet wurden (de Moll/Bischoff/ Lipinska/Pardo-Puhlmann/Betz 2016). Sechstens scheinen Erkenntnisse der Kindheitsforschung nur in manche Studien der Schulforschung einzufließen, hier in die rekonstruktiven Projekte aus Halle-Wittenberg (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009; Kramer/Helsper/ Thiersch/Ziems 2009) und bei der Frankfurter Forschungsgruppe des Projekts „Educare“ (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017a, 2017b), sodass eventuell ein Mangel weniger an Erkenntnissen als an Integration konzidiert werden muss. Eine „Symbiose zwischen empirischer Unterrichts- bzw. Schulforschung und der Kindheitsforschung“, wie sie Angela Bauer (2013: 39) sieht, ist für das
29Zum
Begriff der Habitusbildung siehe unten den Abschnitt 4.2.2.
2.3 Desiderata
75
hier diskutierte Thema noch nicht zu erkennen. Vielmehr gilt es, Helga Kelle in ihren Ausführungen zum Theorie-Empirie-Verhältnis und zu den methodischen Standards in der qualitativen Forschung ernst zu nehmen: „Im Feld der Schule hat man es mit starken theoretisch-programmatischen Vorgaben und einem vergleichsweise hohen Niveau der Selbstreflexion der Professionellen zu tun – deshalb ist es für die Forschung in diesem Bereich gar nicht so einfach, über diese professionellen Selbstbeschreibungen hinausgehende, weiterführende wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen. Und man hat es mit einem normativ hoch aufgeladenen Feld zu tun, in dem viele Theorien über die ‚richtige‘ Pädagogik und ‚guten‘ Unterricht kursieren, die in der Forschung nicht einfach dupliziert, sondern zum Gegenstand der Forschung gemacht werden sollten“ (Einsiedler/FöllingAlbers/Kelle et.al. 2013: 62).
Institutionelle Einschreibungen und Struktureinflüsse sowie ihre Wirkungen werden hier in zwei Aspekten thematisiert, der Reflexion der Professionellen und der normativen Aufladung im Forschungsfeld Schule. Das macht es notwendig, ein aufwändiges Forschungsverfahren zu wählen, das der Gefahr einer Vorbestimmung des Gegenstands durch die Schule und den Forscher entgeht. Insofern zeichnet sich für diese Studie ein Profil ab, die Wahrnehmungen von Schülerinnen und Schülern zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften im Peerkontext unter Einbeziehung von Ergebnissen der Kindheitsforschung im Kontext der Diskussion um einen schulbezogenen Habitus zu rekonstruieren. Mit diesem Profil ist dann auch die Wahl einer rekonstruktiven Methodologie und einer auf kollektive Kontexte bezogenen Methode verbunden.
3
Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Die Darstellung des Forschungsstands zur Kindersicht auf Elternarbeit hat deutlich gemacht, dass es unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema gibt, sowohl epistemologisch als auch methodologisch (vgl. Einsiedler/Fölling-Albers/ Kelle/Lohrmann 2013: 63, 66 f). Dabei lassen sich hypothesenprüfende, interpretative und rekonstruktive Ansätze unterscheiden. Hier geht es darum, das Erkenntnisinteresse dieser Studie zu formulieren und deren Fragestellung zu präzisieren, sodass eine zumindest vorläufig begründete Entscheidung für den methodologischen Zugang und die darauf bezogene Gegenstandsbestimmung fallen kann, auch wenn einschränkend gilt, dass der Gegenstand sich erst im Forschungsprozess entfaltet (ebd.: 73; Hummrich 2018: 206). Deshalb ist die erste Formulierung der Fragestellung und des Erkenntnisinteresses vorläufig, sie werden im Lauf der Forschung nachjustiert (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 3). In diesem Kapitel wird zunächst das Erkenntnisinteresse des Forschers im Zusammenhang seines sozialen Standorts diskutiert und entwickelt, dann die Forschungsfrage formuliert und das Forschungsfeld genauer dargestellt.
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität Das Erkenntnisinteresse dieser Studie wird im Folgenden, ausgehend von den persönlichen Interessen des Forschers, entwickelt und reflektiert, beginnend mit einer Diskussion seines spezifischen Standorts und seiner Fragestellung. Im zweiten Schritt werden zentrale Begriffe der generationalen Ordnung aus Sicht der Kindheitsforschung referiert und auf die Fragestellung bezogen, um zu einem Konzept differenzieller Zeitgenossenschaft zu gelangen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_3
77
78
3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
3.1.1 Biografische Standortgebundenheit Der Forscher ist durch ein doppeltes persönliches Interesse zur Forschung an der hier thematisierten Frage motiviert, das sowohl autobiografisch als auch berufsbiografisch bedingt ist. Wenn dieses doppelte Interesse hier reflektiert wird, dann im Vorgriff auf die Argumentation von Fangmeyer und Mierendorff (2017: 11), die eine „minimale Verschiebung des forschenden Blickens“ vorschlagen, um das Erwachsen-Sein des Forschers hinterfragen zu können. (s. u. S. 66). Die eigene Kindheit in einem Kinderheim als Kind der Heimleitung hat den Forscher ebenso beeinflusst wie die Geburt des Sohnes und andere, unerfüllt gebliebene Kinderwünsche. Diese biografischen Ereignisse haben die Aufmerksamkeit des Forschers – nicht zwangsläufig, aber mit zunehmendem Alter deutlicher – auf die Umgangsweisen zwischen Kindern und Erwachsenen innerhalb und außerhalb der Schule gelenkt. Lehramtsausbildung und langjährige Tätigkeit als Lehrkraft an Grund- und Hauptschulen sowie später als Sonderpädagoge an Förderschulen hat ihn – nicht zwangsläufig, aber mit zunehmendem Alter deutlicher – für die Zusammenarbeit mit Eltern interessiert und ihm Erfahrungen mit der Beteiligung bzw. Nicht-Beteiligung der betroffenen Kinder vermittelt. Daraus entstand das Interesse, neue Impulse für eine Gegenstandstheorie zur schulischen „Elternarbeit“ zu entwickeln, die Sicht der Schülerinnen und Schüler zu integrieren und damit schulischen Lehrkräften größere Professionalisierungschancen in diesem Bereich zu eröffnen (vgl. Schildmann 2006: 45 ff). Dieses persönliche Interesse kann und muss im Folgenden reflektiert werden, da „[i]n den Forschungsfragen, den Forschungsdesigns und den Ergebnissen […] eigene Kindheitserfahrungen, Berufserfahrungen und familiale Kontakte mit Kindern sowie gesellschaftliche Kindheitskonstruktionen eine wesentliche Rolle spielen und Übertragung von Erwartungen, Wünschen und Befürchtungen auftreten [könnten]“ (Heinzel 2012a: 26).
Dabei ist es nicht mit der Feststellung getan, dass Erwachsene und Kinder einander fremd seien. In der Kindheitsforschung wird „Kindheit […] eine sehr spezifische Fremdheit in der eigenen Kultur zugeschrieben“ (Fangmeyer/ Mierendorff 2017: 11). Offenbar handelt es sich um Sichtweisen, die „soziokulturell“ geprägt sind (ebd.). „Kindheitsforschung, auch die soziologische Variante, ist in diese kulturelle Überformung eingeschlossen, indem sie sich als eigenständige Akteurin, als institutionalisierte Instanz der Befremdung erweist. Für den Forschungsprozess
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
79
bedeutet all dies eine spezifische Standortgebundenheit des erwachsenen Forschers: Er, der eben nicht mehr Kind ist, scheint sein Erwachsen-Sein – qua sozialer Positionierung als Erwachsener – so nicht hinterfragen zu müssen, zu wollen, zu können“ (ebd.).
Fangmeyer und Mierendorff argumentieren, dass Forschung sich mit der Zuschreibung von „Fremdheit“ des Problems entledigt, das Verhältnis von Kindheit und Erwachsenheit näher zu bestimmen. Sie schlagen eine „minimale Verschiebung des forschenden Blickens, eine geringe (Neu-)Justierung der kindheitssoziologischen Analyseausrichtung hinsichtlich ihrer erkenntnisbezogenen Potentiale“ (ebd.) vor, und zwar mit Hilfe einer immer wieder zu überprüfenden Relationierung von Kindheit und Erwachsenheit. Dabei soll der zuletzt genannte Begriff nicht nur als „Gegenpol und Negation von Kindheit“ (ebd.: 14) dienen, auch wenn er – anders als „adulthood“ in der angloamerikanischen Forschung – „ein bisher nur lückenhaft benanntes und problematisiertes Phänomen“ (ebd.: 13) ist. Der Begriff der Standortgebundenheit lässt aufhorchen, denn er ist Teil der wissenssoziologischen Debatte und der methodologischen Grundlegung der Praxeologischen Wissenssoziologie. Insofern macht es Sinn, deren methodische Schlussfolgerungen – komparative Analyse und mehrdimensionale Typenbildung – als mögliche methodisch kontrollierte Relationierung von Kindheit und Erwachsenheit ernst zu nehmen. Es ist auch sinnvoll, bereits hier die eigene Beteiligung wissenschaftlich zu reflektieren und in der Formulierung des Erkenntnisinteresses dieser Studie zu berücksichtigen, ohne sie dadurch zu eliminieren. Dies kann durch die Thematisierung der eigenen „Standortgebundenheit“ (vgl. Mannheim 1969) geschehen, wie sie in der Wissenssoziologie thematisiert wird. Bezeichnet wird damit die soziale Einbindung von Wissenschaftlerinnen und Wissen im Allgemeinen, die die Perspektiven auf Gegenstände und Daten beeinflusst, nicht im Sinne einfacher Kausalitäten, sondern komplexer Repräsentationen (vgl. Schützeichel 2012: 20)1. Daher sind wissenschaftliche Erkenntnisleistungen nicht unabhängig von der Komplexität sozialer Strukturen und der Einbindung der Beteiligten, wie Andreas Wernet (2018) betont, und die Reflexion der hier angesprochenen spezifisch biografischen Standortgebundenheit lässt sich denn auch nicht im Sinne kontrollierter Rechenlegung erledigen. Wernet bezieht sich auf die P sychoanalyse
1Zur
Standortgebundenheit siehe auch die Abschnitte 3.1.1 und 4.1.1.
80
3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
und ihre Konzeption des Unbewussten und diagnostiziert für wissenschaftliches Erkennen ein „konstitutive[s] Spannungsverhältnis zwischen dem notwendigen Autonomieanspruch und der unhintergehbaren Nichtverfügbarkeit im Sinne einer notwendigen Kränkung dieses Anspruchs“ (ebd.: 128). Die (narzistische) Kränkung liege in der Wirkung und Mitwirkung nicht verfügbarer, unbewusster Motive und Verstrickungen der ForscherInnen, der Beforschten und der sozialen Kontexte, die trotz aller wissenschaftlichen Kontollmechanismen wirken und nicht nur den Anspruch auf Autonomie in Frage stellen, sondern indirekt auch den auf gesellschaftliche Nützlichkeit. Auch mit dieser Studie wird proklamiert, autonom zu forschen und mit den erwarteten Erkenntnissen einen Beitrag zur wissenschaftlichen Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften zu leisten und damit die eigene Bedeutung unter Beweis zu stellen. Aber die Thematisierung des Unbewussten fördert Fragen zutage, die den Fokus der Studie und ihre ‚Nützlichkeit‘ irritieren und möglicher Weise verändern: Wurde die hier verfolgte Fragestellung bisher deshalb so unzureichend behandelt, weil es auf Seiten der ForscherInnen, PraktikerInnen und Eltern den unbewussten Verdacht oder die ins Unbewusste abgedrängte Erfahrung aus der eigenen Kinderzeit gab, dass schulische „Elternarbeit“ Kinder bedrängt und ihnen eine „Bürde“ (BühlerNiederberger 2018: 34) auflädt? Hält die forschende Auseinandersetzung zu diesem Thema unangenehme Überraschungen bereit, die schon halb bewusst sind, nämlich eine deutliche Ablehnung von Seiten der Kinder oder ein Blick auf deren Bedrängnis? Hat die Institution Schule, die immer schon als „Zurichtung“ galt, wie Wernet (2018: 129) mit Max Weber feststellt, selbst solche unbewussten Anteile in den von ihr gestifteteten Beziehungen verankert und schreibt den Kindern implizit vor, wann sie sich selbstständig zu verhalten haben und wann nicht (vgl. Scholz 2009)2? Und nicht zuletzt: Schreibt sich der Forscher mit dieser Thematik eine „Mission“ zu, deren Implikationen nur bestimmte Ergebnisse im Hinblick auf den Ausgang des Projekts erlauben?
2„Bezogen
auf das Problem der Überich-Fixierung könnte man sagen: Die Neigung zur Identifikation mit dem Aggressor dient in der Schule der Abwehr von Schmerz und wird durch das ‚Abwehrbündnis‘ (Trescher, 1993, S. 191) mit der Institution eher stabilisiert. Die Übertragungsidentifizierungen führen dann im Unterricht zu einer Kampf- und Fluchtkultur, die durch die Zweckrationalität des Systems scheinbar gerechtfertigt erscheint – bezogen auf Mentalisierungsprozesse aber kontraproduktive Effekte erzeugt“ (Hirblinger 2009: 147).
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
81
Angesichts dieser Fragen ist Wernets (2018) Empfehlung zu folgen, nicht nur manifeste, sprich: bewusste, subjektiv verfügbare, sondern auch latente Sinnstrukturen, sprich: strukturbezogene, verdeckte, unbewusste3 in den Blick zu nehmen; dabei ist zu berücksichtigen, dass „[…] die latenten Handlungsmotive nicht nur eine eigenständige Realitätsebene neben den manifesten Sinnbezügen darstellen, sondern dass beide Sinnebenen in einer inneren, sinnstrukturellen Beziehung zueinander stehen“ (ebd: 136).
Die Untersuchung verortet das Erkenntnisinteresse mit Rücksicht auf die beschriebene Gemengelage aus autobiografischen, strukturellen und wissenschaftsbezogenen Reflexionen nicht nur in der schulpädagogischen Forschung, sondern auch im Kontext der Kindheitsforschung, eine Verortung, die auch angesichts des Forschungsstands und der festgestellten Desiderata Sinn macht und das Ziel verfolgt, die immer wieder angesprochenen Begriffe des Akteursstatus und der Perspektive von Kindern zu klären. Die folgende Darstellung wird diese Begriffe in ihrer aktuellen Fassung klären und auf das zentrale Konzept der „generationalen Ordnung“ beziehen, das das Thema kindlicher Wahrnehmung schulischer „Elternarbeit“ einschließt, so dass er für die Formulierung des Erkenntnisinteresses und der Forschungsfrage genutzt werden kann4.
3.1.2 Kindheitsforschung Kindheit als spezifische Lebensphase, als Schon- und Vorbereitungraum entstand erst mit der Einführung der Schulpflicht und dem Verbot der Kinderarbeit im 19. Jahrhundert, insofern „[…] ist historisch die Etablierung der Kindheitsidee als solche nicht von der Institutionalisierung der Schulkindheit zu tennen […]. Auch erscheint eine Aus-
3Der
Begriff der latenten Sinnstruktur wird hier – sicherlich ohne weiteren Einspruch von Seiten Wernets – nicht im engeren Sinne als Terminus technicus der Objektiven Hermeneutik verstanden, sondern als Verweis auf eine nicht offensichtliche, bar auf der Hand liegende, unbewusste oder implizite Sinnebene, wie ihn auch Bohnsack in seinen frühen Entwürfen genutzt hat (vgl. Ralf Bohnsack Nohl/Schäffer/Loos/Przyborski 2013: 14 ff). 4Im folgenden Text wurden kurze und teilweise umformulierte Textteile aus einem früheren Aufsatz des Verfassers verwandt (Stiller 2016).
82
3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse weitung der wissenschaftlichen Forschung, die ganz allgemein dem Gegenstand ‚Kindheit‘ und Kindern gilt, erst mit der massiven gesellschaftlichen Ausbreitung des sozialen Phänomens der Schulkindheit plausibel […]“ (Kelle 2009b: 464 f).
Mit der „Scholarisierung“ verband sich eine Ausdifferenzierung der sogenannten „Kinderwissenschaften“, zunächst Entwicklungspsychologie, Pädiatrie und Pädagogik, und der Sichtweisen auf Entwicklungskindheit respektive Erziehungskindheit (ebd.). Seit den 1980er Jahren werden Kinder als „Akteure“5 gesehen, zum einen im Kontext zunehmender Individualisierung, zum anderen in deutlichem Bezug zu Theorien vom Humankapital und „Sozialinvestitionsstaat“6. (Qvortrup 1993; Kelle 2009b; Krüger/Grunert 2010; Heinzel 2012a; Betz/Eßer 2016). Gleichzeitig entwickelt sich seit den 1970er Jahren die Grundschulpädagogik zu einer selbstständigen Disziplin (Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 11), die Kindheitsforschung verändert sich mit der Kritik am Entwicklungsparadigma hin zu einer stärker sozialwissenschaftlichen Orientierung, damit verbunden ist „ein veränderter Blick auf diese Lebensphase, der die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindheit in neue Bahnen lenkt“ (Krüger/Grunert 2010: 17). Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahren entwickelt sich mit der Soziologie der Kindheit und ihrer Kritik am Sozialisationsparadigma die sogenannte neue Kindheits-
5Jens
Qvortrup, Vertreter eines frühen Akteurskonzepts, nutzte 1993 im „Handbuch der Kindheitsforschung“ den Begriff des Akteurs und wies Marx W. Wartofsky als Urheber aus, der den Begriff bereits 1981 benutzt habe (Qvortrup 1993: 117). Marx W. Wartofsky (1928–1997), Philosoph an der Columbia University, veröffentlichte 1981 einen Aufsatz mit dem Titel „The Child’s Construction of the World and the World’s Construction of the Child“ in einem Sammelband von Frank S. Kessel und Alexander W. Siegel mit dem Titel „The Child and other Cultural Inventions“. 6Diese Sichtweise der Humankapitaltheorie (vgl. Becker 2011b: 26 f) betonten bereits die Herausgeber des Handbuchs der Kindheitsforschung Manfred Markefka und Bernd Nauk (1993), wenn sie nahelegten, die Konstituierung der Kindheit als eigenständiges Forschungsfeld hänge möglicherweise mit einer „Neubewertung des Humanvermögens“ zusammen: „Mit der bereits durch frühe Vorläufer von Humankapitaltheorien vermittelten Einsicht, daß Kinder eine Investition in den zukünftigen Reichtum einer Volkswirtschaft sind, wurde die Grundlage für die folgende dominante Perspektive gelegt: Kinder sind die zukünftigen Erwachsenen einer Gesellschaft“ (Markefka/Nauk 1993: IX). Betz und Bischoff (2018) aktualisieren diesen Kontext in ihrer Analyse einer „Kindheit unter sozialinvestiven Vorzeichen“ als Phänomen des „Sozialinvestitionsstaats, dessen Ziel Investitionen in das Humankapital sind, welches möglichst früh aktiviert und genutzt werden soll“ (ebd.: 49); auch Bühler-Niederberger (2018) sieht eine „Orientierung auf Humankapital als Basis gesellschaftlicher Teilhabe […]“ (ebd.: 32).
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
83
forschung, die „den Anspruch einer Bezugnahme auf die Perspektiven der Kinder selbst zunehmend einlöst“ (ebd.: 25, vgl. Heinzel 2012a: 23; Bühler-Niederberger 2018: 30). Diese childhood studies haben das „gemeinsame[…] advokatorische[…] Anliegen“ (ebd.), Kindern eine ‚Stimme‘ und mehr Einfluss in Politik, Institutionen und Bildungskontexten zu verschaffen. Allerdings sind die Konzepte der Sozialisationsforschung und der Soziologie der Kindheit nicht diametral entgegengesetzt, wenn man „unter Sozialisation Konstruktion als Eigenleistung des Kindes und nicht Prägung durch die Umwelt“ versteht (Oswald 2012: 15; vgl. BühlerNiederberger 2018: 29 f). Helga Kelle sieht grundlegend vier „analytische Gegenstandsperspektiven“ (Kelle 2009b: 466 ff) für ein Verstehen der Kindheit: • „Kindheit als Lebenslage“ entwickelt ein Kindheitsverständnis als soziale Strukturkategorie; • „Kindheit als Lebensphase“ versteht die Lebensphase stärker „als gesellschaftlich institutionalisierte Alterszugehörigkeit“; • „Kindheit als Lebensweise“ sieht und untersucht Formen kindlichen Lebens und kindlicher „Lebensführung“; • „Kindheit als Diskurs“ analysiert die Texte, Bilder und Reden, die explizit oder implizit Kinder und Kindheit konturieren und bewerten. Im Folgenden wird anhand zentraler Aussagen aus dem Buch „Methoden der Kindheitsforschung“ von Friederike Heinzel (2012a) als Vertreterin der Schulpädagogik eine Übersicht und Begriffsklärung entwickelt, die das Erkenntnisinteresse dieser Studie konkretisiert7. Heinzel betont, ein zentraler Anspruch der qualitativen Kindheitsforschung bestehe darin, die ‚Perspektive der Kinder‘ zu erfassen. Dafür müsse man zunächst anerkennen, „dass zwischen Kindern und Erwachsenen eine Perspektivendifferenz besteht, die aus den Handlungen rekonstruierbar ist“ (Heinzel 2012a: 23). Diese Perspektivendifferenz muss mehrdimensional verstanden werden, wie Honig, Lange und Leu (1999) darstellten. Sie plädierten dafür, „die ‚Perspektive des Kindes‘ als die bislang weitgehend vernachlässigte Kontextualität des Kinderlebens zu explizieren“ (ebd.: 13) und dabei das Verhältnis von „Entwicklungstatsache“ und „Erziehungstatsache“ im
7Eine
bestehende „Symbiose zwischen empirischer Unterrichts- bzw. Schulforschung und der Kindheitsforschung“, wie sie Angela Bauer (2013: 39) sieht, ist derzeit nach Wahrnehmung und Ansicht des Forschers kaum in Sicht, da die neuen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung noch nicht in ausreichendem Maß von Seiten der Schulforschung rezipiert worden sind.
84
3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Auge zu behalten, wie sie mit Bezug auf Siegfried Bernfeld formulierten. Sie hielten eine Perspektivität für relevant, die als „Methodologie generationaler Bezogenheit“ zu verstehen sei (ebd.: 22). Honig (1999a) kritisierte darüber hinaus den breiten und diffusen Gebrauch des Ausdrucks „Perspektive der Kinder“ und definierte den Begriff zunächst: „Die Rede von der ‚Perspektive des Kindes‘ ist methodologisch voraussetzungsvoll; faktisch ist von der ‚Perspektive des Kindes‘ meist empirisch und psychologisch im Sinne einer für Kinder charakteristischen, spezifisch gerichteten individuellen Wahrnehmung, eines Blickwinkels, einer Sichtweise oder eines Standpunkts die Rede, soll also die Struktur eines kindspezifischen Motivations- und Wahrnehmungszusammenhangs ausdrücken“ (ebd.: 35).
Er spezifizierte vier unterschiedliche Ansätze zur Konzeptionierung dieser Perspektive, und zwar • einen Ansatz, der „mit den Augen der Kinder“ (ebd.: 35) sehen will, historisch bedeutsam, reformpädagogisch, die Perspektivendifferenz voraussetzend; • einen zweiten Ansatz, in dem „das Kind als Fremder“ (ebd.: 38) gesehen wird, nämlich – mit Gerd E. Schäfer – als Entwurf der Erwachsenen; • einen dritten Ansatz, der die „Kontextualität von Identität, Wissen und Handeln“ (ebd.: 39) – mit Bezug auf George Herbert Mead – betont; • einen vierten Ansatz zum „Standpunkt der Kinder in der generationalen Ordnung“ (ebd. 41), der – mit Leena Alanen (vgl. Alanen 2005) – ein Machtdifferential thematisiert. Honig betonte, dass zwischen einer erkenntnistheoretischen und einer gegenstandstheoretischen Konzeption zu unterscheiden sei; die epistemologische sehe Kindheit als relationales Konzept, die gegenstandsbezogene differenziere zwischen einer genealogischen und einer identitäts- bzw. bildungsbezogenen Komponente (ebd.: 46). Die Perspektive der Kinder sei letztendlich eine die soziale Wirklichkeit nicht abbildende, sondern herstellende Perspektivität, die ein reflexives Strukturmerkmal der Verhältnisse zwischen Erwachsenen/Eltern und Kind darstelle. Das Konstrukt der kindlichen Perspektive sei in erster Linie aus dem advokatorischen Gehalt, der Parteinahme der sogenannten ‚childhood studies‘ zu verstehen, so Doris Bühler-Niederberger (2018: 31), die Kindern eine Stimme geben wollen und ihnen mit dem Konzept des kompetenten Akteurs auch Durchsetzungsfähigkeit gegen strukturelle Gegebenheiten zuschreiben, denn nur Kinder
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
85
könnten wissen, was es heißt, sich in der Position eines Kindes zu befinden (ebd.). Auch das Konzept der „generationalen Ordnung“, wie es von Leena Alanen (vgl. Alanen 2005) in die neue Kindheitsforschung eingebracht wurde, habe diesen advokatorischen Gehalt, so Bühler-Niederberger (ebd.). Der Gebrauch des Begriffs der kindlichen Perspektive bzw. SchülerInnenPerspektive in dieser Studie folgte bisher dem – eher umgangssprachlichen – Verständnis einer „für Kinder charakteristischen, spezifisch gerichteten individuellen Wahrnehmung, eines Blickwinkels, einer Sichtweise oder eines Standpunkts“, wie ihn Honig (1999a: 35) umrissen hatte. Mit diesem Sprachgebrauch vermittelte sich die Vorstellung der Existenz eines vorhandenen Ausschnitts sozialer Wirklichkeit, der durch Erhebung und Interpretation ohne Weiteres zugänglich gemacht werden könnte. Aber Heinzel hat, wie einige der im vorhergehenden Kapitel vorgestellten Studien, auf die Notwendigkeit der Rekonstruktion der Perspektivendifferenz von Kindern und Erwachsenen hingewiesen. „In Akten der Auslegung begreifen Menschen ihre Lebenswelt. Im Verhältnis zu diesem lebensweltlichen Verstehen ist sozialwissenschaftliches Verstehen eine Auslegung zweiter Ordnung. Genau darauf zielt der Begriff Rekonstruktion (im Verhältnis zur Konstruktion erster Ordnung), wenn von dem rekonstruktiven Paradigma die Rede ist“ (Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 65).
Dafür ist, wie auch die hier referierten Sichtweisen betonen, eine forschungsbezogene Reflexivität erforderlich, die die Konstitution des Forschungsgegenstands, aber auch die Erkenntnisleistungen der Rekonstruktion selbst in den Blick nimmt. Friederike Heinzel (2012a) sieht die Kindheitsforschung ferner in der Konkurrenz zweier Konzepte, der die Dualität von Handeln und Struktur zugrunde liege: Da sei zum einen das „Konzept vom Kind als sozialem Akteur“ (ebd.: 24), das Kinder als gestaltende Subjekte ihrer Lerntätigkeit und Realitätsverarbeitung sieht; ausgehend vom Sozialisationskonzept der produktiven Realitätsverarbeitung (Hurrelmann 1983) sei es als Gegenkonzept zum Kind als Entwicklungswesen entworfen. Das andere Konzept sei das der „generationalen Ordnung“, formuliert von Leena Alanen (2005)8, das sich auf die machtbezogene,
8Dieses
Konzept der „generationalen Ordnung“ wurde von Alanen in expliziter Analogie zum Begriff der Gender-Ordnung eingeführt und definiert das soziale und institutionalisierte Alter neben dem biologischen Lebensalter (Bühler-Niederberger 2018: 31; vgl. Kelle 2018). Die Ordnung ist ein „System von Beziehungen zwischen sozialen
86
3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
oppositionelle Relation von Älteren und Jüngeren, Erwachsenen und Kindern beziehe, in der Differenzierungen existieren, die als Aspekte sozialer Ungleichheit interpretiert werden müssten. Dabei übersieht Heinzel in ihrer Gegenüberstellung des handlungsbezogenen Akteurskonzepts und des strukturbezogenen Konzepts generationaler Ordnung die methodologische Kritik von Michael-Sebastian Honig, der betont, dass entscheidend für die Kindheitsforschung die Suspendierung des „erwachsenenzentrierten Blick[s] auf Kinder“ (Honig 2009: 31) sei; die kindliche Perspektive werde nicht sichtbar, wenn ein Konzept vom Kind als kompetentem Akteur (vgl. Heinzel 2012c) vorausgesetzt werde. Sabine Bollig und Helga Kelle (2014) fragen denn auch nach den Auswirkungen dieser „Mischung aus analytischem und normativem Konzept“ (ebd.: S. 263), zumal der ethnografische Kompetenzbegriff ein anderer sei als der anderer Kontexte. Sie profilieren kindliche Akteure als „Partizipanden“ sozialer Praktiken und deren Positionierungen und schließen damit nicht nur an das aktuelle Agency-Konzept9 an, dessen Begriff sie als „Schirm- oder Container-Begriff“ (ebd.: 266) verstehen, sondern auch an dessen referentielle Rahmung durch Praxistheorien. Aktuell sieht Kelle Agency auf dem
Positionen“ (Alanen 2005: 75) und zugleich ein strukturelles Verhältnis, in dem die Kategorien Kinder und Erwachsene notwendig aufeinander bezogen sind (Baader 2018: 80; Kelle 2018: 40). 9Kayser und Betz (2013) berichten in ihrem Tagungsbericht der DGS-Sektion „Soziologie der Kindheit“ von der sinngleichen Nutzung der beiden Begriffe „Akteur“ und „Agency“, die sich aber im verschobenen Fokus von der handelnden Person zur Handlung bzw. zum Handlungsgeflecht unterscheiden. Eine von Jo Reichertz nicht weiter ausgeführte Kritik am Agency-Begriff soll hier nicht unterschlagen werden: „Der Begriff des Akteurs wurde so ausgedünnt (als Agency), dass er jetzt auch noch auf viele andere Entitäten passt und der Begriff des Handelns wurde so entleert, dass er jetzt für viele Operationen passt. Nicht die Dinge und das Handeln haben sich geändert oder zeigen sich aufgrund von neuem Wissen in einem neuen Licht, sondern die Dinge und das Handeln werden neu subsumiert, weil sich die Definition der Kategorien geändert haben.Menschliche Subjekte sind jedoch immer mehr als ‚Akteure‘, die etwas bewirken (wollen). Sie lassen sich nur unter Einbüßung der Angemessenheit der Beschreibung auf ihr Akteur-Sein reduzieren. Menschliche Subjekte sind immer auch mehr, sie sind in soziale Beziehungen und soziale Situationen eingebettete Individuen, die fühlen, hoffen und fürchten, denken, entscheiden und sich dem Leben hingeben bzw. von ihm gebeutelt werden. Gegenstand der qualitativen Sozialforschung ist also nicht die Handlungs-Einheit, die etwas bewirkt (sonst wäre ihr Gegenstand der Körper), sondern ihr Gegenstand ist immer die leiblich-geistige Einheit, die sinnhaft handelt, also aufgrund des sozialen Sinns, den die Welt und die anderen für diese Einheit hat“ (Reichertz 2013).
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
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Hintergrund einer aus ihrer Sicht erforderlichen „Perspektivverschiebung“, die die kategoriale Differenz Kinder – Erwachsene kontextualisiert: „Agency ist vielmehr als Effekt der Partizipation an vielfältigen Praktiken zu beschreiben, die kontextspezifisch auf die Differenz von Kindern und Erwachsenen referieren können – oder eben auch nicht. Kindliche und erwachsene Kompetenzen des Mitspielens in sozialen Praktiken und die situierten Subjektpositionierungen werden hochvariabel, mit großen Spielräumen in den konkreten Interaktionen, ausgehandelt“ (Kelle/Schweda-Möller 2017: 129).
Ähnlich stellen Tanja Betz und Florian Eßer (2016) in einer kritischen Würdigung des Agency-Konzepts fest, dass die theoretische Unzulänglichkeit des Konzepts die Bedingung seines bisherigen Erfolgs gewesen sei, da damit eine gewisse Offenheit verbunden war und sich eine Vielzahl von Studien und Forschungsrichtungen dem Konzept zurechnen konnte. Inzwischen sei es notwendig geworden, Agency aus den Missverständnissen einer „vorsozialen Eigenschaft“ und „romantisierenden“ Positionierung (ebd.: 307 f) zu befreien, indem es einer „relationale[n] Revision“ (ebd.: 310) unterzogen werde. In der Forschungspraxis sei Agency zu oft „eine vielfach unreflektierte Erwartungshaltung an Kinder, die (eine bestimmte) Agency zu zeigen haben“ (ebd.: 311), stattdessen müssten die Ambivalenzen des kindlichen Akteurstatus thematisiert werden. Das Konzept müsse sich im Kontext institutionalisierter Kindheit bewähren, indem Agency möglicherweise als Verhältnis von Institution und Akteur gefasst werde, damit müsse die Integration der generationalen Ordnung einhergehen. Heinz-Hermann Krüger (2016: 332) gelten praxistheoretische Konzeptionen „als geeigneter metatheoretischer Konvergenzpunkt“, da er die Chance sieht, dass unterschiedliche Ansätze aus der Bourdieu-Tradition, praxeologische Theorielinien und sozialkonstruktivische Konzepte zur Sozialisationstheorie verknüpft werden können, damit „die gesellschaftlichen Bedingungen, die sozialen Interaktionen und Praktiken sowie darin eingewoben die Herausbildung und Entwicklung von Handlungsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen theoretisch gefasst und analysiert werden könnten“ (ebd.) Doris Bühler-Niederberger (2018) sieht das Konzept der Kinder als soziale Akteure kritisch, wenngleich sie dessen Forschungsleistungen betont. Das Konzept der ‚Kinder als soziale Akteure‘ lasse die Parteinahme für Kinder besonders gut erkennen. Es sei das zentrale Konzept, das ‚Mantra‘ der Kindheitssoziologie (ebd.: 30). Es unterstelle den Kindern eine grundlegende Handlungskompetenz; Agency sei „die Fähigkeit, auch gegen Widrigkeiten eine eigene Handlungslinie durchzusetzen“ (ebd.: 31). In Studien über das Aufwachsen
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
in Ländern des Globalen Südens sei dieses Konzept oft eingesetzt und ausdifferenziert worden in eine ‚thin agency‘ versus eine ‚thick agency‘, da steile generationale Hierarchien und deren Folgen die Möglichkeiten der Kinder, einen eigenen Standpunkt durchzusetzen, begrenzten (ebd.). Aus empirischen Studien erklärt Bühler-Niederberger ferner das „Paradox der Sozialisationsinstitutionen“, nach dem Kinder kompetente Leistungen in Situationen und Institutionen der Sozialisation erbringen, die die soziale Kompetenz der Kinder implizit voraussetzen und „der ordnenden Mitarbeit durch die Kinder bedürfen“ (ebd.: 34). Aus soziologischer Sicht sei bemerkenswert, dass Kinder den Erwartungen entsprechen, daher bezeichnet sie deren Beteiligung als „kompetente Gefügigkeit“ oder „Komplizenschaft“ (ebd.: 34). Die hier vorgestellte Studie benutzte den Begriff des Akteurs bisher unter Verweis auf die soziologische Verallgemeinerung, dass Menschen, Gruppen, Organisationen oder der Staat Akteur(e) sein können (Becker 2011b: 11; vgl. S. 12). Damit wurde die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler an Situationen und Prozessen innerhalb und außerhalb der Institution Schule benannt, eine „Advokation“ (BühlerNiederberger 2011: 172) wurde vorderhand nicht beansprucht – abgesehen von möglichen subjektiven, autobiografisch bedingten Zuschreibungen des Forschers. Der Akteursbegriff sagte mehr über Beteiligung als über Machtverteilungen oder Partizipationschancen aus, letztere wurden durch die vorgestellten Untersuchungen thematisch. Die kritische Sicht auf das Akteurskonzept legt es nahe, diesen Begriff mit Blick auf Kelles Beteiligung an differenziellen Praktiken und Bühler-Niederbergers Komplizenschaft zu differenzieren. Das Konzept der generationalen Ordnung (vgl. Baader 2014) wurde hier bisher im Hinblick auf den Forschungsstand und mit Bezug auf pädagogische Generationsbeziehungen nur tangiert, es ist aber ein Fluchtpunkt kindheitsbezogener Wissenschaft, Heinzel (2012a) führt das Konzept in ihrer Gegenüberstellung an, es wird von Honig (2009) grundlegend differenziert: Die Kindheitsforschung stehe immer wieder in der Gefahr, Kinder unvermittelt zu adressieren und einen Begriff von ihnen vorauszusetzen, ehe sie wisse, wovon sie spreche (ebd.: 41). Daher warnt er: „ […] um Kinder nicht von vornherein als homogene Gruppe denken zu müssen, muss zwischen einer objekttheoretischen Fassung des Konzepts generationaler Ordnungen und einer erkenntniskritischen Fassung unterschieden werden“ (ebd.: 44).
Honig verzichtet auf einen substanziellen Begriff vom Kind und sieht Kindheit selbst als Konstrukt. Damit sieht er als methodologisches Konzept einen
3.1 Erkenntnisinteresse: Standortgebundenheit und Generationalität
89
differenztheoretischen Ansatz (Honig 2012: 90), der die Praktiken der Unterscheidung in Kinder und Erwachsene zur empirischen Forschungsfrage macht, weil die gegenwärtigen „beschleunigten Umwälzungserscheinungen“ (Honig 2009: 46 f) jeden Begriff vom Kind sprengen, wie Honig mit Bezug auf Karl Mannheim konstatiert. Hengst (2013) denkt den Ansatz von Honig weiter, auch mit Bezug auf Karl Mannheim: Er kritisiert ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen, die von Heinzel angeführten Konzepte: Das Akteurskonzept mache nur Sinn, wenn es auch und vor allem medien- und marktbezogen verstanden werde; das generationale System sei oppositionell und zu starr gedacht, es verliere nicht-generationale Kindererfahrungen aus dem Blick (ebd.: 12, 15). Die „beschleunigte Modernisierung“ der Jetztzeit rufe eine wachsende Distanz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervor. Wissensvorsprung und Beratungskompetenzen der älteren Generation, so Hengst, würden geringer. Deshalb entwickelt er im Anschluss an Karl Mannheims Generationsbegriff ein Konzept „differenzieller Zeitgenossenschaft“ (vgl. Hengst 2004, 2012), in der generationale Kollektive durch erlebte Gleichzeitigkeit und andere Zugehörigkeiten geprägt sind und ihr soziales Zusammenleben „polyphon“ organisieren. „Generationsbildung basiert in diesem Konzept auf gemeinsamen Erfahrungen und Habitusprägungen im Prinzip gleichaltriger Zeitgenossen. Die Anderen, Angehörige anderer Generationen, sind nicht oppositionell in der generationalen Ordnung positionierte Erwachsene, sondern Zeitgenossen, die subjektiv in einer anderen Zeit leben“ (Hengst 2013: 13).
Die hier interessierende Forschungsfrage nach Sichtweisen von Kindern bzw. Jugendlichen auf schulische „Elternarbeit“ spricht explizit ein intergenerationales Thema an, daher muss die Relationalität generationaler Ordnung als epistemologisches Konzept zu einem bestimmenden Moment werden. Die Revision hin zu einer differenziellen Zeitgenossenschaft löst die vereinfachende Gegenüberstellung von Älteren und Jüngeren, Erwachsenen und Kindern auf und macht Platz für unterschiedlichste generationale und nicht-generationale Relationierungen; Kinder werden vor allem als „Zeitgenossen“ (ebd.) gesehen, um konzeptionelle Offenheit herzustellen. Gleichzeitig kann an die Erträge der bereits vorgestellten Studie zu pädagogischen Generationsbeziehungen angeknüpft werden (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Dabei sind sozialisationstheoretische Bezüge durchaus sinnvoll, wie sie im Konzept des „Generationalen Ordnens“ hergestellt werden, das Bühler-Niederberger (2011) formuliert. Generationales Ordnen versteht sie als
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse „Realisieren bestimmter Ordnungsinteressen über die gesellschaftliche Definition von Programmen für die Heranwachsenden und d. h. auch für die stets relational aufeinander verwiesenen Altersgruppen überhaupt“ (Bühler-Niederberger 2018: 32).
Damit kehrt sie explizit, wenn auch in kritischer Distanz, zum Sozialisationsbegriff zurück. Generationales Ordnen geschieht, so Bühler-Niederberger, sowohl lokal unter Berücksichtigung der kontextspezifischen Bedingungen und Möglichkeiten wie auch global. Die Brücke zwischen (Kindheits-)Soziologie und Erziehungswissenschaft schlägt Kelle (2018: 48) unter Berücksichtigung des Alters von Kindern, wenn sie erziehungswissenschaftliche Ansätze auffordert, die generationale Ordnung nicht nur aus der frühen Kindheit abzuleiten, und kindheitssoziologische, die „lebensaltersspezifische Variabilität der Abhängigkeit“ stärker zu berücksichtigen, und damit auch die „Differenzialität der Praktiken des generationalen Ordnens je nachdem, welche Kinder in welchem Alter involviert sind“ (Kelle 2018: 48).
3.2 Forschungsfrage: Peerperspektiven von Grundschulkindern Die Formulierung des Erkenntnisinteresses mit Bezug auf die neue sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung diente der Überprüfung des Standorts des Forschers mit Hilfe von Begriffsklärungen, aber auch der Ausrichtung des Forschungsinteresses: Die Studie ist ein Beitrag zur „Untersuchung der Lernund Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen im interdependenten Kontext unterschiedlicher Bildungsorte“ (Krüger/Grunert 2010: 33), dabei werden, wie gefordert, Themen und Fragen der Kindheitsforschung einerseits, der Schulforschung andererseits miteinander verbunden. Die Studie soll rekonstruktiv vorgehen sowie manifeste und latente Sinnstrukturen differenzieren, also eine rekonstruktive Methodologie realisieren, die nicht nur „auf die Rekonstruktion der Theorien des Alltags und deren Aufbau gerichtet [ist]“ (Przyborski/WohlrabSahr 2014: 18). Das Ziel der Studie soll – über eine deskriptive Orientierung hinaus – sein, die Aufmerksamkeit auf den Sinn eines Verhaltens bzw. einer Kommunikation von Kindern bzw. Jugendlichen zu richten, um soziale Regeln ihres Sprechens und Handelns gegenüber der Zusammenarbeit der älteren Generation zu entschlüsseln (ebd.: 19). Dabei wird „die Perspektive der Kinder“ als Relation in der differenziellen Zeitgenossenschaft verstanden, jenseits subjektiver, romantisierender oder professionsbezogener Verengungen. Die Gefahr der Reifizierung durch aktuelle, gegenstandstheoretische Konzepte und
3.2 Forschungsfrage: Peerperspektiven von Grundschulkindern
91
Forschungsstrategien (vgl. Kelle/Schweda-Möller 2017: 126) wird in den Blick genommen, indem die Perspektive von Kindern als „Partizipation an Praktiken“ und sozialisatorische „Komplizenschaft“ übersetzt wird; Fluchtpunkt dieser Perspektive bleibt die differenzielle Zeitgenossenschaft, die als epistemologischer Zugang zu integrieren ist. Auf diesem Hintergrund folgt im nächsten Schritt die Formulierung der Forschungsfrage. Da die Bedeutung der schulischen und außerschulischen Peers für die Wahrnehmung und Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen zur schulischen „Elternarbeit“ bisher nicht thematisiert wurde, obwohl sie einen nicht unbedeutenden Einfluss auszuüben scheinen (vgl. Wohlkinger 2014) und sich eine abnehmende Zustimmung bei zunehmendem Alter dokumentiert (vgl. Sacher 2008b), können neue Erkenntnisse durch eine Rekonstruktion der peerbezogenen Orientierungen gewonnen werden. Die vorläufige Forschungsfrage dieser Studie lautet daher: Wie äußern sich Schülerinnen und Schüler in Peergruppen zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften? Diese Frage konkretisiert sich durch die Wahl des Forschungsfeldes an Grundschulen, da diese – anders als Schulen der Sekundarstufe – das organisatorische Konstrukt der schulischen „Elternarbeit“ funktional integriert haben: Ohne eine irgendwie geartete Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften zumindest in den Phasen der Einschulung und des Übergangs in die Sekundarstufe kann die Grundschule ihrem institutionellen Selbstverständnis als „Vermittlerschule zwischen Elternhaus/Kindergarten und Schule“ (Schorch 2009: 230) nicht gerecht werden. Böhnisch beschreibt diese Vermittlung mit Tacott Parsons als Übergang: „Solange der Übergang von der Familie zur Schule, also von primären, emotionalen zu sekundären, funktional-rationalen Sozialmustern nicht abgeschlossen ist, wirkt die Familie in die Schule hinein“ (Böhnisch 2018: 408). Dieser Übergang wird hier als offener Prozess gesehen und befragt, und zwar unter vorrangiger Berücksichtigung der Peereinflüsse, vor allem die Frage, wie sich dieser Übergang gestaltet. Der von Böhnisch implizit unterstellte Abschluss dieses Prozesses mit dem Ende der Grundschulzeit ist als funktionalistisch und institutionenbezogen in Frage zu stellen. Der professionelle Erfahrungshorizont des Forschers, der sowohl in seiner Ausbildung als auch in seiner Berufstätigkeit zeitweise an Grundschulen tätig war, beeinflußt den Zugang zu Grundschulen; das stellt in dieser Studie eine weitere Standortgebundenheit dar, die für die weiteren Schritte der methodischen Umsetzung der Datenerhebung und der Auswertung der erhobenen Daten reflektiert und kontrolliert werden muss. Gerade im Kontakt mit jüngeren Schülerinnen und Schülern dürfte der professionelle Habitus als langjährige Lehrkraft für die Interaktion im Sinne einer Gegenübertragung eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Das würde bedeuten, dass die erhobenen Daten auf das
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
„ Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung“ (Oevermann 2009: 141) hin überprüft und thematisiert werden müssen, durchaus im Sinne habitualisierter Gewohnheiten. Als Zielgruppe werden dritte Klassen ausgewählt, da sich im Prozess des grundschulischen Lernens über alle Jahrgänge hinweg das dritte Schuljahr als eine Art ‚Zwischenjahr‘ darstellt; angesiedelt zwischen den ersten beiden Schuljahren, die dem Erwerb grundlegender Lese- und Rechenkompetenzen dienen, und dem vierten Schuljahr, dessen Lernen bereits auf die Übergangsentscheidung ausgerichtet ist, erlaubt es den Blick auf Anderes. Mit der Wahl des dritten Schuljahrs ist die Erwartung verbunden, dass die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrkräfte und die einzelne Schule selbst, repräsentiert durch die Schulleitung, ihre Aufmerksamkeit stärker als in den anderen Schuljahren auf das Thema schulischer „Elternarbeit“ lenken können, ohne dass die Einschulung bzw. Übergangsentscheidung im Vordergrund steht. Die Altersgruppe der Acht- bis Neunjährigen, die ganz überwiegend die dritten Grundschulklassen besuchen, ist mit Oevermann (2001; 2014) in der Latenzphase zu verorten, die vor der Adoleszenkrise steht und damit in der auch peervermittelten Ablösung aus der ödipalen Triade zwischen Mutter, Vater und Kind10. Für die erziehungswissenschaftliche Forschung könnte die Altersgruppe als neue „Lücke-Kindheit“ (Krüger/Grunert 2010: 33) dargestellt werden: In ihrer Bilanz der Kindheits- und Jugendforschung weisen Krüger und Grunert darauf hin, dass die Altersgruppe der Vier- bis Achtjährigen kaum untersucht sei; der Begriff bezieht sich ursprünglich auf die Gruppe der 10- bis 14-jährigen Kinder, deren Vernachlässigung in der Forschung inzwischen überwunden ist. Demnach wäre die hier untersuchte Gruppe der Neunjährigen im ‚Niemandsland‘ der Kindheitsforschung angesiedelt, allerdings setzen die „social studies of childhood“
10Die vier großen Ablösungskrisen in der Ontogenese sind nach Oevermann erstens die Krise der Ablösung von der ursprünglichen biologischen Symbiose als Geburt, zweitens die Ablösung von der primären Mutter-Kind-Symbiose in die Vergemeinschaftung der ödipalen Triade, drittens die Ablösung aus dieser Triade in die Latenzphase und die Vergemeinschaftung der Peergruppe sowie viertens die Ablösung aus der Herkunftsfamilie in der Adoleszenzkrise (Oevermann 2001: 107; 2014: 60); die Latenzphase wird von Oevermann verstanden „als diejenige, die die kulturierte Ontogenese des Menschen für die Bewältigung ihrer enorm anspruchsvollen Bildungsprobleme auf der Basis der Ablösung vom Ödipuskomplex benötigt“ (ebd.: 26), also die der sozialen Konstitution der psychosexuellen Entwicklung, die der biologisch-physiologischen vorausgeht.
3.2 Forschungsfrage: Peerperspektiven von Grundschulkindern
93
den Schwerpunkt ihres Interesses bei den Sechs- bis Zwölfjährigen, also auch auf diese Jahrgänge (Kelle 2009b: 473); aktuellere Bilanzen existieren nicht oder behandeln sie summarischer (vgl. Krüger 2016b). Die vorläufige Forschungsfrage dieser Studie lautet: Wie äußern sich Schülerinnen und Schüler in Peergruppen aus dritten Klassen an Grundschulen zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften? Die Frage wird bewusst offen formuliert und weder aufgeschlüsselt noch mit Hypothesen versehen, um die Prinzipien der Offenheit und Gegenstandsentfaltung im Forschungsprozess zu berücksichtigen (vgl. Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 73). Die Entscheidung, Äußerungen von Schülerinnen und Schülern zur schulischen „Elternarbeit“ in Peergruppen zu erheben, ergab sich aus dem vorgestellten Forschungsstand, der aber wenig über das eigentliche Feld sagt11. Für die Erhebung bedarf es einer Orientierung im Forschungsfeld, das nicht die Grundschule im Allgemeinen ist, sondern die dortigen Peerkontexte. Schülerinnen und Schüler werden durch die Schule als Peers zusammengeführt, in einen Kontext, der zugleich Generationenverhältnisse in einer bestimmten Weise repräsentiert und institutionalisiert (vgl. Wiesemann 2005: 20 ff; de Boer/Deckert-Peaceman 2009b: 320; Scholz 2009: 243). Damit verbindet sich die Frage, wie die Kinder die beiden Erfahrungsräume der SchülerInnen und der Peers relationieren. Zudem werden sie mit der Frage nach der Zusammenarbeit ihrer Eltern auch als Mitglieder ihrer Familien angesprochen, aber aus Sicht des schulischen Phänomens „Elternarbeit“; die Gleichstellung von Eltern und Lehrkräften betont das Gemeinsame der älteren Generation. Ob sich dadurch möglicherweise ein weiterer Vergleichshorizont öffnet, der in der individualisierten Konstellation des Kindes, etwa in Interviews, nicht auftauchen würde, ist offen. Wie die Bereiche der Peers, der Schule und der Familie von den Schülerinnen und Schülern tatsächlich zueinander in Bezug gesetzt und voneinander abgegrenzt werden, wird zu rekonstruieren sein. Damit sind individuelle Sichtweisen nicht ausgeschlossen, sondern in spezifischer Weise einbezogen, denn auch scheinbar individuelle Unterscheidungen können kollektiv motiviert sein bzw. wirken (vgl. Przyborski/Regler 2010: 445). Zunächst wird im Folgenden das Forschungsfeld differenziert.
11Dieser
Abschnitt enthält Textteile, die, kürzer und teilweise anders formuliert, in einem Aufsatz des Verfassers veröffentlicht worden sind (Stiller 2016).
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen Im Folgenden wird das Forschungsfeld der Peerbeziehungen an Grundschulen erkundet, indem zunächst der Peerbegriff geklärt wird, im zweiten Schritt allgemeine Forschungserkenntnisse über Peergruppen in der Schule referiert werden und schließlich eine Darstellung des derzeitigen Wissensstands über Peerbeziehungen an Grundschulen folgt. Zum Abschluss wird eine Orientierung im Hinblick auf diese Studie formuliert.
3.3.1 Peerbeziehungen allgemein Peerbeziehungen spielen „eine zentrale Rolle im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen“ (Krüger 2016: 37). Peers sind, am lateinischen Begriff der „pariparis“ oder am englischen Begriff des „peer“ orientiert, „Gleiche“ im Sinne von „Ebenbürtige“ oder „Gleichaltrige“ (Krüger 2016a: 38) bzw. „Gleichartige“ (Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 12). Die symmetrische Beziehung wird als grundlegendes Merkmal gesehen (vgl. Katenbrink 2014: 11) und für weitere Präzisierungen geöffnet: „Termini, wie gleichaltrig, gleichrangig oder gleichgesinnt, setzen verschiedene Relationen [Kursivsetzung durch mich – K.S.], die kenntlich zu machen und mit Bezug zu Ziel- und Fragestellungen sowie zum methodischen Vorgehen von Untersuchungen auszuformulieren sind. So bezieht sich der Begriff der Peers in der auf altershomogene Schulklassen konzentrierten Forschung auf das Lebensalter; im Kontext der Jugendkultur- und Szeneforschung eher auf gemeinsame Praktiken und Orientierungen. Gerade in neueren, bislang eher marginalen Forschungsbereichen, z. B. zu Peerzusammenhängen im Erwachsenenalter, aber auch im Kontext der Schule, kann sich der Begriff dagegen auch auf die Gleichartigkeit der institutionellen Verankerung als Schülerinnen und Schüler, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Klientinnen und Klienten, z. B. in der Sozialen Arbeit, beziehen“ (ebd.).
Die generalisierte Gleichsetzung von Peers und Gleichaltrigengruppe, wie sie häufig vorgenommen wird, ist daher unzutreffend, vielmehr ist die Statusgleichheit entscheidend, der Begriff „impliziert auch qualitative Elemente“ (Reinders 2015: 396), entscheidend ist die Präzisierung und Variierung des Begriffsverständnisses im Hinblick auf den Forschungskontext und die Forschungsfrage. Zur weiteren Begriffsklärung werden „notwendige Differenzierungs- und Bestimmungskriterien“ (ebd.: 13) diskutiert, die Klarheit mit Blick auf das jeweilige „soziale Gefüge“ herstellen sollen, in erster Linie
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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• Kontakt, • Freiwilligkeit, • Sympathie-Antipathie-Beziehungen, • Intensität und Kontinuität, • Themen und Praktiken sowie • Reziprozität von Peerbeziehungen, Peergruppen, Peernetzwerken u. ä. Diese Kriterien haben große Überschneidungsbereiche: Der Kontakt kann unterschiedlich gestaltet sein, face-to-face oder medial, sporadisch oder kontinuierlich, institutionell oder nicht-institutionell, sympathiebezogen oder nicht. Freiwilligkeit wird nicht als eindeutiges Kriterium von Peerbeziehungen gewählt, sodass sowohl Schulklassen als auch zwanglose Gruppierungen als Peergruppen zählen (vgl. Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 419). Katenbrink weist daraufhin, dass damit, theoretisch gesprochen, das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie (Katenbrink 2014: 13) zur Debatte steht und die „Aufsicht und Leitung von Erwachsenen“ (Oswald 2008: 321) eine veränderliche, mit dem Alter der Peers abnehmende Variable darstellt. Der Aspekt der Reziprozität gilt als Voraussetzung für Ko-Konstruktion (Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 13; vgl. Oswald 2008: 322; Reinders 2015: 394; Krüger 2016: 37), allerdings wird der Begriff im Zusammenhang mit Peers „inflationär“ gebraucht und ist als „geteilte Herstellung von sinnhaften Praxen und Wissensbeständen“ (Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 13) zu verstehen, wie Sina-Mareen Köhler, Heinz-Hermann Krüger und Nicole Pfaff mit Verweis auf Youniss feststellen (s. o. Fußnote 4 im Kap. 2); der Begriff werde aber zu ungenau verwandt, sodass die spezifische Qualität der Gleichstellung der Beteiligten nicht abgebildet werde. Zum einen erstrecke sich Ko-Konstruktion im genannten Sinn nicht nur auf Peers, sondern auf alle an der Interaktion beteiligten Personen und „Kulturobjektivationen“ (ebd.), zum anderen gehe es nicht nur um geteilte Sinnproduktion: „Die geteilte Verstehensleistung und geteilte Sinnemergenz bilden jene Resultate der Ko-Konstruktion, welche die Peers zu einer sozialisatorisch relevanten Instanz machen und sie von stärker hierarchisch strukturierten sozialen Beziehungen unterscheiden“ (ebd.: 14).
Damit wird das Verständnis für Peerbeziehungen in Bezug auf die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen geschärft. Die spezifischen Leistungen bestehen vor allem in der Persönlichkeitsentwicklung, isb. der Entwicklung der Aspekte, die nur in Beziehung zu Gleichrangigen entwickelt werden können, wie der Identitätsfindung, der Emotionsregulation und Sozialkompetenz sowie des
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
autonomen moralischen Urteils (Oswald 2008: 322; Reinders 2015: 398, 402; Krüger 2016: 42). Im Hinblick auf diese positiven Sozialisationsleistungen werden Peers inzwischen in den Rang einer „Primärgruppe“ (hier und im Folgenden Oswald 2008: 321; Reinders 2015: 394; Krüger 2016: 39; Deppe 2016: 278) gesetzt, während sie früher in der Forschung eher als Einflussgröße für deviantes und riskantes Verhalten Jugendlicher gesehen wurden. Die Folgen von „peer rejection“ auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist entsprechend bedeutsam, sie kann sich in schlechten Schulleistungen, psychischem Unwohlsein, Krankheiten und Devianz äußern. „Im frühen Kindesalter und bis zum Schuleintritt gilt das Elternhaus als die wichtigste Einflussgröße, aber mit dem mittleren Kindesalter gewinnen kindliche Verselbständigungsprozesse und die Einbindung in Gleichaltrigenbeziehungen zunehmend an Bedeutung und finden ihren Höhepunkt im Jugendalter“ (Deppe 2016: 276).
Peerbeziehungen sind in Relation zu Eltern-Kind-Beziehungen in Anschluss an Youniss (1994: 47) als freiwillig, symmetrisch, selbst initiiert und aufkündbar zu charakterisieren und damit durch Gleichheit und Ebenbürtigkeit gekennzeichnet (Deppe 2016: 276). Demgegenüber sind Eltern-Kind-Beziehungen als vorgegeben, unkündbar und hierarchisch zu verstehen. Peerbeziehungen werden damit fundamental unterschiedlich zu Eltern-Kind-Beziehungen und zugleich als komplementär zu diesen konzipiert (ebd.). Die Bedingungen in der Familie modifizieren den Einfluss von Peers, vor allem durch die Bindungsqualität, den Erziehungsstil sowie die fördernden oder behindernden Einflussnahmen auf Peerkontakte in der Kindheit. Insgesamt bleibt der Einfluss der Familie auf Kinder und Jugendliche überaus relevant, auch wenn der Einfluss der Peers zunimmt (Oswald 2008: 326; Deppe 2016: 278): „Szenarien vom Bedeutungsverlust der Eltern in der Jugendphase und dem von den Peers ausgehenden Risikopotential [erscheinen heute] für die Biografien Heranwachsender zu einseitig und undifferenziert“ (ebd.: 279). Peergruppen haben in ihrer paradoxen Funktion „als Institution wie auch als Gegeninstitution“, so Bohnsack und Hofmann (2016: 285) eine Sozialisationsund Bildungsfunktion, sie seien ein „(sekundär) institutionalisierter Modus der Sozialität in der Phase des Übergangs, der Zwischenlagerung, des Moratoriums und der Liminalität“ (ebd.: 278). Die Jugend gestalte so die Gleichzeitigkeit von institutionalisierter Institutionenkritik und Bildung als „Suchbewegung“ (ebd.: 279), die sich in Aktionismen und habitueller Annäherung zwischen Liminalem
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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und Liminoidem abbilde, wie sie mit Bezug auf Victor Turners Ritualtheorie skizzieren (s. u. S. 139). „Das Überschreiten und Provozieren der institutionalisierten Norm im adoleszenten Entwicklungsprozess gehört also – gleichermaßen aus funktionalistischer, psychoanalytischer, kulturanthropologischer und auch praxeologischer Perspektive – zur gesellschaftlich unabdingbaren Funktion der Peer Group“ (ebd.: 283).
Damit gelingt es den AutorInnen, die selbst in praxeologischer Theoriebildung tätig sind (vgl. Bohnsack 2017a), die traditonellen Zuschreibungen an Peergruppen nicht auszusondern, sondern auf anderem theoretischen Niveau zu integrieren. In Sozialisations- und Kindheitsforschung wird zwischen unterschiedlichen Peerformationen unterschieden: Reinders (2015) spricht von Freundschaften, Cliquen und Crowds, Krüger (2016) von dyadischen Beziehungen, informellen Cliquen, organisierten Gruppen und schließlich größeren sozialen Netzwerken12. Allerdings sind die Befunde in Bezug auf Kindheit genderpezifisch zu differenzieren (Hagemann-White 2010; Schrader 2016): Anders, als eine bipolare Sichtweise auf die beiden Geschlechter unterstellt, sind die Befunde zu den Peernetzwerken von Jungen und Mädchen nicht nur nicht einheitlich, vielmehr gibt es „nur wenige eindeutige Unterschiede“ (ebd.: 307), die dann wiederum schichtspezifisch zu differenzieren sind. Die Größe der Peergruppen unterscheidet sich allem Anschein nach nicht in der Zahl an FreundInnen, sehr wohl aber in der an SpielkameradInnen, Mädchen haben eher mehr als Jungen; Mädchen geben eher eine beste geschlechtshomogene Freundschaftsbeziehung an und distanzieren sich bei drohender Ablehnung eher, während Jungen eher Nähe suchen; andererseits gehen sie peerbezogenen Konflikten eher aus dem Weg als Mädchen. Allerdings ist auffällig, dass entsprechende Forschung für die Phasen der Kindheit und Frühadoleszenz eher in schulinstitutionellen Kontexten stattfindet, für die der Jugend aber in den Freizeitbereichen (ebd.: 308). Inwieweit Peergruppen sogenannte ‚AnführerInnen‘ hervorbringen, gilt als strittig, es gibt MeinungsführerInnen und AnführerInnen wohl eher in aufgabenorientierten Gruppen, z. T. mit Weisungsrechten, z. T. auch in informellen Situationen auf dem Schulhof (Oswald 2008: 323). Die Einflüsse unterschiedlicher
12Weitere
Differenzierungen finden sich im Abschnitt 3.3.3.
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Peerkonstellationen auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung sind nicht gleich stark, Freundschaftsbeziehungen scheinen stärker zu wirken als dyadische Beziehungen in Cliquen, diese wiederum stärker als die Gesamtclique, diese wiederum stärker als die Crowd (Reinders 2015: 398). In den interdisziplinären Diskursen von Schul- und Kindheitsforschung überschneiden sich die Perspektiven der vorrangigen Disziplinen der Entwicklungspsychologie, Gruppensoziologie und Sozialisationstheorie. Bevorzugte und zum Gegenstand der Peerforschung passende Methoden sind Soziometrie bzw. Netzwerkforschung, ethnografische Unterrichtsbeobachtung und Gruppendiskussionen aus dem Kontext der soziologischen Kleingruppenforschung (Köhler/ Krüger/Pfaff 2016: 19; Krüger 2016: 37).
3.3.2 Peerbeziehungen in der Schule Bohnsack und Hofmann formulieren, ausgehend von ihrer rekonstruktiven Theoriebildung zur Bedeutung der Peers, eine grundlegende Kritik an der Schulforschung, die weder willens noch in der Lage sei, das Phänomen der Peers in der Schule angemessen zu erfassen, da sie unter einer „Individuenzentrierung oder -fixierung“ leide (ebd.: 275 – s. o. Abschnitt 3.3.1). „Die empirische Schulforschung ist insbesondere in ihrem lange Zeit dominanten Zweig der standardisierten Forschung nicht nur überwiegend an der zweckrationalen Programmatik der Organisation schulischer Ausbildung orientiert, vielmehr attribuiert sie – wie das in theoretischer Überhöhung dann im ‚Rational Choice-Ansatz‘ seinen Ausdruck findet – die Zweckrationalität auch individualisierend den an ihr beteiligten Akteurinnen, den Lehrerinnen und Schülerinnen. Der Mainstream der Schulforschung tut sich infolge dessen schwer mit einem theoretischen Zugang zur Logik der Aktionismen und zur Struktur der Peer Group als einem kollektiven Phänomen, welches sich dem methodologischen Individualismus des Rational Choice und allgemeiner: der Logik utilitaristischen Handelns nicht fügt“ (Bohnsack/Hofmann 2016: 284).
Im Folgenden werden die vorhandenen Erkenntnisse zur Beziehung von Peers und Schule zusammengetragen: Die Institution Schule gilt vielen ForscherInnen als „wichtigste Institution zur Entstehung und Pflege von Freundschaften“ (Reinders 2015: 400), sie war eines der Forschungsfelder, in denen Peerforschung entstand, zumal es früh mit der Forschung zu deviantem Verhalten verknüpft war
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
99
(Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 15). Oswald und Krappmann bestätigten mit ihren Untersuchungen in Grundschulen den positiven Einfluss schulischer Peers für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern (vgl. Krappmann/Oswald 1995), Fend thematisierte Erfahrungen der Ausgrenzung und Aggression, die zehn Prozent der Jugendlichen mit negativen Folgen für ihr Selbstkonzept in den Schulen erleben (vgl. Fend 2005). Gleichzeitig entstand, mit Jürgen Zinnecker gesprochen, eine „Kinder-Ethnographie, die in der Schule angesiedelt ist“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 414). In der gegenwärtigen schulbezogenen Peerforschung dominieren vier Schwerpunkte: Ethnographische Zugänge zur peer culture, Passungskonstellationen zwischen Individuum und Schule in Biografien und Schülerkulturen, schulbezogene Orientierungen und Praxen der Peers sowie Klassenklima und Klassenführung, aber auch die Positive Peerkultur als Praxismodell (Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 16, 18). „Die Mitglieder der Schulklasse bilden den Horizont der peerkulturellen Praktiken der Vergemeinschaftung und der Abgrenzung“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 420).
Klasse und Unterricht sind nicht identisch, die Klasse ist eine von der Schule nach dem Gesichtspunkt der Altersgleichheit zusammengestellte Lerngruppe, die als „institutionelle Gegebenheit der untersuchten Gruppe“ selten in den Blick genommen wird (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2015: 290). Die oft gebrauchte Rede von der „Klassengemeinschaft“ verdeckt die komplexen Strukturen, in denen Klasse, Peers und Unterricht sich ins Verhältnis zueinander setzen; dabei scheinen auch schulkulturelle Bedingungen der einzelnen Schule eine Rolle zu spielen (ebd.). Für das Verständnis entscheidend ist, „[…] unterschiedliche Peerkulturen zunächst einmal als je spezifische Bearbeitungen der Anforderungen zu interpretieren, die sich aus der sozialen Situation Schulklasse ergeben, konkret: Es geht darum, tagtäglich auf engstem Raum mit einer Gruppe von Gleichaltrigen zurechtkommen zu müssen, die man sich nicht ausgesucht hat und deren Zusammensetzung nicht auf Freiwilligkeit beruht. In diesem Rahmen sind eigene (jugend-)kulturelle Orientierungen, Zugehörigkeiten, Abgrenzungen, Selbstverortungen und Identitäten auszuhandeln, zu behaupten und zur Darstellung zu bringen“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2015: 302).
Peerkultur im Unterricht ist vor allem ethnografisch beforscht worden, die Ergebnisse werden hier schlagwortartig zusammengefasst: Peerkultur wird zumeist
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
als integraler Bestandteil von Unterricht verstanden, obwohl keine Freiwilligkeit gegeben ist (hier und im Folgenden Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 417 ff; Kramer/Helsper/Thiersch 2009: 124, 207). Peerhandeln findet je nach Unterricht und schulkuturellem Kontext mehr auf der „Hinterbühne“ oder „Vorderbühne“ des Unterrichts statt (Wiesemann 2009: 189; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2015: 303) Es werden auf den Unterricht bezogene „Deutungsgemeinschaften“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 418) gesehen, die an Grundschulen und Gymnasien Unterrichtsthemen als Co-Akteure der Lehrkraft reformulieren oder an Haupt- und Gesamtschulen in Fraktionen bestreiten. Tätigkeiten und Sozialformen des Unterrichts werden prototypisch als „Schülerjob“ verstanden, der distanziert, effizient und ökonomisch getan werden muss. Vergemeinschaftung, Hierarchisierung und Abgrenzung der Gruppen „werden nicht gegen, sondern in symbiotischer Verknüpfung mit der schulischen Ordnung realisiert“ (ebd.). Dazu etablieren Schülerinnen und Schüler soziale Orte im Unterrichtsverlauf, die als Nahraum, Kleinwelt, Bühne, Publikum usw. verstanden werden. Schulischer Erfolg ist gegenüber den Peers legitimationsbedürftig und wird daher – z. T. in Übereinstimmung mit erwachsenen Deutungen – nicht als Folge eigener Anstrengung, sondern von ‚Intelligenz‘ und ‚Begabung‘ dargestellt (ebd.; vgl. Katenbrink 2014)13. In neueren Untersuchungen rückt der Akzent des informellen Lernens stärker in den Fokus der Peerforschung (Reinders 2015: 395; Krüger 2016: 37 f). Sie schließen an Diskussionen um den heimlichen Lehrplan, die Hinterbühne des Unterrichts und Arbeiterkultur in der Schule an (ebd.: 42). Untersuchungen der 1970er und 1908er Jahre differenzierten zwischen der schulkonformen Jugendkultur der Familienzentrierten und Institutionell Integrierten und der schuloppositionellen der Anpassungsverweigerer, zum Teil als maskuliner Handlungstyp (ebd.). Aktuell lassen sich zwei Muster im informellen Peereinfluss auf schulische Bildungskarrieren differenzieren, zum einen als „Unterstützungsinstanz für die schulische Karriere“ (Bohnsack/Hofmann 2016: 285; vgl. Krüger
13Das Etikett der „StreberIn“ ist ambivalent zu verstehen, zum einen wird es als „Spaß“ ausgegeben, um die betreffende Person wieder zu integrieren, zum anderen ist es die Andeutung möglicher Stigmatisierung. In Gesprächen des Klassenrats geht es um „Selbstprofilierung und Imagepflege“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 419), dabei lernen SchülerInnen, zwischen Erwartungen der Institution und der Peers zu unterscheiden.
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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2016: 43) und zum anderen als „Risikopotential für die schulische Bildungsbiografie“ (ebd.). Über das Zusammenspiel informeller Lernprozesse zwischen Peers, Schule und Familie weiß man bisher wenig, obwohl es einige Studien über den familiären Einfluss auf Bildungserfolg gibt. Die Eltern scheinen für die Peerwahl eine wichtige Rolle als „Gatekeeper“ zu spielen, die familiären Werte und Normen scheinen auf die Peergruppe einzuwirken; Milieueinflüsse scheinen eindeutig und homogenisiert auf die Haltung zur Schule zu wirken (ebd.: 47). „Der soziale Reproduktionszirkel von familialen Herkunftsmilieus, schulischem und außerschulischem Bildungserwerb wird durch das Lernen in Peerkontexten zumindest im frühen Jugendalter somit nur fortgeschrieben“ (Krüger 2016: 48).
Die Bedeutung von Peers als „Parallelwelt zur Welt schulischer Leistung“ nimmt im Alter zwischen 11 und 15 Jahren – so eine aktuelle Längsschnittuntersuchung –kontinuierlich zu (Krüger/Deinert/Zschach 2015: 180), dabei scheint es nur in manchen Fällen zu Bedeutungsveränderungen zu kommen. Es wurden für diese Jugendphase vier „Längsschnittbasismuster“ (ebd.: 172) identifiziert: • „Peers als institutionelle Begleiter sowie inhaltliche und emotionale Unterstützer in schulischen Belangen“ (ebd.: 167), verbunden mit höheren Bildungsambitionen; • Peers als „Parallel- und Ausgleichswelt zur Schule, in der schulische Anforderungen […] keine Rolle im Peerkontext spielen sollen“ (ebd.: 169), verbunden mit pragmatischen Bildungsambitionen; • Peers im Wandel „von einem Risikopotential für die individuelle Schulkarriere zu einer Gegenwelt […] als Ausgleichs- und Entspannungswelt“ (ebd.: 172), verbunden mit geringen Bildungsambitionen; • Peers im Wandel „von einer Gegenwelt gegenüber den Anforderungen der Schule zu einer Parallel- und Ausgleichswelt“ (ebd.: 175), verbunden mit zunehmend höheren Bildungsambitionen. Peergruppen scheinen sich sowohl außerschulisch als auch innerschulisch „homolog entlang sozialer wie kultureller Kriterien (wie z. B. Bildungsaspiration) [zu] konstituieren“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 421). Die damit verbundenen Peerorientierungen differieren im Hinblick auf die Schule, eine Homogenisierung, die vor allem in Bezug auf die Schulform und sozioökomische
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Faktoren nachgewiesen wurde. Die Homogenisierung scheint allerdings über einen längeren Zeitraum vor sich zu gehen, genannt werden vier Jahre (vgl. Krüger/Deinert/Zschach 2015) – ein für jüngere Jugendliche vergleichsweise großer Zeitraum. In deutschen Schulen existiert in den Klassen zunächst eine allgemeine „Beliebtheitsordnung“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 416), die spätestens nach dem sechsten Schuljahr an Bedeutung verliert und einer zunehmend sozialen Ausdifferenzierung Platz macht. Dabei sind die oberen und unteren Positionen der „beliebtesten“ und „unbeliebtesten“ Kinder ähnlich exponiert und prekär. Innerhalb einer Klasse bewegen sich die Beziehungen in ihrer Qualität zwischen Solidarität und Konkurrenz, Anerkennung beruht häufig auf prosozialem Verhalten und der Fähigkeit witzig bzw. lustig zu sein (ebd.; vgl. Reinders 2015: 401). Die schulische Clique spielt eine große Rolle im Peerleben von Schülerinnen und Schülern. Zugehörigkeiten und Statuserwerb werden vor allen in den US-amerikanischen Studien beschrieben: „Die Clique wird hier als Freundschaftszirkel beschrieben, dessen Mitglieder sich wechselseitig als miteinander verbunden verstehen. Cliquen sind durch eine interne hierarchische Struktur und durch Exklusivität gekennzeichnet“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 415).
3.3.3 Peerbeziehungen in der Grundschule Dass Peerorientierungen in der Grundschule von Relevanz sind, zeigten Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009) in ihrer Untersuchung zum Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe (vgl. Abschnitt 2.2.4). Sie stießen in den schulbezogenen Wissensbeständen der Kinder auf „die inhaltliche Dimension einer Peerintegration, die v. a. biografisch motiviert ist und sich kaum mit elterlichen Haltungen zu Schule und Bildung erklären lässt“ (ebd.: 198). Die Bedeutung der Peers für den Übergang variierten erheblich mit den Habitustypen, während sie für den exzellenten Habitustyp irrelevant erschienen, waren sie bei anderen Habitustypen von zentraler Bedeutung für den Übergang und die Anwahl der neuen Schule. Die antizipierten Übergangserfahrungen waren eng mit einer hohen Bedeutungszuschreibung für die Peers verbunden, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne (ebd.: 207). Im Folgenden werden die vorliegenden Erkenntnisse dazu zusammengefasst.
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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Der Beginn der Grundschulzeit gilt als Zäsur und Auftakt der sogenannten mittleren Kindheit (Krappmann 2010: 190 f; Reinders 2015: 400). In dieser Phase differenziert sich das Freundschaftskonzept aus und wird „als grundlegendes Sozialprinzip (an-) erkannt“ (ebd.). „Gruppenzusammenhänge gewinnen gerade im Kontext der Schule an Bedeutung und es formen sich erste, identitätsrelevante Cliquen, die bis zur Jugendphase durch zunehmende soziodemografische Homogenisierung gekennzeichnet sind“ (Reinders 2015: 401).
Die angesprochene Homogenisierung ist ein langsamer Prozess, zunächst steht in den Grundschulklassen – unter der Aufsicht der Erwachsenen – prosoziales Verhalten gegenüber Peers im Mittelpunkt, nach und nach nimmt es aber ab, vermutlich aufgrund der Zunahme von dyadischen, aber auch komplexeren Peerbeziehungen sowie von Kompetenzen im Umgang damit. Das verändert die Sicht der Schülerinnen und Schüler auf Hilfe für andere, diese bleibt nicht die moralische Norm, sondern wird nach und nach durch die differenziertere Berücksichtigung der Situation, des Gegenübers und der eigenen Interessen abgelöst (Oswald 2008: 321; Reinders 2015: 401; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 417). Dabei spielt auch die Orientierung jüngerer Kinder an etwas älteren eine Rolle (Krappmann 2010: 191). Grundsätzlich gilt weiterhin: „Gleichheit ist […] nicht die Realität der Kindergruppe, aber ein regulatives Prinzip. Es wird zwar ständig verletzt, aber es ist wirksam und es ist zu beachten, um die den Kinderinteraktionen inhärente Problemstruktur angemessen zu begreifen“ (Krappmann 2010: 188).
Zudem ist diese Phase der Kindheit dadurch charakterisiert, dass über Fantasiespiele hinaus einfache und zunehmend komplexere Regelspiele – vom Fangen und Fußballspiel hin zu Gesellschaftsspielen – den Alltag der Kinder prägen; verbunden mit der zunehmenden Homogenisierung der Cliquen führt dies nach und nach zu geschlechtsspezifisch geprägten Gruppen, auch wenn die Grenzen zwischen ihnen immer wieder überschritten werden (Krappmann 2010: 200; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 394). Die Konstruktion von Geschlecht in den Peergruppen ist nicht eindeutig erforscht, sie steht in einem engen Verhältnis zum jeweiligen Lebensabschnitt (vgl. Schrader 2016: 311). Während Krappmann und Oswald (1995b) in den Interaktionen eher Tendenzen einer
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
ntdramatisierung und Kooperation sehen, betonen Breidenstein und Kelle E (1998) die separierende Bedeutung der Interaktionen als Abgrenzung vom anderen Geschlecht bei gleichzeitigem antipodischen Bezug aufeinander. Auch in geschlechtsheterogenen Kontexten bleibt die homogene Peergruppe bedeutsam, sie gilt zudem als „Begleitschutz“ und „Übungsfeld“ für die Überschreitung der Grenzen zwischen den Geschlechtern (Schrader 2016: 314).
Abb. 3.1 Treffpunkte von 6- bis 11-jährigen Kindern 2013 und 2017 (World-Vision 2018: 137)
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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Die Empirie der Peergruppen im Grundschulalter wurde in den letzten Jahren durch die World-Vision-Studien zu sechs- bis elfjährigen Kindern und ihren Lebenssituationen in Deutschland aktualisiert (World-Vision 2013; WorldVision 2018). Die AutorInnen der 2013er-Studie betonten, die soziale Akzeptanz bei Gleichaltrigen stehe im Mittelpunkt, wobei „der Erwerb des adäquaten emotionalen Ausdrucks“ eine wichtige Aufgabe sei (World-Vision 2013: 168; vgl. Krappmann 2010: 214). Es entwickle sich „eine neue Qualität in den Freundschaften“, da die Kinder jetzt Nähe und Vertrauen zwischen gleichrangigen Partnern herzustellen und Lösungen für Konfliktsituationen zu finden suchten. Die wachsende Entscheidungsfreiheit gebe älteren Kindern immer mehr Möglichkeiten, gezielt Kontakte zu sympathischen Peers aufzubauen, da die Erwachsenen die Sozialkontakte weniger steuerten. Allerdings muss die Entwicklung des Freundschaftskonzepts berücksichtigt werden, da Freundschaft im Grundschulalter eher als einseitige Unterstützung oder als „Schönwetter“-Kooperation zu verstehen ist; Freundschaft als vertrauensvolle, geteilte Beziehung und nächste Stufe wird in dem Alter erst in Aussicht genommen (Krappmann 2010: 203; de Boer 2010: 107). Darüber hinaus dürfen Peerbeziehungen nicht als Vorstufe von Freundschaftsbeziehungen verstanden werden, sie „repräsentieren ein eigenes Muster dauerhafter Kooperation von Menschen“ (Krappmann 2010: 204), das in kollegialen, vereinsbezogenen oder genossenschaftlichen Zusammenhängen des Erwachsenenlebens mündet. Die World-Vision-Studie 2018 nutzt den Begriff „Freund“ bzw. „Freundin“ in der Spannung der genannten Dimensionen, sodass die Grenzen zum Peeerbegriff verschwimmen:
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Abb. 3.2 Wertschätzung der kindlichen Meinung nach Geschlecht und Alter (WorldVision 2018: 159)
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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„Während jüngere Kinder Freundschaften vorrangig an gemeinsamen Aktivitäten festmachen, wird in der mittleren Kindheit auch wechselseitige Zuneigung und gegenseitige Unterstützung wichtig. Im Übergang zur Adoleszenz spielt das Teilen von Geheimnissen und Gefühlen und das Besprechen von Problemen mehr und mehr eine Rolle […]“ (WorldVision 2018: 126).
Die Studie stellt fest, dass Kinder zwischen sechs und elf Jahren ihre „Freundinnen“ bzw. „Freunde“ häufiger in der Schule als anderswo treffen, dass aber auch der Nahbereich außerhalb der familiären Wohnung, also Straße, Spielplatz und Hof, sowie die Mittagsbetreuung Treffpunkte sind (s. Abb. 3.1) Ein beträchtlicher Teil von ihnen tritt „nahezu täglich“ bzw. „mehrmals die Woche“ per Internet in Kontakt, nach eigenen Angaben 45 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen und 10 Prozent der Acht- bis Neunjährigen, insgesamt 20 Prozent aller untersuchten Altersgruppen. (ebd.: 138). Möglichkeiten, selbst Entscheidungen zu treffen, finden Kinder in ihren Familien laut der World-Vision-Studie 2018 vor allem in der Auswahl der Peers, der Freizeitbeschäftigungen, der Kleidung und der Möglichkeit, ohne die Begleitung Erwachsener draußen zu sein – alle Aspekte erreichen Zustimmungswerte über 90 Prozent (ebd.: 151). Die Entscheidungsmöglichkeiten in der Schule wirken demgegenüber reduziert – hier werden alle Werte über 50 Prozent angegeben, die „oft“ oder „manchmal“ mitbestimmen dürfen: 70 Prozent dürfen oft oder manchmal bei der Auswahl ihres Banknachbarn mitbestimmen, 64 bei der Gestaltung des Klassenzimmers, 59 bei der Gestaltung der Klassenregeln und 58 bei der Gestaltung von Schulfesten (ebd.: 92). Die Wertschätzung der eigenen Meinung durch nahe Erwachsene bzw. nahe Peers fällt unterschiedlich aus, vor allem im Hinblick auf die Erfahrungen in Familie und Schule (s. Abb. 3.2). Die Frage lautete: „Was glaubst du, welche von den folgenden Personen legt eher viel und welche eher wenig Wert auf Deine Meinung?“ (ebd.) Erstaunlicher Weise liegen die Angaben für die Anerkennung zwischen Müttern und „bestem Freund“ bzw. „bester Freundin“ nahezu identisch, sie liegen immer bei über 60 Prozent „eher viel“ Wertschätzung, die der Mütter teilweise geringfügig niedriger als die der „besten Freundin“ bzw. des „besten Freunds“. Ebenso erstaunliche liegen -auf einem sehr viel geringeren, fast halbierten Level – die Werte von KlassenlehrerInnen und BetreuerInnen in der Schule nahe beieinander, also zwischen Professionellen und dem sogenannten „weiteren pädagogischen Personal“ (Arnoldt/Züchner 2008: 640).
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
Während allgemein von Freundschaften, Cliquen, Crowds bzw. dyadischen Beziehungen, informellen Cliquen, organisierten Gruppen und sozialen Netzwerken gesprochen wird (s. o. Abschnitt 3.3.1), nahmen Oswald und Krappmann früh eine spezifische Unterscheidung für Kinder im Feld der Grundschule vor. Die beiden Forscher identifizierten „mehrere qualitativ unterschiedene Gruppierungen, nämlich Gruppen und Geflechte, sowie Interaktionsfelder von nichtangebundenen Kindern“ (Krappmann/Oswald 1995: 65; vgl. Oswald 2008; Reinders 2015; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016). Oswald (2008: 20 f) zog später aus den Forschungen den Schluss, dass es klare Gruppen im Sinne der Gruppensoziologie oder Sozialpsychologie in Grundschulklassen nicht gebe. Er unterscheidet stattdessen zwischen „Quasigruppen“, „Geflechten“ und „Interaktionsfeldern“14: • Die Kinder der Quasigruppen „[…] bezeichnen sich nicht als Gruppe oder Clique und haben in diesem Sinn kein Wir-Gefühl, sie haben sich allerdings im Soziogramm gegenseitig gewählt. Auch haben sie keine erkennbaren eigenen Regeln, die die Gruppe von den anderen unterscheidbar macht. Sie haben aber ein Gruppenthema […] Gruppenähnlich werden sie durch eine vertikale Differenzierung“ (ebd.: 21). • Geflechte sind klar umrissene Kreise von Kindern meist gleichen Geschlechts, „[…] die sich gut kennen, viel miteinander zu tun haben, untereinander wechselnde Freundschaften schließen, aber nicht alle miteinander befreundet sind […] Das Geflecht ist sozusagen ein ständig zur Verfügung stehendes Reservoir für die Bildung von Zweier- und Dreier-Beziehungen. Solche Geflechte kommen ohne Anführer aus“ (ebd.: 21). • Interaktionsfelder bestehen aus Kindern, die „[…] untereinander nicht oder doch nur oberflächlich befreundet sind und auch anderweitig in der Klasse keine Freundinnen haben. Weil sie übrig geblieben sind, sitzen sie an Gruppentischen zusammen und interagieren als ‚Notgemeinschaft‘ untereinander häufiger als mit anderen“ (ebd.: 23).
14Dabei ist zu beachten, dass diese Gebilde in geschlechtsspezifischer Hinsicht different sind. So stellte Oswald (2008) in Bezug auf Jungen in einem Interaktionsfeld fest, dass diese viel miteinander zu tun haben, aber keinerlei freundschaftliche Beziehungen pflegen, sondern sich gegenseitig negativ titulieren.
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Darüber hinaus haben die beiden Forscher (Oswald/Krappmann 2004) aus Sicht der Kindheitsforschung die Strukturen sozialer Ungleichheiten in Grundschulklassen untersucht. Ihre Ergebnisse zeigen enge Zusammenhänge zwischen dem Schulerfolg und dem soziometrisch gemessenen Beliebtheitsrang; außerdem wird sichtbar, dass Kinder aus Familien mit hohem Einkommen und Bildungsniveau deutlich bessere Chancen haben, in der Klasse einflussreich zu sein (Oswald und Krappmann 2004: 491; Krüger/Deinert/Zschach 2015: 162). In einer aktuelleren Untersuchung wurde festgestellt, dass Armut die Chance verringere, Peerbeziehungen zwischen Kindern zu gestalten, vor allem Mädchen, die in Armut aufwachsen, verfügten signifikant häufig nicht über ‚Spielkameraden‘ (s. Abb. 3.3).
Abb. 3.3 Kinder in der Grundschule ohne ‚Spielkameraden‘ nach Armutsbetroffenheit und Geschlecht (Fritzsche/Krüger/Pfaff 2009: 271)
Der Unterricht der Grundschule (s. o. Abschnitt 3.3.2) zeichnet sich gegenüber dem der Sekundarstufe durch eine „spezielle Verknüpfung von Bildungsund Erziehungsaufgaben“ (Schorch 2009: 231) aus. Das Verhältnis von Peers und Unterricht, so Heike de Boer und Heike Deckert-Peaceman (2009a), sei als Einheit im schulischen Lernprozess zu sehen und als Prozess des Schülerwerdens und -seins zu verstehen.
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3 Forschungsfrage, Forschungsfeld und Erkenntnisinteresse
„Demnach gibt es keine Aufspaltung von Peer- und Schüler/innenkultur, sondern ein relationales Verhältnis, das sich je nach Situation und Person anders darstellt und grundsätzlich fluiden Charakter hat. Kinder können gleichzeitig mit ihrem Oberkörper den Schülerhabitus einnehmen und sich mit ihrem Unterkörper peerkulturellen Aktivitäten widmen“ (ebd.: 26).
Die Peeraktivitäten, so Wiesemann (2009), müssten in den „lernsituationalen Kontext“ eingebunden werden, um sie nicht wieder zurück auf die ‚Hinterbühne‘ zu verlagern, sonst würde Peerverhalten zur ‚Gegenkultur‘ des Schülerhandelns und nicht zu einem „wertvollen Potential für das Verständnis lernkultureller Praktiken auf der Vorderbühne“ (Wiesemann 2009: 189). Die Schlussfolgerung, die de Boer und Deckert-Peaceman vornehmen, dass es sich um eine KoKonstruktion zwischen Peerkultur und schulischer Ordnung im Hinblick auf Generationsbeziehungen handle, wird von Gerold Scholz (2009) kritisiert. Das sei eine Konstruktion der Erwachsenen, offensichtlich wollten manche, dass Kinder in der Schule lernen, zwischen unterschiedlichen Ordnungen zu unterscheiden, und andere nicht. „Aus meiner Sicht schaffen die Erwachsenen einen Rahmen, der grundlegend von der Asymmetrie der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen bestimmt wird. In unterschiedlichen Kulturen oder zu unterschiedlichen Zeiten in ein und derselben Kultur oder von unterschiedlichen Subkulturen wird dieser Rahmen unterschiedlich bestimmt. Einige Ordnungen lassen Kindern überhaupt keine eigenständigen Interpretationen, andere benötigen die selbständigen Deutungen der Kinder, um von da aus und auf effektive Weise eine Vermittlung der gewünschten Werte, Normen und Denkmuster zu erreichen. Es sind die Erwachsenen, die den Rahmen bestimmen und damit die Grenzen festlegen und die Spielräume der peergroup innerhalb dieser Grenzen. Natürlich kann die peergroup den Rahmen sprengen – die Angst davor begleitet die pädagogisch handelnden Erwachsenen“ (Scholz 2009: 243).
Der Vergleich peerkulturellen Handelns in einer finnischen und einer deutschen Schulklasse machte deutlich, dass Kinder der deutschen Schulklasse eine ausgeprägte Bewertungspraxis des Unterrichts, der Lehrenden und der MitschülerInnen zeigten, die den finnischen Kindern fehlte. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Selektions- und Bewertungsmechanismen des deutschen Schulsystems zu bewertenden Perspektiven bei SchülerInnen führen (vgl. de Boer/Deckert-Peaceman 2009b: 323). Der Blick auf das Forschungsfeld machte deutlich, dass Peerbeziehungen in der Grundschule im Verlauf der Schuljahre an Bedeutung gewinnen und für den Prozess des „Schülerwerdens und -seins“ (de Boer/Deckert-Peaceman 2009a: 26) konstitutiv zu sein scheinen, wenn der Forschungsstand auch nicht
3.3 Forschungsfeld: Peerbeziehungen an Grundschulen
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befriedigend ist. Dabei fallen insbesondere zwei Aspekte auf, zum einen die differenzierte Bedeutung der Peers für formelles und informelles Lernen und damit für kindliche Bildungsbiografien, zum anderen die U-förmige Entwicklung, die dem prosozialen Verhalten von Grundschulkindern auf dem Weg zur Homogenisierung der Peergruppen attestiert wird (s. o.; vgl. Reinders 2015). Das lässt es sinnvoll erscheinen, den methodologischen Zuschnitt dieser Studie darauf abzustellen, dass Peerbeziehungen vorrangig berücksichtigt werden. Da dafür „theoretische Brückenkonzepte“ (Köhler/Krüger/Pfaff 2016: 23) benötigt werden, die individuelle Voraussetzungen, kulturelle Praktiken und institutionelle bzw. soziale Rahmungen der Peergruppen vermitteln und zugleich Anschlüsse an die beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen finden, wird hier – wie empfohlen – ein praxistheoretischer Zugang in wissenssoziologischer Form gesucht.
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Forschungsgegenstand und Methodologie
Die Darstellung des Forschungsstands führte zu der Entscheidung, die ursprüngliche Forschungsfrage weiterzuentwickeln und nach Peer-Perspektiven von Grundschülerinnen und Grundschülern zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften zu fragen. Die Ausdifferenzierung des Erkenntnisinteresses und des Forschungsfelds im letzten Kapitel beeinflusst die weiteren methodischen Entscheidungen, durch die die Erhebung und Auswertung der Daten konstelliert werden. Dabei gilt es erstens, die Kollektivität der Peer-Orientierungen, zweitens, die Standortgebundenheit des Forschers, und drittens, die generationalen Bezüge zwischen Forscher und Beforschten zu berücksichtigen. Grundlegend orientiert sich diese Studie auf den Bereich rekonstruktiver Sozialforschung, da die Diskussion des Forschungsstands eine höhere Aussagekraft und komplexere Relationierung entsprechender Studien zum Thema belegte. Unter rekonstruktiver Sozialforschung wird hier empirische Forschung verstanden, die – ausgehend von Alfred Schütz’ Arbeiten zu Sinn und Motiven sozialen Handelns – die Annahme einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit zugrundelegt und die Konstruktionen der Akteure rekonstruieren will, indem sie Konstruktionen zweiten Grades vornimmt (Berger/Luckmann 1969; Bohnsack 2005: 66; Bonß/Dimbath/Maurer 2013: 170 ff, 183 ff; Bohnsack 2017: 83 f). Dabei geht es ihr darum, die Relevanz-Strukturen der Akteure verstehend nachzuvollziehen, ohne dass diese durch vorgegebene Samplebildung, Hypothesen, methodische Standardisierung o. a. in der Entfaltung ihrer Differenzierungen gegenüber ForscherInnen behindert werden. Darüber hinaus richtet sich das Interesse so verstandener Forschung auf lebensweltliche bzw. sozialstrukturelle Hintergründe, z. B. auf generationale und milieubezogene Bezüge und
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_4
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie
erankerungen von Deutungen und Wissensbeständen (vgl. Bohnsack/Marotzki/ V Meuser 2011: 140 f). In den Erziehungswissenschaften umfasst der Begriff rekonstruktiver Forschung unterschiedliche methodologische Ansätze. Ralf Bohnsack nennt 2005 (68) die objektive Hermeneutik, die Konversationsanalyse, die Narrationsanalyse und die dokumentarische Methode. Diese Verfahren entwickeln ihre Methoden und Standards auf der Grundlage der empirischen Rekonstruktion der Forschungspraxis, verstehen sich und ihre Standards als Konstruktionen zweiten Grades und ermöglichen methodisch kontrolliertes Fremdverstehen durch „Kontextuierung“, ferner stellen sie metatheoretische Kategorien zur Verfügung (ebd.: 65 ff). Im Unterschied dazu zählen Merle Hummrich und Rolf-Torsten Kramer nur die objektive Hermeneutik Oevermanns, die narrationsstrukturelle Analyse Schützes und die dokumentarische Methode Bohnsacks zu den rekonstruktiven Verfahren (Hummrich/Kramer 2016: 68), weil sie drei relevante Merkmale der Rekonstruktivität gemeinsam haben, zuerst „die Annahme eines modus operandi“, dann „die Beschaffung von möglichst unverstellten Daten als Ausdrucksformen der interessierenden Praxis“ und schließlich deren „sequenzanalytische Rekonstruktion“ (ebd.). Martin Heinrich und Andreas Wernet beziehen dagegen ethnographische und hermeneutische Ansätze in den Kanon ein und vermeiden methodologische Festlegungen, sie betonen im Gegenteil „die Momente der Bricolage, der Emergenz, der Improvisation“ (Heinrich/Wernet 2018: 5), da das Forschungsfeld der rekonstruktiven Bildungsforschung in vielfacher Hinsicht durch „Dynamik, Vielseitigkeit und Eigensinnigkeit“ (ebd.: 4) gekennzeichnet sei, die andernfalls nicht abgebildet werden könne. Diese Studie versteht ihre Aufgabe als methodisch kontrolliertes Fremdverstehen kindlicher Perspektivität im Kontext generationaler Ordnung unter den Bedingungen biografischer und professionsbezogener Standortgebundenheit des Forschers. Die Abgrenzungen des Kanons rekonstruktiver Forschung müssen hier nicht geklärt werden. Vorrangig ist, den Schülerinnen und Schülern „die Möglichkeit zu geben, Sachverhalte und Problemstellungen innerhalb ihres Relevanzsystems in der ihnen eigenen Sprache darzustellen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 17), um sie dann in ihrer Sinnhaftigkeit und Eigensinnigkeit rekonstruieren zu können. „Die methodische Kontrolle bezieht sich mithin auf die Kontrolle der Unterschiede der Darstellungsformen von Untersuchten und Forschern. Der Differenz zwischen den Relevanzsystemen und Interpretationsrahmen wird systematisch Rechnung getragen: Bei der Erhebung geschieht dies dadurch, dass die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass die Untersuchten ihre Darstellung selbst gestalten können.
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Bei der Auswertung wird von den Kontextuierungen der Erforschten ausgegangen und nicht – wie bei den standardisierten Verfahren – von Vorab-Kontextuierungen durch die Forscher“ (ebd.).
Entlastend wirkt bei dieser Aufgabenstellung, dass die rekonstruktive Sozialforschung über einen entwickelten Methodenkanon verfügt, der es erlaubt, in der Darstellung der gewählten Methoden auf einen detaillierten Nachweis der Güte in jedem einzelnen Schritt zu verzichten (ebd.: 400)1. Allerdings ist der gewählte Bezug auf implizite Grundlagen der Veständigung, die „die Adäquatheit des wissenschaftlichen Verstehens auf der Grundlage der Rekonstruktion der Alltagsmethoden des Verstehens bestimmen“ (ebd.: 23), nicht unstrittig, da ihm spezifische Theorien der Sozialität zugrunde liegen, deren Gültigkeit als Gütekriterien selbst in Frage steht. Daher muss die Verständigung über gemeinsame Standards der qualitativen Methodologie als nicht abgeschlossen angesehen werden (vgl. Bohnsack 2005; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014; Strübing/Hirschauer/Ayaß/ Krähnke/Scheffer 2018)2. Trotzdem können die grundlegenden Forschungs-
1Strübing,
Hirschauer, Ayaß, Krähnke und Scheffer (2018: 85) unterscheiden Gütekriterien von gemeinsamen Leistungsmerkmalen qualitativer Forschung einerseits und praktischen Maßnahmen zur Herstellung und Sicherung dieser Güte andererseits. „Allgemeine Leistungsmerkmale (wie Offenheit oder Reflexivität) markieren das Anspruchsprofil und die Zielperspektiven qualitativer Forschung. Qualitätssichernde Maßnahmen stellen auf der Ebene verfahrensspezifischer Praktiken sicher, dass sich diese Zielperspektiven erreichen lassen“ (ebd.). 2Strübing, Hirschauer, Ayaß, Krähnke und Scheffer (2018) schlagen fünf grundlegende Gütekriterien vor (ebd.: 83 ff): Gegenstandsangemessenheit, empirische Sättigung, theoretische Durchdringung, textuelle Performanz und Originalität. Originalität meint „die Umsetzung der allgemeinen Erwartung an Forschung, Erkenntnisgewinne zu erzielen“ (ebd.: 94), textuelle Performanz zielt auf die „hermeneutische Übersetzungsleistung“ und die „rhetorische Überzeugungsleistung“ einer Studie; beide Gütekriterien werden an dieser Stelle nicht näher behandelt, da sie zwar als normative Aspekte der Darstellung berücksichtigt werden, aber nur im Kontext der fachwissenschaftlichen Diskusssion im Vergleich mit anderen Studien gewürdigt werden können. Zentral in der Systematik von Strübing, Hirschauer, Ayaß, Krähnke und Scheffer ist das Kriterium der Gegenstandsangemessenheit, das als ‚Basiskriterium‘ für die beiden anderen Kriterien empirischer Sättigung und theoretischer Durchdringung dient: „Multiple Passungsverhältnisse“ (ebd.: 86) verlangen, Theorie, Fragestellung, Fall, Methode und Datentypen aufeinander abzustimmen, da sie gemeinsam den Untersuchungsgegenstand konstituieren; „fortgesetzte Justierung“ (ebd.) bedeutet kontinuierliche Überprüfung und Anpassung dieser Passungsverhältnisse; ein „reduzierter Methodenbegriff“ (ebd.: 87) verlangt, die jeweiligen Methode(n) an den Gegenstand anzupassen; ein „starker Empiriebegriff“ (ebd.) betont, die Empirie müsse Vorrang vor den Methoden haben, um „maximal widerständige Datentypen“ (ebd.) hervorzubringen.
116
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
entscheidungen hier pragmatisch begründet werden, und zwar mit allgemeinen Bezügen auf aktuelle sozialwissenschaftliche Kriterien einerseits (vgl. ebd.), rekonstruktive (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014) und schulpädagogische Kriterien und Standards (Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013) andererseits, die im weiteren Verlauf der Darstellung eingehender entwickelt werden: • Die Kollektivität der Peer-Orientierungen kann mit der Methode der Gruppendiskussion erhoben werden, da sie die Vergemeinschaftung von Kindern abbilden kann (s. u. Abschnitt 5.1) – damit werden die Gütekriterien der Gegenstandsnähe (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 22) bzw. Gegenstandsangemessenheit (Strübing/Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 86 ff) ebenso berücksichtigt wie der Standard des sachgemäßen Methodeneinsatzes (Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 24). • Die Standortgebundenheit des Forschers kann mit Hilfe wissenssoziologischer Theoriebildung reflektiert und kontrolliert werden, da diese sie mit Generalisierungsstrategien kontrollieren kann (s. u. Abschnitt 4.1) – damit wird den Gütekriterien einer fallbezogenen Generalisierbarkeit (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 32) bzw. theoretischen Durchdringung (Strübing/ Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 90 f) genügt, ebenso den Standards der Obejektivität bzw. Intersubjektivität wie der Ethik (Einsiedler/FöllingAlbers/Kelle/Lohrmann 2013: 19 f). • Die generationalen Bezüge zwischen Forscher und Beforschten können durch die Rekonstruktion der Alltagsmethoden des Verstehens (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 23) als Konstruktionen ersten Grades gefasst und interpretiert werden (s. u. Abschnitt 4.1) – somit werden die Gütekriterien einer metatheoretischen Orientierung (ebd.: 29) und theoretischen Durchdringung (Strübing/Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 90 f) erfüllt, außerdem die Standards der Theorieentwicklung und der Anschlussfähigkeit (Einsiedler/ Fölling-Albers/Kelle/Lohrmann 2013: 22 f). Die Entscheidung für die Erhebungsmethode der Gruppendiskussionen zieht aufgrund der engen und historisch gewachsenen Beziehung zwischen Gruppendiskussion und dokumentarischer Methode (vgl. Loos/Schäffer 2001: 26 ff) die Entscheidung für eine Auswertung mit dieser wissenssoziologisch fundierten Methode nach sich, diese wiederum die Orientierung an der Praxeologischen
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
117
Wissenssoziologie als metatheoretischer Grundlegung3. Diese beansprucht, eine „Rekonstruktion der Rekonstruktion“ (Rauschenberg/Hericks 2018: 111; Bohnsack 2018a: 216) in den Mittelpunkt ihrer Methodologie zu stellen, indem sie die eigene Praxis des Forschens zum Gegenstand macht. Sie will keine normativen Setzungen vornehmen, sondern ihre Methodologie aus der „Rekonstruktion der Prozesse des Erkennens im Alltag und aus der Auseinandersetzung mit ihnen“ gewinnen (Bohnsack 2014a: 27). Die ForscherInnen treten in ein reflexives Verhältnis zur eigenen Forschungspraxis und versuchen, „auf dem Wege einer derartigen Reflexion oder Rekonstruktion zu methodischen Prinzipien zu gelangen“ (ebd.). Im Übrigen würdigt die Praxeologische Wissenssoziologie Leistungen der Peerforschung im Zusammenhang von Bildung und Schule ausdrücklich – ein erster Beleg für den Gegenstandsbezug der methodologischen Rahmung: „Der soziale Ort par excellence für außerinstitutionelle und für spontane Bildungsprozesse ist die Peer Group, deren Bedeutung nicht nur für die gesellschaftliche Selbstverortung und die Identitäts- und Habitusentwicklung der Schüler/innen, sondern auch für deren schulische Leistungsorientierung vollkommen unterschätzt wird, wie neuere Studien in konturierter Weise zeigen […]“ (Bohnsack 2018: 218).
Ralf Bohnsack betont in diesem Kontext die grenzüberschreitenden Wirkungen peerbezogener rekonstruktiver Forschungsansätze, die bereits referiert wurden (siehe oben Abschnitt 2.2), wenn er von der „Transzendenzierung der – insbesondere in der Schulforschung – dominanten Individuenzentrierung“ (ebd.) spricht. Damit schließt sich der Kreis, sodass in einem ersten Schritt „multiple Passungsverhältnisse“ (Strübing/Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 86) hergestellt sind, die die Entscheidung für die dokumentarische Methode und ihre grundlagentheoretische Fundierung der Praxeologischen Wissenssoziologie (Bohnsack 2017a: 12; Bohnsack 2018a: 211) rechtfertigen. Sie werden
3Steffen Amling und Nora Friederike Hoffmann (2018: 87 f) kommentieren die Unterscheidung zwischen dokumentarischer Methode und praxeologischer Wissenssoziologie so: „Wenn sich nun auch die Methodologie der Dokumentarischen Methode und die Grundlagentheorie der Praxeologischen Wissenssoziologie zirkulär aufeinander beziehen, lässt sich doch davon sprechen, dass die Praxeologische Wissenssoziologie eine MilieuTheorie beinhaltet, während die Methodologie der Dokumentarischen Methode ein Instrumentarium zur Milieu-Analyse darstellt“ (ebd.).
118
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
im Folgenden als Format rekonstruktiver Sozialforschung entfaltet, bevor das Forschungsdesign, also das Sample, die Erhebungsmethode der Gruppendiskussion und die spezifische Auswertungsmethode der dokumentarischen Methode vorgestellt werden. In einem ersten Schritt werden die grundlagentheoretischen Spezifika der Praxeologischen Wissenssoziologie dargestellt und in einem zweiten die sich aus dem Forschungsgegenstand ergebenden methodologischen Folgerungen, die in einem dritten Schritt in einer heuristischen Gegenstandskonzeption zusammengefasst werden.
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie 4.1.1 Kommunikatives und konjunktives Wissen Dokumentarische Methode und Praxeologische Wissenssoziologie stellen die Differenz von kommunikativem und konjunktiven Wissen in den Mittelpunkt ihres verstehens- und handlungstheoretischen Entwurfs, sie ist für deren Entwicklung konstitutiv (vgl. Asbrand/Nohl 2013: 155; Bohnsack 2014b: 37; Bohnsack 2017a: 53 ff, Bohnsack 2018a: 214). Der Begriff des kommunikativen Wissens meint ein in Interaktionen kommuniziertes, den Akteuren bewusstes und von ihnen geteiltes explizites Wissen, zu dem Deutungen, Motive, Theorien, Relevanzsetzungen und Unterstellungen gehören, zudem Norm- und Rollenerwartungen sowie Identitätszuschreibungen (Bohnsack 2017a: 81 ff). Demgegenüber zielt der Begriff des konjunktiven Wissens auf handlungspraktisches und -leitendes, „stillschweigendes“ Wissen (Bohnsack 2013c: 180), implizite bzw. atheoretische Wissensbestände, eingelassen in das gemeinsame Handeln von Akteuren in gemeinsamen sozialen Räumen, habitualisiert und nur teilweise oder gar nicht bewusst, so dass sich Sprache, Wissen, Wahrnehmung in kommunikative und konjunktive verdoppeln (ebd.: 63 ff). „Karl Mannheim […] hat jene erste Dimension des auf der gesellschaftlichen Ebene gemeinsam geteilten Wissens als ‚kommunikatives‘ Wissen bezeichnet und jene andere Dimension des uns je milieuspezifisch gemeinsamen Wissens als ein ‚konjunktives‘, welches uns ein ‚konjunktives Erkennen‘ ermöglicht. Dabei bezeichnet das ‚Konjunktive‘ einen Modus der Sozialität, eine primordiale Sozialität […]“ (Bohnsack 2017a: 35).
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
119
„Konjunktives Erkennen“ ist ein Begriff in Karl Mannheims „dynamischer Wissenssoziologie“ (Endreß 2007b: 78, 84)4, der auf eine erweiterte Form der Erkenntnis verweist5, die konjunktives Wissen erfasst. Das Erkennen ist demnach „unselbständiger Teil einer existentiellen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt“ (Mannheim 1980: 206) und daher immer sozial und perspektivisch gebunden (vgl. Asbrand/Nohl 2013: 155, 161; Bohnsack 2017a: 69 f). Die existentielle Beziehung als Basis, genauer: als Kontext konjunktiven Erkennens, in dem konjunktives Wissen entsteht, bezeichnet Mannheim als „Konjunktion“ (Mannheim 1980: 214; vgl. Asbrand/Nohl 2013: 159; Bohnsack 2013c: 185); sie ist dem bzw. der Einzelnen nicht äußerlich und zwanghaft (ebd.: 19). Der Begriff soll die Beziehung zwischen Mensch und Mensch bzw. Mensch und Ding erfassen, „jenes Dritte, in dem wir uns vereinigen“, „ein uns verbindender dynamischer Nexus“ (Mannheim 1980: 214). Daraus entsteht ein Raum gemeinsamer und verbindender, sprich „konjunktiver“ Erfahrungen, die persönlich und perspektivisch gebunden sowie gruppen- bzw. milieuspezifisch sind (Mannheim 1980: 215 f; Asbrand/Nohl 2013: 155, 158; Bohnsack 2017a: 102 ff). Der Begriff der Erfahrung bezieht sich dabei auf die „Erinnerung des Erlebten, also auf das kollektive Gedächtnis“ (ebd.: 116) und die sinnbezogene Verarbeitung des Erinnerten in Orientierungen. Davon unterschieden ist die „Kontagion“ (Mannheim 1980: 207; Suber 2006: 256; Schäffer 2003: 77 ff; Schäffer 2013: 51 f; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 285), die als Moment der Erkenntnis, des „Verstehens im Miteinandersein“ (Schäffer 2003: 78) zu sehen ist. Sie wird von Mannheim zunächst als „Berührung“ verstanden, dann als „eine Art der existentiellen Bezogenheit, ein spezifisches Einswerden mit dem Objekte“ (Mannheim 1980: 209). Diese „existenzielle Aufnahme des Gegenübers in das Bewusstsein“ setzt die „Totalität der gesamten existentiellen Beziehung“ in der Konjunktion voraus, die
4Mannheim
bezeichnete seine Wissenssoziologie unterschiedlich, u. a. als dynamische Wissenssoziologie bzw. dynamischen (Suber 2006: 263) oder reflektierten Relationismus (Endreß 2007: 84). Die Rezeption der Mannheim’schen Grundbegriffe wird von Ralf Bohnsack heute in einem anderen Kontext als Adaption „im Zuge der Bewältigung rekonstruktiver-empirischer Analysen“ (Bohnsack 2017a: 63) verstanden. 5Den Begriff des konjunktiven Erkennens verwendet Mannheim in der unveröffentlichten Arbeit „Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit (Konjunktives und kommunikatives Denken)“, die er zwischen 1925 und 1927 – zur Zeit seiner Habilitation – verfasste (vgl. Niethammer 2006). Der Begriff ist in der Überschrift des zweiten Abschnitt „Das konjunktive Erkennen“ des zweiten Teils der Arbeit „Versuch einer soziologischen Theorie des Verstehens und der Kultur“ zu finden (Mannheim 1980: 211 ff).
120
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
g leichzeitig im Moment der Kontagion durch diese verändert wird (ebd.: 206 f, 214; Asbrand/Nohl 2013: 160; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 285). Daraus folgt, dass eine „primordiale Sozialität des Konjunktiven“ (Bohnsack 2017a: 105; Bohnsack 2018b: 24) gegenüber dem Kommunikativen gegeben ist, die in der sozialen Eingebundenheit jeden Erkennens, auch des kommunikativen, und der damit verbundenen Perspektivität begründet ist. „Die Kontagion begründet die Primordialität, das Vorgeordnetsein der Kollektivität gegenüber der Individualität, wie sie uns im konjunktiven Erfahrungsraum begegnet […]“ (Przyaborski/Wohlrab-Sahr 2014: 285).
Die beschriebene Differenzierung zwischen Konjunktion und Kontagion ist in ihrer Bedeutung für die Praxeologische Wissenssoziologie umstritten: Ralf Bohnsack spricht von einem „terminologischen Problem“, wenn er den Begriff der Kontagion auf ein letztendlich seelisches „Verstehen von Existenz“ im Unterschied zu einem „Verstehen von Bedeutsamkeiten“ (Bohnsack 2017a: 70) begrenzen will; dabei thematisiert er nicht, dass Mannheim selbst den Begriff zuerst am Beispiel der Berührung mit einem Stein entwickelte (Mannheim 1980: 207 f; Asbrand/Nohl 2013: 160; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 285). Burkhard Schäffer argumentiert im Unterschied zu Bohnsack mit Blick auf seine Forschungen zur Beziehung zwischen Mensch und Medien, Mannheim konzipiere die Kontagion primordial, führe seine Gedanken zur „Kontagion mit Dingen“ jedoch nicht zu Ende, sondern übertrage sie auf die seelische und geistige Kontagion mit anderen Menschen (Schäffer 2013: 51 f). Bohnsack will demgegenüber „mit Bezug auf diese Art des Verstehens der Dinge von Inkorporierung sprechen, also von der Inkorporierung der Dinge bzw. des Technischen, nicht aber von der Kontagion mit den Dingen“ (Bohnsack 2017a: 71).
Barbara Asbrand und Arnd-Michael Nohl (2013) nutzen den Begriff der Kontagion, ebenfalls in Abgrenzung zu Bohnsack, um Chancen einer wissenssoziologischen Lerntheorie zu diskutieren. Sie beziehen sich dabei auf Mannheims Ausführungen zur „konjunktiven Erfahrungsgemeinschaft“ (Mannheim 1980: 215 f, 271 ff), in denen er Zugänge für die Teilnahme Außenstehender an konjunktiven Erfahrungen reflektiert, um „Lernen als Konjunktivierung“ verstehen zu können, bei der das zu Lernende durch die Kontagion in den eigenen konjunktiven Erfahrungsraum aufgenommen wird bzw. ein neuer gegenstandsbezogener Erfahrungsraum entsteht (Asbrand/Nohl 2013: 160 f). Auch an diesem Beispiel wird die Relevanz der Begriffsentwicklung zur Kontagion sichtbar, die
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
121
sowohl Grenzen als auch Veränderungsmöglichkeiten konjunktiver Erfahrungsräume thematisiert. Aus der Differenzierung kommunikativen und konjunktiven Wissens folgt die epistemologisch relevante Differenzierung zwischen Verstehen und Interpretieren: „Mannheim unterscheidet zwischen ‚Verstehen‘ und ‚Interpretieren‘. Diejenigen, die durch gemeinsame Erlebniszusammenhänge miteinander verbunden sind, die zu einem bestimmten ‚Erfahrungsraum‘ gehören, verstehen einander unmittelbar. Sie müssen einander nicht erst interpretieren. Damit verbunden sind zwei fundamental unterschiedliche Modi der Erfahrung bzw. der Sozialität: die auf unmittelbarem Verstehen basierende ‚konjunktive‘ Erfahrung und die in wechselseitiger Interpretation sich vollziehende ‚kommunikative‘ Beziehung“ (Bohnsack 2014a: 61).
Auf der Ebene des wissenschaftlichen Verstehens geht es um sprachlich formulierte und begrifflich explizierte Erkenntnisse, die – auf der Grundlage eines Verstehensprozesses – als Interpretationen gesehen werden müssen. Interpretinnen und Interpreten, so Bohnsack, müssen zum einen in der Lage sein, Erlebnisse, die Gegenstand ihrer Forschung sind, „erlebnismäßig nachzuvollziehen“, zum anderen müssen sie sie „objektivieren“ (ebd.: 133), d. h. theoretisch-begrifflich explizieren, indem sie eine vom Erleben differente Haltung einnehmen. Dokumentarische Methode und Praxeologische Wissenssoziologie sprechen daher von formulierenden und reflektierenden Interpretationen, wenn es um kommunikatives und konjunktives Handeln geht. Verstehen und Interpretieren beziehen sich auf die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns6, die von Mannheim a priori gesetzt wird (Endreß 2007b: 82; Meuser 2013: 233). Dokumentarische Methode und Praxeologische Wissenssoziologie differenzieren den Sinngehalt auf drei Ebenen, auf der Ebene des „intendierten“ bzw. „intentionalen Ausdruckssinns“, des „objektiven Sinns“ im Sinne des gesellschaftlich geteilten Wissens und des „Funktionsinns“, wie Mannheim ihn an einer Stelle genannt hat, später „Dokumentsinn“ (Endreß 2007b: 81). Der subjektiv gemeinte Sinn gilt als nicht rekonstruierbar (s. Abb. 4.1), da er auf Deutungen beruht (Bohnsack 2017a: 87), die den Äußerungen der Beforschten über ihre Motive attribuiert werden. Der objektive sowie der dokumentarische Sinn sind rekonstruierbar.
6Der
Begriff des Handelns wird hier nicht in der Differenzierung von „action“ („echtes Handeln“) und „conduct“ („Sich-Verhalten“) verstanden, wie sie Schütz mit Bezug auf Max Weber vorgenommen hat, da damit körper- und handlungsbezogene Praktiken ausgegrenzt würden (Bohnsack 2017a: 37 f, 84; vgl. auch Dietrich 2014: 144).
122
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Abb. 4.1 Drei Sinngehalte im Verständnis der dokumentarischen Methode (Nohl 2017: 6)
Allerdings hat Bohnsack in Bezug auf die Erfassbarkeit des subjektiv gemeinten Sinns insofern eine Differenzierung vorgenommen, als er rollenförmige und institutionalisierte Handlungsentwürfe sowie Theoriekonstruktionen als Orientierungsschemata und damit Teil des kommunikativen Wissens versteht, sofern sie Um-zu-Motive als „Orientierungstheorien“ und echte Weil-Motive als „Erklärungstheorien“ entwickeln (Bohnsack 2017a: 83 f, 85; vgl. auch 2013b: 171; 2014b: 45 f)7. Zugrunde liegt der Methodologie der Praxeologischen Wissenssoziologie eine Kritik der sogenannten „rationalistischen“ Wissenschaftsperspektiven als zweckund regelgebunden, deduktiv und hierarchisch (vgl. Bohnsack 2017a: 87 ff; 2018: 212 ff). Diese Kritik wurde von Mannheim bereits in den 1920er Jahren gegenüber Scheler und anderen entwickelt und machte ihn zum Mitbegründer der Wissenssoziologie; er griff die rationalistische Methodologie als „quantifizierend“ und „rechnerisch“ an, „[…] indem sie isolierend und abstrahierend wie sie ist, den Denkakt, das theoretische Verhalten von den sonstigen existentiellen Beziehungen des Subjektes (‚Lieben‘, ‚Handeln‘, ‚Verändern wollen‘), in die er stets eingebettet ist, abhebt und die Totalität der gesamten existentiellen Beziehung, in der das ‚Erkennen‘ nur eine Seite ist, nicht sehen will“ (Mannheim 1980; 205 f).
Damit wird sichtbar, dass die dokumentarische Methode nicht als Methode entworfen wurde, sondern als Methodologie (Bohnsack 2010a: 291; Bohnsack 2013c: 176). Die „Mannheim‘sche Doppelstruktur“ (Bohnsack 2017a: 19), 7„Ein
beobachtetes Handeln (wie etwa „Holzhacken“, um ein Beispiel anzuführen, welches auch Weber verwendet) kann also in zwei ‚Richtungen‘ erklärt werden: ‚Ich hacke Holz, um Lohn zu erhalten‘: Um-zu-Motiv. Aber: ‚Ich hacke Holz, weil es mir befohlen worden ist‘: Weil-Motiv“ (Bohnsack 2014: 146).
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
123
d. h. die Verdopplung des Wissensbegriffs, basiert erkenntnislogisch auf der „dokumentarischen Methode der Interpretation“ (Schützeichel 2012: 20)8, später als „genetische Interpretation“ bezeichnet, die – mit Mannheims Begriffen gesprochen – die Frage nach dem „Geltungscharakter“ des Wissens suspendiert und dem „Erfassen der Funktionalität“ dient (Bohnsack 2017a: 76 f; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 284). Sie richtet die analytische Perspektive auf die Genese des Handelns, wechselt vom „Was“ zum „Wie“: „Die Bedeutung einer Handlung, einer Äußerung, einer Geste, eines Begriffs erfasse ich dann, wenn ich jenen sozialen oder interaktiven Kontext, jenen übergreifenden existenziellen sozialen Zusammenhang oder Interaktionsprozess mir rekonstruktiv vergegenwärtige, für den diese Äußerung oder Handlung einerseits Ausdruck ist, dessen Bestandteil sie aber andererseits zugleich darstellt“ (Bohnsack 2017a: 77).
Die Praxeologische Wissenssoziologie versteht dies als Kritik an hermeneutischen oder interpretativen Ansätze und grenzt sich damit von den sogenannten Common-Sense-Theorien9 ab, isb. von Schütz’ Phänomenologischer Soziologie (vgl. Bonß/Dimbath/Maurer 2013: 170 ff) und dem Sozialen Konstruktivismus von Berger und Luckmann (ebd. 183 ff), aber auch von der Ethnomethodologie (Garfinkel) (ebd. 196 ff); demgegenüber betont sie Gemeinsamkeiten mit Bourdieus Praxeologie und der Systemtheorie Luhmanns (vgl. Bohnsack 2010a; 2013b; 2017a). Bohnsack betont aber gleichzeitig die
8Grundlegende
verstehenstheoretische Differenzen zwischen Mannheim, der sich stärker auf Dilthey bezog (siehe Suber 2006) und Schütz, der an Husserl anschließt (vgl. Schnettler 2007) können hier nicht entwickelt werden; während Schütz sogenannte „Kundgabehandlungen“ über fünf Auslegungs- (und damit Verstehens-) Ebenen interpretieren lässt (Schnettler 2007: 105), entwickelt Mannheim die Idee der „Kontagion“ (Suber 2006: 256 f). 9Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014) beschreiben Common Sense-Theorien folgendermaßen: „Die Konstruktionen ‚zweiten Grades‘ nach Schütz (1971) […] sind auf die Rekonstruktion der Theorien des Alltags und deren Aufbau gerichtet. Qualitative Ansätze, welche in dieser Forschungstradition stehen, sind auf denselben Gegenstand gerichtet wie der Common Sense. Es geht dabei um das systematische Erfassen bzw. Erschließen von subjektiven Deutungen und Einstellungen ebenso wie von Alltagstheorien […]. Diese Perspektive ist stark ‚deskriptiv orientiert‘ […]“ (ebd.: 18 f). Sie fahren fort: „Sie ist auf die Rekonstruktion der Common-Sense-Theorien gerichtet, darauf, was kompetente Gesellschaftsmitglieder unmittelbar erschließen könnten, wenn sie sich Zeit für eine systematische Rekonstruktion nehmen würden“ (ebd.: 20).
124
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Bedeutung der zuerst genannten Ansätze für die Analyse kommunikativen Wissens, wie anhand der differenzierenden Interpretation des subjektiv gemeinten Sinns gezeigt; er bezieht seine Kritik auf Harold Garfinkels ethnomethodologische Überlegungen, die sich ebenfalls auf Mannheim berufen: „Entsprechend haben sich Garfinkel und mit ihm die gesamte Ethnomethodologie insgesamt in ihren theoretischen (im Unterschied zu ihren empirischen) Arbeiten letztlich nicht vollständig von einem rationalistischen Regelbegriff gelöst, welcher die Praxis als eine deduktive Anwendung von (normativen) Regeln versteht und der auch heute noch die Diskussion um den Regelbegriff dominiert. Dem damit verbundenen infiniten Regress von Regeln und Anwendungsregeln, an dem sich […] auch heute noch die Diskussion um den Regelbegriff abarbeitet, stellt die Praxeologische Wissenssoziologie das Verständnis einer notorischen, letztlich ubiquitären, Diskrepanz gegenüber, einer Diskrepanz von Regel resp. propositionaler Logik einerseits und Praxis resp. performativer Logik andererseits“ (Bohnsack 2017a: 18 f).
Die Diskrepanz von propositionaler und performativer Logik ist die von kommunikativem und konjunktivem Wissen, sprechakttheoretisch gewendet (Bohnsack 2017a: 93; Vogd 2010: 131). Mit dem kommunikativen Wissen verbindet sich eine propositionale Logik, alles „das, was Gegenstand einer (sprachlichen) Äußerung ist“, mit dem konjunktiven Wissen eine performative Logik, „die uns Aufschluss darüber gibt, welche soziale Beziehung die Beteiligten durch den Sprechakt eingehen“ (Bohnsack 2017a: 93). „Karl Mannheim (vgl. 1980, S. 296) hatte diese Doppelstruktur der Logik der Theorie und der (Identitäts-)Normen einerseits und der Logik der Praxis alltäglichen Handelns bzw. alltäglicher Erfahrungs- und Begriffsbildung andererseits bereits ansatzweise gesehen und auf sie als die Dimensionen des ‚kommunikativen‘ und des ‚konjunktiven‘ Wissens Bezug genommen“ (Bohnsack 2018a: 214).
Die Diskrepanz der Logiken und ihre Bearbeitungsformen werden als notorisch und ubiquitär beschrieben, sie sind Teil des Konzepts des konjunktiven Erfahrungsraums und Gegenstand des folgenden Abschnitts. Damit sind wesentliche erkenntnistheoretische Grundlagen der dokumentarischen Methode und der Praxeologischen Wissenssoziologie umrissen, vor allem das, was als „Seinsverbundenheit des Wissens“ – und entsprechend auch als Standortgebundenheit von Forscherinnen und Forschern – zu verstehen ist, deren Erkenntnis zugleich ein „erster Schritt zur Lösung von der Seinsgebundenheit“ darstellt (Mannheim 1969: 259):
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
125
„Er [Mannheim – KS] stellt das Postulat der Seinsverbundenheit des Wissens auf. Zwischen dem ‚Sozialen‘ und dem ‚Wissen‘ gibt es kein kausales, wohl aber ein Ausdrucksverhältnis. Das heißt, dass Erkenntnis-, Wissens- und generell alle symbolischen Repräsentationsprozesse von Seinsfaktoren bestimmt werden und dass diese Seinsfaktoren sich nicht nur auf die soziale Selektion dieser Prozesse beziehen, sondern auch maßgeblich deren Gehalt, Inhalt und Form bestimmen“ (Schützeichel 2012: 20).
4.1.2 Erfahrungsraum, Orientierungsrahmen und Habitus Konjunktive Erfahrungsräume entstehen durch gemeinsames Erleben in Paaren, Gruppen und Milieus10 über einen längeren Zeitraum (Bohnsack 2017a: 107, 116); sie entstehen ferner durch die Strukturidentität des Erlebten in größeren, gruppenübergreifenden sozialen, organisationalen und gesellschaftlichen Kontexten. Dabei stehen gemeinsame Handlungspraxen im Mittelpunkt, durch die ein diesen Räumen jeweils spezifisches konjunktives Wissen entsteht. Allerdings kommt der Kategorie des konjunktiven Erfahrungsraums weniger eine gegenstandstheoretische Funktion zu als eine methodisch-methodologische, die die Relationierung der Dimensionen offenhält (Bohnsack 2018b: 26; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 288). Die Differenzierung identischen bzw. strukturidentischen Erlebens in einem konjunktiven Erfahrungsraum – Goldmann (2017: 147 f) differenziert mit Mannheim zwischen „räumliche[r]“ und „vitale[r]“ Nähe – wurde von Mannheim im Kontext seines generationalen Denkansatzes entwickelt (vgl. ebd.) und von Bohnsack weitergeführt. Mannheim hatte 1928 einen – auch heute noch viel beachteten und in der Debatte um generational bezogene soziologische Probleme immer wieder zitierten – Aufsatz „Das Problem der Generationen“ (Mannheim 1964) veröffentlicht, in dem er zwischen „Generationslagerung“, „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“ unterschied, also zwischen biologisch-demographischen Lebenslagen, konjunktiven Erfahrungsräumen biografisch-geschichtlicher Gemeinsamkeiten und der Bildung von sinn- und stilgebundenen Gruppen aus der Überlagerung von generationalen und sozialen oder politischen Milieus – allerdings ohne selbst von konjunktiven Erfahrungsräumen zu sprechen (vgl. Niethammer
10Der
Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums wird von Bohnsack (2017a: 217) im Anschluss an Mannheim synonym mit demjenigen des Milieus verwandt, der dessen Bedeutung eher umgangssprachlich ausdrücke.
126
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
2006: 213 ff; Barboza 2009: 70 ff; Bohnsack 2017a: 221 f). Bohnsack diskutiert und betont die Möglichkeiten des Transfers auf andere Milieus: „Während im Bereich von Generationenmilieus das strukturidentische Erleben zeitgeschichtlicher Veränderungen konstitutiv ist, lässt sich dies analog auf die erlebnismäßige Einbindung in Bildungsinstitutionen, die Stellung im Produktionsprozess und das sozialisatorische Erleben von Genderverhältnissen übertragen, also auf Bildungs-, Berufs- und Arbeits- sowie Gendermilieus“ (Bohnsack 2013c: 184 f).
In diesen konjunktiven Erfahrungsräumen wird die Unterscheidung von konjunktivem und kommunikativem Wissen, von propositionaler und performatorischer Logik für die Schemata und Rahmen der Orientierung relevant. Orientierungsrahmen im weiteren Sinne konstituieren sich auf der Grundlage konjunktiven Wissens, aber in der „erfahrungsraumspezifischen Auseinandersetzung mit dem – als exterior erfahrenen – kommunikativen Wissen“ (Bohnsack 2017a: 73 f). Das Konstrukt des konjunktiven Erfahrungsraums setzt die differenten Logiken bzw. Wissensformen in ein Verhältnis zueinander, die Spannungen bzw. Diskrepanzen zwischen ihnen werden als eigenständiges Ergebnis der Relationierung zu einem relevanten Teil des Erfahrungsraums11. „Konjunktive Erfahrungsräume sind also nicht nur das Produkt des gemeinsamen Erlebens (im Falle interaktiver Erfahrungsräume) resp. des strukturidentischen Erlebens (im Falle gesellschaftlicher Erfahrungsräume) einer gemeinsamen oder strukturidentischen Handlungspraxis, sondern immer auch des gemeinsamen oder strukturidentischen Erlebens der ubiquitären oder notorischen Diskrepanz zwischen Regel und Praxis, also zwischen den normativen Erwartungen – im Bereich von Organisationen auch: den Programmen und der Corporate Identity – einerseits und dem kollektiven Habitus, dem Orientierungsrahmen im engeren Sinne, andererseits. Die Diskrepanz ist eine notorische oder prinzipielle, weil es sich bei den beiden Dimensionen nicht allein um unterschiedliche Wissensbestände, sondern um eine unterschiedliche Logik und Sozialität der Wissenskonstitution handelt“ (Bohnsack 2017a: 104).
Orientierungsschemata umfassen demnach das kommunikative Wissen institutionalisierter Rollen und Normen ebenso wie Identitätszuschreibungen (vgl. Bohnsack 2014b; Bohnsack 2017a; Bohnsack 2018a). Orientierungsrahmen mit ihren Horizonten strukturieren das konjunktive Wissen und sind
11Gleichzeitig
wirken jene auf diesen zurück, weil die Bewältigungsformen der Diskrepanzen zwischen Norm und Habitus Impulse für eine Transformation des Erfahrungsraums geben (Bohnsack 2017a: 108; Rauschenberg/Hericks 2018: 113).
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
127
als modus operandi der Handlungspraxis zu verstehen. Sie dokumentieren und konkretisieren den primordialen Modus der Sozialität, die Kollektivität der Orientierungsrahmen bzw. des Habitus gegenüber den Themen der intersubjektiven Kommunikation (Bohnsack 2017a: 60). Daher steht der konjunktive Erfahrungsraum, in Verbindung mit der Kategorie des Orientierungsrahmens, „im Zentrum der Praxeologischen Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode“ (Bohnsack 2017a: 102; vgl. Rauschenberg/Hericks 2018: 112). Der Begriff des Orientierungsrahmens wird dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen verwandt (s. Abb. 4.2): Zum einen meint der Orientierungsrahmen „im engeren Sinne“ die handlungsbezogene Struktur des spezifischen konjunktiven Wissens, zum anderen „im weiteren Sinne“ die Gesamtstruktur der unterschiedlichen Wissensformen zueinander sowie die daraus entstehenden Verarbeitungsformen (Bohnsack 2014b: 35).
Abb. 4.2 Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (Bohnsack 2017a: 103)
128
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Jede Person, jede Gruppe lebt in unterschiedlichen konjunktiven Erfahrungsräumen12, die sich überlagern und in Korrespondenz zueinander treten. Dabei wird – mit Anschluss an Luhmann – zwischen drei unterschiedlichen Ebenen des sozialen Handelns differenziert, Gesellschaft, Organisation und Interaktion; die Praxeologische Wissenssoziologie fügt dem die Gruppe als Unterbegriff der Interaktion und den Begriff der Person bzw. des Individuums hinzu (Bohnsack 2014b: 33 f; 2017a: 117 f). Die Relationierung der unterschiedlichen Erfahrungsräume und ihrer Konflikte miteinander konstituiert auf der Grundlage des gemeinsamen Erlebens neue Erfahrungsräume, die als reflexive Erfahrungsräume bezeichnet werden. Jeder Erfahrungsraum ist deshalb rekursiv und mehrdimensional (ebd.). Der Habitus-Begriff in der Praxeologischen Wissenssoziologie fällt mit dem Begriff des Orientierungsrahmens im engeren Sinne in eins, „formaldefinitorisch“ ist er ein Synonym (Bohnsack 2014b: 36). Gleichzeitig steht er zu den Orientierungsschemata, den normativen bzw. institutionellen Anforderungen sowie den individuellen oder kollektiven Fremdidentifizierungen in Beziehung (vgl. ebd: 44). Er wurde von Mannheim nur sporadisch benutzt (Meuser 2013: 234) und muss hier in der Unterscheidung zum Habitusbegriff der Bourdieu‘schen Kultursoziologie13 erklärt werden, um ihn für die weitere Untersuchung zu verdeutlichen. Zentral ist sowohl bei Bourdieu als auch bei Bohnsack der Habitus als
12Die
Diskussion um das Verhältnis von individuellen und kollektiven Orientierungsrahmen wurde bereits von Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems (2009) geführt und mit Rückgriff auf Fritz Schützes Narrationsanalyse gelöst (s. o. Abschnitt 2.2.4); ihrer Behauptung unterschiedlicher „Generierungsprinzipien“ widerspricht Steffen Amling (2015): „Ausgehend vom Milieubegriff der praxeologischen Wissenssoziologie lässt sich hier aber m. E. sinnvoller von unterschiedlichen Perspektiven auf denselben Gegenstand sprechen, statt von unterschiedlichen Generierungsprinzipien: Denn auch ‚individuelle Orientierungsrahmen‘ wurzeln in der primären Sozialität konjunktiver Erfahrungen, die Trennung ist also nur eine analytische“ (ebd.: 310). Bohnsack argumentiert ebenso: „Individuelle und personenspezifische Erfahrungsräume sind keine konjunktiven Erfahrungsräume […]. Sofern Individuen in die Untersuchung einbezogen werden, gewinnen diese ihre Funktion oder Bedeutung primär als Träger oder Repräsentanten kollektiver Erfahrungsräume oder Typiken […]“ (Bohnsack 2017a: 118). 13„Der Habitus als strukturierende und strukturierte Struktur aktiviert in den Praktiken und im Denken praktische Schemata, die aus der – über den Sozialisationsprozess ontogenetisch vermittelten – Inkorporierung von sozialen Strukturen hervorgegangen sind, die sich ihrerseits in der historischen Arbeit vieler Generationen […] gebildet haben“ (Bourdieu/Wacquant 1992: 173).
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
129
„System […] dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdien 1987: 98).
Sowohl Bourdieu als auch Bohnsack sehen den Habitus als modus operandi und opus operatum. Soziale Akteure handeln daher nicht ahistorisch intentional, sie werden selbst in ihrer Intentionalität von der Praxis hervorgebracht. Das Habituskonzept ist daher als ein „Konzept der Sozialisation sozialer Akteure“ (Hillebrandt 2012: 444) zu sehen. Die Differenzen zwischen Bohnsack und Bourdieu liegen in der ‚Verortung‘ des Habitus, die von Bourdieu als Inkorporierung gefasst wird. „Der Habitusbegriff ist dadurch nicht auf Bewusstseinsprozesse verengt. Der Begriff der inkorporierten Sozialität impliziert mit anderen Worten einen differenzierten Begriff des Körpers, der nicht nur als Speicher, sondern auch als Ausdruck der Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen sozialer Akteure gefasst wird“ (ebd.: 446).
Der Habitus ist bei Bourdieu „Leib gewordene Geschichte“ (Fröhlich/Rehbein 2014: 111 f), inkorporiert ist das gesamte implizite Wissen, während Bohnsack betont, dass er den Begriff der Inkorporierung nur verwendet, wenn es um ein Wissen der Praktiken oder innerhalb von Praktiken geht, das direkt körpergebundene Ausdrucksformen finde, und von habitualisiertem Wissen dort, wo es um verbale Praktiken gehe. Zugleich verwendet er aber den Begriff des habitualisierten Wissens als Oberbegriff für beide Wissensformen, inkorporierte und habitualisierte (Bohnsack 2017a: 37). Darüber hinaus werden weitere Unterschiede von Seiten der Praxeologischen Wissenssoziologie markiert: • Der Habitus wird in der Praxeologischen Wissenssoziologie empirisch systematisch in Relation zu den Orientierungsschemata rekonstruiert, nicht im Gegensatz zu den Common Sense-Theorien wie bei Bourdieu (Bohnsack 2013c: 195; 2014b: 43). • Die empirische Habitus-Analyse der Praxeologischen Wissenssoziologie versteht sich mehrdimensional, weil Habitus-Formationen in verschiedenen Dimensionen (z. B. Milieu, Geschlecht, Generation) berücksichtigt werden (Bohnsack 2013c: 196; Amling 2015: 32). • Die Genese des Habitus setzt die Praxeologische Wissenssoziologie nicht in Beziehung zum sozialen Feld wie Bourdieu, sondern zu den impliziten
130
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Wissensbeständen der Akteure, die wiederum soziogenetisch zu interpretieren sind (ebd.; Bohnsack 2017a: 218, 299). Bourdieus ältere Forschung zum Habitusbegriff gelten der Wissenssoziologie Bohnsacks nicht als rekonstruktiv, weil sie, so die Kritik, die Existenz des Habitus nicht in konkreten Fällen nachwies, sondern seine angenommene Verteilung anhand quantitativ-statistischer Daten belegte, erst in Bourdieus jüngeren Arbeiten sei eine soziogenetische Sichtweise entstanden (Hillebrandt 2012: 441; Meuser 2013: 228 f; Helsper/Kramer/Thiersch 2014: 25). Die Differenzen werden dahingehend zusammengefasst, dass die Praxeologische Wissenssoziologie den Habitus und seine Konjunktionen empirisch rekonstruiert, während Bourdieus Kultursoziologie ihn theoretisch herleitet und seine Distinktionen betont (Meuser 2013: 234 f). Tieferliegende Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Theorie-Ansätzen liegen, wie schon gesagt, in der Annahme eines die Praxis strukturierenden, kollektiv bezogenen modus operandi und dem Versuch, damit zwischen subjektivistischen und objektivistischen Denktraditionen zu vermitteln und deren Trennung zu überwinden (vgl. Niestradt/Ricken 2014: 99). Die gegenseitige Herausforderung liegt darin, dass Bohnsack die Habitus-Rekonstruktion in den Mittelpunkt eines weitergehenden wissenschaftlichen Verfahren stellt, während Bourdieu ein weitergehendes Verständnis der Inkorporierung14 des Habitus entwickelt hat. Die rekonstruktive Forschung ist damit aufgefordert, Verfahren zu entwickeln und zu nutzen, die die körperliche Dimension nicht nur durch Worte stellvertretend repräsentiert, sondern den agierenden Körper präsent werden lässt (Meuser 2007: 237).
4.1.3 Praxeologische Typenbildung Die Typenbildung der Praxeologischen Wissenssoziologie als Strategie der Verallgemeinerung und Theoretisierung von Forschungsergebnissen stellt eine weitere Leitdifferenz dar, sie folgt den bisher entwickelten paradigmatischen Differenzierungen und grenzt sich von den phänomenologischen und
14Meuser
(2013: 237) macht deutlich, dass der Begriff der Inkorporierung bei Bourdieu an die Leibphilosophie Merleau-Pontys anknüpft und daher als grundlegendere Herausforderung gesehen werden muss.
4.1 Methodologische Grundlage: Praxeologische Wissenssoziologie
131
konstruktivistischen Theorien des Common Sense ab (Bohnsack 2010a: 292). Die unterschiedlichen Vorgehensweisen in der Typenbildung sind laut Bohnsack (2017a: 89) bereits bei Max Weber angelegt, dem erhebliche Differenzen zwischen der historisch bezogenen Typenbildung im Rahmen seiner religionssoziologischen Untersuchungen (vgl. Endreß 2007a) und seinen theoretischen Ausführungen zum Idealtypus zugeschrieben werden. Karl Mannheim, Pierre Bourdieu u. a. beriefen sich auf die historisch bezogene Vorgehensweise in der Typenbildung (siehe Bohnsack 2013a: 241). Praxeologische Typenbildung will Handeln nicht nur im intentionalen Zusammenhang der Um-zu-Motive zu erfassen, sondern auch im Zusammenhang seiner Konstitutionsbedingungen, den Weil-Motiven; damit ist zwangsläufig eine Perspektivenveränderung verbunden (Nentwig-Gesemann 2013: 299; Bohnsack 2014a: 147). Die beiden Arten der Typenbildung schließen sich aber nicht aus: Praxeologische Typenbildungen als Beobachtungen zweiter Ordnung bauen auf den Typenbildungen des Common Sense als Beobachtungen erster Ordnung auf, die ja zugleich Konstruktionen zweiten Grades im Sinne von Schütz sind (Bohnsack 2013a: 242), praxeologische Typiken basieren sowohl auf der Struktur kommunikativen Wissens als auch auf der konjunktiver Erfahrungsräume und ihrer sozialräumlichen Verortung (Nentwig-Gesemann 2013: 307). Die Typenbildung der sogenannten Common-Sense-Theorien15 wird von der Praxeologischen Wissenssoziologie als eindimensional kritisiert, sie betont demgegenüber die Mehrdimensionalität des eigenen Vorgehens. Bereits der Begriff der Mehrdimensionalität wird anders verstanden: Er soll nicht nur der „theoretisch geleiteten und empirisch begründeten Bildung von Subkategorien“ (Kelle/Kluge 2010: 83) im Rahmen eines Typus Ausdruck geben, sondern auch der Bildung der Typen und der Rekonstruktion ihrer Genese, die mehrdimensional konzipiert ist (Nentwig-Gesemann 2013: 303). „Die Dokumentarische Methode zielt darauf, Typiken nicht nur in einer, sondern in mehreren Dimensionen konjunktiver (etwa generations- und geschlechtsspezifischer) Erfahrungen und Orientierungen zu entwickeln. Das heißt, es wird rekonstruiert, wie ein vor dem Hintergrund einer bestimmten Problemstellung (etwa einer generationsspezifischen Problematik) herausgearbeiteter erster Typus
15Die
differenzierte Diskussion der unterschiedlichen theoretischen Konzepte von Real- und Idealtypen kann hier nicht geleistet werden, daher muss der Verweis auf die Darstellung von Kelle und Kluge (2010) und die praxeologische Kritik von NentwigGesemann (2013) genügen.
132
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
(Orientierungsrahmen) mit einem zweiten Typus (Orientierungsrahmen) zusammenhängt, der zu einer anderen (etwa einer geschlechtsspezifischen) Problemstellung gehört. In dieser mehrdimensionalen Typenbildung lassen sich dann Grenzen und Reichweite einzelner Typiken bestimmen und so generalisierungsfähigere empirische Aussagen treffen“ (Nohl 2017: 9 f).
So wird beispielsweise eine entwickelte Basistypik in ihrer Beziehung zu anderen Typiken untersucht, bevor ihre Generalisierungsfähigkeit thematisiert wird (s. Abb. 4.3).
Abb. 4.3 Mehrdimensionalität der Typenbildung (Bohnsack 2017a: 119)
Typen werden in der dokumentarischen Methode zunächst sinngenetisch gebildet, indem Orientierungsrahmen unterschiedlicher Gruppen miteinander verglichen werden und dabei „eine bestimmte Art und Weise, ein Problem […] zu bearbeiten, identifiziert werden kann“ (Nohl 2017: 9). Wenn dieser Orientierungsrahmen in Bezug auf das Thema, die gemeinsame Problemstellung, in mehreren Fällen auftaucht und gleichzeitig einen Kontrast zu anderen O rientierungsrahmen
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
133
bildet, lässt er sich vom Einzelfall lösen und zu einem Typus ausarbeiten16. Dieser Abstrahierung folgt die Spezifizierung und damit die Bildung der Basistypik: Aufgrund der Mehrdimensionalität der Erfahrungsräume hat auch der Typus unterschiedliche Dimensionen, daher ist die Typenbildung in Bezug auf unterschiedliche Dimensionen zu differenzieren. In der soziogenetischen Typenbildung werden darüber hinaus die spezifischen Erfahrungsräume bzw. „Erlebnishintergründe“ (vgl. Nentwig-Gesemann 2013: 321) sowie die Soziogenese der Orientierungsrahmen systematisch analysiert. Rekonstruktion und Generalisierung einer Typik sind erst valide, wenn sie in der Relation zu anderen Typiken und damit innerhalb einer ganzen Typologie erfolgt (Bohnsack 2013a: 263). Die Rekonstruktion der Soziogenese ist sowohl auf dem Weg soziogenetischer Typenbildung als auch auf dem der soziogenetischen Interpretation möglich, um „Generalisierungen des Typus im Sinne einer mehrdimensional konstruierten Typologie“ (Vogd 2010: 138) zu ermöglichen. Die soziogenetische Interpretation zielt auf Prozesse und deren interaktive Strukturen, in denen die Entstehung von Orientierungsrahmen zu suchen sind, dabei führt „der methodische Zugang […] wesentlich über die Interpretation von Erzählungen und Beschreibungen interaktiver Schlüsselszenen“ (Bohnsack 2017a: 238).
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands Forschungsgegenstand dieser Arbeit sind die Perspektiven von Schülerinnen und Schülern auf das schulische Konstrukt „Elternarbeit“. Der Begriff der „Perspektive“, der aus der Physik, Astronomie und Kunst stammt, meint in den Sozialwissenschaften in der Regel die Bindung und Beschränkung von Wahrnehmung, Argumentation und Handeln an, aber auch die bewusste Entscheidung für einen wissenschafts-, sach-, ziel- oder personbezogenen Standpunkt. Im Kontext von Alfred Schütz’ Sozialphänomenologie ist der Begriff grundlegend für die „Generalthesis der Reziprozität der Perspektiven“, die der Autor in einem Manuskript von 1953 (Schütz 2010: 401) wie folgt erläutert:
16Eine
genauere Beschreibung des Vorgehens findet sich – bezogen auf die Auswertung von Daten – im Abschnitt 5.3.
134
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
„Das alltagsweltliche Denken überwindet die […] Unterschiede der individuellen Perspektiven durch zwei grundlegende Idealisierungen; nämlich (1) die Idealisierung der Austauschbarkeit der Raumstandpunkte: Ich nehme es als selbstverständlich an, daß ich, wenn ich mit meinem Mitmenschen den Platz tauschen würde, das gleiche sehen würde, was er im Moment sieht und in der gleichen Typizität; (2) die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme: Bis zum Gegenbeweis nehme ich es als selbstverständlich an, und unterstelle meinem Mitmenschen die gleiche Annahme, daß die Unterschiede der Perspektiven, die von meiner und seiner einzigartigen biographischen Situation herrühren, für den zuhandenen Zweck irrelevant sind“ (Schütz 2010: 421).
Aus Sicht der Dokumentarischen Methode – wir können umstandslos an die bisherige methodologische Differenzierung anschließen – wird dieses Verständnis von Perspektive als idealistisch und rationalistisch kritisiert. Mannheim stellt mit der „Seinsverbundenheit des Wissens“ quasi einen materialen ‚Unterbau‘ im Hinblick auf Perspektivität zur Verfügung: „Wissen ist an die Interessen und die Perspektive von Gruppen gebunden“ (Schützeichel 2012: 20). Bourdieu argumentiert, dass die subjektive Wahrnehmung sozialer Akteure grundlegend von „der jeweiligen sozialen Position und Perspektive“ abhängig ist (Lenger/Schneickert/Schumacher 2013: 28). Ralf Bohnsack differenziert aus Sicht der Praxeologischen Wissenssoziologie zwischen der Verschränkung von Perspektiven und der des habitualisierten Handelns, zwischen einer Reziprozität der Logik von Motiven und Intentionen und einer Reziprozität der „Akte“ auf der Grundlage habitualisierter Verschränkungen in den Interaktionen konjunktiver Erfahrungsräume (Bohnsack 2017: 40). Daraus zieht er die Schlussfolgerung, dass es gilt, das Spannungsverhältnis zwischen der Struktur des Habitus und den theoretischen Reflexionspotenzialen, normativen Erwartungsstrukturen und Identitätskonstruktionen zu rekonstruieren, also den Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (Bohnsack 2018a: 214). Grundlage der Rekonstruktivität bleiben die interpretativ gebundenen, vertextlichten bzw. durch Bilder dokumentierten Äußerungen und Praxen der Beforschten, hier der Schülerinnen und Schüler. Auf sie bezogen, gilt die Perspektivendifferenz zu Erwachsenen als konstitutiv (s. o. Abschnitt 3.1.2): „Der Begriff ‚Schüler‘ hebt dabei auf ein Generationenverhältnis ab, das konstitutiv für Schule ist: Ein ‚Schüler‘ kann nur ein Kind (oder Jugendlicher) sein. Ein Kind ist ‚Schüler‘, sobald es in die Schule geht. Dieses Generationenverhältnis und seine lokale Verwirklichung am schulischen Ort ist in seiner Bedeutung für die Schülerinnen und Schüler von der Grundschulpädagogik bisher kaum beachtet worden. In der Schule werden Kinder zu SchülerInnen – ohne Lehrerin gibt es keine Schülerinnen und ohne beide keine Klasse: Schüler – Lehrer – Klasse sind untrennbare Begriffseinheiten“ (Wiesemann 2005: 25).
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
135
Andererseits gilt, dass Aussagen von Schülerinnen und Schülern auch als „Kindersicht“ auf generationale Beziehungen zu verstehen sind, denn Schule ist impliziter Bestandteil von Kindheit, „[…] die Institutionalisierung der Kindheit als solcher [ist] nicht von der Etablierung der Schulkindheit zu trennen“ (Kelle 2005: 140). Der diffuse Gebrauch des Begriffs der Perspektive veranlasste Honig (1999) zur Definition einer „für Kinder charakteristischen, spezifisch gerichteten individuellen Wahrnehmung, eines Blickwinkels, einer Sichtweise oder eines Standpunkts“ die „die Struktur eines kindspezifischen Motivations- und Wahrnehmungszusammenhangs“ ausdrückt (ebd.: 35). Darüber hinaus ist seine Differenzierung zwischen einer erkenntnistheoretischen und einer gegenstandstheoretischen Konzeption grundlegend; die Perspektive der Kinder wird als soziale Wirklichkeit herstellende Perspektivität gefasst, die ein reflexives Strukturmerkmal der Verhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern ist. Die methodologische Rahmung dieser Arbeit konzipiert Perspektiven daher in reflexiver Absicht als Frage nach den kollektiven Orientierungsrahmen im weiteren Sinne, deren Positionierung und Differenzierung im Kontext methodologischer Konkretisierung genauer bestimmt werden müssen. Um den Forschungsgegenstand erkenntnistheoretisch konkreter zu fassen, müssen weitere Spezifika in den Blick genommen werden. Die Bedeutung dieser Spezifizierung zeigt sich in der Kritik, die Nora Katenbrink gegenüber Forschungsansätzen entwickelt, die Schülerinnen und Schüler als schulische Akteure beforschen und ihre Äußerungen rekonstruieren, ohne sie schultheoretisch zu rahmen und zu diskutieren. Sie beschreibt damit ein „metatheoretische[s] Dilemma“ (Katenbrink 2014: 25), und zwar die Vereinseitigung der Perspektive auf die Akteure gegenüber der Institution und weist an einem Beispiel nach, dass der institutionsbezogene Begabungsdiskurs des deutschen Schulsystems in peerbezogenen, legitimierenden Äußerungen gut benoteter Schülerinnen und Schülern wieder auftaucht, ohne von den Forschenden erkannt bzw. benannt zu werden (vgl. oben S. 83). Hier wird versucht, der Gefahr einer einseitigen Darstellung zu entgehen, indem tragende Grundbegriffe thematisiert und relationiert werden. „Ganz allgemein ist die Validität der qualitativen oder rekonstruktiven Forschung von ihrer Fundierung in bzw. Rahmung durch Grundbegriffe, also Metatheorien und metatheoretische Kategorien abhängig. Eine derartige umfassende Fundierung hat dann auch unterschiedliche Grundkategorien, welche, wie im Falle des Habitus, der Norm und der sozialen Identität, unterschiedliche Dimensionen sozialer Realität bezeichnen, in ihrer Relation zueinander zu klären“ (Bohnsack 2014b: 33).
136
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Diese Validierungsstrategie, die sich auf die Mehrdimensionalität der analytischen Kategorienbildung bezieht, ist für diese Studie auf die Orientierungsrahmen der Schülerinnen und Schüler zu beziehen, die an die Diskussion um den Schülerhabitus und die Formen der Habitustransformation anknüpft. Sie gilt auch in Bezug auf die Mehrdimensionalität der Erfahrungsräume, die hier in erster Linie generationsbezogen thematisiert werden, und ihre Folgen für die Typenbildung. Sie gilt schließlich auch für die Ebenen des Sozialen, hier im Rahmen der symbolischen Generationsordnung, die für die Institution der Schule und die generationalen Beziehungen relationiert werden müssen (ebd.: 34; s. o. Abb. 2.4). Wenn jetzt die für die weitere Analyse relevanten Begriffe fundiert und relationiert werden, um im Weiteren zu einer konsistenten Gegenstandskonzeption zu gelangen, ist die Schrittfolge der Bestimmungen nicht beliebig, denn „[…] die Ausgestaltung pädagogischer Generationsbeziehungen in der Schule [ist] durch die institutionelle Rahmung vorgeprägt und wird zusätzlich gerahmt durch die kollektiven Habitusbildungen der Schüler und der Lehrer“ (Kramer 2008: 705; vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 40 f). Daher werden die wichtigsten Ergebnisse im Hinblick auf schulische, habitusbezogene und generationale Erfahrungsräume in drei Bestimmungsschritten referiert und dann zusammengefasst.
4.2.1 Schulische Erfahrungsräume Dokumentarische Methode und Praxeologische Wissenssoziologie beantworten die Frage nach schulischen Erfahrungsräumen mit dem Hinweis, dass Schule sowohl Institution als auch Organisation ist. Als Institution wird Schule als Komplex generalisierter „Erwartungserwartungen“ definiert, die, sachlich und zeitlich verallgemeinert, in sozialer Hinsicht zur „Konstruktion von Typen von Akteurlnnen, Normen und Rollen“ führen (Bohnsack 2017a: 84); dabei handelt es sich aus der Perspektive der Praxeologischen Wissenssoziologie wie der Luhmannschen Systemtheorie um „kontrafaktische Erwartungen“, d. h. um normative Aspekte in unaufhebbarer Diskrepanz zu den sozialen Handlungspraktiken (ebd.). Kuper und Thiel markieren den Begriff der Institution als „Feld konkurrierender Modellbildungen über Sozialität, Gesellschaft und Akteure“ (Kuper/Thiel 2018: 588) und umreißen ihn als „soziale […] Ordnung, die für das menschliche Handeln Erwartungssicherheit bietet“ (ebd.). Als Organisation ist Schule auf der Mikro- und Mesoebene Struktur (in Bezug auf Ziele, Mitgliedschaft, Rollen, Interaktion, Feld) und unterliegt institutioneller Rahmung (Langenohl 2008: 819 ff; Scholl 2009). Gleichwohl stellen Kuper
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
137
und Thiel (2018) zum Begriff der Organisation fest, es bestehe „kein Konsens über seine Definition“ (ebd.: 596); sie beschreiben Organisationen als Merkmal moderner Gesellschaften und „Produzenten funktionssystemspezifischer Leistungen“, gleichzeitig als „Instanzen der Integration der Gesellschaftsmitglieder“ (ebd.: 595). Die folgenden Bestimmungen im Kontext der Untersuchung konzentrieren sich auf die Praxeologische Wissenssoziologie und die dokumentarische Organisationsforschung (vgl. Amling/Vogd 2017), auch wenn Amling von einer „Unterbestimmung der Schule als Organisation“ (Amling 2017: 118) spricht. Organisationale Erfahrungsräume zeigen grundsätzlich „überlokal identische Strukturen“ (Bohnsack 2017a: 128) durch ähnliche Verfahren, Rollen und Milieus, und es kommt zu einer Verdopplung der Handlungspraxen in gesellschaftlich und organisational bezogene. Diese müssen in der dokumentarischen Interpretation in Beziehung gesetzt werden zu den doppelten Wissensformen, ihrer kategorialen Mehrdimensionalität und den daraus entstehenden Typisierungen (ebd.: 117 ff). Daher sieht sie sich einem Forschungsfeld gegenüber, das durch „doppelte Doppelstruktur, doppelte Mehrdimensionalität, doppelte Zugehörigkeit“ (ebd.: 20; vgl. Amling 2017: 105)17 gekennzeichnet ist: „Die Handlungspraxis in Organisationen hat sich nicht nur – wie dies ebenfalls für diejenige außerhalb von Organisationen gilt – in Bezug zu den gesellschaftlichen, den institutionalisierten Normen, Rollen- und Identitätserwartungen zu setzen, sondern auch zu den kodifizierten Normen, Programmen der Organisation selbst und zu den organisationalen oder organisationsinternen Identitätsentwürfen resp. Identitätsnormen […] Die Doppelstruktur von performativer und propositionaler Logik, von Habitus und Norm, begegnet uns hier also in doppelter Weise. Unter anderem aufgrund dieser doppelten Doppelstruktur der organisationsinternen Erfahrungsräume unterscheiden diese sich kategorial von den organisationsexternen“ (Bohnsack 2017a: 129)18.
17Diese
Verdopplung darf nicht mit der von Rolff ausgedeuteten „Duplexstruktur“ (Rolff 2012: 1002) verwechselt werden, die eine andere Strukturierung aufweist, da sie eine Gegensätzlichkeit von Bildung und Qualifikation, Allokation und Selektion, Erziehung und Sozialisation konstruiert. „Die Doppelstruktur, die bei der gesellschaftlichen Funktionsbestimmung der Schule auszumachen ist, wirkt hinein in jede Einzelschule und bildet gleichsam einen spannungsreichen Rahmen für die Duplexstruktur des Handelns der wichtigsten Organisationsmitglieder“ (Rolff 2012: 1004). 18Identitätsnormen werden von Bohnsack als implizite „virtuale soziale Identitäten“ charakterisiert (Bohnsack 2017a: 54 f) – Genaueres s. S. 116.
138
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Tab. 4.1 Doppelstruktur von Institution und Organisation Gesellschaftlich anerkannte Normen, Rollen, Identitäten der Institution Schule
Organisationskultur der einzelnen Schule: Interne Normen, Rollen, Identitäten
Institutionelle Spannungsverhältnisse und ihre impliziten Relexionen
Organisationale Spannungsverhältnisse und ihre impliziten Relexionen
Strukturidentische Milieus und Habitus der Institution Schule
Einzelschulische Organisationsmilieus und interne Habitus
Was hat es mit der doppelten Doppelstruktur auf sich? Damit ist für die Schule ein Verhältnis von gesellschaftlicher Institutionalisierung und Organisation gemeint, in dem einerseits Normen und Rollen zu Milieus und Habitus stehen, andererseits Organisationskultur zu Organisationsmilieus; Organisationskultur meint Regelstrukturen und Leitbilder als Bereiche kommunikativer Räume, Organisationsmilieus meinen organisationsbezogene Gruppenbildungen als Konglomorat konjunktiver Erfahrungsräume; zudem bildet sich eine doppelte ‚Abstimmungszone‘ impliziter Reflexionen (s. Tab. 4.1). Die doppelte Mehrdimensionalität von Erfahrungsräumen ist in der vorhergehenden Explikation berücksichtigt, sie bezieht sich nicht nur auf die unterschiedlichen Erfahrungsebenen, die einerseits gesellschaftlich-institutionell gelagert sind, andererseits organisational, sondern auch auf die Bewältigung der Diskrepanzen von kommunikativem und konjunktivem Wissen in den impliziten Reflexionen. Die Genese von Orientierungsrahmen im weiteren und im engeren Sinne findet in der Verschränkung und gegenseitigen Durchdringung dieser unterschiedlichen Räume statt. Eine weitere Theoretisierung ist kaum möglich: „ln dieser Verdoppelung der Mehrdimensionalität ist die Besonderheit der organisationalen Erfahrungsräume zu sehen. Letztere sind zur Bestimmung ihrer Vielfalt und Mehrdimensionalität letztlich auf die theoriegenerierende empirische Rekonstruktion angewiesen und von daher grundlagen- oder metatheoretisch kaum festzuschreiben“ (Bohnsack 2017a: 132).
Allerdings kann zwischen den Praxen der Interaktion, der Dokumentation und der Reflexion in der Organisation Schule differenziert werden, die sich auf unterschiedliche organisationale Erfahrungsräume beziehen (Bohnsack 2017a: 100, 133): • Interaktion der Mitglieder und Klienten • Interaktion und Reflexion der Mitglieder untereinander • Diskurse und Dokumentationen mit anderen Organisationen
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
139
Die Interaktion zwischen Mitgliedern und Klienten meint die der Lehrkräfte oder des technischen Personals mit den SchülerInnen, v. a. im Unterricht und in den Pausen. Die Interaktion der Mitglieder meint die der Lehrkräfte oder des technischen Personals, z. B. im Lehrerzimmer, dabei zeichnet sich dieser Raum dadurch aus, dass er sich reflexiv auf die anderen beiden Räume bezieht. Die Diskurse mit anderen Organisationen konstituieren eigene Erfahrungsräume, etwa beim Elternsprechtag oder bei der Hilfeplanung im Jugendamt; sie bestehen vor allem „auf der Basis von Dokumenten“ (Bohnsack 2017a: 134) in der Kommunikation mit Eltern, Jugendamt u. a. und werden als „interorganisationale Erfahrungsräume“ (ebd.) bezeichnet19. Exkurs zur schulischen „Elternarbeit“ Damit kann das Konstrukt der schulischen „Elternarbeit“ theoretisch genauer bestimmt und eingebettet werden: „Elternarbeit“ findet in einem eigenständigen, spezifischen, organisationalen Erfahrungsraum der Schule statt, der sich auf eine interorganisationale Zusammenarbeit bezieht (vgl. Bohnsack 2017a: 100). Er ist durch die Dopplung sozialer, institutionsbezogener Erwartungserwartungen und spezifischer Organisationsstrukturen strukturiert, sodass ein komplexes, nur teilweise kommunizierbares System entsteht (s. Tab. 4.2), das auf der Ebene der Milieus und Habitusbildungen für die einzelnen Akteursgruppen weiter differenziert werden muss. „Elternarbeit“ ist dann zunächst das institutionalisierte, organisationsbezogen differenzierte Konstrukt zur Bewältigung dieses Erfahrungsraums und seiner Spannungsverhältnisse zwischen normativen Rahmungen und habitualisierten Praxen. Der interorganisationale Erfahrungsraum zwischen Schule und Familie ist selbst nicht konjunktiv, er bleibt aufgrund seiner räumlichen und zeitlichen Spezifik rudimentär und prekär. Eine andere Frage ist, ob sich mit ihm auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer ein konjunktiver Erfahrungsraum der interaktiven Reflexion zu den damit verbundenen impliziten Reflexionen verbindet, sprich: das gemeinsame, habitualisierte Sprechen über diesen Erfahrungsraum. Ein konjunktiver, interorganisationalen Erfahrungsraum zwischen Lehrkräften und Eltern könnte erst durch die Konstitution über einen längeren Zeitraum hinweg
19Dabei
ist zu beachten, dass von einem konjunktiven Erfahrungsraum erst dann gesprochen werden kann, wenn die institutionalisierte und organisationale Praxis der Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen Habitus und Norm selbst habitualisiert, also auf eine gewisse Dauer gestellt, wiederholt ausgeübt und gespeichert worden ist (vgl. die Abschnitt 4.1.2).
140
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
entstehen und konjunktive Erfahrungen wie habitualisierte Praxen hervorbringen (vgl. auch Tippe/Wesenauer 2008; Tippelt 2014). Insofern ist die Darstellung einer Doppelstruktur schulischer „Elternarbeit“, hypothetisch, denn mit ihr wird gleichzeitig behauptet, dass dieser Bereich homolog zu allen anderen Bereichen der Schule strukturiert ist. Grundlegend muss schulische „Elternarbeit“ über diese organisationsbezogenen Bestimmungen spezifischer Erfahrungsräume hinaus durch das idealtypische, pädagogische Arbeitsbündnis strukturtheoretischer Provenienz begründet werden, in dem die stellvertretende Krisenbewältigung schulischer Bildung in einem dreifachen Bündnis mit den einzelnen Schülerinnen, der Klassengruppe aller SchülerInnen und mit deren Eltern organisiert werden muss, solange die Adoleszenz nicht eingetreten ist (Helsper/Hummrich 2008; Oevermann 2001: 126). Tab. 4.2 Doppelstruktur von Institution und Organisation in der schulischen „Elternarbeit“ Gesellschaftlich anerkannte Normen, Rollen, Identitäten der Institution Schule
Organisationskultur der einzelnen Schule: Interne Normen, Rollen, Identitäten
Beispiel: „Elternarbeit als vertrauensvolle Bildungsund Erziehungspartnerschaft“
Beispiel: „Wir arbeiten mit den Eltern unserer SchülerInnen vertrauensvoll zusammen.“
Institutionelle Spannungsverhältnisse und ihre impliziten Relexionen
Organisationale Spannungsverhältnisse und ihre impliziten Relexionen
Beispiel: Die Rede von den „schwer erreichbaren Eltern bildungsferner Milieus“
Beispiel: Die Rede von der Elternarbeit als „Sisyphusarbeit“
Strukturidentische Milieus und Habitus der Institution Schule
Einzelschulische Organisationsmilieus und interne Habitus
Beispiel: Eltern bestimmter sozialer Milieus meiden alle schulischen Termine.
Beispiel: Zum Elternsprechtag kommen immer dieselben Eltern, sie fragen nach ihrem Kind.
Der zweite Aspekt der institutionsbezogenen Verdopplung ist die doppelte Mehrdimensionalität der Typenbildung. Die Dimensionen von Milieu, Generation, Geschlecht müssen auf Organisationskulturen und ihre Identitätsentwürfe, organisationsbezogene Milieus und ihr Handlungswissen sowie auf die spezifischen Norm-Habitus-Diskrepanzen bezogen werden und gruppieren sich in je spezifischen Konstellationen miteinander. Doppelte Zugehörigkeit schließlich – der dritte Aspekt organisationaler Erfahrungsräume – meint doppelte Mitgliedschaft, einmal als institutionell geregelte Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zum anderen als Mitgliedschaft in einer Organisation. Dabei gilt für Schülerinnen
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
141
und Schüler, dass sie aufgrund der Schulpflicht in Deutschland keine Mitglieder der Organisation Schule sind, sodass die Grenze der Organisation mitten durch das Klassenzimmer verläuft. „Zugespitzt ausgedrückt: die Schule als formale Organisation mit den entsprechenden Kriterien der Mitgliedschaft endet nicht vor dem Schultor, sondern im Klassenzimmer“ (Langenohl 2008: 821 f). Daher sind Schülerinnen und Schüler sowie ihre Eltern mehr oder weniger ‚zwangsverpflichtete‘ Akteure in der Institution Schule, aber im eigentlichen Sinne nicht als Mitglieder, sondern als Klienten (vgl. Bohnsack 2017a: 100). Mitglieder sind lediglich die gesetzlich bestimmten Vertreterinnen und Vertreter der beiden Gruppen. Auch die Mitgliedschaft der Lehrkräfte ist nicht unmittelbar organisationsbezogen, denn sie wird nicht durch die Organisation der einzelnen Schule, sondern durch das jeweilige Bundesland hergestellt; Daniel Goldmann (2017: 160) spricht daher von einer „Doppelmitgliedschaft“ in Einzelschule und Bundesland, Steffen Amling (2017: 105) betont denselben Aspekt. Daraus kann gefolgert werden, dass die Organisationsbildung in der Schule begrenzt ist. Die Verortung peerbezogener Gruppen von Schülerinnen und Schülern innerhalb der Organisation Schule ist umstritten: Während Daniel Goldmann mit Bezug auf Stefan Kühl (Goldmann 2017: 151) argumentiert, Gruppen seien „neben dem bereits etablierten Systemtyp der Organisation“ als „mittlere Ebene“ gemeinsam mit Familien und Bewegungen zu sehen, stellt Ralf Bohnsack sie unter Berufung auf Luhmann (Bohnsack 2017a: 20) auf die Ebene der Interaktion; Anja Mensching wiederum beruft sich auf Karl E. Weick, wenn sie von Organisationen als „Einheit von Vielfalt“ und „Gruppen von Gruppen“ (Mensching 2017: 61) spricht. Die Erfahrungsräume von Schulkindern sind demnach entweder in einer eher vertikal orientierten Struktur unterhalb der Organisationsebene angesiedelt oder in einer eher horizontal orientierten Struktur auf derselben Ebene wie die Organisation bzw. wie andere Gruppen in Organisationen. Im Übrigen ist damit die Struktur der Gruppen selbst angesprochen: Goldmann (2017: 147) und Mensching (2017: 68 f) diskutieren, ob man sie als face-to-face-Realgruppen oder als strukturidentische, quasi „künstliche“ Realgruppen verstehen muss. Als viertes und quer liegendes Merkmal von Organisationen tritt, auch in Bezug auf Schule, das „Prinzip der verdeckten oder impliziten Fremdrahmung“ hinzu, das Bohnsack für organisationales Handeln konstitutiv setzt und als „konstituierende Rahmung“ bezeichnet (Bohnsack 2017a: 20). Diese wird – im Unterschied zur außerorganisationalen Interaktion – nicht durch Interaktion generiert, sondern ist eine Strukturbedingung des jeweiligen Interaktionsmodus (ebd.: 135). Damit schließt Bohnsack – anders als andere Theoretiker der
142
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Dokumentarischen Methode wie Nohl (vgl. Goldmann 2017: 150)20 – mit seinem Organisationsbegriff an Luhmann an und markiert zwei entscheidende Merkmale: Zum einen basieren Organisationen auf ihren eigenen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen, zum anderen attribuieren sie eine soziale Praxis durch ihre Entscheidungen als Entscheidung (ebd.: 134 ff). Mit Luhmanns Worten: „[…] Organisationen entstehen und reproduzieren [sich – KS], wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ geschlossen wird. Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder, oder was sonst als Kriterium von Organisation angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden. Alle Entscheidungen des Systems lassen sich mithin auf Entscheidungen des Systems zurückführen. Das setzt voraus, dass auch die Gründung einer Organisation und auch die Übernahme von Mitgliedschaften als Entscheidung beschrieben wird […]“ (Luhmann 2011: 63).
Diese Verbindung von Organisations- und Entscheidungstheoremen in der Systemtheorie gilt als „Clou dieser Theoriedisposition“ (Vogd 2009: 111). Allerdings nutzt Bohnsack die Begriffe „Entscheidung“ und „Entscheidungsprämissen“ in Anführungszeichen, da er sich von der Luhmann’schen Sichtweise distanziert und Fremdrahmungen nicht als Entscheidungen, sondern – analog zu Funktionssystemen – als Erst-Codierungen21 charakterisiert. Damit greift er eine Homologie Luhmanns auf, in der dieser Entscheidungsprämissen als „das funktionale Äquivalent für die Codierung der Funktionssysteme“ bezeichnet und sie als „Konglomerate von letztlich binären Unterscheidungen“ charakterisiert (Luhmann
20„Während
auf Basis der Dokumentarischen Methode bzw. der Leitunterscheidung kommunikativ/konjunktiv Organisationen als von Milieus abgeleitete soziale Gebilde konzipiert werden und diese damit nur unter der Maßgabe der Konjunktion, also einem hohen Maß an Orientierungskonvergenz in den Blick geraten, erhalten Organisationen in der Systemtheorie den Status eines eigenen Systemtyps, der grundlegend von dem der Gruppe zu unterscheiden ist“ (Goldmann 2017: 150). 21Codierung definiert Luhmann als „binäre Codierung“, die die Orientierung an einer einzigen „positiv/negativ-Unterscheidung“ leistet wie Haben/Nichthaben für das Funktionssystem der Wirtschaft, Wahrheit/Unwahrheit für das Funktionssystem der Wissenschaft oder Recht/Unrecht für das des Rechts (2011: 238). Für das Erziehungs- und Schulsystem entwickelt er in einem frühen Text von 1986 – also vor seiner differenzierteren Organisationstheorie – den Code des Besser/Schlechter, setzt ihn gegen alternative Codes wie Gebildet/ ungebildet oder Artig?/Unartig (Luhmann 2004: 27; 2012: 293) und setzt ihn in Analogie zu den oben genannten Codierungen anderer Funktionssysteme (ebd.: 32 f).
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
143
2011: 238). Kritik gegenüber dem systemtheoretischen Entscheidungsbegriff kommt auch von Seiten Menschings (2017: 61), wenn sie argumentiert, er sei „nur bedingt hilfreich“ zur Analyse alltäglicher Reproduktion von Organisationen, da deren übliche, alltägliche und unhinterfragten Praktiken gar nicht als Entscheidungen gerechnet werden, „während sie aus einer praxeologischen Perspektive sehr wohl konstitutiv für Organisationen sein können“ (ebd.). Eine weitere Differenz zu Luhmann entwickelt Bohnsack, wenn er Organisation und Macht nicht ohne Weiteres in eins setzt (Bohnsack 2017a: 272 ff; 2017b: 252). Macht finde sich nicht schon dort, wo Organisationen über Sanktionsmöglichkeiten verfügen, so Bohnsack, sondern erst dann, wenn sich die Erst-Codierung der Fremdrahmung mit einer Zweit-Codierung der Gradierung bzw. Degradierung und damit auch der totalen Identitäten verbinde und Momente der Eliminierung der Metakommunikation hinzu kämen (vgl. Bohnsack 2017a: 272 ff). In Interaktionen vollziehe sich solch eine Zweit-Codierung der Gradierung propositional durch die Konstruktion von Motiven, Biografien und Milieus, performativ durch Steuerung der Diskurs- oder Interaktionsorganisation. Für die Organisation Schule gilt entsprechend, dass die konstituierenden Fremdrahmungen der Erst-Codierung Disziplinierung und Leistungsmessung sind, die durch eine Zweit-Codierung ergänzt werden können, die mit der Konstruktion totaler Identitäten verbunden ist: Leistungsstarke SchülerInnen mit höherer und leistungsschwächere SchülerInnen mit geringerer Kompetenzzuschreibung durch Leistungsmessungen erhalten analoge Zuschreibungen in anderen Bereichen und Aktivitäten ihrer Person, z. B. im Bereich von Moral und Unmoral oder von Erweiterung bzw. Einschränkung ihrer persönlichen Handlungsautonomie durch Kontrolle (Bohnsack 2017b: 252 f). Dieses Machtgefüge der Hierarchisierung mit anschließenden Diskriminierungen und Privilegierungen hat als habitualisiertes Interaktionssystem mit einer Geschichte im Sinne eines kollektiven Gedächtnisses zu gelten, dass einen konjunktiven Erfahrungsraum konstituiert (Bohnsack 2017a: 137). Für die hier notwendige Konzeptionierung der Orientierungen von Kindern entsteht damit eine Ebene der Fremdrahmung in der institutionellorganisatorischen Doppelstruktur mit spezifischen Codierungen. Die neueren Arbeiten zur Organisationsforschung aus Sicht der dokumentarischen Methode (siehe Amling/Vogd 2017) entwickeln eine zunehmend differenziertere Sicht auf kommunikatives und konjunktives Wissen in Institutionen bzw. Organisationen. Die Aufgabe, zum einen organisationale Praxen zu rekonstruieren, zum anderen peerbezogene Praktiken in der Organisation, sind deutlich zu differenzieren, daher wird der Hinweis von Jansen und Vogd auf die implizite Reflexion des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne berücksichtigt:
144
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
„[…] eine praxeologisch informierte Organisationsanalyse kann und darf nicht mechanisch verlaufen, sondern hat mit Blick auf die jeweils aufscheinenden Bezugsprobleme zu schauen, welche Arrangements als Lösungen erscheinen. Ebenso darf sie sich nicht darauf beschränken, unterschiedliche Orientierungsrahmen (im engeren Sinne verstanden) bzw. deren Überlagerungen zu identifizieren, sondern hat deren implizite und explizite Bezugnahmen (die Reflexion bzw. die Reflexionsverhältnisse) ernst zu nehmen“ (Jansen/Vogd 2017: 276).
Detailliertere Diskussionen können und müssen hier nicht dargestellt werden, da die Forschungsfrage Peerpraktiken der Schülerinnen und Schüler in der Organisation Schule in den Mittelpunkt stellt, nicht aber die Praxis der Organisation selbst. Festzuhalten bleibt aber, dass implizite Wissensbestände in Organisationen aus der Überlagerung verschiedener Erfahrungsräume entstehen können, ferner, dass auch explizite Wissensstrukturen, Orientierungsschemata, handlungsleitend bzw. handlungsauffordernd sein können, nicht nur als externe Anforderung; Fachwissen, formale Positionen, Funktionsbeschreibungen und andere Bestände institutionalisierten Wissens sind bedeutsam, wenn es darum geht, organisationale Praxis zu rekonstruieren (vgl. Jansen/Vogd 2017: 262 f).
4.2.2 Kindliche Erfahrungsräume Hier wird in einem ersten Schritt die Diskussion um den Schülerhabitus und die Habitustransformation zusammenfassend und pointiert referiert, um dann im Rückbezug auf die Praxeologische Wissenssoziologie Konstitutionsbedingungen konjunktiven Wissens darzustellen und im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler zu differenzieren. Abschließend werden die Begriffsbestimmungen im Hinblick auf die Forschungsfrage dieser Untersuchung zusammengefasst. Die Berücksichtigung von Habitusbildungen und ihrer Relevanz für das Handeln der SchülerInnen wird isb. dort empfohlen, wo, wie in der Grundschule, idealtypische pädagogische Beziehungen unterstellt werden (Kramer 2008: 707). Allerdings ist festzuhalten, „dass eine ausgearbeitete Theorie der ontogenetischen Genese von Habitusstrukturen kaum entwickelt worden ist“ (Helsper 2014: 125). Damit ist die Forschungsfrage, die auf Momente der Habitualisierung generationaler Sicht- und Handlungsweisen zielt, in den Kontext eines Desiderats gestellt (vgl. ebd.: 133). Das muss in der Theoretisierung der Ergebnisse aufgegriffen werden, ist aber für die weitere Konkretisierung der Gegenstandskonzeption ein nicht zu kompensierender Mangel und fordert dazu auf, den vorläufigen Charakter des Folgenden zu berücksichtigen.
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
145
Grundlegend wird im Hinblick auf Familie und Schule zwischen einem primären und einem sekundären Habitus unterschieden, und zwar in der „Differenz von primärer und sekundärer pädagogischer Arbeit“ (Helsper/Kramer/ Thiersch 2014: 14): • Der primäre Habitus bezieht sich auf alle Dispositionen des kindlichen Habitus, die durch die primäre Erziehungsarbeit der Familie entstanden sind. • Der sekundäre Habitus bezieht sich auf die Dispositionen, die durch die sekundäre Erziehungsarbeit schulischer und anderer Institutionen entstehen. Die Dispositionssysteme des primären Habitus können sich hinsichtlich Nähe, Entsprechung und Kompatibilität erheblich gegenüber dem schulischen Habitus unterscheiden (Kramer 2017: 193), in diesen Unterschieden manifestieren sich differente Passungsverhältnisse, die im Weiteren als kulturelle Passung angesprochen werden. Der SchülerInnen-Habitus wird als doppelter Habitus definiert, akteursbezogen und institutionsbezogen. Zum einen bezieht er sich auf die schulischen Akteure und meint alle Dispositionen eines Habitus, „die schulisch kompatibel bzw. schulnah sind“ (Kramer 2014: 190), zum anderen auf die schulische Institution und meint einen institutionellen Habitus, „der sich auf die Anforderungen und Anerkennungsbezüge im schulischen Feld bezieht“ (ebd.). Der SchülerInnen-Habitus, ist zu Beginn der Schulzeit also der primäre Habitus und beinhaltet kindliche Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata inklusive deren mehr oder weniger große Anschlussfähigkeit zu den Anforderungen der Schule (vgl. Helsper 2014: 146). Sie werden in der Alltagspraxis von Familien und sozialen Milieus erworben und gehen der Schule voraus, so dass Schülerinnen und Schüler mit ganz verschiedenen Voraussetzungen in die Schule eintreten (Bremer/Lange-Vester 2015: 74). Die „institutionelle Anforderung und Anschlussmöglichkeit“ (Kramer 2014: 190) der Schule verlangt implizit bestimmte kulturelle Leistungen und nötigt Schülerinnen und Schüler zu je nach Herkunftsmilieu unterschiedlichen Anpassungen; der Schulerfolg der Kinder hängt daher eng mit dem Bildungsniveau der Eltern und der weiteren Verwandtschaft zusammen (Bremer/Lange-Vester 2015: 73 f). Die neuere Entwicklung von dokumentarischer Methode und Praxeologischer Wissenssoziologie thematisiert nicht mehr den idealen, instutionsbezogenen SchülerInnen-Habitus, sondern fundiert ihn in den Bezügen von Orientierungsrahmen und -schemata, der „Verbindung konjunktiver und kommunikativer Wissensbestände“ (Amling 2015: 83), denn für die Schule, die „Aspekte einer
146
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
totalen Institution aufweist“ (Bohnsack 2014b: 33), muss die Kategorie des Habitus systematisch in einen theoretischen und empirischen Bezug zur Kategorie der Norm und der sozialen Identität gestellt werden. Darüber hinaus müssen Kinder habituell eine doppelte Aufgabenstellung bewältigen: „Was den Habitus der SchülerInnen anbetrifft, so ist es für diesen geradezu konstitutiv, dass er die Vermittlung von zwei differenten oder diskrepanten sozialen Identitäten zu leisten hat: derjenigen des Schülers im engeren – auf die Aufrechterhaltung der schulischen Ordnung und Disziplin bezogenen – Sinne und derjenigen des Mit-Schülers, des Mitglieds der Peer Group also“ (Bohnsack 2014b: 50).
Diese „Gratwanderung“, wie Bohnsack es nennt, ist mit habitualisierter „Rollendistanz“ nur unzureichend bezeichnet, vielmehr geht es um virtuale soziale Identität, die von Bohnsack doppelt verstanden wird, als imaginative und imaginäre soziale Identität: Imaginative soziale Identität als potenzielle Orientierung und „Vorbild“ (Bohnsack 2017a: 156) wird von den AkteurInnen performiert und habitualisiert, imaginäre soziale Identität als Orientierung mit „Phantomcharakter“ dagegen nicht, sie entzieht sich der Explikation, auch wenn sie Gegenstand von Propositionen ist, sie wird metaphorisch dargestellt und taucht in Proponierungen von Erzählungen und Beschreibungen auf (ebd.: 54 f). Bevor diese Konstellation von Habitus, Norm und Identität für diese Untersuchung konkretisiert werden kann, müssen die Probleme der kulturellen Passung und der Habitustransformation dargestellt und diskutiert werden. Das Problem der kulturellen Passung ist das der „Spannung zwischen primärem und schulisch-sekundärem Habitus“ (Helsper/Kramer/Thiersch 2014: 15), es dient zur Erklärung ungleicher Bildungsbeteiligung und unterschiedlichen Bildungserfolgs (s. o. Abschnitt 2.2.7). Das Problem liegt in der relativen Distanz der familialen Herkunftsmilieus und ihrer Haltungen zu den schulischen Anforderungen und Anerkennungsstrukturen (vgl. Kramer/Helsper 2010: 105). Das impliziert den Effekt der Eliminierung bzw. der „bildungsbiografischen Selbstelimination“ (vgl. Rademacher/Wernet 2014: 171; Kramer 2014: 206; Corsten/Schierbaum 2017). Er beruht auf der Entwertung milieuspezifischer Werte, Haltungen und Erfahrungen durch den sekundären Habitus. Nicht jeder Habitus erfahre die gleiche Wertschätzung, insofern gehe damit potenziell auch eine Entwertung des primären Habitus einher (ebd.: 3). Das heißt, dass mit der Habitusbildung Risiken verbunden sind, eventuell sogar ‚biografische‘ und ‚soziale‘ Kosten für Schülerinnen und Schüler, die ihre Anpassung an den schulisch geforderten Habitus betreffen können, aber auch ihre Rückbindung an Familie und soziales Milieu. Die Leistung dieser zentralen These kultureller Passung liegt darin, dass sie Bildungsungleichheit mit Hilfe der Theoreme des
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
147
Habitus und des kulturellen Kapitals22 mit den sozialen Existenzbedingungen und den jeweils aktuellen kulturellen Auseinandersetzungen verbindet (ebd.: 108; Kramer 2017: 188). Empirische Ergebnisse der Habitus-Forschung23 werden hier in Bezug auf das Feld der Grundschule vorgestellt, isb. das „Modell der schul- und bildungs-
22Hillebrandt
(2012) definiert mit Bourdieu ökonomisches Kapital „in institutionalisierter Form als Währung, Preise und Eigentumsrechte auf, in objektivierter Form als Geld, Eigentum und Vermögen, und in inkorporierter Form als Rationalitätsdisposition“ (ebd.: 442); kulturelles Kapital wird „durch Bildungszertifikate, Titel und Zeugnisse institutionalisiert […], [e)s objektiviert sich in kulturellen Gütern und Artefakten und wird als Geschmack und kulturelles ‚Vermögen‘ inkorporiert“ (ebd.); soziales Kapital meint „die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und ist institutionalisierbar in Mitgliedschaften und Netzwerken, objektivierbar durch Adels- und Ehrentitel und wird als Akzeptanz und Ansehen in der Gemeinschaft sowie durch ein Wissen um die eigene Wertschätzung und Reputation inkorporiert“ (ebd.); symbolisches Kapital schließlich ist durch „kulturell vermittelte Wahrnehmung und symbolische Anerkennung der anderen drei Kapitalsorten definiert“ (ebd.), denn es verleiht den anderen Kapitalsorten gesellschaftliche Legitimität und Macht, da es als Prestige institutionalisiert und als Sinn für Distinktion und Unterscheidung inkorporiert wird. 232008 veröffentlichte Rahel Jünger ihre Studie zu schulischen Logiken von ressourcenprivilegierten und nicht-ressourcenprivilegierten Kindern als Ursache der bestehenden Bildungsungleichheit. Darin bestimmt sie Bourdieus Habitus-Verständnis als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung, mit der sie die – nach familiären Ressourcen variierenden – Einstellungen zu Schule und Bildung als „Teil der konkreten Ausprägung des Habitus“ untersuchen will (Jünger 2008: 68). Ihr Anspruch ist, dass „die Sicht der Kinder selbst auf die Schule untersucht wird“ (ebd.: 51). Ihr Begriffsverständnis des Habitus ist weit gefasst, damit auch die Anlage der Untersuchung: Wahrnehmungen, Einstellungen und Praktiken der Kinder sollen mit dem Begriff der „schulischen Logiken“ erfasst werden, „ein neu festgelegter, die bourdieuschen Begriffe Habitus und Reproduktionsstrategien ergänzender Begriff“ (ebd.: 85 f). Die schulischen Logiken werden durch drei induktivinhaltsanalytische Schritte herausgearbeitet, durch Relevanztabellen von Themen der Kinder, deren aspekthafte Füllung und Differenzierung sowie Modelle von „Denksätzen“ (ebd.: 152); Reihenfolgen und Bezüge der Denksätze zueinander sollen die spezifische schulische Logik der jeweiligen Kindergruppen darstellen. Jünger will die Methoden der Auswertung in enger Bindung an das Erkenntnisinteresse entwickeln und dabei „auf die Erfassung des Kollektiven“ abzielen. Daher nutzt sie neben der qualitativen Inhaltsanalyse Philipp Mayrings (vgl. Mayring 2015) Momente der dokumentarischen Methode zur Auswertung der Gruppendiskussionen und Interviews (ebd.: 135 f.). Letztendlich konzentriert sie sich auf die sinngemäße Interpretation des Gesagten, das durch die jeweilige Stellung im Diskurs und durch Wiederholungen gewichtet wird; auf die Feststellung von Fokussierungsmetaphern verzichtet sie ebenso wie auf eine stringente Rekonstruktion der Diskursorganisation oder der kindlichen Körpersprache.
148
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
bezogenen Habitustypen“ von Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009: 139 – s. Abb. 4.4). Mit Hilfe ihrer Gegenstandskonzeption eines individuellen Orientierungsrahmens (s. o. Abb. 2.9) rekonstruierten sie vier Habitusorientierungen, die sich wiederum differenzieren ließen. Sie sind in der Lage, für das Ende der Grundschulzeit, auf das sich ihre Untersuchung bezog, individuelle, habituelle Orientierungen in Bezug auf Bildung und Familie zu differenzieren, diese zeigten sich besonders deutlich dort, wo Diskrepanzen zu den elterlichen Orientierungen oder den Peer- und Freizeitorientierungen vorhanden waren (ebd.). Transformations- bzw. Wandlungsprozesse des SchülerInnen-Habitus werden dort ebenfalls skizziert24. Für die Übergangsphase von der Primar- in die Sekundarstufe sprechen sie von einer „generellen Potenzialität der Transformation“ (ebd.: 202)25 und differenzieren dafür unterschiedliche Impulse durch unterschiedliche Passungskonstellationen: Sie unterscheiden eine kontinuierliche Festigung des indviduellen Orientierungsrahmens, leichte Transformationsimpulse, einen deutlicheren und einen besonders starken Transformationsdruck (ebd.). Grundlegender thematisiert Helsper den Übergang in die Schule und die ersten Schuljahre – im Rahmen einer grundlegenden Klärung des Verhältnisses von Habitus, Krise und Ontogenese, die hier fokussiert referiert wird (s. u.) – und sieht diese Phase als „zentrale Transformationsphase“ (Helsper 2014: 148).
24Die
Darstellung konzentriert sich auf Erkenntnisse zum SchülerInnen-Habitus, Transformationsmodelle, die außerhalb der schulischen Institution und mit Erwachsenen erhoben wurden, wie die von Rosenberg (2008, 2011, 2014) und El-Mafaalani (2015), werden hier nicht berücksichtigt, da sie von anderen sozialen Rahmungen und Einflussgrößen bestimmt sind, die andere Standorte mit spezifischen Einbindungen definieren. 25Die eigentliche Transformation prognostizieren sie für ihre Längsschnittuntersuchung in der Adoleszenz mit ihren typischen Identitätskrisen und Peervergemeinschaftungen.
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
149
„Für den Habitus bedeutet dies, dass die Einmündung in die Schule die Habitusbildung in Richtung transfamiliärer Erfahrungen und Felder entscheidend erweitert. Das Kind wird mit einer Sphärendifferenz konfrontiert und ihm begegnen die Anforderungen eines im schulischen Feld vorliegenden schulkulturellen Schülerhabitus, der zum familiär ausgebildeten Habitus mehr oder weniger deutlich in Kontrast steht […]. Damit wird die Erfahrung von Differenz und Ambivalenz sowie deren Bearbeitung für die weitere Habitusbildung bedeutsam. Der Übergang in die Schule und die ersten Schuljahre müssen damit als eine zentrale Transformationsphase der individuellen Habitusbildung in der Auseinandersetzung mit dem schulischen Feld begriffen werden“ (ebd.: 147 f).
Schule und Unterricht bildeten strukturell einen „transfamiliären Raum der weiteren Verselbständigung“ (ebd.), denn die schulischen Anforderungen seien als Einführung der Kinder in universalistische Bezüge und das öffentliche, organisationsbezogene Regelwerk gleichberechtigter Teilhabe und Verpflichtung zu verstehen, die Kinder müssten in einem außerfamiliären Interaktionsraum agieren und sich bewähren, die damit erworbenen Selbst- und Weltdeutungen würden familiäre Haltungen und Weltsichten zunehmend relativieren. Diese Argumentation Helspers gilt allerdings nicht erst für die Schule, daher muss ihr widersprochen werden, denn der erste transfamiliäre Interaktionsraum sind Kindergärten und Kindertagesstätten, die von mehr als 90 Prozent der Kinder vor der Schule besucht werden, meist über mehrere Jahre (vgl. Bundesminsterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018); auch sie sind öffentliche Einrichtungen und führen ebenfalls in ein organisationsbezogenes Regelwerk ein. Isabell Diehm weist darauf hin, dass die Grundschulpädagogik „unzweifelhaft pädagogisch-konzeptionelle Anleihen im Kindergarten gemacht“ (ebd.: 571) hat, und zwar im Umgang mit Heterogenität, beim Lernen in altersgemischten Gruppen, in der individuell differenzierenden Förderpraxis und mit dem weitgehenden Verzicht auf Selektion. Kindergärten und -tagesstätten als sozialpädagogische Einrichtungen können nicht einfach als quasi-familiäre, diffuse Erziehungsorte verstanden werden, die erst durch die Schule universalisiert würden; im Umkehrschluss ist zu fragen, welche spezifischen Erfahrungen und Orientierungen Kinder aus der Kindertagesstätte in die Grundschule mitbringen und welche Anschlüsse für diese habituellen Dispositionen dort entstehen (vgl. ebd.).
150
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Abb. 4.4 Modell der schul- und bildungsbezogenen Habitustypen (Kramer/Helsper/ Thiersch/Ziems 2009: 139)
Grenzen und Übergänge zwischen den sozialen Feldern des primären und des sekundären Habitus werden durch das Problem der „kulturellen Passung“ (s. o.) markiert, es führt zu der Frage, inwieweit ein familiärer Habitus durch die Schule anerkannt oder abgewiesen werden und inwieweit der Effekt der
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
151
Eliminierung auftritt. Frühe Missachtungen und Zurückweisungen, so Helsper, führten zu „schulischen Versagenskarrieren“ (ebd.: 149), die in prekären Bildungs- und Beschäftigungsverläufen mündeten; zudem würde ein „gegenschulischer Habitus“ befördert, der andere Erfahrungen verunmögliche, so dass unter Beteiligung der Schule „Schulfremdheit“ entstehe. Mögliche Prozesse einer ins Vorbewusste rückenden, stillschweigenden bildungsbiografischen Selbsteliminierung sind damit noch nicht in den Blick genommen. Inwieweit Transformation selbst einen Aspekt des Habitus darstellt, diskutieren neuestens sowohl Helsper und Mitautorinnen (Helsper/Dreier/Gibson/ Kotzyba/Niemann 2018: 38) als auch – zuvor bereits – Fabian Niestradt und Norbert Ricken (2014) sowie Florian von Rosenberg (2011, 2014), und zwar mit Bezug auf den Bildungsbegriff, der immer wieder mit Koller (1993) als grundlegende Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen skizziert wird. Grundsätzlich kann Bildung26 in den unterschiedlichsten Verbindungen zur Theorie des Habitus gesehen werden; bisher ging es vor allem um die Frage, ob Bildung ein soziales Feld bzw. einen Erfahrungsraum für die Entwicklung eines bildungsspezifischen Habitus darstellt, oder ob Bildung Veränderungen des Habitus – quasi von außen – anregt und perpetuiert. Einigkeit bestehe darin, so Niestradt und Ricken (2014: 102), dass Bildung, von ihnen in Anführungszeichen gesetzt, in Form erworbener Bildungsabschlüssen und angeeigneter Fähigkeiten ein zentrales Moment der Reproduktion sozialer Ungleichheit sei. Rosenberg entwickelt die Begriffe der Wandlung und Transformation des Habitus, indem er den Lernbegriff der Wandlung zuordnet und als „Wissenszuwachs innerhalb eines Orientierungsrahmens“ definiert, Bildung im Unterschied dazu als
26Bourdieu
selbst hat laut Bauer (2012) über eine identische Stellung der beiden Begriffe nachgedacht und ursprünglich für die Beschreibung und Funktion der den Habitus charakterisierenden Eigenschaften die Bezeichnung Bildung vorgeschlagen habe, verstanden „als Bestandteil eines kognitiven Prozesses der Welterschließung […], der durch offene Lernprozesse charakterisiert und dadurch mit der Theorie des sozialen Lernens verträglich ist“ (Bauer 2012: 480); Florian Niestradt und Norbert Ricken (2014) betonen, der Bildungsbegriff sei überbestimmt und subjektgebunden, sodass er nicht die Schärfe des Habitusbegriffs hätte entwickeln können.
152
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
„ Transformation eines gegebenen Orientierungsrahmens“ (Rosenberg 2014: 282)27. Niestradt und Ricken kritisieren grundlegend die damit verbundene Externalität der Bezüge: „Damit gerät aber nicht nur der Habitusbegriff in eine ambivalente Doppelrolle – nämlich einerseits reproduktiv genug zu sein, um für die Beschreibung einer Struktur zu taugen, und andererseits wenigstens minimal transformierbar zu sein, um in Bildungsprozessen umstrukturiert werden zu können -, sondern auch der Bildungsbegriff bleibt frei von reproduktions- und machttheoretischen Perspektiven“ (Niestradt/Ricken 2014: 106).
Bourdieu, so Niestradt und Ricken weiter, habe Habitus als „praktischen Sinn“ definiert, sodass er dynamisch und flexibel verstanden werden müsse, auf unterschiedliche soziale Felder übertragbar sei und die Felder seiner Verwirklichung aktiv aufsuche; ein Habitus sei daher in seiner Genese als erfahrungsbezogene spiralförmige Struktur zu denken, Sichtweisen, die den Habitus statisch verstehen oder in den Gegensatz von Reproduktion und Transformation einspannten, seien zu kritisieren. Vielmehr sei es zwingend, Bildung und Habitus als „ineinander verwoben zu betrachten, da sie sich weder einfach voneinander unterscheiden noch einander gegenüber stellen lassen, insofern im Lernen jeglicher Art sich
27Unabhängig
von dieser Diskussion richtet sich eine weitere Kritik an Rosenberg von Seiten Bohnsacks auf sein grundlegendes Habitusverständnis, beispielsweise in dieser Darstellung: „Während ein Habitus aus unterschiedlichen Logiken der Praxis besteht und somit unterschiedliche Formen der Selbst- und Weltverhältnisse aufweist, bezieht sich ein Wandlungsprozess nur auf eine Praxisform. Die Relation der unterschiedlichen Logiken der Praxis wandelt sich, wird jedoch nicht grundlegend transformiert“ (Rosenberg 2011: 311). Der Habitus sei, so Rosenberg, kein homogener Block, sondern ein heterogenes Ensemble unterschiedlicher Logiken bzw. Praktiken, er folge nicht nur einer Logik der Praxis, sondern werde durch unterschiedliche Dimensionen wie beispielsweise Generation, Milieu oder Geschlecht strukturiert, da er mehrdimensional sei. Mit dieser Argumentation, so repliziert Bohnsack (2017a: 125 f), konstruiere Rosenberg unterderhand einen indviduellen Habitus, sodass es folgerichtig sei, wenn er zusammen mit Arndt-Michael Nohl und Sarah Thomsen (2015) eine Theorie des „Habit“ als Handlungsorientierung unterhalb der Ebene des Habitus vorstelle; der Habitus werde damit einem individuellen Akteur zugeordnet, sowohl die Positionierung des Habitus zwischen sozialer Struktur und Individuum als auch die damit verbundene Kollektivität werde aufgegeben: „Das Individuum erscheint bei Nohl, von Rosenberg, Thomsen nicht als Repräsentant unterschiedlicher kollektiver oder gesellschaftlicher Habitus resp. Erfahrungsräume“ (ebd.: 126); forschungsmethodisch entpricht dem der Verzicht auf die Rekonstruktion des jeweiligen Habitus in der Typenbildung.
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
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immer Prozesse der Kategorien- und Musterbildung sowie Ins-VerhältnisSetzungen zu diesen Mustern […] vollziehen“ (ebd.: 117). Die Schlussfolgerung laute vielmehr, dass Bildung bzw. Transformation in den Habitus eingeschrieben sei; Transformation sei selbst als Moment des Habitus zu denken, „und zwar sowohl als ,opus transformatum‘ als auch als ‚modus transformandi‘“ (Niestradt/ Ricken 2014: 120). Zusammenfassend könnte man von einer Konkurrenz zwischen einem bildungstheoretischen Transformationsbegriff Rosenbergs und einem bildungshabituellen Transformationsbegriff von Seiten Niestradts/Rickens sprechen. Die Differenz lässt sich wohl am ehesten als gegenstandstheoretische Perspektivendifferenz mit erkenntnistheoretischen Auswirkungen verstehen: Während Bildung hier als habitualisierter Aspekt des Habitus verstanden wird, wird der Habitus und seine Transformation dort zu einem relevanten Aspekt von Bildung. Helsper schließt implizit an den bildungshabituellen Begriff der Transformation an, wenn er sie in Abgrenzung zu formalen Bildungstheorien nicht nur als „Veränderung von Selbst- und Weltbezügen, von Selbst- und Weltreflexivität“ (ebd. 135), sondern struktural als „Transformation von Subjektstrukturen“ (ebd.: 136) versteht, unabhängig davon, ob es sich um Bildungserwerb oder die Übernahme von Haltungen handelt. Sein Transformationsbegriff steht in enger Verbindung zum strukturtheoretischen Begriff der Krise, die die Routine der Lebenspraxis als Wiederholung des Alten, Bewährten ablöst, sobald für neue Ereignisse bzw. Probleme keine Lösungen mehr zur Verfügung stehen: „Damit aber stehen Routinen für den sedimentierten, inkorporierten Habitus. Die Krise als Strukturort der Relativierung des Alten würde dann für das mehr oder weniger weitreichende Zerbrechen, die Relativierung oder die Zerrissenheit des Habitus stehen und damit das im Habituskonzept eher unterbelichtete Moment der Transformation fassen. Transformationen des Habitus, das Nebenaneinander inkonsistenter Orientierungen und Praktiken, die Relativierung und Entwertung alter Orientierungen wären damit als Ausdruck von Krisen zu begreifen, die Momente des Neuen und der Relativierung des Alten mit sich führen“ (Helsper 2014: 134).
Allerdings schränkt Helsper selbst ein, dass diese Zuordnung der Routine zum Habitus und der Krise zur Transformation vereinfacht sei (Helsper 2014: 134), da die Fähigkeit zur Krisenbewältigung, und damit auch zur Selbst-Transformation, einen grundlegenden habituellen Aspekt bilde, der allerdings je nach erworbenem Habitus differiere. Damit ist der Anschluss an den integrativen Transformationsbegriff offenkundig.
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Angesichts des kategorialen Charakters der referierten Debatte zum SchülerinnenHabitus wird im Folgenden noch einmal auf „die Leerstelle der ontogenetischen Entwicklung“ (Helsper 2014: 133) Bezug genommen, um den Forschungsgegenstand dieser Untersuchung im Hinblick auf Habituserwerb und Orientierungsrahmen zu fundieren. Ausgehend vom familiär erworbenen Habitus, der bereits in den Kindertagesstätten transfamiliäre Veränderungen erfährt (vgl. Niesel/Griebel 2013), steht in den ersten Schuljahren die Habitusbildung grundlegender schulbezogener Orientierungen im Mittelpunkt, einmal eher als Transformationsprozess, einmal eher als Habituserweiterung diskutiert. Der Blick dieser Untersuchung richtet sich auf grundlegende Bestimmungen der Praxeologischen Wissenssoziologie zur Frage, wie konjunktive Erfahrungsräume und darauf bezogene kollektive Orientierungsrahmen entstehen28. Dabei wird der Begriff der Habitusbildung als vorläufiger ‚Arbeitsbegriff‘ benutzt, um einerseits Habitusentwicklung bzw. -veränderung im basalen Sinn rekonstruierbar zu machen, andererseits der theoretischen Debatte um spezifischere, theoriebezogene Entwicklungs- bzw. Veränderungsmerkmale vorerst zu entgehen. Damit wird im Grunde der klassische Perspektivwechsel der dokumentarischen Methode angewandt, indem der Blick vom Was der Habitusbildung auf das Wie gerichtet wird. Konjunktive Erfahrungsräume konstituieren sich nach dem Verständnis von dokumentarischer Methode und Praxeologischer Wissenssoziologie in gemeinsamen „Strecken des Erlebens“ (Mannheim 1980: 77):
28Die
Frage stellt sich – ohne dass sie beantwortet werden könnte –, ob Kinder nicht bereits weit vor dem Eintritt in die Schule habitualisiertes Wissen über sie erwerben, und zwar in Spielen untereinander und mit älteren Kindern; „Schule spielen“ ist nach Beobachtungen des Forschers, auch bei Recherchen im Internet, fester Bestandteil kindlicher Spielpraxis und besteht aus wenigen Zutaten: mindestens zwei Personen, Tisch und Stuhl sowie etwas, das als Tafel benutzt werden kann; das Kind, das die Lehrerin – seltener den Lehrer – spielt, sagt dem Kind, das die Schülerin bzw. den Schüler spielt, was es zu tun hat: Schreiben, Rechnen, Aufstehen, Ruhig sein usw. Im Hinblick auf die Personenzahl spiegelt sich Hartmann Tyrells (1985: 86) mit Bezug auf Parsons getätigte Aussage von der verblüffend undifferenzierten „Zwei-Positionen-Situation“, Gerold Scholz (2006: 230) interpretiert: „Es gibt unter Kindern in Bezug auf die Frage, was unter Schule und Schüler zu verstehen ist, Konzepte – oder besser gesagt – ‚Bilder‘. Diese sind nach meiner Erfahrung weitgehend stabil und intersubjektiv. Sie werden von Kindern im gemeinsamen Spiel tradiert. Die ‚Als-ob-Spiele‘ der Kinder zum Thema ‚Schule‘ zeigen, dass diese Bilder sich gelöst haben von der gesellschaftlichen Realität. Alle beobachtbaren entsprechenden Spiele stellen eine autoritäre Schule dar, wie sie historisch im 19. Jahrhundert anzutreffen war.“ Handelt es sich hier möglicherweise um die Überlieferung von habitualisiertem Wissen des „kollektiven Gedächtnisses“?
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
155
„Die Vergemeinschaftung im Sinne des konjunktiven Erfahrungsraums ist an Gemeinsamkeiten des existenziellen Hintergrundes, an gemeinsame ‚Strecken des Erlebens‘ gebunden – sei dies nun ein identisches (gruppenhaft gemeinsames) oder ein (lediglich) strukturidentisches Erleben […]“ (Bohnsack 2017a: 116).
Die Entstehung konjunktiven Wissens ist demnach an zwei Faktoren gebunden, zum einen an selbsterworbene gemeinsame bzw. gemeinschaftsbezogene Erfahrungen und Erlebnisse, zum anderen an eine gewisse Zeitdauer, ein nicht näher spezifiziertes zeitliches Kontinuum. Als rahmender Aspekt tritt die generational bezogene „Erlebnisschichtung“ hinzu, das sind die zeitlichen Bezüge zwischen Erleben und biografischer Entwicklung, also der „Modus der Synchronisation mit dem Lebenszyklus, mit der Ontogenese der Individuen“ (ebd.; vgl. Vogd 2007: 458; s. u. Abschnitt 4.2.3). Für das darauf bezogene habitualisierte Wissen gilt ferner, dass es sich als „kollektives Gedächtnis oder Systemgedächtnis“ (Bohnsack 2017a: 100; vgl. ebd. 109, 111, 139 f, 269) konstituiert und speichert. Ein kollektives oder Systemgedächtnis ist als kontextgebundene, inter- und überindividuelle, performativ geteilte und rekonstruktiv aktualisierbare Einschreibung und Erinnerung einer sozialen Praktik zu verstehen29. Von einem konjunktiven Erfahrungsraum kann man daher erst dann sprechen, wenn die darauf bezogene Performanz reproduziert, habitualisiert und sedimentiert, somit auf eine gewisse Dauer gestellt ist und als solche in ihrer Dauerhaftigkeit erfahren wird (ebd.: 108). Die genannten Faktoren bestimmen auch die Genese des Habitus (ebd.: 364, 367); dieser Begriff meint bei Bohnsack nicht nur den Prozess der Einübung und -schreibung kollektiver, sozialer Praktiken, der unterschiedliche Formen der Habitusbildung hervorbringt, Habitualisierung und Inkorporierung; der Begriff schließt die Routinisierung der Verschränkung reziproker Akte im Kontext der Interaktionen ein (ebd.: 40, 106) sowie die Sedimentierung der Diskrepanz zwischen
29Der
Begriff des kollektiven Gedächtnisses – „mémoire collective“ (Knoblauch 2014: 303) – rekurriert auf den Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs und dessen Buch „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ von 1925, aber auch auf Marc Bloch; die Herkunft des Begriffs Systemgedächtnis wird von Bohnsack nicht ausgewiesen, er steht in einer Nähe zur Systemtheorie Luhmanns (2012: 295 ff), der zwischen psychischem und sozialen Gedächtnis differenziert (vgl. Bohnsack 2013a: 247; Knoblauch 2014: 303 ff; Schützeichel 2007: 266; Vogd 2007: 456 ff).
156
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Habitus und Norm respektive deren Ausgleich in impliziten Reflexionen (ebd.: 108); wo durch eine fehlende oder unvollständige Reziprozität der Akte der Beteiligten keine Kontinuität reproduzierbarer Praktiken gegeben ist, gibt es keinen konjunktiven Erfahrungsraum, nur Willkür (ebd.: 138). Die Differenz von Habitualisierung und Inkorporierung hat Bohnsack weiter ausgearbeitet: „Mentale Bilder“ (Bohnsack 2013c: 180) einer Handlungspraxis tauchen in Erzählungen, Beschreibungen, Metaphern auf und sind Teil impliziten, habitualisierten Wissens, das propositionaler Logik zugänglich ist; „materiale Bilder“ (ebd.: 181) einer Handlungspraxis sind demgegenüber körpergebundene Performanzen, die in Interaktionen oder Bildern dieser Interaktionen sichtbar werden, vollständig inkorporiert und automatisiert und daher nur performativer, nicht aber propositionaler Logik zugänglich (vgl. Bohnsack 2017c: 426). Diesen Formen gegenüber grenzt er Praktiken ab, „[…] an denen als spontanen Aktivitäten noch keine Struktur im Sinne eines Modus Operandi oder Habitus identifizierbar ist […], die vielmehr als eine Suche nach neuen Habitualisierungen und neuen konjunktiven Erfahrungsräumen zu verstehen sind. Wir haben diese als ‚Aktionismen‘ bezeichnet […]“ (Bohnsack 2017a: 76).
Aktionismen können demnach als (noch) nicht strukturierte, nicht routinisierte und nicht kollektiv erinnerte Verhaltensweisen verstanden werden, die durch Wiederholung und wiederholte Wiederholung mental eingeprägt und inkorporiert werden können, zunächst aber vor allem einen situativ-interaktiven Bezug haben. Damit ist die Differenzierung von Habitualisierung und Inkorporierung ergänzt und abgegrenzt.
Tab. 4.3 Mögliche Formen der Habitusbildung
Aktionismen
Mentale Bilder
Materiale Bilder
spontane Aktivitäten als Suchformen der Habitualisierung
(Habitualisierung) sichtbar in Metaphern, Erzählungen und Beschrei-bungen
(Inkorporierung) sichtbar in Interaktionen und Bildern sowie Perfor-manzen
Erlebnisschichtung Instuonell-organisatorische Doppelstruktur mit spezifischen Codierungen und Fremdrahmung
Zeitdauer
Erleben
Formen der Habitusbildung
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
157
Die schematische Darstellung möglicher Habitualisierungsformen (s. Tab. 4.3) ist kein Stufen- oder Entwicklungsmodell, sondern eine analytische Systematisierung, sie kann sowohl Gleichzeitigkeiten als auch Wechsel von unterschiedlich habitualisierten Formen konjunktiven Wissens abbilden. Mögliche „Zwischenräume“ (vgl. Hummrich 2018: 205) sind als ‚terra incognita‘ zu verstehen, denn es stellt sich die Frage, welche Übergänge es gibt, wie fließend sie sind und ob zwischen den unterschiedlichen „Aggregatzuständen“ der Aktionismen, der mentalen und der materialen Bildern weitere Differenzierungen entstehen könnten. Übertragen auf die Handlungspraxis und das Handlungswissen von Grundschulkindern und ihre „Strecken des Erlebens“ ist anzunehmen, dass sie in der Habitusbildung noch am Anfang stehen, dass also ihr habitualisiertes Wissen im Vergleich zu älteren Schülerinnen und Schülern begrenzt und weniger differenziert ist. Monika Wagner-Willi und Iris Nentwig-Gesemann entwickelten dazu mit direktem Bezug auf die Kindheitsforschung eine auf das Performative bezogene Sichtweise, um die „methodische Engführung“ zu bewältigen, die sich aus der „Behauptung einer konstitutiven Fremdheitsrelation zwischen Kindern und Erwachsenen“ (Nentwig-Gesemann/Wagner-Willi 2007: 213) ergibt; die beiden Autorinnen stellen die körperlichen und szenischen Aufführungen von Kindern in den Mittelpunkt und betonen, dass Kinder damit auf konjunktives, inkorporiertes Erfahrungswissen zurückgreifen und etwas zeigen, dass ihnen sprachlich nicht zur Verfügung steht. Daher sei eine „performative Analyseeinstellung“ (ebd.) relevant, „die den wirklichkeitskonstitutiven Charakter von Inszenierungs- und Aufführungspraktiken von Kindern in sozialen Interaktionen sowie die darin sich entfaltende dramaturgische Verschränktheit von Sprach- und Körperdiskursen in den Fokus der empirischen Forschung gerückt hat“ (ebd.). Das öffnet den rekonstruktiven Blick für kindliche Performanzen und ihre Variationen, wie es hier mit der systematischen Differenzierung der Habitualisierungsformen geschieht. Darüber hinaus stellt Nentwig-Gesemann (2010) Aktionismen und Habitualisierungen des kindlichen Spiels in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, wie in der folgenden Beobachtung deutlich wird, die den Übergang zwischen unerschiedlichen performativen Formen kindlichen Handelns beschreibt (vgl. Abschnitt 4.2.2): „Dort, wo dem Reden über eine gemeinsame Handlungspraxis nun die konkrete gemeinsame Erfahrungsgrundlage entzogen ist, wechseln die Kinder auf die Ebene des körperlichen Zusammenspiels: Zunächst nur Jakob, dann er und Lara klopfen, trommeln oder schlagen mit den Händen auf den Tisch. Der einsetzende sinnlich-körperliche Aktionismus stellt eine Art ‚Suchprozess‘ dar, im Sinne einer experimentellen Suche nach einer neuen Ebene von Gemeinsamkeit, die im Diskurs verloren zu gehen droht“ (ebd.: 38).
158
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Dieser Prozess „situativer Vergemeinschaftung“ (ebd.: 37) steht für Übergänge von individuellen, kindlichen Aktionismen hin zu kollektiven und damit exemplarisch für die bereits angesprochen „Zwischenräume“ (s. o.). Sie werden von Nentwig-Gesemann als „Suche nach habitueller Übereinstimmung“ (ebd.: 41) gedeutet, die durch die spontane Vergemeinschaftung selbst noch nicht gegeben ist. Vielmehr beobachtet sie unterschiedliche Habitualisierungen des kindlichen Spiels: Kenntnisse eines Spiels und seines Regelwerks reichen nicht aus, um an einem Spiel teilzunehmen, selbst Erfahrungen mit diesem Spiel ermöglichen noch nicht „das ‚fließende‘, kollektiv gesteigerte und selbstvergessene Zusammenspiel“ (ebd.: 31), erst die „eingespielte Praxis“ (ebd.) ist die Grundlage dafür. Diese Differenzierung wird als homolog zu der zwischen mentalen und materialen Bildern gesetzt, wie sie Bohnsack vornimmt (s. o. Tab. 4.3). Auf jeden Fall müssten in den Formaten der Habitusbildung auch generational spezifische Handlungsformen zu entdecken sein müssen, etwa aus unterschiedlichen Bereichen aktueller kindlicher Spielpraxen, um Momente generational bezogener „Erlebnisschichtung“ sichtbar werden zu lassen, die zeitliche Bezüge zwischen Erleben und biografischer Entwicklung abbilden. Die Ausrichtung der forschenden Wahrnehmung auf Habitusformen und -übergänge muss die Habitualisierung der Bezüge zwischen Habitus und Orientierungsschemata berücksichtigen. Im Rahmen dieser Studie werden die Ebenen des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne (s. o. Abschnitt 4.1.2) auf GrundschülerInnen bezogen und selbst als Momente einer Habitusbildung interpretiert: • Kommunikatives Wissen wird verstanden als wachsende Kenntnis von und immer bewussterer Umgang mit Regeln, Normen, Identitäten. • Implizite Reflexion wird verstanden als immer wieder geforderte, zunehmend routiniertere Bewältigung der notorischen Diskrepanz von Habitus und Norm. • Konjunktives Wissen wird verstanden als Entwicklung von Handlungswissen und -praxen in der Erprobung von Aktionismen hin zu Habitualisierungen und Inkorporierungen.
4.2.3 Generationale Erfahrungsräume Die Begriffsbestimmungen zu generationalen Erfahrungsräumen von Kindern in dritten Klassen von Grundschulen greifen nicht die gesamte Diskussion um erziehungswissenschaftliche und soziologische Generationsverständnisse auf (vgl. Baader 2018; Kelle 2018), isb. nicht die grundlegenden Differenzen
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
159
zwischen dem erziehungswissenschaftlich orientierten Zugang mit Schleiermacher und dem eher soziologischen Zugang mit Mannheim, ebensowenig den gesamten Diskurs der Kindheitsforschung zur generationalen Ordnung. Sie markieren nur sporadisch damit verbundene Bestimmungen zur Genderordnung und zur Institution. Vielmehr orientieren sie sich pragmatisch am Forschungsstand zum Thema und an den bisher getroffenen methodologischen Entscheidungen für organisationsbezogene, habitualisierte Peerorientierungen (s. o. Abschnitte 2.3 und 3.3). Daher definieren sie zunächst den konjunktiven Erfahrungsraum der Generation (vgl. Schäffer 2003), um diesen dann zu spezifizieren und zu konkretisieren, u. a. im Rückgriff auf pädagogische Generationsbeziehungen. Die Generation als konjunktiver Erfahrungsraum wurde von Mannheim in seinem Aufsatz „Das Problem der Generationen“ als „Erlebnisschichtung“ konzipiert (Mannheim 1964; vgl. Bohnsack/Schäffer 2002; Schäffer 2003; Sparschuh 2013). Er unterschied grundlegend zwischen Generationslagerungen gleich biologisch-demographischen Lebenslagen, Generationszusammenhängen gleich konjunktiven Erfahrungsräumen in biografisch-geschichtlicher Gemeinsamkeit sowie Generationseinheiten gleich sinn- und stilgebundenen Gruppen innerhalb des Generationszusammenhangs (vgl. Schäffer 2003; Steffens 2011; Bohnsack 2017a; Baader 2018; Ecarius 2018; Kelle 2018). Dabei unterschied Mannheim zwei „kategorial unterschiedliche Arten der Erinnerung“ (Bohnsack 2017a: 109), zum einen eine „selbsterworbene“, zum anderen eine „angeeignete“, deren Unterschied dem von konjunktivem und kommunikativem Wissen bzw. Gedächtnis entspreche; nur die selbst erworbene Erinnerung gehe, unabhängig davon, ob sie in identischen oder strukturidentischen Kontexten erworben wurde, in die generationsspezifische, kollektive Erlebnisschichtung „als wirklich prägender Bestandteil“ ein (Bohnsack 2017a: 222). Generationenbildung ist daher als Gleichzeitigkeit von Konjunktion in und mit der jeweiligen Generation und Distinktion gegenüber anderen Generationen zu verstehen (Bohnsack/Schäffer 2002: 255); entsprechend wurde die Verständigung zwischen Generationen in Analogie zu einem „kulturellen Fremdverstehen“ (ebd.) interpretiert. Mannheims „Klassiker“ der Generationsdebatten wurde in den unterschiedlichsten Diskussionen und Texten verarbeitet, oft genug dekontextualisiert und nur in Schlagworten; er wurde wahlweise als klassentheoretisches oder makrosoziologisches Konzept interpretiert, ohne die Einordnungen an Mannheims Text zu überprüfen (Schäffer 2003: 55 f). Dieser siedelt das Generationen-Verständnis aber auf einer Mesoebene an, die den Gegensatz der „Mikro-MakroArchitektonik“ (Bohnsack/Schäffer 2002: 250; Sparschuh 2013: 44) anderer Konzepte zwischen persönlichen, subjektiven Generationserfahrungen und
160
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
gesellschaftlichen Generationsverhältnissen auflöst. Dabei ist nicht nur die kollektive „Erlebnisschichtung“ als Konjunktionskomplex des Generationszusammenhangs im Unterschied zur Generationslagerung entscheidend, sondern auch „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, um die von Mannheim übernommene Formulierung des Kunsthistorikers Wilhelm Pinder zu verwenden; das ist die Formel für die Konstellation zeitgleich stattfindender Erfahrungen derselben historischen ‚Tatsachen‘ als je spezifische und „andere“ Zeiterfahrung im Erleben der unterschiedlichen Generationen. Die unterschiedliche „Erlebniszeit“ (W. Dilthey nach Schäffer 2003: 58) hat für heranwachsende Menschen eine besondere Bedeutung, daher spricht Mannheim von „den Jahren der größten Aufnahmebereitschaft“ (ebd.: 57), die unschwer als Zeit der Adoleszenz zu verstehen sind. Diese Wahrnehmung der Generationenbildung durch konjunktive Erfahrungen in der Adoleszenz legt Berührungspunkte zu Oevermanns (2001; 2014) Generations-Verständnis offen: Er versteht Generationen als Produkt einer spezifischen Krisendeutung je spezifischer Problemlagen in der Adoleszenz, ihr geht die Peergruppenbildung als „Zwischenglied“ im Übergang von der Kindheit voraus: „Generationsbeziehungen innerhalb der Struktur der ödipalen Triade und Generationen als sich allmählich vermittelt über die Adoleszenzkrisenbewältigung ausformende historische Typen sowie das Zwischenglied der diese […] Generationenbildung vorprägenden ‚peer group‘-Vergemeinschaftung von Schülern parallel zu den Jahrgangsklassen sind jeweils Bildungen, die auf Krisen antworten“ (Oevermann 2001: 126).
Als Krise versteht Oevermann hier isb. die der ödipalen Triade zwischen Mutter, Vater und Kind, deren Ablösung in der Latenzphase vor der Adoleszenzkrise durch das „Eintreten in die soziale Kooperation mit der ‚peer-group‘“ (ebd.: 99) eingeleitet wird30. Mit der Fokussierung der Generationenbildung auf den Prozess der jugendlichen Krisenbewältigung betont er generationale als peerbezogene Vergemeinschaftung. Die Orientierungsrahmen von DrittklässlerInnen thematisieren aus dieser Sicht peergruppenbezogene Momente der Latenzphase, möglicherweise auch schon der beginnenden Ablösung von den Eltern, und zwar im institutionellen Kontext der Schule.
30Zu
den vier großen Ablösungskrisen in der Ontogenese s. o. Abschnitt 3.2, Fn. 10.
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
161
Aktuelle Diskussionen um die generationale Ordnung beziehen sich ebenfalls auf Mannheims Generationsbegriff; generationale Ordnung wurde hier als Fluchtpunkt der Kindheitsforschung in der Differenzierung Honigs skizziert (s. o. Abschnitt 3.1.2), der „zwischen einer objekttheoretischen Fassung des Konzepts generationaler Ordnungen und einer erkenntniskritischen Fassung“ unterschied (Honig 2009: 44). Damit verbindet sich der Verzicht auf einen substanziellen Begriff vom Kind, Kindheit selbst wird zum Konstrukt und die Praktiken der Unterscheidung in Kinder und Erwachsene werden zur empirischen Forschungsfrage, weil die gegenwärtigen „beschleunigten Umwälzungserscheinungen“ (Honig 2009: 46 f) jeden Begriff vom Kind sprengen, wie Honig in seinem differenztheoretischen Ansatz (vgl. Honig 2012: 90) mit Bezug auf Karl Mannheim konstatierte. Meike Baader spricht von „Generationsverhältnissen“ (Baader 2018: 82), thematisiert damit aber explizit die Mesoebene, und plädiert für eine „erfahrungsgeschichtliche Generationenperspektive“ (Baader 2014: 448); damit will sie den Mannheimschen Generationszusammenhang historisieren, sie schlägt vor, ihn „weniger ereignisgeschichtlich zu denken, sondern auf Praktiken, Artefakte, Konsumgüter, Medien, Mobilitätserfahrungen und Narrationen zu beziehen“ (ebd.: 85; vgl. Baader 2014: 448). Damit zielt sie nicht nur auf eine „Entdifferenzierung der Generationendifferenz“ (ebd.), sondern auch auf einen praxistheoretischen Zugang, wie er hier im kindheitstheoretischen Kontext der „Partizipation an Praktiken“ und der „Komplizenschaft“ bereits aufgegiffen wurde und in der Praxeologischen Wissenssoziologie konstitutiv ist. Erinnert wird hier zum einen an Baaders Kritik der „Machtblindheit“ in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zum Generationenbegriff (ebd.: 84). Diese thematisiere Abhängigkeit, Angewiesenheit und Asymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen, aber nicht die eingeschriebene, strukturelle Macht in Sorgeverhältnissen (ebd.: 90). Die „erziehungswissenschaftliche Machtblindheit“ gelte nicht für die Soziologie der Kindheit, die den Zusammenhang von Macht, Geschlechterordnung und generationaler Ordnung diskutiere (ebd.: 84). Erinnert wird hier zum anderen an den Zusammenhang von Geschlechterordnung und Generationsordnung, der im Kontext dieser Studie durch die geschlechtsbezogene Peergruppenbildung von Grundschülerinnen (s. o. Abschnitt 3.3.3) augenfällig ist. Aus Sicht Oevermanns ist diese Vergemeinschaftung die Antwort auf die Krise der ödipalen Triade in der Latenzphase, aus Sicht der aktuellen Kindheitsforschung Ausdruck einer differentiellen Doppelstruktur der wechselseitigen Bezogenheit zwischen Erwachsensein und Kindsein einerseits, Mannsein und Frausein andererseits. Diese generationale Ordnung ist ein „System von Beziehungen zwischen sozialen Positionen“ (Alanen 2005: 75)
162
4 Forschungsgegenstand und Methodologie
und zugleich ein strukturelles Verhältnis, in dem generationale und geschlechtsbezogene Kategorien notwendig aufeinander bezogen sind (Baader 2018: 80; Bühler-Niederberger 2018: 31; Kelle 2018: 40). Allerdings ist ihre ursprüngliche Polarität entdifferenziert und aufgelöst, zumal in neueren Denkansätzen einer „gesellschaftlichen Organisation der Sorge“ (Baader/Eßer/Schröer 2014: 7), die einen neuen pädagogischen Code entwickeln wollen und mit einer doppelten Absage an einen binären Generationsbegriff einerseits, an ein Verständnis von Gesellschaften als „Aggregate autonomer Indviduen“ (ebd.: 9) andererseits einhergehen. Vorstellungen eines „generation gap“ (ebd.: 121) werden auch durch Kulturstudien, die Heinz Hengst (2017) vorstellt, relativiert, stattdessen rückt ein mögliches „participation gap“ (Hengst 2018: 106) in den Blick. Hengst zieht Parallelen zwischen der beschleunigten Entwicklungsdynamik der heutigen Zeit und der Entstehungszeit des Mannheimschen Denkansatzes und thematisiert eine „differenzielle Zeitgenossenschaft“, in der die Postionierung und Perspektivität von Kindern nicht in einer oppositionellen Ordnung von Jüngeren und Älteren gesehen wird wie in anderen Modellen der Kindheitsforschung (s. o. Abschnitt 3.1.2; vgl. Kelle 2018: 43 f). Vielmehr schließt er direkt an die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ an und sieht generationale Kollektive, die, durch jeweilige Erlebnisschichtungen geprägt, ihr übergenerationales, soziales Zusammenleben „polyphon“ organisieren; die Anderen aus anderen Generationen, objektiv in derselben Zeit, leben subjektiv in einer anderen Zeit (Hengst 2013: 13). Die differenzielle Zeitgenossenschaft als „Label“ „[…] steht für eine dezentrierte Kindheitssoziologie. Dezentrierung meint dabei zweierlei: auf der Subjektseite die (zumindest zeitweise) Verschiebung des Blicks auf Kinder als Kinder, und auf der Objektseite die Relativierung der Bedeutung des Kindheitskontextes für Erfahrungskonstitution. Das Konzept ‚differenzielle Zeitgenossenschaft‘ ist offen für Unterschiede und Ungleichheiten zwischen Kindern und Erwachsenen, schreibt aber die Dimension, in der Unterschiede und Ungleichheiten sich manifestieren, nicht vorab fest. Weil die (kollektiven) Subjekte im Rahmen dieses Konzepts vor allen anderen Zuordnungen als Zeitgenossen definiert sind, wird unter anderem der Forderung nach konzeptueller Befreiung, nach Gleichbehandlung der Kinder in der (soziologischen) Forschung – einem zentralen Anliegen der New Social Childhood Studies – entsprochen“ (Hengst 2017: 108).
Hengst formuliert eine Kritik am „Adultismus“ der Kindheitsforschung, die die sinkende Relevanz der differenzierten Lebensphasen Kindheit, Jugend,
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
163
Erwachsenheit und Alter nicht zur Kenntnis nehme31. Bei der Analyse von Altersgruppen solle die gemeinsame Zeitgenossenschaft Ausgangspunkt und zentraler Bezug sein, vor allem, wenn es dabei um eine Anerkennung der Extensionen, Assemblagen und Netzwerke wie in Nick Lees Konzept einer „Multiplizierung des Werdens“ gehe (ebd.: 115 f)32. Für Kinder stellten früher nur Erwachsene und Bildungseinrichtungen solche Extensionen und Assemblagen dar, heute dagegen auch alle Formen der Konsumteilnahme und Mediennutzung. Dabei gehe es nicht nur um die Aufmerksamkeit für die „Materialisierung sozialer und kultureller Praktiken (via Medienexpansion und Artefaktexplosion)“ (ebd.: 122), sondern auch und vor allem um die „Verschiebung der Aufmerksamkeit von der lebensgeschichtlichen Vertikale(n) auf die lebensweltliche Horizontale“ (ebd.). „Multiples Werden“ sei ein Plädoyer für eine Suspendierung des Entwicklungsbegriffs, wie ihn Piaget und Parsons benutzten, und für eine Perspektive des „becoming“ (Hengst 2018: 95). Damit wachse die Bedeutung der synchronen Ebene für Erfahrungskonstitution und Personwerdung; Kinder seien, wie andere Alters- und Bevölkerungsgruppen „plurale Akteure“ (ebd.: 98). Hengst zieht die Schlussfolgerung, dass Forschungsmethodologien der Kindheitsforschung stärker als bisher synchrone Aktivitäten in den Blick zu nehmen haben:
31Damit
verbindet Hengst die Klage über die „Vernachlässigung der Frage nach Ähnlichkeiten in den Dispositionen, den Habitus und den kulturellen Aktivitäten der verschiedenen gleichzeitig lebenden Generationen“ (Hengst 2017: 107). Kindheitsforschung laufe Gefahr, das, was bei Kindern zu beobachten ist, als kindertypisch zu deuten, ohne zu prüfen, ob es nicht auch für Erwachsene zutreffe. „Das traditionelle Differenzdenken (in Altersgruppen, Altersstufen und Generationen) ist – nicht zuletzt im Zusammenhang mit Medien und neuen Technologien – problematisch geworden“ (ebd.); Entdifferenzierung meine, dass die Kontraste zwischen der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenkultur „in mediendurchtränkten Konsumgesellschaften“ (ebd.: 121) verringert und die kulturellen Spielarten erweitert werden, ohne dass das als Homogenisierung verstanden werden dürfe. Die „standard adulthood“, ein Begriff von Nick Lee (ebd.: 111; vgl. Hengst 2018), bzw. „normal adulthood“, ein Begriff von Kate Crawford (ebd.: 112; vgl. Hengst 2018), sind laut Hengst als fordistisches Modell, in dem soziale Praktiken auf stabile Normen ausgerichtet sein können, sodass Erwachsenheit mit Stabilität und Gewissheiten assoziiert sei.
32Extensionen
bzw. Assemblagen meinen Einrichtungen, „mit denen Menschen ihren Zugriff auf die materielle, soziale und symbolische Umwelt erweitern“ (Hengst 2018: 96; zur Begriffsverwendung vgl. Hengst 2017: 116 f).
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie
„Vorgeschlagen wird eine (methodologische) Akzentverschiebung (weg) von einer statusorientierten, lebensgeschichtlichen Vertikalsicht (hin) zu einer aktivitäts- und prozessorientierten Horizontalperspektive“ (ebd.: 97).
Im Weiteren kann die Untersuchung auf die Ergebnisse der Forschungsgruppe um Werner Helsper zurückgreifen (s. o. Abschnitt 2.2.3), die ein „heuristisches Generationsmodell für die Schulforschung“ (Kramer 2008: 704) geliefert hat. Die ForscherInnen legen nicht Mannheims Generations-Verständnis zugrunde, sondern definieren im Anschluss an Schleiermacher einen „erweiterte[n] genealogische Generationsbegriff“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009: 53 ff). Darauf aufbauend entwickeln sie eine Theorie der Anerkennung zwischen den Generationen, indem sie Honneths Anerkennungsformen der Liebe (emotionale Dimension), des Rechts (moralische Dimension) und der Solidarität (individuelle Dimension) die Antinomien zuordneten, die in der unhintergehbaren Generationsdifferenz entstehen. Die Generationsordnung, definiert als „jeweils spezifische kulturelle Ausformung des Zusammenspiels und Ineinandergreifens von generationalen Regeln, Strukturen, Deutungsmustern, Orientierungen und Akteurspositionen“ (ebd.: 47), verorten sie im genannten Mehrebenenmodell (s. o. Abb. 2.4), in dem die unterschiedlichen Ebenen des Sozialen mit den Sinnebenen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen relationiert wurden. Damit (re-) konstruieren sie, bezogen auf Schulkulturen, eine symbolische Ordnung, die von einem bedeutungsorientierten Begriff von Kultur ausgeht und in der generationsbezogene Interaktionen als Kette symbolischer Aushandlungen verstanden werden, die zwischen imaginierten Entwürfen einerseits, vorausgesetzten Realien andererseits stehen und in diesem Gegensatz vermitteln (vgl. Hummrich 2015: 80 ff; Hummrich 2018). Die AutorInnen um Helsper untersuchten die „pädagogischen Generationsbeziehungen“, das sind die schulischen Vermittlungsleistungen und die Weitergabe kultureller Kapitalien in Eltern-Kind-Beziehungen; dabei gingen sie für die beiden Bereiche der Familie und der Schule von „jeweils eigenen symbolischen Generationsordnungen“ (ebd.: 64) aus. Die pädagogischen Generationsbeziehungen wurden als begrenzter Teilbereich definiert, der die pädagogischen Aspekte generationsbezogener Interaktionen (ebd.: 72 f) und dabei insbesondere „die Inhalte und die interaktive Strukturierung der Wissensweitergabe und des Wissenserwerbs“ (ebd.) erfasst; in beiden geht es um die asymmetrisch strukturierte Weitergabe bzw. Vermittlung und Aneignung von Inhalten, Kenntnissen, Fähigkeiten, Haltungen, Stilen, Normen, Regeln und Werten (ebd.: 65). Der Forschungsgegenstand dieser Studie ist auf die beiden Bereiche von Familie und Schule bezogen, daher entsteht für Forschung die „nicht zu
4.2 Spezifika des Forschungsgegenstands
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unterschätzende Schwierigkeit“ (Kramer 2008: 702 f), mit den konstitutiven Kontrasten der Felder umzugehen, den eher diffusen, gemeinschaftsbezogenen Beziehungen der Familie einerseits, den eher spezifischen, gesellschaftsbezogenen Beziehungen der Schule andererseits (vgl. Oevermann 2001; Helsper/ Kramer/Hummrich/Busse 2009). Damit verbundene Probleme, vor allem im Hinblick auf Dimensionen und Umfang der Studie, werden hier durch die explizite Zuordnung des Untersuchungsgegenstands zur Institution Schule, zur schulischen „Elternarbeit“ und zum Feld schulischer Peerbeziehungen ‚umgangen‘ (s. o. Abschnitt 4.2.1). Die Zuordnung gründet auch auf der Tatsache, dass die Suche nach kollektiven Orientierungsrahmen der Schülerinnen und Schüler nur in der zunehmend habitualisierten Vergemeinschaftung schulischer Peers stattfinden kann, nicht aber in der Familie bzw. dort möglicherweise nur für Eltern und Kinder bzw. Geschwister. Schule kann als intergenerationales Verhältnis zwischen der jüngeren und der älteren Generation verstanden werden, das gleichzeitig intragenerationale Interaktionen in Form von Peerbeziehungen schafft (vgl. Heinzel 2012a; Oevermann 2001: 125). Entscheidend ist die Frage, ob damit eine kokonstruktive Relationierung der Generationen in der Schule verbunden wird (vgl. de Boer/Deckert-Peaceman 2009a: 23, 29; 2009b: 320), die, so die Kritik, die Asymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen zum Verschwinden bringt (Scholz 2009: 243). Scholz argumentiert, die Erwachsenen bestimmten den Rahmen und damit auch die Grenzen für die Spielräume der peergroup. Auch Oevermann kommentiert die Deutung der Schule als generationales Verhältnis kritisch und argumentiert, bei der innerschulischen Altersasymmetrie gehe es nicht primär um eine generationale Differenzierung, sondern um eine Status- und Rollendifferenzierung (Oevermann 2001: 127). Das werde auch durch die intergenerationale Unterschiede zwischen den Lehrkräften und in den schulischen Kollegien sichtbar. Für diese Untersuchung werden die Beziehungen zwischen SchülerInnen und Lehrkräften als intergenerationale bzw. pädagogische Generationsbeziehungen verstanden, auch das strukturierende Moment der Ko-Konstruktion zwischen Peers bzw. zwischen unterschiedlich generational Positionierten wird als konstitutiv angesehen, aber die Annahme einer kokonstruktiven generationalen Ordnung von Schulordnung und Peerordnung als primäres Merkmal von Schule in einer Art institutionsbezogener Generalisierung wird nicht übernommen. Der Forschungsgegenstand kann innerhalb eines generationalen Mehre bensystems auf zwei Ebenen verortet werden, zum einen auf der der Generationsbeziehungen, zum anderen auf der der Generationsmilieus und -institutionen. Er ist also nicht auf der Mikroebene der einzelnen G enerationsakteure bzw.
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie
–individuen angesiedelt, sondern auf der ihrer Beziehungen. Diese stellen sich als „Elternarbeits“-bezogene, intergenerationale, pädagogische Beziehungen einerseits, peerbezogene, intragenerationale Beziehungen andererseits dar; der intergenerationale Aspekt ist – forschungsbezogen – thematisch relevant, der intragenerationale – forschungsbezogen – sozial bedeutsam, beide Aspekte beziehen sich auf die Institution Schule, sodass auch die Mesoebene der Generationsmilieus und -institutionen berührt wird. Ungeachtet der Divergenzen im grundlegenden Generationsverständnis, die für den hier verhandelten methodologischen Zugang nicht relevant erscheinen, sieht diese Untersuchung die befragten Kinder in der „Komplizenschaft“ (Bühler-Niederberger 2018: 34) intergenerationaler pädagogischer Generationsbeziehungen, die in differenzieller Zeitgenossenschaft gestaltet werden; sie rekonstruiert diese aber nicht, sondern bringt kindliche, sich habitualisierende Perspektiven auf diese Beziehungen im Kontext von innergenerationalen Peerbeziehungen zur Geltung und fragt nach deren kollektiv bezogenen Ausgestaltungen in der Latenzphase, möglicherweise auch in beginnender Ablösung von den Eltern, und zwar im institutionellen Kontext der Schule; dabei stellen sich Fragen nach einem „participation gap“ genauso wie nach, möglicherweise auch ‚vertikal angeordneten‘, Extensionen der Kinder (Hengst). In enger Orientierung am Erkenntnisinteresse und den hier vorgestellten methodologischen Bestimmungen wird die formulierte Forschungsfrage (s. o. Abschnitt 3.2) präziser formuliert: Welche gemeinsamen Aussagen und Unterscheidungen treffen Schülerinnen und Schüler aus dritten Klassen an Grundschulen in Kontexten schulischer Peers im Hinblick auf die schulbezogene Kooperation naher, älterer Anderer anderer Generationen?
4.3 Heuristische Gegenstandskonzeption Im Folgenden werden die gewonnenen methodologischen Erkenntnisse in einer Gegenstandskonzeption zusammengefasst, die der Rekonstruktion der Orientierungen von SchülerInnen auf schulische „Elternarbeit“ dient. Der Begriff der Gegenstandskonzeption wird von Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems (2009: 191) übernommen, nicht jedoch deren Relationierung von Orientierungsrahmen und Habitus. Die Konzeption steht nicht für eine „gegenstandsbezogene Theorie“ (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 407), sondern für ein heuristisches Vorgehen, das den Gegenstand hinreichend präzise bestimmt, aber möglichst offen und sensibel hält: „Man versucht, sich dem Phänomen, das einen interessiert, in analytischer Einstellung zu nähern, indem man es systematisch
4.3 Heuristische Gegenstandskonzeption
167
auf seine Bedingungen und Konsequenzen hin befragt, es gegenüber vergleichbaren Phänomenen systematisch abgrenzt und dabei erste Konzeptualisierungen vornimmt“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 30; vgl. Kelle/Kluge 2010: 28 ff). Die Konzeption dient nicht dem Abarbeiten wie auch immer gearteter Standardisierungen, sondern der Darstellung möglicher Aspekte des Gegenstands und ihrer multiplen Bezüge im Forschungsfeld. Dabei ist das Problem einer teilweise reflektierten, teilweise auch ‚subkutanen‘ Operationalisierungsnormativität (Heinrich 2016: 434) implizit, sowohl in der begründeten Auswahl der relevanten Theoretisierung als auch in Bezug auf die Orientierung in der scientific community. Tab. 4.4 Habitusbildung in inner- und intergenerationalen Beziehungen von Grundschulkindern Äußerungen und Praxen mit Bezügen zum koopera ven Handeln der älteren Genera on in spezifischen Gender- und Machtbezügen
Prozess der Habitusbildung in der Latenzphase in peerbezogener Rela onalität
Genera onsspezifische Synchronisa on von Erlebnissen und ontogene scher Entwicklung
Gegenstandskonzepon
Peerbezogener Erfahrungsraum
Organisa onsbezogener Erfahrungsraum
Wachsende Kenntnis von und immer bewussterer Umgang mit Regeln, Normen, Iden täten Immer wieder geforderte, zunehmend rou niertere Bewäl gung der notorischen Entwicklung von Handlungspraxen in der Erprobung von Ak onismen zu Habitualisierungen und Inkorporierungen Ins tu onell-organisatorische Doppelstruktur mit spezifischen Codierungen und Fremdrahmung Differenzielle Zeitgenossenscha unterschiedlicher Genera onszusammenhänge und -einheiten
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4 Forschungsgegenstand und Methodologie
Die so verstandene Konzeption (s. Tab. 4.4) setzt die kollektive Orientierung der handelnden Akteure – der Schülerinnen und Schüler – gegenüber dem Thema schulischer „Elternarbeit“ primordial, da die Untersuchung deren Perspektiven auf „Elternarbeit“ in einer Forschungssituation erheben will, die die Peerbezüge in vivo dokumentiert (vgl. Abschnitt 5.1). Im Zentrum steht der kollektive, kindliche Orientierungsrahmen im weiteren Sinne, allerdings in einem ‚status nascendi‘, um Orientierungen und Habitusbildung auf den unterschiedlichen Ebenen abzubilden. Weitere Anknüpfungspunkte bieten die Diskussionen um die generationale Ordnung als differenzielle Zeitgenossenschaft, die den Forschungsgegenstand einerseits als spezifische Korrelation unterschiedlicher Generationszusammenhänge, andererseits als generationsspezifische Erlebnisschichtung rahmt und strukturiert. Das Thema intra- und intergenerationaler Interaktion in der Forschungssituation der Gruppendiskussion wird in Äußerungen und Praktiken zum kooperativen Handeln der älteren Generation rekonstruierbar, die in spezifischen Gender- und Machtbezügen stehen. Die Gegenstandskonzeption wäre unvollständig, wenn nicht aktuelle, gegenstandsbezogene Entwicklungstendenzen berücksichtigt würden, die auch kindliche Orientierungen beeinflussen können; generationsspezifische Prägungen und Orientierungen sind ihrerseits immer eingebettet in Aushandlungsprozesse und Herrschaftsverhältnisse, nicht nur der dominanten Schulkultur, sondern auch komplexerer sozialer und gesellschaftlicher Strukturierungen (vgl. Kramer 2008: 707). Kramer weist darauf hin, „[…] dass die historisch gewachsene Ausdifferenzierung familialer und schulischer Generationsverhältnisse es zunehmend der Schule überlässt, die asketischen (Leistungs-) Ansprüche gegenüber den Jugendlichen durchzusetzen […]. Darin liegt ein zentrales Problem von Schule. Denn während die Durchsetzung der Schulpflicht in weiten Teilen auf ein ‚Disziplinierungsbündnis‘ mit den Eltern bauen konnte, sei von dieser ‚Komplizenschaft‘ heute eher selten auszugehen […]“ (Kramer 2008: 708).
Damit wird die Historizität und Veränderbarkeit des Verhältnisses von Schule und Familie für die Jahre nach der Jahrtausendwende dingfest gemacht. Auch BühlerNiederberger (2018) betont, dass die „Qualitäten des Aufwachsens“ (ebd.: 33) durch gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen betroffen sind, dass „Chancen zur Aufwärtsmobilität oder zur Statuserhaltung über Familienerziehung und Schule“ (ebd.) die Alters- und Geschlechtshierarchien in den Familien unterschiedlich stark prägen. Betz und Bischoff (2018) zeichnen Tendenzen der gegenwärtigen Diskussion um Frühförderung nach, isb. in politischen Kontexten, und differenzieren dabei unterschiedliche Leitbilder; sie sehen die gemeinsame
4.3 Heuristische Gegenstandskonzeption
169
Basis der Ausrichtung dieser Leitbilder darin, dass Kinder „keine eigenständige Position oder eigenständige Rechte als Kinder und auch keine Möglichkeit für eine legitime Abweichung von der angedachten Entwicklungsrichtung“ haben (ebd.: 61). Mehr noch: „Die Leitbilder adressieren fast ausschließlich Erwachsene, welche die Aufgabe erhalten, die ‚gute‘ Kindheit zu garantieren und zu sichern – z. B. durch gezielte Entwicklungsbeobachtung und – falls nötig – durch passgenaue Intervention (z. B. durch Sprachförderung). Damit gibt es nicht nur für Kinder, sondern ebenso für Erwachsene keine legitime Möglichkeit der Abweichung“ (ebd.: 62).
Diese Normierung, „sowohl mit Blick auf das Kindeswohl als auch mit Blick auf das staatliche Wohl und somit die Zukunftssicherung des Wohlfahrtsstaates“ (ebd.: 63), verbinde sich – gestützt auf Befunde aus Neurobiologie oder Entwicklungspsychologie (ebd.: 52 f) – mit einem „Bild vom Kind als Entwicklungswesen“, dem klar unterscheidbare Phasen mit spezifischen Entwicklungs- und Lernaufgaben zugeordnet würden, verstanden als biologische Tatsachen.
5
Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Die vorgestellte Gegenstandskonzeption nimmt das Kollektive, Implizite und Generationale des Forschungsgegenstands auf, diese Momente werden aber im Folgendem auch in einem angepassten Forschungsdesign berücksichtigt, das seine Grenzen allerdings in den zeitlichen, räumlichen und materiellen Rahmenbedingungen dieser Studie findet. Dabei wird die Kritik Martin Heinrichs einer impliziten Normativität mitgedacht (vgl. Heinrich 2016: 436), in diesem Fall eine Operationalisierungsnormativität, der mit einer verstärkten Orientierung an rekonstruktiver Reflexivität und am Gütekriterium eines flexiblen Methodenbegriffs (vgl. Strübing/Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018: 87) begegnet wird. Aus der gegenstandsbezogenen Bestimmung wird die methodische Schlussfolgerung gruppenzentrierter Kommunikation gezogen, die mit Hilfe der Methode der Gruppendiskussion erforscht wird. Dieses methodische Instrument als kollektiv bezogene Erhebungsmethode gilt „als ein adäquates Verfahren der Peerforschung“ (Loos 2016: 143) und wird zunächst vorgestellt, dem folgt die Darstellung der Datensicherung mit Hilfe der Videografie sowie im dritten Schritt die der Auswertungsmethode der dokumentarischen Methode, dann schließt die des Umgangs mit den erhobenen Daten als Fälle an, die schließlich zur Begründung eines qualitativen Samples führt.
5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern In einer ersten Annäherung wird hier die Definition des lange Zeit gültigen Standardwerks von Peter Loos und Burkhard Schäffer (2001) zur Methode der Gruppendiskussion wiedergegeben: © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_5
171
172
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
„Die Gruppendiskussion läßt sich […] als ein Verfahren definieren, in dem in einer Gruppe fremdinitiiert Kommunikationspozesse angestoßen werden, die sich in ihrem Ablauf und der Struktur zumindest phasenweise einem ‚normalen‘ Gespräch annähern. Zugleich werden jedoch auch die Vorteile und Möglichkeiten eines Gesprächs zwischen Forschenden und Erforschten genutzt“ (ebd.: 13).
Über diese formale Umschreibung hinaus, die bereits den doppelten Diskurs zwischen ForscherIn und Beforschten einerseits, den Beforschten untereinander andererseits betont, gelten Gruppendiskussionen als spezifische Methode, kollektive Orientierungen zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010: 7; Mensching 2017: 76), weil sie, anders als Gruppeninterviews, eine „Gruppenmeinung“ (Werner Mangold nach Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 90 f) evozieren, die sich durch die Begegnung der Befragten konstituiert, wenn sie in ihrer Kommunikation konjunktivierende Bezüge auf gemeinsame Erfahrungsräume vornehmen, sofern diese vorhanden sind; damit präsentieren Gruppendiskussionen nicht nur den Gegenstand, sie repräsentieren ihn auch (ebd.). Diskussionen um diese Methode bezogen sich lange auf die Kritik des interpretativen Paradigmas, die meinte, die entstehende Gruppenmeinung sei lediglich Resultat des situativen Interaktionsprozesses der Gruppe und daher nicht valide oder reliabel (ebd.). Diese Kritik wurde von Bohnsack (2014a: 107 ff; 2017a: 41; vgl. Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010: 13) mit Rückbezug auf Mangold entkräftet, letzterer hatte nicht nur auf gemeinsame Erfahrungen von „Realgruppen“ abgestellt, sondern auch auf die von „Großgruppen“, „deren Angehörige durch ein gemeinsames Schicksal (z. B. Flüchtlinge) und/oder durch eine gemeinsame soziale Lage (z. B. Bergleute und Bauern), nicht aber (oder nur zusätzlich) durch direkte Bekanntschaft miteinander verbunden waren“ (Bohnsack 2014a: 109). Aufbauend auf Mannheims wissenssoziologischer Theoriebildung um den konjunktiven Erfahrungsraum (s. o. Abschnitt 4.1), gelang Bohnsack in der Herausarbeitung generationaler Zusammenhänge (vgl. Bohnsack 1989) eine Kritik der interpretativen Kritik, indem er zwei methodologische Gesichtspunkte betonte: • Zum einen bedarf es eines methodischen Zugangs zum Datenmaterial in Form einer „doppelten Hermeneutik“ durch Konstruktionen zweiten Grades (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010: 8 f), die an die Konstruktionen ersten Grades anschließen, sowie einer sequenziellen Analyse der Interaktionen und Erzählungen, um deren scheinbare Zufälligkeit als „jenes die subjektivintentionalen Sinngehalte der Einzeläußerungen transzendierende kollektive Bedeutungsmuster“ (Bohnsack 2014a: 112) zu verstehen.
5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern
173
• Zum anderen braucht es eine veränderte theoretische bzw. meta-theoretische Rahmung (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010: 9), die Sozialität nicht nur versteht als mühsam in individuellen Bezugnahmen hergestellt, sondern als grundlegend vorhanden: „Sozialität ist bereits ‚unterhalb‘ subjektiver Intentionen in Gemeinsamkeiten des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten des Schicksals verankert.“ (ebd.: 113) Darüber hinaus kritisiert Bohnsack (2017a: 41), dass derartige theoretische Konstrukte, die das Zustandekommen sozialer Praxis in komplexen Interpretations- und Aushandlungsprozessen und ihren idealisierten Regeln sehen, „zum Primat eines Situationismus und der Okkasionalität und damit auch zu einer Diskontinuität des Handelns“ (ebd.) führen würden, die den Routinecharakter sozialen Handelns fragwürdig erscheinen lasse. Damit sagt er nicht, dass diese Art der intersubjektiven Aushandlung nicht existiere, er verweist sie aber mit Mannheim in den Bereich kommunikativen Wissens, dem er die primordiale Sozialität der konjunktiven Erfahrungsräume voranstellt. Die weitere Geschichte der Entwicklung des Erhebungsinstruments der Gruppendiskussion wird an dieser Stelle nicht noch einmal referiert, sie ist vielfach nachzulesen (vgl. Loos/Schäffer 2001; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010; Bohnsack 2014a; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014; Loos 2016). Stattdessen werden im Folgenden Merkmale der Methode zusammengefasst und auf den Milieubegriff bezogen, bevor die Gestaltung von Gruppendiskussionen mit Kindern in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, um im Sinne eines flexiblen und reduzierten Methodenbegriffs (s. o.) vorliegende Forschungserfahrungen zu prüfen und ggf. zu berücksichtigen. Die Gruppendiskussion als Methode ist durch spezifische Merkmale gekennzeichnet, die anhand der drei Aspekte der Vorbereitung, der Durchführung und der Interpretation dargestellt werden. In der Vorbereitung einer Datenerhebung mit Gruppendiskussionen muss eine methodisch kontrollierte Auswahl bzw. Bildung der Gruppen stattfinden, denn „[d]ie Zusammensetzung der Gruppen strukturiert die Ergebnisse der Untersuchung mit“ (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 94); dabei werden natürliche bzw. „Realgruppen“ und künstliche, von ForscherInnen zusammengestellte bzw. „Quasi-Realgruppen“ (ebd.; Mensching 2017: 59 ff) unterschieden, je nachdem, ob sie in identischen bzw. strukturidentischen Milieus angesiedelt sind (s. o.); in der Regel werden die zu Befragenden bei einer ersten Kontaktaufnahme über Forschungsabsicht und Erhebung informiert, das Gespräch der Kontaktaufnahme dient der Klärung der Teilnahme (ebd.: 60). Die Durchführung der Gruppendiskussionen, sprich: die jeweilige Erhebungssituation folgt bestimmten Durchführungsprinzipien, die dem
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5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
doppelten Diskurs ForscherIn-Beforschte und Beforschte-Beforschte Rechnung tragen (vgl. Bohnsack 2000: 380; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 96)1; entscheidend zur thematischen Klärung ist der Eingangsstimulus, Fragen und Nachfragen werden vom Gespräch getrennt und als immanente und exmanente differenziert; Ziel ist die Herstellung von Selbstläufigkeit im Gespräch der Beforschten, also weitestgehend ohne Beteiligung der ForscherInnen; auch der Ort der Diskussion ist zu reflektieren, er sollte dem thematischen Bezug entsprechen: Es sei wichtig, den Kontext zu beachten, „d. h. die Wahl des Kontextes für die Erhebungen systematisch zu reflektieren, die Kontextbedingungen zu dokumentieren […] sowie den Kontext bei der Analyse der Daten zu berücksichtigen“ (ebd.: 65). Die Interpretation schließlich von Gruppendiskussionen konzentriert sich auf die Rekonstruktion des bereits genannten doppelten Diskurses zwischen ForscherIn und Befragten einerseits, zwischen den Befragten andererseits; im letztgenannten Diskurs liegt der Fokus auf den Themen, den Diskursverläufen und der Diskursorganisation (im Weiteren siehe Abschnitt 5.3). Innerhalb der Diskursverläufe interessieren insbesondere Passagen, die aufgrund ihre Selbstläufigkeit, ihres gemeinsamen Rhythmus und ihrer interaktiven Dichte auffallen und zudem durch metaphorische Dichte gekennzeichnet sind, also durch einen hohen Detaillierungsgrad und eine ausgeprägte Bildhaftigkeit der Darstellung, sie stellen „dramaturgische Höhepunkte des Diskurses“ (Bohnsack 2014a: 125) dar. „In diesen Passagen werden aufgrund ihrer interaktiven und metaphorischen Dichte jene kollektiven Orientierungen, welche im Fokus der Gruppe bzw. des Milieus stehen, in besonders prägnanter und/oder elaborierter Weise zum Ausdruck gebracht. Wir haben hierfür den Begriff der ‚Fokussierungsmetapher‘ geprägt […]“ (ebd.).
Über diese Merkmal hinaus relevant ist für die Methode der Gruppendiskussion Bohnsacks Differenzierung in Milieus des identischen bzw. des struktur-
1Die
„reflexiven Prinzipien“, die Bohnsack (2000) nennt, lauten: 1.) Die gesamte Gruppe ist Adressatin der Interventionen. 2.) Vorschlag von Themen, nicht Vorgabe von Propositionen. 3.) Demonstrative Vagheit. 4.) Kein Eingriff in die Verteilung der Redebeiträge. 5.) Generierung detaillierter Darstellungen. 6.) Immanente Nachfragen. 7.) Phase exmanenter Nachfragen. 8.) Direktive Phase. Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014: 96 ff) nennen als „Prinzipien der Durchführung“: Interventionen immer an die ganze Gruppe; Weitgehender Verzicht auf die Teilnehmerrolle, Zurückhaltung im Gespräch; Themenvorschläge ohne themenbezogenen Orientierungsrahmen; Demonstrative Vagheit, methodisch reflektierte Fremdheit; Anstoßen detailreicher Darstellungen.
5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern
175
identischen Erlebens (s. o. S. 100); direkte, interaktive Milieubeziehungen, die gemeinsame Erfahrungen über einen langen Zeitabschnitt beinhalten, versteht er als „spezifische Ausprägungen konjunktiver Erfahrungsräume oder Milieus“ (Bohnsack 2014a: 114). Dieser Differenzierung entsprechen unterschiedliche Aspekte der „Erlebnisschichtung“, konkrete Gruppengeschichte(n) einerseits, übergreifende Sozialisationsgeschichte andererseits (Mensching 2017: 65). Homolog gilt für Erfahrungsräume in Organisationen, dass neben dem konjunktiven Erleben der Alltagspraxis der miteinander im Organisationsalltag Interagierenden „eine zweite Form von Konjunktivität“ (ebd.: 76) entsteht, die das strukturidentische Erleben in Organisationen erfasst. Diese Homologie behauptet keine Identität oder gemeinsame Teilmenge von Milieus und Organisationen, sondern bleibt auf selbstständige innerorganisationale Milieus fokussiert (s. o. S. 109). Das implizite Wissen der Organisation und ihrer „Differenz zwischen Regelgemäßheit (Regelerwartung) und Regelmäßigkeit (Regelpraxis)“ (Mensching 2017: 62 f) kann durch Gruppendiskussionen beforscht werden, sodass routinierte Praktiken, Selbst- und Fremdbilder der Organisationsmitglieder sowie organisationsinterne wie -externe Beziehungen thematisierbar werden (ebd.: 76), z. B. zwischen Lehrkräften, Schulleitungen und technischem Personal einerseits, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern andererseits, ferner zu anderen relevanten Umwelten, Vertretern anderer Organisationen u. ä. Die Differenzbearbeitung zwischen formal-organisationalen Erwartungen und gelebten Praktiken wird dabei auf beiden Ebenen der Analyse sichtbar, sowohl auf propositionaler als auch auf performativer Ebene (ebd.: 64). Für Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern ergibt sich daraus eine spezifische Stellung als schulische Akteure, die keine Mitglieder der Organisation sind, sondern deren Klienten (s. o. S. 112). Das gilt es im Folgenden zu berücksichtigen. Die Methode der Gruppendiskussion erscheint für die Forschung mit Kindern2 besonders geeignet, weil sie sie nicht in eine isolierte Stellung gegenüber dem oder den Erwachsenen bringt, sondern ihnen ermöglicht, in einer Kindergruppe aufzutreten und sich mit den vorgegebenen Fragen, Impulsen, Themen gemeinsam und aktiv auseinanderzusetzen. Die reformpädagogische Denkfigur, die man aus diesem Argument herauslesen kann – etwa das romantisierende Bild einer solidarischen Kindergruppe, die sich gegen die Welt der Erwachsenen
2Einsiedler,
Fölling-Albers, Kelle und Lohrmann (2013: 20, 24) plädieren in ihren zwölf Standards der empirisch-pädagogischen Forschung für eine Reflexion der Forscher-Probanden-Beziehung.
176
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
stemmt – wird dekonstruiert durch den Anschluss an Fangmeyers und Mierendorffs minimale Verschiebung des forschenden Blicks zur Relationierung von Kindheit und Erwachsenheit (Fangmeyer/Mierendorff 2017: 11; s. o. S. 66): Zur Reflexion des Standorts des Forschers tritt die wahrgenommene Tendenz und Kritik reformpädagogischer Einflüsse (s. o. Abschnitt 3.1.2) sowie die Tatsache erfolgreicher und reflektierter Forschungserfahrungen mit dieser Methode im Hinblick auf Kindergruppen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 102; vgl. auch Michalek 2006; Michalek/Schönknecht 2006; Heinzel 2012c): „Dem Verfahren wird großes Potential für die empirische Forschung mit Kindern attestiert, nicht zuletzt, weil das hierarchische Gefälle zwischen Kindern und Erwachsenen durch die zahlenmäßige Überlegenheit der Kinder bei Gruppendiskussionen abgemildert wird. Dies erweitert die Perspektive auf die ganz eigene soziale Welt der Kinder, wie sie nicht durch Erwachsene strukturiert ist“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 102).
Gruppendiskussionen leisten, so die beiden Autorinnen, einen Beitrag für eine Fokussierung auf die Konstruktionen der Kinder, da die Peergroup, die Erfahrungsräume der Kinder und damit auch die sich vollziehenden Sozialisationsprozesse gegenüber einer Orientierung an Entwicklungszielen in den Vordergrund gestellt würden (ebd.). In der Forschungssituation stehen die Kinder als Beforschte in einem intra generationalen Verhältnis zueinander und dem erwachsenen Forscher in einer intergenerationalen Beziehung gegenüber3. Damit werde, so Heinzel (2012a: 24), eine generationale Ordnung hergestellt. Sarah Alexi und Rita Fürstenau (2012) greifen diese These auf und referieren eine Kritik Karin Bocks (2010), die den Zugang der dokumentarischen Methode zu Gruppendiskussionen kritisiert (ebd.: 119 ff). Sie argumentiert mit Bezug auf Klaus Neumann-Braun und Arnulf Deppermann (1998), Gruppendiskussionen seien „Interaktion zwischen Generationen“ (Bock 2010: 121; Neumann-Braun/Deppermann 1998: 244), weil die Gesprächssituation durch den Einfluss des Moderators bzw. der Moderatorin auf die Wirklichkeitskonstruktionen der Kinder gekennzeichnet seien. Diese würden in ihrem Sprechen ihm gegenüber selbstdarstellende Handlungsakte realisieren. Damit findet der Anschluss an die Kritik des interpretativen Paradigmas statt (s. o.). Allerdings arbeitet Bocks Deutung der sozialen Situation
3Die
persönlichen Motive und Voreinstellungen des Forschers wurden bereits im Abschnitt 3.1 reflektiert.
5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern
177
Gruppendiskussion mit einem, auch von Heinzel unterstellten, dichotomen Generationsbegriff, sie verabsolutieren die Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen. Demgegenüber erlauben die Relationierungen einer differenziellen Zeitgenossenschaft und die damit verbundenen Berücksichtigungen der Peerbezüge, Gruppendiskussionen als „zwei ineinander verschränkte[…] Diskurse“ (Bohnsack 2014a: 225), als generationsbezogene Interaktion und gruppenzentrierte Kommunikation der Erforschten zu verstehen, wenn die erwachsenen ForscherInnen darauf verzichten, in den kindlichen Diskurs einzugreifen. Die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen ermöglicht dann eine Selbst-Reflexion des Forschenden in Bezug auf seine Beteiligung und die Differenzierung zwischen jenen Sequenzen, die durch die Reaktion auf die Interventionen der Forschenden strukturiert sind, und jenen, in denen die Erforschten wechselseitig aufeinander reagieren (ebd.). Nentwig-Gesemann hat dieses Argument bereits 2010 im Blick und betont, dass dadurch eine „zusätzliche Erkenntnisquelle“ (ebd.: 29 f) entstehe, da sich der kindzentrierte Diskurs in seiner Eigenart konturiert vom erwachsenenzentrierten Diskurs abhebe, wenn man beide einer komparativen Analyse unterziehe. Dabei gelte es, die spezifische Eigenart der Gruppendiskussion von Kindern zu berücksichtigen, die ihr handlungsleitendes Wissen, abhängig vom Alter, eher performativ als propositional präsentieren. Mit anderen Worten: „Kinder erzählen und beschreiben ihre Handlungspraxen und Erlebnisse weniger, als dass sie diese vor- bzw. aufführen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 102). Dies werde von erwachsenen ForscherInnen oft als Aussteigen aus der Diskussion fehlinterpretiert. Daher, so forderten die beiden dokumentarisch orientierten Kindheitsforscherinnen bereits 2007, impliziere die Erforschung von kindlichen Erfahrungsräumen einen methodischen Zugang, der das Performative explizit berücksichtige (Nentwig-Gesemann/Wagner-Willi 2007: 214). Entsprechend richtet Nentwig-Gesemann (2010) den Fokus ihrer Argumentation auf die Praxis des Spiels und insbesondere auf ihre rekonstruktive Erfassung in sogenannten „Fokussierungsakten“: „In den Gruppendiskussionen mit Kindern entwickeln sich regelmäßig zentrierte Spielbegegnungen und szenische Aufführungen, deren dramaturgische Höhepunkte als Fokussierungsakte bezeichnet werden. Damit fasse ich – in enger Bezugnahme zum Konzept der Fokussierungsmetapher, dessen Bedeutung Bohnsack für das Gruppendiskussionsverfahren herausgearbeitet hat – besonders selbstläufige, körperlich-perfor mative Handlungspassagen mit hoher interaktiver Dichte“ (ebd.: 40).
Dieser Fokus wird in der Folge ausdifferenziert: Nentwig-Gesemann erforschte die Spielpraxis von Vorschul- und Grundschulkindern, Wagner-Willi die Rituale
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5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
von Grundschulkindern im Übergang zum Unterricht. Dabei weist die zuletzt genannte Autorin auf die methodische Erfahrung hin, dass Gruppendiskussionen auch im Vergleich zur videogestützten Beobachtung ein sinnvoller Zugang zu kindlichem Handeln sind, denn „[d]ie Orientierungen bzw. die negativen und positiven Gegenhorizonte der Kinder kamen hier deutlicher zum Vorschein“ (Wagner-Willi 2010: 54 f). Sie beschreibt den Zugang zum habitualisierten Wissen der Kinder als Zugang zu deren mentalen Bildern, die in der Gruppendiskussion dargestellt werden (s. o. S. 122). Das zentrale Ergebnis ihrer Untersuchung ist die überragende Bedeutung von Ritualen für die Gestaltung des Übergangs zwischen Pause und Unterricht, die sowohl institutionsbezogen als auch peerbezogen stattfinden (ebd.: 45): Während die Rituale, die von den Lehrkräften eingesetzt werden und zum Unterricht hinführen sollen, kommunikativ zu verstehen sind, zeigen die Rituale mit den Peers konjunktive Qualitäten, isb. in Spielen mit liminoidem, also grenzumspielenden Charakter4, und können sowohl aktionistisch als auch habitualisiert sein: „Der eigentliche Ernst findet im Spiel statt, die dort verhandelten sozialen Beziehungen sind die eigentlich ernsthaften. Sie vollziehen sich nicht auf der Hinter-, sondern vielmehr auf der Vorderbühne“ (ebd.: 50).
Seitens der Lehrkräfte wird, so die Beobachtungen von Wagner-Willi (2010: 53), die Grenzziehung zwischen Pause und Unterricht aufrechterhalten, teil-
4Spiele
werden von Nentwig-Gesemann (2010: 30) mit Bezug auf Goffman als „zentrierte Versammlung“ beschrieben, „deren zentrales Merkmal ein geteiltes ‚spontanes Engagement‘ ist, das dem Spielen einen Rahmen umlegt, innerhalb dessen es zu einer Zentrierung der Aufmerksamkeit, zu einer erhöhten interaktiven Dichte, zur (zumindest temporären) Ausprägung eines ‚Wir-Gefühls‘, zu ‚Euphorie‘ und Leidenschaft kommt“; Spiele mit grenzbezogenem Charakter werden sowohl von ihr als auch von WagnerWilli (2010) thematisiert und – unter Zuhilfenahme eines Zitats von Victor Turner aus der Veröffentlichung „Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels“, Frankfurt 1989 – als Gemeinschaftserfahrung und Flow-Erleben beschrieben: „‚Spontane Communitas‘ ist eine direkte, unmittelbare und totale Konfrontation menschlicher Identitäten‘, die in Phasen der vorübergehenden Befreiung der Menschen aus sozialen Rollen und der damit verbundenen Normativität begünstigt wird. Diese grundlegend an Gemeinschaft gebundene Communitas-Erfahrung, wie sie sich z. B. in einer liminoiden Situation des Spielens ausprägen kann, beruht wesentlich auf dem Erleben von ‚Fluß‘ bzw. ‚Fließen‘ […] ‚Flow-Erleben‘ bezeichnet demnach ein ‚Verschmelzen von Tun und Bewusstsein‘, eine ‚Zentrierung der Aufmerksamkeit auf ein beschränktes Stimulusfeld‘, ‚Selbstvergessenheit‘ und das Gefühl alles unter Kontrolle zu haben“ (Nentwig-Gesemann 2010: 40; vgl. auch Alkemeyer 2017: 291).
5.1 Datenerhebung: Gruppendiskussionen mit Kindern
179
weise mit Sanktionsmechanismen, zu denen auch Benachrichtigungen an die Eltern zählen – der Versuch, sie als zusätzliche Ordnungsgaranten ins Spiel zu bringen, indem eine generationale Grenzziehung vorgenommen wird. Nentwig-Gesemann (2010: 29) differenziert die im Aufsatz von 2007 angesprochene Fremdheitsrelation zwischen Kindern und Erwachsenen (s. o. Abschnitt 4.2.2) nunmehr als grundlegendes, generationales Verstehensproblem, da intergenerational in der Regel kommunikative Verständigung stattfindet; eine konjunktive Verständigung zwischen Kind und Erwachsenem sei in Ausnahmefällen, etwa in bestimmten familiären Beziehungen, möglich5. Das gilt auch für eine intergenerationale Beziehung zwischen Beforschten und ForscherIn, daher zieht sie wie Wagner-Willi (2010) den Schluss, dass methodisch eine Kombination aus Videografie und Gruppendiskussion, nämlich „die videogestützte Gruppendiskussion“ (ebd.: 26), ein angemessenes Instrument zur Datenerhebung in der Forschung mit Kindern sei. Über diese zentrale methodische Entscheidung hinaus muss das Verfahren generell an den Untersuchungsgegenstand und die kindlichen Akteure angepasst werden. Die bisherigen Erfahrungen mit der Durchführung von Gruppendiskussionen mit Kindern werden von Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014: 102 ff) zusammengefasst und wissenschaftlich systematisiert, sodass daraus – methodisch hier nicht neu zu begründende – Verfahrensvorschläge abzuleiten sind, die hier zusammengefasst und auf diese Untersuchung bezogen werden: • Gruppendiskussionen mit Kindern finden in Realgruppen statt, weil deren Kooperationsbereitschaft mit unbekannten Kindern instabil ist, je jünger sie sind; daher wird ein längerer Aufenthalt im Feld empfohlen, will man
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macht die Autorin anhand eines Beispiels von Karl Mannheim deutlich, der beschreibt (Mannheim 1980: 287 f), dass eine Puppe für einen Erwachsenen nie eine ähnliche oder dieselbe Bedeutung haben kann wie für ein Kind, da dieses im Spiel eine „Kontagion mit dem Dinge“ (ebd.: 288) eingegangen sei, die in eine Konjunktion münde, die nur anderen Kindern in „erweiterter konjunktiver Gemeinschaft“ mitteilbar sei (ebd.); durch die Aufforderung des Erwachsenen an das Kind, ihm das Spielzeug zu geben, finde der Übergang in die kommunikative Sphäre statt, in der nicht nur die Puppe, anders benannt und bedeutet, sondern auch das Kind den konjunktiven Erfahrungsraum verlasse; Bohnsack (2017a: 71) dient das Beispiel der Puppe zur Kritik des Begriffs der Kontagion, der nur an dieser Stelle von Mannheim benutzt werde und einen „fiktiven Erfahrungsraum“ vorstelle; allerdings übersieht Bohnsack die Tatsache, dass Mannheim den Begriff der Kontagion bereits am Beispiel eines Steins entwickelte; zum Begriff der Kontagion siehe Abschnitt 4.1.1.
180
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
nicht den perspektivisch beschränkten Hinweisen der im Feld anwesenden Erwachsenen vertrauen (ebd.: 105); in dieser Untersuchung wird für die Gruppenbildung – auch aufgrund der schulbezogenen Standortgebundenheit des Forschers – auf die positive Peerwahl in Analogie zu soziometrischen Verfahren (vgl. Dollase 2013; Schlechtriemen 2013; Stadler 2013) zurückgegriffen, die schriftlich erfolgt, um Bloßstellungen bei einer In-VivoGruppenbildung zu vermeiden. • Der räumliche und institutionsbezogene Kontext von Gruppendiskussionen mit Kindern wirkt auf diese zurück, daher ist er in Abhängigkeit zum Forschungsgegenstand zu wählen (ebd.: 103); in dieser Untersuchung werden die Kinder als SchülerInnen in der Institution Schule aufgesucht und angesprochen, zur Zusammensetzung der Gruppendiskussionen befragt und eine Woche später parallel zum Unterricht in den gewählten Gruppen in die von der einzelnen Schule zur Verfügung gestellten Räume zu einem gemeinsamen Gespräch eingeladen. • Die „doppelte Fremdheit“ (ebd.: 106) zwischen Kindern und ForscherIn, d.i. die gegenseitige Unvertrautheit mit den generationsspezifischen Handlungsund Darstellungsformen, begründet eine möglichst unspezifische Eröffnung und Rahmung des Gesprächs, die alle Darstellungsformen berücksichtigt, die ferner die thematischen Relevanzsetzungen der Kinder, nicht die der Erwachsenen, in den Vordergrund treten lässt (ebd.: 108); in dieser Untersuchung wird, da es sich um Grundschulkinder aus dritten Klassen handelt, ein allgemeiner, sprachlicher Impuls gesetzt, dem immanenten sowie ausgewählte exmanente Nachfragen folgen; die Kinder werden dabei als „Sachkundige“ (ebd.: 106) angesprochen und in ihrer Themenwahl nicht korrigiert, ihnen wird auch das Arrangement der mehr oder weniger möblierten Sitzordnung überlassen. Mit der Entscheidung für die videogestützte Gruppendiskussion wird ein Moment der bereits angesprochenen Operationalisierungsnormativität in Frage gestellt, nämlich die „Fokussierung rekonstruktiver Forschung auf die Textgestalt“ (Demmer/Heinrich 2018: 188), die hier offensichtlich nicht ausreichend ist, wenn die Ergebnisse der Kindheitsforschung, isb. der dokumentarisch inspirierten, ernst genommen werden. Daher wird hier eine Konzeptionierung als videogestützte Gruppendiskussion vorgenommen, die dem Forschungsgegenstand im Sinne eines reduzierten und flexiblen Methodenbegriffs (Strübing/Hirschauer/ Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018; s. o. S. 93) gerecht wird, ohne die begrenzten
5.2 Datensicherung: Videobasierte Texttranskription
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Möglichkeiten dieser Studie zu überfordern6, denn auf eine durchgehende videografische Analyse der geplanten Gruppendiskussionen muss aufgrund fehlender Ressourcen verzichtet werden. Die Studie beschränkt sich auf einen fokussierten Einsatz für besondere Szenerien und Situationen in den Gruppendiskussionen; unverzichtbar ist demgegenüber eine videobasierte Transkription.
5.2 Datensicherung: Videobasierte Texttranskription Transkription gilt als eine der „Schlüsselstellen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 162) empirischer Forschung, da sie die Beobachtungen der ForscherInnen in die Form nachvollziehbarer und überprüfbarer Daten bringt, sie „überführt die Dokumente der sozialen Welt in abdruckbare Text- und Bildsequenzen“ (ebd.: 163). Diese Studie folgt dem Konsens rekonstruktiver Forschung und überträgt die gesprochene Sprache der Kinder nach den Konventionen des Systems „Talk in Qualitative Social Research“ (TiQ) in eine textliche Sprache. TiQ wurde im Kontext der Entwicklung der Gruppendiskussion und der dokumentarischen Methode konzipiert und und gilt als ökonomisch und bewährt, auch wenn es in seiner Komplexität begrenzt ist (ebd.: 167 ff). Die textliche Transkription findet auf der Basis einer Videoaufzeichnung der Gruppendiskussion statt7. Die Videoaufnahme erlaubt gegenüber der Audioaufnahme eine eindeutigere Identifizierung der jeweiligen SprecherInnen und deren Abfolge, eine gerade in verdichteten, selbstläufigen Passagen mit Fokussierungsmetaphern und -akten unentbehrliche Hilfe. Die Videoaufnahmen von Gruppendiskussion machen es darüber hinaus möglich, simultane Aktionismen der Kinder nachzuvollziehen und zu transkribieren bzw. in das Texttranskript einzubeziehen, isb. im Kontext der bereits angesprochenen Fokussierungsakte (s. o. S. 139). Im Folgenden wird die videobasierte Texttranskription näher vorgestellt. Dabei wird auch die fortgesetzte Kommunikation zwischen ForscherIn und Videomaterial während der Interpretation thematisch (vgl. Krummheuer 2012: 236; Dinkelaker 2018: 141 ff).
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Studie entstand im Zeitraum von 2013 bis 2019 als Dissertation an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld im Zuge einer Beschäftigung zunächst als Lehrer im Hochschuldienst, später als Lecturer. Sie entstand als freie Dissertation ohne Projektzusammenhang. 7Weitere Informationen zur Gestaltung und Durchführung der Gruppendiskussionen finden sich im Abschnitt 6.1 und in den Darstellungen der einzelnen Gruppendiskussionen, die diesem Abschnitt folgen.
182
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Der Zugang der videobasierten Texttranskription basiert auf dem methodisch kontrollierten Umgang mit Bildern und Videos, die in der Lage sind, „einen anderen Sinn zu transportieren als sprachliche Quellen“ (Hoffmann 2016: 160). Sie halten konkrete Lebenssituationen fest und bieten damit eine differenzierteren Blick auf die Wirklichkeit, wenn es gelingt, sie gegenstandsangemessen zu analysieren (ebd.), sie bringen aber auch eine „tiefgreifende formale Veränderung des Datengewinnungs- und des Analyseprozesses“ (Dinkelaker 2018: 141) mit sich. Sie sind zum Zweck der sozialwissenschaftlichen Forschung produziert worden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 171). Gerade im Kontext der Peerforschung können foto- oder videografische Daten eine große Rolle spielen, auch wenn sie bisher kaum dafür genutzt wurden (Hoffmann 2016: 160). Dabei wird die Bedeutung von Fotos als aktuelles Basismedium der sozialen Kommunikation in internetbasierten Kontexten nicht weiter berücksichtigt (vgl. ebd.). Videotranskriptionen werden in der Ethnografie und Interaktionsanalyse (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2013; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: Moritz 2018) schon seit Längerem vorgenommen. Christine Moritz (ebd.: 12 f) fasst elf unterschiedliche, nicht streng abgegrenzte Funktionen einer Videotranskription zusammen, die in der Forschungsarbeit sinnvoll sein können: • heuristische Funktion (Identifikation relevanter Bedeutungsinhalte), • explorative Funktion (Entdecken von Inhalten), • Systematisierungsfunktion (Systematisierung der Wahrnehmung), • Annotationsfunktion (Hinzufügung erläuternder Elemente), • Dokumentationsfunktion (Nachvollziehbarkeit der Auswertungsschritte), • Validierungsfunktion: (Selbst-/Überprüfung der Wahrnehmung), • Präsentationsfunktion (Erläuterung eines Forschungsergebnisses), • Publikationsfunktion: (zusätzliches Publikationsdokument), • Visualisierungsfunktion (Aufzeigen von Eigenschaften eines Videos), • Belegfunktion (empirischer Beleg, auch für schwierig zugängliche Ereignisse), • Korpus- bzw. Archivfunktion (Korpuserstellung und Archivierung). Daher lässt sich, so Moritz, im Unterschied zu textbasierten Transkriptionspraktiken „kein einheitlicher Standard formulieren“ (ebd.), Videotranskriptionen erforderten unter Bezugnahme auf die Gütekriterien (bei Moritz: des interpretativen Paradigmas) eine Anpassungsleistung der Forschenden an die jeweilige Forschungsanlage. Die Entwicklung der jeweiligen Transkriptionsweise sei daher ein wesentlicher und nicht zu unterschätzender Teil der Forschungsarbeit.
5.2 Datensicherung: Videobasierte Texttranskription
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Das Besondere der technischen Produktion reproduzierbarer Bilder für Forschung liegt in der „reversible[n] Selektivität“ im Umgang mit dem Videomaterial, aus dem Daten erstellt werden: „Damit dem Video Beobachtungen abgerungen werden können, muss vom Beobachter bzw. von der Beobachterin etwas als ein relevantes Datum herausgegriffen werden, was notwendig mit der Vernachlässigung von Anderem verbunden ist“ (Dinkelaker 2018: 145), dabei ist diese Entscheidung immer wieder reversibel und scheinbar beliebig oft wiederholbar. Im Unterschied zur Beobachtung reduzieren Videoaufnahmen abgebildete Realität, da sie keine Beteiligung und keine weiteren Sinneseindrücke wie z. B. Gerüche erlauben, stattdessen Sinneseindrücke verzerren und Zweidimensionalität und selektive Ausschnitthaftigkeit produzieren, gleichzeitig aber das Beobachtbare extensivieren, da die Irritationen durch die Ereignisse selbst ausbleiben, der Detailreichtum uneingeschränkt und durch Wiederholbarkeit immer wieder aufrufbar ist (Wagner-Willi 2013: 149; Hoffmann 2016: 161; Dinkelaker 2018: 142 f). Schließlich ist das Verhältnis von Feldmaterial und Daten ein anderes als bei einem reinen Audiotranskript, in dem alle hörbaren sprachlichen Äußerungen notiert werden, oder einem Beobachtungsprotokoll, in dem die Selektivität der Beobachterinnen zentral steht. Datenerhebung und -interpretation rücken so nah zueinander, dass „Fokussierungen“ gewählt und begründet werden müssen und „eine Auseinandersetzung mit der Konstruktivität der jeweils produzierten Daten und ihrer Darstellung notwendig [ist]“ (Fritzsche/ Wagner-Willi 2013: 270) Die videobasierte Texttranskription hat in dieser Studie die Funktion, die Datenherstellung in der textlichen Transkription zu optimieren. Insofern haben wir es dabei in erster Linie mit einer Korpusfunktion zu tun, die die heuristische Funktion der Texttranskription unterstützt. Wie die traditionelle Audioaufnahme kann eine Videoaufnahme jederzeit angehalten, verlangsamt reproduziert und beliebig oft wiederholt werden, erlaubt aber im Unterschied zu jener meist eine visuell abgesicherte Identifikation der jeweiligen SprecherInnen, es sei denn, diese sind durch die Wahl der Kameraperspektive in der Videoaufnahme nicht eindeutig zu beobachten. Überdies liegt es nahe, dass die Videoaufnahmen die Rezeption der gesprochenen Texte in der Transkriptionsphase beeinflussen; so ist es ohne Weiteres vorstellbar, dass durch die subjektive Interpretation einer in einer Videoaufnahme beobachteten Szene durch den Transkribenten textlich uneindeutige Äußerungen der Kinder vorschnell vereindeutigt werden. Dies kann im Rahmen dieser Studie nur durch sorgfältige Transkription und ein ‚Gegenlesen‘ der Transkripte mit Hilfe der Videoaufnahmen durch andere kontrolliert werden.
184
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Allerdings ist es aufgrund der spezifischen Zielgruppe dieser Studie sinnvoll, dort, wo die sprachliche Kommunikation einer Gruppendiskussion nicht eindeutig scheint, abbricht oder unverständlich wird, zusätzlich eine nicht-deutende Beschreibung einzelner in den Videoaufnahmen beobachtbaren Aktionismen der Kinder in das Texttranskript aufzunehmen, ferner dort, wo sie Äußerungen sinnvoll ergänzen. Dabei besteht die Schwierigkeit, die kindlichen Handlungen sprachlich darzustellen, da sie – anders als die sprachlichen Äußerungen der Kinder – nicht ‚einfach‘ transkribiert werden können – an sich schon ein komplexer und wirklichkeitsreduzierender Vorgang –, sondern letztendlich auf einer Interpretation des Gesehenen basieren. Fritzsche und Wagner-Willi (2013) diskutieren dieses Problem im Vergleich zu ethnografischen Beobachtungsprotokollen und betonen, dass „[…] die videografierten Interaktionen und Praktiken durch die unterschiedlichen Funktionen der Wiedergabe der Videoaufzeichnung (Wiederholung, unterschiedlicher Geschwindigkeitsgrad, Fotogrammreihungen usw.) feinanalytisch gerade auch in ihrem Zusammenspiel von Körper, Sprache, Gestik, Mimik, Bewegung im Raum etc. beobachtet und auf dem Wege einer vor-ikonografischen Beschreibung formulierend interpretiert werden [können]“ (ebd.: 276 f).
Damit wird der Schwerpunkt der „Datenerstellung“ videografierter Körpersprache in den Auswertungschritt der formulierenden und reflektierenden Interpretation verlegt (s. den folgenden Abschnitt); im Transkript werden lediglich Hinweise platziert und formuliert, die auf performative Aspekte im kindlichen Handeln verweisen. Deren Formulierungen berücksichtigen sowohl die Standortgebundenheit des Forschers als auch die „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Mannheim nach Bohnsack 2017a: 77) und nehmen keine Motivunterstellungen im Sinne von Um-zu-Motiven vor (s. o. S. 97), sondern beschränken sich auf beschreibende sprachliche Ausdrücke.
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode Die folgende Darstellung der dokumentarischen Methode als Methode der Datenauswertung schließt unmittelbar an die Entfaltung der methodologischen Grundlagen der Praxeologischen Wissenssoziologie und die Herausarbeitung der Spezifika des Forschungsgegenstands an (s. o. Abschnitt 4.1 und 4.2). Ihre Wahl dient der Interpretation von Daten als einem wissenschaftlichen Verstehen durch sprachlich formulierte und begrifflich explizierte Erkenntnisse (s. o. S. 97)
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
185
und wird hier nicht weiter begründet, dies ist zu Beginn des vierten Kapitels geschehen (s. o. S. 93). „Im Gespräch werden konjunktive Erfahrungsräume aktualisiert“, formuliert Bohnsack (2014a: 123), die konjunktiven Erfahrungsräume, die die beforschten Grundschulkinder teilen, müssen daher in den geplanten Gruppendiskussionen sichtbar werden. „Derartige kollektive oder ‚konjunktive‘ Erfahrungen werden im Gespräch unter denjenigen aktualisiert, denen aufgrund biographischer oder sozialisationsgeschichtlicher Bedingungen spezifische Erfahrungen gemeinsam sind“ (ebd.: 124).
Damit wird gleichzeitig die Validität und Offenheit dokumentarischer Interpretationen sichergestellt, denn die Akteure im Forschungsfeld stellen „mit der Art und Weise, wie sie im Diskurs soziale Bezüge zueinander herstellen, also auf der Grundlage ihrer eigenen kommunikativen Regeln“ (Bohnsack/ Przyborski 2010: 246) selbst die Einsicht in ihre Kollektivität zur Verfügung, wenn ForscherInnen bereit und in der Lage sind, die zugrunde liegende Kommunikation in ihren einzelnen Schritten zu rekonstruieren. Die transkribierten Texte der Erforschten stellen ‚Protokolle‘ dar, in die die Interpretationen des Forschers nur insoweit eingelassen sind, wie für die notwendige Selektivität erforderlich (Bohnsack 2014a: 132). Zudem ist prinzipiell jederzeit eine Kontrolle auf der Basis der Audio- und Videoaufnahme möglich. Entscheidender ist aber, dass diese Trennung von ‚Daten‘ und Interpretation und damit die intersubjektive Überprüfbarkeit der Interpretationsleistung des Beobachters gewährleistet ist. Die Interpretation realisiert sich durch eine doppelte Haltung, die des erlebnisbezogenen, verstehenden Nachvollziehens einerseits, des beobachtenden, begrifflich-theoretischen Explizierens andererseits, das mit der „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Bohnsack 2014a: 133) einhergeht. Die Reproduzierbarkeit der untersuchten Kommunikation mit Hilfe der Transkripte erlaubt die Realisierung dieser Haltungen in mehreren und getrennten Schritten. Die sinnbezogene Interpretation der Daten differenziert eine Interpretation des kommunikativen, immanenten Sinngehaltes und eines soziogenetischen, dokumentarischen Sinngehalts, die sich aus der Differenzierung von kommunikativem und konjunktivem Wissen zwangsläufig ergibt und zunächst die Ebene des Beobachtens erster Ordnung meint, dann die des Beobachtens zweiter Ordnung (ebd.:136). Damit ist der Kern rekonstruktiver Forschung berührt: „Erst die Kenntnis und die empirische Rekonstruktion der im Common Sense, in der Praxis alltäglicher Verständigung, implizierten kommunikativen Regeln (im
186
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Sinne einer formalen Pragmatik) eröffnet den Forschenden einen methodisch kontrollierten Zugang zu ihrem Gegenstandsbereich“ (Bohnsack/Przyborski 2010: 246).
Diese „alltäglichen Standards der Verständigung und Interaktion“ (Przyborski/ Wohl-rab-Sahr 2014: 25) gilt es zu rekonstruieren (s. o. S. 92), und zwar durch die Suche nach Homologien, „Sinnmustern“ (ebd.: 300), dazu dient das im Folgenden dargestellte Interpretationsverfahren. Die dokumentarische Methode wird in ihren einzelnen Schritten der Passagenauswahl, der formulierenden und der reflektierenden Interpretation, der komparativen Analyse und der sinngenetischen wie soziogenentischen Typenbildung dargestellt; allerdings wird die Auswertung nicht für unterschiedliche Erhebungsmethoden thematisiert, sondern nur für Gruppendiskussionen; zudem wird nicht jede in der einschlägigen Literatur diskutierte Problemstellung aufgegriffen, sondern nur ihre grundlegende Regelhaftigkeit, die in der Auswertung des einzelnen Falls ihre Leistungsfähigkeit immer wieder unter Beweis stellen muss. Zudem existieren von Seiten erfahrener WissenschaftlerInnen genügend einschlägige Darstellungen (z. B. Vogd 2010; Asbrand 2011; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014). Schwerpunktmäßig wird hier aber auf spezifische Erfahrungen und Fragestellungen im Kontext der Schulpädagogik und Kindheitsforschung eingegangen, das versteht sich aufgrund des Forschungsgegenstands von selbst. Zum Schluss des Kapitels werden Spezifika der videogestützten Bildinterpretation referiert.
5.3.1 Passagen-Interpretation Der erste Schritt einer Auswertung von transkribierten Daten einer Gruppendiskussion dient der Herstellung einer inhaltlichen Übersicht und einer Auswahl der Passagen als „kleinste Einheit für einzelne Interpretationen“ (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 292), ein Schritt, der von Bohnsack als Teil der formulierenden Interpretation dargestellt wird (vgl. Bohnsack 2014a: 137), von Przyborski und Wohlrab-Sahr aber verselbständigt worden ist, um eine Vereindeutigung im ersten Umgang mit dem Material zu erreichen – eine Differenzierung, die sicherlich aus der Forschungspraxis einer Generation von WissenschaftlerInnen gewonnen wurde, für die die dokumentarische Methode nicht mehr in statu nascendi ist (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 293). Die Passagenauswahl (vgl. auch Bohnsack 2013a: 250) richtet sich
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
187
• nach thematischen Bezügen zur Forschungsfrage bzw. den Forschungsfragen, ferner nach der Vergleichbarkeit mit den Passagen anderer Gruppendiskussionen; • nach ihrer Strukturierung als Fokussierungsmetapher (s. o.), bzw. in der Kindheitsforschung als Fokussierungsakt (s. o.), durch hohe interaktive und metaphorische Dichte, häufige Sprecherwechsel usw. Sollten Fokussierungsmetaphern und thematisch bezogene Äußerungen nicht in denselben Passagen zu finden sein und die beiden Auswahlkriterien so in Konflikt zueinander geraten, ist das performative Element prioritär, da es für den gesuchten Orientierungsrahmen einer Gruppe entscheidender ist: „Den dramaturgischen Höhepunkten kommt, wie gesagt, eine Schlüsselfunktion für die Analyse des Rahmens zu, da hier der Rahmen in seinen zentralen Komponenten besonders dicht zum Ausdruck gebracht wird. Wir tragen dem dadurch Rechnung, dass wir aus dem gesamten Diskursverlauf nicht nur und auch gar nicht in erster Linie die für uns thematisch relevante Passage zum Zwecke der Interpretation auswählen, sondern diejenige Passage, die unserem ersten – und anschließend zu überprüfenden – Eindruck nach hinsichtlich der interaktiven und metaphorischen Dichte den Höhepunkt bildet“ (Bohnsack 2014a: 140).
Fallen fokussierte und thematisch relevante Passagen zusammen, ist das ein Hinweis, dass das für das Kollektiv von zentraler existentieller Bedeutung ist, sodass man von einem „Erlebniszentrum“ (ebd.) sprechen kann. Ausgewählte Passagen werden transkribiert – die videobasierte Texttranskription wurde im vorhergehenden Abschnitt erläutert – und in zwei Schritten interpretiert. Der nächste und zweite Schritt ist die formulierende Interpretation, die den kommunikativ-generalisierten Sinngehalt (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 293) erfasst, und zwar als Aufstellung der Ober- und Unterthemen; die Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Was wird gesagt bzw. gezeigt?8 Dabei ist um so genauer zu formulieren, je unerfahrener InterpretInnen sind; man bleibt sehr nah an dem, was die Beforschten sagen, übernimmt ggf. auch prägnante Begriffe, „verwendet aber eine abstraktere, wissenschaftliche Sprache, um den Sachverhalt auszudrücken“ (Asbrand 2011: 7). Streng genommen, beginnt gleichzeitig bereits die komparative Analyse der dokumentarischen Methode, wenn die Aussagen auf
8Die
Rolle der formulierenden Interpretation bei der Bildinterpretation wird im Abschnitt 5.3.3 erläutert.
188
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
fallimmanente Vergleichshorizonte abgesucht werden (Nohl 2013a: 274), ein für das Sampling hilfreiches Verfahren, durch das die Bezüge und Abgrenzungen der Gruppe nach außen sichtbar werden. Bei Daten aus Gruppendiskussionen geht es um die Bestimmung des gemeinsamen Themas der Gruppe (ebd.: 294). Bohnsack betont, dass die Interpretation innerhalb des Rahmens der Gruppe bleibt, es sich aber trotzdem um eine Interpretation handele, „da ja hier etwas begrifflichtheoretisch expliziert wird, was im Text implizit bleibt“ (Bohnsack 2014a: 136). Im dritten Schritt wird die reflektierende Interpretation vorgenommen, sie zielt mit der Suche nach einem homologen Muster, das abduktiv9 erschlossen wird, auf den dokumentarischen Sinngehalt der Passage. Während die formulierende Interpretation Themen des Diskurses rekonstruiert, geht es in der reflektierenden Interpretation darum, wie diese behandelt werden, es geht also um „die Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird“ (Bohnsack 2014a: 137 – s. u. Abschnitt 5.3.4). Im Mittelpunkt steht dabei der „Orientierungsgehalt“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 296) der Gruppe, der sich in den jeweiligen Orientierungsrahmen im weiteren Sinne zeigt. Sie umfassen Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen (s. o. Abb. 4.2), erstere erfassen das kommunikative Wissen resp. Common-Sense-Theorien, Normen, Identitätsentwürfe, Regeln, zweitere das konjunktive, atheoretische, kollektive Wissen, Habitualisierungen, den modus operandi der Praxis (Bohnsack 2012: 122). Das Orientierungswissen zeigt sich in positiven und negativen Erwartungshorizonten der Gruppe sowie im Enaktierungspotenzial, also in den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten, die sie ihren Horizonten beimisst (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 296), wenn und solange die Gruppe sich auf identische bzw. strukturidentische Erfahrungsräume bezieht; auch Orientierungsdilemmata sind denkbar, wenn einem starken negativen Horizont kein positiver gegenübersteht (ebd.).
9„Eine
Abduktion erfordert eine Umdeutung und Neubewertung empirischer Phänomene, ein Vorgang, so Peirce, der ohne die Kreativität des Forschers oder der Forscherin, ohne einen spielerischen Umgang mit Daten und Theorien gar nicht denkbar ist […] Mit dem Konzept der Abduktion wird keine Methode beschrieben, sondern nur eine formale Darstellung davon gegeben, wie die Entwicklung neuer Erklärungen angesichts überraschender Fakten vor sich geht. Abduktive Schlussfolgerungen sind hochgradig riskant, d. h. die so gefundenen Erklärungen können völlig abseitig und falsch sein. Abduktionen sind immer vorläufige Vermutungen, die weiter geprüft werden müssen“ (Kelle/Kluge 2010: 25; vgl. Nentwig-Gesemann 2013: 304).
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
189
Aus der dokumentarischen Evaluationsforschung kommt der Vorschlag, unabhängig von positiven oder negativen Orientierungen zwischen Erwartungshorizonten und Gegenhorizonten zu unterscheiden, erstere als nahe und realisierbare, letztere als entfernte und idealisierende Orientierung, so dass kollektive Orientierungen in konjunktiven Erfahrungsräumen sich in positiven und negativen Erwartungshorizonten – anstelle des Enaktierungspotenzials – sowie Gegenhorizonten ausdrücken (Lamprecht 2012: 42; vgl. Hoffmann 2015: 329 ff). Dieser Vorschlag wird von Hoffmann als „hilfreiches Instrumentarium“ (ebd.) aufgegriffen, wenn sie Gruppendiskussionen und Gruppenfotos triangulierend interpretiert. Allerdings warnt sie ausdrücklich davor, in einer Art Umkehrschluss aus einem identifizierten positiven bzw. negativen Horizont oder Gegenhorizont den jeweils gegenteiligen abzuleiten bzw. zu konstruieren, da dies eher zu einer Motivunterstellung führt (ebd.: 332). Der analytische Weg zur Herausarbeitung von Orientierungen liegt in der Rekonstruktion des Diskursverlaufs, da sie darin prozesshaft entstanden sind (Bohnsack 2014a: 140). Er wird vor allem in seiner Diskursorganisation rekonstruiert, da „jede Äußerung in Bezug zu einer zurückliegenden Äußerung [steht]“ (Bohnsack/Przyborski 2010: 234); dabei sieht die dokumentarische Methode in Abgrenzung zu Bourdieu und unter Berufung auf Mead und Goffman Interakte als Grundeinheit (ebd.: 233; Bohnsack 2017a: 94): „Im Unterschied zur Sprechakttheorie, für die (wie der Name bereits sagt) der einzelne Akt im Zentrum steht, stellt im Bereich der Praxeologischen Wissenssoziologie der Inter-Akt die nicht mehr hintergehbare Grundeinheit der Analyse dar“ (ebd.).
Diese Interakte werden als „Diskursbewegungen“ (Bohnsack 2017a: 95) bzw. bei Fokussierungsmetaphern als „Dramaturgie des Diskurses“ (Bohnsack/Przyborski 2010: 234) bezeichnet, sie wurden in Analysen von Gruppendiskussionen herausgearbeitet und differenzieren sich in drei grundlegende Schritte (vgl. Przyborski 2004: 61 ff; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 298 ff)10:
10Eine
Schwäche des Modells der Interakte besteht sicherlich in der ungeklärten gemeinsamen Qualität des zweiten Schritts, der im Wortsinn durchaus als Elaboration aufgefasst werden könnte, unabhängig von der weiteren Orientierung auf inkludierende oder exkludierende Modi des Diskurses, denn auch eine Ratifizierung oder eine oppositonelle bzw. divergente Äußerung ist im Sinne des Diskurses eine (nichtwertend verstandene) Elaborierung des Sinngehalts.
190
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
• Proposition:Der Begriff wird in unterschiedlichen theoretischen Kontexten unterschiedlich verstanden, impliziert aber immer den Sinngehalt einer Äußerung; im Kontext der dokumentarischen Diskursanalyse meint er das „Aufwerfen eines Orientierungsgehalts“ (ebd.), also den Vorschlag bzw. das Angebot eines Inhalts und damit verbundener Bedeutungen für die Gruppe. Ein Proposition kann auch in Form einer Transposition erscheinen (s. u. Konklusion). • Elaboration, Differenzierung, Validierung, Ratifizierung, Opposition, Divergenz: Alle diese sprachlichen Äußerungsformen sind Reaktionen von anderen Gruppenmitgliedern auf die Proposition und die damit verbundene Orientierung, die diese bestätigt, ausbaut, einschränkt, teilweise bestreitet oder ganz ablehnt. – Elaboration meint „jegliche Art der Aus- und Weiterbearbeitung einer Orientierung“ (ebd.), sowohl argumentativ als auch beispielhaft, erzählend (Exemplifizierung). – Differenzierung meint ebenfalls die „Weiterbearbeitung eines Orientierungsgehaltes“ (ebd.), allerdings vor allem in Bezug auf die Grenzen der positiven Orientierung. – Validierung ist die Bestätigung einer proponierten Orientierung und impliziert die Zustimmung zu ihr. – Ratifizierung ist die Bestätigung des Nachvollzugs einer Proposition ohne Zustimmung. – Antithese liegt vor, „wenn auf eine Proposition verneinend Bezug genommen wird bzw. ein gegenläufiger Horizont aufgespannt wird“ (ebd.). – Opposition liegt vor, wenn „ein erster Entwurf einer Orientierung, die mit der vorangegangenen unvereinbar ist“ (ebd.: 300) sichtbar wird. – Divergenz liegt vor, wenn eine unvereinbare Orientierung als Zustimmung oder Differenzierung verdeckt wird, indem Elemente der Proposition aufgegriffen werden, aber in einem anderen Orientierungsrahmen. • Konklusion: Jede Diskursbewegung kommt früher oder später zu einem Ergebnis, das als „echte“ oder „rituelle“ Schlussfolgerung und Übereinstimmung auftritt (ebd.). Echte Konklusionen sind fast immer Synthesen aus den Reaktionen auf die Proposition, sie können auch im Modus einer Generalisierung, einer Validierung oder einer weiteren Proposition erfolgen (Przyborski 2004: 74 f), sind im letzeren Fall aber meist Transpositionen, also Konklusionen mit propositionalem Neuigkeitsgehalt. Rituelle Konklusionen zeigen sich vor allem nach oppositionellen oder divergenten Reaktionen als Metarahmung bzw. Metakommunikation, thematische Verschiebung oder Ausklammerung, rituelle Synthese oder performatorische Aktion (ebd.: 75 f).
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
191
In den Diskursbewegungen wird der modus operandi des gemeinsamen Handlungswissens sichtbar, sofern dieselbe sinnhafte ‚Bewegung‘ in unterschiedlichen Situationen der Gruppendiskussionen immer wieder – homolog – auftaucht: „Die Suche nach Homologien ist schließlich als übergreifende Interpretationstechnik zu nennen, in deren Dienst alle anderen stehen. Dabei wird gefragt, welche Sinnmuster, welche Sinnstruktur über die Themen eines Diskurses hinweg immer wieder artikuliert werden […] wie sich das homologe Sinnmuster in unterschiedlichen Diskursbewegungen zeigt […]“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 300 f).
Die Diskursbewegungen zeigen sich in der Sozialität der Gruppe als Diskursorganisation, diese „schlüsselt die formale Struktur des Diskurses als Verhältnis zwischen Orientierungsgehalten auf“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 298). Ihr Nachvollzug gibt Aufschluss über gemeinsame Orientierungsrahmen. Aglaja Przyborski hat Diskursorganisationen nach unterschiedlichen Modi mit inkludierenden bzw. kongruentem oder exkludierenden bzw. inkongruentem Charakter differenziert (die Benennungen folgen Przyborski 2004 und Bohnsack/ Przyborski 2010): • Parallele Diskursorganisation: TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion reihen ihre Geschichten aneinander, ihre Diskursbewegungen haben alle dieselbe Orientierung und münden in einer echten Konklusion. • Antithetische Diskursorganisation: TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion konkurrieren und widersprechen sich gegenseitig, ihre Diskursbewegungen ergeben aber eine gemeinsame Orientierung in konkludierender Synthese. • Univoke Diskursorganisation: TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion formulieren gemeinsam in ihren Diskursbewegungen wie ‚mit einer Stimme‘ eine gemeinsame Orientierung und echte Konklusion. • Oppositionelle Diskursorganisation: TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion widersprechen sich, ihre Diskursbewegungen sind oppositionell, die gefundene gemeinsame Orientierung ist eine rituelle Konklusion. • Divergente Diskursorganisation: TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion äußern sich unterschiedlich zu einer Orientierung, ihre Diskursbewegungen münden in eine rituelle Konklusion. Fremdrahmungen als konstitutive Voraussetzung für Organisationen (s. o. Abschnitt 4.2.1) und für die Orientierungsrahmen von Gruppen in diesen Organi sationen machen die Identifikation von Rahmenkongruenzen und –inkongruenzen schwierig, da sie eine „Zwangsinkludierung“ (Bohnsack 2017a: 123) d arstellen.
192
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Deshalb kritisiert Bohnsack die Differenzierung nach inkludierendem und exklu dierendem Modus, die Przyborski (2004) vornimmt, und übernimmt sie nicht, weil die Fremdrahmung in jener Logik zu den exkludierenden Modi zählen müsste: „Dieser Modus zeichnet sich aber gerade durch eine Vereinnahmung (sozusagen eine ‚Zwangsinkludierung‘) der Äußerungen und – im Falle von Fotos – der Gestaltungsleistungen und Gesten der Betroffenen aus“ (ebd.: Kap. 7 Fn. 2). Verdeckte Fremdrahmungen, die von den Gruppen nicht metakommunikativ bearbeitet werden und in denen Konstruktionen von Moralisierung, Degradierung oder Gradierung auftreten, sind Bedingungen für Machtausübung (ebd.). Der Diskursmodus einer Gruppendiskussion kann im Prozess wechseln, da die unterschiedlichen Passagen in verschiedenen Erfahrungsräumen angesiedelt sein können, sodass dieselbe Diskussion je nach Erfahrungsraum in einem jeweils anderen Modus stattfindet (vgl. Bohnsack/Przyborski 2010: 247). Die unterschiedlichen Erfahrungsräume – grundlegend: milieu-, generations-, geschlechtsund entwicklungsspezifisch – liegen im Diskurs mehr oder weniger übereinander, sodass die ihnen zuzuordnenden Orientierungen miteinander verschachtelt sind; eine von ihnen steht jedoch meist im Fokus des gemeinsamen Erlebens der Gruppe und bildet „den übergreifenden (Orientierungs-) Rahmen“ (Bohnsack 2014a: 138). „Jene Orientierungsfigur bzw. die sie konstituierenden Gegenhorizonte, die im Fokus des Diskurses stehen und somit den Rahmen konstituieren, kommen am prägnantesten in jenen Passagen zum Ausdruck, die sich durch besondere interaktive und metaphorische Dichte auszeichnen, den sog. Fokussierungsmetaphern.“ (ebd.)
5.3.2 Proposition und Performanz Über die Rekonstruktion des Diskurses hinaus werden auch die Textsorten der Gesprächsbeiträge in einer Gruppendiskussion berücksichtigt (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 297). Die Textsortendifferenzierung, die Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung unterscheidet (Nohl 2017: 23), ist keine von außen in die reflektierende Interpretation eingebrachte ‚literarische‘ Kategorisierung, sondern eine aus der Analyse impliziten Wissens (Bohnsack 2017a: 142 ff) entwickelte Differenzierung zwischen Propositionen einerseits, performativen Elementen andererseits (s. o. S. 99): „Die grundlegende Struktur des Impliziten ist diejenige der Performanz, das heißt des performativen Wissens, dessen Struktur ich auch als Performativität bezeichne.“ (ebd.: 143)
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
193
Der Begriff der Performanz nimmt das Performative in John L. Austins Sprechakttheorie zum Ausgangspunkt, das als paradigmatischer Begriff in den 1950er Jahren spezifische Aspekte des Sprachhandelns genauer benennen sollte (Göhlich 2001: 25). Inzwischen steht nicht mehr das verbale Sprechen im Fokus, sondern „das insgesamte Sich-Bewegen, Sich-Verhalten, Agieren, Interagieren in einem spezifischen Kontext.“ (ebd.: 29). Daher definiert Göhlich, ausgehend von Austin, Performatives als • praktisches Vollziehen: An die Stelle von Austins Begriff des „etwas tun, indem man etwas sagt“ tritt die Vorstellung eines „etwas tun, indem man etwas tut“ (ebd.: 30); • körperliches Aufführen: Heute interessiert, jenseits des bei Austin bevorzugten verbalsprachlichen Fokus, das körpersprachliche Moment – die performative Äußerung, das körperliche Aufführen (ebd.: 32); • präzisierendes Selbstdeuten: Verhalten kann sich jenseits der Verbalsprache so weit verdichten und konventionalisieren, dass es ein damit verbundenes, gleichzeitig ablaufendes Verhalten gerahmt und gedeutet wird (ebd.: 34); • kommunikatives Wirken: Austins Sprechakttheorie thematisierte die Frage der Wirkung nicht, obwohl sich die Wirksamkeit performativer Äußerungen aufdrängt (ebd.: 35). Die kommunikative Wirkung und den Sinngehalt einer Äußerung interpretiert die dokumentarische Methode nicht allein aus ihrem propositionalen bzw. performatorischen Gehalt, sondern im jeweiligen Kontext und in der Relationierung der darauf bezogenen Äußerungen (Bohnsack 2007b: 205). Sie versteht Texte und Bilder mit Luhmann als jeweils „selbstreferentielles System“, das die Beziehung zwischen Einzelelement und vom Akteur hergestellten Kontext darstellt (Bohnsack/Michel/Przyborski 2015: 14). Performatorisches ist aus ihrer Sicht also keine Darstellungsweise, sondern eine Existenzweise und Teil habituellen Handelns. In struktureller Analogie zur Differenzierung von Proposition und Diskursorganisation unterscheidet sie zwischen Performanz und Performativität: „Wir differenzieren zwischen der Performanz, der im performatorischen Vollzug ihrer aktuellen Durchführung oder Herstellung aufgezeichneten verbalen und nonverbalen Äußerungen einerseits und der performativen Struktur, der Performativität, welche sich in einer derartigen Herstellung oder Darstellung für den Beobachter dokumentiert, andererseits. Die performative Struktur oder Performativität ist die in dokumentarischer Interpretation rekonstruierbare Prozessstruktur, der modus operandi oder Habitus […]“ (Bohnsack 2007b: 204).
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5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Die zweite Unterscheidung ist die von proponierter und performativer Performanz, die auf die kommunikative und die konjunktive Wissensdimensionbezogen wird (Bohnsack 2017a: 95, 143). Auf der kommunikativen Ebene, also der, worüber geredet bzw. was dargestellt wird, ist zu unterscheiden zwischen theoretisierenden Propositionen einerseits, performativen Propositionen bzw. „proponierter Performanz“ (Bohnsack 2017a: 92) andererseits; in den letzteren sind Performanzen und Praktiken Gegenstand der Darstellung, vor allem in den Erzählungen und Beschreibungen der Fokussierungsmetaphern (ebd.). Wird daher von den TeilnehmerInnen einer Gruppendiskussion die eigene Handlungspraxis in Erzählungen und Beschreibungen zur Sprache gebracht und Gegenstand der Elaborierung gemeinsamer Orientierungen, ist das ein valider Zugang zum handlungsleitenden Erfahrungswissen. Werden darüber hinaus in Argumentationen und Bewertungen theoretisierend-reflektierende Propositionen entwickelt, die sich auf die thematisierte Handlungspraxis beziehen, kann die Relation von proponierter Performanz und theoretisierender Proposition rekonstruiert werden, und damit das Spannungsverhältnis von Norm und Habitus (Bohnsack 2017a: 99; vgl. Rauschenberg/Hericks 2018: 115). Performanz und Performativität sind auch und insbesondere bei Kindern zu berücksichtigen, deren körperliche und szenische Aufführungen in ihrer Bedeutung für den Habitusbildungsprozess bereits angesprochen wurden (s. o. S. 123), da sie dabei auf Erfahrungswissen zurückgreifen und möglicher Weise etwas zeigen, dass ihnen sprachlich nicht zur Verfügung steht. NentwigGesemann (2010) verweist auf unterschiedliche Formen der „konjunktiven Bezugnahme“ (ebd.: 41) von Kindern, die in habitualisierter, aber auch in aktionistischer Weise in fokussierten Passagen einer Gruppendiskussion Platz greifen können, um Differenzerfahrungen zu bearbeiten. So „[…] kann etwa eine brüchig gewordene konjunktive Kindergemeinschaft über den Vollzug einer gemeinsamen Praxis wiederhergestellt werden, eine Rollendistanz zu institutionell vorgegebenen, normativen Verfahrensprogrammen kann dargestellt werden, und auch die Differenz zwischen den konjunktiven Erfahrungen der Kinder gegenüber denen ‚der Erwachsenen‘ oder zwischen Jungen und Mädchen bzw. auch zwischen Älteren und Jüngeren kann hier bearbeitet werden“ (Nentwig-Gesemann 2010: 41).
5.3.3 Ergänzende Bildinterpretation Um den Erkenntnissen zur Performanz von Kindergruppen für diese Studie gerecht zu werden, ohne die begrenzten Ressourcen zu überfordern, erhält die
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
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Bildinterpretation hier neben der Diskursanalyse eine ergänzende heuristische Funktion, denn „[…] dort, wo das Erkenntnisinteresse auf die Gesprächsanalyse gerichtet ist, ist es selbstverständlich legitim, der Bildanalyse einen lediglich ergänzenden Stellenwert zuzuweisen“ (Bohnsack 2011: 138; vgl. Bohnsack/Fritsche/Wagner-Willi 2015: 12). Dieses Vorgehen ist auch dadurch zu begründen, dass im hier konzipierten Prozess der Habitusbildung zwischen Aktionismen, mentalen Bildern habitualisierten Wissens und materialen Bildern inkorporierten Wissens unterschieden wird, ohne diese prozesshaft oder stufig anzuordnen; diese beinhalten ein je spezifisches Maß an Habituserwerb, und im letztgenannten Fall materialer Bilder führt der einzige Weg zur Erschließung über die Bild- oder Videointerpretation (Hoffmann 2015: 327). Hier wird eine Bildinterpretation vorgenommen, um eine Datentriangulation von Bild- und Textinterpretation zu ermöglichen – Triangulation meint die Betrachtung eines Forschungsgegenstands von mindestens zwei Punkten aus (Flick 2011b: 11; Hoffmann 2015: 325). Beide Zugänge erstellen unterschiedliche Daten, die Texte werden von den Schülerinnen und Schülern gesprochen und dann transkribiert, die Bilder dokumentieren den körpersprachlichen Ausdruck der Schülerinnen und Schüler, werden aber vom Forscher aufgenommen – beide Zugänge interpretieren die jeweiligen Daten in jeweils selbstständigen Schritten. Andererseits sind die dadurch konstituierten Gegenstände Aspekte derselben Erhebungssituation und in einem direkten Sinnbezug zueinander als propositionale und performative Momente derselben Äußerungen entstanden; ihre jeweilige Interpretation als Aspekte impliziten bzw. inkorporierten Wissens folgt derselben Methodologie bzw. Paradigmatik, sodass Homologien möglich sind (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 156; Bohnsack/Michel/Przyborski 2015: 19; Hoffmann 2015: 326). Insofern haben wir es hier mit einer Datentriangulation zu tun, anders als bei Hoffmann (2015), die erst eine Gruppendiskussion audiografiert und dann ein Bild der Gruppe fotografiert und daher von einer Methodentriangulation spricht. Im Folgenden wird ein kursorischer Überblick zum Nachvollzug der argumentativen Begründung gegeben, denn die ergänzende Bildinterpretation muss sich am aktuellen Diskussionsstand der Bildwissenschaft und Videografieforschung orientieren, wie sie Bohnsack, Michel und Przyborski (2015) in ihrem Sammelband vorstellen und wie sie Jörg Dinkelaker (2018) diskutiert, auf dessen „reversible Selektivität“ im Umgang mit dem Videomaterial hier bereits eingegangen wurde, ebenso wie auf die Reduktion und Extension des Datenmaterials in den Videoaufnahmen (s. o. Abschnitt 5.2). Es geht um den methodisch kontrollierten Umgang mit Bildern und Videos bzw. Filmen, die in der Lage sind, „einen anderen Sinn zu transportieren als sprachliche Quellen“ (Hoffmann 2016: 160) und daher als „eigensinnig“
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(Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 337, vgl. Bohnsack/Michel/Przyborski 2015) verstanden werden müssen. Sie halten konkrete Lebenssituationen fest und bieten damit einen differenzierteren Blick auf die Wirklichkeit, wenn es gelingt, sie gegenstandsangemessen zu analysieren (ebd.); dabei können sie sowohl als Kulturprodukte als auch zum Zweck der sozialwissenschaftlichen Forschung produziert worden sein (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 171). Gerade im Kontext der Peerforschung können foto- oder videografische Daten eine große Rolle spielen, auch wenn sie bisher kaum dafür genutzt wurden (Hoffmann 2016: 160). Auf die Bedeutung von Fotos als dem aktuellen Basismedium der sozialen Kommunikation in internetbasierten Kontexten wird hier nicht eingegangen (vgl. ebd.).
Abb. 5.1 Ebenen und Elemente der dokumentarischen Bildinterpretation (Bohnsack/ Michel/Przyborski 2015)
Bilder erfordern – wie Videos – eine „tiefgreifende formale Veränderung des Datengewinnungs- und des Analyseprozesses“ (Dinkelaker 2018: 141). Dabei ist die fortgesetzte Kommunikation zwischen ForscherIn und Bild- bzw. Videomaterial während der Interpretation nur ein Aspekt (ebd.; Krummheuer 2012: 236). Eine weitere analytische Differenzierung ist die der Kommunikation durch Bilder und über Bilder (Bohnsack/Michel/Przyborski 2015: 14 f), die erstgenannte
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liegt im Bereich des unmittelbaren, konjunktiv gebundenen Verstehens, die zweite im Bereich des konmunizierenden Interpretierens. Grundlegender noch ist – neben der sequentiellen Struktur des Textes – die Simultanstruktur des Bildes zu berücksichtigen, die das „grundlegende Ordnungsprinzip“ (Bohnsack/Michel/ Przyborski 2015: 17) darstellt. Diese versteht sich als Synchronizität und Totalität der Rezeption und nimmt dafür die formale Komposition in den Blick, d.i. die perspektivische Projektion, die szenische Choreografie und die planimetrische Ganzheitsstruktur (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 338). Dabei muss eine Unterscheidung zwischen abgebildeten und abbildenden BildproduzentInnen vorgenommen werden, ForscherInnen analysieren „… nicht nur den Bereich der Bewegungs- und Handlungsverläufe der abgebildeten Bildproduzent(inn)en, sondern auch und insbesondere die Montage und die Einstellungsveränderungen, also den Bereich der Leistungen der abbildenden Bildproduzent(inn)en, wie sie zur Konstitution dieser Ebene der Erzählung beitragen“ (Bohnsack 2011: 143).
Im Weiteren wird das Vorgehen der ergänzenden Bildinterpretation skizziert (s. Abb. 5.1): Die formulierende Interpretation eines Bildes muss zum einen eine vor-ikonografische Beschreibung inklusive der Verweise auf die Simultanstruktur vornehmen und dabei auch die räumlich-szenische Organisation und die dargestellten Gebärden und Interaktionen berücksichtigen (s. auch Bohnsack 2011: 142 ff); dabei stellt sie „Typisierungen, die einen hohen Grad an Kollektivierung aufweisen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 340), dar und arbeitet sich vom Bildvordergrund zum Bildhintergrund vor. Eine der damit verbundenen Schwierigkeiten besteht darin, dass es für Mimik und Gestik kaum eine Beschreibungssprache gibt (ebd.). Zum anderen ist eine ikonografische Beschreibung anzufertigen, die keine Motivunterstellung vornimmt, aber „kommunikativ-generalisierte“ (ebd.: 341), also institutionalisierte Bedeutungen wiedergibt, das ist „das narrative, anektdotische, thematische und allegorische Wissen“ (ebd.) – als Beispiele nennen Bohnsack/Michel/Przyborski (2015: 21) die Geste des Grüßens durch das Ziehen des Hutes, die Darstellung von familiären Rollen oder des Abendmahls. Die reflektierende Interpretation des dokumentarischen Sinngehalts eines Bildes nimmt zum einen eine ikonische Interpretation vor, in dem sie dessen formale Komposition beschreibt, d.i. die perspektivische Projektion, die szenische Choreografie und die planimetrische Ganzheitsstruktur; letztere erschließt durch Feldlinien die formale Konstruktion in der Fläche als entscheidenden Zugang zum Eigensinn des Bildes und sollte daher als Erstes vorgenommen werden (ebd.: 22; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 342); auch die Schärfe-Unschärfe-Relation
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ist zu berücksichtigen, die das Verhältnis von Objekt und Stimmung bestimmt (ebd.: 345). Zum anderen wird eine „ikonologisch-ikonische“ Interpretation vorgenommen, die den Dokumentsinn des Bildes und das implizite, habitualisierte Wissen rekonstruiert, indem sie die bis dahin gewonnenen Sehweisen zusammenführt und das intuitive Erkennen des Bildes expliziert (ebd.). Pose und Lifestyle können dabei als zusätzliche Begriffe dienen, wenn der Begriff des Habitus analytisch an Grenzen stößt (vgl. Bohnsack/Przyborski 2015). Die ergänzende Bildinterpretation, wie sie in dieser Studie geplant ist, bezieht sich nicht auf von den Kindern angefertigte Fotos, sondern beschränkt sich auf Bilder aus den Videoaufnahmen der Gruppendiskussionen, auf sogenannte „stills“, das sind technisch generierte Standbilder (Moritz 2018: 7), die entweder immer wieder auftauchende Gesten von Kindern in einer Gruppendiskussion zeigen oder Situationen darstellen, in denen der Diskurs der Gruppendiskussion uneindeutig ist oder zum Stillstand kommt. Dieses Vorgehen wird von WagnerWilli (2013) vorgeschlagen: „Weiterführend (und als Weiterentwicklung der hier vorgeschlagenen Verfahrensweise) wäre auch denkbar, einzelne Standbilder, die innerhalb szenischer Verläufe mit hoher interaktiver und metaphorischer Dichte selbst – nun bildbezogen – eine Art Fokussierungsmetapher darstellen, einer besonders detaillierten Analyse zu unterziehen“ (Wagner-Willi 2013: 154).
Der abbildende Bildproduzent ist der Forscher bzw. das von ihm angeleitete Videoteam, deren Konstruktionen müssen in ihrem Einfluss auf die Darstellung der abgebildeten Bildproduzentinnen analysiert werden. Die leitende Fragestellung lautet: Welche Aspekte hinsichtlich der Orientierung von Kindergruppen, die in der textbezogenen Interpretation der Gruppendiskussionen nicht sichtbar geworden sind, können mit Hilfe der Bildinterpretation von stills sichtbar werden? Die Triangulierung erfolgt also in einer nachgeordneten Interpretation des dokumentarischen Sinngehalts, die textbezogene ist dominant und wird durch die bildbezogene ergänzt bzw. überprüft, wenn die in den Transkripten gefundenen Orientierungen uneindeutig, fragwürdig, unvollständig oder unklar bleiben. Die stills werden in ihrer Auswahl begründet und in ihrer Sequenzialität wie Simultaneität nach den Vorgaben der dokumentarischen Bildinterpreation interpretiert.
5.3.4 Komparative Analyse und Typenbildung Text- und Bildinterpretationen müssen der vergleichenden Analyse unterzogen werden, um die Vorannahmen und das Kontextwissen der ForscherInnen zu
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
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relativieren und, soweit möglich, zu eliminieren indem deren standortgebundenen Vergleichshorizonte Schritt für Schritt durch empirische ersetzt werden (Asbrand 2011: 5). Zudem wird komparativ die Spezifität der jeweiligen Äußerung oder Geste in ihrer Beziehung zum Kontext sichtbar gemacht (Bohnsack 2014a; Bohnsack/Michel/Przyborski 2015: 13). Die komparative Analyse unterscheidet fallimmanente, fallinterne und fallübergreifende Vergleiche und führt schrittweise zu einer ‚dokumentarischen‘ Methode der Typenbildung (s. o. S. 104 ff), die sinngenetische und soziogenetische Typenbildung unterscheidet. Die sinngenetische Typenbildung als erste Ebene rekonstruiert Formen impliziten, kollektiven und handlungsleitenden Wissens und damit kollektive Orientierungsrahmen für einen bestimmten Gegenstandsbereich; die soziogenetische Typenbildung als zweite Ebene rekonstruiert die Genese der konjunktiven Wissensbestände, also die Entstehung der kollektiven Orientierungsrahmen als typisch für bestimmte konjunktive Erfahrungsräume (Amling/Hoffmann 2018: 88). „Ziel der Milieuanalyse ist schließlich die Identifizierung einer typisierten Relation zwischen kollektiven Orientierungsrahmen auf der einen und der zugrunde liegenden spezifischen Erlebnisschichtung auf der anderen Seite“ (ebd.).
Diese Relationierung in der soziogenetischen Typenbildung ist nicht gleichbedeutend mit der sogenannten „relationalen Typenbildung“ (vgl. Nohl 2013b), wie sie von Arnd-Michael Nohl favorisiert wird. Er argumentiert mit Bezug u. a. auf Ulrich Oevermann und Fritz Schütze (ebd.: 99 f), dass jeder Fall bzw. dessen Datenmaterial im Interview mehrere Ebenen des Sozialen repräsentiert, die in Mehrebenenanalysen miteinander typisierbar und relationierbar, d. h. auch voneinander unterscheidbar seien, wenn man sie kontrolliert zueinander konstelliert und vergleicht. Dem zugrunde liegt letztlich die Konstruktion eines „persönliche[n] Habitus“ (ebd.: 107, 117), den Nohl mit der von ihm gewählten Methode des Interviews beforschen und von der Ebene des Kollektiven unterscheiden will. Im Unterschied dazu behauptet die dokumentarische Methode im Verständnis Bohnsacks nicht, dass sie die Ebenen des Indviduellen wie des Kollektiven analysieren kann, sondern zielt auf Habitusbildung durch kollektive Orientierungen und deren mögliche Situierungen in unterschiedlichen Milieus, deren Anordnung in Organisationen wiederum nicht ohne Weiteres rekonstruierbar ist (s. o. Abschnitt 4.2.1). In diesem Sinne behauptet die hier gewählte Gegenstandskonzeption (s. o. Abschnitt 4.3) auch nicht, eine typisierende Relationierung bzw. relationierende Typisierung von peerbezogenen und schulischen Orientierungen vornehmen zu können, sondern konzentriert sich auf die Typisierung schulisch gerahmter Habitusbildung im Milieu der Peers.
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Die komparative Analyse verbindet alle methodischen Arbeitsschritte, die Generierung des Orientierungsrahmens, seine Abstraktion und Spezifizierung als Typus, aber auch die Differenzierung seiner Genese und sozialen Langerung (Bohnsack 2013a: 270). Sie geht in fünf Schritten vor sich, beginnend mit der Rekonstruktion des Orientierungsrahmen mit Hilfe fallübergreifender Vergleiche (ebd.: 251 ff); hier wird, anknüpfend an die bisherige Darstellung, die die reflektierende Interpretation bereits vorstellte, der nächste Schritt als erster dargestellt: Ausgehend vom rekonstruierten Orientierungsrahmen einer Gruppendiskussion erfolgt im ersten Schritt die Abstraktion des Orientierungsrahmens durch die fallübergreifende Suche nach einem homologen Muster in thematisch vergleichbaren Passagen aus Gruppendiskussionen anderer Gruppen, die in anderen Formulierungen analoge Orientierungen sichtbar machen (vgl. NentwigGesemann 2013: 312, Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 302 ff; Amling/Hoffmann 2018: 88 f); damit wird der erste Schritt der sinngenetischen Typenbildung getan und eine Basistypik herausgearbeitet, dessen Tertium Comperationis die Thematik ist (Bohnsack 2013a: 251). Tab. 5.1 Raster sinngenetischer Typenbildung. (Nach Amling/Hoffmann 2018: 94) Orienerungsrahmen als gemeinsames Orienerungsproblem
Typus 1
Typus 2
Typus 3
Vergleichsdimension 1 Vergleichsdimension 2 Vergleichsdimension 3 …..
Im zweiten Schritt geht es um die Spezifizierung der gewonnenen Typik durch fallinterne und fallübergreifende Vergleiche, die nicht mehr auf thematische Gemeinsamkeiten der Fälle gerichtet sind, sondern auf das „Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2013a: 253; vgl. Nentwig-Gesemann 2013: 313), also darauf, wie die Basistypik – das „allen Fällen gemeinsame Handlungsoder Orientierungsproblem“ (Amling/Hoffmann 2018: 89) – durch die jeweiligen Gruppen bearbeitet wird. Das Tertium Comperationis ist hier der gefundene gemeinsame Orientierungsrahmen, die Basistypik, gesucht wird jetzt nach den Spezifika der Fälle, die unterschiedliche Typen innerhalb der Basistypik begründen, da sich die Gemeinsamkeiten eines Orientierungsrahmens nie auf den
5.3 Datenauswertung: Dokumentarische Methode
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ganzen Fall, sondern immer nur auf einen spezifischen Erfahrungsraum beziehen (Nohl 2013a: 276). Mit den ersten beiden Schritten ist die sinngenetische Typenbildung abgeschlossen. Ihre Ergebnisse lassen sich mit Hilfe des folgenden Rasters darstellen (s. o. Tab. 5.1). Wenn eine Untersuchung hypothetisch eine Basistypik in der Gegenstandskonzeption voraussetzt, wie es hier mit der generational bezogenen Habitusbildung in organisationalen Zusammenhängen geschieht, muss die Rekonstruktion der empirisch gewonnenen Basistypik gegenüber dieser Ausgangstypik besonders geprüft und begründet werden, vor allem, wenn sie mit ihr identisch ist: „Im Unterschied zur sukzessiven Abstrahierung des Tertium Comparationis im Zuge der komparativen Analyse bedarf es besonderer methodischer Überprüfung und Reflexion, wenn der Vergleich bereits zu seinem Beginn durch solche vorab gewonnenen Kategorien und Theorien strukturiert wird, die als Tertium Comparationis fungieren. Dann verfügt das Tertium Comparationis nämlich über einen wesentlich höheren Abstraktionsgrad als die zu vergleichenden Verschiedenen (beispielsweise die Fälle). Hier besteht immer die Gefahr, dass das Tertium Comparationis weniger dazu dient, den Vergleich zweier Fälle zu strukturieren, denn dazu, diese Fälle zu nostrifizieren“ (Nohl 2013a: 286).
Über die sinngenetische Typenbildung hinaus geht es im dritten Schritt – dem ersten der soziogenetischen Typenbildung – um die Generalisierung des Typus; der zuvor abstrahierte und spezifizierte Typus wird innerhalb einer mehrdimensionalen Typologie verortet, indem seine Beziehung zu und Abgrenzung von anderen möglichen Typiken (z. B. Milieu-, Geschlechts- und Bildungstypik) herausgearbeitet wird; dafür bedarf es anderer Fälle aus anderen Kontexten, z. B. Peergruppen älterer Schülerinnen und Schüler, Gruppen an Privatschulen oder außerhalb von Schulen, um die unterschiedliche Genese der einzelnen Typiken rekonstruieren zu können. Erst auf dieser Stufe lässt sich von einer Typologie sprechen (Bohnsack 2013a: 262; Nentwig-Gesemann 2013: 316; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 304 f). Dabei ist zu beachten, dass jede Typologie ihren spezifischen Ausgangspunkt im jeweiligen Erfahrungsraum und der damit verbundenen Typik hat, der mit der Veränderung des Erkenntnisinteresses und Fragestellung wechselt, sodass die interpretierten Texte und Bilder im Kontext anderer Vergleichshorizonte und Vergleichsfälle erscheinen und die Typologie von einer anderen Seite her betrachtet wird (Bohnsack 2017a: 119). Im vierten Schritt – dem zweiten der soziogenetischen Typenbildung – können dann jene Bedingungen der Sozialisations- oder Bildungsgeschichte herausgearbeitet werden, in denen die interaktive Genese des Typus zu suchen ist
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(Bohnsack 2013: 249, 265). Das Interesse an der Fallstruktur tritt in den Hintergrund, die Analyse richtet sich jetzt ich auf die konjunktiven Erfahrungsräume, die in sie eingelagerten Erlebnisse und Interaktionsprozesse, aber auch ihre sozialräumlichen oder organisationsspezifische Strukturen, die mit Hilfe von erhobenen Sozialdaten und Hinweisen aus dem Material selbst rekonstruiert werden (Nentwig-Gesemann 2013: 317). Die Darstellung der mit der dokumentarischen Methode vorgenommenen Interpretationen, Vergleiche und Typenbildung gestaltet sich nicht selbstverstehend, da die einzelnen Schritte und die damit verbundenen, zahlreichen Querbezüge zwischen den einzelnen Fällen eine lineare Beschreibung unmöglich machen. Vogd (2012) empiehlt, man solle „von einer schematischen zu einer essayförmigen Darstellung wechseln“ (ebd.: 128); Bohnsack (2014a) fordert für Fall- bzw. Diskursbeschreibungen, den Inhalt, also die Orientierungen einer Gruppe, und die Form, also die Dramaturgie und Diskursorganisation, in einer „Gesamtcharakteristik des Falles“ (ebd.: 140) zusammen zu bringen, in der gezeigt wird, wie die Gruppe „[…] die Artikulation dessen, was denn nun ihr eigentliches Anliegen und Problem zu einem Thema ist, Schritt für Schritt erarbeitet, erst allmählich zum Fokus vordringt, sich dabei dramaturgisch steigert (hinsichtlich interaktiver und metaphorischer Dichte) und gerade in dieser prozesshaften Bearbeitung unterschiedliche Schichten des Rahmens sichtbar werden lässt“ (ebd.).
5.4 Fall und Sample In der Erziehungswissenschaft wird der Fall in Kasuistik, Fallrekonstruktion, Fallstudie, Fallgeschichte, Fallbeschreibung, im Fallvergleich, Fallbericht usw. thematisiert (Wernet 2006; Fatke 2013; Hummrich 2016); er gilt als relevanter Bezugspunkt empirischer Forschung und professionsbezogener Reflexion11. Bei einem Fall muss es sich keinesfalls um eine Person handeln, je nach Fragestellung kann es dabei auch um Organisationen, Gruppen, Beobachtungsorte, Dinge, Ereignisse oder Dokumente gehen (vgl. Kelle/Kluge 2010: 43). Der
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Anfang an spielte der thematische Kontext dieser Arbeit eine wichtige Rolle für die Entwicklung eines rekonstruktiven Fallbegriffs: „Beginnend mit dem gemeinsam mit Lothar Krappmann und Kurt Kreppner am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Mitte der 1960er Jahre begonnenen Projekt ‚Elternhaus und Schule‘, das auf die Formulierung einer ‚Theorie der Bildungsprozesse‘ ausgerichtet war (s.o. Einleitung),
5.4 Fall und Sample
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Fallbegriff meint eine konkrete Erscheinung zwischen der Bedeutungslosigkeit kontingenter Singularität und der Beispielhaftigkeit allgemeiner Regularität, der in der „Dialektik von Besonderem und Allgemeinem“ verortet ist (Wernet 2006: 58). Damit ist die Reziprozität zwischen Individuiertem, Einzelnem und Sozialem, Verallgemeinertem angesprochen. Das ist für Andreas Wernet (2006) die „Grundstruktur eines forschungslogischen Fallbegriffs“ (ebd.: 57). Merle Hummrich ergänzt 2016, jeder Fall stelle als besonderes, abweichendes, fremdes bzw. krisenhaftes Moment das Allgemeine, Regelhafte in Frage und müsse daher auch in der „Dialektik von Subsumtion und Rekonstruktion“ (Hummrich 2016: 29; vgl. Fatke 2013: 165) gesehen werden. Damit ist die Reziprozität unterschiedlicher Vorgehensweisen im Verhältnis von Einzelfall und Theorie(generierung) gemeint. Als drittes Moment verweist jeder Fall aufgrund seiner Behandlungsbedürftigkeit, ob durch professionsorientierte Fallarbeit oder theoriebezogene Fallrekonstruktion, immer auf die außerwissenschaftliche Realität (Wernet 2006: 112; Hummrich 2016: 14): „Der Fall ist … sowohl in der Praxis der Forschung als auch in der Entwicklung professionalisierter Handlungspraxis von Interesse. In beiden Perspektiven geht es um die Wahrnehmung, Dokumentation und Interpretation empirischer Wirklichkeit. Der Fall wird somit im Sinne der Fallrekonstruktion zum Gegenstand empirischer Bildungsforschung und professionalisierter Handlungspraxis“ (ebd.).
Die Betonung der Fallrekonstruktion resultiert aus der „zweiten realistischen Wende“ (Wernet 2006: 13,18; Hummrich/Kramer 2016: 65) der erziehungswissenschaftlichen Debatte, in der Andreas Wernet 2006 die „pädagogische Tradition“ der Kasuistik und die teilnehmende Beobachtung der PraktikerInnen als „fachkulturelle Tradition“ (ebd.: 111 f) kritisierte, weil deren Fallbeschreibungen und -berichte durch Interpretationen und Selektivität der VerfasserInnen geprägt waren. Demgegenüber sei die Fallrekonstruktion ein „ernstzunehmender Ansatz einer erziehungswissenschaftlichen kasuistischen
hat Oevermann in einer Reihe von Studien gezeigt, wie sich durch die systematische Interpretation von Familieninteraktionen, d. h. durch Fallanalysen […], nach und nach Theorien entwickeln lassen. In dieser Tradition – und das gilt auch für andere Richtungen innerhalb der qualitativen Sozial- und Bildungsforschung […] – ‚entstehen Theorien kumulativ aus Fallbeschreibungen, sie sind geronnene Fallbeschreibungen‘ bzw. noch genauer, ‚Theorien sind Formalisierungen der Strukturbeschreibungen von einzelnen Fällen‘ […]“ (Garz/ Blömer 2010: 580).
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5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Forschung“ (ebd.: 112), weil sie den Fall auf der Basis technisch vermittelter Protokolle erforscht; grundlegend wichtig sei dabei, zwischen dem Protokoll einer Handlungspraxis und seiner Interpretation, Analyse oder Rekonstruktion methodisch sauber zu trennen (ebd.: 108). Diese Differenzierung zwischen Protokoll und Rekonstruktion wird von der dokumentarischen Methode geteilt: Nur bei aufgezeichneten und transkribierten Texten der Erforschten liege jene Art von Protokollen vor, die nicht bereits von vornherein durch Sprache und Interpretation des Beobachters eingefärbt sei bzw. nur insoweit, als das mit der Transkription notwendig sei (Bohnsack 2014a: 131 f). Diese Differenzierung scheint nicht unumstritten zu sein, sie gilt Michael Meier als Vorgabe einer „sozialwissenschaftlichen Variante“ der Kasuistik, der eine geisteswissenschaftliche und eine ‚aktionsforschende‘ gegenüber stehen (Meier 2016: 130 f); sie stelle „… ein latentes Schisma innerhalb der pädagogischen Kasuistik dar; es verläuft irgendwo zwischen ethnographischen Positionen, die stark auf teilnehmende Beobachtung und die interpretative Autorität der vor Ort Gewesenen setzen, und stark objektivierenden Positionen, die nur eine Audiotranskription als verlässliches Datum sowie methodisch kontrollierte Interpretationsverfahren als solide anerkennen“ (Meier 2016: 129).
Meier schlägt vor, zwischen einer Fallbestimmung „ex ante“ und „in processu“ zu differenzieren (ebd.: 134 ff), um Neues entdecken zu können und nicht immer nur Fragen nach Bekanntem stellen zu müssen12. Seine Argumentation sowie sein Fallbeispiel zeigen aber, dass Fälle, denen technisch vermittelte Protokolle einer Handlungspraxis zugrunde liegen, nicht einseitig entlang der Ausgangsfrage analysiert bzw. rekonstruiert werden, weil die Daten selbst vielseitig sind und unterschiedliche Frage- und Erkenntnisrichtungen befördern können, vor allem mit Hilfe rekonstruktiver Methoden. Das heißt nicht, dass die Ergebnisse einer Fallrekonstruktion beliebig sind und alle Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung
12Meier
versucht, seine Differenzierung mit Hilfe des Falls „Wir haben eine Realschulempfehlung“ (ebd.: 140 ff) zu belegen, in dem eine Mutter von ihrer Auseinandersetzung mit einer Lehrerin um die Übergangsempfehlung der Tochter berichtet. Er nutzt dabei aber – anders als von ihm als „Schisma“ behauptet – eine Audiotranskription, kann daher sein Plädoyer für eine ethnologisch orientierte Fallarbeit nicht belegen, auch nicht durch eine – aus Sicht der dokumentarischen Methode geradezu unverständlichen – Abwertung der von ihm genutzten Daten als solche „minderer Güte“ aufgrund ihres narrativen Charakters (ebd. 150).
5.4 Fall und Sample
205
stellen, sehr wohl aber, dass Entscheidungen im Rahmen der Fallkonstitution Raum für unterschiedliche Erkenntnisqualitäten und -richtungen offen lassen, auch für Neues. Überdies ist seine Kritik unzutreffend, dass rekonstruktive Fallverfahren nur professionstheoretische Fragestellungen in den Blick nehmen und andere vernachlässigen (ebd.: 148). Andreas Wernet hat schon 2006 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass im Bereich der Schulpädagogik idealtypisch zwischen „akteursorientierter“ und „klientenorientierter“ Kasuistik (Wernet 2006: 183 ff) unterschieden werden muss, also zwischen Fällen, die sich auf pädagogisches Handeln, und solchen, die sich auf dessen Adressaten beziehen. Dabei ist im erstgenannten Bereich die Perspektive auf Unterricht von derjenigen auf Schulentwicklung und LehrerInnen-Biografien abzugrenzen, im zweiten Bereich die des „auffälligen Kindes“ bzw. Jugendlichen von der der „sozialpädagogischen Diagnostik“13.
Abb. 5.2 Mehrdimensionalität eines Falls (Bohnsack 2010b: 64)
Die Diskussion zeigt, dass auch in der aktuellen Debatte zur pädagogischen Kasuistik, abgesehen von den grundlegenden Definitionen, der Stellenwert des Falls und seine Beziehung zur professionalisierenden „Fallarbeit“ einerseits, 13Inwieweit
diese Akzentuierungen und Abgrenzungen noch aktuell sind, kann an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden; vieles spricht für eine veränderte Schwerpunktsetzung in den letzten 12 Jahren – vgl. den Abschnitt zur Peerforschung 3.3.
206
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
zur theoretischen Erkenntnisgewinnung andererseits nicht abschließend geklärt ist und nach wie vor diskutiert wird (Hummrich 2016: 18). Für die weitere Diskussion wird daher auf die Definition von Hummrich (2016: 14) zurückgegriffen, empirische Bildungsforschung mache etwas zum Fall, wenn eine Wirklichkeit untersucht werde, die der Forschungsfrage angemessen zu sein scheine; was jeweils der Fall ist, werde durch die unterschiedlichen methodischen und methodologischen Zugänge bestimmt. Die dokumentarische Methode hat keinen spezifischen Fallbegriff entwickelt, sondern thematisiert den Fallvergleich, daher könnte man formulieren, sie kenne keinen Fall, sie kenne nur „Vergleichsfälle“ (Bohnsack 2013c: 188), denn sowohl die Methode als auch die Methodologie konstituiert sich über den Fallvergleich. Das stellt aber bereits eine spezifische Differenz her, denn das heißt, dass jeder Fall „mehrdimensional“ (ebd.) und die Schnittmenge seiner konjunktiven Erfahrungsräume ist (s. Abb. 5.2). Tatsache ist ferner, dass in der dokumentarischen Methode, im Unterscheid zu anderen methodologischen Kontexten wie z. B. der objektiven Hermeneutik, der einzelne Fall keinen Typus generieren kann, da der Vergleichsfall fehlt (ebd.: 57). Der Fall der dokumentarischen Methode konstituiert sich schließlich in der Fallbeschreibung, die den fallkonstituierenden Rahmen prozesshaft rekonstruiert und schrittweise typisiert (Bohnsack 2014a: 137). „In der Fallbeschreibung wird die Gesamtgestalt des Falles zusammenfassend charakterisiert. Die Fallbeschreibung hat primär die Aufgabe der vermittelnden Darstellung, Zusammenfassung und Verdichtung der Ergebnisse im Zuge ihrer Veröffentlichung. Soweit es sich um die Analyse von Gruppendiskussionen handelt, ist […] auch von „Diskursbeschreibung“ die Rede […]“ (Bohnsack 2014a: 141).
Die Fallbeschreibung ist für Bohnsack nicht die negative Folie, von der die Fallrekonstruktion abgesetzt wird, anders als in der dargestellten Debatte, anders auch als in der Differenzierung Oevermanns (2000), der die Differenz zur paradigmatischen Unterscheidung zwischen Subsumtionslogik und Rekonstruktonslogik analog setzt (ebd.: 61 ff). Der Begriff der Fallbeschreibung hat in der dokumentarischen Methode eine rein vermittelnde Funktion: „Die Besonderheit des Falles wird, unter Einbeziehung der im Folgenden dargelegten Rekonstruktion des Diskursverlaufs, dann in Form der Fallbeschreibung dargestellt.“ (Bohnsack 2014a: 139). Die Fälle dieser Untersuchung müssen, um den Forschungsgegenstand abzubilden, schulische, nicht außerschulische Peergruppen von Grundschulkindern sein, die, das verlangt der Peerbezug, durch die Wahlen der Kinder selbst – nicht
5.4 Fall und Sample
207
oder zumindest weniger durch Einflussnahmen der Erwachsenen einschließlich des Forschers – zustande gekommen sein müssen. Da soziale Milieus und Milieu-Institutionen-Komplexe eine nicht unerhebliche Rolle im Kontext des Forschungsgegenstands spielen (s. o. S. 63), wird eine sozial bezogene, milieuspezifische Differenzierung der Fallauswahl angestrebt14. Die so beschriebenen Beobachtungseinheiten sind auch die Samplingeinheiten dieser Studie (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 180), es ist also nicht die Schule oder die Klasse der einzelne Fall, sondern die jeweilige Gruppe schulischer Peers muss als Fall verstanden werden, auch wenn sie in ihrer Kommunikation durch den jeweiligen Kontext, die Gestaltung und Führung einer Klasse und einer Schule, geprägt sind, da sie in organisationsbezogenen Erfahrungsräumen agieren (s. o. S. 131). Wie werden die Fälle für diese Untersuchung ausgewählt? Im folgenden Schritt wird das Sampling begründet, denn bereits mit der Auswahl von Fällen werden Vorentscheidungen darüber getroffen, wie die Ergebnisse einer Untersuchung aussehen werden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 177). Unter Sampling wird die Auswahl von Fällen verstanden, die in einem festgelegten Kontext für eine bestimmte Population, Grundgesamtheit oder einen Sachverhalt stehen soll, hier für das Phänomen kindlicher Wahrnehmungen auf schulische „Elternarbeit“. Das Moment der Repräsentativität reduziert sich entsprechend dem Selbstverständnis rekonstruktiver Forschung darauf, Ausprägungen der genannten sozialen Erscheinung möglichst breit und tief zu erfassen (ebd.: 178 f). Die immer wieder vorgebrachte Argumentation für ein theoretisches Sampling (z. B. Nohl 2013a: 273; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 182; Loos 2016: 141), in dem die Fälle nach und nach, d. h. im Verlauf der Analyse und nach theoretischen Gesichtspunkten zusammengestellt werden (ebd.: 181), wird hier nicht berücksichtigt. Vielmehr wird das Sampling der Untersuchung qualitativ gestaltet, da der Feldzugang und die Ressourcen dieser Studie die häufige Rückkehr ins Feld, wie es beim theoretischen Sampling erforderlich ist, unmöglich machen. Ein qualitatives Sampling15 ist „ein Vorgehen, bei dem auf der Grundlage vorhandener Forschungsergebnisse und nach bestimmten Kriterien gezielt eine Untersuchungsgruppe zusammengestellt wird“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 183). Dabei bezieht man sich auf „ungewöhnliche Konstellationen“ (ebd.), die für diese
14Ein
ähnliches Vorgehen findet sich bei Jünger (2008), Helsper/Kramer/Hummrich/Busse (2009) und bei Amling (2017), dort allerdings als Suchstrategie. 15Der Begriff des selektiven Samplings wird hier nicht verwandt, da er uneindeutig ist und keine Abgrenzungsqualität aufweist: Ein nicht-selektives Sampling gibt es nicht (vgl. Kelle/Kluge 2010: 50; Przyborski/Wohlrab/Sahr 2014: 178).
208
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Studie in vorhergehenden standardisierten Untersuchungen festgestellt wurden und damit Teil des referierten Forschungsstands sind. So betonen etwa Kelle und Kluge (2011), dass „eine a priori Definition von Auswahlmerkmalen“ sicherstellt, dass sich theoretisch relevante Merkmalskombinationen im Sample spiegeln (ebd.: 50). Der Feldzugang und – wichtiger noch – die Bildung der Peergruppen als Realgruppen (s. o. Abschnitt 5.1) werden hier als Samplekriterien in den Vordergrund gestellt, verbunden mit dem Bewusstsein, dass das darauf basierende Erhebungsverfahren eine große Beweglichkeit und, damit verbunden, weitgehende Zugeständnisse des institutionellen Felds fordert16. Nicht umsonst spricht Flick (2011a: 142 f) von den „Zumutungen qualitativer Forschung“. Das Sampling der Realgruppen kann nur über eine Auswahl von Grundschulen erfolgen, die zum einen nach ihrer Zugänglichkeit für den Forscher, zum anderen nach ihrer sozialen Verortung ausgewählt werden. Die erforderlichen sozioökonomischen Daten werden nicht mit Hilfe der Peergruppen erhoben, um die Kontaktaufnahme zu Eltern und Kindern nicht zu belasten, sondern mit Hilfe wissenschaftlich basierter Untersuchungen von Schulstandorten (Stadt Bielefeld 2012; 2014), die in einer westdeutschen Großstadt in Nordrhein-Westfalen mit über 300.000 EinwohnerInnen die sogenannten „bildungsrelevanten sozialen Belastungen“ der jeweiligen Schuleinzugsbereiche erhoben haben. Die Daten stammen aus Erhebungen zu kommunalen Rahmenbedingungen des Bildungswesens der Stadt, die unter dem Titel „Lernreport“ veröffentlicht wurden17.
16Dass
es trotzdem zu Problemen und Einschränkungen im Feld kam, muss als Beleg für die Relevanz dieses Kriteriums verstanden werden – Genaueres s. u. Abschnitt 6.1. 17Die erhobenen Daten sind Teil und Ergebnis eines Pilotprojekts für eine systematische Bildungsberichterstattung, wie sie nach der Bundes- und Länderebene auch für die kommunale Ebene etabliert wird. Das Projekt wurde mit Unterstützung und Begleitung der Bertelsmann-Stiftung sowie des Soziologischen Forschungsinstituts der Universität Göttingen entwickelt und 2014 von der Stadt in Eigenregie mit wissenschaftlicher Begleitung durch Dr. Markus Walber von der Universität Bielefeld fortgesetzt. Das umfassende Bildungsmonitoring soll der bildungspolitischen Beobachtung, Steuerung und Qualitätsentwicklung des Bildungswesens dienen, um vorhandene Strukturen als sogenannte kommunale Bildungslandschaft zu verstehen und in ihren Strukturen zu beeinflussen. Die Stadt dient dabei als „Pilotkommune“ (Stadt Bielefeld 2012: 7), um die Verfügbarkeit sowie Zugänglichkeit von zeitreihenfähigen Daten zu klären, die einer „indikatorengestützten Bildungsberichterstattung“ (ebd.) dienen können. Der „Lernreport“ ist Teil eines 2010 mit dem Land NRW geschlossenen Kooperationsvertrag zur „Entwicklung eines Bildungsnetzwerkes in der Bildungsregion Stadt Bielefeld“ (ebd.: 8). Als Ziele werden die Optimierung der Zugänge und Übergänge für Bildung genannt, ferner gesteigerte Transparenz und die Entwicklung innovativer und nachhaltiger Förderund Bildungskonzepte; diese werden auf kommunalen Bildungskonferenzen regelmäßig öffentlich diskutiert. Das Konzept dieses sogenannten „Lernreports“ kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, lediglich der Stellenwert der hier genutzten Daten kann zur Debatte stehen.
5.4 Fall und Sample
209
„Aus bildungspolitischer Perspektive ist es sowohl für die Planung von Bildungsund Integrationsangeboten als auch hinsichtlich einer erfolgreichen Bildungsbeteiligung in der frühen Kindheit von Interesse, den Sozialraum von Kindern in den Blick zu nehmen. Wohnortnahe Grundschuleinzugsbereiche lassen einen direkten Bezug zwischen Wohnquartier und Bildungsinstitutionen zu. Auf der Basis dieser Sozialräume wurde deshalb ein Faktor für bildungsrelevante soziale Belastungen gebildet, der die Armutsbedrohung von Familienhaushalten erfasst. Kinder und Jugendliche, die in armutsbedrohten Familien leben, sind häufiger von sozialen, psychischen und kognitiven Problemen betroffen, was zu Konsequenzen hinsichtlich guter Schulleistungen und erfolgreicher Bildungsbiographien führen kann (Stadt Bielefeld 2014: 36).“
Es wurden fünf relevante Indikatoren für die Schuleinzugsbereiche18 ausgewählt, die mit Hilfe kommunaler Daten (ebd.) gebildet wurden und sich auf Zusammenhänge beziehen, die im vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013) als statistisch relevant bewertet wurden; sie wurden zu gleichen Teilen berücksichtigt: • Anteil der Haushalte in Mehrfamilienhäusern • Anteil der Haushalte mit drei und mehr Kindern an den Haushalten mit Kindern • Anteil der Haushalte mit Kindern und mindestens einem nicht-deutschen Elternteil an den Haushalten mit Kindern • Anteil der Alleinerziehenden-Haushalte an den Haushalten mit Kindern • Hilfequote nach dem Sozialgesetzbuch II Im Vergleich zum Lernreport 2012 wurde das Berechnungsverfahren der bildungsrelevanten sozialen Belastungen modifiziert und ergänzt19. Weitere Daten des „Lernreports“ von 2014 bieten Einblicke in die Verteilung der offenen
18Die
Grundschulbezirke wurden durch eine Änderung des Schulgesetzes NRW zum Schuljahr 2007/2008 abgeschafft; deshalb wurde in der Untersuchung, auf die sich die folgenden Ausführungen stützen, der Begriff der wohnortnahen Schuleinzugsbereiche verwandt. 19„Im aktuellen Verfahren werden nicht mehr die absoluten Werte der einzelnen Indikatoren für die Belastung zu einem Wert aufaddiert (Summenscore), vielmehr wird die relative Belastung der einzelnen Schuleinzugsbereiche im Vergleich zum Mittelwert für Bielefeld gesetzt (Z-Skalierung). Die durchschnittlich belasteten Schuleinzugsbereiche verteilten sich um den Nullpunkt, während die hoch belasteten Schuleinzugsbereiche am positiven Rand, die wenig belasteten Schuleinzugsbereiche am negativen Rand der Skala liegen. Die Situation der einzelnen Schuleinzugsbereiche in Bielefeld wird so deutlich stärker sichtbar“ (Stadt Bielefeld 2014: 36 f).
210
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
„Ganztagsgrundschulen“ und der Gymnasialempfehlungen der einzelnen Schulen (ebd.: 55, 67). Die letztgenannten Daten weisen je nach Einzugsbereich deutliche Unterschiede auf, bei einer hohen Konzentration sozialer Belastungen fallen die Übergangsempfehlungen zu den Gymnasien generell niedriger aus als in Schuleinzugsbereichen mit geringeren Belastungen, je nach Schule in sehr unterschiedlichem Maß. Im Folgenden beschränkt sich die Orientierung im Hinblick auf das Sample auf die festgestellten bildungsrelevanten sozialen Belastungen, die in fünf Kategorien differenziert wurden (ebd.: 37): • • • • •
hohe soziale Belastung eher hohe soziale Belastung mittlere soziale Belastung eher geringe soziale Belastung geringe soziale Belastung
Diese Kategorien werden auf der hier abgebildeten Skala (s. Abb. 5.3) über die zunehmend hellere Tönung der Diagrammbalken von links nach rechts abgebildet. Die für das Sampling erreichbaren Schulen nehmen zwei Positionen in der Skala aller Grundschulen der Stadt ein, ihre Positionierung – dargestellt durch die beiden Balken im oberen Bereich der Grafik – zeigt, dass sie zum einen der Kategorie der sozial eher höher belasteten Schulen, zum anderen der der sozial eher gering belasteten Schulen zuzurechnen sind.
Abb. 5.3 Ungefähre Position der wohnortnahen Schuleinzugsbereiche der drei ausgewählten Grundschulen (Stadt Bielefeld 2014: 39)
5.4 Fall und Sample
211
Zu fragen ist hier, welche Konstruktion der „Lernreport“ zugrunde legt. Es ist die Behauptung einer Kausalität zwischen familiären Lebensformen und Bildung, die mit Hilfe von existierenden Korrelationen nachgewiesen wird, sodass von einer „Bedrohung“ der Bildungszukunft der Kinder durch die Armut ihrer Familien die Rede ist, um es in Anlehnung an die oben zitierte Begründung überspitzt zu formulieren. Diese „Engführung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg“ (Wiezorek/Pardo-Puhlmann 2013: 197) muss kritisch gesehen werden: „Armut, Bildungsferne und Erziehungsunfähigkeit bzw. mangelnde Erziehungsfähigkeit sind in den letzten Jahren zu Schlagworten avanciert, mit denen das familiäre Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen aus bestimmten gesellschaftlichen Gruppen charakterisiert wird. Die Kategorien dienen dabei als Hinweise auf das soziale Herkunftsmilieu, mit dem z. B. die fehlende Bildungsbeteiligung oder der ausbleibende schulische Erfolg erklärt wird: Es heißt dann, die Jugendlichen schneiden schlechter in der Schule ab, weil sie Milieus angehören, die sich durch Bildungsferne oder Armut auszeichnen.“ (ebd.)
Diese Argumentation, so die Autorinnen, sei wirkmächtig, wenn es um die Reproduktion von sozialer Ungleichheit gehe: Erstens werde damit die „grundgesetzlich verankerte Aufforderung“ (ebd.) unterlaufen, Bildungsteilhabe gerade unabhängig von den sozialen Herkunftsbedingungen zu ermöglichen (vgl. Vester 2013); zweitens sei die defizitäre Kennzeichnung der Herkunftsmilieus eine „Missachtung von Eltern“ (ebd.), und zwar eine doppelte, einmal gegenüber ihrem Bemühen um Erziehungsverantwortung, zum anderen gegenüber Vorstellungen der Lebensgestaltung, die nicht denen des akademisch-bürgerlichen Bildungsbürgertums entsprechen (ebd.); dies wiederum habe Rückwirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, denen es schwer gemacht werde, ihre Familien als positiv bedeutsamen Lebensort zu sehen. Diese Kritik einer „ungleichheitsverfestigende[n] Perspektive“ (ebd.: 198) gilt auch für die Konstruktion der Quartierstypen bildungsrelevanter sozialer Belastungen, wie sie der „Lernreport“ vornimmt. Trotzdem wird das Sample dieser Studie nach dem Belastungsindex ausgerichtet, da er – unabhängig von der Behauptung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Armut und Bildungsrisiken – eine, wenn auch diffuse, soziale Differenzierung ermöglicht. Diese Differenzierung erlaubt eine anonymisierende, soziale Kontextualisierung der jeweiligen Schule. Das qualitative Sampling muss sich also darauf beschränken, die Belastungskategorien einer eher höheren und eher geringeren Belastung gegenüber zu stellen (s. Tab. 5.2).
212
5 Forschungsgegenstand und Forschungsmethodik
Tab. 5.2 Qualitatives Sampling nach zwei Belastungskategorien Grundschule(n) in Einzugsbereich(en) mit eher geringen sozialen, bildungsrelevanten Belastungen
Grundschule(n) in Einzugsbereich(en) mit eher höheren sozialen, bildungsrelevanten Belastungen
Peergruppe von SchülerInnen 3ag
Peergruppe von SchülerInnen 3ah
Peergruppe von SchülerInnen 3bg
Peergruppe von SchülerInnen 3bh
Peergruppe von SchülerInnen 3cg
Peergruppe von SchülerInnen 3ch
Für den Fall, dass in den Schulen mehrere Gruppendiskussionen videografiert werden können, wird das Auswahlprinzip des minimalen und maximalen Kontrasts, beschränkt auf die Gesamtheit der erhobenen Gruppendiskussionen, angewandt; der minimale Kontrast soll entwickelte Interpretationen und theoretische Deutungen genauer prüfen, der maximale Kontrast Varianzen im Untersuchungsfeld entdecken (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 181). „Für die Auswahl der Gruppen und den Zugang zu ihnen lässt sich kein pauschaler Weg angeben“ (Loos 2016: 141): Der Zugang zu den Grundschulen erfolgte über zuvor in der universitären Lehramtsausbildung gewonnene Kontakte. Die Absprachen und Vereinbarungen zur Durchführung der Gruppendiskussionen betrafen die jeweilige Schulleiterinnen als „Schlüsselpersonen“ (ebd.: 42) der Organisation, die jeweiligen KlassenlehrerInnen als „Schlüsselpersonnen“ der einzelnen Klassen, die SchülerInnen selbst sowie deren Eltern. Familienrechtliche und datenschutzrechtliche Regelungen waren zu beachten. Das Ziel war es, in jeder zugänglichen Schule, in der die Schulleitung und die Klassenlehrerinnen zustimmen, dritte Klassen zu finden (zu den dritten Klassen s. o. S. 76), in denen Kinder und deren Eltern einer Gruppendiskussion zustimmen und in denen, wie bereits angesprochen, die Peerbezüge der Gruppen kontrolliert werden können, um nicht-peer-bezogene Einflüsse so weit wie möglich auszuschließen. Damit können Vergleiche zwischen Peergruppen aus verschiedenen dritten Klassen einer Grundschule ebenso möglich werden wie zwischen dritten Klassen unterschiedlicher Grundschulen mit einer je spezifischen sozialen Einbindung.
6
Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Die folgenden Fallbeschreibungen stellen die Diskurse in vier Peergruppen aus dritten Klassen dreier Grundschulen dar; zuvor werden der Feldzugang, der nicht prototypisch war (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 60), und die Bildung der Peergruppen als Realgruppen beschrieben, dann werden die ausgewählten Gruppendiskussionen dokumentarisch interpretiert. Die Darstellung trennt die Fallbeschreibungen in idealer Weise von der komparativen Analyse und der Typenbildung, obwohl sie in der konkreten Arbeit der Interpretation eng aufeinander bezogen als Vergleichsfälle behandelt wurden. Tatsächlich ist jede Fallbschreibung auch das Ergebnis von fallübergreifenden Vergleichen, diese werden aber, anders als fallimmanente und -interne Vergleiche, um der Lesbarkeit willen in einem eigenständigen Abschnitt zur komparativen Analyse dargestellt. Die Reihenfolge der Fallbeschreibungen ist dieselbe, die in der Interpretation der Fälle gewählt wurde. Innerhalb der Fallbeschreibungen wird zwischen Eingangspassagen und ausgewählten Passagen unterschieden, die Differenzierung orientiert sich am doppelten Diskurs der Gruppendiskussion, einerseits zwischen Forscher und Beforschten, andererseits zwischen den Beforschten: idealerweise müsste der Übergang in den Eingangspassagen sichtbar werden. Das heißt nicht, dass der Wechsel zwischen den Diskursebenen nicht immer wieder erfolgen kann, sein Modus wird aber zu Beginn ausgehandelt, das soll dokumentiert werden. Im Übrigen folgt die Darstellung der Fälle nicht der üblichen Form in Veröffentlichungen der dokumentarischen Methode, weder im Umfang der Transkriptauszüge noch in der Maskierung: • Der Umfang der Transkriptauszüge orientiert sich an der ‚Lesbarkeit‘, sprich: an der Nachvollziehbarkeit der Diskurse und der spezifischen Sprechweisen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_6
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
der Beforschten, wie sie auch in der Veröffentlichung von Amling (2015) über Peers im Vordergrund steht; • die Maskierung bleibt bei anonymisierten Namen stehen, da dies nach Ansicht des Verfassers ebenfalls die ‚Lesbarkeit‘ erhöht, z. B. in der interparadigmatischen Rezeption; daher werden Namen aus demselben „Kulturkreis“ (zu den Transkriptionsregeln s. u. Anhang), sprich: aus denselben sprachbezogenen Traditionen und Praxen genutzt, aber die Personen werden nicht nach der Reihenfolge ihres ‚Auftritts‘ durchbuchstabiert, ihr Geschlecht wird nicht mit den Buchstaben m oder f gekennzeichnet.
6.1 Feldzugang und Realgruppenbildung Der Kontakt zu Schulen in der Region war durch die Zusammenarbeit zwischen Forscher und Schulleitungen im Kontext universitärer Fallstudien entstanden. Hatte die jeweilige Schulleitung ihre Zusage gegeben die in der Regel mit einer ‚Weiterleitung‘ des Kontakts an die jeweiligen Klassenlehrerinnen verbunden war, vereinbarte der Forscher mit diesen telefonisch oder per Mail drei Termine im Abstand von je zwei Wochen: Beim ersten Termin stellte sich der Forscher der Klassenlehrerin vor und traf Terminabsprachen, beim zweiten Termin stellte er sich mit seinem Videoteam der Klasse vor und verteilte Elternbriefe, gleichzeitig bat er die SchülerInnen, einen Zustimmungs- und Wahlzettel auszufüllen, auf dem sie nicht nur ihre persönliche Zustimmung zur Teilnahme an einer Gruppendiskussion gaben – letztere war in einfachen Worten erklärt worden –, sondern auch diejenigen schulischen Peers nannten, mit denen sie die Gruppendiskussion durchführen wollten. Die Elternbriefe baten um Zustimmung der Eltern, die sozialen Daten der Kinder wurden nicht erhoben, da der Forscher vermutete, dass die Zustimmungsquote dadurch erheblich gesenkt würde. Der Forscher überprüfte anhand der Wahlzettel der SchülerInnen, welche Peerwahlen für eine Gruppendiskussion realisierbar waren und welche nicht. Die Klassenlehrerin sammelte die Elternbriefe ein und übermittelte dem Forscher die Ergebnisse. Beim dritten Termin am Tag der Videoaufnahme der Gruppendiskussionen fehlten einzelne Kinder aus unterschiedlichsten Gründen, sodass die eine oder andere Gruppe nicht zustande kam oder in einer reduzierten Zusammensetzung aktiv wurde. Je nach Klasse entstand so eine mehr oder weniger große Anzahl ganz unterschiedlich großer Kindergruppen zwischen 3 und 11 TeilnehmerInnen, die sich mit dem Forscherteam in der Klasse zusammenfanden und in einen von der Schule zugewiesenen Raum wechselten, um die Gruppendiskussion mit einer Dauer zwischen 23 und 65 Minuten durchzuführen. Dabei wurde den Kindern
6.1 Feldzugang und Realgruppenbildung
215
zunächst die Videotechnik vorgestellt, sie wurde von ihnen in unterschiedlichster Weise erprobt und dann vom begleitenden Videoteam – zwei Studierende, die als Hilfskräfte tätig waren – für die Aufnahme des Gesprächs eingesetzt. Der Grundaufbau der Videoaufzeichnung wurde einfach gehalten: Eine Kamera wurde mit Hilfe eines Stativs so positioniert, dass sie die Gruppe der Kinder möglichst vollständig abbilden konnte; die Kameraperspektive war in der Regel in einer Winkelweite von ca. 20 bis 25 Grad von schräg oben zur ungefähren Augenhöhe der Kinder bei einem gewählten Kreisarrangement mit oder ohne Sitzmöbel gerichtet, dabei wurde darauf geachtet, dass die Kamera möglichst nicht in Kopfhöhe von durchschnittlich großen Erwachsenen postiert wurde, sondern niedriger. Daher wurden Gesichter und deren Mimik sowie die verwandte Gestik situativ in sehr unterschiedlichem Maß abgebildet. Nach dem Ende der Gruppendiskussion wurde von den Kindern oft der Wunsch geäußert, den Film anzuschauen, dem konnte aber aufgrund der Zeitabsprachen mit den Schulen nicht entsprochen werden. Die Kinder wurden als ExpertInnen ihrer Erfahrungen mit Erwachsenen angesprochen (ebd.: 106), der Eingangsimpuls für jede Gruppendiskussion lautete: Hallo, wir haben euch letzte Woche besucht und euch erzählt, dass wir Forscherinnen und Forscher sind. Ich war früher Lehrer, jetzt bin ich Forscher. Wir bewerten nichts, ihr bekommt von uns keine Zensuren für das, was ihr hier macht. Heute haben wir nicht die Forscher-Lupen dabei, heute haben wir eine Kamera und ein Mikrofon von der Universität mitgebracht, die habt ihr euch ja schon angeschaut. Wir sind ganz neugierig, was ihr uns erzählt, wir wollen euch zuhören und euch aufnehmen, weil ihr so viel wisst zu dem Thema, das uns interessiert: Eure Eltern oder andere Leute aus euren Familien sprechen manchmal mit eurer Lehrerin / eurem Lehrer, zu Hause, in der Schule oder woanders. Sie telefonieren vielleicht auch miteinander oder treffen sich. Ihr seid schlaue Leute. Wir möchten von euch wissen: Was habt ihr erlebt? Was denkt ihr darüber?
Dieser Eingangsimpuls versucht, eine Distanz zur Institution Schule und ihren Routinen herzustellen, auch durch die Nennung des früheren Lehrerberufs des Forschers, und die Ansprache der Kinder als ExpertInnen möglichst unspezifisch zu formulieren; dabei wird durch eine positive und gleiche Bewertung der Adressaten ein Unterschied zur schulischen Bewertungspraxis behauptet. Der immanente Sinngehalt initiiert Themen, die um die Kontaktaufnahme zwischen Familienangehörigen und Lehrkräften gelagert sein könnten. Zum Abschluss wird versucht, Erfahrungen, Erlebnisse und Meinungen der Kinder zu generieren. Bei
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
der Formulierung des Impulses wurde angestrebt, den propositionalen Gehalt möglichst gering zu halten, denn: „Fasst der propositionale Gehalt ganz grundsätzlich den dokumentarischen Sinngehalt einer Äußerung, dann beinhaltet auch jede Themeninitiierung seitens der Diskussionsleitung einen propositionalen Gehalt. Ganz deutlich wird das, wenn Interviewführung oder Diskussionsleitung methodologisch wenig reflektiert erfolgen“ (Przyborski 2004: 67).
Der beschriebene Feldzugang führte zur Aufzeichnung von elf Gruppendiskussionen in sechs Klassen, da das Forscherteam bestrebt war, allen Kindern, die sich für eine Gruppendiskussion gemeldet und die Erlaubnis ihrer Eltern hatten, die Möglichkeit zu geben, sie durchzuführen und dabei gefilmt zu werden. Je vier Gruppen wurden von Mädchen bzw. Jungen gebildet, drei der elf videografierten Gruppendiskussionen waren gemischgeschlechtlich, allerdings zwei von ihnen nur infolge der Eingriffe der Lehrerinnen; die einzige, die sich freiwillig zuammenfand, wurde durch die Umstände der Aufzeichnung in einem OGS-Raum ohne Türen nachhaltig beeinträchtigt. Der oben idealisiert dargestellte Ablauf gestaltete sich realiter unterschiedlich: Die Klassenlehrerinnen, die nicht in jedem Fall von Seiten der Schulleitung gefragt worden waren, aber von sich aus auch keine Absage formulieren wollten, reagierten auf die Herausforderung unterschiedlich: Manchmal wurde das Forscherteam in den Unterricht integriert, manchmal wurde es als Störung der Routinen gesehen, in einem Fall sollte die Teilnahme an den Gruppendiskussionen als Belohnung für ein Wohlverhalten der SchülerInnen eingesetzt werden. Die Räume in der jeweiligen Schule, die einen großen Einfluss auf das jeweilige Platzarrangement der Kindergruppen hatten, waren von unterschiedlicher Qualität, sodass klassisch-schulische Tischgruppen entstanden, aber auch Gruppen auf einem Sofa oder einer Bühne, die sich in einem Theaterraum fand und von den Kindern gern und ausgiebig für performative Darstellungen genutzt wurde, während in den Räumen einer OGS, die ohne Türen waren, die Gruppendiskussionen zeitweise bei laufender Betreuung durchgeführt werden mussten. Es ist davon auszugehen, dass die Institution und ihre AkteurInnen in ihrer spezifischen Art der Praxisgestaltung agierten, nämlich routinisiert und rekontextualisierend (vgl. Fend 2008: 181). Da die Klassenlehrerinnen als eigenständige Ebene in den Grundschulen die Zusage der Schulleitungsebene umsetzen mussten und es gleichzeitig zu einer Vorstrukturierung durch die „Tatsache des Geschicktseins“ (Flick 2011a: 145) kam, wurde die Herausforderung des Forscherbesuchs im Rahmen der institutionell möglichen Rollen-
6.2 Die Jungen-Gruppe „Puppen“ in der Grundschule Feuerberg
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zuschreibungen bewältigt: Es kam zur Übernahme der Rollendefinition des Forschers als ehemaliges Mitglied der Institution und ‚Kollege‘, mit dem eine Art ‚innere Differenzierung‘ möglich ist, zur Deutung des Forscherbesuchs als ‚Hospitation‘ mit entsprechender unterrichtlicher Verortung als legitime, aber gering zu haltende Störung, es kam zur Definition des Besuchs als quasi übergroße ‚sonderpädagogische Testsituation‘, die in einen abgelegenen Raum verlagert wird, es kam auch zur Interpretation eines unerwünschten „Elternbesuchs“, der samt der ‚betroffenen‘ Kinder vorläufig in einem Raum im Randbereich der Organisation untergebracht wird. Die Kindergruppen wurden immer wieder durch Eingriffe der Klassenlehrerinnen in ihrer Zusammensetzung verändert, sei es durch Zusagen gegenüber anderen Kindern, durch direkte Zuweisungen in die Gruppen oder ‚zeitökonomische‘ Zusammenlegungen. Offenbar wurde die verdeckte Peergruppenbildung zum Thema in den Klassen, die die Lehrkräfte organisatorisch bewältigen mussten, ohne dass das in der Kommunikation zwischen Forscher und Lehrkraft thematisiert werden konnte. Eine Voruntersuchung ergab, dass eine von der Lehrerin zusammengesetzte Gruppe in ihrer Gruppendiskussion durch die selbstvorgenommenen Unterscheidungen zwischen den Peers relevant beeinflusst wurde, vor allem durch drei der sieben Kinder, die sich explizit als „Wiederholerinnen“ definierten (vgl. Stiller 2016: 152); Themen und Orientierungen der Gruppe wurden dadurch entsprechend dominiert, die Zahl der SchweigerInnen betrug drei. Daher wird das Sample dieser Studie, die Peerperspektiven auf schulische „Elternarbeit“ erheben will (s. o. Abschnitt 5.4), auf vier Peergruppen reduziert, die kontrollierbar, entsprechend den Wahlen der SchülerInnen, gebildet wurden und deren Gruppendiskussionen von außen ungestört und unbeeinflusst blieben. Dahinter steht auch der forschungspragmatische Grund, dass die willkürlich zusammengesetzten Gruppen in ihrem Diskursverlauf diskontinuierlicher und in ihren Aktionismen meist vieldeutiger waren, sodass es den Interpretationsaufwand deutlich erhöht und die Ressourcen dieser Studie überfordert hätte.
6.2 Die Jungen-Gruppe „Puppen“ in der Grundschule Feuerberg Im Folgenden wird die Gruppendiskussion der Gruppe „Puppen“ vorgestellt und interpretiert. Zunächst wird die Eingangspassage dargestellt, in der die Verständigung zwischen Forscher und Beforschten im Mittelpunkt steht. Dem folgt ein Überblick des Themenverlaufs, also des immanenten Sinngehalts des
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Gesprächs. Im Zentrum der Fallbeschreibung steht die vertiefte Interpretation ausgewählter, thematisch und diskursiv verdichteter Passagen der Gruppendiskussion. Die Gruppendiskussion, die in der folgenden Darstellung thematisiert wird, ist, anders als in anderen Fällen, in der Gruppenzusammensetzung nicht durch die Einflussnahme der Lehrkraft verändert worden. In den anderen Grundschulen gab es ebenfalls je eine dritte Klasse, in der nur eine Gruppendiskussion zustande kam, aber die Kindergruppen, die sich dafür bereit erklärt hatten, wurden durch kurzfristige Eingriffe der Klassenlehrerinnen unmittelbar vor den Gruppendiskussionsterminen in ihrer Zusammensetzung relevant beeinflusst. Die Gruppendiskussion dauert insgesamt 44 Minuten1. Sie findet in einem Förderraum der Schule statt. Die vier Jungen Mario, Luis, Leon und Ronald sitzen um einen kleinen Tisch, je einer auf einem Stuhl links und rechts, zwei auf einem Sofa gegenüber der Kamera. Die Seite zur Kamera hin bleibt frei, rundherum stehen Gruppentische mit Stühlen und Regale mit Unterrichtsmaterialien. Die Sitzordnung wird von den Jungen festgelegt, sie verändern sie, als die Kamera aufgebaut wurde, und vereinbaren, die Plätze in zeitlichem Abstand zu tauschen, da alle auf dem Sofa sitzen wollen. Der Forscher sitzt – von der Kamera gesehen – auf der linken Seite neben den Jungen, auf dem kleinen Tisch das Mikrofon.
6.2.1 Eingangspassage Der Forscher eröffnet die Gruppendiskussion mit dem Eingangsimpuls als Themeninitiierung, dabei adressiert er die Jungen als „schlaue Experten“ und „als Jungs als Kinder“ und behauptet „ihr wisst Bescheid“. Mario, Leon und Luis befragen und ergänzen die Ausführungen des Forschers in parallelen oder anschließenden Formulierungen. Dabei beziehen sie sich auf die Vorstellung
1Die
Eingangssequenz und der thematische Verlauf, aber auch die Interpretationen der zentralen Passagen und die Diskursorganisation werden in der Gegenwartsform geschrieben, da die Darstellung und Interpretation mit Unterstützung des videographierten Materials als ständig abrufbare, immer wieder neu überprüfbare Datensammlung vorgenommen wurde. Eine Darstellung in der Vergangenheitsform würde die Einmaligkeit von Ereignissen behaupten, deren Fixierung und Reproduzierbarkeit Grundlage für die wissenschaftliche Interpretation ist – mit allen Vor- und Nachteilen einer ständigen Überprüfbarkeit einerseits, einer nur suggerierten Transparenz und fixierten Perspektive andererseits (vgl. Dinkelaker/Herrle 2009).
6.2 Die Jungen-Gruppe „Puppen“ in der Grundschule Feuerberg
219
des Forscherteams in der Klasse zwei Wochen zuvor. Sie signalisieren, dass sie das zentrale thematische Moment erinnern und auf den ersten Kontakt beziehen. Danach generieren sie einen Erzählanfang zu einem „Fackellauf“, zu dem Mario wiederum einen eigenen Erzählanfang ergänzt – „alle haben so gespielt und ich war drinne“ –, der eine Exklusionserfahrung zu beinhalten scheint. Der Forscher bestätigt die Erzählanfänge pauschal und spricht von einer generational spezifischen Erzählweise: „… wenn ihr sie mir erzählt dann erzählt ihr sie hm dann erzählt ihr sie für Erwachsene aber wenn ihr sie euch gegenseitig erzählt dann erzählt ihr sie für euch Kinder …“. Er fordert auf miteinander zu sprechen, dabei betont er propositional die generationale Differenz in der Themeninitiierung und versucht einen Diskurs der Beforschten miteinander anzuregen. Einer der Junge wendet sich daraufhin demonstrativ seinem rechten Nachbarn zu und schaut ihn an. Der Forscher reagiert zustimmend und bringt noch einmal die geplante Themeninitiierung ein. Darauf reagiert Luis mit einem Ja und fragt dann „wer fängt an“ (GD „Puppen“, Eingangspassage, Transkript 1, 43–61).
Die vier Jungen übernehmen es, auf die Aufforderung des Foschers mit einem Auswahlverfahren für die Zuweisung des Rederrechts zu reagieren: „Wer fängt an“ ist eine Frage, die sowohl von Lehrkräften als auch von MitschülerInnen im unterrichtlichen Kontext gestellt werden kann und den Beginn einer klassenoder gruppenbezogenen Arbeitsphase markiert. Sie verbindet sich mit einem „Auf-sich-selbst-gestellt-Sein des Schülers“ (Breidenstein 2006: 179), das von
220
6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Seiten der anderen durch Unterstützungsangebote relativiert werden kann. Die Frage könnte aber auch in Spielsituationen sinnvoll sein, sie wird häufig durch spielerische Techniken wie Würfeln, Rangfolge nach Alter oder andere Rituale beantwortet, allerdings werden genau diese hier nicht angewandt. Daher liegt es nahe, dass die konkrete Situation der Gruppendiskussion mit Hilfe der Frage von dem Jungen als schulische interpretiert wird. Es ist der, der dann von den Peers als derjenige gewählt wird, der anfängt. Offenbar gibt es eine Verständigung der Jungengruppe darüber, wer die Situation bewältigen kann, und zwar bei allen Beteiligten, denn Luis äußert demonstrativ eine Art freudiger Zustimmung. Gleichzeitig nutzt er seine ausgesetzte, aber auch privilegierte Situation, einen Peer gegenüber Mitpeers und Forscher negativ zu exponieren.
6.2.2 Themenverlauf Luis eröffnet eine längere, selbstläufige Passage von Beiträgen, in denen die Jungen unterschiedliche Bereiche der Schule nennen, die sie als positiv („gut“, „cool“, „spaßig“) oder negativ („schlecht“, „doof“, „langweilig“) erleben: Arbeitssituationen im Unterricht, Aufgaben in einem Schulbuch und anderen Materialien, Aktionen im Religionsunterricht, das Fußballspiel in der Pause, Konflikte mit anderen, Sport- und Schwimmunterricht. Ronald spricht wiederholt davon, dass seine Leistungen nicht gut seien, so sei er „der Schlechteste“ im Schwimmunterricht: Luis widerspricht dem, wird aber von Ronald überzeugt, Leon weist dabei auf Luis’ goldenes Schwimmabzeichen hin. Abschließend sagt Ronald „wir sind die 3a“, obwohl sie es offensichtlich nicht sind, und schaut die anderen Jungen an, alle lachen. Diese Themen werden von den Jungen in insgesamt fünf „Runden“ mit Gesprächsbeiträgen genannt, dabei wird meist die festgelegte Sprecherabfolge beibehalten. Die Jungen gestalten die Gesprächsrunden selbstorganisiert, indem sie sich gegenseitig aufrufen oder durch Blicke und Gesten zum Sprechen auffordern. Der Forscher initiiert das Thema erneut und fragt, wie die Jungen es erleben, wenn die Eltern sich mit der Lehrerin träfen. Leon fragt „solln wir das sagen“, Luis meldet sich. Der Forscher erinnert die Jungen daran, dass sie ihre Sitzverteilung auf Sofa und Stühlen ändern wollten, daraufhin wechseln die vier ihre Sitzpositionen. In der anschließenden, selbstläufigen Passage sind die Gespräche zwischen Lehrerin und Eltern das zentrale Thema. Die Jungen handeln die Sprecherfolge erneut aus und berichten dann von ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit der früheren und der jetzigen Lehrerin, diese schildern sie in
6.2 Die Jungen-Gruppe „Puppen“ in der Grundschule Feuerberg
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ihren emotionalen Reaktionen aktuell als angstbesetzt2. Dieser Abschnitt der Gruppendiskussion wird als ausgewählte Passage im Folgenden interpretiert. Nach dem Ende dieser zweiten Passage fragt der Forscher in der beginnenden Phase des immanenten Nachfragens nach Gesprächen unter den Peers über Lehrerin und Eltern in der Schulpause. Diese Frage beantworten die Jungen nicht, sie rekurrieren auf ihr Fußballspiel in der Schulpause und betonen „spielen spielen spielen“ und „schießen schießen“. Dabei entsteht die Zwischenfrage „Ihr seid doch Freunde“, die von den Jungen unisono bejaht wird. Dabei legen sie in einem Aktionismus die Arme über die Schulter ihrer jeweiligen Nachbarn. Die weitere Frage nach Telefongesprächen zwischen Lehrerin und Eltern kommentieren sie mit „langweilig“, „peinlich“ und „ängstlich“. Ronald fragt, was „ängstlich“ sei, und bekommt von Luis die Erläuterung „wenn man Angst hat“. Nachdem die Jungen ihre Sitzplätz erneut getauscht haben, berichten sie über weitere Erfahrungen in den Begegnungen zwischen Lehrerin und Eltern. Dabei beginnen sie mit umherliegenden Sitzkissen und einer Puppe zu spielen. Während dieser Aktionismen reklamiert Ronald das Rederecht für sich und berichtet von einer Begegnung seiner Mutter mit der Lehrerin in der Stadt. Leon berichtet, er habe die Lehrerin auf dem Rad gesehen. Luis ergänzt, die Lehrerin habe erzählt, dass ein Kind eine Stecknadel in ihren Fahrradreifen gesteckt habe und die Eltern einen neuen Reifen hätten kaufen müssen. Luis betont, er würde so etwas nicht machen, woraufhin die anderen Jungen lachen und Leon sagt „und eine Woche später machst du‘s“. In der abschließenden Phase der exmanenten Nachfragen werden unterschiedliche Themen angesprochen. Auf die Frage, worüber Eltern und Lehrerin
2Emotionen
wurden in dieser Studie bisher in Honneths Theorie der Anerkennung als Liebe in Primärbeziehungen angesprochen (s. o. Abschnitt 2.2.3), außerdem im Kontext des Übergangs von der Familie zur Schule und als relevanter Aspekt der Peerbeziehungen (s. o. Abschnitt 3.3); sie werden nicht nur in strukturfunktionalistischen und strukturtheoretischen Untersuchungen primär als zentrale Qualität familiarer Beziehungen markiert, der die Schule rollenförmige Beziehungen gegenüberstellt, wenn auch nicht ohne diffuse Aspekte, sprich: emotionale Einfärbungen (vgl. Parsons 2012: 113 f; Helsper 2012b: 28 ff; Hummrich/Kramer 2017: 24, 30, 36; Böhnisch 2018: 408). Der Begriff der Emotionen wird hier zunächst mit dem der Gefühle gleichgesetzt, wohl wissend, dass es darüber keinen Konsens gibt (Senge 2013: 11); wichtiger erscheint die grundlegende Tatsache, das Gefühle bzw. Emotionen „relevante Bindeglieder zwischen Akteuren, ihrem Denken und Handeln und gesellschaftlichen Institutionen“ (ebd.: 27) darstellen; konkreter geht es darum, „dass die Emotionen nicht etwas sind, das wir einfach haben, sondern etwas, das wir tun“ (Scheer 2017: 265) – Weitere siehe Abschnitt 7.1.5.
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sprechen, nennen die vier Jungen unsisono die Klassenfahrt, in der sie in einer Mühle übernachten und einen Zoo besuchen werden; an ihre letzte Klassenfahrt erinnern sie sich ganz unterschiedlich, wann sie wo hingefahren sind und ob sie dort übernachtet haben. Bezüglich einer Teilnahme an den Gesprächen zwischen Eltern und Lehrkraft reagieren drei der Jungen ablehnend. Mario begründet „das ist unheimlich wenn die was Schlimmes erzählen“. Leon entgegnet „aber ich würde es lieber gleich hören als erst zu Hause“. Dem folgt eine kurze Diskussion zwischen Ronald und Mario einerseits, Leon und Luis andererseits, ob Eltern-Lehrkraft-Gespräche „langweilig“ seien. Während Luis sagt „Es darf nicht langweilig sein“ und Mario entgegnet „du weißt doch was du tust“, argumentiert Leon „ich weiß ja nicht was Frau Mill über mich denkt“, woraufhin die anderen zustimmen „ich auch nicht“.
6.2.3 Ausgewählte Passagen Die ausgewählten Passagen stellen den Anfang und das Ende eines etwa vier Minuten langen, selbstläufigen Teils der Gruppendiskussion dar; die erste Passage knüpft an die Eingangspassage an, die zweite ist thematisch zentral. Deutlich wurde bereits, dass die Jungen in der unbekannten Situation der Gruppendiskussion, die im schulischen Kontext stattfindet, zum einen eine veränderliche Sitzordnung miteinander verabreden, zum anderen eine Ordnung des ‚Dran-sein‘ aufrufen. Damit organisieren sie sich in Bezug auf die Anordnung ihrer Körper zueinander im Raum und die Gestaltung der kommunikativen Situation, ‚Dransein‘ ist die besonderte Position in der Reihenfolge der SprecherInnen, wie sie in schulischen Gesprächen unter Leitung einer Lehrkraft, aber auch in Spielen von Kindern und Erwachsenen geregelt wird, etwa beim Würfeln oder Kartenspiel. Sie impliziert als Gegensatz ein Durcheinander, das durch „Selbstdisziplinierung“ (Przyborski 2004: 171) verhindert werden kann. Die Jungen reagieren auf die ungewohnte Situation der Gruppendiskussion mit Mitteln der Gesprächssteuerung, wie sie aus dem Morgenkreis einer Grundschulklasse bekannt sind, möglicherweise auch aus den Aushandlungen der Abfolge bzw. Rangfolge bei Spielen wie Fußball. Diese Ordnung wird bereits zu Beginn des Gesprächs aufgerufen und in allen Momenten des Sprecherwechsels bestätigt. Auch nach zehn Minuten ist sie weiterhin von Bedeutung: Die Jungen wechseln ihre Sitzplätze, sodass jetzt alle einmal auf dem Sofa gesessen haben, und handeln die Sprecherfolge neu aus (GD „Puppen“, Passage 1, Transkript 2, 4–26):
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Die Passage dokumentiert Aushandlungen zur Sprecherfolge zwischen den Peers, hier unter dem kommunikativen Zugzwang, der durch die erneute Themeninitiierung des Forscher aufgebaut wird. In einem Prozess wechselseitiger Zuweisungen und Reklamationen wird das Rederecht ausgehandelt. Da die Gruppendiskussion räumlich, zeitlich und thematisch von der Institution Schule gerahmt wird, ist davon auszugehen, dass Rederecht hier auch Redepflicht ist, denn in ihr ist eine Verpflichtung zur Beteiligung an Gesprächen möglich: Die Lehrkräfte verfügen nicht nur über die Macht, das Wort zu vergeben und bestimmen, wer im Unterricht wann sprechen darf (Heinzel 2012b: 181), es besteht auch das Risiko von ihnen ‚drangenommen‘ zu werden. Dadurch kann man gegen seinen Willen in das Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, kann für einen Moment oder gar für einen längeren Zeitabschnitt auf die unterrichtliche Bühne gestellt werden (Breidenstein 2006: 97). Die Ambivalenz des Rederechts in diesem Kontext dokumentiert sich in Leons widersprüchlichem Verhalten, der das Rederecht gegen Mario behauptet, um es ihm dann zuzuweisen. Gleichzeitig spielen peerinterne Aushandlungen um Positionen eine Rolle, die Rangfolge wird wiederum bestätigt, sie wird von Leon durch Zuweisungen angeführt und von Luis durch Redeeröffnungen bewältigt. Das Ergebnis der kindlichen Aushandlungen dokumentiert sich im Wechsel des Kindergesprächs von der Hinter-
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auf die Vorderbühne der Gruppendiskussion. Luis’ unvollständige Formulierung „ich bin“ für die Übernahme von Rederecht und -pflicht ist aus dem schulischen Kontext bekannt, sowohl aus dem Unterricht als auch aus Pausenspielen. Damit finden die vier Jungen zu einem Ergebnis, das anscheinend alle beteiligten Peers zufrieden stellt. Ronald wendet sich abschließend noch einmal an Luis. Damit sind die Aushandlungen zwischen den vier Jungen beendet, an denen sich jeder auf ganz unterschiedliche Weise beteiligt hat. Während Ronald Anfang und Ende markiert und Leon und Mario die konflikthafte Aushandlung übernehmen, lässt sich Luis die Eröffnung der Sprecherfolge zuweisen ohne sie zurückzuweisen. Die Aushandlung kann als homolog gestalteter Diskurs interpretiert werden: Ronald proponiert, wer dran ist, Leon und Mario handeln es in einem antithetischen Modus aus und ziehen mit Luis die betreffende Konklusion, die von Ronald abschließend validiert wird. Das spricht für eine kollektive Orientierung dieser Praktik. Dafür spricht auch, dass die ausgehandelte Sprecher-Reihenfolge im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion immer wieder aufgerufen und nur einmal in Frage gestellt wird. Offenbar ist sie ein relevantes Thema in den Peerbeziehungen und muss in Bezug auf Diskursorganisation und Orientierung der Gruppe bzw. der Einzelnen berücksichtigt werden. Die Proposition, die unmittelbar im Anschluss an die Klärung der Sprecherfolge zu Beginn der dritten Passage entwickelt wird, beruht auf einer Erzählung zum Elternsprechtag und wird in den folgenden Zügen von allen Teilnehmern der Diskussion validiert. Sie fokussiert den Genuss eines Gebäcks mit dem Namen „Schweineöhrchen“, möglicherweise in Assoziation zur Formulierung des Forschers in der vorhergehenden Passage „ich bin ganz Ohr“3. Die doppelte Bedeutung des Namens der Gebäcksorte erlaubt es den Jungen, vom erwachsenen Kontext des Themas, vielleicht auch der Gruppendiskussion selbst, abzulenken. Der propostionale Gehalt der Erzählung liegt darin, dass eine Bedeutsamkeit des Handelns der älteren Generation auf dem Elternsprechtag bestritten bzw. – augenzwinkernd? – auf die eigene Versorgung reduziert wird (GD „Puppen“, Passage 2, Transkript 2, 29–107).
3Weiteres
siehe unten Fußnote 5.
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226
6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Der in dieser Passage ablaufende Diskurs der Jungen dokumentiert eine außerordentliche Spannweite kindlicher Bearbeitungs- und Bewältigungsformen in der inter- und intragenerationalen Kommunikation. Da ist zum einen die witzig-spielerische ‚Debatte‘ der Peers um ein Gebäck mit ‚unmöglichem‘ Namen, mit der sie sich von den Themen an- und abwesender Erwachsener distanzieren, da ist zum anderen die fast ‚schmerzhafte‘ Präsentation eines Problems durch einen Peer, auf das zunächst nur mit Lachen reagiert werden kann. Nach der Proposition folgt die Antithese „hoffentlich streiten sie nicht“, die zunächst in oppositioneller Form erscheint, sie ist die absolut reduzierte Beschreibung eines emotionalen Zustands. Sie enthält eine minimale Beschreibung für eine Interaktion, fokussiert in dem Wort „streiten“. Die semantische Wertigkeit dieses Verbs ergibt sich aus der Vielzahl möglicher „Mitspieler“ – mindestens drei: Wer streitet? Mit wem? Worüber?. Sie kann syntaktisch so weit reduziert werden, dass ein Personalpronomen genügt (Schwarz-Friesel/Chur 2014: 76 ff), um klarzustellen, dass es um die ältere Generation geht. Die Brisanz in der Eröffnung des Beitrags durch die beiden Worte „hoffentlich streiten“ wird darüber hinaus durch die Bedeutungsdifferenzen des ersten Wortes erhöht: die aktuelle Bedeutung ist noch völlig unklar, die lexikalische emotional geladen, die wörtliche weist ein erhebliches Referenzpotenzial auf. Dem folgen keine weiteren Erzählungen oder Beschreibungen. Die Einbettung in Pausen, Diskurspartikel und Lachen legt es nahe, dass hier in kindspezifischen Aktionismen Unsagbares thematisiert wird. Der emotionale Zustand des Jungen ist sicherlich durch Befürchtungen bestimmt. Dass diese Äußerung von Angst nicht in Opposition zur Proposition
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steht, sondern als Elaboration der Antithese (Przyborski 2004: 69) auf geteilte Erfahrungen hinweist, zeigt sich am folgenden ‚Seitenwechsel‘ eines Jungen von der thetischen zur antithetischen Seite des Diskurses. Der Bericht Ronalds über den Fackellauf bewegt Luis dazu, diesen nicht etwa ergänzend oder ausschmückend zu elaborieren, sondern von seiner Angst vor den Gesprächen der Erwachsenen zu sprechen und so die von Mario formulierte Antithese weiterzuentwickeln. Das ist der entscheidende Vorgang im Gespräch, der die antithetische Organisation des Diskurses und damit die Peerorientierung der Diskussion verbürgt. In der entstehenden Synthese nimmt der Sprecher auf die Interaktion der älteren Generation Bezug und formuliert eine Abgrenzung in Form einer Generalisierung: „die sollen nichts Böses über mich erzählen“. Die ältere Generation erscheint völlig undifferenziert im Pronomen „die“, ihr wird die Pflicht zugeschrieben, in der moralischen Antinomie von „Gut“ und „Böse“ falsche Wertungen in den schulbezogenen Gesprächen über ihn zu vermeiden. Die Syntax ähnelt der eines Gebots bzw. einer Regel. Damit wird eine Konklusion formuliert, für die Ronald später, im weiteren Verlauf des Gesprächs in der exmanenten Phase eine andere Formulierung finden wird: „wenn die was- über mich gute Sachen erzählen dann fühle ich mich gut und wenn ich was schle- äh wenn die was Schlechtes sagen über mich dann fühle ich mich schlecht“. Die Konklusion wird von den anderen Jungen validiert, Leon sieht die Verantwortung für „nicht so gute Sachen“ bei der Lehrerin, Ronald und Luis sprechen die schulische Leistungsbewertung an und erinnern an schlechte und gute Zensuren. So wird zugleich eine Grenze der Konklusion markiert, denn die Zensuren verweisen auf die Thematik der erwachsenen Gespräche, das schulische Lernen und seine Bewertung. Aber das erscheint den Jungen nicht thematisierbar, der schulische Kontext wird vermutlich als selbstverständlich und unhinterfragbar genommen (Jünger 2008: 567; Heinzel 2012b: 178). Später, in der Sekundarstufe, wird die Verschränkung peerbezogener und institutioneller Erfahrungsräume von den Schülerinnen und Schülern in der Form bewältigt, dass ein ähnliches Zensurenniveau zur Konstitutionsbedingung für Schul-Cliquen werden kann (Krüger/Köhler/Zschach 2009: 299) oder „Nivellierungstendenzen“ (Krüger 2012: 157) entstehen, die einen Zensurendurchschnitt als gemeinsamen darstellen bzw. das Thema weitgehend tabuisieren. Die Jungen rufen die Ordnung der Sprecher-Reihenfolge auch nach dem Ende der Passage immer wieder auf, sie wird ohne Äußerungen aufrechterhalten. Diese Ordnung des Rederechts und der Redepflicht ist in der gesamten Gruppendiskussion Thema, daher muss vermutet werden, dass die Jungen diese schulbezogen, von ihnen als Peers ausgehandelt und gestaltet, habitualisieren.
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6.2.4 Orientierungen Fallimmanente Vergleiche, die von den Beforschten selbst ins Spiel gebracht werden, zeigen sich in Vergleichen der Jungen miteinander, vor allem auf der Ebene sportlicher Leistungen; dabei scheinen die tatsächlichen Leistungsdifferenzen in der Peergruppe eher nicht wahrgenommen zu werden, das entspricht der Peerforschung, die darauf hinweist, dass die Peerkommunikation darauf abstellt, „habituelle Übereinstimmung zu diesem Thema herzustellen und mögliche Konfliktpotenziale zu beseitigen“ (Zschach 2008: 290). Zum anderen vergleichen sich die Jungen in Abgrenzung zu Erwachsenen, zum einen gegenüber ihren Eltern, zum anderen gegenüber der jetzigen Lehrerin, die sie mit ihrer früheren Lehrerin vergleichen. Dabei wird deutlich, dass einzelne Kinder an Gesprächen ihrer Eltern mit der früheren Lehrerin teilgenommen haben, während dies in der Praxis der jetzigen Lehrkaft nicht mehr der Fall zu sein scheint. Dass die Jungen diese innergenerationalen Differenzen unter den Älteren wahrnehmen, wird implizit zum Thema, wenn Momente der Macht sichtbar werden (s. u.) – möglicher Weise ein Motiv für die defensive Ausrichtung der Gruppenorientierung. Fallinterne Vergleiche interessieren vor allem in Bezug auf die unterschiedlichen Passagen der Gruppendiskussion im Vergleich zueinander. Dabei ist augenfällig, dass die Jungen auf die wiederholte Themeninitiierung unterschiedlich reagieren: In ihrer ersten Reaktion thematisieren sie rituell dichotome Gegenüberstellungen positiver und negativer Erfahrungen mit Schule und Unterricht; in ihrer zweiten Reaktion sprechen sie von Erfahrungen und Gefühlen in Hinsicht auf die Gespräche zwischen den Erwachsenen. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Kinder die Fragen des Forschers im doppelten Diskurs der Gruppendiskussion als schulische Aufgabe interpretieren, die sie wie alle anderen schulischen Aufgaben irgendwie lösen müssen. Die auftauchenden Fingerzeichen des Meldens weisen darauf hin, ebenso Leons Frage „solln wir das sagen“, sodass die Enaktierung der rituellen Sprecherfolge ebenfalls als Reaktion darauf verstanden werden kann. Das gemeinsame, handlungsleitende Wissen der Gruppe „Puppen“ muss als habitualisierter Bewältigungsversuch verstanden werden, denn die Gespräche zwischen Eltern und Lehrerin werden von den vier Jungen als gemeinsamer Erfahrungsraum einer mehr oder weniger großen emotionalen Belastung geteilt, die gemeinsame Bewältigung beschränkt sich auf Regelbefolgung, wie propositional und performativ sichtbar wird. Der Erwartungshorizont wird einem Minimalkonsens festgestellt, der in regelhaften Verneinungen zusammengefasst
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ist: Die Jungen wollen bezüglich des schulischen Lernens „nichts Böses“ und nicht „nicht so gute Sachen“ über sich hören. Der Wunsch nach ordnenden, schützenden Regeln ist der positive Horizont dieser Orientierung, er zeigt sich sowohl in den Äußerungen der Jungen als auch in der regelgemäßen Performanz einer immer wieder hergestellten Sitz- und Sprecherordnung, die gleichzeitig die Rangfolge der Peergruppe bestätigt. Der nur schwach entwickelte ideale Gegenhorizont ist der einer partizipativen Berücksichtigung durch die Erwachsenen, durch die die Begegnungen zwischen Lehrkraft und Eltern für die Jungen berechenbarer werden könnten. Der negative Horizont emotionaler Beeinträchtigungen steht vermutlich in Korrespondenz zu einem negativen Gegenhorizont, in dem das Gefühl einer Bedrohung durch das Handeln Erwachsener zentral ist, wie die ‚Offenbarung‘ des Peers in der dritten Passage zeigt. Zu fragen ist, ob die Jungen Momente der Macht erleben, die sie ohnmächtig zurücklassen, wenn sie durch „Nachrichten“ der Lehrerin an die Eltern, vielleicht auch durch einen Konflikt zwischen den Erwachsenen, über die schulische Leistungsbewertung hinaus gradiert werden (zum Begriff der Macht s. o. Abschnitt 4.2.1; vgl. Bohnsack 2017a: 273 f). Tab. 6.1 Orientierungen der Gruppe „Puppe“
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Puppen“ kann in die Gegenstandskonzeption dieser Studie (s. o. Abschnitt 4.3) eingebracht werden, um ihn als Orientierung im weiteren Sinne in den Erfahrungsräumen der Peers und der Schule zu differenzieren (s. Tab. 6.1). Die organisationsbedingte Dopplung der Erfahrungsräume spiegelt sich in der Dopplung der performatorischen Elemente, die als Bewältigungsversuche zu gelten haben. Das Aufrufen von Sitzordnung und Sprecherfolge sind Merkmale eines habitualisierten Umgangs, durch die die schulische Ordnung aufgerufen wird, eine sehr defensive Form der Beteiligung, Regelbefolgung inclusive Selbstdisziplinierung. „Die Regeln, die den Schulalltag strukturieren (sollen), sind in beträchtlichem Umfang nicht klar definiert und fixiert“ (Kalthoff/Kelle 2000: 707), daher handelt es sich um ein eher hilfloses Beschwören dieser Ordnung, sodass der Orientierungsrahmen vermutlich inkonsistent bleibt, denn die gemeinsamen Erwartungshorizonte sind brüchig, sie werden sich im Prozess der weitergehenden Habitusbildung verändern.
6.3 Die Mädchen-Gruppe „Räder“ in der Grundschule Feuerberg Die Gruppendiskussion der Gruppe „Räder“ wird im Folgenden in denselben Schritten dargestellt wie die der Gruppe „Puppen“. Sie stammt aus der Nachbarklasse zur Klasse der Gruppe „Puppen“, der 3c, an der Grundschule Feuerberg, in der drei Gruppendiskussionen zustande kamen. Sie war die einzige, die unbeeinflusst blieb durch besondere Umstände oder Entscheidungen der Lehrkraft. Eine andere Gruppe wurde in ihrer Zusammensetzung weitreichend verändert, die dritte, gemischtgeschlechtliche Gruppe diskutierte in einem Raum, der nicht abgeschirmt und häufigen Störungen ausgesetzt war. Das hinderte die Kinder in diesen Gruppen nicht am Gespräch, unterbrach und veränderte aber dessen Ablauf und Inhalte. So wurde in der einen Gruppe deren Zusammensetzung selbst zum Thema des Gesprächs, in der anderen wurden Gesprächssequenzen durch Störungen verändert oder beendet. Hintergrund dieser Einflüsse war der Zeitdruck, der entstand: Geplante Termine konnten nicht realisiert werden, die Durchführung der fünf vorgesehenen Gruppendiskussionen wurde, nachdem die Kinder ihre Peerwahlen getätigt und Zusagen erhalten hatten, auf vier Tage befristet. Die Diskussion der Gruppe „Räder“ war die erste und einzige dieser Klasse, die nicht unter Zeitdruck und dem Einfluss von Veränderungen stattfand. Die Gruppendiskussion dauert insgesamt 41 Minuten. Sie findet in einem Förderraum der Schule statt. Die Mädchen Lya, Lena, Sophie, Ada und Nena sitzen zu fünft um einen kleinen Tisch, je eine auf einem Schulstuhl im Drei-
6.3 Die Mädchen-Gruppe „Räder“ in der Grundschule Feuerberg
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viertelkreis, dessen Öffnung der Kamera vorbehalten ist. Rundherum stehen Gruppentische mit Stühlen und Regale mit Unterrichtsmaterialien. Die Sitzordnung wurde von den Mädchen festgelegt und nach der Stellung der Kamera verändert. Der Forscher sitzt – von der Kamera gesehen – auf der rechten Seite neben einem Mädchen, das er anfangs verdeckt, ebenfalls auf einem Schulstuhl. Auf dem kleinen Tisch steht das Mikrofon.
6.3.1 Eingangspassage Der Forscher eröffnet das Gespräch mit der Feststellung „Es ist ja so“ und lässt die Vermutung folgen, dass die Eltern der Mädchen mit der Lehrerin der Klasse sprechen, schränkt aber unmittelbar danach ein „das weiß ich gar nicht“, bezogen darauf, ob nicht „andere aus eurer Familie“ das auch tun. Dem lässt er die Nennung unterschiedlicher Kontaktmöglichkeiten zwischen Eltern und Lehrerin folgen: „unterhalten“, „treffen“, „telefonieren“, „besucht“, letzteres mit der Einschränkung, das geschehe nur selten, dann wiederholt er sie noch einmal. Er formuliert „ich möchte von euch wissen, was habt ihr da eigentlich schon so erlebt“ und richtet damit unter den Bedingungen des generationalen Gefälles eine direkte Aufforderung an die Mädchen. Seine impliziten Erwartungen begründet er damit, dass die Mädchen „schon fast am Ende der dritten Klasse“ seien und daher über entsprechende Erfahrungen verfügen müssten. Zwei Mädchen bestätigen, sie seien im „zweiten Halbjahr“. Abschließend fragt der Forscher, „wer hätte Lust mal loszulegen“, bringt also mit der Frage eine mögliche Zuschreibung im Kontext von „Lust“ ins Spiel. Sophie reagiert sehr defensiv „Ich weiß nichts“, ein weiteres mit der Anwendung der schulischen Melderegel. Die Mädchen fühlen sich als Schülerinnen angesprochen, möglicherweise auch vom propositionalen Gehalt der Forscher-Äußerungen, der mit der Betonung möglicher Kontaktformen gegeben ist. Zunächst reagiert er auf eine Geste des Mädchens Lena und erläutert, sie brauche sich nicht zu melden, die Gruppe könne sich unterhalten, als sei sie in einem Café oder bei einem bekannten Fastfood-Anbieter. Damit stößt er auf Gegenrede von Sophie, so dass als dritter und akzeptierter Vergleich ein Ausflugslokal in der Nähe der Schule zur Anwendung kommt. Im nächsten Schritt fragt Lena, ob sie flüstern sollten, damit spricht sie ein möglicherweise erwünschtes Verhalten in einer Unterrichtssituation an, möglicherweise aber auch den Umgang mit dem Mikrofon, das vor ihr auf dem Tisch steht. Darauf folgen erste proponierende Erzählansätze der Mädchen, die vom Forscher teilweise paraphrasiert werden und erste sebstständige Themenwechsel beinhalten (GD „Räder“, Eingangspassage, Transkript 1, 44–80).
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Nachdem die erste Phase der Kontaktaufnahme abgeschlossen ist, stellen die drei Mädchen Lena, Sophie und Nena unterschiedliche Narrationen zu Telefongesprächen zwischen Lehrerin und Müttern sowie zum Elternsprechtag vor. Sie stimmen darin überein, dass ihre emotionalen Reaktionen im ersten Moment negativ sind. Die Mitschülerin Nena berichtet, dass sie mit ihrer Mutter auf den Elternsprechtag gehe, um zu wissen, was sie falsch mache, und dass sie Bauchschmerzen bekomme, weil sie Angst habe. Damit entwickeln die Kinder eine erste Proposition, die sich auf den propositionalen Gehalt des Eingangsimpuls’ bezieht, ohne dass die Aussagen der Mädchen damit von vornherein evoziert worden wären. Die Paraphrasen und Rückfragen des Forschers wirken
6.3 Die Mädchen-Gruppe „Räder“ in der Grundschule Feuerberg
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nicht unbedingt verstärkend, sie scheinen von den Mädchen eher wie (Lehrer-) Korrekturen aufgefasst zu werden, sodass sie ihre Aussagen differenzieren. Die Proposition bezieht sich explizit auf unterschiedlich starkes emotionales Stresserleben und die damit verbundene Vorstellung von schlechten Zensuren bzw. Fehlern, seltener von positiven Handlungen, die sie mit der Schule verbinden. Als erster Horizont wird aber auch das Interesse sichtbar, von Seiten der Lehrerin zu erfahren, was man falsch gemacht habe, verbunden mit der Darstellung einer engen familiären Bindung, die sich auf eine Schwester oder die Mutter bezieht: „dann üben wir was wir falsch gemacht haben mit Mama“. Auf weitere gezielte Nachfragen des Forschers berichtet Ada, dass sie keine Angst habe, weil die Lehrerin immer etwas Gutes sage; demgegenüber betonen Sophie und Lya ihre Angst. Sophie erzählt, dass sie sich ihr Fahrrad schnappe und damit umherfahre, Lya spricht mit ihrer Mutter und sie üben, vor allem für Mathe. Ada und Lena gehen nicht auf den Elternsprechtag. Aus dieser Eingangspassage entwickelt sich zunächst ein Gespräch zwischen Mädchen und Forscher, das eher als Gruppeninterview geführt wird, im weiteren Verlauf kommt es dann zu selbstläufigen Passagen.
6.3.2 Themenverlauf Die Mädchen wechseln das Thema und sprechen über die unterschiedlichen Fächer, denen sie ein unterschiedliches Maß an Sympathien bzw. Antipathien entgegenbringen. Vor allem das Fach Englisch steht in der Diskussion. Jedes Mädchen äußert Vorlieben und Abneigungen, die sie in Beziehung zu ihren Leistungen in den einzelnen Fächern setzen. Sophie formuliert: „Aber im Lesen ääääh bin ich noch (.) klein“; dabei führt sie ihre rechte Hand in einem großen Bogen links neben sich auf den Boden und hält bei dem Wort „klein“ vielleicht einen halben Meter über dem Boden an. Damit visualisiert sie in einem Aktionismus ihre Sichtweise, dass schulische Leistungen und Körpergröße zusammengehören. Die Schülerin Lena erläutert mit der Hilfe ihrer Mitschülerinnen das System von Löwen-Smileys für Nachrichten der Lehrerin Frau Hector an die Eltern zum Fach Englisch: „ein fröhlicher Leo ein mittlerer Leo und ein trauriger Leo und da kreuzt sie immer an“. Ihre Eltern würden darauf reagieren, indem sie mit ihr für einen Englisch-Test üben. Dabei führt Lena aus: „Mama kümmert sich gut um die Schulsachen“. Ada berichtet, sie habe sich in Englisch verbessert, nachdem ihre Mutter mit Frau Hector gesprochen habe; auf die Frage des Forschers, wie sie das „hingekriegt“ habe, reagiert Ada mit Schulterzucken, und Nena fragt den Forscher mit verschränkten Armen: „Weil sie vielleicht Spaß hat?“
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Sophie berichtet von ihren Schwierigkeiten im Fach Deutsch, vor allem im Lesen. Dabei lehnt sie sich weit nach hinten und lässt den Kopf nach hinten hängen. Lena wirkt überrascht und fragt „Wieso“. Sophie antwortet: „Ich seh‘ jedes Buchstaben (.) jeden Buchstaben einzeln“. Lena schaut weiterhin fragendskeptisch und erklärt, sie habe gedacht, Sophie könne nicht Deutsch sprechen. Ada knüpft einen kurzen Bericht daran, dass sie erst lernen musste, dass es im Fach Deutsch nicht nur darum gehe, Deutsch zu reden, sondern auch um „Nomen, Verben, Adjektive.“ Der Forscher fragt noch einmal nach den emotionalen Wahrnehmungen der Kinder: „Wieso haben manche Kinder Angst und manche sagen nee die reden ja sowieso nur Gutes“. Die Mädchen erläutern ihre Sicht. Lena meint „die sprechen fast nie über was Schlechtes“. Sophie ergänzt, „wenn was schlecht ist dann sagt sie [die Lehrerin – KS] ihr müsst noch üben, aber sonst ist alles gut“. Nena führt aus: „Wenn ich bei Elternsprechtag oder so bin hab ich eigentlich keine Angst aber das hat so ein Gefühl dass ich Angst habe“ und berichtet genauer „danach sagt Frau Hector erst die guten Sachen, danach sagt sie sie muss ein bisschen lesen üben und meine Rechtschreibung ist eigentlich nicht so gut“. Damit setzen die befragten Schülerinnen ihre Gefühle, die sie als hochgradig ambivalent beschreiben, in Bezug zu den Bewertungen ihrer Lehrerin auf dem Elternsprechtag, auf dem nicht über „Schlechtes“ gesprochen wird, aber über schulische Aufgaben und Themen, die zu „üben“ sind. Zwischendurch diskutieren die fünf Mädchen, ob und für wen Frau Hector die „liebste Lehrerin“ sei. Dann spricht Ada von sich aus die Halbjahreszeugnisse an: „Da hatten wir so Sterne eins war schlecht zwei war du musst das noch üben drei war schon gut und und vier ganz gut“. Im Folgenden wird dem Forscher von vier der fünf Mädchen ausführlich erläutert, wie viele Sterne es für welche Zensur gab und wie sie auf den Zeugnissen auftauchten. Anschließend fragt der Forscher, ob die Mädchen miteinander über ihre Eltern und die Lehrerin sprechen. Die Mädchen bejahen die Frage und erzählen, dass sie über die Lehrerin sprechen, aber nicht über ihre Eltern, mit wem sie darüber reden, wo sie sich auf dem Schulhof treffen und welche Spiele sie dort spielen. Der Forscher schließt daran an und erläutert der Kindergruppe, er werde sich beiseite setzen, damit sie sich wie bei den Sitzbänken Geschichten erzählen könnten, was sie mit ihren Eltern und der Lehrerin erlebt haben. Dann schließt er eine Frage unmittelbar an: „Wart ihr auch schon mal auf Klassenfahrt oder so?“ Die Mädchen reagieren zustimmend und klären, wohin ihre nächste Klassenfahrt gehen wird. Dann wechselt Sophie das Thema und berichtet ausführlich von einem Besuch beim Jugendamt mit ihrer Mutter, bei dem es um ihre weitere Leseförderung ging. Danach kehren die Mädchen zum Thema Klassenfahrt zurück und
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berichten ausführlich über ihre Erfahrungen; diesem langen, selbstläufigen Diskurs sind die beiden ausgewählten Passagen der Gruppendiskussion entnommen. Weitere Themen aus dem Kontext der Klassenfahrt sind die Aufführung eines Theaterstücks, der außerordentliche Hunger vieler Mädchen und der Konsum von Süßwaren, das Heimweh einer Mitschülerin und das Frühstück, für das alle in der Gruppe schwärmen; außerdem habe man besondere Liegestühle genutzt, sei auf Wanderung gewesen, auf der man Schlangeneier gefunden habe und „plitschnass“ geworden sei; eines der Mädchen berichtet von dem Kontakt zu zwei Jungen, ein anderes von der Verletzung einer Mitschülerin, abschließend diskutiert die Gruppe, ob die nächste Klassenfahrt fünf Tage dauern werde. Im Anschluss daran tauschen sich die Mädchen über unterschiedliche Erlebnisse in den Schulferien aus. Dann beginnt die Phase der exmanenten Nachfragen, und zwar mit der Frage, wer mit der Lehrerin spreche, es sind bis auf eine Ausnahme die Mütter. Die nächste Frage „Worüber reden die“ wird mit Hinweisen auf „Hausaufgaben“, „Arbeiten“ und „wie wir arbeiten“ beantwortet. Die dritte Frage lautet „Möchtet ihr eigentlich dabei sein wenn die sich unterhalten oder nicht?“ und wird überwiegend mit einem spontanen „Ja“ beantwortet, Ada differenziert „manchmal“, da ihr „langweilig“ werde, und Lena führt aus „Also ich glaube ich muss nicht so oft dabei sein denn oft sagt die was Gutes“. Die Frage nach Hausbesuchen wird einhellig mit Nein beantwortet. Zur abschließenden Frage nach dem Elternabend äußern die Mädchen, dass dort über die Klassenfahrt gesprochen werde. Dann berichten zwei der Mädchen, dass ihre Eltern ihn nicht besuchen, da sie „nicht so gut Deutsch“ könnten. Lena äußert, sie würde gern einmal einen Elternabend besuchen, aber Lya widerspricht, der sei zu spät für Kinder.
6.3.3 Ausgewählte Passagen Die Auswahl der folgenden Passagen richtet sich nach ihrer Selbstläufigkeit und metaphorischen Dichte, auch wenn sie sich thematisch nicht unmittelbar auf die Eingangspassage und damit auf die Begegnungen zwischen Eltern und Lehrkraft beziehen, sondern deren zeitweise Supendierung als relevante Einflussgrößen im Kinderleben sichtbar machen (s. u.). Die Passagen stammen aus demselben selbstläufigen Teil der Gruppendiskussion, der länger als zehn Minuten dauert. Dieser Teil schließt nicht an die Eingangspassage an, sondern thematisiert die vergangene und die zukünftige Klassenfahrt der Klasse. Die erste Passage wird von einer Schülerin emotional bezogen eröffnet, dem ging eine Themeninitiierung des Forschers mit propositionalem Gehalt voraus.
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Die Frage zum Thema hatte er kurz zuvor gestellt, sie war damit beantwortet worden, dass die Klasse schon einmal zusammen auf Klassenfahrt gewesen sei; darauf beziehen sich offenbar die individuellen und gemeinsamen Erinnerungen der Schülerinnen, die in der Passage thematisiert werden. Dann hatte Sophie von ihrem Besuch im Jugendamt mit ihrer Mutter berichtet (GD „Räder“, Passage 1, Transkript 2, 1–46).
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Jetzt kehrt die Schülerin Ada zum Thema Klassenfahrt zurück und formuliert eine Proposition, die durch ihre persönliche Perspektive geprägt und als Frage formuliert wird. Offenbar hat sie Andeutungen der Lehrkraft in Bezug auf das Ziel der nächsten Klassenfahrt, den „Alfsee“, und die Filmfigur des „Alf“ nicht dekodieren können, auch ihre Mitschülerinnen konnten es nicht. Dies kann so verstanden werden, dass die Lehrkraft einen höheren Bekanntheitsgrad der TV-Serie und einen gemeinsamen Medienkonsum unterstellt, den die jüngere Generation so nicht mehr praktiziert. Die Differenzierung des Medienangebots macht die geteilte Rezeption einer TV-Serie sehr viel unwahrscheinlicher als 20 oder 30 Jahren zuvor (vgl. Feierabend/Plankenhorn/Rathgeb 2015). Ihre Irritation über die Äußerungen der Lehrkraft verbindet die Schülerin Ada mit der emotionalen Thematik einer Angst vor der Klassenfahrt. Allerdings macht diese Äußerung die Proposition für die anderen Mädchen der Gruppe nicht ohne weiteres teilbar. Lenas Erwiderung in Form einer kurzen Erzählung wirkt im ersten Moment oppositionell, da sie die Proposition nicht zu elaborieren scheint, sondern eine andere Geschichte erzählt; zudem stellt sie vorher fest „weiß ich auch nicht“. Das Thema dahinter ist aber ein gemeinsames, das als „ein erstes Anreißen eines Horizontes“ initiiert und dann gemeinsam weiterentwickelt wird (siehe Przyborski 2004: 64). Die beiden Mädchen Lena und Sophie elaborieren, dass sie auf einer Klassenfahrt mit anderen Mädchen in einem Bett gelegen haben. Dies benennen sie unterschiedlich: Lena ist mit einem der anwesenden Mädchen ins Bett „gekrabbelt“, Sophie „musste“ zu einem anderen Mädchen ins Bett „gehen“. Lenas Verwendung des Verbs „krabbeln“ könnte als Hinweis auf eine regressive Tendenz ihrer Wahrnehmung und ihres Verhaltens interpretiert werden; Regression wäre hier zu denken als „chronische[..] bzw. vorübergehende[…] Abschwächung des Einflusses höherer Funktionen wie Denken, Planen, Zielorientierung und Selbstwahrnehmung auf das Erleben und Verhalten“ (Kuhl 2010: 228).
Sowohl Adas Hinweis auf ihre Angst als auch Lenas Formulierung lassen vermuten, dass sie die Klassenfahrt als emotionale Belastung und Krise erleben. Diese Krise kann zum einen die spannungsreichen Aushandlungsprozesse der Kinder meinen, die sich auf einer Klassenfahrt intensivieren (vgl. Krappmann/ Oswald 1985: 84; Kase 2002), zum anderen die Suspendierung familiarer, aber auch schulischer Erziehungsregeln, Riten und Rituale, deren Aufrechterhaltung
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Kindern Orientierung in ihrem Aufwachsen geben (vgl. Ecarius 2007: 148; Audehm/Wulf/Zirfas 2007: 424, 431)4. Da Ada noch einmal Angst und Verunsicherung aufruft, muss der Diskursmodus als antithetischer verstanden werden, Sophie und Lena rufen Möglichkeiten auf, die Krise durch Zusammenrücken, Zusammenhalten oder Helfen zu bewältigen, später kommt auch der Genuss von Süßigkeiten hinzu. Gegenseitiges Helfen und ähnliche Formen der Zuwendung beinhalten aber die Aufgabe, dessen inhärente Asymmetrie zu bearbeiten: Wer hilft? Wer lässt sich helfen? (vgl. Wagener 2014: 191). Die beiden Mädchen versuchen die Asymmetrie in unterschiedlicher Weise aufzulösen: Lena formuliert die Gleichrangigkeit des gemeinsamen „Krabbelns“, Sophie betont, dass sie gezwungen war, es zu tun. Damit ist die Asymmetrie aber noch nicht abgearbeitet. Lena und Sophie thematisieren im Folgenden den Übergang in den Schlaf. Für die Mädchen spielt es eine Rolle, dass sie später einschlafen als die Gleichaltrigen, vielleicht auch gar nicht. Entsprechende Hinweise mit der sinngemäßen Aussage ‚ich habe dich schlafen sehen‘ formulieren die beiden Mädchen immer wieder. Möglicherweise geht mit dieser Homologie eine Verschiebung der eigenen Position hin zu einem ‚Erwachsener-sein‘ einher, denn der Übergang in den Schlaf ist eine der entscheidenden zeitlichen Grenzziehungen zwischen den Generationen in den Familien und ganz unterschiedlich rituell gestaltet (vgl. Wehr 2009: 224; Morgenthaler 2010: 183). Er kann als besonderes Krisenmoment einer Klassenfahrt verstanden werden, dessen Lösung besonders dringlich ist. Andererseits verweisen die Protagonistinnen sowohl hier als auch an anderen Stellen immer wieder auf Erlebnisse, die nachts auf der Klassenfahrt stattfinden, Lena berichtet vom Zähneputzen um Mitternacht, Sophie vom Konsum von Süßigkeiten, später kommen nächtliche Streifzüge und gegenseitige Besuche hinzu – aus Sicht der Mädchen eine Steigerung der Nicht-Ordnung, Unabhängig davon, aus welchen Motiven heraus sie die jeweiligen Aktionen betreiben, dokumentiert sich hier ein weiteres Moment der Bewältigung: Die Suspendierung der familiaren, aber auch der schulischen Ordnung wird zur Gelegenheit für autonome kindliche Umdeutungen. Dieses Terrain kindlicher Eigenständigkeit wird entwickelt: Sophie skizziert performatorisch im Dialog mit Lena und unter Einbeziehung anderer anwesender Mädchen das flüchtige Bild eines unbekümmerten Mädchens, das trotz aller „Widrigkeiten“ – einer kalten Dusche, fern von Zuhause und mit E inschlafproblemen – unter der Dusche steht und singt. Das gemeinsame 4Überraschender
Weise gibt es keine aktuellen Forschungsergebnisse zu Klassenfahrten als Gelegenheiten des sozialen Lernens oder der Ablösung vom Elternhaus aus den letzten 30 Jahren, weder für die Primar- noch für die Sekundarstufe; diese Forschungslücke beklagt Kase (2002: 14) bereits vor 17 Jahren.
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Lachen aller Mädchen verarbeitet die Situation und schließt die Entwicklung der gemeinsamen Orientierung ab, die um dieses Bild kindlicher Eigenständigkeit gelagert ist. Sie thematisiert die emotionale Belastung der Klassenfahrt, stellt aber eine Perspektive zu ihrer Bewältigung zur Verfügung – den selbstständigen Umgang mit den Möglichkeiten. In den folgenden Elaborationen exemplifizieren die Mädchen sowohl These als auch Antithese erneut, insbesondere im Hinblick auf die nächste Klassenfahrt, die fünf Tage dauern soll: Am Beispiel der nicht anwesenden Mitschülerin Jasmin wird die Spannweite zwischen Tränen und Einschlafschwierigkeiten einerseits, Keksen und Trost andererseits antithetisch sichtbar gemacht, die Orientierung ruft weitere Möglichkeiten außerfamiliarer, autonomieorientierter Gestaltungen auf, z. B. ein Theaterspiel, z. B. die Aussichten auf ein Frühstück, für das die Mädchen schwärmen, nach überstandener Nacht; hier wird das Frühstück auch Ersatz für das fehlende familiare Tischritual (vgl. Audehm/Wulf/Zirfas 2007: 433 f). Anhand einer Geschichte über den Kontakt zu einem Jungen entwickelt Lena eine neue Proposition zur Orientierung, die in den folgenden Sequenzen parallel bearbeitet wird. Dabei wird die Bewegungsform „Laufen“ als narrative Anknüpfung gewählt5. Die Proposition stellt das eigenständige Moment zentral und formuliert die Chance eines Kontakts zwischen Mädchen und Jungen und seiner Gestaltung, bevor Berichte zur erzwungenen Immobilität einer Mitschülerin das Thema wenden: Lena schildert ihren Umgang mit einem Jungen, Sophie erinnert sich an Vorlesegeschichten im „Jungszimmer“, die dann aufgrund der Verletzung einer Mitschülerin in deren Zimmer stattfinden; deren Versorgung durch die Mitschülerinnen wird breit beschrieben; danach greift Lena ihre Proposition noch einmal auf, berichtet von ihrem Kontakt zu einem anderen Jungen und dessen „Horrorgeschichten“, den sie kurzerhand damit regelt, dass sie dessen Geschichten den Boden entzieht. Nena und Sophie steigern den Gehalt, indem sie ihr Interesse an „Horrorgeschichten“ ver5Wie
bereits im Fall des „Schweineöhrchen“-Gebäcks, das im Kontext einer Bemerkung des Forschers auftauchte und für die Gruppe „Puppen“ eine Rolle in ihrer Abgrenzung gegenüber (dem) Erwachsenen spielte (s. o.), ist auch hier auffällig, wie die Kinder ihre Darstellungen eigensinnig zu konstruieren bzw. zu evozieren scheinen; an dieser Stelle möchte man fast eine bewusst hergestellte Kombinatorik rund ums Laufen annehmen, die ein Kaleidoskop von Assoziationen zwischen dem neugierigen „Hinterherlaufen“, dem beschwerlichen „Humpeln“ und dem statischen „Nicht-laufen-können“ sichtbar macht, und das in der für die kindliche Autonomie hoch relevanten Bewegungsform „Laufen (können)“; es wäre entsprechend zu fragen, wie Kinder die Performanz ihrer Erzählungen und Beschreibungen herstellen, ob und inwieweit sie der Trennung von zielgerichteter Prosa und erregter Poesie (vgl. Ziesmer 2011: 73) folgen und wie ihre Performativität damit detaillierter aufgeschlüsselt werden könnte.
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öffentlichen. Damit wäre eine neuerliche Orientierung auf eigenständige Gestaltungschancen der Klassenfahrt gegeben und deutlich erweitert, wenn auch deutlich abgegrenzt gegenüber den Autonomieeinschränkungen durch ein Handikap; aber dies ist letztlich nicht als geteilte Rahmung für die gesamte Mädchengruppe sichtbar. In einer weiteren Passage wird die Orientierung homolog an einem anderen Thema neu entwickelt (GD „Räder“, Passage 2, Transkript 2, 253–291):
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Das Mädchen Jasmin, das nicht an der Gruppendiskussion teilnimmt, steht stellvertretend für die Bewältigung aller Schwierigkeiten dieser Klassenfahrt, sie taucht zum wiederholten Mal in den Schilderungen der Mädchen auf und wird damit zu einer Symbolfigur. Sophie erinnert an die Aufgabe „mit dem Übernachten“, Nena an eine andere Mitschülerin, die Angst hatte, Lena als eine Protagonistin eigenständiger Krisenbewältigung spricht von ihrer Angst zu Hause und verallgemeinert damit das Problem emotionaler Belastungen, markiert aber gleichzeitig die Grenze gemeinsamer Orientierung auf den Erfahrungsraum „Klassenfahrt“. Dass sie es gerade hier tut, muss im Zusammenhang mit ihrer vorgehenden transitorischen Äußerung „Ach ja Leute“ mit dem über Klassenfahrt und Gruppendiskussion hinausgehenden Horizont fortgesetzter Herausforderungen und Belastungen verstanden werden. Die Körpersprache der Akteurinnen ist, ohne sie hier in ihrem performativen Gehalt näher interpretieren zu können, analog, man kann von einem Fokussierungsakt sprechen. Lena deutet mit ihrer Äußerung über den Horizont der gemeinsamen Orientierung hinaus – dass es individuelle Ängste gibt, die nicht durch kollektive Aktionismen bewältigt werden können. Ada und Sophie rufen demgegenüber noch einmal diesen Horizont gemeinsamer kindlicher Aktivitäten auf, der sich als gemeinsame positive Orientierung auf den kindlichen Erlebnisraum einer „Pyjamaparty“ herstellt. Der konjunktive Charakter der Figur Jasmin und des damit verbundenen orientierenden Rahmens dokumentiert sich auch in der Exklusion Lyas, deren Unverständnis für die Leistung Jasmins und die Äußerungen Adas Folgen zeitigt: Ihr Versuch, die Krise des Übernachtens als individuelle Schwäche dieser Mitschülerin zu deuten, wird brüsk zurückgewiesen, zunächst in einer entwertenden Äußerung, dann in einer schlussendlichen Anschlusskonklusion noch einmal ganz deutlich: „alle haben geweint“. Damit ist die Krise als allgemeine und geteilte und nicht individuell verschuldete gekennzeichnet, selbst die generationalen Grenzen hin zu den Eltern werden in diesem Fall verwischt. An dieser Stelle muss, bevor der Orientierungsrahmen der Gruppe in seinen Horizonten und Potentialen entfaltet wird, nach der Stellung der älteren Generation, Lehrkräften und Eltern in den kindlichen Erzählungen und Beschreibungen gefragt werden. Die Eltern tauchen zunächst vermittelt über die emotionale Qualität „Heimweh“ und erst zum Schluss der Passage als Trauernde auf, die Lehrerinnen werden im Kontext der Klassenfahrt als rahmengebende Figuren beschrieben, die – im Hintergrund kindlicher Erlebnisse stehend – selbst Geheimnisse haben, z. B. das nächtliche Rauchen einer Lehrerin. Offenbar sind aus Sicht der Mädchen die eigenen Eltern von der Krise „Klassenfahrt“ ebenso betroffen und trauern angesichts der Trennung von ihren Kindern, während die Lehrkräfte als Garantinnen einer regelhaften Rahmung für die Aufgabe „Klassenfahrt“ wahrgenommen werden.
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6.3.4 Orientierungen Fallimmanente Vergleiche, die die Kindergruppe selbst vornimmt, werden sichtbar, wenn sie von Telefonanrufen der Lehrkraft bei den Eltern berichten. Sie vergleichen zwischen der eigenen Wahrnehmung ihres Verhaltens in der Schule und den dortigen normativen Erwartungen und gelangen ausschließlich zu einem eher negativen Ergebnis, bezogen auf ihr eigenes Verhalten. Eine weitere Dimension kindlicher Erfahrung im Kontext des schulischen Lernens entfaltet sich, wenn das Mädchen Sophie sagt, dass sie selbst in ihren Leseleistungen noch „klein“ sei und das gestisch herausstellt. Offenbar wird hier ein immanenter Vergleich zwischen der Leseleistung und dem körperlichen Entwicklungsstand vorgenommen, der die Frage aufwirft, ob die Kinder in dieser Hinsicht einen Erfahrungsraum teilen. Der Vergleich, den die Mädchen zwischen Lehrkräften und Eltern anstellen, ergibt deutliche Unterschiede: Die Lehrerinnen werden als Andere gesehen, die im Hintergrund der eigenen Erfahrungshorizonte agieren, die Eltern, vor allem die Mütter, sind demgegenüber selbst Betroffene, wenn betont wird „dann üben wir was wir falsch gemacht haben“ oder „alle haben geweint“. Schließlich werden in der gemeinsamen Darstellung der Gruppe zur abendlichen Hilfe-Struktur auf der Klassenfahrt die asymmetrischen Rollen des Helfens und implizit auch die Zeitpunkte des Einschlafens verglichen. Damit wird ein innergenerationaler, peerbezogener Vergleich vorgenommen, nach der, wer später einschläft, ‚größer‘ ist – der auch als Wettbewerb verstanden werden kann. Fallinterne Vergleiche aus der Perspektive des Forschers in Bezug auf die verschiedenen Passagen der Gruppendiskussion zeigen wiederholt Reaktionen der Mädchen, die schulbezogen verstanden werden können, etwa wenn es im Gespräch um die Geste schulischen Meldens geht. Darüber hinaus ist – in Antwort auf die oben gestellte Frage – eine Homologie zu identifizieren, die die Perspektiven der Schülerinnen auf die eigene Wachstum (wie es hier vorläufig genannt wird) mit den Rahmungen der Institution relationiert und einen Bezug zwischen schulischen Leistungen und körperlichem Entwicklungsstand herstellt; das tut z. B. Sophie zu Beginn der Gruppendiskussion, wenn sie feststellt „im Lesen äh bin ich noch klein“, und das wird in den Betonungen kindlicher Eigenständigkeit im Kontext der Klassenfahrt nachvollziehbar. Diese Perspektive lässt sich als Orientierung der Gruppe nicht nur zur Klassenfahrt herausstellen, nach der eine gelingende Bewältigung in enger Relation zum persönlichen Wachstum steht. Der Orientierungsrahmen der Gruppe entfaltet sich in erster Linie im Hinblick auf die von ihr berichtete Klassenfahrt, die die Trennung von den Eltern bzw. der Familie einerseits, das Zusammenleben mit den Mitschülerinnen
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und Lehrkräften andererseits einschließt. Zentral für diese Orientierung ist der Horizont der Bewältigung durch geteiltes Erleben, wie es sich in den peerbezogenen Hilfen, in den Schilderungen zum Übergang in die Schlafphase und zum Süßigkeitenkonsum dokumentiert; diesem Horizont entspricht der ideale, positive Gegenhorizont wachsender Eigenständigkeit, die sich in dem Bild des unter der Dusche singenden Mädchens dokumentiert. Diesen positiven stehen negative Horizonte gegenüber, die vor allem emotionale Belastungen und Ängste beinhalten, der Teilnahme an der Klassenfahrt nicht gewachsen zu sein, es nicht zu „schaffen“. Der negative Gegenhorizont, der in dieser Gruppe nicht angedeutet wird, ließe sich möglicherweise als Gefahr der Überwältigung durch Ohnmachtsgefühle angesichts der Trennung von den Eltern bzw. der Familie und den zu bewältigenden Aufgaben deuten. Dieses gemeinsame, handlungsleitenden Wissen der Gruppe wird von vier Mädchen geteilt, Lya ist nur in bestimmte Aspekte ihrer Orientierung einbezogen, gegen ihre Interpretation emotionaler Belastung als individuelles Versagen setzen die anderen Mädchen eine konjunktive Deutung gemeinsamer Bewältigung. Damit wird nicht nur der peerspezifische Horizont dieser Untersuchung validiert, sondern auch die Reproduktion konjunktiver Erfahrungsräume in der Peerpraxis sichtbar: Lya teilt den gemeinsamen Erfahrungsraum durchaus, sie ist maßgeblich an der Entwicklung einer gemeinsamen Konklusion der Gruppe beteiligt; aber ihr Versuch, ihn – mutmaßlich in Konkurrenz zu einem anderen Mädchen – zu ignorieren, zieht die Drohung exkludierender Sanktionen nach sich. Dieser Orientierungsrahmen der Gruppe „Räder“ kann in die Gegenstandskonzeption dieser Studie (s. o. Abschnitt 4.3) eingebracht werden, um ihn als Orientierung im weiteren Sinne in den Erfahrungsräumen der Peers und der Schule auszudifferenzieren (s. Tab. 6.2). Zunächst sind Elternsprechtag und Klassenfahrt als schulbezogene Rollenanforderungen zu sehen, vor allem die Klassenfahrt, da die Mädchen unter den Bedingungen einer Suspendierung der alltäglichen familiaren Ordnung und der gewohnten schulischen Routinen mit ihren Mitschülerinnen auskommen müssen; die Aushandlungen zwischen Egalitätsprinzip und faktischer Ungleichheit führen dazu, dass „das soziale Lernen unter Gleichaltrigen ein sehr viel anstrengenderer Prozeß ist, als die vorliegenden Berichte […] vermitteln“ (Krappmann/Oswald 1985: 94). Die Gruppe „Räder“ zeigt dabei eine implizite Orientierung, sowohl Klassenfahrt als auch Elternsprechtag als Aufgaben zu verstehen, die durch eine Art doppelter Bewältigung aufgelöst wird, gegenüber den Erwachsenen als eine Art Verstehensaufgabe wie bei Gesprächen zwischen Mutter und Lehrkraft, gegenüber und mit den Peers als Regulation des moralisch erforderlichen „Helfens“ in ambivalenter Zuwendung zur Mitschülerin mit dem Gestus des Älterseins verknüpft.
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Tab. 6.2 Orientierungen der Gruppe „Räder“
6.4 Die Jungen-Gruppe „Tiere“ in der WindeckGrundschule Die im Folgenden interpretierte Gruppendiskussion der Gruppe „Tiere“ wird nicht in denselben Schritten dargestellt wie die der Gruppe „Puppen“ und „Räder“, vielmehr werden in einer ergänzenden Bildinterpretation performative Elemente interpretiert, um die Orientierungen und Erwartungshorizonte der drei Jungen herauszuarbeiten. Die Gruppe ist eine von zweien in der Klasse 3a der Windeck-Grundschule, in ihr treffen sich drei Jungen aus einer Gruppe von sechsen, in der anderen Gruppe drei Mädchen aus zwei verschiedenen Peergruppen. Ihre hier interpretierte Diskussion wird nicht durch besondere Umstände beeinflusst und in ihrer Zusammensetzung nicht durch
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externe E ntscheidungen verändert, lediglich durch einen Krankheitsfall und fehlende Zustimmungen der Eltern, der Verlauf des Gesprächs bleibt ungestört. Im Unterschied dazu wird die Gruppe der drei Mädchen am Tag der Gruppendiskussion zufällig aus Mitgliedern zweier Peergruppen zusammengesetzt, zwischen denen es keinerlei Wahlen gegeben hatte, das Gespräch wird wiederholt durch SchülerInnen oder LehrerInnen unterbrochen, die den Raum betreten. Beide Gespräche finden im Theaterraum der Schule statt. Die Gruppendiskussion dauert insgesamt 23 Minuten. Die drei Jungen Mahmut, Paul und Mikail sitzen oder knien zu Beginn der Filmaufzeichnung auf einer mit Teppichboden ausgeschlagenen Bühne, zu der zwei mit Teppichboden bezogene Stufen führen. Sie bilden, nebeneinander sitzend, eine Linie, deren Mitte sich gegenüber der erhöhten Kamera befindet. Hinter ihnen befindet sich ein schwarzer Vorhang. Im Raum stehen, hinter der Kamera und im Blickfeld der Jungen, Bänke und Regale mit Requisiten und Musikmaterialien. Der Platz wurde von den Kindern gewählt, die Sitzordnung von ihnen realisiert, dabei achteten sie auf die Stellung der gleichzeitig aufgebauten Kamera. Paul sitzt in der Mitte, aus seiner Perspektive rechts neben ihm Mahmut, links neben ihm Mikail. Diese Sitzordnung wird sich nach 15 Minuten ändern: Nach einer Pause wird Mahmut die mittlere Position einnehmen, die er trotz einiger Versuche von Seiten Pauls, ihn zur Seite zu schieben, behaupten wird. Der Forscher sitzt, von den Jungen aus gesehen, rechts auf der unteren der beiden Stufen und lehnt sich auf die obere. Unmittelbar vor den Stufen der Bühne steht zwischen Kamera und Gruppe ein Hocker mit einem Mikrofon für die Audio-Aufnahme.
6.4.1 Eingangspassagen In diesem Fall werden zwei Eingangspassagen dokumentarisch interpretiert, da diese Gruppendiskussion einen anderen Verlauf nahm als die anderen. Die Filmaufnahme der Gruppendiskussion beginnt mit einer Nachfrage des Forschers und der Erzählung eines der Jungen über „tote Hasen“, die er initiiert und fortsetzt, bevor der Eingangsimpuls überhaupt gesetzt wird. Dabei ist das Wort „erlebt“, das nicht zur Satzaussage passt, möglicherweise einer vorhergehenden Frage des Forschers entnommen, die auf der Videoaufnahme nicht festgehalten ist (GD Tiere, Eingangspassage, Transkript 1, 1–30):
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Mahmut und Paul sprechen parallel von Beobachtungen aus dem Schulalltag, die sie in Form rudimentärer Beschreibungen von toten Tieren präsentieren, Mikail validiert die Erzählung. Mahmut und Paul beziehen sich während des Sprechens auf Trauer: Mahmut sagt „Voll traurig“, Paul hält die Hand vor seine Augen, während er gedehnt ausspricht „der arme Hase“, offensichtlich stellen sie performatorisch Trauer dar und damit Distanzierung, wie auch der plötzliche Themenwechsel beweist. Mahmut spricht unvermittelt von „Kirmes“, ohne Nennung von Ort und Zeit; daraufhin wird von den drei Jungen eine Beschreibung entwickelt, in der sie „Geisterbahn“ und „Autoscooter“ nennen und sich ansonsten darauf beschränken, mit Formeln wie „war nicht“, „auch nicht“, „ich schon“, „ich war“ das Ausmaß ihrer Beteiligung an einzelnen Aspekten des Ereignisses zu skizzieren. Paul agiert nach der Aussage „Geisterbahn“ mit
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dem Körper, äußert aber, er sei nicht „drauf“ gewesen; seine halblaute Aussage, er habe die Kirmes nicht besucht, wird von Mahmut kommentiert, indem er Geräusche erzeugt, die Lachen imitieren, und auf Paul zeigt. Dem folgt die Frage des Forschers, ob Mahmut die Kirmes mit seinen Eltern besucht habe; Mahmut reagiert mit dem Verweis auf eine „Freundin“; mit dem Nachsatz nimmt er eine Positionierung vor, die ihn als erfahren in den angesprochenen Angelegenheiten zeigen soll. Damit ist von den drei Jungen bereits vor dem Eingangsimpuls in ihren Erzählungen der Umriss einer Orientierung entwickelt worden. Dabei ist die Beteiligung der einzelnen Jungen unterschiedlich, Mikail beschränkt sich in der Sequenz über die toten Tiere auf ein zustimmendes Hörersignal, beteiligt sich aber am Gespräch über den Kirmesbesuch, Paul beteilligt sich an der Darstellung der Kirmes, obwohl er sie nicht besucht hat. Trotz dieser unterschiedlichen Beteiligung werden die Propositionen von allen drei Teilnehmern parallel elaboriert. Die von ihnen entwickelte Perspektive lässt sich dahingehend skizzieren, dass sie zum einen kleine Tiere, möglicherweise Haus- bzw. Kuscheltiere, in den Blick nehmen, zum anderen eine öffentliche Vergnügungsveranstaltung, deren Angebote liminoide Erfahrungen (s. o. Abschnit 3.3.1; 139) ermöglichen und die mit einer Freundin besucht wird. Das gemeinsame Moment dieser Interessen ist das des emotionalen Erlebens, daher lassen sich die kurzen Erzählungen als aufeinander bezogene Erwartungshorizonte interpretieren: Die Jungen wenden sich den Herausforderungen neuer, liminoider Spiele zu und trauern ‚spielerisch‘ um zerstörte, kleine Tiere. Diese Orientierung ist mit Risiken verbunden, die Abwendung und ihre Trauer wird ironisiert, die Hinwendung zu liminoiden Erfahrungen setzt irgendeine Form der Beteiligung voraus, die versagt werden könnte; insofern richtet sie sich auf eine jugendbezogene ‚Coolness‘ (vgl. Pfaff/Hoffmann/Hänert 2010: 178 f). Dann erst folgt die Kontaktaufnahme zum Anliegen des Forschers, eröffnet von Mikail, der fragt, ob die Kamera aufnehme. Die Bestätigung des Forschers führt zu einem Lächeln auf den Gesichtern der Jungen und einem leise gesprochenen „Scheiße“ Pauls. Der Forscher schließt den Eingangsimpuls an und macht dabei die propositionale Vorgabe „findet ihr das gut oder nicht so gut“. Die Jungen reagieren und wenden sich ihm zu, Paul formuliert „Ich find das langweilig“, woraufhin der Forscher fragt, was sie erlebt hätten, während Mahmut gleichzeitig zu sprechen beginnt (GD „Tiere“, Eingangspassage, Transkript 1, Z. 51–78).
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Mahmut beginnt eine Erzählung, in der er starke körperliche Reaktionen zur Sprache bringt, die er auf einem Elternsprechtag verortet und im Kontakt mit zwei Lehrerinnen erlebt hat; er benennt deren Gesprächspartnerin nur mit „sie“, im Kontext handelt es sich um seine Mutter. Der Junge äußert sich über eine Lehrerin abwertend und nutzt dafür die Gegenüberstellung von „schön“ und „alt“; in Bezug auf seine Klassenlehrerin nutzt er die Metapher des Aus-demFenster-Springens, die zwei Assoziationen auslösen kann, als Handlung zum einen in Bezug auf Selbstmord, zum anderen in Bezug auf eine Flucht aus einem versperrten Haus. Während dieser Erzählung Mahmuts artikuliert Paul Hörersignale im Anschluss an die Hörersignale des Forschers, Mikail lacht jeweils im Anschluss. Schließlich benutzt Paul das Hörersignal ein viertes Mal, dieses Mal aber nicht in Nachahmung, sondern in direkter Reaktion auf Mahmuts Aussage über ihre Mathematiklehrerin „die schreit nur und nervt nur und so“; Paul äußert das Hörersignal und betont, die Lehrerin „schreit“ und sei „unfair“; kurz darauf ruft er flüsternd seinen Vater gegenüber Mikail als ‚Zeugen‘ auf.
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Pauls Aktionen sind als Teilnahme am doppelten Diskurs dieser Gruppendiskussion zu verstehen, also als peer- und forscherbezogene Interaktion. Er zeigt Kompetenzen in der Antizipation und Gestaltung dieser außergewöhnlichen sozialen Situation, wenn er sich mit der Imitation des situationsmächtigen Erwachsenen vom Forscher absetzt und dessen Verhalten ironisiert, gleichzeitig stellt er sich gegenüber den Peers als handlungsmächtig dar und ruft implizit den Bezugsrahmen der ‚Coolness‘ auf. Dies kann auch als Verhalten im Rahmen einer Schülerrolle interpretiert werden, denn der Kontext ist schulisch geprägt, die Interaktion in der Nähe von Unterricht angesiedelt, der auch durch den doppelten Diskurs geprägt ist, der auf unterschiedlichen Bühnen stattfindet, deren Relationierung immer wieder neu ausgehandelt werden muss (Breidenstein 2006: 107 ff) Die hier rekonstruierte Situation ist darüber hinaus dadurch beeinflusst, dass die Gruppe auf einer realen Bühne sitzt, die ein deutliches Gefälle nach außen zum ‚Publikum‘, in diesem Fall Erwachsenen, hin aufweist. Damit bekommen die Interaktionen einen mehrfachen Sinn, hervorgerufen durch den mehrsinnigen Kontext einer quasi-schulischen Veranstaltung, einer Kameraaufzeichnung und der realen Bühne, sodass Pauls „Aufführen“ durchaus theatralisch und als „performance“ verstanden werden kann (vgl. Wulf/Zirfas 2007: 17). In den gesamten Interaktionen markiert Paul mit seinen Einlassungen nicht nur eine Distanzierung zum Forscher, sondern stellt sich gleich dreifach in generationale Beziehungen zu Erwachsenen, und das auf unterschiedlichen Zeitebenen: Er reagiert in der Gegenwart auf den Forscher mit distanzierender Imitation, bestätigt die Existenz eines Konflikts mit einer Lehrkraft in der Vergangenheit und ruft seinen Vater als ‚Zeugen‘ auf. Paul setzt sich also in einem konfliktbezogenen Kontext unter Berufung auf seinen Vater von den Erwachsenen im schulischen Kontext ab, sowohl vom Forscher in der aktuellen Situation als auch von der Lehrerin in vergangenen Unterrichtssituationen. Mikail wird zum Adressaten der Bemerkung Pauls, nachdem er Pauls Imitationen und Mahmuts Formulierung über ihre Lehrerin validiert hat, ansonsten beteiligt er sich im Vergleich zu den beiden andere Protagonisten wenig; im Dialog mit dem Forscher ist er eher passiv, im Kontakt zu den Peers aber durchaus aktiv, eine Rolle, in der er nur scheinbar weniger Einfluss als andere nimmt. Im Gegensatz dazu gestaltet Mahmut die Beziehung zum Forscher und zu den Peers aktiv, er berichtet expressiv von seinen Erfahrungen auf dem Elternsprechtag, spricht seine Peers an und lässt sich allem Anschein nach nicht irritieren, dabei thematisiert er ein wichtiges Anliegen, wenn er den Konflikt mit der Lehrerin anspricht. Hier zeigt sich auch der gemeinsame Horizont der drei Jungen als Ablehnung gegenüber einer Lehrkraft, möglicherweise auch gegenüber zwei Lehrkräften. Offensichtlich befinden sie sich in ihrer Klasse in einer konflikthaften Situation, die auch in die
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Gruppendiskussion hineinwirkt. Dabei ist eine dilemmatische Orientierung auszumachen, denn ein positiver Horizont ist nicht sichtbar, der negative verbleibt im Stresserleben und in der darauf bezogenen, aggressiven geschlechtsbezogenen Abwertung der Lehrerin als Frau. Ein positiver Gegenhorizont lässt sich am ehesten im Bereich einer genderspezifischen Orientierung vermuten, während der negative als grundlegende, vielleicht existenzbezogene Angst der Jungen vor der älteren Generation, isb. in der Schule, deutlicher wird. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Rekonstruktionen unterschiedliche Beteiligungen der Jungen am Diskurs mit dem Forscher sichtbar machen: Da ist die eher peerbezogene Teilnahme Mikails, die forscher- und peerbezogene Erzählweise Mahmuts und die ironisierend-distanzierende Bezugnahme Pauls auf den Forscher, sobald es um das Thema der Gruppendiskussion geht, zuvor hat er sich durchaus aktiv an Mahmuts Erzählung von den „toten Hasen“ beteiligt. Gleichzeitig verweisen die Äußerungen auf einen aktuellen Konflikt in der Klasse, über den die drei Jungen nicht explizit sprechen; er wird in unterschiedlichen Situationen der Gruppendiskussion berührt, die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern ist daher kaum thematisierbar. Der Doppelcharakter der Eingangsphase ist trotzdem deutlich sichtbar, gleichzeitig wird der Wechsel zum Diskurs der Beforschten hin markiert, wenn Paul mit seinem vierten Hörersignal aus der Nachahmung des Forschers in die spontane Zustimmung zur Schilderung des Mitschülers über den Konflikt mit der Lehrerin wechselt.
6.4.2 Themenverlauf Die performatorischen Elemente in der Gruppendiskussion der Gruppe „Tiere“ sind zahlreich, möglicherweise bedingt durch die im Vergleich zu anderen Gruppendiskussionen spezifisch gestaltete Räumlichkeit der Bühne im Theaterraum. Sie werden hier als „thematisch“ gesehen und zumindest ansatzweise einbezogen, da sie neben den sprachlich geäußerten Themen auch kommuniziert werden. Diese Berücksichtigung macht auch mit Blick auf die ergänzende Bildinterpretation Sinn, da sie den Kontext der berücksichtigten Bilder und der in ihnen dargestellten Gestik erhellt. Nach der Eingangspassage des Gesprächs kommt es zu körperbezogenen Kontakten zwischen Mahmut und Paul, bei denen sie gegenseitig am Arm des anderen ziehen, bis der Forscher unterbricht und darauf hinweist, dass er das Gespräch fortsetzen möchte. Während dieser Intervention legt sich Mikail auf den Bauch. Das Thema des Elternsprechtags wird weitergeführt, zwei der drei Jungen artikulieren Erzählungen. Mahmut stellt fest „die haben nur geredet“ und
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beschreibt, wie er sich vom Gespräch abwenden wollte. Paul ergänzt „das war auch so bei mir ich wollte nur raus und Mama die ganze Zeit das musst du dir anhören was du noch verbessern musst bla bla bla“; der Junge stellt dazu fest, dass die Erwachsenen „richtig schnell“ reden würden, so dass er „eh nix“ verstehe. Interesse wird nur für den schulleistungsbezogenen Notfall aufgebracht, denn „wenns schlimm ist interessierts mich mehr“. Mahmut ergänzt, dass er seine Mutter um ihr Handy gebeten habe, um während des Gesprächs zwischen ihr und der Lehrerin spielen zu können. Die Schilderungen der beiden sind möglicherweise als Erfahrungen der Nichtbeteiligung bzw. Überwältigung zu verstehen. Paul legt zwischendurch seinen rechten oder linken Ellenbogen auf eine Schulter von Mahmut oder Mikail. Diese Geste wird nur von diesem Jungen gezeigt und wird hier als ein Aktionismus vorgestellt, er findet keine Berücksichtigung in der Bildinterpretation, da er kein Verständnis des Kollektiven der Gruppe ermöglicht; er kann verallgemeinernd wie folgt beschrieben werden: Paul sitzt nah genug, um seinen linken oder rechten Ellenbogen einem der beiden Peers auf die Schulter zu legen; das tut er bei Mahmut sechsmal, bei Mikail dreimal. Die Zeitdauer, die der Ellenbogen auf der Schulter liegt, und die genauere Ausführung der aktionistischen Geste variieren. Die Reaktionen der Peers sind unterschiedlich. Eine reflektierende Interpretation dieser Gestik müsste ihre Sequenzialität in den Mittelpunkt stellen, da sie sich konstant durch die sozialen Interaktionen zieht; ihre Wiederholbarkeit wirft die Frage auf, inwieweit es sich um eine in diesem Kontext habitualisierende Geste handelt, dies müsste durch Auffinden derselben Geste in anderen Kontexten nachzuweisen sein. Tatsächlich ist sie in unterschiedlichen Bildern aus unterschiedlichen Quellen zu sehen, so etwa bei einer Internet-Recherche oder beim Durchsuchen des fotografischen Nachlasses des bekannten deutschen Fotografen August Sander6; die Suche in anderen Kontexten würde mit Sicherheit weitere Bilder zutage fördern. Das Gemeinsame aller Bilder dieser Geste einschließlich ihrer Variationen liegt darin, dass es sich mit einer einzigen Ausnahme um klar abgrenzbare Gruppen junger 6August
Sander (1876–1964) ist einer der bekanntesten deutschen Fotografen; er lebte in Köln und Umgebung; gefunden wurde u. a. seine Fotografie „Radfahrerverein auf dem Land (Westerwald, 1926)“ (Sander 1976): Das Bild zeigt 15 männliche Jugendliche und junge Männer sowie neun Frauen in vier Reihen im Alter von schätzungsweise 13–30 Jahren; sieben Männer in der dritten Reihe halten je ein Fahrrad, um die sich die anderen Reihen gruppieren; die Männer tragen Schirmmützen mit weißem Band sowie weiße Hemden, die Frauen Kleider mit unterschiedlichen Farben und Mustern, zwei Frauen, die außen sitzen, tragen schwarze Kleider; einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Fotografie halten Bögen aus Draht, an denen Blüten befestigt sind, die künstlich wirken; der dritte Mann von links in der dritten Reihe ist der größte; er
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
und jüngerer Männer handelt, um eine Künstlergruppe, eine Band, einen Verein oder eine Clique, in denen man sich im Wortsinn näher steht und in denen Einzelne diese Geste in unterschiedlichen Varianten zeigen; eine Ausnahme bildet ein Musik-Duo, in der die Geste von einer Frau gezeigt wird. Allerdings wurde – mit einer Ausnahme – keine Abbildung mit jüngeren oder älteren Schüler bzw. Schülerinnen gefunden, in der die Geste sichtbar wurde. Performativ könnte der
hält das Fahrrad mit den zwei kleinen Fingern seiner linken Hand; den rechten Arm hat er seinem Nachbarn zur Rechten, der kleiner ist als er, auf die linke Schulter gelegt; die Hand hängt herab, der Ellenbogen weist nach hinten. Die Internet-Recherche vom 23. 11. 2016 beschränkte sich auf den Einsatz der Google-Suchmaschine mit den beiden Suchworten „Ellenbogen“ und „Schulter“; gefunden wurde u. a. ein Bild der Künstlergruppe „Großgörschen 35“ (https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article130897490/ Wo-das-Genie-Luepertz-Freund-und-Feind-nervte.html#cs-Ausstellung-Haus-amKleistpark-in-Berl.jpg): Dabei handelt es sich um den Zusammenschluss von 16 Malern zu einer Ausstellungsgemeinschaft in den Jahren 1964–1968, der sich nach der Adresse ihrer Galerie nannte; es war eine ehemalige Fabriketage in Berlin-Schöneberg, die Anschrift lautete Großgörschenstraße 35; das Foto zeigt neun Männer in zwei Reihen, nach grober Schätzung vielleicht zwischen 20 und 40 Jahren alt, vor einer nur undeutlich zu sehenden Mauer und einer Leiter; fünf stehen in der zweiten Reihe, vier hocken in der ersten; zwei der Männer haben ihre Ellenbogen auf die Schulter ihres jeweiligen Nachbarn gelegt, dabei winkelt einer von ihnen seinen linken Arm so an, dass die Ellenbogenspitze auf den Hals des Nachbarn zielt, und seine Hand hinter dem eigenen Kopf verschwindet, wohingegen der andere seinen rechten Arm in Schulterhöhe des Nachbarn hängen lässt und die Ellenbogenspitze nach hinten weist. Ferner gibt es ein Bild der Band „Naked Lunch“, das vom Jugendprogramm „Puls“ des Bayerischen Rundfunks am 22.10.2009 im Internet veröffentlicht wurde (https://www.br.de/puls/musik/bands/ vorgestellt-naked-lunch-hollywoodplatten-100.html); es zeigt drei Männer im Alter von schätzungsweise 30 bis 40 Jahren, die zur Band „Naked Lunch“ gehören; der Mann, der aus Sicht der BetrachterInnen links steht, schaut in die Kamera und legt seinen linken Arm auf die Schulter des links neben ihm Stehenden; dabei liegt sein Oberarm auf der Schulter, der Ellenbogen weist auf den Hals, der Unterarm führt nach oben und die Hand liegt auf dem Kopf des Nachbarn. Schließlich ein Bild des Band-Duos „Glasperlenspiel“ (https:// static4.suedkurier.de/storage/scl/news/einzelbilder/10768059_w718h480q75v37862_glasperlenspiel.jpg?version=1464005201): In der Zeitung „Südkurier“, Konstanz, war das Bild am 23. Mai 2016 zu sehen; es zeigt eine junge blonde Frau, die in die Kamera schaut, und einen jungen schwarzhaarigen Mann links neben ihr, von den BetrachterInnen aus gesehen, er schaut die junge Frau an; beide tragen Jacken, die an Kunstlederjacken erinnern könnten; die junge Frau hat ihren rechten Arm auf die linke Schulter des Mannes gelegt, allerdings liegt der Ellenbogen mehr auf dem Rücken als der Schulter des jungen Mannes, ihre Hand hängt herunter. Einschränkend muss angemerkt werden, dass keine Abbildung mit einer Gruppe jüngerer oder älterer Schüler gefunden wurde, lediglich das Bild einer Gruppe Studierender, in der eine junge Frau eine variierte Geste zeigt (https://stuttgart.studentenring.de/wp-content/uploads/2015/09/gruppe-schueler.jpg).
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Aktionismus als Herstellung von Nähe und Dominanz, aber auch als Verweis auf eine körpersprachliche Orientierung an Älteren verstanden werden, die strukturlogisch mit der Anschlussproposition homolog wäre. Die nachfolgende Entwicklung des Gesprächs ist durch Mahmut und Paul bestimmt, die diskutieren, ob man „ein Star“ werde, wenn der Film dieser Gruppendiskussion bei YouTube zu sehen wäre. Mikail spricht die kommende Klassenfahrt an, aber zwischen Paul und Mahmut wird zunächst die Sprecherfolge ausgehandelt, dabei titulieren sie sich gegenseitig als „Hase“, legen sich gegenseitig einen Arm in den Nacken und halten zwei Finger hinter dem Kopf des anderen hoch – eine Geste, die in vielen Schulen als ‚Hasenohren‘ bekannt ist; beide versuchen, die Hand des anderen herunterzudrücken. Mahmut bringt wieder die Klassenfahrt ins Gespräch, die alle Beteiligten positiv und interessiert kommentieren, zugespitzt in der Aussage „Ein komisches Gefühl so juhu juhu endlich allein Eltern sind weg“. Zwischendurch kommentiert Mikail sein eigenes Handzeichen „wir brauchen uns nicht melden“, Paul legt seinen linken Ellenbogen auf Mikails Schulter, dieser bewegt sich zur Seite, sodass Pauls Arm herunterfällt. Die drei Jungen erzählen ferner von einer Wanderung der OGS, dabei zeigen die drei Jungen einen gemeinsamen performatorischen Akt, indem sie sich auf den Bauch legen. Diese Passage wird im Folgenden ausgewählt und interpretiert. Danach berichtet Mahmut, ergänzt von Paul, von einem Unterrichtsbesuch bei einem Sportler, den sie als „alt“ titulieren. Dem folgt eine weitere Passage, in der der Forscher noch einmal nach Wahrnehmungen und Meinungen zum Elternsprachtag fragt, dabei wiederholt Paul sein „langweilig“ und legt sich anschließend zwischen die beiden anderen Jungen, die auf dem Bauch liegen geblieben sind. Dieser performatorische Akt wird in seinen Ausprägungen mit Hilfe einer ergänzenden Bildinterpretation analysiert. Die längste selbstläufige Passage der Gruppendiskussion wird hier nicht vorgestellt, da sie die Nutzung und den Kauf von Tablets und Spielkonsolen thematisiert; dabei geht es um deren Besitz und Finanzierung, die zwischen den Jungen diskutiert werden. Dabei berichtet Mikail, dass er für die Anschaffung 100 Euro beisteuern müsse, während Paul und Mahmut betonen, dass sie „null Cent“ zahlen und die Geräte von ihren Eltern finanziert wissen möchten7. Dabei 7Der
Diskurs bestätigt im Übrigen die eingangs entwickelte Orientierung: Die Jungen diskutieren im antithetischen Modus, dabei vertritt Mikail eine jugendbezogene Position, wenn er betont, dass er für die Anschaffung selbst zahlen müsse, während Paul und Mahmut aus einer eher kindbezogenen Perspektive Erwartungen an ihre Eltern formulieren. Mikail ruft eine Rahmung auf, der sich die anderen beiden Jungen nicht entziehen können, indem er eine ‚Entwicklungslogik‘ ins Spiel bringt, nach der erfahrener und größer ist, wer ein Ersatzgerät braucht und selbst bezahlt.
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zeigt Paul zum wiederholten Mal die Geste und legt seinen Ellenbogen auf Mahmuts Schulter, dieser reagiert darauf unmittelbar mit der Äußerung: „Tu nich so als würdest du cool sein du tu- äm du machst das immer extra wo- wenn wir alleine sind machst du das nich immer so“. In dieser Reaktion wird „cool“ – später auch „chillig“ – als relevante Eigenschaft aufgerufen, an der der Peer gemessen wird und der er in diesem Fall nicht zu entsprechen scheint, da er die peerbezogene Geste (s. o. Fußnote 6) nur in Gegenwart anderer zeigt; Coolness gilt in der Peerforschung als Form der Distinktion, deren Bezugsgrößen veränderlich sind (vgl. Pfaff/Hoffmann/Hänert 2010: 178; Amling 2015: 70 f; Eisewicht/Niederbacher/Hitzler 2016: 296). Die Abschlussfrage „Gibt es sonst noch was Wichtiges?“ beantwortet Paul mit einem Bericht, wie er den Elternsprechtag bei seinem Großvater verbringt, während Mahmut erzählt, wie er bei Mikail übernachtet hat.
6.4.3 Ausgewählte Passagen Die beiden ausgewählten Passagen, die unterschiedliche Aspekte thematisieren, sind durch das wiederholte Auftauchen eines performatorischen Akts der Jungen miteinander verbunden. Im Folgenden werden beide Passagen nacheinander interpretiert, bevor der performatorische Akt als inkorporierte Praktik in den Mittelpunkt einer ergänzenden Bildinterpretation gestellt wird. In der ersten Passage sprechen die drei Jungen über eine Wanderung mit der Nachmittagsbetreuung (GD „Tiere“, Passage 1, Transkript 2, Z. 171–197):
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Der Forscher fragt nach „Geschichten“ und fordert Paul auf, eine zu erzählen. Mikail reagiert mit einem Handzeichen, das er selbst als „melden“ bezeichnet, Mahmut sagt, er wisse was, und beginnt die Erzählung einer Wanderung, die von ihm und seinen Peers mit den Worten „hart“, „langweilig“, „doof“ bzw. „geil“ kommentiert wird, Worte, die teilweise einem peerbezogenen Kontext entnommen zu sein scheinen. Es stellt sich heraus, dass sie über den Weg zu einem Tierpark bzw. von ihm zurück sprechen, auf dem man sich in der Wahrnehmung der drei Jungen zunächst „verlaufen“ hatte. Mahmut und Mikail nutzen im Unterschied zu Paul keine abwertenden Bezeichnungen. Die diffusen Fragen des Forschers nach „Geschichten“ führen bei Mahmut zu der Formulierung „ich weiß was“, er interpretiert die Situation offenbar so, dass es darum geht, etwas zu wissen, ohne dass genauer zu spezifizieren wäre, was. Mikail hat bereits eine Meldegeste gezeigt und Paul hat beteuert, keine Geschichte zu wissen; später wird er ebenfalls eine Meldegeste zeigen und fragen, ob er etwas sagen darf. Es ist eindeutig, dass die drei Jungen die Szenerie der Gruppendiskussion schul- und unterrichtsbezogen verstehen und den Diskurs mit dem Forscher als Unterrichtsgespräch führen. Dabei stellen sie auf ein
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„Probehandeln“ (Breidenstein 2019: 320) ab, das sich auf den Bewertungskontext des Unterrichtsgeprächs bezieht: „Man probiert aus, ob Antworten, Lösungen und auch Meinungen für ‚richtig‘ oder ‚passend‘ befunden werden“ (ebd.). Kinder verfügen mit zunehmender Habitualisierung des Handelns als SchülerIn über „eine Reihe von Strategien, die im Wesentlichen darin bestehen, vorausgegangene Antwortversuche anderer Schülerinnen oder Schüler zu variieren“ (ebd.). Offenbar bringen die Fragen des Forschers – neben möglichen Aspekten der Übertragung und Gegenübertragung (s. o. S. 76) – einen propositionalen Gehalt nicht im Hinblick auf das Thema, aber auf die Form möglicher Äußerungen als „Geschichten“ ein, der im schulischen Kontext als gelungene mündliche Darstellung, etwa im Deutschunterricht, verstanden werden kann8. Hier erprobt Mahmut mit seiner Erzählung der Wanderung, inwieweit er damit der Nachfrage des Forschers nach Geschichten entsprechen kann. Die Szene kann nicht nur schulbezogen, sondern auch peerbezogen verstanden werden: Die Jungen entwickeln ihre Propositionen antithetisch zwischen „hart“ und „geil“ einerseits, „doof“ und „langweilig“9 andererseits; Mahmut und Mikail deuten die lange Wanderung als körperliche Herausforderung, Paul dagegen als Überforderung, er möchte lieber im Auto gefahren werden. Damit nehmen die drei wieder Bezug auf die bereits in der Eingangspassage sichtbar gewordene Orientierung auf ihre eigene Entwicklung zwischen einer zunehmenden Entfernung aus der Kindheit und einer Annäherung an ein veränderten Erleben als Jugendliche. Allerdings geschieht diese Bezugnahme mit verteilten Rollen und konkurrierend; gleichzeitig legen sich die drei Jungen nacheinander auf den Bauch, Paul setzt sich am Ende der Passage wieder auf. Welcher eigene Sinn (s. o. Abschnitt 5.3.3) wird in diesem performatorischen Akt sichtbar? Vor der näheren Interpretation des Bildes muss eine weitere Passage in den Blick genommen werden, in der derselbe Akt wieder auftritt (GD „Tiere“, Passage 2, Trankript 3, Z. 13–31):
8Analog
heißt es beispielsweise im Lehrplan Deutsch für die Grundschule in NRW: „Kompetenzerwartungen am Ende der Schuleingangsphase: Die Schülerinnen und Schüler erzählen Erlebnisse und Geschichten“ (Ministerium für Schule 2008). 9Der Begriff „langweilig“ wird später in der komparativen Analyse (s. u. Abschnitt 8.1.2) noch einmal aufgegriffen, da er im Kontext des Themas eine spezifische Bedeutung trägt.
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Die zweite, thematisch wieder auf schulische ‚Elternarbeit‘ und den Elternsprechtag bezogene Passage ruft Erfahrungen der Kinder im Umgang mit schulischen Bewertungen auf. Die im Interviewstil gestellte Rückfrage des Forschers an Paul, der nicht zum ersten Mal die Antwort „langweilig“ gibt, wird von Mikail zustimmend beantwortet, Mahmut kommentiert sie mit der Narration, seine Elterrn würden immer mit ihm „schimpfen“, wenn er „was Schlechtes“ habe, „obwohl ich dafür nix kann“, er positioniert sich damit als nicht verantwortlich für negative schulische Bewertungen; konkretere Bezüge bleiben undeutlich. Mikail dagegen stellt fest, es es „nur“ darum gehe, Fehlerkorrektur zu betreiben. Paul betont ihm gegenüber, dass es bei ihm und Mahmut „schlimm“ sei. Mikail reagiert darauf mit dem Satz „weil ihr Außerirdische seid“. Daraus wird ím Folgenden ein Konflikt entstehen, aber nicht zwischen Mikail auf der einen und Paul und Mahmut auf der anderen Seite, wie man vermuten könnte, sondern zwischen Paul und Mahmut um die Frage, wer von ihnen der „Außerirdische“ sei. Paul reagiert auf die dezidierte Aufforderung des Forschers mit dem Turn „weil das langweilig ist“, der Forscher-Impuls selbst ist widersprüchlich: Paul wird zeitgleich aufgefordert seine Haltung zu begründen und zu erzählen. Die Reaktion des Jungen richtet sich argumentativ auf die Wiederholung seiner bereits seit Beginn der Diskussion immer wieder genannten argumentativen Formel „langweilig“, dabei legt er sich wiederum auf den Bauch. Nach diesem performatorischen Akt agieren die beiden Peers, die diese Haltung bereits innehaben, zeitgleich: Mahmut setzt zu einer Erzählung bzw. Beschreibung an, Mikail formuliert Widerspruch. Was wird durch Mahmut elaboriert, Pauls These oder
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Mikalis Antithese? Die Peers selbst interpretieren die Aussage als Elaboration der These, Paul stimmt zu, Mikail lehnt ab. Diese Deutung wird von Mahmut selbst validiert, indem er im nächsten Turn äußert „Aber bei mir interessiert das die nicht“. Damit wird das Desinteresse auf Lehrkräfte und Eltern verschoben, denen damit indirekt auch die Verantwortung für „was Schlechtes“ zugewiesen wird. Mikail elaboriert im nächsten Turn die Antithese, die das Interesse an der Zusammenarbeit betont, weil es „nur“ darum geht, dass die ältere Generation auf Fehler hinweist, die verbessert werden können. Dieser Antithese widerspricht Paul: Es sei „schlimm“ für Mahmut und ihn. Bevor die Interpretation fortgesetzt wird, muss der Begriff des Interesses und seine Rolle in der Gruppendiskussion angesprochen werden. Der Forscher benutzt ihn zuerst, im Format der Interviewfrage wirkt er propositional. Während Paul diesem Begriff die Kennzeichnung „langweilig“ entgegensetzt, nicht „uninteressant“, greift Mikail ihn auf und wiederholt ihn dreimal, Mahmut bezieht den Begriff auf seine Eltern und benennt ein von ihm wahrgenommenes Desinteresse. Der Diskurs verdoppelt sich wieder, er findet sowohl zwischen dem Forscher und den Jungen als auch zwischen ihnen statt; die Frage des Forschers ist als immanente Nachfrage zu verstehen, die eine Verständigung zwischen den Beforschten auslöst. Die Jungen formulieren kurze Narrationen zum Begriff, die antithetisch angelegt sind; dabei steht nicht der Begriff des Interesses im Mittelpunkt, sondern das Erleben der Gesprächssituation, das durch den Gegensatz einer emotionalen Befindlichkeit einerseits, unaufgeregter Beschreibung andererseits markiert wird. These und Antithese sind entwickelt, das Interesse der dokumentarischen Interpretation richtet sich auf den nächsten Schritt, die Aushandlung einer Konklusion, in diesem Fall in Form einer Transposition. Mikail formuliert den überraschenden Turn „Weil ihr Außerirdische seid“, seine Peers ratifizieren mit einem Lachen. Der kommunikative und konjunktive Gehalt dieser Aussage ließe sich übersetzen mit „Ihr seid nicht von dieser Welt“ – damit wird eine Differenz zwischen „Irdischen“ und „Außerirdischen“ hergestellt, die Normalität konstruiert. Stellt Mikail die These seiner beiden Peers als ‚nicht normal‘ heraus? Mikails Äußerung könnte auf den ersten Blick als rituelle Konklusion verstanden werden, als Metarahmung, Verschiebung oder Banalisierung des Themas (vgl. Przyborski 2004: 75 f). Aber der Diskurs wird fortgesetzt, er greift das Thema des „Außerirdischen“ auf: Mikail bringt mit seiner Formulierung die Peers nicht nur zum Lachen, sie beginnen einen Streit, wer der „Außerirdische“ ist, dabei fassen sie sich in die Haare und formulieren beide „du lügst“; keine der Berührungen führt zu einer Reaktion, die erkennen lässt, dass sie schmerzhaft wäre. Die Konstellation überrascht, gerade schienen Paul und Mahmut sich noch darüber einig, dass sie
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beide ungerecht behandelt werden, jetzt stehen sie in Konkurrenz miteinander, der die Rahmung durch Mikails Äußerung fraglos akzeptiert und damit dessen konklusiven Anteil deutlich macht – er liegt in der ‚Coolness‘ (s. o.), mit der Mikail die Neurahmung des Diskurses vornimmt. Diese ‚Coolness‘ bezieht sich auf den behaupteten Umgang mit den Gesprächen zwischen Eltern und Lehrkräften, aber auch auf die Bewältigung der aktuellen Situation im Diskurs der Beforschten mit dem Forscher, in der der Junge den Begriff „interessant“, den der Forscher verwendet, aufgreift und für die eigene Aussage nutzt. Die damit verbundene Orientierung verweist – wiederum in konkurrierender Manier – auf den bereits entwickelten Horizont zwischen zunehmender Entfernung aus der eigenen Kindheit und zunehmender Annäherung an das veränderte Erleben Jugendlicher. Überraschend wirkt es auf den Beobachter auch, dass Paul sich mitten in diesem Streit wieder auf den Bauch und zwischen Mahmut und Mikail legt, 20 Sekunden nachdem er aufgestanden ist10. Mikail kommentiert „die streiten“. Die Szene schließt, indem Paul und Mahmut aufstehen und erklären, eine Pause zu brauchen. Im Folgenden wird, um zusätzliche Interpretationsmöglichkeiten zu erschließen, der wiederholt auftretende, gemeinsame, performatorische Akt, sich auf den Bauch zu legen, genauer interpretiert.
6.4.4 Ergänzende Bildinterpretationen In der folgenden Bildinterpretation werden drei Stills aus der videografischen Aufnahme der Gruppendiskussion der Gruppe „Tiere“ interpretiert, die in geringem zeitlichen Abstand eine ähnliche Situation abbilden, die drei Jungen auf dem Bauch liegend. „Das, was in der Erhebungssituation stattfindet, ist eine Performance der Gemeinschaft dieser Kindergruppe vor der Forscherin – manchmal für die Forscherin, wenn der Sprach- und Körperdiskurs erwachsenenzentriert ist […], und manchmal, wenn es gelingt Selbstläufigkeit im Sinne zentrierter Spielbegegnungen von Goffman zu generieren, eine Performance, die die Kinder allein für sich selbst ‚aufführen‘.“ (Nentwig-Gesemann 2010: 30)
Diese Performanz im doppelten Diskurs soll als zusätzlicher Zugang zum Verständnis dieser Gruppendiskussion angesehen werden, um das Gespräch und
10Das
der Videoaufnahme entnommene dritte Bild, das im folgenden Abschnitt interpretiert wird, dokumentiert diese Position im Diskurs.
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die inhärenten Orientierungen ermitteln zu können (s. o. Abschnitt 5.3.2). Dafür wird der performatorische Akt, auf dem Bauch zu liegen, ausgewählt, weil er, im Unterschied zur bereits angesprochenen Ellenbogen-Geste, von den drei Jungen gemeinsam ausgeübt wird und als Fokussierungsakt (ebd.) gelten muss. Durch die Wahl von drei unterschiedlichen Stills aus den Videoaufnahmen soll der Blick für die Unterschiede in der Ausübung und Sichtbarkeit dieser Haltung geschärft werden, auch im Vergleich. Die Fotogramme stellen, chronologisch geordnet, die drei Momente innerhalb der gesamten Sequenz dar, in denen die drei Jungen zum ersten Mal bzw. noch einmal zusammen und vollständig auf dem Bauch liegen, nachdem sie vorher in einer anderen Anordnung ihrer Haltungen agierten; nach disem Kriterium wurden die Stills ausgewählt, sie geben daher keinesfalls einen vollständigen Eindruck vom performatorischen Verlauf der Sequenz, geschweige denn von der Gruppendiskussion. Die Abbildungen werden hier verpixelt und unscharf sowie mit planimetrischen Linien versehen gezeigt, sodass die Anonymisierung der Beforschten gewährleistet ist (s. u. Abb. 6.1, 6.2 und 6.3); die Interpretation folgt den Klarbildern, die Herstellung der Bilder wird im Rahmen des Folgenden reflektiert. Zur Erinnerung: Die formulierende Interpretation wird in einer vor-ikonografischen sowie einer ikonografischen Beschreibung entwickelt, die reflektierende Interpretation in einer ikonischen und einer ikonologisch-ikonischen Deutung. Dabei wird, wo möglich, auf die drei Fotogramme Bezug genommen, ohne die Differenzen zwischen den Bildern zu vernachlässigen, sie werden jeweils detailliert herausgearbeitet; allerdings dürfen sie dabei nicht in erster Linie als sequentielle Abfolge gesehen und interpretiert werden, sondern als drei Einzelszenen.
6.4.4.1 Ikonografische Interpretation Die vor-ikonografische Beschreibung der Performanz stellt die Frage „Was ist aus der gegenständlichen Welt auf dem Bild wiederzuerkennen?“ (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 340), sie nimmt die Simultanstruktur des Handelns in den Blick, stellt die räumlich-szenische Organisation dar – dabei geht sie vom Bildvordergrund zum Bildhintergrund – und beschreibt die dargestellten Gebärden und Interaktionen; dabei ist zu berücksichtigen, dass es für Mimik und Gestik kaum eine Beschreibungssprache gibt (ebd.). Die drei Bilder zeigen drei größere Kinder, die auf dem Bauch auf einer hellgrauen Fläche liegen, die als Teppichboden identifiziert werden kann. Die Oberkörper der drei sind der Kamera zugewandt, dabei sind sie in ganz unterschiedlichen Winkeln erhoben bzw. abgesenkt. Die drei Kinder zeigen unterschiedliche Erscheinungsbilder:
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• Die Person links hat dunkelbraune Haare und trägt ein graues Sweatshirt sowie eine graue Hose, auf dem zweiten Bild ist zu erkennen, dass sie Strümpfe an den Füßen trägt. • Die Person in der Mitte trägt eine Brille mit runden Glasfassungen, hat hellbraune Haare und ist mit einem blau-weiß quergestreiften Shirt und einer blauen Jeans bekleidet, auf dem Bild 1 sind die Hacken der Schuhe zu erkennen. • Die Person rechts hat schwarze Haare und trägt einen schwarzen Kapuzenpulli, „Hoodie“ genannt, mit einem gelben Schrift-Aufdruck, auf Bild 1 ist der Wort „Faculty“ in geschwungener Schrift im oberen Teil der Brust zu erkennen, das Bild 3 zeigt die Turnschuhe der Person. Licht fällt von rechts ins Bild und erzeugt Schattenbildungen auf dem hellgrauen Teppichboden, einmal rechts von den Kindern, vermutlich durch eine vorgezogene Wand, zum anderen zwischen ihnen und links von ihnen durch ihre Körper. Die Füße der drei Personen sind auf den Bildhintergrund gerichtet, der sich sehr viel dunkler darstellt als der Boden, es handelt sich um einen schwarzen Vorhang, der Falten wirft, auf der linken Bildseite sichtbarer als auf der rechten. Der Vorhang reicht nicht an allen Stellen bis auf den Boden, sodass in der linken Bildhälfte die Wand sichtbar wird, in der Mitte ein rotkarierter Stoff, rechts Stuhl- oder Tischbeine; dadurch entsteht eine sehr unregelmäßig ausgebildete Linie zwischen Vorhang und Boden, die das Bild im ungefähren Verhältnis von 4:3 teilt, der schwarze Vorhang nimmt vier, der graue Teppichboden drei Teile in Anspruch. Die Unterschiede zwischen den drei Bildern reduzieren sich fast vollständig auf Haltung, Gestik und Mimik sowie die Abstände der drei Personen zueinander: Bild 1: Im Bild 1 liegen die drei Personen in unterschiedlichem Abstand nebeneinander, die mittlere Person liegt eng neben der Person rechts und lässt einen deutlichen Abstand zur Person links. Die drei liegen in unterschiedlichem Abstand zur Kamera, die Person rechts ist gegenüber der in der Mitte deutlich in den Vordergrund gerückt, die Person links weniger deutlich. Die Mimik aller drei Personen wirkt auf den ersten Blick unauffällig. Die Person links hat ihren Oberkörper angehoben, indem sie sich auf ihre Ellenbogen stützt und die Unterarme nach oben hält, dabei hat sie die Hände zusammengeführt und ihr Kinn darauf abgelegt; im Bildhintergrund ist das linke Bein zu sehen, das gestreckt auf dem Boden liegt; der Kopf ist leicht zur Mitte gewandt, das Gesicht ist deutlich zu erkennen, der Blick geht nach rechts, als schaue sie auf etwas oder jemanden außerhalb des Bildes, der Mund ist geschlossen. Die Person in der
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Mitte liegt langgestreckt auf Bauch und Brust, sodass ihr Gesicht fast nach unten weist, ihr Blick geht über die Fassungen ihrer Brille hinweg auf ihre Hände, sie streckt beide Arme weit nach vorn und reckt die Zeigefinger der Hände, während die anderen Finger angewinkelt sind; Beine und Füße im Bildhintergrund scheinen gestreckt auf dem Boden zu liegen. Die Person rechts stützt sich ebenfalls auf ihre Ellenbogen, führt die Unterarme aber nach vorn und legt die Hände zusammen, von den Beinen ist nichts zu sehen; ihr Kopf ist nach vorn geneigt und zur Mitte gewandt, während der Oberkörper nach vorn gerichet ist; das Gesicht ist nur teilweise zu erkennen; ihr Blick geht auf den Teppichboden, ungefähr auf den Platz vor der Person ganz links (Abb. 6.1).
Abb. 6.1 Bild 1 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf)
Bild 2: Im Bild 2 haben die Personen die Lage ihrer Körper zueinander verändert und nehmen jeweils eine veränderte Haltung ein. Der Abstand zwischen der Person links und der in der Mitte hat sich deutlich verringert, sodass die Abstände zwischen den dreien ungefähr gleich groß sind; ihre Schultern scheinen nebeneinander zu stehen, wenn auch nicht auf gleicher Höhe; die Person rechts liegt nur minimal weiter nach vorn verschoben, sodass die Schultern der drei fast eine Linie bilden. Auch die Köpfe und Gesichter sind jetzt ungefähr auf einer Höhe, die Gesichter sind zu erkennen. Die Person links hat ihre Unterarme
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abgelegt und die rechte Hand als lockere Faust in die linke gelegt; der Oberkörper ist etwas zum linken Bildrand gedreht, als verlagere sie ihr Gewicht auf den rechten Ellenbogen, der rechte Fuß im Bildhintergrund ist angezogen, der linke gestreckt auf dem Boden; das Gesicht ist deutlich zu erkennen, der Blick geht in dieselbe Richtung wie zuvor, der Mund ist geöffnet und legt die unteren, vorderen Zähne frei. Die Person in der Mitte hat ihren Oberkörper ebenfalls auf ihre Ellenbogen gestützt, ihr rechter Unterarm liegt fast vollständig auf dem Boden, die Hand bildet eine lockere Faust und schwebt einige Zentimeter über dem Teppichboden; ihr linker Unterarm ist nach oben gerichtet, sodass die Person ihr Kinn in die Handfläche platzieren kann; die Fingerspitzen der Hand liegen vor dem Mund; der Blick geht durch die Brille zur Person ganz rechts im Bild; im Bildhintergrund ist der linke Fuß ausgestreckt auf dem Boden sichtbar. Die Person rechts stützt sich ebenfalls auf ihre Ellenbogen, der Unterarm, der dem Bildrand rechts näher ist, liegt quer vor ihr auf dem Boden, der andere Unterarm kommt darauf zu liegen, sodass er schräg nach oben weist und die Hand in der Luft steht, ihre Finger sind locker gekrümmt; die Schultern sind leicht zur Mitte gedreht, das Gesicht ist teilweise dem Nachbarn zugewandt, die Augen scheinen geschlossen, der Mund leicht geöffnet (Abb. 6.2).
Abb. 6.2 Bild 2 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf)
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Bild 3: Im Bild 3 hat sich die Lage der Körper zueinander wieder verändert, aber in einem geringeren Maß als im Wechsel von Bild 1 zu Bild 2, die jeweiligen Haltungen der drei sind dagegen deutlich verändert. Die Person in der Mitte liegt jetzt, deutlich sichtbar, näher zur Person rechts, sodass die Schultern sich berühren, während zur Schulter der Person links ein deutlicher Abstand entstanden ist; die Schultern der drei befinden sich jetzt in ganz unterschiedlichen Positionen. Die Person links hat den Kopf deutlich gesenkt, ihr Oberkörper scheint auf dem Boden bzw. den Armen zu liegen, sodass die Unterarme zum Gesicht weisen; fast sieht es so aus, als hätte die Person ihr Gesicht in die Hände gelegt; sie hat im Bildhintergrund ihren linken Fuß über den rechten gelegt. Die Person in der Mitte hat sich auf ihren linken Ellenbogen gestützt, der fast unter der Brust positioniert ist, während der rechte vor dem linken Unterarm positioniert ist; der Unterarm des linken Arms liegt quer zur Brust und hinter dem Ellenbogen des rechten Arms; insgesamt ist der Oberkörper nach vorn zur Kamera ausgerichtet; der Kopf ist teilweise gebeugt und zur Person links gedreht; die Füße liegen gestreckt und gespreizt auf dem Boden. Die Person rechts stützt sich auf ihren rechten Ellenbogen, der allerdings nach vorn verschoben ist, sodass der Oberarm eine Schräge bildet; der Unterarm liegt in einigem Abstand quer vor der Brust, während der linke Arm weit zurückgezogen und an den Körper herangezogen ist; der Kopf ist ebenfalls nach vorn gebeugt, aber zudem mit dem rechten Arm nach rechts zur Bildmitte hin verschoben bzw. gedreht; Mund und Augen sind geöffnet, die Person blickt wieder auf den Teppich; die Füße sind auf dem Bild deutlich zu sehen, die Zehen stehen auf dem Boden (Abb. 6.3).
Abb. 6.3 Bild 3 aus der Videoaufnahme der Gruppe „Tiere“ (untere Linie: ungefährer Zeitablauf)
6.4 Die Jungen-Gruppe „Tiere“ in der Windeck-Grundschule
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Die vorikonografische Beschreibung macht sichtbar, dass die körpersprachlichen Dimensionen der Performanz der Jungen vor allen Oberkörper, Arme und Hände sowie Kopf und Gesicht betreffen, sie verändern sich in den drei Stills deutlich. Ferner ist auffällig, dass die Bilder auf einer kompositorischen Ebene zur Mitte hin gestaltet sind; diese Wahrnehmungen sind später aufzugreifen. Zuvor wird die Haltung des Auf-dem-Bauch-liegens, werden die Bilder ikonografisch beschrieben und damit auf ihre kommunikativ-generalisierten, also institutionalisierten Bedeutungen hin befragt; dabei geht es um „Typisierungen, die einen hohen Grad an Kollektivierung aufweisen“ (Przyborski/WohlrabSahr 2014: 340), in die möglicherweise auch themenbezogenes Wissen, also Narratives, Anektdotisches und Allegorisches einfließt. Der Bauch wird allgemein, sprachlich konventioniert, einerseits als Körperteil, andererseits als Emotion und Intuition beschrieben. Trautmann-Voigt und Voigt (2010) weisen auf den Bauch als „intimes Körperteil“ (ebd.: 33) hin, in dem alle inneren Organe sitzen; überdies ist er an der Atmung beteiligt. Der Bauch ist der Ort von Schmerzen mit unterschiedlichsten Ursachen und von unterschiedlichsten Gefühlen wie Wut oder Intuition. Er ist der Raum für den wachsenden Fötus. Die Bauchlage ermöglicht es dem Neugeborenen nach ungefähr zehn bis 16 Wochen, den Kopf zu heben und damit den eigenen Aktionsraum auszuweiten – das verweist auf eine notwendige Differenzierung: Die Aktion, auf dem Bauch zu liegen, muss von der Aktion des Sich-auf-den-Bauch-legens unterschieden werden, Säuglinge können letzteres noch nicht. Michael Argyle (2005: 255 ff) ordnet die Bauchlage der Tätigkeit des Beobachtens zu, wenn die betreffende Person den Kopf durch Hände und Unterarme stützt und die Beine freies Spiel haben; dabei ist das Sich-auf-den-Bauch-legen als Wahl einer ruhenden und entspannenden Haltung im Unterschied zum Stehen oder Sitzen zu deuten. Zusammengefasst lässt sich die Handlung, sich auf den Bauch zu legen, einerseits als Schutz- und Sicherheitshandeln interpretieren, isb. für den Intimbereich, andererseits als Wahl einer Position für entspannte und distanzierte Raumerkundung; aufgrund ihrer Nähe zur frühkindlichen Entwicklung ist ein ambivalentes Moment von Entspannung und Regression mitzudenken. Die Haltung, auf dem Bauch zu liegen, lässt sich in Bildern aus unterschiedlichsten Quellen finden: Babies und Kleinkinder liegen auf dem Bauch, sowohl im familiären wie im öffentlichen Raum; Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene können sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum auf dem Bauch liegen, wenn sie lesen, Fernsehen schauen, mit modellnachbildenden Spielzeugen spielen oder ein mobiles, digitales Endgerät bedienen, im Freibad oder im Park auf Handtüchern oder Decken liegen. Die Haltung ist also auf jeden Fall habitualisiert, auch für schulpflichtige Jungen in der Grundschule, wie eine
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Werbeaufnahme aus dem Internet beispielhaft zeigt (s. Abb. 6.4). Sie zeigt eine basale, reproduktive, emotional bezogene, körperbetonte Handlung, die parallel stattfindet, Peerkontexte scheinen nicht unbedingt dominant zu sein.
Abb. 6.4 Werbefoto einer Bildagentur. (© Foto: Colourbox – https://www.colourbox.de/ bild/zwei-young-boys-auf-dem-bauch-liegen-magen-studio-bild-1266056)
Die Bilder der drei Jungen, die auf dem Bauch liegen, wären dementsprechend ohne Irritation in anderen Kontexten vorstellbar, schulbezogen möglicherweise im Sportunterricht, in dem sie, auf einer Weichmatte liegend, das Spiel anderer Schülerinnen und Schüler beobachten; selbstverständlicher noch wären die Bilder in außerschulische Kontexte zu versetzen, etwa in die Freizeitgestaltung von Peers, die gemeinsam im familiären Raum eines Jungen vor dem Fernseher liegen, um einen Film anzuschauen oder mit einem digitalen Spielgerät zu spielen. Die Bilder sind eventuell auch in kommerziell-künstlerischen Zusammenhängen denkbar, wie eine aktuelle Inszenierung von Mozarts „Zauberflöte“ in Salzburg 2018 zeigt, in der einer der drei „Knaben“ auf dem Bauch liegt (s. u. Abb. 6.5) die drei „Knaben“, drei Sopranstimmen, werden in der exemplarisch populären, kanonisierten Oper (Hieckel/Utz 2016: 511) zu Helfern der Hauptpersonen, ihre Stimmführung wird transzendent beschrieben (Schweikert 2018: 240), in der ursprünglichen Inszenierung waren sie mit Flugapparaten ausgestattet (ebd.: 233), sodass sie als damalige Figuration ‚neumodischer Engel‘ gelten können; in neuen Inszenierungen werden eher kindbezogene Attribuierungen herausgearbeitet, interpretiert und betont.
6.4 Die Jungen-Gruppe „Tiere“ in der Windeck-Grundschule
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Abb. 6.5 Die drei „Knaben“ in einer Inszenierung der „Zauberflöte“ Mozarts. (© Foto: Ruth Walz – https://www.zdf.de/kultur/musik-und-theater/mozarts-zauberfloete-aus-salzburg-122. html#gallerySlide=1)
6.4.4.2 Ikonologisch-ikonische Interpretation Die ikonische Interpretation als erster Schritt der dokumentarischen Deutung berücksichtigt die formale Komposition der Bilder, ihre perspektivische Projektion, die szenische Choreografie sowie die planimetrische Ganzheitsstruktur; die Schärfe-Unschärfe-Relation als Verhältnis von Objekt und Stimmung spielt hier keine Rolle (s. o. Abschnitt 5.3.3). Die Herstellung der drei Stills, die dem Forschungsmaterial dieser Studie entnommen wurden, unterlag der Kontrolle des Forschers. Es wurde keine ausschnitthafte Vergrößerung vorgenommen, die Bilder zeigen als Stills die gesamte Kameraperspektive einschließlich der unteren Ablaufleiste. Sie ist nicht auf Augenhöhe der abgebildeten Bildproduzenten, sondern von oben aus einem Winkel von schätzungsweise 30 Grad auf sie eingestellt. Trotzdem kann sie als Zentralperspektive bezeichnet werden. Auch die Lichtverhältnisse und der Kontrast zwischen Vorhang und Boden sind Ergebnis der Gestaltung des Forschers und seiner HelferInnen als abbildende BildproduzentInnen. Die planimetrische Struktur der Bilder wird auf den ersten Blick durch zwei Merkmale bestimmt, zum einen durch die Linie im Hintergrund, die der starke Kontrast von Boden und Vorhang erzeugt, zum anderen durch die zentrale horizontale Anordnung der drei Personen im Vordergrund. Die Kontrastlinie liegt unterhalb der vertikalen Bildmitte, die Köpfe der drei Personen sind teilweise
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
darauf angeordnet, zum Teil unterhalb davon. In Bild 2 berühren die Umrisse der Köpfe die Line der vertikalen Bildmitte (s. Abb. 6.2). Im Übrigen ist auf allen drei Bildern die räumliche Anordnung der drei Körper ähnlich, im dritten Bild liegen sie aber durch ihre veränderte Ausrichtung zur Gänze unterhalb besagter Kontrastlinie. Es wird eine Orientierung zur horizontalen Mitte sichtbar, der eine Orientierung zur vertikalen Bildmitte entspräche, wenn die drei Personen sitzen oder knien würden. Diese Orientierungen sind Ergebnis der Handlungen sowohl der abgebildeten als auch der abbildenden BildproduzentInnen: Die Kamera ist auf die Mitte der Bühne gerichtet, die Personen sind gegenüber der Kamera positioniert und auf deren Fokus ausgerichtet, sie haben durch den Haltungswechsel, sich auf den Bauch zu legen, die vertikale Bildmitte verlassen. Auf den zweiten Blick zeigt sich eine diagonale Anordnung von Schatten, die vom rechten unteren Bildrand und dem Körper der Person links nach links zur Mitte weisen und die hellere Fläche des Bildes differenzieren; diesen Diagonalen entspricht im ersten Bild in etwa die diagonale Anordnung der Hände der drei Abgebildeten (s. Abb. 6.1). Im Bild 3 werden ebenfalls Diagnonalen sichtbar, die um die Linie der horizontalen Bildmitte angeordnet sind (s. Abb. 6.3) Ganz rechts im Bildhintergrund ist auf allen drei Fotogrammen unterhalb der Kontrastlinie ein unbestimmter hellerer Fleck angeordnet. Die szenische Choreografie wird von den abgebildeten und den abbildenden BildproduzentInnen gemeinsam gestaltet, sie wirkt auf den ersten Blick in jedem Still ähnlich, z. B. in der Anordnung der drei Körper; die Person in der Mitte und die Person rechts scheinen auf allen drei Bildern parallel zueinander zu liegen, wohingegen die Person links im spitzen Winkel zur mittigen Person liegt; dabei sind die drei Positionen nicht gleich, die in der Mitte ist grundlegend anders, da sie Kontakt zu beiden Seiten hat, der als Verbindung, aber auch als Druck gesehen werden kann. In den Details sind die Bilder relevant anders, sodass sie detaillierter aufzuschlüsseln sind: • Im Bild 1 liegen die beiden Jungen in der Bildmitte und rechts näher beieinander, alle drei scheinen in ganz unterschiedliche Handlungen eingebundne zu sein: Der Junge links schaut „wie sinnend“ in die Diagonale nach rechts und legt seinen Kopf auf den Händen ab, während der Junge in der Mitte sich von hinten mit beiden Armen und den dazugehörigen Zeigefingern nach vorn streckt, sodass er den Kopf und die Schultern nicht oben halten kann, wohingegen der Junge rechts seinen Kopf halb in Richtung zur Mitte dreht, als sei oder werde er auf etwas aufmerksam, das er möglicherweise eher hört als sieht, seine Hände liegen vorn und beieinander; alle drei zusammen bilden
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eine Diagonale, mit ihren Händen stärker als mit den Oberkörpern, die eine Front zur linkeren unteren Bildecke bildet, wo der Forscher außerhalb des Bildes sitzt, auf einer Stufe, die zur Bühne führt; insgesamt wirkt das Bild fast wie eine Montage von drei unabhängig voneinander aufgenommenen Einzelbildern, die in willkürlicher Anordnung zueinander gelegt wurden. • Im Bild 2 liegen alle drei Jungen in einem sehr ähnlichen Abstand zueinander, die Oberkörper der beiden Jungen links und mittig sind ein wenig nach links gekippt, der des Jungen rechts nach rechts; die beiden Jungen rechts haben die Köpfe einander zugewandt, als würden sie sich unterhalten, während der Junge links seinen Blick unverändert in die Richtung nach rechts und außerhalb des Bildes gerichtet hat, sein Mund ist geöffnet, vielleicht lachend, vielleicht Zähne zeigend; die Köpfe der drei sind ungefähr auf einer Höhe, die Schultern cum grano salis ebenfalls; vier Hände der drei liegen näher beieinander, wobei die Fäuste der beiden Jungen rechts sich aufeinander zu bewegen könnten, während der Junge links seine Faust mit der anderen Hand festzuhalten scheint; die Person in der Bildmitte hat ihren Kopf auf einer Hand abgestützt, deren Finger eine Art Gitter bilden, durch das der Unterkiefer vergrößert wirkt; der Junge rechts scheint mit einer Hand zu gestikulieren und wirkt dem anderen zugewandt; insgesamt wirkt das Bild fast wie eine gestellte Aufnahme, die drei Jungen bei einer Spielpause oder in einem Gespräch zeigen soll. • Im Bild 3 ist der Abstand zwischen der Person links und der in der Bildmitte wieder größer geworden; der Junge links hat den Kopf weit nach vorn gesenkt, sodass die Kamera ihm auf den Scheitel ‚schaut,‘ sein Gesicht ist in den Händen verborgen, soweit sichtbar, es wirkt wie Trauer oder Erschrecken; die beiden anderen sind ihm zugewandt, als würden sie auf ihn einreden, möglicherweise beruhigend, tröstend oder ermunternd, möglicherweise aber auch spottend und bedrängend; der rechte Arm des Jungen in der Mitte markiert eine deutliche Grenze zwischen den beiden äußeren; alle drei haben ihren Kopf gesenkt, der Junge rechts scheint zur Mitte zu drängen, sein rechter Arm schiebt scheinbar gegen den linken des Nachbarn, Schultern und Arme der beiden berühren sich und scheinen gegeneinander zu drücken, als würden sie einen ‚Verdrängungswettbewerb‘ austragen; insgesamt wirkt das Bild wie die Momentaufnahme nach einem Ereignis, das in erster Linie den Jungen links betrifft. Das Gemeinsame der Choreografien der drei Bilder ist die Performanz der Oberkörper, Arme und Hände, Köpfe und Gesichter, mit der sich die drei Jungen auf den drei Bildern zueinander und zu ihrer sonstigen Umgebung verhalten und
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aufeinander beziehen; dabei scheinen sie auf dem ersten Bild auf den außerhalb sitzenden Forscher orientiert zu sein, in den beiden anderen Bildern der Kamera zugewandt. Die ikonologisch-ikonische Interpretation führt in einem letzten Schritt die bis dahin gewonnenen Sehweisen zusammen und arbeitet den Dokumentsinn und das implizite Wissen in den Bildern heraus, sie expliziert das intuitive Erkennen der Bilder (s. o. Abschnitt 5.3.3). Die vor-ikonografische Beschreibung machte die performatorische Kommunikation der Jungen mit Oberkörpern, Armen und Händen sichtbar, die in der horizontalen Bildmitte stattfindet; die ikonografische betont die Habitualisierung dieser basalen, reproduktiven, emotionalen Haltung, die in der Ambivalenz von Entspannung und Regression parallel realisiert wird; die ikonische Interpretation verweist auf die Existenz des Forschers außerhalb des Bildes, vor allem aber auf das Zusammenrücken zur horizontalen Bildmitte in einem größeren, ungestalteten Raum, der vom dunklen Hintergrund bestimmt wird; die vertikale Bildmitte ist leer geräumt, sodass der Eindruck eines Vorgangs des ‚Entziehens‘ entsteht, der den Fokus der abbildenden BildproduzentInnen auf die vertikale Bildmitte ‚unterläuft‘.Wie gestalten die drei Jungen also ihre gemeinsame Haltung? Die bisherigen Interpretationsschritte zeigen, wie unterschiedlich sie eingenommen werden kann, sie zeigen darüber hinaus, dass diese gemeinsame Haltung verändert und relationiert wird, vor allem mit den Oberkörpern, aber auch in den Positionierungen der ganzen Körper, dass mehr oder weniger Körperkontakt bestehen kann und mehr oder weniger Druck auf die Position des Nachbarn ausgeübt wird. Liest man die Ergebnisse zusammen, zeigen die drei Bilder wesentliche Momente des impliziten Handlungswissens der gemeinsam realisierten Haltung: Es ist die Performativität einer Schutz suchenden, emotional stabilisierenden, aufeinander bezogenen und kommunikativ lebendigen Vergemeinschaftung, in der die drei Jungen sich zum Forscher positionieren und gleichzeitig die Nähe und Distanz ihres Peerseins aushandeln. Wie steht die gemeinsame Haltung der drei Jungen in Beziehung zu ihrem Diskurs? Im Folgenden werden die Bilder triangulierend in den Kontext ihrer verbalen Kommunikation und der damit verbundenen konjunktiven Orientierung gestellt: Bild 1 zeigt einen Moment in der fokussierten Passage mit dem Thema der OGS-Wanderung, in dem Mikail, der Junge rechts, sich als letzter zu den anderen beiden auf den Bauch legt und vollständig liegt, während Mahmut sich in der neu eingenommenen Haltung einrichtet; Paul in der Mitte fragt, ob er „auch was sagen“ könne, und kommentiert den Besuch im Tierpark mit „doof“; seine Hand- und Armbewegungen müssen als Melden interpretiert werden, allerdings geschieht dies aus einer ungewöhnlichen Position heraus, denn er liegt im Vergleich zu den beiden anderen Peers relativ weit im Hintergrund, seine Schultern
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liegen hinter denen Mahmuts und erst recht hinter denen Mikails, sodass die drei im Grunde einen Halbkreis gegenüber dem Forscher bilden. Die Orientierung im antithetischen Diskurs auf die eigene perspektivische, jugendbezogene Entwicklung zwischen körperlicher Herausforderung und Überforderung wird begleitet von einer kurzfristig gemeinschaftlich eingenommenen habitualisierten Haltung, die Entspannung und Distanzierung einerseits, Schutz und Regression andererseits enthält; es scheint sich um eine Erprobung dieser Haltung zu handeln, die auf den Forscher orientiert ist, der nach „Geschichten“ fragt, und die schulbezogene, habitualisierte Geste des Meldens zeigt; sie wird von Paul umgehend wieder aufgelöst. Bild 2 zeigt den Moment, in dem sich Paul wieder auf den Bauch zwischen die beiden Peers legt, während Mahmut links – mit demselben Blick zu den Fenstern rechts – mit einer Erzählung beginnt und Mikail rechts betont, das Thema des Forschers sei interessant; Paul selbst hat zum wiederholten Mal seine Meinung geäußert, Elternsprechtage seien „langweilig“, fast sieht es so aus, als würde er zwischen seinen Peers vor dem Forscher in Deckung gehen; gleichzeitig ist die räumliche Orientierung auf seine Position geringer geworden. Im Unterschied zum antithetisch geprägten, verbalen Diskurs vermittelt die Positionierung der drei ein ausgewogenes Bild, fast möchte man sagen harmonisch, denn die Momentaufnahme vermittelt den Eindruck einer gewissen Gleichrangigkeit, der sich über den Abstand zwischen den Jungen, die Haltung ihrer Köpfe und die Postionierung der Schultern zueinander herstellt; möglicherweise haben wir es hier mit einer Korrektur der zunächst erprobten Haltung zu tun, die Bild 1 zeigt. Auch wenn sich diese gemeinsame Haltung wieder auflösen wird – die Orientierung dieser Passage auf die „coole“ Neurahmung durch Mikail wird durch das materiale Bild habitualisierter Körpersprache zwischen Entspannung und Distanzierung einerseits, Schutz und Regression andererseits unterfüttert. Bild 3 zeigt den Moment, in dem Paul sich wieder zwischen die Peers legt, nachdem er sich kurz zuvor aufgesetzt hatte; er stellt im Akt des Auf-den Bauch-legens an Mahmut gerichtet fest „vielleicht weiß niemand, dass du lügst“ Mahmut bittet „sag das nicht“ und legt sein Gesicht in die Hände; Mikail, der zuvor von den beiden anderen als „Außerirdische“ sprach, drängt zur Mitte und stellt fest „die streiten“. Das Bild zeigt die Momentaufnahme der Zuwendung zu einem Peer, die durchaus streitig vor sich geht und die Akteure so erschöpfen wird, dass sie eine Pause benötigen. Gleichwohl gibt es auch hier eine habituelle Orientierung in der gemeinsamen, ambivalenten Haltung zwischen Entspannung und Distanzierung einerseits, Schutz und Regression andererseits. In den drei Bildern werden unterschiedliche Aspekte des inkorporierten Wissens sichtbar, Annäherung und Positionierung in Bild 1, vorübergehende
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Gleichrangigkeit in Bild 2, Konflikt und Krise in Bild 3. Ganz offensichtlich ist das Performative nicht stabil, es befindet sich in Anpassungen und Aushandlungen, insofern lassen sich die drei Bilder durchaus auch als Momentaufnahmen eines Prozesses lesen, der auch ein Habitualisierungsprozess ist; er wird – nach der von den Jungen ausgerufenen Pause – damit enden, dass sie sich neu zueinander arrangieren, dass Paul trotz einiger körperlicher Bemühungen seinen mittleren Platz Mahmut überlassen muss und Mahmut und Mikail sich annähern und Paul ausgrenzen.
6.4.5 Orientierungen Als immanente Vergleichsfälle dienen in der Gruppe „Tiere“ die Peers, mit denen man in einen gemeinsamen Wettbewerb tritt, wer „cooler“ ist. Die Jungen vergleichen sich und ihr schulisches und außerschulisches Verhalten; sie bewerten den Besuch einer Kirmes-Veranstaltung ebenso wie die imitierende ‚Performance‘ eines der drei, dabei thematisieren sie die Verfügung über Geld genauso wie über elektronische Geräte; in Bezug auf schulische Anforderungen ist ein „cooler“ Umgang mit Fehlern ‚angesagt‘. Das Gemeinsame wird immer wieder in Konkurrenz und Wettkampf ausgehandelt, sowohl auf performativer als auch diskursiver Ebene. Die Eigenrelationierungen der Gruppe „Tiere“ beziehen sich darüber hinaus auf die ältere Generation, dabei differenzieren sie stark zwischen Schule und Familie: Sie distanzieren sich gegenüber den Lehrkräften, mit denen sie in Konflikten stehen, und erwarten „Fairness“ sie identifizieren auch den Forscher damit, während die eigene Familie ambivalent bleibt; Identifizierung und explizite Untersützung werden genauso thematisiert wie Erfahrungen, die ein Bündnis zwischen Eltern und Lehrkraft vermuten lassen. Dabei wird eine dritte, geschlechtsspezifische Differenz ins Spiel gebracht, wenn die Lehrerin als Frau entwertend adressiert wird. Fallinterne Vergleiche aus der Perspektive des Forschers sind hier in Bezug auf die Eingangspassagen und die beiden ausgewählten Passagen möglich. Die im parallelen Modus entwickelten Umrisse der Orientierung verweisen in der ersten Eingangspassage auf neue, jugendbezogene Erlebnisse und Schritte zur Abwendung von der Kindheit, in der zweiten Eingangspassage zeigt sich der gemeinsame Horizont der drei Jungen zunächst nur als Ablehnung gegenüber Lehrkräften; dabei ist die Orientierung dilemmatisch, denn sie verbleibt im Stresserleben und in der aggressiven Abwertung der Lehrerin als Frau. Letztendlich ist diese Abwendung homolog in allen Passagen wirksam, markant im wiederholten „langweilig“ Pauls. Der antithetische Diskurs um körperliche
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Herausforderungen und Überforderung zeigt sich strukturhomolog zur ersten Eingangspassage; ‚Coolness‘ wird auch von Mikail aufgerufen, um seinen Umgang mit dem Elternsprechtag wie mit der Gruppendiskussion zu pointieren und den Diskurs neu zu rahmen, alles andere ist „außerirdisch“. In der Performativität der drei Jungen stehen Distanzierung und Entspannung, aber auch Schutz und emotionale Stabilisierung im Vordergrund; das steht nicht im Widerspruch zu den beschriebenen Erwartungshorizonten, auch wenn die Orientierung auf „cooles“ Erleben zeitweilig mit einem fast regressiven schutzorientierten Handeln unterfüttert ist. Tab. 6.3 Orientierungen der Gruppe „Tiere“
Das gemeinsame, handlungsleitende Wissen der Gruppe „Tiere“ umfasst als negativen Erwartungshorizont die zunehmende Distanzierung und Abwendung gegenüber den Lehrkräften, teilweise auch den Eltern; dahinter stehen emotionale Belastungen durch „unfaire“ Konflikte, verbunden mit Fluchttendenzen, wie die Metapher des Aus-dem-Fenster-springens zeigt. Positiv orientiert das Handlungswissen der drei Jungen auf einen geschützten Wettbewerb unter Peers, gerahmt
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vom idealen Gegenhorizont jugendbezogener ‚Coolness‘11; das inkorporierte Wissen zeigt mit der Haltung des Auf-dem-Bauch-liegens ein Handeln mit Ausrichtung auf Schutz und Distanzierung. Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Tiere“ kann in die Gegenstandskonzeption dieser Studie (s. o. Abschnitt 4.3) eingebracht werden, um ihn als Orientierung im weiteren Sinne in den Erfahrungsräumen der Peers und der Schule zu differenzieren (s. Tab. 6.3). Zentral ist für diese Gruppe der Umgang an und die Erfahrung von Grenzen, die körperlich und sprachlich ausagiert werden; die Riskanz dieses Umgangs liegt in der im Wettbewerb jederzeit möglichen Infragestellung von Zugehörigkeit – „Tu nich so als würdest du cool sein“ – sie macht Distanzierung und Schutz erforderlich. ‚Coolness‘ wird dabei als Identitätsangebot sichtbar, dass im Wettbewerb mit den Peers und um die Peers angestrebt wird.
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich Die im Folgenden interpretierte Gruppendiskussion ist eine von dreien in der Klasse 3a der Grundschule Erdenreich. In der einen Gruppe trafen sich vier Jungen, in den beiden anderen Gruppe einmal sieben und einmal fünf Mädchen. Die Gespräche der vier Jungen und der fünf Mädchen mussten aufgrund von Zeitproblemen abgebrochen werden. In der Parallelklasse 3b wurden die sieben Kinder, fünf Mädchen und zwei Jungen, die drei verschiedene Peergruppen bildeten, von der Klassenlehrerin zu einer Gruppe zusammengelegt. Die Zusammensetzung der Gruppe „Spiele“ basiert als Einzige auf Peerwahlen und blieb ohne sichtbaren Einfluss von außen, der Verlauf des Gesprächs blieb von äußeren Einflüssen ungestört. Die Gruppendiskussion dauert insgesamt 50 Minuten. Sie findet in einem großen Raum der Grundschule Erdenreich statt, einem ehemaligen Klassenraum, der als Förderraum bezeichnet wird. Die sieben Mädchen sitzen zu Beginn der Filmaufzeichnung um zwei an den Längsseiten zusammengeschobene Schultische
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‚Coolness‘ wird hier diskursiv und performativ anders konnotiert als in älteren Gruppen, in denen es „milieuübergreifend als grundlegendes Differenzierungsmerkmal zur Systematisierung von Peergemeinschaften und zur eigenen Verortung innerhalb dieser“ (Pfaff/Hoffmann/Hänert 2010: 193) verwendet wird; hier geht es nicht um die Abgrenzung einer Peergruppe von anderen, sondern um die Wertschätzung und Orientierung auf den Erwerb von ‚Coolness‘ im Kontext und Wettbewerb der eigenen Gruppe.
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich
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ungefähr in der Raummitte. An jeder Seite des Quadrats sitzen zwei Mädchen; an der Seite, die der Kamera am nächsten ist, sitzt nur eines, Julia, von ihr ist in den Aufnahmen oft nur der Rücken zu sehen. Links von Julia sitzen Kia und Emely, gegenüber Fiona und Gina, rechts Mira und Buket. Diese Sitzordnung wird sich während der Gruppendiskussion nicht ändern; zwar werden Buket und Gina irgendwann aufstehen, um den anderen vorzuspielen, wie eine Mitschülerin ihnen nachgegangen ist, aber dadurch wird es nicht zu Platzwechseln kommen. Im Raum stehen, im Blickfeld der Kamera, hohe und halbhohe Regale aus Holz an den Wänden, angefüllt mit Kunststoff-Behältern. Davor stehen zwei weitere Schultische mit je zwei Stühlen. Auf den zusammengeschobenen Tischen steht ein Mikrofon für die Audioaufnahme. Die Sitzordnung wurde von den Kindern gewählt, dabei achteten sie auf die Stellung der Kamera, die ihnen vorher gezeigt und vorgeführt worden war. Julia wollte mit dem Rücken zur Kamera sitzen, auch auf Nachfrage und trotz der vorgeschlagenen, Alternative einen halboffenen Kreis zu bilden.
6.5.1 Eingangspassage Der Forscher sitzt aus Kamerasicht rechts an einer Ecke des Tischkarrées zwischen Julia und Buket, nach sieben Minuten wird er seinen Stuhl zurückschieben und sich vom Tisch der Mädchen entfernen, während diese die Gruppendiskussion gestalten. Die Filmaufnahme beginnt mit Instruktionen des Forschers: „… ich will gar nicht- ich erkläre euch nur was wir gerne von euch hören würden denn ihr seid ja sehr schlaue Menschen“. Damit leitet er nicht seinen Forscher-Impuls ein, sondern erläutert das Arrangement der Gruppendiskussion näher: „ich möchte gern das ihr euch untereinander darüber unterhaltet und ich setz mich da hinten hin und höre einfach so ein bisschen zu“. Eine Begründung für seinen Auftrag gibt der Forscher nicht. Die Äußerungen des Forschers werden begleitet und unterbrochen von Nachfragen und Zustimmungen der Mädchen. Schließlich formuliert er den Eingangsimpuls, dabei koppelt er die Kernaussage „was erlebt ihr und wie findet ihr das“ an die Anweisung „erzählt euch mal eure Geschichten gegenseitig“; damit bringt er einen propositionalen Gehalt nicht im Hinblick auf das Thema, aber auf die Form möglicher Äußerungen ein; der Begriff „Geschichten“ könnte, wie bereits im Zusammenhang der Gruppe „Tiere“ thematisiert, im schulischen Kontext als Proposition einer gelungenen mündlichen Darstellung im Deutschunterricht verstanden werden. Die Reaktionen der Kinder thematisieren zunächst nichts zum inhaltlichen Interesse des Forschers, sondern seine Anwesenheit im Kreis und die
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
von ihm erwarteten Geschichten. Julia formuliert „du sollst hier sitzen bleiben“, Buket fragt nach, was passieren könnte, wenn Mädchen aus dem Kreis weitergeben, was in der Gruppendiskussion gesprochen wird. Der Forscher gibt die Verantwortung an die Mädchen zurück: „ich würde nur das erzählen was die anderen Mädchen auch hören können“, er betont seine Pflicht zur Anonymisierung aller Daten. Nach diesen Äußerungen setzen die Mädchen den Aushandlungsprozess mit dem Forscher fort (GD „Spiele“, Eingangspassage, Transkript 1, 48–74):
Julia und Kia proponieren, Eltern und Lehrerin würden sich beim Elternsprechtag und dem Elternabend treffen, eventuell auch noch, wenn ein Ausflug ist „und meine Mutter mitkommt“, sie beschreiben die Begegnungen als selten. Buket eröffnet das Gespräch zwischen den Mädchen, indem sie Julias und Kias Äußerungen relativiert, es entwickelt sich eine kurze Passage im antithetischen Modus: Bukets Antithese, die von Fiona validiert wird, proponiert, dass sich Eltern und Lehrerinnen auch außerhalb der Schule treffen. Zuvor entstand eine längere Pause von drei Sekunden. Dies wird in der reflektierenden Interpretation
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich
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in der Regel als Signal für eine Konklusion gedeutet (vgl. Przyborski 2004: 74), Buket hat aber eine Antithese im peerinternen Diskurs sichtbar gemacht. Offenbar markiert die Pause den Übergang vom Diskurs mit dem Forscher zum internen Diskurs der Beforschten. Validierung und Elaboration der Antithese werden durch kurze Erzählungen exemplifiziert, Buket und Fiona berichten von zufälligen Begegnungen ihrer Mütter mit einer Lehrerin, die Peers identifizieren den Ort der Begegnung durch Nachfragen als Baumarkt. Fiona schließt ihre Erzählung mit dem Hinweis, die Lehrerin „musste zum Grillen“, Gina und Buket kommentieren „Glück gehabt“. Der Aushandlungsprozess mit dem Forscher um die Frage, was für „Geschichten“ erzählt werden sollen, taucht des öfteren auf; die Mädchen wollen eine Rückmeldung erhalten, ob sie mit dieser Art von Geschichten den Erwartungen des Erwachsenen entsprechen. Damit tritt ihr Verstehen der Gruppendiskussion im schulischen Leistungskontext deutlich hervor, ihr Verhalten ist eine coaktive Mitgestaltung, vor allem durch die Interpretation und Umsetzung des erwachsenen Auftrags, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen; sie drängen mit ihren Peer-Aktivitäten nicht auf die Vorderbühne, gestalten diese aber mit: „An Grundschulen und Gymnasien agieren die Schülerinnen und Schüler eher als “Coakteure” (ebd.: 6) eines gemeinsamen Schauspiels, indem sie sich stark an den Intentionen der Lehrpersonen ausrichteten und diese als “legitim” zelebrieren, was … ebenfalls ein Unterlaufen der intendierten Lehrziele – diesmal auf sehr subtile und schulaffirmative Weise – darstellt“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 418).
Zwei der sieben Mädchen schweigen in dieser Passage, aber auch im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion fast immer, ohne dass sie deshalb unbeteiligt wären. Sie müssen noch einmal differenziert betrachtet werden: Mira beteiligt sich zu Beginn und spricht in Abgrenzung zu einer Mitschülerin ausdrücklich von „uns“, während Emely lediglich nonverbal reagiert oder an der einen oder anderen Stelle mit den anderen lacht. Beide Mädchen werden zwischendurch aufgefordert zu erzählen; während Emely mit „Nein“ antwortet, sagt Mira „Ich hab nichts“, beide werden von den Peers unter Druck gesetzt, bleiben aber auch im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion schweigsam. Schweigen kann durch die normative Vorgabe des Forschers, er wolle Geschichten hören, hervorgerufen worden sein, wie Mira mit ihrer Formulierung „Ich hab nichts“ andeutet, es kann aber auch durch die Stellung der Mädchen in der Gruppe bedingt sein. Grundsätzlich besteht in jeder Gruppendiskussion die Möglichkeit, dass sich Teile der Gruppe ins Schweigen zurück ziehen, es
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
kann zwei Gründe haben: E ntweder stimmen sie mit dem bisherigen Diskurs überein, sodass sie es nicht für notwendig halten, etwas dazu zu sagen, oder sie können keinen Widerspruch entwickeln, sei es, dass sie keine Gelegenheit sehen, sei es, dass sie Widerspruch fürchten. Beide Möglichkeiten legen es nahe, dass eine andere Orientierung vorliegt und die vorliegende nicht geteilt wurde (vgl. Przyborski 2004: 60 f). Gina und Buket kommen im peerinternen, antithetisch modulierten Diskurs zu der Konklusion, es sei „Glück“, wenn die Lehrerin keine Zeit für ein Gespräch mit der Mutter habe. Dem folgt eine weitere Pause, dieses Mal von zwei Sekunden, die als vorläufiger Abschluss der peerbezogenen Konklusion interpretiert werden kann. Die damit verbundene Orientierung besagt, dass die Mädchen sich von der Begegnung ziwischen Eltern bzw. Müttern und Lehrerinnen nichts Positives erhoffen. Das paraphrasiert der Forscher kurz und wiederholt seine Proposition als Frage nach Geschichten: „was gibts noch für Geschichten die ihr euch erzählen könnt“. Buket nimmt den Turn auf und beginnt mit einer Erzählung; ihr Handzeichen wird von Julia kommentiert „muss dich nicht melden“; Damit wird eine Supendierung der schulbezogenen Regelung der Sprecherfolge thematisiert, ein Hinweis auf die Suspendierung des schulischen Kontextes für die Gruppendiskussion muss das aber nicht sein.
6.5.2 Themenverlauf Nach der Eingangspassage des Gesprächs entwickelt Buket die Erzählung, dass ihre Mutter sie wegen eines Unfalls abgeholt und lange mit der Lehrerin über Hausaufgaben gesprochen habe, sie nennt das eine „Unverschämtheit“. Danach suchen die Mädchen nach weiteren Geschichten und kehren damit in den Dialog mit dem Forscher zurück. Julia berichtet, dass die Lehrerin ihre Mutter angerufen und um Unterstützung beim Basteln gebeten habe; zwischendurch fragen Buket und Gina, ob gefilmt werde, die Mädchen reagieren mit Lachen, Aus- und Zurufen. Danach bietet Buket eine weitere Erzählung an, dieses Mal von der Klassenfahrt und dem Anruf ihrer Mutter dort, Gina kommentiert, „deshalb warst du so unruhig in der Nacht“, beide zeigen, wie sie die Lehrerin bei der Gymnastik beobachtet haben. Danach folgen die ausgewählten Passagen, die im nächsten Abschnitt interpretiert werden. Sie sind Teil eines langen selbstläufigen Diskurses um die abwesende Mitschülerin Katharina, die von der Mädchengruppe
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in ihren Erzählungen und Beschreibungen offen abgelehnt wird; die Beziehung zwischen Katharina und ihrer Mutter wird als Stein des Anstoßes zentral gestellt. Zum Ende dieser Passagen werden die Emely und Mira aufgefordert, auch eine Geschichte zu erzählen, ihnen werden Vorschläge gemacht, was sie erzählen könnten; Emely muss berichten, warum sie die Klassenfahrt nicht mitgemacht hat, daraufhin stehen Buket und Gina auf und zeigen in Aktionismen, wie sie auf dem Klassenfoto standen. Im Anschluss fordert Gina Emely auf, von ihrem Bruder zu berichten, der ihren Hamster habe wegwerfen wollen, Julia reagiert, indem sie die anderen daran erinnert, wieder über Lehrerin und Eltern zu sprechen; die Mädchen reagieren darauf mit Lachen. Danach fragt Buket: „Ist euch manchmal eure Eltern peinlich“, alle bejahen das, Julia erzählt, ihre Mutter singe laut in der Kirche, Gina berichtet von Bukets Mutter, die ihre Zensuren erfahren wollte, und ergänzt, ihr Vater habe auf dem Spielplatz ihren Freundinnen die Hand geschüttelt. Fiona bringt wieder die Mutter der abwesenden Mitschülerin Katharina ins Spiel, daraufhin beklagen Julia, Buket, Fiona und Gina noch einmal in vielen Erzählungen, wie konflikthaft der Kontakt ist: Sie wollten Katharina nicht besuchen, aber deren Mutter rufe die Eltern an; die Mutter sei „so alt wie meine Oma“ und behandele sie „fast wie ihr Kind“, sie sage jedem Mädchen, sie sei die Schönste; Fiona spitzt zu „Katharina ist der Engel die anderen die Teufel“ und Gina erläutert „wir drei sind die Teufel“, dabei zeigt sie auf Fiona und Emely. Buket erzählt, wie ihre Mutter sich mit einer anderen Mutter unterhielt, als sie habe weggehen wollen, habe ihre Mutter gesagt „du bleibst hier“; als Buket auf ihrem Wunsch beharrt habe, habe die Mutter gesagt „natürlich du bist doch mein Kind“. Julia will das Thema wechseln „sollen wir uns nicht über Frau Heinz unterhalten“, die Gruppe beharrt jedoch auf der Thematisierung ihrer Erfahrungen mit den Eltern. Kia will über ihre Mutter berichten, wird aber von Buket mit dem Satz „ich unterhalte mich nicht über Deine Mutter“ zurückgewiesen, danach herrscht Schweigen. Dann spricht Buket über ihren Vater, der auch peinlich sei, sich aber nicht einmische wie ihre Mutter; Julia berichtet von ihrem Vater, dass er alle Freundinnen anspreche mit „hallo, ihr Hübschen“, Mira bestätigt das. Gina kommt noch einmal auf die Mutter der abwesenden Mitschülerin zurück, die in ihrem Beisein von der Polizei angehalten worden sei. Fiona schließlich: „Aber manchmal lügt Katharina voll“, Als Beispiele führt sie Ankündigungen des Mädchens über ihre Geburtstagsfeier an, die nicht eingetroffen seien, einige der Mädchen stimmen zu. Die Thematik wechselt zu Erfahrungen mit Lehrkräften, die Klassenlehrerin wird von Gina und Buket in gemeinsamem Sprechen als „n bisschen gemein“ bezeichnet, die Mitschülerinnen berichten von Versprechungen hinsichtlich des Unterrichts, die die Lehrerin nicht einhalte. Buket beschwert sich, dass die
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Erwachsenen immer wieder sagen würden „Petz nicht“ oder „Misch dich nicht ein“, sich aber selbst nicht an diese Regeln halten würden. Sie schließt mit „blablabla“ und schlägt dabei mit der flachen Hand auf den Tisch. Kia versucht eine Geschichte über die Klassenlehrerin und ihren Vater beizusteuern, wird aber von Buket unterbrochen, die Klage darüber führt, dass die Erwachsenen über sie reden, ihr aber nichts davon sagen. Fiona greift das Thema der Lehrkräfte wieder auf und berichtet vom Zwang, im Schwimmunterricht auf dem Rücken zu schwimmen. Kia unterstützt diese Beschwerde, Buket und Gina führen sie weiter aus. Buket beschwert sich, Erwachsene dürften „schlimme Wörter sagen“, Kia ergänzt, sie müsse dann „aufs Zimmer gehen“. Buket spricht vom Schlagen: „Die Eltern dürfen uns nicht schlagen auch wenn es unsere Eltern sind und wenn sie uns schlagen wenn sie uns schlagen das dürfen die das dürfen die“. Dabei schlägt sie die Hände in der Luft zusammen. Gina reagiert darauf, indem sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlägt. Kia erzählt vom familiären Esstisch, dass sie sich nichts aussuchen dürfte. Buket ergreift das Wort wieder und meint, in den meisten Familien sei der Vater strenger, bei ihr sei es genau umgekehrt, ihr Vater schimpfe nie und kaufe ihr, was sie wolle; daraufhin setzen rege Gespräche zwischen den Mädchen ein, auch Mira und Emely beteiligen sich. Julia unterbricht dies mit einem lauten „Ooh“, die Mädchen reagieren sofort, es wird ruhig. Schließlich richtet Fiona direkt die Frage an Mira: „Fühlst du dich manchmal so, als würden deine Eltern die anderen Kinder besser behandeln“. Das wird von Mira verneint, worauf Fiona ausführt „manchmal fühl ich mich so, als würden meine Eltern meinen Bruder mehr mögen als mich“. Buket, Fiona, Julia und Kia führen Beispiele dafür an, dass sie dieses Gefühl kennen, die Zimmerverteilung in der familären Wohnung, den Trost, der mit dem Größerwerden immer weniger werde, während gleichzeitig die Strenge zunehme, oder die Bestellung eines Essens, das man nicht mag, auch Schläge werden angeführt. Buket wechselt noch einmal das Thema mit „Ich hab so’ne Frage“, sie ergänzt „wenn man verknallt ist oder so“ und führt weiter aus, der eine sei „Pole“, der andere „Russe“ oder „Türke“; die Eltern würden sagen „darfst nicht mit dem spielen das sind unsere Feinde“, das finde sie „doof.“ Kia reagiert, sie könnten doch auch zusammen spielen, und Buket erläutert, Ginas Mutter sei Polin, ihre Türkin, trotzdem verstünden sie sich. Anschließend werden unterschiedlichste Geschichten von Erwachsenen erzählt, von einem Bruder, der Mädchen beleidige, einem Onkel, der noch bei der Oma wohne, und einer Oma, die darauf bestehe, dass die Enkelin Polnisch lerne.
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich
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Damit ist die selbstläufige Phase der Gruppendiskussion beendet, es folgen eine Pause und dann immanente wie exmanente Nachfragen. Zum Elternsprechtag äußert Julia, Frau Heinz sage fast immer Gutes und nur manchmal auch Schlechtes, Gina, Buket und Kia beschweren sich, dass die Klassenlehrerin gute Noten in Aussicht stelle, dann aber schlechte Noten gebe. Buket sagt: „... die Lehrer- ich hasse Frau Heinz ich hasse Frau Heinz die sagt das wird gut ja du schreibst ne gute Note auf einmal sie gibt mir ne Sechs stell dir mal vor dass macht sie immer also keine Sechs aber ist nicht wirklich ne gute Note“ Dann fragt Buket in die Runde: „Wenn Frau Heinz und die Eltern auf dem Elternsprechtag irgendetwas erzählen sagen sie es euch nachher“. Die Mitschülerinnen bejahen das, auch auf mehrfache Nachfrage Bukets, nur Emely schränkt ein „nicht immer“. Buket fragt immer wieder nach und unterscheidet dabei zwischen Elternsprechtag und Kinder-Elternsprechtag. Einige Mädchen berichten, dass sie auf den Elternsprechtag mitgehen, aber Buke beharrt, die Klassenlehrerin habe gesagt, „die Kinder müssen es nicht unbedingt wissen, und die Eltern dürfen es nicht erzählen.“ Als Themen auf einem Elternsprechtag nennen die Mädchen Melden im Unterricht, Lesen, Schreiben, Noten, Benehmen, „wie wir sind im Unterricht“. Danach entspinnt sich ein Dialog zwischen Buket und Julia, die betont „dann muss deine Mutter dir das sagen dann muss sie sagen Buket du musst dich anders benehmen“. Miteinander sprechen die Mädchen in der Pause oder auf dem Schulweg darüber, aber nur selten.
6.5.3 Ausgewählte Passagen Die sieben Mädchen entwickeln einen längeren, selbstläufigen, fokussierten Diskurs, aus dem im Folgenden zwei Passagen vorgestellt und interpretiert werden. Julia übernimmt, wie schon in der Eingangspassage, zu Beginn die Rolle einer ‚Initiatorin‘ in der Gruppendiskussion12 (Gruppe „Spiele“, Transkript 2, 1–29):
12Dass
in Gruppendiskussionen von Kindern Gesprächsleitungen entstehen können, berichten Ruth Michalek (2006) und Gudrun Schönknecht (Michalek/Schönknecht 2006).
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Die Formulierung „erzähl mal deine Geschichte“. legt nahe, dass die Geschichte den Mädchen bekannt ist und noch einmal aufgerufen wird. Die Aufgeforderte lehnt das Ansinnen zunächst ab und entscheidet sich dann, „eine andere Geschichte“ zu erzählen; Julia, die die Aufforderung ausgesprochen hat, formuliert noch einmal die Aufforderung „erzähl einfach“. Fiona entwickelt eine Erzählung, die Klassenlehrerin habe ihrer Mutter mitgeteilt, sie sei „zu gemein“ zu einer Mitschülerin namens Katharina, die nicht an der Gruppendiskussion teilnimmt und bisher auch kein Thema war. Fiona erhält während des Erzählens zustimmende Äußerungen und Gesten von anderen Mädchen, sogar Mira beteiligt sich. Gina und Kia reagieren mit der Formulierung „sehr interessant“. Die ausgewählte Passage beginnt mit Aushandlungen der Peers um Sagbares und Nicht-Sagbares, die Gruppe klärt die Sprecherinnenfolge mit Hilfe des vom Erwachsenen vorgegebenen Kriteriums „Geschichte(n)“. Die Mitschülerin
6.5 Die Mädchen-Gruppe „Spiele“ in der Grundschule Erdenreich
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Julia nimmt offenbar eine besondere Position ein, die ihr eine Art Lenkungsfunktion sichert. Sie adaptiert die Vorgabe des Erwachsenen und thematisiert die Sprecherinnenfolge, damit nimmt sie in dieser Situation Einfluss, sowohl auf den Verlauf der Gruppendiskussion als auch auf die erzählte Geschichte, wie bereits in der Eingangsphase geschehen. Was ist die Proposition, der fast alle Mädchen so lebhaft zustimmen? Sie validieren Fionas Aussage, dass die Lehrerin gegenüber der Mutter ihren Umgang mit der Mitschülerin negativ bewertet habe, eine Narration, deren kommunikativer Sinn die Reaktionen der anderen Mädchen nicht erklären kann, insbesondere nicht die Betonung „sehr interessant“. Diese zweimal wiederholte Formulierung wirkt wie eine Nachahmung Erwachsener und fast ironisch, sie zielt allem Anschein nach auf die gegenteilige Aussage: Das interessiert uns nicht! Auffällig sind auch Fionas Formulierungen „zu gemein“ und „zu viel anschreie“, sie unterstellen, dass ein gewisses Maß an Gemeinheit und Anschreien normal sei; im Kontext eines Gesprächs zwischen erwachsenen Frauen könnte ihnen der Sinn zugeschrieben werden, dass es eine Normalität peerbezogener Spannungen gebe, die hier überschritten wurde. Der tatsächliche dokumentarische Gehalt wird im weiteren Kontext entfaltet: Buket wird betonen, dass es „voll schlimm“ mit der Mitschülerin sei, deren Mutter habe sich bei ihrer Mutter beschwert; ihre Mutter habe daraufhin die Klassenlehrerin angerufen habe und geäußert „mein Kind Buket ist zu Katharina sehr gemein“. Gina wird eine Erzählung entwickeln, die angeblich im ersten Schuljahr stattgefunden hat: Sie habe Katharina gegenüber behauptet, es sei schulische Aufgabe, ein totes Eichhörnchen mitzubringen, habe aber später ihre Aussage gegenüber beiden Müttern abgestritten; auf Nachfrage der betroffenen Peer, warum sie das gemacht habe, habe sie mit der Formulierung reagiert „weil das sollte“. Gina bezieht in ihrer Erzählung die Verwendung des Personalpronomens „wir“ auf eine familienbezogene Mehrzahl. Das erschließt sich durch das sprachbegleitende körpersprachliche Signal, den Kopf so zu bewegen, als würde er wackeln, wenn sie von ihrer Mitschülerin Katharina, aber auch, wenn sie von deren Mutter spricht. Unabhängig davon, wie dieses Signal performativ zu interpretieren wäre, zeigt der doppelte Bezug, dass Gina Mutter und Tochter in Assoziation zueinander sieht; damit ist an dieser Stelle für das „wir“ ein Bezug auf Peerkonflikte unzureichend, darüber hinaus wird er als Konflikt zwischen familiären ‚Einheiten‘ inszeniert. Zum Abschluss wird Fiona darüber sprechen, dass sie Katharina an den Haaren gezogen und in den Hals „gekniffen“ habe, bis Julia eine Grenze markiert, indem sie auffordert „Redet jetzt mal wieder über Frau Heinz und eure Eltern“; das Mädchen kann ihre Peers auf das ‚richtige
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Thema‘ einschwören, indem sie an die Frage des Forschers erinnert und diese Phase beendet. Später werden weitere „Geschichten“ über Katharina erzählt werden; allem Anschein nach liegt ein Fall von Mobbing bzw. Bullying vor. Darunter wird hier „personale Gewalt“ (Melzer/Schubarth 2015: 25) verstanden: „Für eine erste Annäherung und Systematisierung der Begrifflichkeit kann zwischen personaler/individueller gegenüber struktureller/institutioneller Gewalt unterschieden werden. Personale Gewalt ist auf individuelle Akteure bezogen. Darunter werden Handlungen (und Unterlassungen) verstanden, die auf andere Personen gerichtet sind; hier geht es immer um ‚Täter‘ und um ‚Opfer‘. In einer engen Fassung wird Gewalt auf solche Handlungen beschränkt, die eine physische Schädigung auf Seiten des Opfers zur Konsequenz haben. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass der Begriff der personalen Gewalt um eine psychische Komponente erweitert werden sollte. So können verbale Attacken gegen eine Person eine Wirkung haben, die in der Perspektive des Opfers durchaus mir physischer Gewalt vergleichbar ist oder langfristig sogar gravierenden sein kann“ (ebd.).
Die Proposition dieser Passage muss aus Sicht der Peergruppe umformuliert werden, sie zeigt einen Horizont, der sagt, dass die Erwachsenen nicht wissen, wie schlimm es mit dieser Peer und ihrer Mutter ist. Der weitere Diskurs wird diese Proposition durch Buket, Gina und noch einmal Fiona elaborieren lassen. Der thematische Aufbau stellt eine Eskalation dar, von den kritischen Äußerungen Bukets über Ginas Geschichte einer makabren Irreführung bis hin zu den Äußerungen Fionas, die gewalthaltige Handlungen thematisieren; dem folgt eine metakommunikative Schließung durch Julia, die immer wieder Grenzmarkierungen vornimmt, die den gemeinsamen Orientierungsrahmen in seinen Horizonten mitgestalten, Gewalt gegen Schulpeers gehört offenbar nicht dazu. Die Peergruppe der Mädchen scheint von einer eher ‚aggressiven‘ und eine eher ‚ausgleichenden‘ Orientierung bestimmt zu sein, die miteinander im Gespräch stehen, zwischen denen Mädchen vielleicht wechseln, wenn das auch in dieser Passage nicht sichtbar ist. Man könnte vermuten, dass der Modus der Diskursorganisation ein antithetischer oder oppositioneller wäre, aber die Gruppe entwickelt den Sinngehalt in den meisten Sequenzen parallel. Das könnte Folge einer ‚Arbeitsteilung‘ zwischen den Peers sein, mit der sie unterschiedliche individuelle Haltungen integrieren. Auffällig ist eine Art „Selbstermächtigung“ einzelner Mädchen wie Fiona, Gina und Buket, die glauben, Strafen für angebliche ‚Regelverstöße‘ der Mitschülerin verhängen zu können. Im nächsten Schritt wird von Buket und anderen eine Konklusion entwickelt (Gruppe „Spiele“, Transkript 2, 112–144):
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Die zweite Passage des selbstläufigen Diskurses entwickelt wiederum im parallelen Modus eine neue Proposition, dabei ist Buket diejenige, die die Grenzziehung zu den Erwachsenen zugespitzt formuliert; dafür bedient sie sich einer Körpersprache, die – ohne sie hier in ihrer Performativität weitergehend interpretieren zu wollen – auf den ersten Blick wie Gesten Erwachsener wirken. Die Mädchen thematisieren in dieser Phase die erzieherische Einflussnahme von Eltern und Lehrerin zur Beilegung des Konflikts mit der Peer Katharina. Die verbalen Interventionen der Erwachsenen werden anhand einzelner Aussagen wie „vertragt euch“, „entschuldigt euch“, „ärgert die nicht“ oder „mischt euch nicht ein“ als Nichtverstehen gedeutet. Bukets Klage über die „Unverschämtheit“ lautet „die sagen einfach“, damit meint sie die Konfliktregulierung der Erwachsenen, in der es letztendlich um die Bedeutung von Regeln und Regelauslegungen geht. Denn mit der einfachen Verordnung von Regeln ist es nicht getan, die „Nichtformalisierbarkeit von Interaktionsregeln“ (Kalthoff/Kelle 2000: 704), deren
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Bezüge und Implikationen müssen berücksichtigt werden, so etwa: „Ist man sich über den Rahmen ‚Spaß‘ einig, sind zunächst einmal alle Mittel erlaubt.“ (ebd.); dann geht es um die Frage, wer ggf. für das Umschlagen von Spaß in Ernst verantwortlich ist. Genau das wird Buket an anderer Stelle ausführen: Man habe mit Katharina gespielt, sich gegenseitig „schlimme Wörter“ zu sagen, und diese habe sich danach bei der Klassenlehrerin beschwert. Das Spiel mit den Schimpfworten hat einen aggressiven und ambivalenten Charakter, das Spiel könnte als „Mutprobe“ zwischen Gemeinschaftsgefühl und Gruppendruck (Rauchfleisch 1997: 438) verstanden werden, es könnte aber auch eine Fortsetzung des Bullying mit anderer Legitimation gewesen sein. Mit ihrer Klage gegenüber der Klassenlehrerin hat die Peer aus Sicht Bukets und der anderen Mädchen auch gegen eine weitere Regel der Peerkultur verstoßen, die gegenüber Erwachsenen nicht explizierbar ist und in etwa lautet „du sollst möglichst keine Erwachsenen einschalten“ (Kalthoff/Kelle 2000: 707). Buket gelingt dann die rhetorische Figur eines Perspektivenwechsels bzw. Rollentauschs, in der die Erwachsenen die sind, die streiten und deren Verhalten zu kritisieren ist, und die Mädchen diejenigen, die verregelte Verhaltensanforderungen an sie stellen. Diese rhetorische Leistung, die auch Streitigkeiten zwischen Eltern und Lehrkräften einbezieht, verweist auf individuelle Erfahrungshorizonte des Mädchens, aber auch auf einen Autonomie-Anspruch, nach dem Kinder und Erwachsene grundsätzlich mit gleichen Rechten ausgestattet sind. Die Figur des Rollentauschs ist darüber hinaus konjunktiv bedeutsam, denn die Sprecherin reklamiert damit auch ein Verständnis generationaler Beziehungen, das sich gegen Anordnungen richtet und auf Verhandlungen orientiert ist. Dieser Anspruch wird von der Gruppe grundsätzlich geteilt, wie die Gemeinsamkeiten des Diskurses deutlich machen, damit wird die von ihr entwickelte Orientierung eine gemeinsame der aktiven Peers. Die Konklusion zielt auf die generationale Gegenüberstellung von Kindern und Erwachsenen und thematisiert den Anspruch in Form des Verbots „misch dich nicht ein“. Später wird Buket die generationale Grenzziehung noch einmal weiter entwickeln, wenn sie formuliert „fast alle Lehrer und Eltern ähm halten zu den- nicht zu den Kindern sondern zu den Menschen die den Kindern was angetan haben das ist ich find das voll komisch das ist fast immer so“. Sie erhebt damit den Vorwurf mangelnder Solidarität der Erwachsenen mit Kindern, also mit ihnen, angereichert um das im Kontext eigenartig wirkende Wort „Menschen“. Dessen Sinngehalt als Oberbegriff für Kinder und Erwachsene kann durch einen Rückbezug auf die zuvor in der Gruppe geschilderten Konflikte interpretiert werden,
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insbesondere zu den von der Schülerin Gina angedeuteten „wir“-Abgrenzungen. Die Differenz erfolgt zwischen „wir“ und „denen“, unabhängig davon, ob diese Grenzziehung schon in der ersten oder erst in der dritten Klasse stattfand. Die Mitschülerin Katharina wird als Teil ihrer Familie gesehen, vor allem in Beziehung zu ihrer Mutter. In Bukets Erzählung steht es zunächst für die spielenden Peers mit danach für die Peers ohne Katharina, da sie den Schutz der Lehrerin gesucht hat. In beiden Fällen wird die Mitschülerin den Erwachsenen zugeordnet. Offenbar sehen die meisten Peers dieser Gruppe ihre Mitschülerin Katharina nicht als gleichrangige, selbstständige Person, sondern nur im Verbund mit Erwachsenen, weil sie gegen ungeschriebene Regeln verstößt und darin von den Erwachsenen geschützt wird.
6.5.4 Orientierungen Als immanente Vergleichsfälle der Gruppe „Spiele“ haben zum einen die Erwachsenen zu gelten, von denen man sich distanziert, weil sie nicht „kapieren“, zum anderen eine Peer, der man ablehnend gegenüber steht und die man ausgrenzt. Damit markiert die Gruppe zum einen Opposition gegenüber Erwachsenen, zum anderen den Anspruch auf eine selbstständige Formulierung bzw. Auslegung der Regeln. Immanent wird aber noch eine andere Differenz sichtbar, denn die Mitglieder der Gruppe zeigen unterschiedliche Haltungen zu den von Fiona berichteten gewalttätigen Übergriffen, Fiona hält sie wie Buket für gerechtfertigt; Julia markiert demgegenüber mit ihrer Intervention die Grenze, die anderen Mädchen wenden sich ab, indem sie beginnen, über anderes zu sprechen. Die hier von der Gruppe agierte Differenzlinie ist nur als komplexes Konstrukt vorstellbar, das pragmatische Erwägungen, normative Bedenken und habituelle Gewohnheiten ebenso beinhalten könnte wie ein situatives Zurückschrecken vor der Auseinandersetzung.
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6 Forschungsergebnisse: Fallbeschreibungen
Tab. 6.4 Orientierungen der Gruppe „Spiele“
Fallinterne Vergleiche aus der Perspektive des Forschers richten sich auf die Orientierungen der Eingangspassage, nach der es Glück ist, wenn Lehrerin und Mütter nicht miteinander sprechen, und der ausgewählten Passagen, in denen am Fall der Mitschülerin ein Horizont sichtbar wird, der die eigenständige Abgrenzung der Peergruppe betont. Damit verbindet sich eine Ablehnung schulischer „Elternarbeit“, die über die unvermeidlichen Elternabende und Elternsprechtage hinausgeht, denn jeder Kontakt zwischen Eltern und der Lehrerin wird als Möglichkeit für die Entstehung neuer Interventionen gedeutet, die Rückwirkungen auf die Aushandlungen der Peergruppe haben, sie ggf. behindern, verändern, beeinflussen können. Diese Orientierung wird gerahmt durch die allgemeinere auf Eigenständigkeit gegenüber Erwachsenen und eine eigenständige Auslegung der für das Peerleben geltenden Regeln. Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Spiele“ kann in die Gegenstandskonzeption dieser Studie (s. o. Abschnitt 4.3) eingebracht werden, um ihn als Orientierung im weiteren Sinne in den Erfahrungsräumen der Peers und der Schule zu differenzieren (s. Tab. 6.4). Ab- und Ausgrenzungen der
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Mädchen stehen dabei im Mittelpunkt, sowohl gegenüber den Erwachsenen als auch gegenüber einer Mitschülerin, die gegen eingeforderte ‚Regeln‘ des schulischen Peerlebens verstößt. Der Orientierungsrahmen der Gruppe zeigt als idealen positiven Horizont dieser Orientierung einen durch Regelauslegungen abgegrenzten sozialen Raum der Peers, als pragmatischen Horizont die mehr oder weniger aggressive Ausgrenzung einer schulischen Peer13; der negative Gegenhorizont ist in der Befürchtung eines von der älteren Generation geregelten Bezirks der Peerbeziehungen zu vermuten, der sich pragmatisch in der oppositionellen Abgrenzung gegenüber Erwachsenen zeigt.
13Das
Bullying einer Peer als positive Orientierung von Schulkindern zu kennzeichnen, scheint der schulpädagogischen Rahmung dieser Studie zu widersprechen, es muss als „misslingende Aushandlung“ (vgl. Krappmann 1994) der Grenzziehungen einer Peergruppe interpretiert werden; dem entspricht der Erfolg der Methode des sogenannten „NoBlame-Approach“: Das nicht-strafende, ursprünglich aus Großbritannien stammende Konzept bietet gemobbten und mobbenden Kindern und Jugendlichen einen Ausweg aus den Handlungsmechanismen, in denen sie gefangen sind und die hier als peerbezogene Abgrenzung markiert wurden; an die Stelle von Schuldzuweisungen tritt beim „NoBlameApproach“ der Versuch der Übergabe von Verantwortung an alle Gruppenmitglieder (vgl. Caesar/Mölders 2016).
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Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Die komparative Analyse ist ein zentrales Moment der dokumentarischen Methode, das die Standortgebundenheit der ForscherInnen relativiert (s. o. Abschnitt 5.3.4) und das Besondere einer Äußerung oder Geste in ihrer Beziehung zum Kontext sichtbar macht (vgl. Bohnsack 2014a; Bohnsack/Michel/ Przyborski 2015); man unterscheidet fallimmanente, fallinterne und fallübergreifende Vergleiche, die schrittweise zu einer ‚dokumentarischen‘ Methode der Typenbildung führen (s. o. Abschnitt 4.1.3). In der Darstellung dieser Studie wurden die fallimmanenten und fallinternen Vergleiche den Fallbeschreibungen zugeordnet, die fallübergreifenden werden in diesem Abschnitt dargestellt, um die Typenbildung vorzubereiten; diese idealisierende Darstellung entspricht nicht dem Forschungsprozess, der von Anfang auf fallübergreifende Vergleiche setzt, wurde aber aus Gründen der Lesbarkeit gewählt. Die Thematik schulischer „Elternarbeit“ wird im Folgenden konsequent aus Sicht der Kindergruppen rekonstruiert, sie folgt den kommunikativen und konjunktiven Gehalten der Gruppendiskussionen. Dabei ist zu beachten, dass das Sample, anders als geplant, nur aus vier Gruppen von drei Schulen besteht (s. Tab. 7.1), die Gründe dafür wurden bereits genannt (s. o. Abschnitt 6.1).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_7
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7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Tab. 7.1 Sampling der Fälle nach Schule und Geschlecht Schule \ Geschlecht
Grundschule Feuerberg
Grundschule Erdenreich
Jungen
Mädchen
Gruppe „Puppen“
Gruppe „Räder“
Lehrerinnen -Wechsel Elternsprechtag
Klassenfahrt Elternsprechtag Gruppe „Spiele“
X
Peer-Konflikt Eltern -Lehrerin -Kontakte
Gruppe „Tiere“ Grundschule Windeck
Konflikt mit der Lehrerin Elternsprechtag
X
Die Vergleiche über alle Fälle hinweg werden zunächst auf der Ebene der formulierenden, danach auf der der dokumentarischen Interpretation vorgenommen, und zwar zwischen allen Gruppen. Die thematischen Bezüge werden nicht nur zwischen den ausgewählten Passagen hergestellt, sondern auch zwischen sonstigen Themen der Gruppendiskussionen, die Bezüge zum impliziten Wissen konzentrieren sich auf die herausgearbeiteten Orientierungsrahmen und deren Ausdifferenzierung. Die Gruppen können nach Geschlecht und Schule differenziert werden: „Spiele“ und „Räder“ sind Mädchengruppen, die in Bezug auf das Geschlecht minimal kontrastieren, ebenso die beiden Jungengruppen „Puppen“ und „Tiere“. In organisationsbezogener Hinsicht sind die Gruppen „Puppen“ und „Räder“ minimal und in Bezug auf die beiden anderen Gruppen maximal kontrastierend, da sie aus zwei dritten Klassen derselben Schule stammen1. Die Gruppe „Tiere“ bildet
1Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Schulklassen einer Schule nicht zu vernachlässigen, auch wenn eine „Schulklassenkultur“ derzeit im schulpädagogischen Diskurs nicht diskutiert wird; nach Parsons (2012) ist die Schulklasse die „primäre“ und „zentrale Sozialisationsinstanz“ (ebd.: 104), ihr „Strukturmuster“ differenziert sich nach Organisation und Methoden in den Klassen von „traditionellen“ und „progressiven“ Schulen in einer „beträchtliche[n] Variationsbreite“ (ebd.: 108); zudem unterscheiden Klassen sich nach informellen Aspekten, die von den formellen Erwartungen abwichen, etwa in der Behandlung der Geschlechterdifferenz oder der Möglichkeit
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
293
mit den Gruppen „Spiele“ und „Räder“ hinsichtlich des Geschlechts und der Institution einen maximalen Kontrast, die Gruppe „Spiele“ hinsichtlich der Gruppen „Tiere“ und „Puppen“.
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche Jede Kindergruppe dieser Untersuchung kommuniziert in den Gruppendiskussionen ihre thematischen Schwerpunkte: Die Gruppe „Puppen“ kreist um klassen- und lehrkraftbezogene Erlebnisse, die Gruppe „Räder“ um die Erfahrungen der Klassenfahrt, die Gruppe „Tiere“ nimmt den Konflikt mit einer Lehrerin in den Blick, die Gruppe „Spiele“ den mit einer Mitschülerin. Themen, die in allen vier Gruppen Gegenstand der Propositionen werden, werden unter den Überschriften Peers, Lehrkräfte, Schulleistungen, Elternsprechtage und Klassenfahrten zusammengefasst. Die Aussagen der Gruppen dazu werden im Folgenden zusammengefasst und verglichen, um propositionale Homologien in den unterschiedlich formulierten Passagen zu finden; der Bezugsrahmen ist dabei die Gegenstandskonzeption dieser Studie, die auf der kommunikativen Ebene institutions- und rollenbezogene Regeln, Normen und Identitäten fokussiert (s. o. Abschnitt 4.3). „Die Organisationsmitglieder müssen sich demnach sowohl zu gesellschaftlichen, institutionalisierten Normen, Rollen- und Identitätserwartungen in Bezug setzen, als auch zu den im Rahmen der jeweiligen Organisation etablierten normativen Erwartungsstrukturen und Programmatiken“ (Amling 2017: 105).
partikularistischer Behandlung einzelner SchülerInnen (vgl. Hummrich/Kramer 2017: 38, 42); ausgehend von diesem Strukturmuster wären mögliche Aspekte einer ‚Schulklassenkultur‘ zu thematisieren und zu beforschen, auch in Bezug auf professionelles LehrerInnenhandeln. Parsons schreibt dabei zugleich „ein konservatives Modell der geschlechtlichen Sozialisation“ (ebd.: 132) fort, wenn er feststellt, dass Grundschullehrerinnen bis zu einem gewissen Grad die Kontinuität der Mutterfigur repräsentieren und zugleich die Leistungsmessung und -differenzierung an allgemein gültigen Normen legitimieren sollen.
294
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
7.1.1 Peerbeziehungen Im Kontext der Peer-Thematik stehen Normen und Regeln der Freundschaft, der Hilfe und des Verhaltens zueinander im Mittelpunkt. Die Gruppe „Puppen“ zeigt in ihren kommunikativen Aushandlungen um die Sprecherfolge, dass sie ihre Peerbeziehungen reguliert. Außerdem stellen sich die Jungen in einem ‚Gruppenbild‘ dar, indem sie die suggestive Frage des Forschers „Ihr seid doch Freunde“ unisono bejahen und dabei die Arme auf die Schultern ihrer jeweiligen Nachbarn legen. Auch andere Momente werden sichtbar, wenn sie sich kritisch gegenüber einem anwesenden Peer äußern, der in ihren Augen offenbar „Unfug“ (Luhmann zit. nach Hummrich/Kramer 2017: 67) treibt. Die Gruppe „Räder“ thematisiert Peerbeziehungen vor allem im Kontext der Klassenfahrt, dabei sprechen sie über Ängste, Hilfen und Schwierigkeiten, u. a. beim Einschlafen; eine Mitschülerin wird abgelehnt, weil sie die damit verbundenen Emotionen einer abwesenden Peer als Schwäche zurechnen will. Die Gruppe „Tiere“ zeigt, über die gemeinsame Ablehnung der Lehrerin hinaus, dass die Nutzung und der Kauf von Tablets und Spielkonsolen ein hoch relevantes Peerthema ist, bei dem es darum geht, wer das beste und neueste Gerät besitzt; später werden sie „cool“ und „chillig“ als relevante Peereigenschaften aufrufen. Die Gruppe „Spiele“ verhandelt das Mobbing einer abwesenden schulischen Peer; auch sie kommuniziert stellenweise die Sprecherinnenfolge, dabei nimmt eine Peer eine Art Lenkungsfunktion ein; zudem ‚ermächtigen‘ sich einzelne Mädchen, ein von ihnen als ‚Regelverstoß‘ interpretiertes Verhalten der Mitschülerin zu sanktionieren. Alle Themen können ohne Weiteres im Forschungsfeld der Peerbeziehungen verortet werden, die sich in der mittleren Kindheit auf das Freundschaftskonzept orientieren, das „als grundlegendes Sozialprinzip (an-) erkannt“ (Reinders 2015: 400) wird, ohne dass es damit bereits realisiert wäre (s. o. Abschnitt 3.3.3). Während die Gruppe „Puppen“ sich zum Begriff der Freunde affirmativ verhält, zeigen die Mädchen der Gruppe „Spiele“, wie sie Freundschaft verstehen, und lehnen damit die Mitschülerin ab. Prosoziales Verhalten steht im Mittelpunkt der Grundschulerziehung, das zeigt sich etwa im Umgang mit der von den Lehrerinnen verordneten Hilfe auf der Klassenfahrt, die die Gruppe „Räder“ berichtet; dieses Verhalten nimmt aber nach und nach ab, gleichzeitig wachsen die Kompetenzen im Umgang mit dyadischen und komplexeren Peerbeziehungen; die Mädchengruppen thematisieren diese Differenzierungen, die Jungengruppe „Tiere“ erprobt sie agierend. Durch diese veränderte Sicht bleibt Hilfe für andere nicht die moralische Norm, sondern wird zunehmend
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
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häufiger je nach Situation, Gegenüber und eigenen Interessen differenziert (Oswald 2008: 321; Reinders 2015: 401; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 417). Gleichzeitig gilt Gleichheit weiterhin als „regulatives Prinzip“ (Krappmann 2010: 188), sichtbar in den Aushandlungen der Gruppen zur Gesprächsordnung und zum Gesprächsverhalten. Darüber hinaus findet sich in der Perspektive der Gruppe „Tiere“ auf „cooles“ Verhalten die Orientierung an Älteren, in diesem Fall Jugendlichen (ebd.: 191).
7.1.2 Klassenfahrten Klassenfahrten werden sowohl von den Mädchen als auch den Jungen mit starker emotionaler Beteiligung erlebt: „Ein komisches Gefühl so juhu juhu endlich allein Eltern sind weg“ rekurriert ein Mitglied der Gruppe „Tiere“ auf sein Erleben, ein anderes formuliert seine Freude auf die Klassenfahrt; die Jungen der Gruppe „Puppen“ berichten ungefragt, dass Eltern und Lehrerin auf einem Elternabend über die nächste Klassenfahrt gesprochen haben, und erinnern sich an Ereignisse der letzten Fahrt, wenn auch ganz unterschiedlich; die Gruppe „Räder“ stellt das Thema in ihrem Diskurs zentral, dabei spricht Ada explizit von ihrer Angst vor der Klassenfahrt, die sich auf das ihr unbekannte Ziel richtet; außerdem proponieren die Mädchen zahlreiche, gemeinsame Erfahrungen, u. a. das Essen, den Süßigkeiten-Konsum und andere nächtliche Aktionen sowie erste Kontakte zu Jungen, dabei sind emotionales Erleben und von den Lehrkräften verordnete Hilfen als differenzierende Peererlebnisse zentral; in der Gruppe „Spiele“ wird an verschiedenen Stellen des Peerdiskurses auf die Klassenfahrt Bezug genommen, ausdrücklich wird dargestellt, dass man die Lehrerin beobachtet habe und wie man auf dem Foto der Klassenfahrt abgebildet worden war, auch hier wird die peerbezogene Rahmung betont. Damit ist der zweite gemeinsame Themenbereich aller vier Gruppen, der der Klassenfahrten, deutlich markiert, wenn auch in den einzelnen Gesprächen ganz unterschiedlich. Über die emotionale Beteiligung hinaus werden das Gemeinsame des Peererlebens, die Ziele der Klassenfahrten und ihre Organisierung durch Gespräche zwischen Lehrkräften und Eltern angesprochen. Allgemein gelten Klassenfahrten als „Ort des informellen Bildungsgeschehens“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005: 138), der „im Sinne eines weiter gefassten Bildungsbegriffs“ (Overwien 2008: 132) genauer zu untersuchen wäre. Allerdings spielen Klassenfahrten in der schulpädagogischen Forschung seit Jahrzehnten keine Rolle mehr, daher muss auf ältere Forschung von
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7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Krappmann und Oswald (1985) zurückgegriffen werden, um die peerbezogene Relevanz dieser schulischen Veranstaltung deutlich zu machen, nämlich „im Umgang untereinander zu lernen, was sie [die Kinder – KS] nur miteinander lernen können: aushandeln, argumentieren, sich einigen, sich verweigern“ (ebd.: 94); zudem „[…] geht es immer wieder um Regel, Gleichheit, Gerechtigkeit, Zuverlässigkeit: Reihum holt einer das Brot zum Tisch; jeder muß gleichen Platz für seine Sachen im Schrank bekommen; die begehrten Wurstscheiben müssen gerecht verteilt werden; wer versprochen hat mitzuspielen, muß es einhalten, auch wenn ihm dann die Mannschaftseinteilung nicht gefällt. Aber andererseits gibt es auch ständig Versuche, eine Regel nachträglich wieder umzustoßen, sich durch schnelleres Zupacken oder gar Mogelei einen Vorteil zu sichern und mehr der Lust als der verabredeten Pflicht zu folgen“ (ebd.: 84 f).
Damit werden Klassenfahrten als organisatorisch geregelte, gleichwohl peerbezogen auszuhandelnde Veranstaltungen skizziert. Die Kinder, die in dieser Studie zu Wort kommen, proponieren sie, ob vergangen oder zukünftig, als relevante Ereignisse, die, von der älteren Generation organisiert, durch bedeutsames emotionales Erleben gekennzeichnet sind. Emotionen im Kontext der Institution und Organsiation Schule sind relevante Aspekte in den Beziehungen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen einerseits, zwischen Peers andererseits (s. o. Abschnitt 3.3.1)2. Als Darstellungen werden Emotionen und Affekte der Kinder hier nicht näher diskutiert, da Gefühle als habitualisiertes, inkorporiertes Verhalten mit performatorischen Anteilen verstanden werden (s. o. Abschnitt 7.1.5), die selbstverständlich Teil expliziter und impliziter Orientierungen sein können und sind, zumal davon auszugehen ist, dass Kinder in der Darstellung selbst weniger routiniert sind als Erwachsene. Die Fragestellung nach ‚echten‘ und ‚unechten‘ Gefühlen wird aus Sicht der Rational-Choice-Theorie gestellt, wie Scheer (2017: 258) kritisiert, da diese Emotionen als überwältigende Macht externalisiert.
7.1.3 Lehrkräfte Im thematischen Kontext der Lehrkräfte stehen diffuse und spezifische Aspekte der Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen zur Debatte, also zum
2Vergleiche
zum Begriff der Emotionen die Abschnitte 6.2.2 und 7.1.5.
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
297
einen Normen und Regeln eines „fairen“ und rollengerechten Verhaltens, zum anderen emotional gefärbte Erwartungen und Erfahrungen (vgl. S. 33, 59). Die Lehrerinnen der vier Grundschulklassen sind immer wieder Thema der Kindergespräche, dabei bilden sich in drei Fällen Konflikte ab: Ein Junge berichtet in der Gruppe „Puppen“ vom „Streiten“ zwischen Mutter und Lehrerin, die ganze Gruppe thematisiert den Wechsel von ihrer bisherigen Lehrerin zu ihrer jetzigen und sieht letztere in der Verantwortung für „nicht so gute Sachen“. Die drei Jungen der Gruppe „Tiere“ fokussieren einen aktuellen Konflikt zwischen ihnen und der Lehrerin, in dem auch die Eltern eine Rolle spielen, wenn ein Vater äußert, die Lehrkraft verhalte sich nicht „fair“; die Jungen beschreiben deren Unterrichtsverhalten negativ und werten sie als Person ab. Die Mädchen der Gruppe „Spiele“ thematisieren einen aktuellen Konflikt unter Peers, der sich auf die Beziehungen zwischen Peers und Erwachsenen auszudehnen scheint, außerdem kritisieren sie das unterrichtliche Verhalten der Lehrkräfte als „unfair“. Im Kontext der Schilderungen der Klassenfahrt durch die Gruppe „Räder“ tauchen keine expliziten Konflikte auf, sondern Schilderungen vom Elternsprechtag, auf dem die Lehrkräfte nicht über „Schlechtes“ sprechen, aber über schulische Aufgaben und Themen, die zu „üben“ seien; sie stehen zudem im Hintergrund kindlicher Erlebnisse auf der Klassenfahrt als rahmengebende Figuren, die in dieser Ausnahmesituation, wie die Kinder, Privates offenbaren müssen (in diesem Fall das nächtliche Rauchen einer Lehrerin). Zahl und Ausmaß der Konflikte können hier nicht bewertet werden, aber sie sind aus Kindersicht relevant und werden mehr oder weniger offen thematisiert. Insofern sind sie sichtbar, anders als an anderer Stelle vermutet, wenn davon gesprochen wird, „dass selten offen ausgetragene Konflikte zwischen Eltern und LehrerInnen zu beobachten sind“ (Laskowski/Weinhold 2011: 142; vgl. Böhnisch 2018: 413). Dass die Konflikte hier von den Kindern angesprochen werden, ist durch die Forschungsfrage dieser Studie und den expliziten Impuls der Gruppendiskussion (s. o. S. 169) ermöglicht, aber nicht explizit gefordert, sodass sich die Frage stellt, ob Erwachsene sich nicht täuschen (wollen), wenn sie meinen, dass Kinder innerhalb und außerhalb der Grundschule ihre innergenerationalen Konflikte nicht wahrnehmen würden. Zudem gibt es in Bezug darauf emotionale Beteiligungen der Kinder, nicht nur in den beiden Jungengruppen, auch in der Mädchengruppe „Spiele“, die zwischen Angst und Ärger angesiedelt sind. Nur in der Mädchengruppe „Räder“ werden die Lehrkräfte, die fast idealtypisch als ordnende Faktoren auftreten, zum Gegenstand positiv gestimmter emotionaler Bezüge, wenn die Gruppe diskutiert, wer die „liebste Lehrerin“ sei. Die Ausnahmestellung dieser Gruppe im Vergleich der vier Kindergruppen kann mit der Thematik der Klassenfahrt als einer schulischen Ausnahmesituation zusammenhängen, diese
298
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Stellung wird im Kontext anderer thematischer Aspekte, nämlich Schulleistungen und Elternsprechtag, noch einmal markiert. Welche Bedeutung die beschriebenen Konflikte in den Lehrkraft-ElternBeziehungen für die SchülerInnen haben, kann nur vor dem Hintergrund der weiteren Themen und Handlungsorientierungen diskutiert werden, da sie sich erst in solchen Relationierungen erschließt. Unabhängig davon muss die Kooperation von Eltern und Lehrkräften realiter als „ein prekäres Balanceproblem“ (Böhnisch 2018: 413) gesehen werden, auch wenn die „Verständigung über unterschiedliche Rollen, Deutungen und Unterstützungsmöglichkeiten“ (ebd.: 412) gefordert wird. Es ist die professionsbezogene Aufgabe von Lehrkräften, solche Konflikte im institutionellen Kontext zu lösen: „Es bedarf einer reflexiven Distanz, die auch deswegen notwendig ist, weil Professionelle universalistischen Prinzipien der Gleichbehandlung verpflichtet sind und ihr Handeln damit auch rollenförmige Anteile aufweist bzw. sie gerade in transfamiliäre, rollenförmige Interaktionsmuster einsozialisieren müssen“ (Helsper 2012a: 458).
Jenseits der beschriebenen Konflikte thematisieren die Jungen der Gruppe „Puppen“ ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit der früheren und der jetzigen Lehrerin: Während sie früher an Gesprächen ihrer Eltern mit der Lehrerin teilgenommen haben, scheint dies in der Praxis der jetzigen Lehrkaft nicht mehr der Fall zu sein; die Frage, inwieweit die neue Lehrerin, anders als die bisherige, eine Macht konstituierende Zweitcodierung (s. o. S. 113) vornimmt, bleibt offen. Die Gruppe „Räder“ zeigt ihre Sympathien und Verstehensleistungen gegenüber der Lehrerin; die Mädchen erläutern „die sprechen fast nie über was Schlechtes“, Sophie ergänzt, „wenn was schlecht ist dann sagt sie ihr müsst noch üben aber sonst ist alles gut“, Nena berichtet „danach sagt Frau Hector erst die guten Sachen danach sagt sie sie muss ein bisschen lesen üben und meine Rechtschreibung ist eigentlich nicht so gut“. Ein Junge der Gruppe „Tiere“ thematisiert, über die Darstellung von Konflikten mit den Lehrerinnen hinaus, einen „coolen“ Umgang mit Lehrkräften: „Die sagen nur was ich falsch gemacht hab und danach verbesser ich das“. Die Gruppe „Spiele“ schließlich tauscht sich über ihre Klassenlehrerin aus, dabei bezeichnet jemand sie als „n bisschen gemein“, sie sprechen von Aussagen, die sie nicht einhalte, etwa in der Notegebung; der Sportlehrer im Schwimmunterricht wird kritisiert, weil er die Mädchen zwinge, im Wasser immer wieder einen bestimmten Schwimmstil zu benutzen. Die genannten Themen zeigen, dass sich die Gruppen sowohl in Sympathieals auch in Antipathiebekundungen an den für alle gültigen Aufgabenstellungen
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
299
der Lehrkräfte und deren Gleichbehandlung in rollenförmigen Interaktionsmustern abarbeiten. Dabei kommt es auch auf die Balance der Lehrkräfte zwischen universaler Rolle und partikularistischen Orientierungen an: „Der Lehrer bzw. die Lehrerin agiert im Vergleich zu den Eltern ‚weit universalistischer‘ und muss v. a. die Differenzierung der Schulklasse nach Leistung entwickeln und legitimieren“ (Hummrich/Kramer 2017: 39).
Eine Grenze in diesem Prozess der Leistungsdifferenzierung und Entwicklung schulischer Rollenbeziehungen zieht die Gruppe „Spiele“, wenn sie im Unterschied zu den anderen Gruppen diskutiert, dass es nicht ausreiche, wenn die ältere Generation Regeln setze: „unsere Mütter und die Lehrer die kapiern das nicht“; sie halten die Behandlung ihrer Mitschülerin offenbar für partikularistisch und daher für nicht rollen- und regelgerecht, möglicherweise eine „Verletzung der universalistischen Erwartungen in der Schule“ (Parsons 2012: 108; Hummrich/ Kramer 2017: 39).
7.1.4 Schulleistungen Im Mittelpunkt der Schulleistungsthematik stehen Normen und Regeln zur Bewertung schulischer Leistungen, ihrer Differenzierung und Darstellung. Sie zeigen sich in den jeweiligen Gruppen ganz unterschiedlich. In der Gruppe „Puppen“ nennen die Peers Lieblingsfächer und -aktivitäten, haben aber Mühe, Leistungsdifferenzen zu erkennen: Ein Junge spricht wiederholt davon, dass seine Leistungen nicht gut seien, sowohl in Mathematik als auch im Schwimmunterricht, ein Peer aus der Gruppe widerspricht ihm, bis er von einem dritten darauf hingewiesen wird, dass er das goldene Schwimmabzeichen habe, der andere Peer aber nicht; auch ein Mädchen der Gruppe „Räder“ setzt Leistungen in einzelnen Fächern in Bezug zu persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Die Eltern sind auf jeden Fall in die Erbringung der Schulleistungen involviert, so Lena: „Mama kümmert sich gut um die Schulsachen“ und übt mit ihr für den EnglischTest; Nena: „dann üben wir was wir falsch gemacht haben mit Mama“. Die Schülerinnen beschreiben außerdem, wie sie Leistungsbewertung entschlüsseln, sie widmen sich dabei intensiv den grafischen Darstellungen der Leistungsbewertung durch die Lehrerin: Die Löwen-Smileys dienen für Nachrichten an die Eltern zum Fach Englisch, „ein fröhlicher Leo ein mittlerer Leo und ein trauriger Leo und da kreuzt sie immer an“; außerdem „hatten wir so Sterne eins war schlecht zwei war du musst das noch üben drei war schon gut und und vier ganz
300
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
gut“. Sophie formuliert ihre Leseprobleme mit dem Satz „im Lesen ääääh bin ich noch klein“, sie zeigt mit ihrer Hand eine Höhe einen halben Meter über dem Boden an und visualisiert damit eine Sichtweise, in der schulische Leistungen und körperlicher Entwicklungsstand zusammengehören. Die drei Jungen der Gruppe „Tiere“ sprechen kaum über schulbezogene Leistungen; Interesse wird nur für den Notfall der Leistungsbewertung aufgebracht, denn „wenns schlimm ist interessierts mich mehr“. In der Gruppe „Spiele“ werden Schulleistungen ebenfalls nur im Zusammenhang zur Bewertung angesprochen, gleichzeitig wird diese als willkürlich dargestellt: „die sagt das wird gut ja du schreibst ne gute Note auf einmal sie gibt mir ne Sechs stell dir mal vor das macht sie immer also keine Sechs aber ist nicht wirklich ne gute Note“; die Sprecherin weiß hier um ihre Polemik und stellt damit ihr Wissen um den Unterschied von guten und schlechten Noten unter Beweis. In allen vier Gruppendiskussionen werden schulische Leistungen fast auschließlich im Kontext ihrer Bewertungen thematisiert, selten im Sinne eines sachlich bezogenen Interesses, wie es etwa in Bezug auf die Klassenfahrt von Seiten der „Räder“-Mädchen geschieht. Die schulischen Leistungsanforderungen werden durch die Bewertung als Selektion zwischen den Peers kenntlich, letztendlich „geht es in der Schule darum, sich im Anspruch von Leistung und Begabung zu positionieren und sich insofern mit anderen Gleichaltrigen messen zu lassen“ (Hummrich/Kramer 2017: 26): „Während in der Familie eine askriptive Statuszuweisung, Partikularismus und eine diffuse Beziehungskonstellation vorherrschen, finden wir in der Schule als strukturellen Rahmen eine zentrale Differenzierung nach Leistung und einen daran gekoppelten Statuserwerb“ (ebd.: 38).
Diese Sicht teilen der Strukturfunktionalismus Parsons und die Systemtheorie Luhmanns (vgl. ebd.), während die Habitustheorie Bourdieus den Leistungsuniversalismus als „Illusion“ darstellt. Interaktionistische und ethnografisch orientierte Ansätze sehen „die schulische Ordnung überhaupt maßgeblich durch Leistungszuschreibungen erzeugt […], die als soziale Konstruktionen identifiziert werden können“ (Bräu/Fuhrmann 2015: 49). Aus Sicht der hier sprechenden und agierenden Kinder ist die Erfahrung vereinheitlichter Aufgabenstellungen und darauf bezogener Leistungsbewertungen noch nicht selbstverständlich, sie ist vielmehr Gegenstand unterschiedlicher Interaktionen: Während die Jungen der Gruppe „Puppen“ damit beschäftigt sind, Leistungsunterschiede wahrzunehmen, und – wie eines der Mädchen der Gruppe „Räder“ – fachliche Leistungen als persönliche Vorlieben verstehen, vermeiden die Jungen der Gruppe „Tiere“ es,
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
301
näher auf Schulleistungen einzugehen, und formulieren stattdessen Erwartungen an einen „fairen“ und „coolen“ Umgang damit; die Mädchen der Gruppe „Spiele“ kritisieren die inkonsistenten Bewertungen der Lehrerin, die Gruppe „Räder“ beschäftigt sich intensiv mit den Darstellungsformen der Leistungsbewertung, sodass positive oder negative Wertungen fast zu verschwinden scheinen. Sichtbar werden über alle Gruppen hinweg interaktionsbezogene Regel- und Normvorstellungen, die von den Schülerinnen und Schülern in den Gruppendiskussionen aktualisiert werden, so etwa die Vorstellung einer verallgemeinerten ‚Gleichheit‘ der Jungen in der Gruppe „Puppen“, die Imagination ‚kindgerechter‘ Leistungsmotivation und -bewertung, die die Mädchen der Gruppe „Räder“ fasziniert und von den Mädchen der Gruppe „Spiele“ als ‚gemein‘ empfunden wird, dazu die minimalistische Erwartung von Hilfe durch Lehrkräfte bei der Fehlervermeidung, wie sie die Jungen der Gruppe „Tiere“ zeigen. Die unterschiedlichen Ausformungen der Thematik könnten als Stationen eines Prozesses der Habitusbildung diskutiert werden, man könnte sie aber auch als Momente unterschiedlich geformter Schulkulturen sehen (vgl. ebd.: 56), die Resultate unterschiedlicher Institutionen-Milieu-Komplexe sind (s. o. S. 36) und die Frage aufwerfen, welche „partikularistische[n] Überformungen eines schulischen Leistungsuniversalismus“ (Hummrich/Kramer 2017: 166) sich darin zeigen. Ihre Beantwortung müsste berücksichtigen, dass die „Differenzierung der Klasse entlang der Leistungsachse“ (Parsons 2012: 116) eine Ursache von Spannungen darstellt und daher die Billigung von Seiten aller TeilnehmerInnen des Wettbewerbs erhalten muss3: „Sowohl die Schüler als auch die Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass die gezeigten Leistungen tatsächlich fachkompetent diagnostiziert, objektiv gemessen, gerecht bewertet werden.“ (Veith 2012: 314)
3„Es
ist notwendig, daß es realistische Chancen gibt und daß auf den Lehrer Verlaß ist, in dem er die Verwirklichung dieser Chancen durch ‚Fairness‘ und Belohnung von Leistungen ermöglicht, wo immer Befähigung vorhanden ist. Entscheidend ist die Tatsache, daß die Verteilung von Befähigung, obwohl sie mit dem Familienstatus korreliert, eindeutig nicht mit ihm koinzidiert. Damit ist ein echter Selektionsprozeß im Rahmen einer Reihe von ‚Spielregeln‘ möglich“ (ebd.: 116 f).
302
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
7.1.5 Elternsprechtage Im Kontext der Thematik ‚Elternsprechtag‘ und anderer formeller und informeller Kontakte zwischen Eltern und Lehrkräften, die bereits im Eingangsimpuls des Forschers fokussiert werden (s. o. Abschnitt 6.1), äußern sich die Kinder in den Gesprächen nicht zu Normen und Regeln, sondern zu emotionalen Qualitäten. Sowohl Mädchen als auch Jungen beschreiben die Situation des Elternsprechtags als „doof“, thematisieren, dass sie darüber nachdenken, was sie „falsch“ oder „schlecht“ gemacht haben, nennen Bauchschmerzen, starken Herzschlag und Schweißausbruch als Symptome, bezeichnen ihre Gefühle selbst als „Angst“ oder umschreiben sie entsprechend: „Wenn ich bei Elternsprechtag oder so bin hab ich eigentlich keine Angst aber das hat so ein Gefühl dass ich Angst habe“; manche zeigen auch Ärger und sprechen von „Unverschämtheit“. Überdies müssen Begriffe, die scheinbar in eine andere Richtung weisen, bei näherem Hinsehen ebenfalls als Hinweise auf eine emotionale Beteiligung entschlüsselt werden, z. B. Pauls Repetitio „langweilig“, das auch in den Gesprächen der Gruppen „Puppen“ und „Räder“ genannt wird, in den Jungengruppen aber eine größere Rolle spielt4. Schaut man Kontexte und Konnotationen der Begriffsverwendung an, wie es für die Gruppen „Puppen“ und „Tiere“ rekonstruiert wurde, dann wird deutlich, dass die Jungen die Gespräche nicht als „langweilig“, sondern als langwierig und anstrengend erleben: Ein Junge aus der Gruppe „Tiere“ stellt fest „die haben nur geredet“ und beschreibt, dass er das Smartphone seiner Mutter haben wollte, um stattdessen ein Spiel zu spielen, ein anderer ergänzt „das war auch so bei mir ich wollte nur raus und Mama die ganze Zeit das musst du dir anhören was du noch verbessern musst bla bla bla“; der Junge stellt dazu fest, dass die Erwachsenen „richtig schnell“ reden würden, so dass er „eh nix“ verstehe; dieses Erleben wird mit dem Wort „langweilig“ umschrieben. Zusammenfassend kann man aus den Thematisierungen der vier Gruppen herleiten, dass die Kinder den Elternsprechtag und ähnliche Kontakte als emotionale Belastung erleben, mehr oder weniger groß, unterschiedlich gefärbt; so werden Streitigkeiten zwischen Eltern und Lehrerin von den Jungen der Gruppe „Puppen“ als bedrohliches Ereignis, von den Mädchen der Gruppe „Spiele“ als unangemessenes Benehmen der Erwachsenen konnotiert; emotionale Belastung ist das vorherrschende Thema der Kindergespräche.
4Einige
Gedanken und Formulierungen des Folgenden wurden bereits in einem Aufsatz des Forschers (Stiller 2017) veröffentlicht.
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
303
Hier und im Weiteren wird emotionales Erleben als ein Ensemble von Praktiken verstanden, emotionale Praktiken wiederum als Aspekte habituellen Verhaltens, die in den Körper eingeschrieben sind, von ihnen werden Affekte unterschieden, die der Rational-Choice-Theorie als „echte Gefühle“ erscheinen (Scheer 2017: 263 ff)5. Der Begriff der Emotion gilt im Unterschied zu dem des Gefühls als der umfassende, auch Kognitionen einschließende „mentale Komplex“ (Schützeichel 2017: 21). Habitustheorien setzen die Inkorporierung mit einer „Reproduktion symbolischer Gewalt durch inkorporierte Gefühle“ (ebd.: 23) gleich, für Kinder und deren weniger weitgehende Habitusbildung gilt das in eingeschränktem Maß. Empirische Untersuchungen des kindlichen Erlebens von Eltern-Lehrkraft-Kontakten gibt es nicht. Wild und Lorenz (2010: 103 ff) berichten von einer Untersuchung Wilds 1999, in der sie 169 GymnasiastInnen der sechsten und siebten Jahrgangsstufe befragte, um die kindliche Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen dem Verhalten von Eltern und Lehrkräften in Bezug zu motivationalen Orientierungen der SchülerInnen zu setzen: „Dass weitgehende Parallelen im Eltern- und Lehrerverhalten nur von wenigen Schülern berichtet wurden, deutet darauf hin, dass (gewisse) Abweichungen in den Erziehungspraktiken von Eltern und Lehrern eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Um zu prüfen, ob das Ausmaß diskrepanten Eltern- und Lehrerverhaltens mit der Qualität der Lernmotivation der Schüler assoziiert ist, wurden zunächst Gruppen mit hoher (N = 90) versus niedriger (N = 76) selbstbestimmter Motivation und hoher (N = 88) versus niedriger (N = 77) fremdbestimmter Motivation gebildet. Anschließend wurde untersucht, ob sich diese ‚Motivgruppen‘ in dem Grad ihrer ‚Diskrepanzerfahrung‘ unterschieden. Dass sich hierbei keine durchgängigen Unterschiede zeigten, spricht […] dafür, dass für die kindliche Motivationsentwicklung nicht die Passung entscheidend ist, sondern vielmehr das Ausmaß, in dem kindliche Bedürfnisse – durch wen auch immer – befriedigt werden“ (ebd. 104)
Die schulische Sozialisation sechster und siebter Jahrgänge ist sehr viel weiter fortgeschritten als die eines dritten Jahrgangs, ihr SchülerInnen-Verhalten in einem ganz anderen Ausmaß habitualisiert. Trotzdem lässt sich im Anschluss an die zitierte Untersuchung die Frage stellen, ob und inwieweit kindliche Bedürfnisse durch belastende Eltern-Lehrkraft-Kontakte beeinträchtigt
5Vergleiche
oben Fußnote 2 im Kap. 6.
304
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werden, etwa im Bereich emotionaler Sicherheit6. Wild und Lorenz diskutieren denn auch Konfliktszenarien im Zusammenhang mit elterlichen Bildungsaspirationen, schulischer Leistungsbewertung und den Übergangsempfehlungen von Grundschul-Lehrerinnen (ebd.: 146, 155), erörtern dabei aber nicht die emotionale Beteiligung der Kinder. Welche Wünsche, Interessen und Sichtweisen äußern die Kinder selbst angesichts ihrer emotionalen Belastungen? Sie proponieren unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Elternsprechtag und anderen Gesprächskontakten: Die Mädchengruppe „Spiele“ will die Kontakte von Eltern und Lehrerin auf Elternabend und Elternsprechtag begrenzt wissen, sie lehnt informelle Begegnungen und sonstige Gespräche eher ab; die Gruppe „Puppen“ wünscht und formuliert als Regel, dass die Lehrerin „nichts Schlechtes“ sagt; die Gruppe „Tiere“ geht, im Kontext ihres aktuellen Konflikts, in Distanz und fordert Fairness; die Mädchen der Gruppe „Räder“ beschreiben neben emotionaler Inanspruchnahme ihre Beteiligung an den Gesprächen, indem sie den Sprachgebrauch der Erwachsenen, der Mütter und Lehrerinnen, entschlüsseln; damit stehen sie im deutlichen Kontrast zu den anderen Gruppen. Ein weiterer, deutlicher Kontrast besteht zwischen den Gruppen „Puppen“, „Tiere“ und „Räder“ einerseits und der Gruppe „Spiele“ andererseits, die die Gespräche zwischen Eltern und Lehrkräften nicht als „langweilig“ oder „uninteressant“ bezeichnet, sondern – angesichts des Peerkonflikts – Pejorative und Vulgarismen benutzt. Andererseits wird von dieser Gruppe gemeinsam mit den Gruppen „Puppen“ und „Räder“ eine Differenz zwischen den Generationen aufgemacht, während die Gruppe „Tiere“ eine Unterscheidung zwischen ihren Familien einerseits, den Lehrkräften andererseits vornimmt.
7.1.6 Orientierungsproblem Krisenerleben Die komparative Analyse der vier Fälle ergibt fünf propositionale Akzente, die aufeinander bezogen sind, aber in unterschiedlichen Erfahrungsräumen
6Dies
wäre Wild und Lorenz mit Hilfe der sogenannten „Selbstbestimmungstheorie“ von Deci und Ryan (ebd.: 72, vgl. Deci/Ryan ) möglich gewesen, die „von drei psychologischen Grundbedürfnissen“ (Wild/Lorenz 2010: 72) ausgeht, vom Bedürfnis nach Kompetenzerleben, d. h. „sich in der Auseinandersetzung mit der sozialen und physischen Umwelt als kompetent und fähig zu erleben“ (ebd.), vom Streben nach Autonomieerleben, d. h. „selbst als Urheber der eigenen Handlung zu erleben, also selbstbestimmt handeln zu wollen“ (ebd.), und vom Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, d. i. der Wunsch, „von anderen geliebt, anerkannt und respektiert zu werden“ (ebd.).
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
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angesiedelt, zum einen im Erfahrungsraum der Peers, wie die Themen der Peerbeziehungen und der Klassenfahrten, zum anderen im Erfahrungsraum der Organisation, wie die Themen der Lehrkräfte, der Schulleistungen und der Elternsprechtage; gleichzeitig überlagern und ergänzen sie sich. Homologe Muster im Kontext der instutionellen Fremdrahmung werden vor allem in Bezug auf schulbezogene Normen und Regeln sichtbar: Während die Gruppen in Bezug auf Schulleistungen und Lehrkräfte ihre Sichtweisen, Meinungen und Beteiligungen in der antinomischen Spannung von Spezifischem (Regeln, Normen) und Diffusem (Persönlichem, Emotionalem) zum Ausdruck bringen, zeigen sie im Zusammenhang von Klassenfahrt und Elternsprechtag fast ausschließlich emotionale Stellungnahmen, die sich unmittelbar auf ein Erleben richten; dabei sind die Emotionen, die auf Klassenfahrt gerichtet sind, mit positiven Erwartungen verbunden und deutlich von den Emotionen zu unterscheiden, die mit Elternsprechtagen verbunden sind – jene sind mit negativen Befürchtungen assoziiert. Die kindlichen Propositionen lassen sich in ihrer Mehrzahl als Differenzerfahrung in der Organisation Schule verstehen, und zwar als Erfahrung der „Differenzen zwischen formalen Regelerwartungen, sozusagen den organisationalen Einredungen […], und der organisationalen Regelpraxis, d. h. den Praktiken des Umgangs mit diesen organisationalen Einredungen“ (Mensching 2017: 62; s. o. S. 137). „Die Organisationsmitglieder wissen um diese Differenz zwischen Regelgemäßheit (Regelerwartung) und Regelmäßigkeit (Regelpraxis), und ihre Kompetenz zeigt sich gerade darin, dass sie in der jeweiligen Situation dieses Verhältnis austarieren und mögliche Folgen ihrer Praktiken einkalkulieren müssen“ (ebd.: 62 f).
Auch wenn die Mitgliedschaft der SchülerInnen theoretisch nicht hinreichend geklärt ist (s. o. Abschnitt 4.2.1), ist schon aufgrund der Dauer der Anwesenheit in der Schule davon auszugehen, dass sie die Differenz zwischen regelbezogenen Erwartungen und Praktiken erfahren. Das machen insbesondere die Beiträge in den Gruppendiskussionen deutlich, die auf die Lehrkräfte und deren Leistungsbewertung abstellen und die Differenzerfahrungen explizit thematisieren; einige Schülerinnen und Schüler sprechen routinisiert darüber, wie ihre sprachlichen Darstellungsformen deutlich machen. Im Unterschied dazu stehen die von den Kindern proponierten Bereiche emotionaler Bedeutsamkeit, Klassenfahrten und Elternsprechtage bzw. Eltern-Lehrkraft-Gespräche – sie sind sozusagen Differenzerfahrungen zu Differenzerfahrungen. Sie sind ebenfalls Aspekte schulischer Organisation, aber sie sind Gegenstand von Aushandlungen zwischen Eltern
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und Lehrkräften und stellen einen Bruch mit den Routinen des von den Kindern erlebten, geregelten Schulalltags dar, da beide als organisationale Randbereiche durch eine weitgehende ‚Abwesenheit‘ von Regeln gekennzeichnet sind. Regeln gehören zwar zu jeder Klassenfahrt und ihrer Vorbereitung, aber ihre Wirkung beschränkt sich auf Grenzziehungen und Ausschlussverfahren, im Mittelpunkt der Klassenfahrt steht – nomen est omen – die Klasse mit ihren Aushandlungsprozessen und peerbezogenen Dynamiken im Zusammenleben, nicht der Unterricht oder die Schulordnung; Klassenfahrten setzen die Suspendierung schulischer Normen zugunsten der Erprobung eines peerbezogenen Rollenhandelns geradezu voraus7, die ältere Generation tritt mehr oder weniger in den Hintergrund. Elternsprechtage und Eltern-Lehrkraft-Gespräche beschränken sich in aller Regel auf die Festlegung der Zeit, der Ort ist regelmäßig vorausgesetzt, es ist der der Institution; Gestaltung, Verlauf und Ergebnisse sind von den Interaktionen der GesprächspartnerInnen abhängig; die Gesprächsgegenstände betreffen die Kinder in ihrer Rolle als SchülerInnen, da über ihre Lernerfolge und -misserfolge sowie deren Bewertung gesprochen bzw. verhandelt wird; die ältere Generation tritt dabei in den Vordergrund; ansonsten fehlen gültige Regeln und Rollen, auch und gerade für an- oder abwesende SchülerInnen; sie müssen sich mit der Dominanz der älteren Generation und ihrer Interaktion im Rahmen der milieuspezifischen ‚Passung‘ bzw. ‚Justierung‘8 zwischen Schule und Familie auseinandersetzen, und zwar als Einzelne. Diese spezifische ‚differente Differenzerfahrung‘, wie ich sie nenne, muss als kollektives Orientierungsproblem der Kinder verstanden werden, das durch die erwartungswidrige Abwesenheit von Regeln in beiden Erfahrungsräumen gekennzeichnet ist – allerdings mit ganz unterschiedlichen Folgen für sie. Das Orientierungsproblem ist ein Krisenerleben9, das in der Situation
7„Auf
Klassenfahrten wird oft das zum Normalfall, was im Schulalltag ausgeschlossen scheint“ (Schmidt 2014: 258), wird z. B. im Hinblick auf die sexuelle Sozialisation Jugendlicher festgestellt. 8Zum Begriff der Passung bzw. Justierung siehe Fußnote 28 im Abschnitt 2.2.7. 9Der Begriff der Krise wird hier nicht in Anlehnung an Oevermann verstanden, sondern als zentraler Aspekt der Habitusbildung (s. o. Abschnitt 4.2.2), als „Strukturort der Relativierung des Alten“ (Helsper 2014: 134), der sich mit dem Zerbrechen und der Relativierung habitueller Orientierungen verbindet, auch mit einem „Nebeneinander inkonsistenter Orientierungen und Praktiken“ (ebd.); dabei stellt die Bewältigung von Krisen selbst einen grundlegenden habituellen Aspekt dar, der ganz unterschiedlich konturiert sein kann; für Schulkinder wird von einer „Dominanz von Krise und Transformation bis zur Adoleszenz“ (Helsper 2014: 135) gesprochen.
7.1 Propositionsbezogene Vergleiche
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intergenerationaler Interaktionen mit emotional gefärbten Befürchtungen bis hin zu Angst und Ohnmachtsgefühlen verbunden ist, in der Situation innergenerationaler Interaktionen mit emotionalen Erwartungen bis hin zu Experimentierfreude und Selbstermächtigungen. Welche Einwände können gegen diese Deutung vorgebracht werden? Die Aussagen der Kinder fallen in Peergesprächen, sie werden von den AkteurInnen in der Ausgestaltung ihrer Peerbeziehungen verwendet, ganz im Sinne eines „Mitspielen[s] in sozialen Praktiken“ (Kelle/Schweda-Möller 2017: 129; s. o. S. 72) bzw. „kompetente[r] Gefügigkeit“ (Bühler-Niederberger 2018: 34; s. o. S. 73). Sicherlich müssen auch die Einflüsse der westlichen „Naturrhetorik“ auf die Beteiligten – auch den Forscher – berücksichtigt werden, mit der die „Schwäche und Verletzbarkeit der Kinder“ (Himmelbach/Schröer 2014: 496) normativ gesetzt ist. Trotzdem bleibt aus Sicht der in dieser Studie aufgerufenen „Zeitgenossenschaft“ (Hengst 2012: 63) die Tatsache festzuhalten, dass in beiden thematischen Kontexten von den Kindern selbst ihr emotionales Erleben in den unterschiedlichsten Bezügen in den Vordergrund gestellt wird. Das ist etwas anderes als die bereits konstatierte Beteiligung des Emotionalen in der Interaktion von SchülerInnen und Lehrkräften, die je nach Alter in unterschiedlichem Grad, immer stattfindet, da Kinder und auch Jugendliche spezifisches, rollenförmiges Verhalten noch nicht hinreichend beherrschen und oft als ganze Person agieren (Helsper 2012b: 28). Zudem kommt es auch zu emotionalen Verstrickungen, weil Lehrkräfte als ehemalige Kinder und Jugendliche mit „eigene[r] emotionale[r] Anerkennungsgeschichte“ (ebd.: 29) beteiligt sind. Eine Beteiligung der Eltern an diesen diffusen Beziehungsaspekten von Lehrkraft und SchülerInnen wird im Übrigen nicht diskutiert, daher spricht Oevermann (2008: 76) nicht umsonst von der Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern als „größte Dunkelzone gegenwärtig noch in der pädagogischen Praxis“ (ebd.). Die Krise ist als eine des sozialen Rollenhandelns zu verstehen, das die Schülerinnen und Schüler in Schule und Unterricht einüben (vgl. Veith 2014: 130): „Wenn die Kinder das Grundschulalter erreicht haben, sind sie bereits in der Lage, ihr eigenes Handeln auf die Erwartungen unterschiedlicher Handlungspartner abzustimmen. Was jetzt aber hinzukommt, ist die Fähigkeit, soziale Interaktionszusammenhänge aus einer Beobachterperspektive zu betrachten. In Kooperationspraktiken eingespielte Regeln werden nun als zusammenhängende Erwartungen, d. h. als soziale Normen wahrgenommen, die ihrerseits als integrale Bestandteile zusammenhängender Rollensysteme, die Rechte und Pflichten der einzelnen Interaktionspartner festlegen“ (Veith 2014: 130 f).
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Gegenüber dem schulischen Rollen- und Normsystem in seiner Differenz von Regelerwartung und -praxis, das die Kinder in dieser Struktur wahrscheinlich nicht erst in der Grundschule, sondern bereits in den vorschulischen Einrichtungen kennen lernen, sind die interorganisationalen Erfahrungsräume der schulischen „Elternarbeit“ und der Klassenfahrten auffällig anders und emotional aufgeladen, sie verbinden sich daher mit einem Krisenerleben. Die gemeinsame, konturierte Orientierung der Kindergruppen ist daher Krisenbewältigung10, ihr Orientierungsrahmen richtet sich in seinem idealtypischen positiven Erwartungshorizont auf innergenerationales Erleben und Aushandeln „wie bei Klassenfahrten“11, in seinem negativen Horizont gegen intergenerationales Erleben, besser Erleiden „wie auf Elternsprechtagen“; die entsprechenden pragmatischen, kollektiven Erwartungen richten sich – trotz aller Risiken – positiv auf schulische Peers und negativ auf Lehrkräfte, teilweise auch Eltern; dies ist zugleich eine generationsbezogene Grenzziehung. Diese Orientierungsfigur markiert, dass die Rekonstruktion der SchülerInnen-Perspektiven eine Zone fehlender verbindlich-normativer Regulierung sichtbar macht, obwohl Schule als Institution und Organisation essentiell als durch Regeln, Rollen, Normen und ihre Vermittlung gekennzeichnet verstanden werden muss (vgl. Hummrich/Kramer 2017 passim)12. Mit dieser ‚Nicht-Institutionalisierung‘ ihrer Beteiligung an schulischer „Elternarbeit“ ist sie in den Kontext institutionalisierter Bildung eingebettet, ihre weiteren Bezüge müssen durch Vergleiche und Spezifizierungen, isb. der habitualisierenden und habitualisierten Lösungen der Gruppen, geklärt werden. Im Weiteren wird also genau hinzuschauen sein, wie die Kinder in ihren impliziten Handlungsorientierungen auf ihr Orientierungsproblem reagieren und welche Formen der Habitusbildung sie im Kontext des Krisenerlebens und der notwendigen Krisenbewältigung entwickeln.
10Der
Begriff der Bewältigung wird hier, auf den Kontext der Krise bezogen, vorläufig als unbestimmter Begiff zur Markierung einer Umgangsform mit dieser Krise benutzt und ist abzugrenzen von Oevermanns Begriff der Krisenbewältigung (Oevermann 2004, 2016) oder vom „Bewältigungsansatz“, wie er im Kontext der zweiten bzw. reflexiven Moderne diskutiert wird (vgl. Höhne 2013: 89); konkretisiert wird der hier verwandte Begriff der Bewältigung später als Versuch eines ‚Spannungsausgleichs‘ zwischen Norm und Habitus in der impliziten Reflexion der notorischen Diskrepanz (vgl. Bohnsack 2017a: 203; s. o. Abschnitt 4.1.2; s. u. Abschnitt 8.4.1). 11Die hier gewählten Umschreibungen sind in der komparativen Analyse zu konkretisieren und zu typisieren. 12Hier scheint es sich um eines der Momente theoretischer Unterbestimmung der Schule als Organisation (s. o. Abschnitt 4.2.1) zu handeln (vgl. Amling 2017: 118), die dringend der Analyse und Theoretisierung bedürfen.
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
309
7.2 Performanzbezogene Vergleiche Der herausgearbeitete Typus des „gemeinsame[n] Handlungs- oder Orientierungsproblem[s]“ (Amling/Hoffmann 2018: 89) ist die Bewältigung13 des Krisenerlebens schulischer „Elternarbeit“, dem in der Wahrnehmung der SchülerInnen eine differente Differenzerfahrung im Fehlen verbindlicher Regeln und Normen für diesen interorganisationalen Erfahrungsraum zugrundeliegt, sodass Lösungen ‚wie im Unterricht‘ nicht greifen. Daraus entsteht die Orientierung auf eine Krisenbewältigung, die die Hinwendung auf die Peers und die Abwendung gegenüber Erwachsenen beinhaltet. Sie wirft die Frage auf, mit Hilfe welcher impliziten Orientierungsleistungen die Kindergruppen dieses Problem jeweils bewältigen und welche Habitusbildung – im Sinne von Habituserweiterung oder -transformation – dabei sichtbar werden. Die Beantwortung dieser Frage führt zu einer Spezifizierung des ausgewiesenen, im Kontext institutioneller Bildung angesiedelten Typus, indem nicht mehr nach den thematischen Gemeinsamkeiten der Fälle gefragt wird, sondern nach den Differenzierungen des impliziten Handlungswissens mit Hilfe des „Prinzip[s] des Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2013a: 253; vgl. NentwigGesemann 2013: 313). Die dadurch entstehende Basistypik muss schließlich daraufhin geprüft werden, inwieweit sie nicht nur in einer, sondern in mehreren Dimensionen konjunktiver Erfahrungen und Orientierungen (vgl. Nohl 2017: 9 f) rekonstruiert werden kann. Die Methodik dieser Studie verlangt eine doppelte Interpretation habitualisierender Momente, da die Gruppendiskussionen einen doppelten Diskurs – zwischen Schülerinnen und Forscher einerseits, den schulischen Peers andererseits – und dessen Rekonstruktion ermöglicht haben. Dies macht umso mehr Sinn, als die hier vorgenommene methodologische Rahmung mit Hilfe der Kindheitsforschung wieder aufgegriffen werden kann, und zwar als Frage nach den „Praktiken der Unterscheidung in Kinder und Erwachsene“ (Honig 2009: 46 f; vgl. Abschnitt 3.1.2), die im Forschungsprozess selbst sichtbar werden; sie können auch als Praktiken der „Kokonstruktion“ gesehen werden (s. o. Abschnitte 2.1 und 3.3.3). Daher wird im ersten Schritt das implizite Handlungswissen analysiert, das die Kinder, bezogen auf die Situation der Gruppendiskussion und den Diskurs mit
13Zum
Begriff der Bewältigung s. o. Fußnote 10.
310
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
dem Forscher, zeigen, im zweiten ihre impliziten Erwartungen und Horizonte, die in der Auseinandersetzung mit den Peers und dem Thema sichtbar wurden. Das macht auch deshalb Sinn, weil Organisationsforschung fragt, inwieweit sich „eigenständige organisationskulturelle Milieus etablieren, d. h. eigene Praktiken der Differenzbearbeitung zwischen Regelerwartung und Regelpraxis“ (Mensching 2017: 63). Die beiden Schritte müssen schließlich die erarbeitete Differenzierung von Aktionsmen, Habitualisierungen und Inkorporierungen berücksichtigen, die in der theoretischen Bestimmung des kindlichen Erfahrungsraums herausgearbeitet wurde (s. o. Abschnitt 4.2.2).
7.2.1 Diskurse mit dem Forscher Hier wird thematisiert, wie die Gruppen und der Forscher ihren Diskurs zu Beginn und im Verlauf der Gruppendiskussionen gestalteten, unabhängig von den Phasen der Selbstläufigkeit. Auffällig war schon in der Rekonstruktion der einzelnen Fälle, dass in den Gruppendiskussionen implizit immer wieder Momente auftauchten, die analog zu Merkmalen schulischen Unterrichts interpretiert werden konnten, allerdings nur, weil die Integration der institutionellen Fremdrahmung (s. o. Abschnitt 4.2.1) einen Vergleich mit dem Rollenverhalten als Schüler bzw. Schülerinnen in der Institution erlaubt: • Die Gruppe „Puppen“ zeigt eine selbstgewählte Sprecherfolge und bietet in der Eingangspassage Antworten als „Zwischenrufe“ an, eine bekannte, wenn auch nicht unbedingt legitime unterrichtliche Aktion; im Verlauf der Gruppendiskussion meldet sich der eine oder andere Junge; einer fragt „solln wir das sagen“ und zeigt damit sein Verständnis der Situation als Aufgabenstellung. • Mitglieder der Gruppe „Räder“ binden den Forscher in der Eingangspassage in Dialoge ein, mit denen sie klären wollen, worum es bei der Gruppendiskussion geht, sodass es schnell zu einem Austausch darüber kommt, ob quasi unterrichtliche Regeln gelten („solln wir flüstern“); auch hier wird immer wieder die Aktion des Meldens gezeigt und teilweise kommentiert. • Die Gruppe „Tiere“ präsentiert zuerst eine Narration, vielleicht als Lösungsvorschlag zu einer Aufgabe, dann eine Aushandlung um die Sprecherfolge, die in einen Wettbewerb zwischen den Peers übergeht; dabei tritt mit der Imitation des Forschers ein Moment der peerbezogenen „Hinterbühne“ (s. o. Abschnitt
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
311
3.3.2) auf; zudem kommt es zum Melden, ein Junge kommentiert „wir brauchen uns nicht melden“. • Die Gruppe „Spiele“ gestaltet zu Beginn der Gruppendiskussion eine Aushandlung mit dem Forscher und zwischen den Peers um die formale Proposition „Geschichten“, die als schulfachspezifische Aufforderung verstanden werden kann; zwischendurch wird die unterrichtliche Aktion des Meldens sichtbar, die von einem Mädchen mit dem Satz kommentiert wird „muss dich nicht melden“. Der Überblick macht deutlich, dass die Interaktion zwischen Kindern und Forscher tatsächlich durch Praktiken schulischen Rollenverhaltens geprägt ist: In der Eingangsphase der Gruppendiskussionen werden unterrichtliche Aktionen zu einer jeweils angenommenen Aufgabenstellung gezeigt; dabei geht es – analog zum Unterricht – auch um die Balance zwischen Peer- und Lehrkraftbezügen. Die „Konfrontation mit einer Reihe gemeinsamer Aufgaben“ (Hummrich/Kramer 2017: 38) gilt aus strukturfunktionalistischer Sicht als grundlegendes Merkmal von Unterricht (vgl. Parsons 2012). Die jeweiligen Aushandlungen zur Melderegel dokumentieren zugleich die Umgangsweisen der Kindergruppen mit der Differenz von Regelerwartung und Regelpraxis (s. o.). Im Vergleich der Gruppen wird sichtbar, dass die Mädchengruppen „Räder“ und „Spiele“ die Situation eher coaktiv gestalten, wobei die Peer-Aktivitäten nicht auf die Vorderbühne der Gruppendiskussion drängen, sie aber mitgestalten „als ‚Coakteure‘ eines gemeinsamen Schauspiels, indem sie sich stark an den Intentionen der Lehrpersonen ausrichte[…]n und diese als ‚legitim‘ zelebrieren“ (Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016: 418). Die Gruppe „Räder“ scheint Fragen und Paraphrasen des Forschers analog zu Lehrerkorrekturen aufzufassen, sodass Aussagen verändert werden. Die Jungengruppe „Puppen“ setzt mit Zwischenrufen ein, die Gruppe „Tiere“ mit einer Geschichte, beide Aktionen können in Analogie zu Lösungsentwürfen auf eine antizipierte Aufgabenstellung interpretiert werden, mit denen als richtig vermutete Antworten angeboten werden; beide Gruppen setzen die Interaktion mit einer internen Aushandlung zum „Drannehmen“ (vgl. Breidenstein 2006: 125 ff) fort, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führt: Einmal kommt es zu einem Ritual des Drannehmens, einmal zu peerbezogenen Performanzen. „Drannehmen“ verweist darauf, dass auch die Organisierung der SprecherInnenfolge mit Hilfe von unterrichtsanalogen Methoden als wesentliches Moment festgehalten werden kann; für eine Gesprächssituation, die von einem Erwachsenen nicht aktiv geleitet, sehr wohl aber beobachtet wird, ist sie hoch relevant: Die Kinder haben sich im Kontext
312
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
der schulischen ‚Zwangsveranstaltung‘ für die ihnen unbekannte Aktion bzw. Aufgabe „Gruppendiskussion“ gemeldet und müssen diese nun, nach dem Impuls des Forschers und seinem Rückzug aus dem Gespräch, im Rahmen der Vorgaben gestalten, wenn sie die Situation nicht suspendieren wollen; diese zuletzt genannte Möglichkeit ist in der Institution nur als ultima ratio denkbar. Die vier Gruppen zeigen folgende Bewältigungsformen für diese akute Differenz von Regelerwartung und -praxis: Die Gruppe „Puppen“ organisiert eine sehr regelmäßige „Kette“ des Drannehmens, wie sie aus dem Kontext des Unterrichts an Grundschulen bekannt ist, ein Ritual, das in diesem Fall auch ohne Beiträge aufrechterhalten wird. Die Gruppe „Räder“ steuert die Sprecherinnenfolge, indem die Sprechenden – analog zur Lehrerin? – ihre Ansprache durch Kopfbewegungen an ein anderes Mädchen richten, so dass nur selten ein Turn von zwei Mädchen beansprucht wird. Die Gruppe „Tiere“ gestaltet ihre Sprecherfolge als Mixtur aus spielerischem Peer-Wettbewerb, Melden und Drannehmen, die auf Vorder- und Hinterbühne zugleich angerichtet wird. Die Gruppe „Spiele“ steuert die Sprecherinnenfolge mit Hilfe einer dominanten Peerposition, die immer wieder die formale Proposition der „Geschichten“ analog zu einer Aufgabenstellung aufruft, und – als größte Gruppe mit sieben Teilnehmerinnen – in der Aufteilung der Rollen von Sprechenden und Schweigenden. Die Fragen des Forschers nach „Geschichten“ führen ebenfalls zu unterrichtsanalogen Aktionen, bei den Jungen der Gruppe „Tiere“ zu der Formulierung „ich weiß was“ und zu einer Interpretation der Szenerie als Unterrichtsgespräch, bei dem verschiedene Antworten erprobt werden; bei den Mädchen der Gruppe „Spiele“ führt es zu einer Ansammlung von Geschichten, die aufgerufen und präsentiert werden, in beiden Fällen handelt es sich um „verbale[s] Probehandeln“ (Breidenstein 2019: 320), mit dem SchülerInnen mehr oder weniger richtige Antworten in Variationen ausprobieren. Tab. 7.2 Aufgabenlösung und SprecherInnenfolge im Diskurs mit dem Forscher Diskurs mit dem Forscher
Aufgabenlösung
SprecherInnenfolge
Gruppe „Puppen“ (Vier Jungen)
Zwischenrufe, „verbales Probehandeln“
Ritual des Drannehmens
Gruppe „Räder“ (Fünf Mädchen)
Aushandlung, Umgang mit „Korrekturen“
Ausgerichtete Ansprache
Gruppe „Tiere“ (Drei Jungen)
Aufgabenlösung, „verbales Probehandeln“
Peer-We
bewerb
Gruppe „Spiele“ (Sieben Mädchen)
Aushandlung, „verbales Probehandeln“
Rollenaueilung: Sprecherinnen, Zuhörerinnen, Leiterin
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
313
Der Vergleich zwischen den vier Gruppen zeigt, dass sie die Situation der Gruppendiskussion analog schulbezogener Aufgabenstellungen handelnd ausdeuten und mit Hilfe erlernter, schulischer Praktiken bewältigen; diese Praktiken – und das ist hier entscheidend – zeigen sich nicht nur im individuellen Handeln, sondern kollektiv, und sie wiederholen sich im Laufe der Gruppendiskussionen; daher könnte man sie als „materiale Bilder“ verstehen, die Ausdruck von Inkorporierungen sind (s. o. Abschnitt 4.2.2), im Unterschied zu den „mentalen Bildern“, die seltener auftauchen, vor allem in Selbstkommentierungen zur unterrichtsanalogen Aktion des Meldens (s. u. Abschnitt 7.2.2). Allerdings reichen die Kriterien der Kollektivität und der Sequenzialität für eine solche Differenzierung nicht aus, um Habitualisierungen und Inkorporierungen zu rekonstruieren, sodass sie hier vereinfacht als habitualisierte Praktiken verstanden werden. Dabei können, soweit das für vier Gruppen aussagekräftig ist, geschlechtsbezogene Homologien identifiziert werden, Aushandlungsprozesse auf Seiten der beiden Mädchengruppen, lösungsorientierte Äußerungen auf der der beiden Jungengruppen; sie könnten, so die Vermutung, in Analogie zu einem männlichen „Aktionslernen“ und einem weiblichen „Beziehungslernen“ (Böhnisch 2018: 406) stehen; allerdings wird diese Interpretationsrichtung hier nicht weiter verfolgt. Damit ist eine gemeinsame Vergleichsdimension des unterrichtsanalogen Diskursverhaltens für alle Gruppen spezifiziert (s. Tab. 7.2), ihr fehlen allerdings die empirischen Vergleichshorizonte zu Kindergruppen, die nicht in der Schule, sondern auf der Straße, in einem Sportverein, einem Stadtteiltreff oder einer Kirchengemeinde befragt werden; insofern ist die institutionsbezogene Interpretation nur durch die Bezüge auf das institutionell-organisatorische Rollenverhalten und schulische Praktiken valide. Durch die Fremdrahmung der Gruppen und ihrer Gespräche können Regeln, Rollen und Normen der Institution Schule aufgerufen werden, die als Vergleichsfolie für konkrete Handlungen der Kindergruppen dienen können (s. o. S. 97). Diese Diskussion muss in der Theoretisierung der Ergebnisse aufgegriffen werden. Hier wird nicht diskutiert, welche Ursachen diese Konstellation hervorgebracht haben könnten. Man kann den professionsbezogenen Habitus des Forschers (s. o. Abschnitt 3.1.1) als ursächlich annehmen, ebenso den räumlichen Kontext der Datenerhebung in den Schulen und die mehrjährige Habitusbildung
314
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
des SchülerInnenverhaltens – wahrscheinlich ergab sich ein einvernehmliches Zusammenspiel aller drei Faktoren14. „Die physische Anwesenheit von Erwachsenen fungiert als Signal für ‚Unterricht‘ und reicht aus, ein Verhaltensrepertoire zu aktivieren, das Unterricht als solchen konstituiert und sich deutlich von den Standards unterscheidet, die wirken, wenn Schüler und Schülerinnen unter sich bleiben […]“ (Kalthoff/Kelle 2000: 695).
Man könnte vereinfacht fragen: Was sollen acht-, neun- oder zehnjährige Kinder, die in Schulräumen an Schultischen von einem Forscher befragt werden, der früher Lehrer war und für Übertragungs- und Gegenübertragungs-‚Angebote‘ offen ist, Anderes tun als im Habitus von Schülerinnen und Schüler zu reagieren?15 Methodisch gewendet, ist zu konstatieren, dass die Themeninitiierungen des Forschers nicht frei von propositionalen Gehalten waren, isb. im Fall der Gruppe „Tiere“; die entsprechenden Reflexionen sind in allen Fallbeschreibungen aufzufinden. Die Gruppen mussten diese propositionalen Vorgaben zunächst abarbeiten, bevor sie eigene Relevanzen entfalten konnten (vgl. Przyborski 2004: 67). Dass es dazu gekommen ist, zeigen bereits die Grenzmarkierungen, die die Kinder in den Gruppendiskussionen selbst vornehmen, wenn sie über die Melderegel reflektieren; es zeigt sich auch in den Ergebnissen der Fallrekonstruktionen, auf denen die Basistypik basiert, und in den unterschiedlichen Orientierungsrahmen, die im Folgenden miteinander verglichen werden, um die Typik zu differenzieren. Die Interaktionen zwischen Kindern und Forscher können auch als „Praktiken der Unterscheidung“ bzw. der „Kokonstruktion“ (s. o.) interpretiert werden, die sich als organisationsbezogene Differenzbewältigung von Regelerwartungen und -praxen im Kontext des SchülerInnenhabitus präsentieren, aber auch darüber hinausgehen. In den selbstläufigen Passagen und performatorischen Aspekten der Gruppendiskussionen werden auch weniger „spezifische“ und stärker „diffuse“ Momente (s. o. S. 36) ‚praktiziert‘ und ‚kokonstruiert‘, sodass individuelle emotionale Beteiligungen, persönliche Erfahrungen und familiäre Problemlagen 14Die
Frage nach dem Einfluss der in allen Erhebungssituationen anwesenden beiden Hilfskräfte und der Kamera muss in diesem Kontext vernachlässigt werden, da – bis auf die Blicke einiger Kinder, die sich mutmaßlich auf sie richten – keine verwertbaren Daten dazu transkribiert wurden. 15Die Frage ist keineswegs profan, da es nicht nur die rekonstruktive Forschung, sondern schulpädagogische Forschung generell dazu auffordert, Effekte des Forschungsfeldes und der Beziehung zwischen ForscherInnen und Beforschten bei schulbezogenen Untersuchungen und Rekonstruktionen zu berücksichtigen.
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
315
hinzutreten; sie können hier nicht alle rekonstruiert werden, etwa die antreibende und beharrliche Neugierde eines Mädchens in der Gruppe „Spiele“, das Innehalten in den Gruppen „Puppen“ und „Räder“ angesichts der Selbstoffenbarung eines Peers, das Engagement und die Enttäuschung eines Jungen der Gruppe „Tiere“ in der Werbung um einen Peer; auch die performatorisch-spielerischen Elemente können hier nicht alle berücksichtigt werden, z. B. das Rangeln der drei Jungen auf der Theaterbühne, das Agieren einer ‚Gleichheit‘ in der ausgehandelten Sitzordnung der „Puppen“-Jungen, die gestische Veranschaulichung wichtiger Aussagen durch die „Räder“-Mädchen oder die wiederkehrende Nachahmung von Erwachsenen durch Mitglieder der Gruppe „Spiele“. Dazu gehört auch der Umgang mit institutionsbezogenen (Erfahrungs-)Räumen, deren Einfluss durch den plaktiven Vergleich der Performativität der Gruppen illustriert werden kann: Die Gruppe „Tiere“, deren Gruppendiskussion zufällig im Theaterraum der Schule stattfindet, stellt einen auffällig großen Kontrast her, da sie mit der Verfügung über die Bühne ganz andere Möglichkeiten performatorischer Darstellung und Inszenierung hat als die anderen Gruppen, die an Schultischen saßen16.
7.2.2 Diskurse der Peers Die komparative Analyse verglich im ersten Schritt fallübergreifend die Interaktionen der Gruppen mit dem Forscher, und zwar unter Zuhilfenahme von Bezügen auf institutionalisiertes Rollenverhalten als Bewältigung einer Differenzerfahrung. Dies führte zur Rekonstruktion eines unterrichtshomologen Diskursverhaltens in der Bewältigung der analog zu einer schulischen Aufgabe gesetzten Gruppendiskussion. In einem zweiten Schritt muss sie die gruppenspezifischen Orientierungen vergleichen und damit den entwickelten Typus differenzieren, der, induziert durch Erkenntnisinteresse und Gegenstandskonzeption der Studie, institutions- und generationsbezogene Merkmale vorweist. Dazu werden zunächst die jeweiligen Orientierungrahmen der vier Gruppen zusammengefasst: • Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Puppen“ richtet sich auf ordnende, schützende Regeln als positiven Horizont; der nur schwach entwickelte ideale Gegenhorizont wäre der einer regel- und normgestützten, 16Entsprechend
mehrdimensional muss die empirische Rekonstruktion angelegt sein. Daraus ergibt sich eine Anfrage an die Validität empirischer Untersuchungen im schulischen Kontext, die zumindest in deren methodologischer Reflexion zu beantworten wäre.
316
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
partizipativen Berücksichtigung durch die Erwachsenen; der negative Horizont ist durch emotionale Belastungen aufgrund des Elternsprechtags gekennzeichnet (vgl. Abschnitt 6.2.4); die Gegenstandskonzeption dieser Studie interpretiert das implizite Handlungswissen der Gruppe in der Bewältigung der Lehrkraft-Eltern-Gespräche zwischen Regelbefolgung und emotionalen Belastungen. • Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Räder“ entfaltet sich im Hinblick auf die Klassenfahrt als Horizont der peerbezogenen, gemeinsamen Bewältigung; dem entspricht der ideale, positive Gegenhorizont wachsender Eigenständigkeit; der negative Horizont beinhaltet emotionale Belastungen, die Situation der Klassenfahrt ohne Erwachsene nicht zu „schaffen“ (vgl. Abschnitt 6.3.4); die Gegenstandskonzeption dieser Studie interpretiert das implizite Handlungswissen der Gruppe in der Bewältigung der Klassenfahrt zwischen einer Aufgabenlösung im Peerverbund und emotionalen Belastungen. • Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Tiere“ orientiert positiv auf Schutz im Wettbewerb der Peers, sichtbar in der Haltung des Auf-dem-Bauch-liegens, gerahmt vom idealen Gegenhorizont jugendbezogener „Coolness“; negativer Erwartungshorizont ist die Distanzierung und Abwendung gegenüber Lehrkräften und Eltern (vgl. Abschnitt 6.4.5); die Gegenstandskonzeption dieser Studie interpretiert das implizite Handlungswissen der Gruppe in der Bewältigung des Elternsprechtags zwischen einem ‚geschützten‘ Peer-Wettbewerb und scheinbar ‚gelangweilter‘, emotional aufgeladener Distanzierung. • Der Orientierungsrahmen der Gruppe „Spiele“ zeigt als idealen positiven Horizont einen durch Regelauslegungen abgegrenzten sozialen Raum17 der Peers, als pragmatischen Horizont die mehr oder weniger aggressive Ausgrenzung einer schulischen Peer; der negative Erwartungshorizont zeigt sich in der oppositionellen Abgrenzung gegenüber Erwachsenen (vgl. Abschnitt 6.5.4); die Gegenstandskonzeption dieser Studie interpretiert das implizite Handlungswissen der Gruppe in der Bewältigung von Regelsetzungen zwischen eigenständiger Regelinterpretation und regelbezogener Ausgrenzung. Inwieweit die Orientierungsrahmen der Gruppen durch Aktionismen einererseits, mentale und materiale Bilder (s. o. S. 122) andererseits propositional und performativ bestimmt sind, wird hier anhand der vorliegenden Fallinterpretationen ausgeführt, in denen einige Metaphern, Narrationen und Performanzen heraus-
17Der
Begriff des sozialen Raums wird hier nicht im Sinne Bourdieus (Fröhlich/Rehbein 2014: 219 ff) benutzt, sondern im Sinne der Peerforschung.
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
317
gearbeitet worden sind. Mentale Bilder finden sich in den Berichten zum Elternsprechtag von Seiten der Gruppe „Puppen“, in den Schilderungen der „Räder“-Mädchen von der Klassenfahrt, auch in den gemeinsamen Klagen der „Spiele“-Mädchen und der „Tiere“-Jungen über Erwachsene. Materiale Bilder zeigen sich in der ritualisierten Sprecherfolge der „Puppen“-Jungen, in der Darstellung eines unter der Dusche singenden Mädchens, vor allem aber das in einer eigenen Bildinterpretation rekonstruierte Auf-dem-Bauch-liegen von drei Jungen der Gruppe „Tiere“. In der Differenzierung zeigt sich, dass performatorische Aspekte nicht ohne Weiteres der Kategorie der Aktionismen oder der der materialen Bilder zugewiesen werden können, wenn man den Merkmalsausprägungen der Kollektivität, der Sequenzialität und der fallinternen Homologie folgt (vgl. Wagner-Willi 2013; s. o. Abschnitt 5.3.3). Das Spiel mit einer Stoffpuppe, die Gestik zur Visualisierung einer Groß-Klein-Differenz, eine Vorführung zum Klassenfoto sowie das Auflegen des Ellenbogens auf die Schultern der Peers müssen als Aktionismen verstanden werden, denen das kollektive Moment fehlt, obwohl z. B. für die zuletzt genannte Geste eine Habitualisierung außerhalb der Gruppe nachgewiesen ist (s. o. S. 200). Grundlegend bleibt an dieser analytischen Differenzierung zu kritisieren, dass sie sich jeweils auf nur zwei der drei Merkmalsausprägungen stützt und daher als vereinfachte Hypothese gelten muss, zudem nur in einem Fall eine extensive Bildinterpretation exemplarisch durchgeführt wurde. Zudem macht gerade dieser Fall der Gruppe „Tiere“ darauf aufmerksam, dass die Ergebnisse stark durch äußere Gegebenheiten beeinflusst sind, die erhöhte Performanz der drei Jungen auf einer Bühne zeigt das (s. o. Abschnitt 6.4.2). Wie hätte eine der Mädchengruppen, wie eine gemischte Gruppe diesen Theaterraum besetzt und ausagiert? Nicht zuletzt aufgrund dieser Indizien für den Einfluss äußerer, räumlicher Bedingungen wird der Frage der Zuordnung nicht weiter nachgegangen. Welche Unterschiede und Übereinstimmungen werden im kollektiven Handlungswissen bezüglich des gemeinsamen Krisenerlebens im interorganisationalen Erfahrungsraum schulischer „Elternarbeit“ sichtbar?18
18Allerdings
muss dabei mitgedacht werden, dass diese Orientierungen in die „doppelte Doppelstruktur“ (Bohnsack 2017a: 20) von Institution und Organisation eingelagert sind, zum einen also als strukturidentische institutionell bezogen sind, als einzelschulische durch die je konkrete Organisationskultur mitbedingt; da es sich um face-to-face-Realgruppen handelt (s. o. Abschnitt 5.4), wird der Aspekt der Schulkultur prioritär gesetzt, ohne dass dessen institutionsbezogene Fassung an Bedeutung verliert.
318
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Erstens findet sich in den Erwartungshorizonten der Gruppen „Puppen“, „Räder“ und „Spiele“ die Differenzerfahrung im Umgang mit schulischen Regeln, Rollen und Normen, allerdings in ganz unterschiedlicher Anordnung: Während die vier Jungen der Gruppe „Puppen“ (noch?) auf die Berücksichtigung schützender Regeln durch die Erwachsenen hoffen und damit die Verantwortung bei ihnen verorten, kritisieren die Mädchen der Gruppe „Spiele“ die Regelauslegungen der Erwachsenen deutlich und distanzierend. Die Mädchen der Gruppe „Räder“ wiederum zeigen eine Orientierung auf die Lösung der vorgegebenen, normbezogenen Regel des Helfens. Die Gruppe „Tiere“ proponiert und performiert in ihrer Abwendung gegenüber Erwachsenen eine ‚Nichtwahrnehmung‘ schulischer Normen und zeigt performativ das Bedürfnis nach Schutz. Diese vier Orientierungen können in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen als Vergleichsdimension der Differenzerfahrung, des Umgangs mit schulischen Regeln, Rollen und Normen typisiert werden, ausgerichtet zwischen den Polen der Opposition bzw. Kooperation. Eine ähnliche Spannung beschreiben Hummrich und Helsper (2011) in ihren theoretischen Bestimmungen zum Verhältnis von Peers und Schule, wenn sie „Schulnähe“ bzw. „Schuldistanz“ (ebd.: 46) nennen und dann „die kulturelle Passung von Peerbezügen und Schule“ (ebd.: 48) systematisieren, und zwar als oppositionelle, schulkritische und subkulturelle, ambivalente und indifferente sowie leistungsorientierte Peerbezüge. Auf eine Übernahme des Modells wird hier bewusst verzichtet, da sich die Chance bietet, Momente der Peergruppenbildung von Grundschulkindern im Altern von ca. neun Jahren im statu nascendi zu rekonstruieren, ohne sie sogleich zu ‚Vorläufern‘ bekannter Forschungsergebnisse zu machen. Zweitens beziehen sich die negativen Horizonte der drei Gruppen „Puppen“, „Tiere“ und „Spiele“ auf die bereits herausgearbeitete differente Differenzerfahrung (s. o. S. 243), isb. auf Interaktionen der Erwachsenen: Die Gruppe „Puppen“ will Regeln, die sie vor ihnen schützen, die Gruppe „Spiele“ grenzt ihre Peerbeziehungen von ihnen ab, die Gruppe „Tiere“ zeigt ihre Abwendung von ihnen. Im Unterschied dazu imaginiert die Gruppe „Räder“ die Abwesenheit von Erwachsenen, eine Herausforderung, die Klassenfahrt selbstständig zu „schaffen“; diese Orientierung ist eine kontrastierende Vergleichsfolie. Erwachsene, von denen man sich abgrenzt, sind aus Sicht der Kindergruppen in erster Linie die Lehrkräfte, in zweiter Linie die Eltern, vor allem in Bezug auf den Elternsprechtag. Ihnen gegenüber verortet man Peerbeziehungen ganz different: Liest man die bereits gewonnenen Erkenntnisse zur Norm- und Regelorientierung zwischen Kooperation und Opposition mit, markieren „Spiele“Mädchen und „Tiere“-Jungen durch Abgrenzung resp. Abwendung ihren sozialen Raum der Peers in der Schule; demgegenüber orientieren die „Räder“-Mädchen
7.2 Performanzbezogene Vergleiche
319
im Kontext der Klassenfahrt, stärker noch die „Puppen“-Jungen auf das Fortbestehen der Bezüge zwischen Erwachsenen und Peergruppe. Damit wird im Kontext differenter Differenzerfahrungen als zweite Vergleichsdimension die Abgrenzung des Sozialraums „Peergruppe“ virulent (vgl. Krappmann/Oswald 1995b; Heyer/Palentien/Gürlevik 2012), der in der Schule Anerkennungs- und Schutzraum (vgl. Hummrich/Helsper 2011), aber auch Kontrollraum ist, vor allem für die geschlechtsbezogene, normativ orientierte Verständigung (vgl. Schrader 2016). Er wird hier von den Gruppen durch unterschiedliche Formen der Grenzziehung zwischen den Polen der Abwendung und Bezogenheit gestaltet. Drittens stellen drei der Gruppen in homologer Weise positiv auf Peers und Peerbeziehungen in ihren Erwartungshorizonten ab, während die Jungen der Gruppe „Puppen“ – wiederum eine kontrastierende Vergleichsfolie – einen defensiven Akt der Selbstdisziplinierung zeigen und auf schützende Regeln hoffen. Auch dieser Wunsch kann als erste Grenzziehung gegenüber Erwachsenen interpretiert werden, da der gleichzeitig gezeigte Aktionismus der wechselnden Sitz-Ordnung mit seiner inkludierenden ‚abstrakten Gleichheit‘ zeigt, wie die Gruppe sich bereits mit der Peerthematik beschäftigt. Die Mädchengruppe „Spiele“ und die Jungengruppe „Tiere“ zeigen Aushandlungen über den Status an- und abwesender Peers; auch die Mädchengruppe „Räder“, die die gemeinsame, peerbezogene Bewältigung der Krise der Klassenfahrt nach vorn stellt, grenzt in der Gruppendiskussion eine Peer aus, die sich einem relevanten Moment dieser Orientierung nicht anschließt. Damit wird als dritte Vergleichsdimension die Zugehörigkeit zu schulischen Peergruppen zwischen den Polen der Inklusion und Exklusion als Vergemeinschaftungsmoment sichtbar (vgl. Heyer/ Palentien/Gürlevik 2012; Griese 2016). Viertens sind im Vergleich der intra- und intergenerationalen Beziehungen19 in den Rekonstruktionen der Gruppen kaum generationsspezifische Elemente erkennbar (s. o. S. 124), am deutlichsten noch in der Orientierung einer JungenGruppe auf „Coolness“ als jugend- und differenzbezogene Norm (vgl. Pfaff/ Hoffmann/Hänert 2010; Amling 2015; Eisewicht/Niederbacher/Hitzler 2016). Grundsätzlich zeigen die kollektiven Orientierungen der vier Gruppen unterschiedliche Positionierungen der generationalen Akteure in den leitenden positiven und negativen Erwartungen: Während die Gruppe „Spiele“ positiv auf
19Mit
dieser Thematisierung wird nicht gleichzeitig behauptet, dass das Orientierungsproblem des Krisenerlebens ein „generationsspezifisches“ (vgl. Amling 2015: 275) sei, etwa im Zusammenhang mit einem behaupteten Wertewandel und einer dadurch bedingten Auflösung der Familie (vgl. Wild/Lorenz 2010 passim).
320
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
Peers und negativ auf Erwachsene orientieren, differenziert die Gruppe „Tiere“ zwischen Eltern und Lehrkräften; die Gruppe „Räder“ nimmt positiv sowohl die Peers als auch die Erwachsenen in den Horizont, die Gruppe „Puppen“ hingegen die Erwachsenen im Hinblick auf positive und negative Erwartungen. Diese Positionierungen zeigen, wenn man sie in bestimmter Weise anordnet (s. Tab. 7.3), im Vergleich eine abnehmende Orientierung an Erwachsenen und eine zunehmende an Peers; damit eine Entwicklung der Orientierungen zu behaupten, verbietet sich. Die hier beschriebenen Positionierungen gehen in den Vergleichsdimensionen des Sozialraums und der Zugehörigkeit auf, sodass sie nicht als weitere Vergleichsdimension in die komparative Analyse aufgenommen werden. Tab. 7.3 Positionierung der Akteure im Kontext der Orientierungen \ Posionierung
Gruppen
Gruppe Puppen
Gruppe Räder
Gruppe Tiere
Gruppe Spiele
Akteure im posiven Horizont
Erwachsene
Peers Erwachsene
Peers Erwachsene (Eltern)
Peers
Akteure im negaven Horizont
Erwachsene
Erwachsene (abwesend)
Erwachsene (Lehrkräfte)
Erwachsene
7.2.3 Orientierungen zur Krisenbewältigung Vergleichsdimensionen der Orientierungsrahmen sind damit in mehreren Richtungen festgestellt worden: Die Dimension des Geschlechts wurde durch die Interpretationen der forscherbezogenen Interaktionen nahegelegt (s. o. Abschnitt 7.2.1); dabei wurde die Übertragung habitueller Orientierungen der SchülerInnen und Schüler auf die Situation der Datenerhebung mit Hilfe unterrichtsanaloger Praktiken herausgearbeitet. Die Dimension des Umgangs mit institutionsbezogenen Regeln und Normen spiegelt die kindliche Differenzerfahrung in der Institution und Organisation Schule, die Dimension des Sozialraums der Peergruppe die abweichenden Erfahrungen zu diesen Differenzerfahrungen in Bezug auf erwachsene Interaktionen. Beide sind eng miteinander verwobene Aspekte des Peerdiskurses, entsprechend der methodologisch hergeleiteten Gegenstandskonzeption dieser Studie. Als weitere Dimension wurde die der Zugehörigkeit zwischen den Polen der Inklusion und Exklusion in der Vergemeinschaftung der Peers sichtbar. Die Vergleichsdimensionen des Sozialraums und der Zugehörigkeit weisen im Übrigen enge Bezüge zur „geschlechts-
7.3 Sinngenetische Typenbildung
321
bezogene[n] Zusammensetzung der Peers“ (Schrader 2016: 306) auf, die wiederum durch Merkmale der sozialen und ethnischen Herkunft beeinflusst wird (vgl. ebd.). Insofern wird die Vergleichsdimension des Geschlechts, wie sie in der Rekonstruktion der Interaktionen mit dem Forscher gefunden wurde (s. o. Abschnitt 7.2.1), bestätigt; allerdings sind die vier untersuchten Gruppen von vornherein nach Geschlecht getrennt, eine gemischtgeschlechtliche Gruppe war kein Teil des Samples, sodass sie nicht komparativ bestätigt werden kann. Tab. 7.4 Gemeinsame Orientierungen der Kindergruppen zur Krisenbewältigung im Krisenerleben schulischer „Elternarbeit“ Zugehörigkeit zur Peergruppe zwischen Inklusion und Exklusion
Herstellung eines sozialen Raums der Peergruppe zwischen Abgrenzung und Bezogenheit
Umgang mit instuonellen Regeln und Normen zwischen Opposion und Kooperaon Geschlechtsbezogenes Unterrichtsverhalten der Peergruppen zwischen Lösung und Aushandlung
Im Folgenden werden die relevanten Orientierungen der Kindergruppen zur Bewältigung des Krisenerlebens im interorganisationalen Erfahrungsraum schulischer „Elternarbeit“ zu einem Schaubild zusammengefasst (s. Tab. 7.4). Diese Vergleichsdimensionen eröffnen die Möglichkeit, einen zugrunde liegenden Prozess der Habitusbildung aus dieser Sicht zu hypothetisieren, wenn man die herausgearbeiteten Dimensionen idealiter als Prozess anordnet. Dann wäre das Orientierungsproblem des Krisenerlebens differenter Differenzerfahrungen in seiner Bewältigung der Anstoß für die zunehmende Abgrenzung eines Sozialraums der Peergruppen, in dem auch Prozesse der Inklusion und Exklusion verhandelt werden.
7.3 Sinngenetische Typenbildung „Die Konstruktion des Typus ist […] das Produkt eines reflexiven Wechselspiels, eines komplexen hermeneutischen Zirkels“ (Bohnsack 2010a: 308). Im dritten Schritt der Typenbildung auf Basis der komparativen Analyse wird daher der spezifizierte Typus der Krisenbewältigung näher diskutiert und als Basistypik entwickelt, dabei müssen die Ansprüche an eine Sättigung aufgrund der geringen Fallzahl eingeschränkt werden, die gefundenen Vergleichsdimensionen werden
322
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
hypothetisch als Bausteine einer Basistypik verstanden. Diese kann auch in ihrer Lagerung in unterschiedlichen Erfahrungsräumen diskutiert werden. Darüber hinaus wird sie einer Korrespondenzanalyse unterzogen, die die Konstruktion des qualitativen Samples aufgreift und Hinweise auf soziale Bezüge der Typik liefert. Abschließend wird die Gegenstandskonzeption aufgegriffen, auf die Typenbildung bezogen und unter dem Aspekt der Habitusbildung (s. o. Abschnitt 4.2.2) diskutiert. Die komparative Analyse hat in der Abstraktion zu einer grundlegenden Orientierung auf Krisenbewältigung geführt, die in ihrer Spezifizierung auf zwei unterschiedlichen Ebenen vier aufeinander bezogene Vergleichsdimensionen umfasst (s. Tab. 7.5): Tab. 7.5 Vergleichsdimensionen der sinngenetischen Typenbildung Orienerungsproblem des Krisenerlebens in der schulischen „Elternarbeit“
Typisierungsmomente S,T,U,V
Typisierungsmomente W, X, Y, Z
Vergleichsebene I: Diskurse mit dem Forscher Vergleichsdimension A: Unterrichtliches Diskursverhalten
S: Lösungsorientierung (Puppen, Tiere)
W: Aushandlungsorientierung (Räder, Spiele)
Vergleichsebene II: Diskurse der Peers Vergleichsdimension 1: Instuonell-organisatorische Regeln und Rollen
T: Opposition (Tiere, Spiele)
X: Kooperation (Puppen, Räder)
Vergleichsdimension 2: Peergruppe als sozialer Raum in der Instuon bzw. Organisaon
U: Abgrenzung (Tiere, Spiele)
Y: Bezogenheit (Puppen, Räder)
V: Inklusion und Exklusion (Tiere, Spiele, Räder)
Z: Inklusion (Puppen)
Vergleichsdimension 3: Zugehörigkeit von Peers, Inklusion und Exklusion
Diese Basistypik beansprucht einerseits zwei Ebenen der Rekonstruktion und begnügt sich andererseits mit der Darstellung von Typisierungsmomenten, die nicht über alle Dimensionen hinweg als konsistente, differente Typen gelesen werden können. Allerdings gibt es Übereinstimmungen in den Vergleichsdimensionen 1 und 2, die von jeweils zwei Gruppen des Samples gebildet werden (s. o. Tab. 7.5). Ihnen entsprechen zwei unterschiedliche Typen: • der Typus oppositioneller Abgrenzung des Peer-Raums zu Regeln und Rollen sowie Erwachsenen
7.3 Sinngenetische Typenbildung
323
• der Typus kooperativer Bezogenheit des Peer-Raums auf Regeln und Rollen und Erwachsene. Diese Typen stellen idealtypisch zwei unterscheidbare kollektive Orientierungen von Grundschulkindern aus dritten Klassen dar, die sich auf die angesprochene Kategorisierung Hummrichs und Helspers (2011) von „Schulnähe“ und „Schuldistanz“ (ebd.: 46) beziehen, und verweisen auf die Passung von Peerbezügen und Schule (vgl. ebd.: 48). Allerdings basieren die beiden Typen auf nur zwei Dimensionen, die Dimensionen des unterrichtlichen Verhaltens und der Zugehörigkeit zu Peergruppen sind ihnen nicht ohne Weiteres zuzuordnen. Nur über den Umweg struktureller Homologien unterschiedlicher schulischer Erfahrungsräume können diese integriert werden: Das SchülerInnenverhalten, das in der Vergleichsdimension A thematisch wird, ist zwar im Erfahrungsraum des Unterrichts angesiedelt, bezieht sich aber eng auf den Umgang mit institutionellen Regeln und Rollen in Vergleichsdimension 1, hier dokumentiert sich die Differenzerfahrung von Regelerwartung und Regelpraxis; der Aspekt der Zugehörigkeit in der Vergleichsdimension 3 bezieht sich eng auf den Erfahrungsraum der Peergruppe, der bereits in der Vergleichsdimension 2 zentral ist, hier dokumentiert sich die differente Differenzerfahrung fehlender Verregelung. Dem entsprechen im Übrigen unterschiedliche Routinisierungen: Während der Forscherdiskurs von den Kindern im routinierten unterrichtlichen Habitus mitgestaltet wird, während auch der Umgang mit institutionellen Regeln und Rollen routiniert zwischen Opposition und Kooperation performiert wird, verweisen die Vergleichsdimensionen der Sozialraumgestaltung und der Zugehörigkeit auf einen Habitualisierungsprozess, denn sie sind der eigentliche Aushandlungsgegenstand der Kindergruppen.
7.3.1 Korrespondenzen Eine soziogenetische Typenbildung kann in dieser Studie nicht gelingen (vgl. Hoffmann 2015: 338), da einerseits kaum Material für eine soziogenetische Interpretation zu finden ist, andererseits die Vergleichsgruppen für eine Typologie fehlen; allerdings bieten Amling und Hoffmann (2013: 183 ff; 2018: 95 ff) aus dem Kontext der Jugendforschung die Idee einer „Korrespondenzanalyse“20 an,
20Sie
bezieht sich u. a. auf Nohls relationale Typenbildung (Nohl 2013b: 292 ff), die in dieser Arbeit bereits angesprochen wurde (s. o. Abschnitt 5.3.4) und im Kontext der dokumentarischen Methode eine spezifische Position darstellt.
324
7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
mit der nach Beziehungen „zwischen handlungsleitenden Orientierungen und mit Hilfe standardisierter Verfahren erhobener Daten gesucht“ (ebd.) wird. Es basiert auf einem Verständnis sozialer Lagerung in Analogie zum Mannheim’schen Begriff der Generationslagerung (s. o. S. 125) als Aufenthalt der Beforschten in gemeinsamen Sozialräumen, wenn sie ihre Orientierungen in eine virulente Aktualität überführen (ebd.: 184). Das damit verbundene methodische Vorgehen erhebt soziale Daten wie Bildungshintergrund, Beruf bzw. Erwerbstätigkeit der Beforschten bzw. der ihrer Eltern, ferner Altersgruppe und Wohnumfeld (Großstadt, Kleinstadt, Dorf o. ä.), die dann in Verbindung zur sinngenetischen Typenbildung und ihren einzelnen Typen gesetzt werden. Dieses Verfahren gilt im Kontext der dokumentarischen Methode nicht als valide, da es nicht rekonstruktiv ist, Bohnsack (2017a: 126) sieht die Gefahr, dass es im Kontext von Interviewstudien eine Individualisierung habitueller Praktiken nach sich zieht. Es kann aber erste Hinweise liefern auf Aspekte sozialer Lagerung, die dann in soziogenetischer Interpretation und Typenbildung genauer rekonstruiert werden können (Amling/Hoffmann 2018: 97). Dabei ist zu beachten: „Bei der qualitativ fundierten Korrespondenzanalyse werden zwei aus unterschiedlichen paradigmatischen Perspektiven gewonnene Datenformen miteinander verknüpft: Die rekonstruierten Orientierungsrahmen auf der einen und die über standardisierte Indikatoren der Sozialstrukturanalyse vorgenommene Charakterisierung der einzelnen Gruppen auf der anderen Seite“ (Amling/Hoffmann 2018: 95 f).
Auch Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014: 183) warnen vor den Gefahren des Verfahrens, die darin liegen, dass „man es einmal mit realen, lebensweltlichen Gruppen, das andere Mal aber mit einem Gebilde aufgrund statistischen ermittelten Ähnlichkeiten zu tun hat“ (ebd.). Tatsächlich geht es aus standardisierter bzw. qualitativer Perspektive um völlig unterschiedliche Gegenstände und Repräsentativitäten, einmal um statistisch ermittelte Zusammenhänge, das andere Mal um kollektiv bezogene Kommunikation in Gruppen (ebd.). Entscheidend ist, dass dieses Auswertungsverfahren bereits in der Samplingstrategie berücksichtigt werden muss (Amling/Hoffmann 2013: 194), wie es hier aufgrund der Diskussion des Forschungsstands geschehen ist (s. o. Abschnitt 2.3). Daher wird hier angesichts der referierten Kritik nicht von einer Korrespondenz „analyse“ gesprochen, sondern von einer Korrespondenzenbildung. Für diese Studie bietet sich die Möglichkeit, die im Sample festgehaltenen Einflüsse von Institutionen-Milieu-Komplexen (s. o. S. 36) ansatzweise zu
7.3 Sinngenetische Typenbildung
325
berücksichtigen. Dadurch kann die sinngenetische Typenbildung mit Hinweisen auf eine mögliche soziale Lagerung verknüpft werden. Sozioökonomische Daten wurden nicht mit Hilfe der Peergruppen erhoben, um die Kontaktaufnahme zu Eltern und Kindern nicht zu belasten, sondern mit Hilfe einer wissenschaftlich basierten Untersuchung von Schulstandorten (Stadt Bielefeld 2014). Die drei Grundschulen, an denen die Gruppendiskussionen erhoben wurden, sind unterschiedlich angesiedelt, die Grundschule Feuerberg in einem Einzugsbereich mit eher geringen sozialen Belastungen, die Grundschulen Erdenreich und Windeckschule in eher sozial hoch belasteten Einzugsbereichen: die drei Schulen belegen also zwei sehr unterschiedliche Positionen im ‚sozialen Ranking‘ schulischer Einzugsbereiche der Stadt (s. o. Abb. 5.2). Da es Grundschulen trotz hoher bzw. niedriger sozialer Belastung unterschiedlich gut gelingt, Schülerinnen und Schülern den Übergang zu Gymnasien zu ermöglichen, bleibt offen, wie hoch der Einfluss der sozialen Belastungen tatsächlich ist bzw. ob und wie Grundschulen soziale Problemlagen kompensieren (Stadt Bielefeld 2012: 56). Tatsächlich können die SchülerInnengruppen der drei Schulen den beiden rudimentären typisierten Vergleichsdimensionen zugeordnet werden, sodass eine Korrespondenz zwischen Typus und sozialer Verortung sichtbar wird (s. Tab. 7.6); dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um zwei höher belastete Grundschulen handelt, deren übereinstimmende Zuordnung keinesfalls selbstverständlich ist. Tab. 7.6 Korrespondenzen im Hinblick auf eine soziogenetische Typisierung Schulische Einzugsbereiche \ Vergleichsdimensionen
GSen Erdenreich, Windeck … mit eher hohen sozialer Belastungen
GS Feuerberg … mit eher geringer sozialer Belastung
Instuonelle Regeln und Normen
Opposition (Tiere, Spiele)
Kooperation (Puppen, Räder)
Peergruppe als sozialer Raum in der Instuon
Abgrenzung (Tiere, Spiele)
Bezogenheit (Puppen, Räder)
Die hier zustande gekommene Korrespondenz zwischen Typus und sozialer Verortung der Schule besagt, dass die kollektiven Orientierungen von jeweils zwei Kindergruppen einer dritten Grundschulklasse in Quartieren aufzufinden waren,
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7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
die als Schuleinzugsbereich definiert und anhand bestimmter Merkmale21 in ihren sozialen Belastungen eingestuft wurden, um ggf. eine „Armutsbedrohung von Familienhaushalten“ (Stadt Bielefeld 2014: 36) zu identifizieren22. Irgendein Rückschluss auf die Kinder und ihre Gruppen oder die Entstehung ihrer kollektiven Orientierungen verbietet sich, Bezüge zwischen den sozioökonomischen Merkmalen des Samplings und den Kindergruppen können nicht hergestellt werden, unzulässig ist selbst die Vermutung, dass sie aus Familien kommen, die die jeweiligen Merkmale aufweisen; zudem sind die Einflüsse der jeweiligen Organisations- bzw. Schulkultur, die eine eigenständige Rolle spielen, nicht berücksichtigt. Die Korrespondenz ist daher nicht mehr als ein sehr vorläufiger Hinweis auf die Berechtigung der Frage nach dem Zusammenhang von Milieu, Institution und SchülerInnenhabitus bzw. dessen Passung, der eine mögliche Milieutypik als Aspekt einer Typologie rechtfertigen würde. Dieser Hinweis ist auch deshalb ernst zu nehmen, weil die Korrespondenz zwischen sozialen Milieubelastungen und kollektiven Orientierungen bereits bei einer Anzahl von nur vier Fällen aufzutreten scheint.
7.3.2 Mehrdimensionalität Die Typenbildung muss die Aspekthaftigkeit der Basistypik berücksichtigen, die immer nur fokussierte Ausschnitte aus dem Ensemble unterschiedlich zueinander gelagerter Erfahrungsräume zeigt (vgl. Abb. 5.1): „Diese kollektiven Erfahrungsräume sind eigentlicher Gegenstand der Analyse. Das Individuum konstituiert sich gleichsam als Schnittmenge unterschiedlicher Erfahrungsräume oder Typiken […], und wir erfassen das Individuum – je nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung – jeweils immer nur aspekthaft mit Bezug auf einen spezifischen Erfahrungsraum, den wir in der komparativen Analyse dann genauer identifizieren und in seiner Überlagerung durch andere Erfahrungsräume rekonstruieren können“ (Bohnsack 2017a: 121).
21Die
Merkmale sind: Anteil der Haushalte in Mehrfamilienhäusern, Anteil der Haushalte mit drei und mehr Kindern an den Haushalten mit Kindern, Anteil der Haushalte mit Kindern und mindestens einem nicht-deutschen Elternteil an den Haushalten mit Kindern, Anteil der Alleinerziehenden-Haushalte an den Haushalten mit Kindern und der Hilfequote nach dem Sozialgesetzbuch II. 22Diese Armutsbedrohung wird im Verständnis der Studie von den Familien an die Kinder weitergereicht, wenn diese angeblich von der Armut ihrer Familien in ihren Bildungskarriere bedroht werden – s. o. Abschnitt 5.4.
7.3 Sinngenetische Typenbildung
327
Trotz des deutlichen Akzents auf den eigentlichen analytischen Gegenstand – hier muss die Abgrenzung der Basistypik sporadisch bleiben, da sich in dieser Studie zwar Vergleichshorizonte anbieten, aber wenig entwickelt sind, ein Nachteil, der sich aus der Anlage der Studie und der geringen Fallzahl ergibt. Andererseits wurde die „doppelte Doppelstruktur“ (Bohnsack 2017a: 20) von Institution und Organisation methodologisch integriert, sodass die konjunktiven Erfahrungsräume der Peers und der Schule zu unterscheiden sind. Die dokumentarische Methode will idealerweise Typiken in mehreren Dimensionen konjunktiver Orientierungen entwickeln, indem sie rekonstruiert, wie ein rekonstruierter Orientierungsrahmen mit einem anderen Orientierungsrahmen zusammenhängt, der zu einer anderen Problemstellung gehört; dadurch gestaltet sie die Typenbildung mehrdimensional und bestimmt die Reichweite einzelner Typiken, empirische Aussagen werden generalisierungsfähiger (vgl. Nohl 2017: 9 f). Entsprechende empirische Vergleichshorizonte sind hier zweidimensional entwickelt, zum einen in Bezug auf die Institution, zum anderen in Bezug auf die Peers, daher kann die Lagerung unterschiedlicher Erfahrungsräume hier nur im Ansatz und teilweise hypothetisch entwickelt werden (vgl. Amling 2015: 275). Die GrundschülerInnen zeigen in ihren konjunktiven Orientierungen den kompetenten Umgang mit den Anforderungen der Institution in der Schülerrolle einerseits, eine peergruppenbezogene Habitusbildung sozialräumlicher Abgrenzung andererseits; dem entspricht auf der Ebene kommunikativen Wissens die kompetente Kritik an fehlenden Regeln schulischer „Elternarbeit“ einerseits, die peergruppenbezogene Verständigung über Peerverhalten andererseits. Die beiden gefundenen Typen der Krisenbewältigung – oppositionelle Abgrenzung und kooperative Bezogenheit gegenüber schulischen Normen und Generationsälteren – sind im doppelt strukturierten Raum institutionalisierter Bildung angesiedelt und können als Bildungstypik beschrieben werden, da diese durch die explizite Thematisierung der institutionellen Fremdrahmung die Ausgangstypik der Untersuchung war. Die Vergleichsdimension des Sozialraums der Peergruppe öffnet die Perspektive auf mögliche Aspekte einer Entwicklungstypik, in der die Bildung von Peergruppen zentral ist; darauf lässt auch die Vergleichsdimension zur Peergruppen-Zugehörigkeit schließen, die sich in den Polen von Inklusion und Exklusion darstellt. Beide Typiken weisen aufgrund der festgestellten Korrespondenzen zu den nur sehr ungenau umrissenen Schuleinzugsbereichen auf Möglichkeiten einer Milieutypik hin, die hier nicht weiter spezifiziert werden können. Darüber hinaus gibt die Vergleichsdimension des unterrichtshomologen Diskursverhaltens implizit Hinweise auf die Lagerung in einer Geschlechtstypik, die in der Theoretisierung des Peerhandelns von Grundschulkindern gleichzeitig in großer Nähe zur Entwicklungstypik angeordnet ist (s. o. Abschnitt 7.2.2). Der
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7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
zweite Ausgangspunkt dieser Studie, eine angenommene Generationstypik in der Gegenstandskonzeption, tritt demgegenüber in den Hintergrund, seine Merkmale gehen in den Typiken der Bildung und der Entwicklung auf. Idealtypisch könnte man daher von einer Bildungstypik der Krisenbewältigung differenter Differenzerfahrung durch soziale Selbstverortung in Peer-Räumen mit darauf bezogenen Ordnungen und Praktiken sprechen, die dem generationsbezogenen Krisenerleben im interorganisationalen Erfahrungsraums schulischer „Elternarbeit“ eine Perspektive auf Entwicklung(saufgaben) und kindliches Autonomiestreben entgegensetzt. Diese Perspektive wäre geschlechtsspezifisch agiert zu differenzieren: Die peerbezogenen Horizonte scheinen von den Jungen eher wettbewerbsorientiert, von den Mädchen eher gemeinschaftsorientiert ausgedeutet zu werden. Daher ließe sich die Hypothese formulieren, nach der Mädchen auf einen gemeinsamen Raum orientieren, der exklusiv abgegrenzt ist und in dessen Grenzen Wettbewerb stattfindet, während die Jungen auf Wettbewerb orientieren, der inkludiert oder exkludiert und damit einen gemeinsamen Raum abgrenzt (vgl. Schrader 2016: 314). Mit dieser idealtypischen Sicht würde die Erfahrungsdimension der Entwicklung gegenüber der der Bildung (Bohnsack 2013a: 263) in den Vordergrund treten und stärker auf Peers als auf Familie oder Schule bezogen. „Die Bewältigung der Relationen und Konflikte zwischen diesen unterschiedlichen gesellschaftlichen Erfahrungsräumen konstituiert auf der Grundlage des gemeinsamen Erlebens dieser Relationen und Konflikte neue Erfahrungsräume, die ich als reflexive Erfahrungsräume bezeichne“ (Bohnsack 2017a: 118).
Die praktische Bewältigung der übereinander gelagerten E rfahrungsräume und ihrer impliziten Diskrepanzen schafft demnach eigene kollektive Habitualisierungen, die sich in reflexiven Erfahrungsräumen ansiedeln; damit ist die Rekursivität zwischen dem Teil – einem Erfahrungsraum und seinen impliziten Orientierungen – und dem Ganzem – allen sich überlagernden Erfahrungräumen und deren Bewältigung – konstituiert (vgl. Bohnsack 2017a: 33), etwa wenn die Kinder in den hier rekonstruierten Gruppendiskussionen über ihre Kommunikation mit Eltern, Lehrkräften und Peers kommunizieren und dabei institutions-, genderund milieubezogene Orientierungen ins Spiel bringen. Dies konkretisiert sich in der impliziten Reflexion der Differenz von geregeltem und nicht geregeltem Erfahrungsraum, die einerseits zur Differenzerfahrung von Regelerwartung und Regelpraxis führt, vor allem im Unterricht, andererseits zur differenten Differenzerfahrung fehlender Beteiligungen in der schulischen „Elternarbeit“. Damit kann der Begriff der „Elternarbeit“ zugleich als Exklusion des generational Anderen erschlossen werden.
7.3 Sinngenetische Typenbildung
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7.3.3 Habitusbildung und Orientierungsrahmen Die Typenbildung als Rekonstruktion, Abstrahierung und Spezifizierung impliziten Handlungswissens wird hier abgeschlossen, indem die Gegenstandskonzeption dieser Studie aus Sicht der gefundenen Typik wieder in den Blick genommen wird (vgl. Bohnsack 2017a: 103). Ihre Differenzierung zwischen Handlungspraxen, Normen und Diskrepanzbewältigung bezieht sich auf Bohnsacks Orientierungsrahmen im weiteren Sinne und basiert auf der Differenz von Habitus und konjunktivem Erfahrungsraum: „Es handelt es sich hier um eine rein theoretisch-analytische Trennung, da uns in der empirischen Rekonstruktion – also in der Text- oder Bildinterpretation – das habitualisierte und inkorporierte Wissen, der Habitus, immer schon in seiner Relation zu den als exterior erfahrenen Erwartungen und Ansprüchen der Norm und der Fremdidentifizierung, also innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums und des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne, gegeben ist“ (ebd.: 104).
Die herausgearbeiteten und typisierten Orientierungen der Kindergruppen wurden als Bewältigung der notorischen Diskrepanz von Habitus und Norm interpretiert, die sich sowohl kommunikativ als auch konjunktiv zeigen und in den Erwartungshorizonten der unterschiedlichen Gruppen bewegen. Ihnen entspricht die Entwicklung habitualisierter Handlungspraxen, die sich einerseits auf die Herstellung des sozialen Raums der Peergruppe beziehen, andererseits auf den Umgang mit schulischen Regeln (s. Tab. 7.7). Die konjunktiven Orientierungen zeigen einen kompetenten Umgang mit der Schülerrolle und gleichzeitig eine peergruppenbezogene Abgrenzung; kommunikativ entsprechen dem die kompetente Kritik an der schulischen „Elternarbeit“ sowie die peergruppenbezogene Verständigung über Peerverhalten. Institutionsbezogenes Rollenverhalten und und peerbezogene Habitusbildung beziehen sich eng aufeinander, sie werden hier im Kontext der Relation von Differenzerfahrung und differenter Differenzerfahrung (s. o. Abschnitt 7.1.6) interpretiert. Prozessbezogen kann die Frage nach der Habitusbildung nicht beantwortet werden, da die kollektiven Orientierungen der Kindergruppen nicht über einen längeren Zeitraum hinweg rekonstruiert wurden; auch die Differenzierung von Aktionsmen, mentalen und materialen Bildern kann nicht in eine Prozessmechanik umgedeutet werden, sondern bildet lediglich unterschiedliche Momente ab (s. o. Abschnitt 7.2.2). Die Frage nach der Habitusbildung kann mit Hilfe der Vergleichsdimensionen der Typik beantwortet werden, denn in ihnen scheint sie sich zu entwickeln: Das unterrichtsanaloge Diskursverhalten, als Gemeinsamkeit routinierter Praktiken rekonstruiert (s. o. Abschnitt 7.2.1), verweist auf einen im jeweiligen Kontext
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7 Forschungsergebnisse: Komparative Analyse und Typenbildung
entwickelten unterrichtsbezogenen SchülerInnenhabitus, nach Geschlecht differenziert. Die Dimensionen des Umgangs mit institutionellen Regeln und Rollen einerseits, mit Peerbeziehungen andererseits erscheinen als die eigentlichen Zonen der Habitusbildung im Rahmen der kollektiven Orientierungsleistungen. Sie weisen einen im Vergleich unterschiedlichen Stand der Entwicklung auf, wenn man die Gleichzeitigkeit der kompetenen Gestaltung des Habitualisierten und der suchenden Entwürfe des Sich-Habitualisierenden sieht. Die Grenze verläuft zwischen der Dimension des Regelumgangs als Differenzerfahrung von Regelerwartung und Regelpraxis und der der dazu in Differenz stehenden Dimension des Nichtgeregelten, denn die kindliche Habitusbildung stößt im interorganisationalen Raum schulischer „Elternarbeit“ durch das weitgehende Fehlen institutionalisierter Regeln und Beteiligungen auf besondere Bedingungen, die das Krisenerleben der Schülerinnen und Schüler ausmachen. Das Terrain hat als weitgehend ungeregelter Bereich einer Institution zu gelten, der die Einführung in das öffentliche, organisationsbezogene Regelwerk gleichberechtigter Teilhabe und Verpflichtung essentiell zugeschrieben wird (s. o. Abschnitt 4.2.2). Dieser Mangel bezieht sich nicht nur auf die konkrete Organisation der hier untersuchten Schulen, er ist der Institution selbst zugehörig; es scheint sich um eines der Momente der Unterbestimmung der Schule als Organisation zu handeln (vgl. Amling 2017: 118), die dringend der Analyse und Theoretisierung bedürfen (s. o. S. 109). Viele Einzelschulen versuchen zwar, diesen interorganisationalen Raum zu regulieren, wie die Literatur zur schulischen „Elternarbeit“ sichtbar macht. Trotzdem werden Schülerinnen und Schüler in ihren Orientierungen zur Bewältigung des Krisenerlebens auf eine Distanzierung gegenüber schulischer „Elternarbeit“ festgelegt, die sich aus der Schwierigkeit ergibt, Regeln als soziale Normen und integrale Bestandteile zusammenhängender Rollensysteme wahrzunehmen (vgl. Veith 2014: 130 f). Der Aspekt der Partizipation ist demnach auf rudimentäre Formen beschränkt und vermutlich mit der Konsequenz einer zunehmenden Ablehnung unterschiedlicher Formen schulischer „Elternarbeit“ verbunden, wie sie sich auch in Umfrageergebnissen zeigt (s. o. 2.2.2). Es muss die Frage gestellt werden, ob schulische „Elternarbeit“ nicht zugleich als Bereich einer machtvollen Gradierung (Bohnsack 2017a: 272 ff; 2017b: 252) zu verstehen ist; Macht findet sich, so Bohnsack, dort, wo sich die Erst-Codierung der Schule – Disziplinierung und Leistungsmessung – mit einer Zweit-Codierung der (De-)Gradierung und totaler Identitäten verbindet (vgl. Bohnsack 2017a: 272 ff). In Interaktionen wird sie propositional durch die zuschreibende Konstruktion von Motiven, Biografien und Milieus sichtbar, performativ durch die Steuerung der Diskurs- und Interaktionsorganisation.
7.3 Sinngenetische Typenbildung
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Diese und andere Perspektiven der Rekonstruktionen, die in dieser Studie vorgenommen wurden, werden abschließend in den Kontext der aufgerufenen theoretischen Bezüge gestellt. Der Doppelcharakter des Habitus als modus operandi und opus operatum, strukturierte und strukturierende Struktur (vgl. Bourdien 1987: 98; s. o. Abschnitt 4.1.2; Bohnsack 2017a: 108; Rauschenberg/Hericks 2018: 113) wird in einer institutionell bedingten Vielschichtigkeit sichtbar: Die Bewältigung der Differenzerfahrung zwischen schulischen Regelerwartungen und schulischer Regelpraxis baut auf dem bereits entwickeltem, familiär und milieuspezifisch geprägten Habitus auf und wirkt zugleich auf diesen ein, sodass dieser sich als SchülerInnenhabitus weiter entwickelt, zudem erfährt er zusätzliche Impulse zur peerbezogenen Erweiterung durch die differente Differenzerfahrung fehlender Verregelung der Interaktionen im Erfahrungsraum schulischer „Elternarbeit“. Die in der Typenbildung sichtbare Dimension der Peergruppenzugehörigkeit in der Spannung zwischen Inklusion und Exklusion muss als Zielraum der weiteren habituellen Entwicklung angesehen werden. Tab. 7.7 Typisierte kollektive Orientierungen im Krisenerleben schulischer „Elternarbeit“
Prozess der Habitusbildung in der Latenzphase in peerbezogener Relationalität
Bewälgung des Krisenerlebens schulischer „Elternarbeit“ zwischen Regelkenntnis und Peerorienerung Wachsende Kenntnis von und immer bewussterer Umgang mit Regeln, Normen, Iden täten Immer wieder geforderte, zunehmend rou niertere Bewäl gung der notorischen Diskrepanz von Habitus und Norm Entwicklung von Handlungspraxen in der Erprobung von Ak onismen zu Habitualisierungen und
Äußerungen und Praxen mit Bezügen zum koopera ven Handeln der älteren Genera on in spezifischen Gender- und Machtbezügen
Peerbezogener Erfahrungsraum
Organisa onsbezogener Erfahrungsraum
Fehlende Regeln und Rollen in der schulischen „Elternarbeit“
Regeln und Rollen der Peerbeziehungen
… zwischen Abgrenzung und Bezogenheit
Differente Differenzerfahrung
Einen Sozialraum der Peergruppe herstellen
Ins tu onell-organisatorische Doppelstruktur mit spezifischen Codierungen und Fremdrahmung
… zwischen Opposition und Kooperation
Mit den Regeln der Institution umgehen
8
Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
Die Forschungsfrage dieser Studie lautet (s. o. Abschnitt 3.2): Wie äußern sich Schülerinnen und Schüler in Peergruppen aus dritten Klassen an Grundschulen zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften?1 Die Antworten auf diese Frage werden in diesem abschließenden Kapitel in den Kontext der theoretischen Rahmungen eingebracht, um Fallrekonstruktionen, Vergleiche und Typenbildung zusammenfassend im Licht der theoretischen Kontexte zu prüfen und auf ihre Leistungsfähigkeit für Anschlüsse und Weiterentwicklungen zu prüfen. Dafür werden zunächst die Desiderata (s. o. Abschnitt 2.3) aufgegriffen, um dann entlang der drei thematischen Schwerpunktsetzungen Kindheitsforschung, Peerforschung und Schulforschung und der beiden methodischen Akzente der Gruppendiskussion und der dokumentarischen Methode zu diskutieren, ob und inwieweit die Forschungsergebnisse wissenschaftliche Erkenntnisse und methodische Erfahrungen beeinflussen könnten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Hypothesenbildung und Theorienentwicklung im Mittelpunkt stehen: „Angestrebtes Ziel der meisten qualitativen Studien ist […] die Hypothesenbildung bzw. Theorieentwicklung. Damit ist zwangsläufig ein Überwiegen induktiver und auch abduktiver Elemente verbunden“ (Nentwig-Gesemann 2013: 303).
Die induktiven Schritte sind abgeschlossen und werden hier rückblickend in ihren Ergebnissen angesprochen, abduktive Elemente können demgegenüber in diesem abschließenden Kapitel in der Zusammenschau der Ergebnisse noch auftauchen. 1Die
Frage wurde bewusst offen formuliert, um Prinzipien der Offenheit und Gegenstandsentfaltung im Forschungsprozess zu berücksichtigen (vgl. Einsiedler/Fölling-Albers/Kelle/ Lohrmann 2013).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_8
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
Die Perspektive der in dieser Studie gewählten Gegenstandskonzeption auf die inner- und intergenerationalen Beziehungen von Grundschulkindern muss im Nachhinein als sekundär gegenüber peer- und institutionsbezogenen Perspektiven gesehen werden, in der Anlage der Studie selbst hat sie aber als intergenerationale und in der Kontrolle des Forscher-Standorts Bedeutung. 2008 formulierte Kramer (711) die Hoffnung: „Der generationsbezogene Blick auf Schule scheint in der Lage, die Bedingungen und die Grenzen des pädagogischen Handelns in der Schule plausibel herauszuarbeiten und damit auch neue Einsichten in Schule und Unterricht zu gewähren. Zugleich verspricht dieser Blick für den Generationsdiskurs eine – bisher zurecht als mangelhaft empfundene – breitere empirische Basis. Positive Effekte sind also nicht nur für die Schulforschung, sondern auch für den Generationsdiskurs insgesamt zu erwarten“ (Kramer 2008: 711).
Diese Hoffnung kann für den gegenstandsspezifischen Ausschnitt dieser Studie kaum bestätigt werden. Vielmehr scheint die Institution Schule alle generationsbezogenen Thematisierungen zu überformen. „Generationales Ordnen“ (BühlerNiederberger 2011; s. o. S. 74) findet hier offenbar in Form institutionalisierter Programme für die Heranwachsenden statt. Einzelne generationale Elemente, die relevant sind, werden nachfolgend im Kontext der anderen Schwerpunkte angesprochen. Das grundlegende Desiderat sind die kindlichen Wahrnehmungen zur Zusammenarbeit von Erwachsenen im Kontext von Schule, es wird hier als Frage nach der SchülerInnensicht auf schulische „Elternarbeit“ formuliert. Damit verband sich das Interesse daran, inwieweit Kinder sich selbst als Akteure in Schule und Familie sehen, welche Vorstellungen sie damit verbinden und wie sie sich selbst und ihre Peers dazu positionieren (vgl. Machold 2018). Kramer hat 2008 festgestellt, dass für die Schülerseite großer Nachholbedarf besteht: „Wichtig wäre es, Schülerstudien zu den generationsspezifischen Habitusbildungen im Kindes- und Jugendalter durchzuführen“ (Kramer 2008: 710), vor allem auch „Studien, die das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zu Erwachsenen in der Schule unter dem Fokus der Partizipationsverhältnisse untersuchen“ (ebd.); damit werden habitus- und generationsbezogene Fragen im weitesten Sinne gestellt. Darauf bezogene Ergebnisse wurden in den Folgejahren im Kontext der Forschungsgruppe um Helsper veröffentlicht, isb. zum Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009) und zur zehnten Klasse, letztere mit fünfzehn Fallstudien, die Daten aus Schulen und Familien sowie von den Jugendlichen selbst triangulierten (vgl. Helsper/
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Kramer/Hummrich/Busse 2009). 2005 bereits erschien die Untersuchung der Schweizer Forschungsgruppe um Neuenschwander (Neuenschwander/Blamer/ Gasser-Dutoit et.al. 2005), die u. a. sechs Jugendliche in Fallgeschichten vorstellte, 2008 eine quantitative Befragung von Sacher (2008). Beide Untersuchungen weisen methodische Mängel auf, Neunenschwander et.al. (2005) in der Gegenstandsbestimmung (s. o. Abschnitt 2.2.1), Sacher in der Typisierung (s. o. Abschnitt 2.2.2). Aktuell stellt sich die Forschungsgruppe um Betz (Betz/ Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017a, 2017b) in einem komplexen Design die Aufgabe, die Relationierung der Perspektiven von Fachkräften, Lehrkräften, Eltern und Kindern im Hinblick auf Bildungsungleichheiten zu rekonstruieren, die Ergebnisse warten auf ihre Veröffentlichung. Ein Desiderat war auch die Rolle der schulischen und außerschulischen Peers für die Wahrnehmung und Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen zur schulischen „Elternarbeit“, denn sie scheinen einen nicht unbedeutenden und wachsenden Einfluss auszuüben, wie sich aus den Daten von Wohlkinger (2014) ergibt. Ferner stellte sich im Anschluss an die Ergebnisse von Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009) die Frage, ob und wenn ja, welche Aspekte habituellen Handelns und Wissens die Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen gegenüber schulischer „Elternarbeit“ bestimmen, ferner, inwieweit kindliche Wahrnehmungen bereits habitualisiert sind; diese Frage ist umso interessanter, als die AutorInnen selbst von Frühformen des Habitus sprechen, sodass sie sich auf Habitustransformation bzw. –erweiterung, hier allgemein als Prozess der Habitusbildung bezeichnet, richtet. Damit verbunden, entstand auch die Frage nach den Relationen von Schulkultur und sozialen Milieus zu den Sichtweisen der Schülerinnen und Schülern, die zwar immer wieder angedeutet, aber nicht weiter thematisiert wurden (s. o. Abschnitt 2.2). Dabei spielen auch strukturelle und soziale Differenzierungen des deutschen Schulsystems eine Rolle, wie sie die Forschungsgruppe um Helsper in ihrem Sample berücksichtigt. Schließlich fließen akteurs- und generationsbezogene Erkenntnisse der Kindheitsforschung nur selten ein, Ausnahmen sind zum einen die rekonstruktiv angelegten Projekte aus Halle-Wittenberg (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009), zum anderen das Projekt der Frankfurter Forschungsgruppe (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017a, 2017b). In die theoretischen Kontexte dieser und anderer Veröffentlichungen werden die Antworten und Ergebnisse dieser Studie zurückgebunden, beginnend mit dem methodischen Vorgehen, gefolgt von den Bezügen zur Kindheitsforschung und zur Peerforschung und abschließend mit den entscheidenden Aspekten der Schulforschung.
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8.1 Kontext Forschungsmethodik Diese Studie hat sich nach der Orientierung im aktuellen Forschungsstand für ein Forschungsdesign aus Gruppendiskussion und dokumentarischer Methode entschieden, methodologisch fundiert in der Praxeologischen Wissenssoziologie. Diese Elemente werden im Folgenden diskutiert und auf ihre Leistungen in dieser Studie befragt.
8.1.1 Gruppendiskussion Das Kollektive, Implizite und Generationale der Gegenstandskonzeption kindlicher Wahrnehmungen führt zur Wahl gruppenzentrierter Kommunikation, die mit der Methode der Gruppendiskussion beforscht wird (s. o. Abschnitt 5.1). Dieses methodische Instrument gilt als „adäquates Verfahren der Peerforschung“ (Loos 2016: 143), in dem von Anfang an der doppelte Diskurs zwischen ForscherIn und Beforschten einerseits, der Beforschten miteinander andererseits angelegt ist (vgl. Loos/Schäffer 2001). Als spezifische Methode zur Rekonstruktion kollektiver Orientierungen evoziert sie eine „Gruppenmeinung“ (Werner Mangold), die sich durch die Begegnung der Befragten konstituiert, wenn sie in ihrer Kommunikation konjunktivierende Bezüge auf gemeinsame Erfahrungsräume vornehmen (vgl. Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010; Mensching 2017). Deren detaillierte, interaktionsbezogene Rekonstruktion gewährleistet die Genauigkeit und Gültigkeit der Methode ebenso wie die „doppelte Hermeneutik“ (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010: 9) der Konstruktionen zweiten Grades in ihrem Anschluss an die der Akteure und drittens die metatheoretische Fundierung in einer zugrundeliegenden primordialen Sozialität. Das Verfahren der Gruppendiskussion wird durch Anschlüsse an Diskussionen der Kindheitsforschung in Vorbereitung, Durchführung und Interpretation spezifiziert. Erfolgreiche und reflektierte Forschungserfahrungen mit dieser Methode im Hinblick auf Kindergruppen (vgl. Michalek 2006; Michalek/ Schönknecht 2006; Nentwig-Gesemann 2010; Wagner-Willi 2010; Heinzel 2012c; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014) zeigen, dass Gruppendiskussionen tatsächlich eine Fokussierung auf die Konstruktionen der Kinder leisten können. Dabei gilt es, im Anschluss an die dokumentarisch orientierte Kindheitsforschung nicht nur „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2014a: 125), sondern auch „Fokussierungsakte“ (Nentwig-Gesemann 2010: 40) zu rekonstruieren.
8.1 Kontext Forschungsmethodik
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Die Beziehung zwischen Beforschten und Forscher ist durch das grundlegende, generationale Verstehensproblem geprägt. Daher wird eine Konzeptionierung als videogestützte Gruppendiskussion vorgenommen, die dem Forschungsgegenstand im Sinne eines reduzierten und flexiblen Methodenbegriffs (vgl. Strübing/Hirschauer/Ayaß/Krähnke/Scheffer 2018) gerecht wird, zum einen durch eine videobasierte Transkription (s. o. Abschnitt 5.2), zum anderen durch eine ergänzende Bildinterpretation (s. o. Abschnitt 6.4.4). Die gegenseitige Unvertrautheit zwischen Forscher und Beforschten kann nur durch eine unspezifische Eröffnung und Rahmung des Gesprächs berücksichtigt werden, die alle Darstellungsformen berücksichtigt und die thematischen Relevanzsetzungen der Kinder in den Vordergrund treten lassen (vgl. Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014). Im Übrigen finden die Gruppendiskussionen in Realgruppen statt, um die Kooperationsbereitschaft zu stabilisieren; für die Gruppenbildung wird auf die positive Peerwahl in Analogie zu soziometrischen Verfahren (Dollase 2013; Schlechtriemen 2013; Stadler 2013) zurückgegriffen. Der räumliche Kontext der Gruppendiskussionen wird in den Schulen hergestellt, die Kinder werden als ‚sachkundige‘ SchülerInnen in selbstgewählten, möglichst unveränderten Gruppen angesprochen. Die methodische Umsetzung zeigt starke Einflüsse der Institution, sei es in der Bewältigung des Forscherbesuchs im Rahmen der institutionell möglichen Rollenzuschreibungen (hier und im folgenden s. o. Abschnitt 6.1), sei es in der Beteiligung von LehrerInnen an den Gruppenbildungen der Schülerinnen und Schüler, sei es in der Zuweisung von Räumen und Zeiten. Dies alles kann als Rekontextualisierungsleistung der Institution interpretiert werden (vgl. Fend 2008), die in Forschungsprojekten methodisch kontrolliert werden muss, auch wenn das oft unterbleibt. Sample und Auswertung stützen sich daher auf die vier Gruppendiskussionen, die in Gruppen ohne sichtbare Formen der Beeinflussung stattgefunden haben und die daher als soziale „Quasigruppen“ (vgl. Oswald 2008; Krappmann 2010; s. o. Abschnitt 3.3.3) verstanden werden können. Die videobasierte Transkription der gewonnenen Daten ermöglicht in dieser Studie eine eindeutigere Identifizierung der SprecherInnen, eine große Hilfe in verdichteten, selbstläufigen Passagen, sie macht es darüber hinaus möglich, die sprachbegleitenden Gesten der Kinder im Kontext der Fokussierungsakte einzubeziehen. Videotranskriptionen werden schon seit Längerem vorgenommen (vgl. Fritzsche/Wagner-Willi 2013; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: Moritz 2018), sie haben ganz unterschiedliche Funktionen, u. a. heuristische, explorative, systematisierende, dokumentierende oder validierende. Daher lässt
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sich laut Moritz (2018) im Unterschied zur textbasierten Transkription bisher kein Standard formulieren. In dieser Studie geht es in erster Linie um eine Korpusfunktion, die die heuristische Funktion der Texttranskription unterstützt. Sie optimiert die Datenherstellung in der textlichen Transkription, erweitert sie aber auch im Sinne der Kindheitsforschung, um über die verbalen bzw. textlichen Gestalten hinaus nonverbale Äußerungen zu berücksichtigen. Allerdings ist die angesprochene Funktion in ihren Wirkungen und Auswirkungen hier unterschätzt, denn de facto wird eine Vielzahl von interpretationsbedürftigen Gesten in das Transkript aufgenommen, die zum einen in ihrer Auswahl, zum anderen in ihrer kontextuellen Bedeutung diskutiert werden muss. Das gewählte Transkriptionsverfahren TiQ (Bohnsack 2014a: 236) erlaubt die Aufnahme von „Kommentare[n] bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nichtverbalen oder gesprächsexternen Ereignissen“ (ebd.) in Doppelklammern, aber es sagt fast nichts (mit Ausnahme des zeitlich bezogenen Umfangs) über die Grenzen dieser Anmerkungen. Hier werden – eben mit Bezug auf die Kindheitsforschung und als Anpassungsleistung des Forschenden an die Forschungsanlage – nicht-deutende Beschreibungen von Gesten in das Texttranskript in größerer Anzahl aufgenommen und in die Interpretation einbezogen, vor allem dort, wo die sprachliche Kommunikation nicht eindeutig erscheint, abbricht oder unverständlich wird, außerdem dort, wo Äußerungen sinnbezogen ergänzt werden. Die sprachliche Darstellung dieser Handlungen beschränkt sich auf, soweit möglich, beschreibende sprachliche Ausdrücke, die im Zuge mehrmaliger, feinanalytischer, videobasierter Beobachtungen ausgewählt werden, so dass sie als vor-ikonografische Beschreibung gelten können, die formulierend interpretiert werden muss (Fritzsche/Wagner-Willi 2013: 276 f). Die Gruppendiskussionen selbst zeigen deutlich „zwei ineinander verschränkte[…] Diskurse“ (Bohnsack 2014a: 225) und erlauben es dem Forscher, sie in den einzelnen Gesprächen zu rekonstruieren und seine Beteiligungen und Aktionismen von denen der Kinder zu differenzieren (s. o. Abschnitte 6.2 ff). Der methodologische Einwand, Gruppendiskussionen seien nur „Interaktion zwischen Generationen“ (Bock 2010: 121; vgl. Alexi/Fürstenau 2012), weil ModeratorInnen die Wirklichkeitskonstruktionen der Kinder beeinflussen und deren selbstdarstellende Handlungsakte provozieren, kann durch die aufwändigen Rekonstruktionen entkräftet werden, die tatsächlich den doppelten Diskurs sichtbar machen, intergenerationale Interaktion zum einen, gruppenzentrierte Kommunikation der Erforschten zum anderen, und damit zugleich die SelbstReflexion des Forschenden in Bezug auf seine Beteiligung ermöglichen. Die Berücksichtigung dieses doppelten Diskurses setzt sich bis in die komparative
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Analyse und sinngenetische Typenbildung fort, seine beiden Anteile lassen – gleichsam als gegenseitige Vergleichsfolie – kontextbezogene Konstruktionen der Kindergruppen sichtbar werden, die gemeinsam mit dem Forscher die Gruppendiskussionen strukturhomolog zu unterrichtlichen Interaktionen gestalten und gleichzeitig Einblicke in frühe Prozesse der Peergruppenbildung erlauben (s. o. Abschnitt 7.2; s. u. Abschnitt 8.1.2). Die Differenzbearbeitung von Regelgemäßheit und Regelmäßigkeit der Organisation (vgl. Mensching 2017) zeigt die SchülerInnengruppen in Auseinandersetzungen mit schulischen Regeln, Rollen und Normen, und das sowohl propositional als auch performativ, dabei wird deren Abwesenheit in der schulischen „Elternarbeit“ deutlich, sodass von einem regelmäßigen Krisenerleben der Kinder gesprochen werden kann. Inwieweit diese Krise als Aspekt der kindlichen Latenzphase oder der Organisation zu verstehen ist, wäre zu diskutieren (s. u. Abschnitt 8.4.1).
8.1.2 Dokumentarische Methode Die Entscheidung dieser Studie für die Erhebungsmethode der Gruppendiskussionen zog die Entscheidung für die Auswertung mit der dokumentarischen Methode nach sich, da sie in einer engen und historisch gewachsenen Beziehung zueinander stehen (vgl. Loos/Schäffer 2001). Die Entscheidung für eine Auswertung mit der dokumentarischen Methode als „Milieu-Analyse“ (Amling/ Hoffmann 2018: 87 f) bewirkte die Orientierung an der Praxeologischen Wissenssoziologie als metatheoretischer Grundlegung und „Milieu-Theorie“ (ebd.). Die daraus hervorgehende Ausrichtung der Gegenstandskonzeption und des methodischen Vorgehens basiert zentral auf Bohnsacks Konstruktion des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne (vgl. Bohnsack 2017a) und der Fokussierung von habituellen und normativen Orientierungen auf der Basis der Differenz von kommunikativem und konjunktivem Wissen. Darüber hinaus zielt die Entscheidung für die dokumentarische Methode auf eine „Rekonstruktion der Rekonstruktion“ (Bohnsack 2018a; Rauschenberg/Hericks 2018), in der die Praxis des Forschens selbst zum Gegenstand wird – der Forscher versucht, die in seiner Rekonstruktion wirksamen methodischen Prinzipien zu identifizieren und zu reflektieren. Grundlage sind vertextlichte bzw. durch Bilder dokumentierte Performanzen der Beforschten, der Schülerinnen und Schüler. Diese Ausrichtung ermöglicht der Studie die reflexive Bestimmung der Standortgebundenheit des Forschers in biografischer, professioneller und generationaler Hinsicht sowie deren Diskussion und Kontrolle in der Rekonstruktion und Interpretation
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der Gruppendiskussionen. Sie führt, damit verbunden, bereits in der Anlage der Untersuchung zu einem Wechsel der Forschungsperspektive von ‚Kindern‘ auf ‚Kindheit‘, indem Debatten der Kindheitsforschung integriert werden (s. o. Abschnitt 3.1; s. u. Abschnitt 8.2); sie führt ferner in der Datenauswertung zu einer intensiven und weitgehenden Interpretation des Diskurses zwischen Kindern und Forscher, der als Kontrast für die peerbezogenen Konstruktionen dient (s. o. Abschnitt 7.2). Eine zentrale Leistung und ein daraus entstehender Ertrag der dokumentarischen Methode2 ist die Rekonstruktion der kindlichen Habitusbildung mit Hilfe des weiteren Orientierungrahmens von Bohnsack, der den Blick auf die Diskrepanzbewältigung von Habitus und Norm und damit auf die Differenz von strukturierter und strukturierender Struktur des Habitus öffnet. Dieses Modell bietet enorme Chancen zum Verstehen und zur Verständigung über das Verhältnis von Milieu und Institution, Habitus und Rolle, Praktik und Norm, da es eine außerordentliche Differenzierung des forschenden Zugriffs und der Integration unterschiedlichster Aspekte ermöglicht. Die kindliche Habitusbildung findet in einem reflexiven Erfahrungsraum statt, der aus der Überlagerung von gender-, generations- und organisationsbezogenen Erfahrungsräumen entsteht (s. u. Abschnitt 8.4.3). Die Rekonstruktion der unterschiedlichen Räume und ihrer Überlagerungen erweist sich als anspruchsvoll und schwierig; sie wird in dieser Studie nur unzureichend geleistet, da sie aufgrund der geringen Fallzahl an ihre Grenzen stößt3. Begrifflich entwickelt sie mit Hilfe der dokumentarischen Methode eine Differenzierung kindlicher Habitusbildung in Aktionismen, mentale Bildern habitualisierten Wissens und materiale Bildern inkorporierten Wissens, die nicht (oder noch nicht) als Prozess zu verstehen ist (s. o. Abschnitt 4.2.2); sie lässt sich in den Daten aufgrund der unzureichenden Reichweite der vorwiegend textbasierten Interpretation nicht hinreichend rekonstruieren – ein hypothetischer Versuch der Systematisierung, der zu überprüfen ist (s. u. Abschnitt 8.4.1). Unabhängig von diesem Problem muss
2Die Darstellung beschränkt sich hier auf die Nennung der wichtigen Aspekte, sie werden in den weiteren Abschnitten kontextualisiert und konkretisiert. 3Die Frage kann gestellt werden, inwieweit die methodologischer Ansprüche und Erwartungen an qualitative bzw. rekonstruktive Forschung eine Einzel-Dissertation unter universitären Arbeitsbedingungen überhaupt noch möglich macht; diese Qualifizierungsform scheint aber, wie diese Studie auch zeigt, für manche eher randständigen oder als randständig markierten Themen der erziehungswissenschaftlichen und schulbezogenen Forschung nach wie vor sinnvoll zu sein.
8.1 Kontext Forschungsmethodik
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hier auf jeden Fall die Ergiebigkeit und Reichweite des gewählten Forschungsdesigns betont werden, das die Ebenen von Organisation und Interaktion bzw. Gruppe fokussiert (vgl. Bohnsack 2017a) und die Erfahrungsräume von Schulkindern als identische, sprich: face-to-face-Realgruppen in einer vertikal orientierten Struktur unterhalb der Organisationsebene ansiedelt. In diesem Zusammenhang ist eine weitere zentrale Leistung zu sehen, sie findet sich in der grundlegenden theoretisch-methodologischen Bestimmung der „strukturelle[n] Fremdrahmung“ (vgl. Bohnsack 2017a: 134) der Institution und Organisation Schule und ihrer Bedeutung für die hier rekonstruierten, empirischen Daten. Sie ermöglicht die doppelte Perspektive auf die SchülerInnen-Äußerungen und den doppelten Nachweis ihrer Orientierungen als zugleich institutions- und peerbezogene; sie führt letztendlich auch zur Frage nach einem doppelten Krisenbegriff (s. u. Abschnitt 8.4.1). Im Grunde wird diese „Fremdrahmung“ bereits in der Sampling-Strategie und im Umgang mit dem Feld berücksichtigt, wenn Einflüsse auf die Peergruppenbildung relevant gemacht werden. Das hat nichts mit einer romantisierenden Vorstellung angeblich klandestiner, kindlicher Peerbeziehungen zu tun – natürlich sind die befragten Peergruppen in der Organisation entstanden und durch sie geprägt –, sehr wohl aber mit einer methodisch kontrollierten Datenerhebung. Möglicherweise wären die Ergebnisse dieser Studie andere, wenn, wie in einer Voruntersuchung (vgl. Stiller 2016) geschehen, die Gruppen von den Lehrkräften zusammengesetzt worden wären (s. o. Abschnitt 6.1): Die Gruppendiskussionen wären durch die selbst vorgenommenen Unterscheidungen der jeweiligen Peergruppen dominiert worden, eine relevante Anzahl von Sprechenden hätte einer relevanten Anzahl von Schweigenden gegenüber gesessen; damit wären keine Quasigruppen beforscht worden, die Orientierungen hätten nur für Teilgruppen Geltung gehabt. Die Interpretation hätte wohl kaum eine unzureichende Feldstrategie dingfest machen können. Der Einwand könnte lauten, dass der Einfluss der Forschungsanlage auf den Gegenstand nicht überschätzt werden dürfe, in den Teilgruppen hätten die Peers dieselben Themen angesprochen und wären zu ähnlichen Performanzen gelangt. Dieser Einwand kann auf der propositionalen Ebene konzidiert werden, nicht aber auf der performativen, denn wenn etwas für Darstellungs- und Verlautbarungsweisen in Gruppendiskussionen von Bedeutung ist, dann die Konjunktivität der Gruppe, erst recht für Kinder. Eine besondere Stellung nimmt die ergänzende Bildinterpretation in dieser Studie ein (s. o. Abschnitt 5.3.3), die eine gewisse heuristische Funktion hat (Bohnsack 2011: 138; vgl. Bohnsack/Fritsche/Wagner-Willi 2015: 12). Sie wird als Bild- und nicht als Videointerpretation angelegt, um eine Datentriangulation von Bild- und Textinterpretation zu ermöglichen. Beide Zugänge
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erstellen unterschiedliche Daten, die Texte werden von den SchülerInnen gesprochen und vom Forscher transkribiert, die Bilder werden vom Forscher produziert und zeigen den von den SchülerInnen gezeigten körpersprachlichen Ausdruck aus einem bestimmten Blickwinkel. Beide Zugänge interpretieren die jeweiligen Daten in selbstständigen Schritten; sie bleiben aber Aspekte derselben Erhebungssituation, sind in einem direkten Sinnbezug zueinander als propositionale und performative Momente derselben Äußerungen entstanden, ihre Interpretation folgt derselben Methodologie (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014; Bohnsack/Michel/Przyborski 2015; Hoffmann 2015). Mit dieser Methodik wird die Performativität einer Peergruppe rekonstruiert, die sich die Bühne eines Theaterraums für ihre ‚Darstellungen‘ gewählt hat und mehrmals die Haltung des Auf-dem-Bauch-liegens zeigt. Mit Hilfe der ergänzenden Bildinterpretation können in den Bildern unterschiedliche Aspekte des inkorporierten Wissens sichtbar gemacht werden, Annäherung und Positionierung, Gleichrangigkeit, Konflikt und Krise. Ganz offensichtlich ist das Performative in diesem Kontext nicht so stabil, wie ein erster Blick auf die Haltung vermuten lassen würde, es befindet sich in Anpassungen und Aushandlungen, insofern können die drei Bilder als Momentaufnahmen eines reversiblen Prozesses gelesen werden, der Habitusbildung dokumentiert, auch mit Blick auf die Haltung selbst, die sowohl auf Schutz und Sicherheit als auch auf Distanzierung orientiert ist. Die spezifische Anlage dieser Studie stellt sie in den Zusammenhang einer dokumentarischen Kindheitsforschung, wie sie von Iris Nentwig-Gesemann (2010, 2013) und Monika Wagner-Willi (2004, 2005, 2010, 2013) grundgelegt wurde (vgl. auch Nentwig-Gesemann/Wager-Willi 2007) und in den letzten Jahren gegenüber den Schwerpunkten der Peer- und Schulforschung zurückgetreten zu sein scheint. Sie erweist sich hier als ertragreich und aussagekräftig, isb. in der Kontrolle der erwachsenen Standortgebundenheit und in der Rekonstruktion der kollektiven, kindlichen Orientierungen (s. u. Abschnitte 8.2 und 8.4.1)4. Mit Rücksicht auf diese Perspektive der dokumentarischen Kind-
4Ein Aspekt, der in dieser Studie nicht vertieft wird, ist der der sprachbezogenen Performanz kindlicher Erzählungen und Beschreibungen und die damit verbundene Frage, ob und wie sie der Trennung von zielgerichteter Prosa und erregter Poesie (vgl. Ziesmer 2011: 73) folgen und wie ihre Performativität damit verstanden werden könnte; Motiv dieser Frage ist das Forschungsergebnis zum Wort „langweilig“ (s. o. Abschnitt 7.1.5), an dem deutlich wird, dass die kindliche Sprache im Peerkontext spezifische ‚Wortspiele‘ und Bedeutungen konstruiert, die von erwachsenen ForscherInnen nicht ohne Weiteres in ihrem dokumentarischen Aspekten verstanden werden können, denn die Kinder konstruieren ihre Darstellungen eigensinnig und evozieren dabei Ketten oder Kaskaden an Assoziationen,
8.2 Kontext Kindheitsforschung
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heitsforschung wählt die Studie in Fragen der Maskierung und der Länge der Transkriptpassagen eine Darstellungsform, die vom üblichen Vorgehen der Forschungsprojekte abweicht, die mit der dokumentarischen Methode arbeiten (Bohnsack 2014a: 237; s. u. Abschnitt 8.2). Dies stellt den Versuch dar, im Kontext kindheitsbezogener Forschung ein hohes Maß an Nachvollziehbarkeit und Transparenz herzustellen, auch mit Blick auf die Integration der Beschreibung sprachbegleitender Gestik in die Transkripte.
8.2 Kontext Kindheitsforschung Aspekte der Kindheitsforschung und ihr ‚Begriff vom Kind‘ werden in diese Studie integriert, um dem Forschungsgegenstand gerecht zu werden und subjektive, biografisch bedingte Zuschreibungen des Forschers zu kontrollieren (s. o. Abschnitt 3.1). Kindheit wird als Ensemble „analytische[r] Gegenstandsperspektiven“ (Kelle 2009b: 466 ff) verstanden, grundlegend als soziale Strukturkategorie der „Lebenslage“, dann als „Lebensphase“, nämlich die gesellschaftlich institutionalisierte Alterszugehörigkeit, auch durch die Schule, und schließlich als „Lebensweise“, nämlich kindliche „Lebensführung“, vorrangig als Peers; demgegenüber wird Kindheit als „Diskurs“ zweitrangig (hier und im Folgenden s. o. Abschnitt 3.1.2). Der Begriff der Perspektive, der im Titel dieser Studie benutzt wird, ist „im Sinne einer für Kinder charakteristischen, spezifisch gerichteten individuellen Wahrnehmung, eines Blickwinkels, einer Sichtweise oder eines Standpunkts“ (Honig 1999a: 35) verstanden; methodologisch bedeutsam ist aber, den „erwachsenenzentrierten Blick auf Kinder“ (Honig 2009: 31) zu suspendieren, indem zwischen einer erkenntnistheoretischen und
die nicht der erwachsenen Sprache folgen; so ließ sich etwa das Wort „langweilig“ als Charakterisierung für Lehrkraft-Eltern-Gespräche eher mit Worten wie ‚langwierig‘ und ‚anstrengend‘ übersetzen; ein anderes Wort war das der „Schweineöhrchen“, ein Gebäck, das nach einer Bemerkung des Forschers auftaucht, er sei „ganz Ohr“, und eine Abgrenzung der Gruppe gegenüber dem Erwachsenen zeigen könnte (s. o. Abschnitt 6.2.3); eine weitere Spieltechnik wird möglicherweise in der ‚Kombinatorik‘ einer Mädchengruppe rund um die für die kindliche Autonomie hoch relevante Bewegungsform „Laufen“ sichtbar, die ein Kaleidoskop von Assoziationen zwischen dem neugierig-flinken ‚Hinterherlaufen‘, dem beschwerlichen ‚Humpeln‘ und dem statischen ‚Nicht-laufen-können‘ erzeugt (s. o. Abschnitt 6.3.3).
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
einer gegenstandstheoretischen Konzeption von Kindheit unterschieden wird (Honig 1999a: 46). Daher kritisiert die Studie den in der Kindheitsforschung geläufigen Begriff des Kindes als Akteur, ebenso den der Agency, bereits in der Diskussion des Erkenntnisinteresses als partiell romantische Parteinahme (vgl. Bühler-Niederberger 2018) und wissenschaftsbezogene „Containerbegriffe“ (vgl. Betz/Eßer 2016), sie betont demgegenüber die kindliche Beteiligung an differenziellen Praktiken (vgl. Bollig/Kelle 2014; Kelle/Schweda-Möller 2017) und die sozialisatorische „Komplizenschaft“ von Kindern (Bühler-Niederberger 2018) im Kontext institutionalisierter Kindheit. Das Konzept der „generationalen Ordnung“ (Alanen 2005) wird mit Hengst (2013) als dichotom und zu starr kritisiert, da nicht-generationale Kindererfahrungen, die durch die „beschleunigte Modernisierung“ entstehen, aus dem Blick geraten. Deshalb wird ein Konzept „differenzieller Zeitgenossenschaft“ (vgl. Hengst 2004, 2012) in den Vordergrund gestellt, in dem generationale Kollektive ihr soziales Zusammenleben „polyphon“ organisieren. Gesellschaftlich muss „generationales Ordnen“ (BühlerNiederberger 2018) als „Realisieren bestimmter Ordnungsinteressen“ mit Hilfe von Programmen für stets relational aufeinander verwiesene Altersgruppen verstanden werden. Forschungspraktisch gelten praxistheoretische Konzeptionen „als geeigneter metatheoretischer Konvergenzpunkt“ (Krüger 2016), indem Ansätze aus der Bourdieu-Tradition, den praxeologischen Theorielinien und den sozialkonstruktivischen Konzepten zur Sozialisationstheorie verknüpft werden. Diese Studie sucht jenseits akteurs- und generationsbezogener Gegenstandsvorstellungen einen methodologischen Zugang, der die intergenerationale Beziehung zwischen Forscher und Beforschten möglichst weitgehend kontrolliert, und findet sie mit der Entscheidung für Gruppendiskussionen und dokumentarische Interpretationen: Gruppendiskussionen, weil diese den doppelten Diskurs in den Blick nehmen (s. o. Abschnitt 5.1), dokumentarische Methode, weil sie, praxistheoretisch u. a. auf Bourdieu Bezug nehmend, mit dem Konzept des Orientierungsrahmens bzw. Habitus – hier als Habitusbildung gefasst – eine möglichst offene und differenzierte Thematisierung bietet (s. o. Abschnitt 4.2). Tatsächlich kann mit der separaten Auswertung des Diskurses zwischen Forscher und Beforschten im Kontext der institutionellen Fremdrahmung das intergenerationale Moment als institutionsbezogenes entschlüsselt werden; dies gelingt, weil das Konzept der kindlichen Beteiligung an differenziellen Praktiken die Frage partizipativer Verantwortung strukturiert und die differenzielle Zeitgenossenschaft die Gegenüberstellung von Forscher und Kindern relativiert und kontextualisiert (s. o. Fallbeschreibungen und Abschnitt 7.2.1). Die Tragweite dieser methodologischen Konzeption hätte deutlicher hervortreten können, wenn die Studie die interaktive Körpersprache der
8.2 Kontext Kindheitsforschung
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Kinder, deren performative Performanz stärker in den Mittelpunkt gestellt hätte5, aber selbst im eher reduzierten Zuschnitt dieser Studie ist die vorgenommene Methodologisierung erfolgreich. Am deutlichsten wird dies in der Diskussion des kindlichen Krisenerlebens und seiner emotionalen Aspekte, in der mögliche Einschreibungen peerbezogener Praktiken und normativer Orientierungen thematisiert werden können, um dann aus Sicht differenzieller Zeitgenossenschaft die Tatsache festzuhalten, dass von den Kindern selbst gegen eigene Widerstände emotionales Erleben thematisiert wird, oft auch mit Spuren kindlicher Ohnmachtsgefühle vermischt. Diese Perspektive der Kinder auf sich selbst passt nicht zum oft gebrauchten gegenstandstheoretischen Entwurf des Kindes als kompetenter, sozialer Akteur (vgl. Heinzel 2012a), möglicherweise hätte er den Blick darauf verstellt, denn Agency als „Fähigkeit, auch gegen Widrigkeiten eine eigene Handlungslinie durchzusetzen“ (Bühler-Niederberger 2018: 31), ist hier zwar in der Hinwendung auf die Peers zu erkennen, kaum aber im Hinblick auf die Institution und Organisation Schule und die mit ihr verbundenen Differenzerfahrungen. Möglicherweise kann die Unterscheidung weiterhelfen, die in Studien über das Aufwachsen in Ländern des Globalen Südens angesichts steiler generationaler Hierarchien vorgenommen wird, nämlich zwischen ‚thin agency‘ und ‚thick agency‘ (ebd.). Dann, könnte man sagen, wird eine kollektive Agency der Kinder in den Gruppen sichtbar, die sich selbst als schwach („thin“) gegenüber intergenerational-institutionellen Herausforderungen erleben, aber stark („thick“) in der peerbezogenen Vergemeinschaftung und Verarbeitung dessen (s. auch den folgenden Abschnitt). Von dieser Erkenntnis reduzierter Beteiligungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler ist es nicht weit zu einem Verständnis schulischer „Elternarbeit“ als Praktik des „generationalen Ordnens“, denn mit ihr werden die Altersgruppen der SchülerInnen, Lehrkräfte und Eltern aufeinander verwiesen und programmatisch – in diesem Fall eben ‚nicht-programmatisch‘ – zueinander konstelliert, sodass die Frage gestellt werden muss, welche und wessen Ordnungsinteressen sich damit verbinden. Die Antwort ist vermutlich in weiteren rekonstruktiven Studien sowie in der historisch-politikwissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Schulgeschichte und ihrer Stellung zu Elternhäusern und Familien zu finden (vgl. Tenorth 2018: 164, 173); unabhängig davon kann dank des Begriffs des
5Dies
überstieg allerdings die zeitliche Perspektive des Autors und müsste einer größeren Studie als ‚Forschungsprogramm‘ vorbehalten bleiben.
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
generationalen Ordnens von Bühler-Niederberger (2018) das Potenzial der Zweitcodierung (vgl. Bohnsack 2017a) als eingeschriebene Machtkonstellation schulischer „Elternarbeit“ in den Blick genommen werden (s. u.).
8.3 Kontext Peerforschung Diese Studie konzipiert das Forschungsfeld als das der Peerbeziehungen in der Grundschule und nimmt den peerbezogenen Erfahrungsraum in die Gegenstandskonzeption auf; ihre Ergebnisse beziehen sich zentral auf die diesem Konzept zugrunde liegende Peerforschung. Die hier untersuchten Gruppen lassen sich als „Quasigruppen“ (Oswald 2008: 20 f; Krappmann 2010: 201; s. o. Abschnitt 3.3.3) verstehen, klar umrissene Kreise von Kindern meist gleichen Geschlechts, die sich gegenseitig wählen, ein gemeinsames Gruppenthema haben und eine vertikale Differenzierung zeigen, wenn auch in ganz unterschiedlichem Ausmaß (vgl. ebd.). In allen vier hier rekonstruierten Fällen ist die Regulierung und Differenzierung der Peerbeziehungen zentral, sowohl explizit als auch implizit, dabei stehen der Sozialraum der Peergruppe und die Aushandlung der Zugehörigkeit im Zentrum. Peerbeziehungen werden in der einen Gruppe eher mit Hilfe von Gleichheit als „regulative[m] Prinzip“ (Krappmann 2010: 188) bearbeitet, in streng reguliertem Sprecherwechsel, mit dem Unterschiede nicht zur Kenntnis genommen werden, in der anderen als Bewältigungsstrategie für die Klassenfahrt, die zur Exklusion einer Peer führt, die dieses Prinzip verletzt; in den beiden anderen Gruppen werden Differenzen und Differenzierungen betont, einmal in Sprach- und Körperpielen ausagiert und mit der jugendbezogenen Norm der „Coolness“ konfrontiert, ein anderes Mal in Erzählungen über Ausgrenzung und Bullying einer Mitschülerin verhandelt. Diese Spannung von Gleichheit und Differenz findet sich auch in den Orientierungen der Gruppen, zum einen in der Abgrenzung und Bezogenheit des Sozialraums, zum anderen in der Spannung von Inklusion und Exklusion in der Zugehörigkeit. Sie sind nicht geschlechterspezifisch angeordnet, vielmehr finden sich Indizien für eine Relation zwischen Orientierung und sozialem Milieu, und zwar in der stärkeren Abgrenzung des peerspezifischen Sozialraums in Schuleinzugsbereichen mit höheren sozialen Belastungen. Die sozialräumliche Abgrenzung der Peergruppe steht im Mittelpunkt des impliziten Handlungswissens der befragten Schülerinnen und Schüler, damit bewältigen sie à la longue und gemeinsam die Diskrepanzen organisational
8.3 Kontext Peerforschung
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bedingter Differenzerfahrungen und habitualisierter Praktiken, hier vor allem im Kontext der intergenerationalen Beziehungen schulischer „Elternarbeit“. Dabei geht es zum einen um die Bewältigung der Diskrepanz eines individuellen, kindlichen Habitus familiärer und milieuspezifischer Genese zu den Anforderungen der organisational bestimmten Schülerinnen-Rolle, zum anderen um die Verarbeitung der Spannung zwischen unterschiedlichen schulischen Differenzerfahrungen in geregelten und ungeregelten Bereichen. Wäre diese doppelte Anforderung nicht gegeben, könnten die Kindergruppen im doppelten Diskurs homolog agieren, indem sie dem Forscher gegenüber die kompetente Konformität der SchülerInnen-Rolle inszenieren und zugleich mit den andeen Peers habituell die Bewältigung der organisationalen Differenzerfahrung von Regelerwartung und Regelpraxis. Sie tun aber mehr, indem sie institutionalisierte Normen befragen, anzweifeln, provozieren, überschreiten, isb. die Regeln der Erwachsenen in den Klassen, z. B. in den Darstellungen des Bullying einer Mädchengruppe (vgl. Bohnsack/Hofmann 2016: 283). Ihre Orientierungen müssen daher als „Momentaufnahmen“ des beschriebenen Homogenisierungsprozesses (s. o. Abschnitt 3.3.3) verstanden werden, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Sicht auf die in der Schule allgemein gesetzten Normen verändern, Unterstützung und Hilfe nicht mehr als allgemeine Norm akzeptieren und das erwartete prosoziale Verhalten gegenüber Peers nicht mehr ohne Weiteres zeigen; sie differenzieren sukzessive immer mehr je nach Situation, Gegenüber und eigenen Interessen, vermeintlich bedingt durch die Zunahme dyadischer, aber auch komplexerer Peerbeziehungen sowie wachsender Kompetenzen im Umgang (vgl. Oswald 2008: 321; Reinders 2015: 401; Bennewitz/Breidenstein/ Meier 2016: 417). Dieser Homogenisierungsprozess könnte, so lassen sich die Ergebnisse dieser Studie lesen, durch eine doppelte Differenz von Differenzerfahrungen der Kinder motiviert sein, in der sie die chronische Spannung von Regelerwartungen und Regelpraxis kompetent bewältigen und zeitgleich die Spannung zwischen geregelten und ungeregelten Bereichen erleben. Die Soziologie der Kindergruppen könnte durch diese Studie um die Hypothese ergänzt werden, dass der Homogenisierungsprozess der Grundschulzeit durch spezifische institutionelle Bedingungen und daraus resultierende doppelte Differenzerfahrungen selbst beeinflusst ist und in die beginnende Abgrenzung des peerbezogenen Sozialraums mündet, möglicherweise in einer Bifurkation mit der parallel laufenden Herausbildung von intimeren Freundschaften (s. o. S. 86); für Letzteres sprechen darauf bezogene Thematisierungen in den Gruppendiskussionen.
348
8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
8.4 Kontext Schulforschung Die schulpädagogische Forschung ist das Terrain der theoretischen Kontextualisierung schulischer „Elternarbeit“; es wird in der Begriffsklärung und der Diskussion des Phänomens sowie in der Darstellung der schülerbezogenen Wahrnehmung bereits zu Beginn der Studie sondiert. Dabei wird zwischen „Elternarbeit“ als professionsbezogenem und „Bildungs- und Erziehungspartnerschaft“ als governancebezogenem Ansatz unterschieden (s. o. Abschnitt 2.1). Quantitative, interpretative und rekonstruktive Studien machen die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler sichtbar, in unterschiedlichen Passungsformen, die Einflussnahmen, Beteiligungen, Vernachlässigungen und Ausblendungen in intergenerationalen Relationierungen zeigen (s. o. Abschnitt 2.2). Mit dem methodologischen Konzept einer institutions- und peerbezogenen Habitusbildung wird dann der Anschluss an die rekonstruktive, schulpädagogische Forschung gesucht, mit Hilfe der dokumentarischen Methode werden die SchülerInnenPerspektiven als habitualisierte und sich habitualisierende, kollektive Orientierungen konzipiert. Generationale Momente, die in der Gegenstandskonzeption noch zentral sind, werden in den Rekonstruktionen nur in geringem Umfang entdeckt, Vergleichshorizonte, etwa aus aktuellen kindlichen Peer- oder Spielpraxen, die eine generational bezogene „Erlebnisschichtung“ sichtbar werden lassen, fehlen; nur die von drei Jungen aufgerufene „Coolness“ und die Auseinandersetzung um Spielkonsolen und deren Finanzierung können dazugerechnet werden (s. o. Abschnitt 6.4). Im Folgenden werden die Anschlüsse an die Diskussionen in der wissenschaftlichen Schulpädagogik daher unter drei Gesichtspunkten dargestellt, einmal in Bezug auf den SchülerInnenhabitus, einmal bezogen auf die Institution, zum dritten mit dem Gegenstand schulischer „Elternarbeit“.
8.4.1 Habitusbildung von GrundschülerInnen Der Begriff des Habitus wird in dieser Studie mit Bourdieu als System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen verstanden, als strukturierte Struktur, die gleichzeitig als strukturierende Struktur fungiert (vgl. Bourdien 1987: 98; s. o. Abschnitt 4.1.2). Entsprechend nutzt ihn die Praxeologische Wissenssoziologie synonym zu dem des Orientierungsrahmens im engeren Sinne, der wiederum zu den Orientierungsschemata – das sind normative bzw. institutionelle Anforderungen sowie individuelle und kollektive Fremdidentifizierungen – in
8.4 Kontext Schulforschung
349
Beziehung steht (vgl. Bohnsack 2014b: 36 ff). Unterschiede zwischen Bohnsack und Bourdieu werden in der ‚Verortung‘ des Habitus gefunden, der von Bourdieu als Inkorporierung gefasst wird, während Bohnsack diesen Begriff verwendet, wenn es um körpergebundene Ausdrucksformen geht, im Unterschied zu dem des habitualisierten Wissens dort, wo verbale Praktiken Platz greifen (s. o. Abschnitt 4.2.2). Im Kontext der institutionellen und generationalen Erfahrungsräume von Schulkindern wird der Begriff der Habitusbildung (vgl. Helsper 2014) gegenüber dem der Habituserweiterung oder -transformation in den Vordergrund gestellt, um darauf bezogenen Debatten aus dem Weg zu gehen und für mögliche neue Elemente in den Rekonstruktionen dieser Studie offen zu bleiben. Die Bildung der Habitus’ wird in der Gegenstandskonzeption mit Anschluss an Bohnsacks Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (vgl. Bohnsack 2017a) als eines der beiden relevanten Momente in der Bewältigung der notorischen Diskrepanz von Norm und Habitus konzipiert (s. o. Abschnitt 4.3), in deren praktischer Dialektik die Differenzierung von strukturierter und strukturierender Struktur des Habitus sichtbar wird (s. o. Abschnitt 8.1). Mit der institutionellen Fremdrahmung relationiert und als Voraussetzung der pädagogischen Generationsbeziehungen verstanden (vgl. Kramer 2008: 705; Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 40 f), entsteht für die Forschung eine Dopplung der Interpretationsaufgabe für die Aspekte der Peers und der Organisation. Es werden denn auch zwei Dimensionen der schulbezogenen Habitusbildung sinngenetisch typisiert, zum einen die Auseinandersetzung der Kindergruppen mit schulischen Regeln, Rollen und Normen im Horizont von Opposition und Kooperation, zum anderen die ‚Herstellung‘ des sozialen Raums der Peerbeziehungen zwischen den Polen der Abgrenzung und der Bezogenheit; als dritte Dimension wird die der Zugehörigkeit zu den sich bildenden Peergruppen mit ihrem Horizont von Inklusion und Exklusion sichtbar. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass diese Forschung ohne eine entwickelte Theorie der ontogenetischen Genese von Habitusstrukturen (vgl. Helsper 2014: 125) im Kontext eines Desiderats steht. Daher wird die konzipierte Habitusbildung mit Hilfe der bisherigen kindheitsbezogene Forschungen im Kontext der dokumentarischen Methode gerahmt (vgl. Nentwig-Gesemann 2010; Wagner-Willi 2010) und dann in drei handlungsbezogenen Begriffen differenziert: Aktionismen, mentale und materiale Bilder (s. o. S. 123). Diese Differenzierung wird nicht als Entwicklungs- oder Verlaufsschema verstanden, sondern als analytische Begriffsdifferenzierung. In den Fallrekonstruktionen werden dann gemeinsame Praktiken der Kindergruppen in den Gruppendiskussionen zunächst als Fokussierungsmetaphern bzw. Fokussierungsakte identifiziert (s. o. Abschnitt 5.1), die anhand
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
der Kriterien der Kollektivität, der Sequenzialität und der fallimmanenten Homologie als Habitualisierungen von den ebenfalls auftretenden Aktionsmen abgegrenzt wurden (vgl. Wagner-Willi 2013); nur in einem Fall wird mit Hilfe einer Bildinterpretation eine kollektive, inkorporierte Praktik rekonstruiert (s. o. Abschnitt 6.4.4). Weitere Praktiken zeigen sich als analoges Diskursverhalten gegenüber dem Forscher, sie werden fallübergreifend und im Vergleich zum institutionalisierten Rollenverhalten als strukturhomolog zum unterrichtlichen SchülerInnenhabitus interpretiert; sie zeigen sich auch als Narrationen im Peerdiskurs, die ein Krisenerleben in der schulischen „Elternarbeit“ und darauf bezogene Bewältigungsversuche dokumentieren. Die beiden Diskursebenen finden sich teilweise parallel, teilweise aufeinander folgend in den Gruppendiskussionen. Die Ergebnisse sind im Hinblick auf die Differenzierung der Habitusbildung in Aktionismen, mentale und materiale Bilder als ein Versuch der Systematisierung und Theoretisierung zu verstehen, der in seiner Komplexität noch nicht hinreichend entwickelt ist und dringend weiterer Überprüfung bedarf; dabei wäre der Prozess der Habitusveränderung(en) stärker in den Blick zu nehmen, um die rekonstruierten Aktionismen möglicherweise als habitualisierte Praktiken aus anderen Erfahrungsräumen zu identifizieren – etwa die Ellenbogen-Geste (s. o. Abschnitt 6.4.2) – und materiale Bilder möglicherweise als kollektive Praktiken aus früheren Habitusformationen – so die Geste des Auf-dem Bauch-liegens (s. o. Abschnitt 6.4.4; s. o. Abschnitt 8.1). Es wurden zwei Typen der kindlichen Krisenbewältigung gefunden, zum einen der Typus oppositioneller Abgrenzung des Peer-Raums zu Regeln und Rollen sowie Erwachsenen, zum anderen der Typus kooperativer Bezogenheit des Peer-Raums auf Regeln und Rollen wie Erwachsene (s. o. Abschnitt 7.3). Diese Bewältigung der Krise geschieht von Seiten der Kindergruppen vermutlich in sozialgenetisch differenzierten Formen (s. o. Abschnitt 7.3.1). Eine ähnlich gelagerte Differenzierung findet sich bei Hummrich und Helsper (2011), die in ihren theoretischen Bestimmungen zum Verhältnis von Peers und Schule zunächst von „Schulnähe“ bzw. „Schuldistanz“ (ebd.: 46) sprechen und dann „die kulturelle Passung von Peerbezügen und Schule“ (ebd.: 48) systematisieren. Für die hier rekonstruierte Habitusbildung hat der Aspekt der Krise Bedeutung, und zwar in der doppelten Krisenbewältigung, die – in dieser Studie sichtbar – die Schülerinnen und Schüler angesichts der differenten Differenzerfahrung nicht geregelter Interaktionen zwischen Lehrkräften und Eltern einerseits, mit den Peers andererseits leisten. Der Begriff der Krise wird hier als zentraler Aspekt der Habitusbildung verstanden (s. o. Abschnitt 4.2.2), der sich mit dem Zerbrechen, der Relativierung und der Zerrissenheit habitueller Orientierungen verbindet, auch
8.4 Kontext Schulforschung
351
mit einem „Nebeneinander inkonsistenter Orientierungen und Praktiken“ (ebd.). Für die Grundschule betonen Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009), dass schon Zehnjährige „konturierte schul- und bildungsbezogene Orientierungen aufweisen, die sich zu einem frühen Bildungshabitus verdichten lassen“ (ebd.: 209); es handele sich um „habituelle Frühformen“ (ebd.: 131, 192, 202), die konturiert, aber auch formbar seien; Druck auf Kinder von Seiten der Familien oder der Schulen könne „Habitusinkonsistenz“ (ebd.: 200) bzw. „Gespaltenheit“ (ebd.) des Habitus entstehen lassen. Die Bewältigung von Krisen selbst ist ein grundlegender habitueller Aspekt, der ganz unterschiedlich konturiert und, wie die Diskussion zum Verhältnis von Habitus und Bildung zeigt (s. o. Abschnitt 4.2.2), in ganz unterschiedlichen Integrationsstadien habitualisiert sein kann. Für Schulkinder kann jedenfalls von einer „Dominanz von Krise und Transformation bis zur Adoleszenz“ (Helsper 2014: 135) gesprochen werden: „Während für die erwachsene Lebenspraxis die Krise eher den Ausnahmefall bildet, wobei sich in beschleunigt verändernden Gesellschaften der Wandlungsdruck auch veralltäglichen kann, verhält es sich mit den Sozialisationsprozessen bis zum Abschluss der Jugend umgekehrt: Ontogenetisch ist dieser Zeitraum als eine Aufeinanderfolge der Entstehung des psychisch Neuen und damit als Abfolge struktureller Krisen zu verstehen […]“ (ebd.).
Aus dieser Sicht ist das Krisenerleben der differenten Differenzerfahrung für die SchülerInnen integrales Moment der Habitusbildung.
8.4.2 Institution und Organisation Schule Habitusbildung findet nicht im luftleeren Raum statt, daher stellt sich die Frage, ob und inwieweit der institutionelle Kontext der Schule (mit)verantwortlich dafür ist, wie die Krisen der Habitusbildung erlebt werden. Folgt man Oevermanns Differenzierung des Krisenbegriffs, geht es hier um eine traumatische Krise, „in der wir von einem unerwarteten Ereignis oder Zustand überrascht werden, sei es schmerzhaft oder ekstatisch und glückhaft“ (Oevermann 2016: 63), und nicht um eine „Krise durch Muße“: „Muße liegt der Wahrnehmung von Dingen um ihrer selbst willen zugrunde“ (Oevermann 2008: 65). Davon kann, so Oevermann (2004: 169), keine Rede sein, da die gesetzliche Schulpflicht SchülerInnen grundsätzlich „ihre Neugierde als Grund für eine lernbegierige Anwesenheit“ (ebd.) abspreche. In dieser Logik ist der Verweis auf die institutionelle Rahmung – eben Schulpflicht – implizit. Aber Oevermann verortet die Peergruppenbildung
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
„ontogenetisch“ in der Phase der Latenz6, die von der ödipalen zur adoleszenten Krise überleitet und mit ihrer „peer-group-Vergemeinschaftung“ (ebd.: 126) auf diese Krisen antwortet. „Am Ausgang dieser Krise tritt das Kind in die Welt außerhalb der Familie systematisch ein, in der es zum ersten Mal Rollen zu übernehmen hat und deren Ansprüche und innere Widersprüche es in sich austragen muß, ohne daß sein Identitätsentwurf darunter leiden muß. Dies ist der Eintritt sowohl in die ‚Peer Group‘ als auch die Institutionen von Erziehung und Ausbildung“ (Oevermann 2014: 60)7.
Damit setzt er Peergruppenbildung und institutionalisierte Erziehung parallel, ohne sie näher aufeinander zu beziehen, und sieht die Rollenübernahme als Herausforderung in beiden Bereichen. Eine institutionsbezogene Begriffsklärung ist daraus nicht zu entnehmen. Daher wird hier im zweiten Schritt auf den Habitusbegriff selbst rekurriert, den Bourdieu in Auseinandersetzung mit der Rolle der (Kunst-)Schulen in der Kunsttheorie Panofskys8 entwickelt und dann auf die allgemeine Schule des 19. und 20. Jahrhunderts bezogen hat: „[…] das Aufgreifen des Zusammenhangs von kollektivem Habitus und der Institution Schule [war] von Beginn an nicht nur auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, sondern vor allem auch auf die Schule als Instrument symbolischer Macht ausgerichtet. Die aus Panofskys Texten entwickelte Idee, dass die Institution der Schule ein unbewusstes Wissen nicht nur über die Denkstrukturen
6Nach
Oevermann ist die Latenzphase diejenige, „die die kulturierte Ontogenese des Menschen für die Bewältigung ihrer enorm anspruchsvollen Bildungsprobleme auf der Basis der Ablösung vom Ödipuskomplex benötigt“ (Oevermann 2001: 26), als soziale Konstitution der psychosexuellen Entwicklung, die der biologisch-physiologischen vorausgeht (s. o. Abschnitt 4.2.2). 7Oevermann spricht hier richtig nicht von Schule, sondern von Intitutionen der Erziehung, und berücksichtigt damit auch die Frühpädagogik in Kindergärten und -tagesstätten. 8Erwin Panofsky (1892–1968) gilt als einer der bedeutendsten Kunsttheoretiker und Begründer der Ikonologie: „Was Bourdieu von Panofskys Betrachtung übernimmt, ist der Gedanke, dass den kulturellen Produktionen einer bestimmten Epoche ein gemeinsames generierendes Prinzip zugrunde liegt. Die grundlegende Haltung, die dem scholastischen Denken und dem gotischen Kathedralenbau gemeinsam ist, wurde in Klosterschulen gelegt: In der schulischen Institution wurde eine strukturierende Struktur ausgebildet, die von den Absolventen entsprechend den jeweiligen Feldbedingungen auf die Philosophie und die Baukunst angewendet wurde. Auf diese Weise erzeugte sie eine Systematik und innere Kohärenz verschiedener Felder desselben kulturellen Systems […]“ (Gebauer 2017: 27 f).
8.4 Kontext Schulforschung
353
von Epochen, sondern auch über grundlegende Strukturen der Reproduktion sozialer Klassen liefert, wird in den frühen kunstsoziologischen Texten Bourdieus nur angedeutet, jedoch im Rahmen seiner späteren Studien zur Bildungssoziologie systematisch ausgearbeitet“ (Schumacher 2013: 119)
Demnach ist die Institution Schule eine grundlegende Bedingung der Genese des Habitus wie des Habitusbegriffs, und man kann schlussfolgern, das Krisen im Kontext schulischer Habitusbildung nicht nur auf der Ebene des Sozialisationsprozesses zu diskutieren sind – als Aspekt einer Lebenspraxis, die „Zentrum von Krisenfähigkeit und der Krisenbewältigung“ (Oevermann 2016: 63) ist –, sondern auch auf der Ebene der Institution. Diese Studie hat gezeigt, dass das Krisenerleben der Kinder in der schulischen „Elternarbeit“ nicht allein durch die „Differenz zwischen Regelgemäßheit (Regelerwartung) und Regelmäßigkeit (Regelpraxis)“ (Mensching 2017: 62 f) bestimmt ist, auch nicht durch die generationale Tatsache der Kooperation von Eltern und Lehrkräften – eine Tatsache der Lebenspraxis –, sondern durch differente Differenzerfahrungen, durch unzureichende Regelung und Beteiligung in Randbereichen der Institution, bestimmt wird9. Damit könnte der Krisenbegriff doppelt verstanden werden, sozialisatorisch und institutionell bezogen, und neue Aspekte in der Habitusbildung von SchülerInnen sichtbar machen, eine „auferlegte Kriseninduktion“ (Kramer/ Helsper/Thiersch/Ziems 2013: 275), wie sie in Studien zu Habitusveränderungen von SchülerInnen des Schulsystems rekontruiert wurden, einmal im Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe, ein weiteres Mal im „nachgezogenen innerschulischen Übergang“ (ebd.: 276) der siebten Klassen. Ein solcher doppelter Krisenbegriff würde zu der Frage führen, welche Struktur und welches Ausmaß diese mit der Habitusbildung verbundenen ‚institutionell induzierten‘ Krisen haben. Das spezifische Format dieser Krisen wird als „zugespitzte Spannung“ (ebd.) beschrieben, könnte möglicherweise auch als einschränkend, behindernd oder ungleichheitsrelevant tituliert werden. Es gälte dann zwar nach wie vor, dass Krisen konstitutiv beides beinhalten, „Relativierung des Alten“ und „Entstehung des Neuen“ (ebd.: 275), aber man könnte – quasi in Anwendung der Oevermannschen Kritik zur Schulpflicht – fragen, welche Qualität das „Neue“
9Dabei
handelt es sich um einen Mangel, der, verfolgt man die Diskussion um schulische „Elternarbeit“, auch dadurch belegt ist, dass einzelne Schulorganisationen im Kontext bestimmter Schulformen, aber auch bestimmte Initiativen – z. B. die Initiative namhafter ErziehungswissenschaftlerInnen und PsychologInnen mit der Vodafone-Siftung (2013b) – immer wieder versuchen (müssen), ihn auszugleichen.
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
denn hat, wie die eröffneten Erfahrungsräume durch die institutionelle Überformung geprägt sind und wie sie auf die Habitusbildung wirken. Diesen Fragen sind wichtig, nicht nur mit Blick auf die Kinder angesichts unterschiedlicher Qualitäten von „Elternarbeit“ in Kindertagesstätten und Schulen (vgl. Diehm 2008; Textor 2011, 2015) und einem möglichen Veränderungsdruck auf bereits entwickelte habituelle Frühformen; diese Fragen sind auch wichtig, wenn man das Indiz für eine milieuspezifische Differenzierung kindlicher Verarbeitungsformen sieht (s. o. Abschnitt 7.3.1); sie sind schließlich auch wichtig für Lehrkräfte, die aus der Perspektive des idealtypischen Arbeitsbündnisses nicht nur „KrisenauslöserInnen“, sondern auch „KrisenlöserInnen“ sein sollen (vgl. Helsper 2012b: 28). Es geht letztendlich, sieht man Schule als „Anstalt der stellvertretenden Krisenbewältigung“ (vgl. Oevermann 2004: 176), um einen ‚Krisenbewältigungsbedarf‘ der Institution.
8.4.3 Schulische „Elternarbeit“ aus Kindersicht Schulische „Elternarbeit“ wird in dieser Studie zunächst in ihren wichtigsten Varianten und Begriffsentwicklungen angesprochen (s. o. Abschnitt 2.1), dabei wird der Begriff der „Elternarbeit“ als professionsbezogene und der der „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ als governancebezogene Konstruktion erster Ordnung bestimmt – diese Differenzierung kann als Ausgangspunkt für eine Gegenstandstheorie gesehen werden, die bis heute fehlt. Bemühungen darum hatte es bereits in den 1980er Jahren gegeben, Melzer (1985, 1987, 1996)10 hatte eine Theorie der Elternpartizipation entworfen, in der, ausgehend von einem Mehrebenen-Modell der Lebenswelten, nach einem neu gestalteten Sozialisationsprozess durch Eltern-Partizipation und Schulreform im Rahmen gesellschaftlicher Demokratisierung gefragt wurde, dies unter den Bedingungen der Entfremdung sowie der grundlegenden Funktionalität des Schulsystems, Qualifikation, Selektion, Allokation, Legitimation. Melzer betonte die hierarchische Struktur der Schule und, damit aufs Engste verknüpft, „die besondere Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit für die Elternhaus-Schule-Kooperation“ (1987: 121; 1997: 3). Seine auf Basis des Lebenswelt-Ansatzes von Schütz und Luckmann (s. o. S. 91) entwickelten Aussagen sind heute noch von Bedeutung, da das von ihm entwickelte Strukturmodell Interessenkonflikte betont und deren Deformationen
10Zentral
dafür ist seine Habilitation 1987 (Melzer 1987).
8.4 Kontext Schulforschung
355
sichtbar macht sowie die Möglichkeit negativer Koalitionen gegenüber SchülerInnen zu Sprache bringt. Demgegenüber wirft die Betonung der „Lehrerpersönlichkeit“ die Frage auf, welche Aspekte des Gegenstands schulischer „Elternarbeit“ zu solch einer Hervorhebung persönlicher Qualitäten führen. Das wird im Folgenden thematisiert. In einem zuvor erschienenen Sammelband „Eltern – Schüler – Lehrer“ (Melzer 1985), der den entwickelten Stand der Debatte mit einigen namhaften AutorInnen zeigt, hatte sich Tyrell (1985) aus früher systemtheoretischer Sicht „Gesichtspunkte zur institutionellen Trennung von Familie und Schule“ diskutiert. Er öffnete den Blick auf das Dilemma, dass die funktional differenzierten Bereiche von Schule und Familie Umwelt füreinander seien und eine „Interdependenzunterbrechung“ (ebd.: 91) zwischen ihnen vorliege, dass sie sich aber trotzdem zueinander verhalten müssten, „[w]eil Schulkinder eben Kinder sind“ (ebd.: 82), sodass Schulen deren Familienhintergrund nicht ähnlich rücksichtslos leugnen könnten wie Betriebe das gegenüber Arbeitskräften tun (ebd.). Mit Schelsky (1965) argumentierte Tyrell, dass es „genuin familiale Disposition“ (ebd.: 94) sei, den sozialen Status für die eigenen Kinder sichern oder verbessern zu wollen: „Und das eben macht die Elternhäuser in Fragen des (künftige Sozialchancen vorentscheidenden) Schulerfolgs ihrer Kinder so außerordentlich sensibel. Das Schmerzhafte dabei ist, daß gerade hier das familiale Solidaritätspotential an den schulischen Systemgrenzen sich bricht“ (ebd.: 94).
Die Betonung von „Sensibilität“, „Schmerz“ und „Solidarität“ durch einen systemischen Theoretiker lässt aufhorchen (und wird weiter unten wieder aufgegriffen). Tyrell konzidiert, dass die „Schichtfrage“, also die soziale Herkunft der Schulkinder, im Verhältnis von Schule und Familie durchaus eine Rolle spiele, hält sie aber für sekundär (ebd.: 83). Die Fragen, die er nicht beantwortet, ist erstens die nach dem primären Faktor und zweitens die nach der Wirkung dieses sekundären Faktors angesichts abwesender primärer Faktoren. Daher muss an dieser Stelle die Vermutung formuliert werden, dass es die Abwesenheit institutionalisierter Regeln und Beteiligungen zwischen Schule und Familie sein könnte, wie sie in dieser Studie thematisiert wird, die zur Betonung diffuser Beziehungsaspekte führt und dazu, die „besondere Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit“ (Melzer 1987: 121; s. o.) zu betonen. Nach Tyrell konkretisiert Luhmann (2012) 2002 die systemtheoretischen Bestimmungen, dass nämlich „[…] die getrennt operierenden Systeme, hier die psychischen und die sozialen Systeme, eine Innenansicht ihrer w echselseitigen
356
8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
Abhängigkeiten entwickeln müssen, gleichsam eine vereinfachte Version dessen, was in ihrer Umwelt hochkomplex und für sie intransparent abläuft“ (Luhmann 2012: 285). In der Folge hätte ein systemtheoretischer Zugang zum Thema diese „Innenansichten“ methodisch kontrolliert thematisieren können, Neuenschwander, Balmer, Gasser-Dutoit u. a. (2005) allerdings rezipierten ihn nur unzureichend, sodass ihre Studie den Einfluss der Eltern auf die Schulen bereits in der Gegenstandskonzeption in spezifischer Weise verzerrt (s. o. Abschnitt 2.2.1). Gleichzeitig adaptierte die Diskussion um schulische „Elternarbeit“ die Theorie des „Parental Involvement“ (vgl. Epstein/Sanders/Simon/ Sali-nas/Jansorn/Van Voorhis 2009; Epstein 2011), die nicht im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit diskutiert wird (s. o. Abschnitt 2.1.1; vgl. Krumm 2009, 2010; Sacher 2008a, 2014; Wild/Lorenz 2010) und trotzdem in den letzten 20 Jahren außerordentliche Dominanz als Platzhalter einer Gegenstandstheorie gewann (vgl. Stiller 2016: 144). Letztendlich ist es die empirisch von Sacher (2008b) nachgewiesene, mit den Schuljahren zunehmende Ablehnung von SchülerInnen gegenüber schulischer „Elternarbeit“, die die Thematik offen hielt und auf Desiderata verweist, z. B. auf die Frage, welche Erfahrungen in den individuellen Schulkarrieren dies motivieren und welche Einflüsse Peers auf die Wahrnehmung ihrer MitschülerInnen ausüben. Diese Studie definiert schulische „Elternarbeit“ mit Hilfe der praxeologischen Wissenssoziologie als einen spezifischen und eigenständigen Erfahrungsraum der Institution (vgl. Bohnsack 2017a: 100), wie er durch die Diskurse mit anderen Organisationen konstituiert wird, etwa beim Elternsprechtag oder bei der Hilfeplanung im Jugendamt; sie werden als „interorganisationale Erfahrungsräume“ (Bohnsack 2017a: 134) bezeichnet. Die Struktur dieses Raums wird von Seiten der Institution durch die Dopplung der sozialen Erwartungserwartungen und ihre Realisierung in spezifischen Organisationsaspekten bestimmt (s. o. Abschnitt 4.2.1); im Vergleich dazu bleibt die Bestimmung der Familie als Organisation fragwürdig, die Ebenen der Milieus und Habitusbildungen für unterschiedliche Akteursgruppen gleichfalls. Bohnsacks Diktum, interorganisationale Erfahrungsräume bestünden vor allem auf der Basis von Dokumenten (Bohnsack 2017a: 100), muss erweitert werden, denn diese Studie öffnet den Blick in diesen Erfahrungsraum und auf die Erfahrungen von Kindern mit den direkten Interaktionen der Erwachsenen, selbst wenn deren Wirkung wieder in Dokumente münden mag (Zeugnisse, Gutachten, Förderpläne u. a.). Schulische „Elternarbeit“ ist dann das institutionalisierte, organisations- und generationsbezogen differenzierte Konstrukt erster Ordnung in diesem institutionellen Erfahrungsraum, der natürlich in der Spannung zwischen normativen Rahmungen und habitualisierten Praxen steht; „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ ist
8.4 Kontext Schulforschung
357
die governancebezogene Operationalisierung für ein Mehrebenensystem differenzierter Akteurskonstellationen. Der angesprochene interorganisationale Erfahrungsraum liegt im Grenzbereich von Schule und Milieus: „Lehrerinnen und Lehrer als Bedienstete des Staates und Eltern als Privatpersonen begegnen sich an der Grenze von Staat und Gesellschaft“ (Stiller 2009: 463). Im Theorem des Institution-Milieu-Komplexes wären sie so zu verorten wie im idealtypischen, pädagogische Arbeitsbündnis strukturtheoretischer Provenienz, und zwar als Überschneidungsbereiche von Schulkultur und Herkunftsmilieus (s. o. Abschnitt 2.2.3), die im Hintergrund der stellvertretenden Krisenbewältigung schulischer Bildung wirksam sind, einem dreifachen Bündnis mit einzelnen Schülerinnen, der Klassengruppe aller SchülerInnen und deren Eltern (vgl. Oevermann 2001; Helsper/Hummrich 2008). Der interorganisationale Erfahrungsraum zwischen Schule und Familie ist nicht konjunktiv bestimmt, also nicht von einem gemeinsamen Habitus geprägt, da er aufgrund seiner räumlichen und zeitlichen Spezifik rudimentär und prekär bleibt; ein konjunktiver Erfahrungsraum zwischen Lehrkräften und Eltern entsteht erst durch eine schulkulturell eingebettete Konstitution in der Organisation über einen längeren Zeitraum hinweg, er bringt dann habitualisierte Praxen hervor, wie etwa in bestimmten Schulformen, v. a. an Haupt-, Gesamt- und Förderschulen. Unabhängig davon existiert sowohl auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer als auch der Eltern ein „reflexiver Erfahrungsraum“ (Bohnsack 2017a: 118), von Lehrkräften genannt „Elternarbeit“, von Eltern „Schule“, in dem das gemeinsame, habitualisierte Sprechen innerhalb der strukturhomologen Gruppen über die Kooperation stattfindet, entstanden aus der Überlagerung des interorganisationalen Erfahrungsraums mit anderen, professions-, familien- oder milieubezogenen Räumen. In diesen reflexiven Erfahrungsräumen werden die Krisen der schulischen „Elternarbeit“ bewältigt, die, wie hier in der rekonstruierten Kindersicht, immer wieder sichtbar werden11. Die Kindersicht auf den interorganisationalen Erfahrungsraum schulischer „Elternarbeit“ wird in dieser Studie anhand von vier Peergruppen aus drei unterschiedlichen Schulen rekonstruiert. Deren Perspektiven sind in einen reflexiven Erfahrungsraum eingebettet, der durch die Herausbildung des SchülerInnenhabitus bestimmt ist. Merkmale sind nach den vorliegenden Forschungsergebnissen ein spezifisches, emotional gefärbtes Krisenerleben der
11Man
denke nur an die Vielzahl von Klagen in der Ratgeber- und Erfahrungsliteratur, in YouTube-Videos und sogar in Kinofilmen, in denen übrigens meistens das thematisiert wird, was im Alltag tabuisiert ist, die sozialen Unterschiede zwischen Familien und zwischen Schülerinnen und Lehrkräften.
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
Kinder, bezogen auf differente Differenzerfahrungen im Kontext von Klassenfahrten und Elternsprechtagen, und unterschiedliche Formen der Krisenbewältigung, die in habitusbildenden Orientierungen erfolgt, zum einen gegenüber den Differenzerfahrungen im Umgang mit institutionellen Regeln und Normen, zum anderen gegenüber einem entstehenden sozialen Raum der Peers. Ein Blick auf die Bedeutung von Krisen für die Habitusbildung von Kindern und ein doppelter Krisenbegriff in sozialisatorischer und institutioneller Hinsicht kann die Perspektive auf schulische „Elternarbeit“ erweitern, die dann nicht nur Ablösungsprozesse und Peerbezüge im Sinne einer ‚Entwicklungskrise‘ in den Blick zu nehmen hat, sondern auch Regulierungen und Normierungen der Institution, die anders als im Unterricht im Bereich schulischer „Elternarbeit“ Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit (Veith 2012: 314) vermissen lässt. Dies konkretisiert sich in der impliziten Reflexion der Differenz von geregelten und nicht geregelten Bereichen, die einerseits zur ‚normalen‘ Differenzerfahrung von Regelerwartung und Regelpraxis führt, andererseits zur differenten Differenzerfahrung fehlender Regelungen und Beteiligungen in der schulischen „Elternarbeit“. Damit erschließt sich der Begriff der „Elternarbeit“ als Exklusion des generational Anderen (s. o. S. 261). Die Folgen könnte man auch als erzwungene Regression12 deuten. Dass das Fehlen spezifischer Regulierungen für diesen Grenzbereich der Institution relevant ist, belegt die erziehungswissenschaftliche Debatte um die Kooperation von Schule und Familie. Ausgehend von der angesprochenen, eigentümlichen Betonung der „Lehrerpersönlichkeit“ (Melzer 1987; s. o.), die die Erwartungen in den Bereich diffuser Beziehungsanteile verlagert, kann anhand von zwei ausgewählten Handbuchartikeln verdeutlicht werden, wie entsprechende Ideen für spezifischere Regulierungen immer wieder formuliert oder ‚angemessene’ Umgangsformen beschworen werden, ohne dass die Grundstruktur diffuser Interaktion und möglicher Machtpraxen thematisiert würde. So formuliert Hoffmeister 2012 (918 ff) in seinen „Thesen zum notwendigen Rearrangement des Verhältnisses von Schule und Familie“ angesichts veränderter Sozialisationspraxen in den Familien die Forderung nach „neue[n] Kooperationspraxen mit den Familien“:
12Regression
wäre zu denken als „chronische[..] bzw. vorübergehende[…] Abschwächung des Einflusses höherer Funktionen wie Denken, Planen, Zielorientierung und Selbstwahrnehmung auf das Erleben und Verhalten“ (Kuhl 2010: 228).
8.4 Kontext Schulforschung
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„Dies erzwingt im Weiteren geradezu eine Revision gängiger sozialisationstheoretischer Perspektiven in Richtung auf einen stärker erziehungspartnerschaftlich geprägten Zusammenhang zwischen Elternhaus und Schule […]. Diesem wird Schule bislang vor allem im Rahmen von Elternabenden, Elternpflegschaften und Elterneinzelgesprächen (Elterntage) gerecht. Elternarbeit unter den veränderten familiären Bedingungen bedeutet aber mehr als dies: sie setzt Sensibilitat für die je spezifischen Umstände des Falles ebenso voraus wie Eltern-Schule-Kooperationen auf sehr unterschiedlichen Feldern – und zwar unter der Bedingung von zumindest phasenweiser Intransparenz und Kontingenz“ (ebd.: 919).
„Partnerschaft“ und „Sensibilität“, möglicherweise unter den Bedingungen von „Kontingenz“ und „Intransparenz“, sind die Konsequenzen Hoffmeisters aus der impliziten Kritik an strukturfunktionalistischen Vorstellungen von Sozialisation. Damit schließt er mehr als 25 Jahre später bis in die Wortwahl an Tyrell (1985) und dessen Betonung von „Sensibilität“, „Schmerz“ und „Solidarität“ an, aber Hinweise auf das Fehlen funktionaler Strukturen fehlen. Dabei nennt Hoffmeister selbst die richtigen Beispiele spezifisch regulierter Aspekte der „Elternarbeit“ wie Elternabend und Elternpflegschaft, die integraler Bestandteil institutioneller Praxis sind, abgesehen vielleicht von Berührungsängsten, die unerfahrene und nicht hinreichend qualifizierte Lehrkräfte entwickeln. Als weiteres Beispiel sei Böhnisch (2018) im Handbuch Bildungsforschung aufgerufen, der betont, es sei wichtig, „[…] dass die Kooperation von Eltern und Lehrkräften nicht auf gegenseitigen Erwartungen und Enttäuschungen in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler basiert, sondern als Verständigung über unterschiedliche Rollen, Deutungen und Unterstützungsmöglichkeiten partizipativ organisiert ist. Dass dies immer wieder – gerade auch bei den neuen Ganztagsschulen – ein Problem ist, zeigen neuere Projektergebnisse zum Verhältnis von Eltern und Grundschule […]“ (ebd.: 412 f)
Auch Böhnisch betont emotionale Qualitäten wie „Erwartungen“ und „Enttäuschungen“ auf beiden Seiten und erhofft sich eine „Verständigung“ über Rollen u. a. Wie aber soll diese erfolgen und welche Strukturen können sie ermöglichen? Ansonsten besteht weiterhin die Gefahr, dass rollenspezifisches Handeln durch diffuse Interaktion überlagert wird und einseitige Rollenzuschreibungen durch spezifische Machtstrukturen festzuschreiben13. Dabei wäre auch an Tyrells
13Zu
diskutieren ist in diesem Zusammenhang auch, dass die immer wieder vorgenommene Gegenüberstellung von Schule und Familie für eine Gegenstandstheorie schulischer
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8 Forschungsergebnisse: Kontextualisierung
(1985: 83) schon erwähnte „Schichtfrage“ zu erinnern, die nicht mehr nur von sekundärer Bedeutung ist, da sie Interaktion und Verständigung beeinflusst. In einem letzten Schritt soll daher aus Sicht der praxeologischen Wissenssoziologie noch einmal ein Blick darauf geworfen werden, worum es sich bei diesem Phänomen der institutionellen Nicht-Regulierung handelt. Dazu ist erstens relevant, die Interaktion in der Organisation Schule als fremdgerahmt zu verstehen: „Im Unterschied zur außerorganisationalen Interaktion wird diese Art der Fremdrahmung nicht in dieser selbst generiert, sondern fungiert als organisationale Strukturbedingung für den jeweiligen Interaktionsmodus“ (Bohnsack 2017a: 135).
Das heißt, der Sachverhalt der Nicht-Regulierung wird nicht durch die Interaktion zwischen Lehrkräften und Eltern hervorgebracht, sondern durch die Institution gesetzt und von den Akteuren agiert. Zweitens wird als „Komponente“ der Fremdrahmung das Handeln der Akteure von der Schule als Entscheidung attribuiert, denn Organisationen entscheiden in einer Art und Weise, dass sie „Verfahrensbetroffenen Entscheidungen attribuieren und darüber entscheiden, welcher Art diese sind“ (ebd.: 136). Dieses Handeln der Organisation wird von Bohnsack als machtvoll verstanden, aber erst, wenn zwei weitere Bedingungen hinzutreten, zum einen eine Zweit-Codierung, zum anderen eine Invisibilisierung der Macht, „[…] indem die Fremdrahmung nämlich auf die Konstruktion der (Gesamt-) Person, der (totalen) Identität der Entscheidungsbetroffenen übertragen wird. Die Fremdrahmung ist dann mit Moralisierungen, Pathologisierungen oder Zuschreibungen totaler (In-) Kompetenz verbunden, durch welche die Gesamtperson gebunden wird […] Die Konstruktion totaler Identitäten umfasst sowohl die Konstruktion organisationsbezogener wie auch (gesamt-)gesellschaftlicher Identitäten, also die definitorische Fixierung des Individuums auf nur eine einzige aus der Vielfalt seiner anderen – auch möglichen – sozialen Identifizierungen. Zum anderen müssen Strukturen der Invisibilisierung gegeben sein, zu denen insbesondere die Eliminierung von Metakommunikation gehört“ (Bohnsack 2017a: 136).
„Elternarbeit“ nicht hinreicht und dringend governanceanalytische Differenzierungen hinsichtlich der Systemebenen und Akteurskonstellationen vorgenommen werden müssen, um zu einer angemesseneren Erfassung der Konstruktionen erster Ordnung zu gelangen (s. o. Abschnitt 2.1). Die empirisch nachgewiesene „geteilte Zuständigkeit“ (Wild/Lorenz 2010: 157) für Bildung und Erziehung jedenfalls, die von Eltern und Lehrkräften für die Zeit der Grundschule gesehen wird, scheint in der Institution selbst keinen Widerhall zu finden.
8.4 Kontext Schulforschung
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Dieses machtvolle Agieren durch die Zuschreibung totaler Identitäten und die Invisibilisierung der Machtstrukturen scheint – und mit dieser polemischen These schließt diese Studie – im Kontext schulischer „Elternarbeit“ stattzufinden, wenn beispielsweise eine familienbezogene Identität rund um den Begriff der sogenannten „Bildungsferne“ (s. o. Abschnitte, 2.2.3 und 4.2.1) konstruiert wird, in dem eine „defizitäre Elternschaft“ (s. o. Abschnitt 2.1.1) mit einer „Armutsbedrohung“ (s. o. Abschnitt 5.4) der Kinder durch die Familie verbunden und entsprechende quantitativ-empirische Daten hinzugestellt werden, etwa ein weit überdurchschnittlicher Medienkonsum, ein extensiver Gebrauch von OnlineSpielen und das Vorkommen innerfamiliärer Gewalt, ergänzt schließlich um ‚Störfaktoren‘ schulischer Ordnung wie die aktuell diskutierte Mode der Jogginghosen und die Frequenz von Unterrichtsstörungen. Diese Prozesse könnten auch mit Hilfe des Begriffs des „generationalen Ordnens“ von Bühler-Niederberger (2018) als eingeschriebene Machtdispositionen schulischer „Elternarbeit“ in den Blick genommen und diskutiert werden. Unsichtbar werden dazugehörige Konstruktionsmechanismen u. a. durch die verwissenschaftlichte „Engführung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg“ (Wiezorek/Pardo-Puhlmann 2013: 197), indem aus Korrelationen Kausalitäten werden: „Die Kategorien dienen dabei als Hinweise auf das soziale Herkunftsmilieu, mit dem z. B. die fehlende Bildungsbeteiligung oder der ausbleibende schulische Erfolg erklärt wird: Es heißt dann, die Jugendlichen schneiden schlechter in der Schule ab, weil sie Milieus angehören, die sich durch Bildungsferne oder Armut auszeichnen.“ (ebd.)
Dem ist immer wieder entgegenzuhalten, dass Bildungsteilhabe unabhängig von sozialen Herkunftsbedingungen zu ermöglichen ist, dass die defizitäre Kennzeichnung der Herkunftsmilieus eine doppelte Missachtung von Eltern (ebd.) darstellt, sowohl gegenüber ihrem Bemühen um Erziehungsverantwortung als auch gegenüber ihren Vorstellungen der Lebensgestaltung, die natürlich nicht denen des Bildungsbürgertums entsprechen, dass drittens Rückwirkungen auf die Kinder und Jugendlichen damit verbunden sind, denen es schwer gemacht wird, ihre Familien als positiv bedeutsamen Lebensort zu sehen.
9
Forschungsergebnisse: Zusammenfassung
Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie pointiert zusammengefasst. Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet: Wie äußern sich Schülerinnen und Schüler in Peergruppen aus dritten Klassen an Grundschulen zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften? Das grundlegende Desiderat sind kindliche Wahrnehmungen zur Zusammenarbeit von Erwachsenen im Kontext von Schule, es wird hier als Fragestellung nach der SchülerInnensicht auf schulische „Elternarbeit“ formuliert. Ein Desiderat ist auch die Rolle der schulischen und außerschulischen Peers für die Wahrnehmung und Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen zur schulischen „Elternarbeit“, sie scheinen einen wachsenden Einfluss auszuüben, wie sich aus den Daten von Wohlkinger (2014) ergibt. Im Anschluss an die Ergebnisse von Kramer, Helsper, Thiersch und Ziems (2009, 2013) stellt sich die Frage, welche Aspekte des habitualisierten Handlungswissens die Haltung von Kindern bzw. Jugendlichen gegenüber schulischer „Elternarbeit“ bestimmen und grundlegender, inwieweit kindliche Wahrnehmungen bereits habitualisiert sind. Diese Frage ist um so interessanter, als von Frühformen des Habitus gesprochen wird, sodass sie sich auf Prozesse der Habitustransformation bzw. -erweiterung richtet, hier als Habitusbildung bezeichnet. Damit verbinden sich Fragen nach dem Zusammenhang von sozialen Milieus und Schulkulturen, die zwar immer wieder angedeutet, aber nicht weiter thematisiert werden (vgl. Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009; Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009). Das Thema schulischer „Elternarbeit“ wird in dieser Studie in einigen Varianten und Begriffsentwicklungen dargestellt und diskutiert; dabei ist „Elternarbeit“ als professionsbezogene Konstruktion, „Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ als governancebezogene bestimmt, mit der die Kooperation zwischen Schule und Familie als Common-Sense-Theorie einzuordnen ist. Bemühungen © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1_9
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um eine Gegenstandstheorie hat es bereits in den 1980er Jahren gegeben, Melzer (1987) hat eine Theorie der Elternpartizipation entworfen, in der, ausgehend von einem Mehrebenen-Modell der Lebenswelten, nach einem neu gestalteten Sozialisationsprozess durch Eltern-Partizipation und Schulreform im Rahmen gesellschaftlicher Demokratisierung gefragt wurde. Inzwischen ist das Modell des „Parental Involvement“ von Joyce L. Epstein (2011) zum dominanten Bezugspunkt der Theoriebildung geworden, ohne dass damit eine konsistente Gegenstandstheorie gefunden worden wäre. Quantitative, interpretative und rekonstruktive Studien zu den Perspektiven von Schülerinnen und Schüler machen weitere Aspekte schulischer „Elternarbeit“ sichtbar, vor allem unterschiedliche Passungen, in denen Einflussnahmen, Beteiligungen, Vernachlässigungen und Ausblendungen aufscheinen. 2005 publizierte die Untersuchung der Schweizer Forschungsgruppe um Neuenschwander (Neuenschwander/Blamer/Gasser-Dutoit et.al. 2005) u. a. die Fallgeschichten von sechs Jugendlichen, 2008 Werner Sacher eine quantitative Befragung von SchülerInnen. Beide Untersuchungen wiesen methodische Mängel auf, Neuenschwander et.al. in der Gegenstandsbestimmung, Sacher in der Typisierung. Die Forschungsgruppe um Werner Helsper veröffentlichte mehrere Studien, isb. zum Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe (Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009, 2013) und zur zehnten Klasse (vgl. Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009). Aktuell stellt sich die Forschungsgruppe um Tanja Betz (Betz/Bischoff/Eunicke/Kayser/Zink 2017a, 2017b) in einem komplexen Design die Aufgabe, die Relationierung der Perspektiven von Fachkräften, Lehrkräften, Eltern und Kindern im Hinblick auf Bildungsungleichheiten zu rekonstruieren. In dieser Arbeit werden Aspekte der Kindheitsforschung und ihr ‚Begriff vom Kind‘ integriert, um den Standort des Forschers und seine subjektiven, biografisch bedingten Zuschreibungen zu kontrollieren. Kindheit wird in dieser Arbeit grundlegend als „analytische Gegenstandsperspektive“ (Kelle 2009b: 466 ff) verstanden, als „Lebensphase“ (ebd.) einerseits, also gesellschaftlich institutionalisierte Alterszugehörigkeit, als kindliche „Lebensweise“ (ebd.) und „Lebensführung“ in der Institution Schule andererseits. Der Begriff der Perspektive wird „im Sinne einer für Kinder charakteristischen, spezifisch gerichteten individuellen Wahrnehmung, eines Blickwinkels, einer Sichtweise oder eines Standpunkts“ (Honig 1999a: 35) verstanden; methodologisch bedeutsam ist, den „erwachsenenzentrierten Blick auf Kinder“ (Honig 2009: 31) zu suspendieren, indem zwischen einer erkenntnistheoretischen und einer gegenstandstheoretischen Konzeption von Kindheit unterschieden wird (Honig 1999a: 46). Daher kritisiert die Arbeit den in der Kindheitsforschung geläufigen Begriff des Kinds als Akteur bereits in der Diskussion des Erkenntnisinteresses
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als partiell romantische Parteinahme (vgl. Bühler-Niederberger 2018), ebenso den der Agency als „Containerbegriff“ (vgl. Bollig/Kelle 2014: 266), sie betont demgegenüber die kindliche Beteiligung an differenziellen Praktiken (ebd.; vgl. Kelle/Schweda-Möller 2017) und die sozialisatorische „Komplizenschaft“ von Kindern (Bühler-Niederberger 2018) im Kontext institutionalisierter Kindheit. Das Konzept der „generationalen Ordnung“ (Alanen 2005) wird mit Hengst (2013) als oppositionell und starr kritisiert, da nicht-generationale Kindererfahrungen, die durch die beschleunigte Modernisierung entstehen, aus dem Blick geraten. Deshalb wird ein Konzept „differenzieller Zeitgenossenschaft“ (vgl. Hengst 2004, 2012) in den Vordergrund gestellt, in dem generationale Kollektive ihr soziales Zusammenleben ‚polyphon‘ organisieren. Das Forschungsfeld dieser Arbeit wird als das der Peerbeziehungen in der Grundschule konzipiert. Der Beginn der Grundschulzeit gilt als Zäsur und Auftakt der sogenannten mittleren Kindheit (Krappmann 2010; Reinders 2015), in dieser Phase wird das Freundschaftskonzept als grundlegendes Sozialprinzip anerkannt. Im Mittelpunkt steht ein Homogenisierungsprozess, in dem zunächst prosoziales Verhalten betont wird, aber nach und nach abnimmt, vermutlich aufgrund der Zunahme von dyadischen, aber auch komplexeren Peerbeziehungen sowie von Kompetenzen im Umgang damit (Oswald 2008; Reinders 2015; Bennewitz/Breidenstein/Meier 2016). Die Homogenisierung der Cliquen nimmt zu und führt nach und nach zu geschlechtsspezifisch geprägten Gruppen, auch wenn die Grenzen zwischen ihnen immer wieder überschritten werden. Die Empirie der Peergruppen im Grundschulalter wird durch die World-VisionStudien zu sechs- bis elfjährigen Kindern und ihre Lebenssituationen in Deutschland bestimmt (WorldVision 2013; 2018). Die 2013er-Studie betont die soziale Akzeptanz bei Gleichaltrigen, in der Freundschaft als vertrauensvolle, geteilte Beziehung und nächste Stufe in Aussicht genommen wird. Peerbeziehungen dürfen nicht als Vorstufe von Freundschaftsbeziehungen missverstanden werden, sie stehen für ein eigenes Muster der Zusammenarbeit von Menschen, wie es in kollegialen, vereinsbezogenen und genossenschaftlichen Zusammenhängen zu finden ist (Krappmann 2010). Die Gegenstandskonzeption dieser Arbeit sucht mit dem methodologischen Konzept einer institutions- und peerbezogenen Habitusbildung den Anschluss an die rekonstruktive, schulpädagogische Forschung. Mit Hilfe der praxeologischen Wissenssoziologie werden die SchülerInnen-Perspektiven als habitualisierte und sich habitualisierende, kollektive Orientierungen konzipiert. Der Begriff des Habitus wird mit Bourdieu als System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen verstanden, eine strukturierte und zugleich strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 1987). Entsprechend nutzt ihn die Praxeologische
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issenssoziologie synonym zum Orientierungsrahmen im engeren Sinne, der W zu den Orientierungsschemata – normativen bzw. institutionellen Anforderungen sowie individuellen und kollektiven Fremdidentifizierungen – in Beziehung steht (vgl. Bohnsack 2014b). Die daraus hervorgehende Gegenstandskonzeption basiert zentral auf Bohnsacks Konstruktion des Orientierungsrahmens im weiteren Sinne (vgl. Bohnsack 2017a), der – auf Basis der Differenz von kommunikativem und konjunktivem Wissen – habituelle und normative Orientierungen fokussiert. Im Kontext der institutionellen und generationalen Erfahrungsräume von Schulkindern wird der Begriff der Habitusbildung (vgl. Helsper 2014) gegenüber dem der Habituserweiterung oder -transformation in den Vordergrund gestellt, um für neue Elemente in den Rekonstruktionen dieser Arbeit offen zu bleiben. Habitusbildung wird im Rahmen der Gegenstandskonzeption mit Anschluss an Bohnsacks Orientierungsrahmen im weiteren Sinne (vgl. Bohnsack 2017a) als Bewältigung der notorischen Diskrepanz von Norm und Habitus konzipiert, in deren Dialektik die Differenz von strukturierter und strukturierender Struktur des Habitus sichtbar wird. Eine weitere gegenstandsbezogene Bestimmung konzipiert die Institution Schule in ihrem Einfluss auf die hier rekonstruierten, empirischen Daten, indem sie sie als „strukturelle Fremdrahmung“ (vgl. Bohnsack 2017a) versteht und in ihrer Dopplung als Institution und Organisation einbezieht, so wird eine doppelte Perspektive auf die SchülerInnen-Äußerungen als zugleich institutions- und peerbezogene möglich. Diese „Fremdrahmung“ wird implizit bereits in der Sampling-Strategie und im Umgang mit dem Feld berücksichtigt, wenn Einflüsse auf die Peergruppenbildung relevant gemacht werden. Die Datenerhebung dieser Studie findet in Gruppendiskussionen statt, die das Kollektive, Implizite und Generationale der Gegenstandskonzeption aufgreifen, da sie gruppenzentrierte Kommunikation beforschen. Dieses methodische Instrument gilt als „adäquates Verfahren der Peerforschung“ (Loos 2016), in dem von Anfang an der doppelte Diskurs zwischen ForscherIn und Beforschten einerseits, der Beforschten miteinander andererseits angelegt ist (vgl. Loos/Schäffer 2001). Als spezifische Methode zur Rekonstruktion kollektiver Orientierungen evoziert sie eine „Gruppenmeinung“ (Werner Mangold), die sich durch die Begegnung der Befragten konstituiert, wenn sie in ihrer Kommunikation konjunktivierende Bezüge auf gemeinsame Erfahrungsräume vornehmen (vgl. Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010; Mensching 2017). Deren detaillierte, interaktionsbezogene Rekonstruktion gewährleistet die Genauigkeit und Gültigkeit der Methode, ebenso die „doppelte Hermeneutik“ (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010) durch den Anschluss der Konstruktionen zweiten Grades an die der Akteure und drittens die metatheoretische Fundierung in einer zugrundeliegenden
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primordialen Sozialität. Da es sich um SchülerInnengruppen in der Organisation Schule handelt, geht es in den Gruppendiskussionen darüber hinaus um die „Differenz zwischen Regelgemäßheit (Regelerwartung) und Regelmäßigkeit (Regelpraxis)“ (Mensching 2017: 62 f), die in den Praktiken, Selbst- und Fremdbildern auftaucht. Die Differenzbearbeitung zwischen organisationalen Erwartungen und tatsächlichen Praktiken wird dabei sowohl auf propositionaler als auch auf performativer Ebene sichtbar. Die rekonstruktive Grundlage sind vertextlichte bzw. durch Bilder dokumentierte Performanzen der Schülerinnen und Schüler. Deren Datensicherung erfolgt in Form einer videobasierten Transkription, mit der nicht nur auditive Daten identifiziert werden können, sondern auch die jeweiligen SprecherInnen und deren Abfolge, eine in verdichteten, selbstläufigen Passagen unentbehrliche Hilfe. Die Videoaufnahmen von Gruppendiskussion machen es darüber hinaus möglich, simultane Aktionismen der Kinder nachzuvollziehen und zu transkribieren bzw. in das Texttranskript einzubeziehen. Die Datenauswertung basiert – im Anschluss an die Entscheidung für Gruppendiskussionen – auf der dokumentarischen Methode, da sie in einer engen und historisch gewachsenen Beziehung zueinander stehen (vgl. Loos/Schäffer 2001). Die dokumentarische Methode steht als „Milieu-Analyse“ (Amling/Hoffmann 2018) in Orientierung zur Praxeologischen Wissenssoziologie als metatheoretischer Grundlegung und „Milieu-Theorie“ (ebd.). Im Mittelpunkt steht die sequenzielle Passageninterpretation und komparative Analyse der Fälle des qualitativen Samples auf den Ebenen der Propositionen und Performanzen, ergänzt durch eine Bildinterpretation. Die Rekonstruktionen zur Kindersicht auf den interorganisationalen Erfahrungsraum schulischer „Elternarbeit“ erfolgen in dieser Studie anhand von vier Peergruppen aus drei unterschiedlichen Schulen. Die Herausbildung des SchülerInnenhabitus findet in unterschiedlichen Erfahrungsräumen der SchülerInnen statt, die mit der institutionellen Fremdrahmung relationiert sind und als Voraussetzung der pädagogischen Generationsbeziehungen verstanden werden können (vgl. Kramer 2008; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014). So entsteht für die Forschung eine Dopplung der Interpretationsräume in die der Peers und der Organisation. Darauf bezogen, werden zwei Dimensionen der schulbezogenen Habitusbildung sinngenetisch typisiert, zum einen die Auseinandersetzung der Kindergruppen mit schulischen Regeln, Rollen und Normen im Horizont von Opposition und Kooperation, zum anderen die ‚Herstellung‘ des sozialen Raums der Peerbeziehungen zwischen Abgrenzung und Bezogenheit; als dritte Dimension wird die der Zugehörigkeit zu den sich bildenden Peergruppen mit ihrem Horizont von Inklusion und Exklusion sichtbar. Übergreifendes Merkmal der kindlichen Orientierungen ist ein emotional gefärbtes Krisenerleben, bezogen vor allem
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auf Klassenfahrten und Elternsprechtage, hier verstanden als Krise des sozialen Rollenhandelns durch differente Differenzerfahrungen, die in der Ambivalenz traumatischer Krisen steht (vgl. Oevermann 2016). Die unterschiedlichen Formen der Krisenbewältigung erfolgen in habitusbildenden Orientierungen, vor allem auf den entstehenden sozialen Raum der Peers bezogen. Die Bedeutung der Differenzerfahrungen und Krisen für die Habitusbildung der SchülerInnen führt zu einem doppelten Krisenbegriff in sozialisatorischer und institutioneller Hinsicht, der die Perspektive auf schulische „Elternarbeit“ erweitert. Eine Gegenstandstheorie der „Elternarbeit“ hat daher nicht nur Ablösungsprozesse und Peerbezüge im Sinne einer ‚Entwicklungskrise‘ in den Blick zu nehmen, sondern auch die unzureichende Institutionalisierung dieses Bereichs, dem – anders als schulischem Unterricht – „ein hohes Maß an Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit“ (Veith 2012: 314) fehlt, sodass Konstruktionen totaler Identität wie die der „Bildungsferne“ sichtbar werden, als „Zweitcodierung“ (Bohnsack 2017a: 137 ff) vor allem im Hinblick auf soziale Milieus.
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K.-T. Stiller, „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Rekonstruktive Bildungsforschung 30, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31647-1
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