Einführung in die Morphologie des Deutschen 3534249534, 9783534249534


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German Pages [155] Year 2013

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Morphologie: Grundlegendes
1.1 Grundbegriffe der morphologischen Analyse
1.2 Morphologie: Flexion vs. Wortbildung
1.2.1 Flexion
1.2.2 Wortbildung
1.3 Wortanalyse
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien
2.1 Kasus, Numerus und Genus
2.2 Das Substantiv
2.3 Das Artikelwort
2.4 Das Pronomen
2.5 Das Adjektiv
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
3. Die Nominalflexion des Deutschen: systematische Aspekte und Flexionsklassen
3.1 Substantivische Flexion
3.2 Pronominale Flexion
3.3 Adjektivische Flexion
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
4. Die Nominalflexion des Deutschen: syntagmatische Aspekte
4.1 Flexion in der Nominalphrase
4.2 Verteilung der Flexion in der Nominalphrase
4.3 Monoflexion in der Nominalphrase
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen
5.1 Tempus, Aspekt und Modus
5.2 Das finite Verb
5.3 Infinite Formen: Infinitiv, zu-Infinitiv und Partizipien
5.4 Vollverben, Modalverben und Hilfsverben
5.5 Passiv, Rezipientenpassiv, Zustandspassiv
5.6 sein- und haben-Selektion
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung
6.1 Der Streit zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik um die Standardsprache
6.2 Die deutsche Standardsprache
6.3 Die Stigmatisierung der tun-Periphrase
6.4 Die Entstehung der schwachen Verbflexion
6.5 Grammatikalisierung
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
7. Alltagssprachliche und dialektale Variation
7.1 Alltagssprache: Gesprochene Standardsprache
7.2 Flexion in deutschen Dialekten
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
8. Wie sich Flexionssysteme entwickeln: Theorie der Markiertheit
8.1 Natürliche Phonologie
8.2 Natürliche Morphologie
8.3 Systemangemessenheit
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
9. Wortbildung: Komposition
9.1 Was ist Komposition?
9.2 Typen von Komposita
9.3 Substantivkomposita
9.4 Adjektivkomposita
9.5 Verbkomposita
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
10. Wortbildung: Derivation
10.1 Explizite Derivation
10.2 Präfigierung vs. Suffigierung
10.3 Suffigierung: Substantive
10.4 Suffigierung: Adjektive
10.5 Suffigierung: Verben
10.6 Suffigierung: Adverbien
10.7 Präfigierung
10.8 Implizite Derivation
10.9 Konversion
10.9.1 Morphologische Konversion
10.9.2 Syntaktische Konversion
10.10 Entstehung von Derivationsaffixen
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
11. Die Kompositionsfuge
11.1 Fugenelemente: Form
11.2 Fugenelemente: Funktion
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
12. Wort oder Phrase: Partikelverben und andere Ungetüme
12.1 Argumente für eine morphologische Behandlung von Partikelverben
12.2 Phraseologismen und Rückbildungen
12.3 Konstruktionsgrammatik
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
13. Prosodische Aspekte der Morphologie
13.1 Einige Beobachtungen zur prosodischen Morphologie des Deutschen
13.2 Prosodischer Wandel als Antrieb morphologischen Wandels
13.3 Akzentsetzung in Komposita
13.4 Akzentzuweisung in Präfixverben
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
14. Ablaut und Umlaut – nichtverknüpfende Morphologie
14.1 Umlaut
14.2 Ablaut
14.3 Nichtlineare Morphologie
14.4 Ablaut in einer nichtlinearen Morphologie
Übungen
Lektüre zur Vertiefung
Antworten zu den Übungen
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Einführung in die Morphologie des Deutschen
 3534249534, 9783534249534

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Said Sahel / Ralf Vogel

Einführung in die Morphologie des Deutschen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-24953-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72766-7 eBook (epub): 978-3-534-72767-4

Inhalt 9

Einleitung. . 1. Morphologie:

10

1. 1

Grundbegriffe der morphologischen Analyse.

10

1. 2

Morphologie:

12

1. 2. 1

Flexion . . . . . .

13

1. 2. 2

Wortbildung . . .

17

1. 3 Wortanalyse . . .

18

Übungen . . . . . . . .

22

Lektüre zur Vertiefung

22

2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien. . .

23

2. 1

Kasus,

23

2. 2

Das Substantiv .

24

2. 3

Das Artikelwort

26

2. 4

Das Pronomen.

28

2. 5

Das Adjektiv . .

32

Übungen . . . . . . .

34

Lektüre zur Vertiefung

35

3. Die Nominalflexion des Deutschen: Flexionsklassen . . . . . . . .

36

3. 1 Substantivische Flexion.

36

Pronominale Flexion . .

39

3. 3 Adjektivische Flexion. .

41

Übungen . . . . . . . .

42

Lektüre zur Vertiefung . . . .

43

3. 2

4. Die Nominalflexion des Deutschen:

44

4. 1

Flexion in der Nominalphrase. . . . . . . . . .

44

4. 2

Verteilung der Flexion in der Nominalphrase.

45

4. 3

Monoflexion in der Nominalphrase .

47

Übungen . . . . . . . .

48

Lektüre zur Vertiefung . . . . . . . . . . . .

48

5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen . . . 5. 1 Tempus, 5. 2

Das finiteVerb. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5. 3 Infinite Formen:

49 49 56 58

5. 4

Vollverben,

63

5. 5

Passiv,

64

5.6 sein- und haben-Selektion. . . . . . . . . . . .

65

6 Inhalt Übungen. . . . . . . . . . . .

66

Lektüre zur Vertiefung . . . .

66

6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische

Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1

67

Der Streit zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik um die Standardsprache. . . . . . . . . . .

67

6.2

Die deutsche Standardsprache. . . . . . . . . .

69

6.3

Die Stigmatisierung der tun-Periphrase. . . .

70

6.4

Die Entstehung der schwachen Verbflexion . .

72

6.5

Grammatikalisierung. .

74

Übungen. . . . . . . . . . . .

78

Lektüre zur Vertiefung . . . .

78

7. Alltagssprachliche und dialektale Variation . .

79

7.1

Alltagssprache: Gesprochene Standardsprache . . .

79

7.2

Flexion in deutschen Dialekten

80

Übungen. . . . . . . . . . . .

83

Lektüre zur Vertiefung . . . . . . . . .

83

8. Wie sich Flexionssysteme entwickeln: Theorie der Markiertheit . .

84

8.1

Natürl iche Phonologie. .

86

8.2

Natürliche Morphologie.

87

8.3

Systemangemessenheit

88

Übungen. . . . . . . . . . . .

91

Lektüre zur Vertiefung . . . .

91

9. Wortbildung: Komposition

92

9.1

Was ist Komposition?

92

9.2

Typen von Komposita

93

9.3

Substantivkomposita .

94

9.4

Adjektivkomposita . .

96

9.5

Verbkomposita . . . . .

96

Übungen. . . . . . . . . . . .

97

Lektüre zur Vertiefung . . . .

97

10. Wortbildung: Derivation. . .

98

10.1

Explizite Derivation . .

98

10.2

Präfigierung vs. Suffigierung . .

10.3

Suffigierung: Substantive

100

10.4

Suffigierung: Adjektive. .

101

10.5

Suffigierung: Verben . . .

102

10.6

Suffigierung: Adverbien .

102

10.7

Präfigierung . . . . . . .

102

10.8

Implizite Derivation . . .

104

10.9

Konversion. . . . . . . . .

105

10.9.1 Morphologische Konversion.

105

10.9.2 Syntaktische Konversion . .

107

10.10 Entstehung von Derivationsaffixen. .

99

108

Inhalt 7

Übungen........ .

110

Lektüre zur Vertiefung.

110

11. Die Kompositionsfuge.

111

11.1 Fugenelemente: Form.

111

11.2 Fugenelemente: Funktion .

114

Übungen........ .

115

Lektüre zur Vertiefung...... .

115

12. Wort oder Phrase: Partikelverben und andere Ungetüme.

116

12.1 Argumente für eine morphologische Behandlung

von Partikelverben........... .

118

12.2 Phraseologismen und Rückbildungen

120

12.3 Konstruktionsgrammatik

123

Übungen........ .

124

Lektüre zur Vertiefung.... .

124

13. Prosodische Aspekte der Morphologie..

125

13.1 Einige Beobachtungen zur prosodischen Morphologie

des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

13.2 Prosodischer Wandel als Antrieb morphologischen Wandels

128

13.3 Akzentsetzung in Komposita....

129

13.4 Akzentzuweisung in Präfixverben .

130

Übungen........ .

133

Lektüre zur Vertiefung........... .

133

14. Ablaut und Umlaut - nichtverknüpfende Morphologie ..

134

14.1 Umlaut ............ .

135

14.2 Ablaut ...................... .

135

14.3 Nichtlineare Morphologie.......... .

137

14.4 Ablaut in einer nichtlinearen Morphologie.

139

Übungen........ .

140

Lektüre zur Vertiefung... .

140

Antworten zu den Übungen...

141

Literaturverzeichnis..

153

Sachregister ..... .

155

Einleitung Das Buch bietet eine Einführung in die Morphologie des Deutschen, die ne­ ben systematisch-synchronen Aspekten Fragen des Gebrauchs und die da­ mit zusammenhängende Variation sowie sprachhistorische Aspekte der deutschen Morphologie thematisiert. Es führt zum einen in gängige Metho­ den und grundlegende Begriffe und Konzepte der Morphologie ein. Zum anderen wird darin auf Aspekte eingegangen, die über das hinausgehen, was in Standardeinführungen üblich ist. Es geht dabei u.a. um theoretische Fragen wie die markiertheitsheoretische Motivation des Flexionssystems des Deutschen aber auch um Fragen, die das Spannungsverhältnis zwischen der Sprachnorm und dem Sprachgebrauch betreffen, das sich gerade am Be­ reich der Flexion besonders gut aufzeigen lässt. Besonderes Augenmerk liegt auf solchen Phänomenen der deutschen Morphologie, die eine Herausforderung an die linguistische Theoriebildung darstellen. Die Erörterungen in einigen Kapiteln stellen Vertiefungen dar, in denen nicht nur Lösungsvorschläge besprochen werden, die bereits zum common sense gehören, sondern auch die eine oder andere kontroverse Sichtweise vorgestellt wird. Ziel des Buches ist es, Studienanfängern ein so­ lides Grundlagenwissen über die Morphologie des Deutschen zu vermitteln und dabei gleichzeitig das Interesse an der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin zu wecken. Der Aufbau der Einführung orientiert sich an der klassischen Zweiteilung der Morphologie in die zwei Großbereiche Flexion und Wortbildung. Eine weitere, für die vorliegende Einführung relevante Unterscheidung ist die von Nomen (insbesondere Substantive und Adjektive) und Verben. In der Flexion wie in der Wortbildung weisen diese zwei Wortkategorien ein un­ terschiedliches Verhalten auf. So flektiert das Nomen nach anderen Katego­ rien als das Verb. In der Wortbildung manifestieren sich die Unterschiede u.a. darin, dass Komposition nur für das Nomen, nicht aber für das Verb produktiv ist. In der Derivation zeigt sich eine Zweiteilung dahingehend, dass Nomina fast ausschließlich durch Suffigierung, Verben hingegen nahe­ zu ausschi ießI ich durch Präfigierung entstehen. Jedes Kapitel ist mit Übungsaufgaben und Empfehlungen zur vertieften Lektüre versehen. Das Buch eignet sich sowohl als Seminargrundlage als auch zum Selbststudium und als seminarbegleitende Lektüre.

1. Morphologie: Grundlegendes 1.1 Grundbegriffe der morphologischen Analyse Das Wort Morphologie ist eine Zusammensetzung aus den zwei griechi­ schen Wörtern /Jopi] morphe "Gestalt, Form" und ,,-oyor; logos "Wort, Leh­ re" und wurde von Johann Wolfgang Goethe geprägt als "Bezeichnung der Lehre von Form und Struktur lebender Organismen" (Bußmann 1990: 504).

Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet ,Morphologie' in der Linguistik jene Teildisziplin, die sich mit der Struktur von Wörtern befasst. Morphem

Auch wenn die Morphologie oft als ,Wortlehre' bezeichnet wird, ist nicht das Wort, sondern das Morphem die relevante sprachliche Einheit für diese linguistische Teildisziplin. Traditionell wird das Morphem als die kleinste sprachliche Einheit definiert, die eine Bedeutung oder eine grammatische Funktion hat. So besteht beispielsweise das Wort Haustür aus den zwei Morphemen Haus und Tür, die je eine Bedeutung haben. Auch das Wort schönes in ein schönes Bild weist zwei Morpheme auf: schön, das die Be­

deutung trägt, und es, das die grammatische Funktion Nominativ Singular Neutrum anzeigt. Morphemtypen

Grundsätzlich werden zwei Typen von Morphemen unterschieden: freie und gebundene Morpheme. Dieser Unterschied lässt sich an den Beispiel­ wörtern Haustür und schönes zeigen. Im Wort Haustür sind zwei Morphe­ me enthalten: Haus und Tür, die auch frei vorkommen können. Das Wort schönes enthält auch zwei Morpheme. Im Unterschied zu schön ist aber

das Morphem es in seinem Vorkommen dadurch eingeschränkt, dass es nicht allein, sondern nur in Verbindung mit einem freien Morphem auftre­ ten kann. Daher die Bezeichnung gebundenes Morphem. Wurzel

VS.

Affix

Freie Morpheme werden auch Wurzeln, gebundene Morpheme auch Af­ fixe genannt. Wurzeln und Affixe unterscheiden sich nicht nur darin, dass Erstere frei vorkommen können, Letztere aber nicht. Vielmehr sind Affixe, was ihr Vorkommen angeht, in einem weiteren Punkt eingeschränkter als Wurzeln. Während Wurzeln jede Position im Wort einnehmen können, ist die Position von Affixen insofern fester, als sie entweder an den Anfang oder an das Ende einer Wurzel angehängt werden. So kann die Wurzel Tür so­ wohl als erste als auch als zweite Komponente von Wörtern vorkommen: Türschlüssel vs. Haustür. Die Position von Affixen wie ver- oder -ung ist hin­

gegen festgelegt und invariabel: ver- wird immer an den Anfang, -ung stets an das Ende einer Wurzel angehängt:�kaufen vs. Prüfung. Präfix, Suffix,

Affixe werden aufgrund ebendieser Positionsfestigkeit in mehrere Typen

Zirkumfix

unterteilt. Affixe, die an den Anfang einer Wurzel angehängt werden wie ver- in verkaufen, miss- in missverstehen oder be- wie in betragen, werden

Präfixe genannt. Affixe, die ans Ende einer Wurzel treten wie -er in Spieler, -nis in Erlaubnis oder -ung in Prüfung werden Suffixe genannt. Viel seltener

als Präfixe und Suffixe kommen im Deutschen Zirkumfixe vor. Für Zirkumfi­ xe findet sich auch die Bezeichnung diskontinuierliche Affixe, da sie von

1.1 Grundbegriffe der morphologischen Analyse

der Wurzel ,unterbrochen werden'. Zirkumfixe umrahmen eine Wurzel, in­ dem der erste Teil des Affixes am Anfang, der zweite Teil am Ende der Wur­ zel erscheint. So wird im Deutschen das Partizip Perfekt regelmäßiger Ver­ ben wie z. B. machen gebildet, indem an den Anfang des Verbstammes ge­ und an dessen Ende -t angehängt wird:�machi Da ge- und -t hier eine -

Funktion erfüllen, nämlich die Bildung des Partizip Perfekt, gelten sie nicht als zwei, sondern als ein Affix, nämlich als Zirkumfix. Zwei manchmal mit Wurzel synonym gebrauchte Begriffe sind Stamm

Stamm und Basis

und Basis. Die drei Termini meinen aber durchaus Verschiedenes. Eine Basis ist ganz allgemein in einem morphologischen Prozess, beispielsweise einer Affigierung, das Element, an das etwas angehängt wird. Das kann im einfachen Fall auch eine Wurzel sein. In dem Wort Fußball kann Ball als Basis verstanden werden, der die Wurzel Fuß vorangestellt wird. Fußball selbst dient aber wiederum als Basis für das Anhängen der Wurzel Tor in Fußballtor. Der Stamm ist die Form, an die Flexionsaffixe angehängt werden. Häufig ist der Stamm mit der Wurzel identisch. Das muss aber nicht so sein. Das Deutsche kannte in seiner frühen Periode Stammbildungsaffixe, die zwischen eine nominale Wurzel und die Flexionsaffixe eingesetzt wurde. So wurde das Wort lamb ("Lamm") in voralthochdeutscher Zeit mit dem Stammbildungsaffix -ir- gebildet. Der Genitiv Singular war zum Beispiel, nach Wegener (2005), lamb-l!:-as, der Genitiv Plural lamb-l!:-o. Das System der Stammbildungsaffixe wurde bereits im Althochdeutschen weitgehend abgebaut. Im hier beschriebenen Fall wurde das Affix unter anderem als Pluralflexiv regrammatikalisiert. In dem Verb eiern, das auf die Wurzel Ei zurückgeht, kann man das Affix -er- als Stammbildungssuffix sehen. Es gibt einen weiteren Typ von Morphemen, der sich teils wie Wurzeln, teils wie Affixe verhält. Beispiele hierfür sind bio- in Biomüll, geo- in �

Sondertypen: Konfixe

Qstrategisch, phil- in Philosemit oder -thek in Bibliothek. Solche Morpheme werden Konfixe genannt und sind vorwiegend aus dem Lateinischen oder Griechischen entlehnt. Mit den Wurzeln teilen Konfixe die Eigenschaft, eine eigene Bedeutung zu haben. Sie können aber nicht frei vorkommen und weisen in dieser Hinsicht ein ähnliches Verhalten wie Affixe auf. Im Vergleich zu Affixen ist ihre Position im Wort freier. So kann das Konfix phil sowohl als erste als auch als zweite Komponente eines Wortes vorkommen: Philosemitvs. Bibliophil. Einen weiteren Sondertyp von Morphemen stellen die unikaien Mor­

Unikaie Morpheme

pheme dar. Wie die Bezeichnung unikai nahe legt, tritt ein unikaies Mor­ phem in einem einzigen Wort auf: Brom- in Brombeere, Heidel- in Heidelbeere,

Schorn-

in

Schornstein,

-(i)gall

in

Nachtigall.

Unikaie

Morpheme und Konfixe unterscheiden sich voneinander in zweierlei Hinsicht. Zum einen haben Konfixe im Gegensatz zu unikaien Morphemen eine Bedeutung. Zum anderen können Erstere mit verschiedenen Wurzeln kombiniert werden, während das Vorkommen Letzterer auf ein einziges Wort beschränkt ist. Gelegentlich wird ein Morphem auch dort angenommen, wo eigentlich keins da ist. Man spricht hier vom Nullmorphem. Ein Nullmorphem wird u.a. dann angesetzt, wenn aufgrund einer allgemeinen Tendenz bzw. Regularität in einer Sprache ein Morphem erwartet wird, aber aus verschiede-

Nullmorphem

11

12

1. Morphologie: Grundlegendes

nen Gründen nicht erscheint. Als Beispiel hierfür soll die Pluralbildung bei Substantiven im Deutschen dienen. In den meisten Fällen trägt die Plural­ form eines Substantivs ein Suffix, das sie von der suffixlosen Singularform unterscheidet (Frau - Frauen, Kind - Kind� Auto - Auto2, Berg - Bergft). In einigen Fällen bleibt aber die Pluralform suffixlos und wird formal von der Singularform nicht unterschieden. Das betrifft u. a. Maskulina und Neutra, die auf er oder el auslauten (Meister (Sg.) - Meister (p1.), Messer (Sg.) - Messer (PI.), Zettel (Sg.) - Zettel (PI.), Segel (Sg.) - Segel (PI.)). Die Singular- und Pluralformen fallen also hier zusammen. Die Lücke, die das fehlende Pluralsuffix hinterlässt, wird durch das Nullmorphem ausgefüllt. Analog zu Pluralformen wie Frauen, Kinder, Autos und Berge wird ange­ nommen, dass auch Pluralformen ohne Pluralsuffix ein Pluralmorphem enthalten, das aber weder hör- noch sichtbar ist: das Nullmorphem (=0). Das Nullmorphem besetzt genau die Position, in der auch das entspre­ chende reguläre Morphem im Wort sonst steht: Meister-0, Messer-0, Zet­

tel-0, Segel-0 ... Allomorphie

Wir haben weiter oben das Morphem als die kleinste sprachliche Einheit definiert, die eine Bedeutung oder eine grammatische Funktion hat. Oft wird dieselbe bedeutungs- bzw. funktionstragende Einheit durch lautlich unterschiedliche Formen repräsentiert, die Allomorphe genannt werden. So sind /haltl und /hf:ltI Allomorphe desselben Morphems, nämlich des Verb­ stammes halt- in halten (ich halte aber du hältst). Ähnlich verhält es sich bei den Suffixen, die im Deutschen den Plural bei Substantiven markieren. An­ ders als Sprachen mit einheitlicher Pluralmarkierung wie z. B. das T ürkische kennt das Deutsche mehrere Pluralsuffixe: -e (Stiftft), -(e)n (Frauen, Hantel!!.),

-er (Kinder), -s (Auto2) und den Umlaut (L!iden), wobei der Umlaut auch mit den Pluralsuffixen -e (HQtft) und -er (W!ilder) kombiniert werden kann. Man spricht hier von Plural-Allomorphen, da diese verschiedenen Suffixe ein und dieselbe grammatische Kategorie anzeigen, nämlich den Plural. Im Bereich der grammatischen Funktionen entspricht Allomorphie einer fehlenden l-zu-l-Entsprechung zwischen Funktion und Form; d. h. zwi­ schen der grammatischen Funktion selbst und der morphologischen Form, die diese markiert. Bei der Allomorphie geht diese fehlende l-zu-l-Entspre­ chung in die Richtung, dass für eine Funktion mehrere Formen stehen.

1.2 Morphologie: Flexion

vs.

Wortbildung

Traditionell wird die Morphologie in zwei Großbereiche eingeteilt: Flexion und Wortbildung. Den beiden Teilbereichen ist gemeinsam, dass sie sich mit der Struktur von Wörtern befassen. Formal teilen sie zudem die Eigen­ schaft, dass in den beiden Fällen eine Veränderung in der Wortgestalt erfol­ gen kann. Die Unterscheidung von Flexion und Wortbildung ist eher funk­ tional begründet, und zwar insofern als diese zwei morphologischen Teilbereiche unterschiedliche Aufgaben im Sprachsystem übernehmen. Während Flexion eher der Grammatik, genauer der Wortgrammatik, zuzu­ rechnen ist, ist die Wortbildung als lexikalischer Bereich, d. h. als Wort­ schatzbereich, anzusehen.

1.2 Morphologie: Flexion VS. Wortbi Idung

1.2.1

Flexion

Durch Flexion entstehen keine neuen Wörter, sondern nur grammatische Formen ein und desselben Wortes. Wenn beispielsweise das Wort Land flektiert wird, entstehen grammatische Formen, auch Flexionsformen ge­ nannt, wie Landes, Länder oder Ländern, die sich weder in ihrer Kernbe­ deutung noch in ihrer Wortart voneinander unterscheiden. Vielmehr bleibt die Bedeutung wie auch die Wortart, hier Substantiv, von den Veränderun­ gen in der Wortgestalt selbst unberührt. Wenn ein Wort wie Land flektiert wird, wird es lediglich grammatisch modifiziert, indem die formale Ände­ rung mit einem anderen Kasus (z. B. dem Genitiv in Landes), einem ande­ ren Numerus (z. B. dem Plural wie in Länder) oder mit einem anderen Ka­ sus und Numerus zugleich (z. B. dem Dativ und dem Plural wie in

Ländern) einhergeht. Nicht in allen Sprachen werden Wörter flektiert und nicht alle Wörter einer Sprache werden flektiert. So gibt es Sprachen, in denen jedes Wort

Deutsch als flektie­ rende Sprache

über genau eine Form verfügt. Diese Sprachen, wie z. B. das Chinesische oder das Vietnamesische, haben keine Flexionsmorphologie und werden zu den sogenannten isolierenden Sprachen gezählt. Deutsch gilt hingegen als flektierende Sprache, d. h. eine Sprache, in der Wörter in Abhängigkeit von ihrer grammatischen Funktion unterschiedliche Gestalten haben können. Aber auch im Deutschen werden nicht alle Wörter flektiert. So wird im Deut­ schen auf der Grundlage des morphologischen Kriteriums der Flektierbarkeit zwischen flektierbaren und nicht-flektierbaren Wortarten unterschieden. Zur ersteren Gruppe werden Substantive, Artikelwörter, Pronomen, Adjektive und Verben gezählt. Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Subjunktio­ nen sowie Partikeln werden der letzteren Gruppe zugerechnet. Innerhalb der flektierbaren Wortarten lässt sich zwischen weiteren Un­ tergruppen unterscheiden. Zunächst werden deklinierbare und konjugier­

Flektierbare Wortarten

bare Wortarten voneinander abgegrenzt. Zur ersteren Gruppe gehören Substantive, Artikelwörter, Pronomen und Adjektive, während Verben die einzige konjugierbare Wortart darstellen. Als Unterscheidungskriterium können dabei die Flexionskategorisierungen Kasus und Tempus gelten: De­ klinierbare Wortarten flektieren nach Kasus, konjugierbare nach Tempus. Die deklinierbaren Wortarten werden weiter in solche, die ein festes Ge­ nus haben, und andere, deren Genus variabel ist, unterschieden. Zur erste­ ren Gruppe gehören Substantive, zur letzteren Artikelwörter, Pronomina und Adjektive. Substantive behalten immer ihr Genus, während Artikel­ wörter und Adjektive das Genus des Substantivs übernehmen, mit dem sie eine Substantivgruppe bilden. Pronomina treten im Genus der Substantiv­ gruppe auf, für die sie stehen. Adjektive werden ihrerseits von Artikel­ wörtern und Pronomina durch ihre Steigerbarkeit (schön, schöner, am

schönsten) abgegrenzt. Schließlich unterscheiden sich Pronomina von Arti­ kelwörtern darin, dass Erstere stellvertretend für eine gesamte Substantiv­ gruppe stehen, während Letztere lediglich als Begleiter eines Substantivs auftreten können. Flektierbare Wörter, die in der Rede, d. h. in Sätzen bzw. Texten, ge­ braucht werden, sind immer flektiert, in dem Sinne, dass sie im Hinblick auf bestimmte grammatische Merkmale spezifiziert sind. Diese grammati-

Flexionskategorisie­ rungen und -kategorien

13

14 1. Morphologie: Grundlegendes schen Merkmale werden Flexionskategorisierungen genannt. Die deklinier­ baren Wortarten werden nach den Flexionskategorisierungen Kasus, Nume­ rus und Genus flektiert. Man spricht hier von Nominalflexion bzw. von no­ minalflektierten Wortarten. Flektierte Substantive, Adjektive, Artikelwörter oder Pronomina weisen immer eine bestimmte Ausprägung von Kasus, Numerus und Genus auf. Diese Ausprägungen werden Flexionskategorien genannt. So zerfällt die Flexionskategorisierung Kasus in die vier Flexions­ kategorien Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv, die Flexionskategori­ sierung Numerus in die zwei Flexionskategorien Singular und Plural und die Flexionskategorisierung Genus in die drei Flexionskategorien Maskuli­ num, Femininum und Neutrum. Bei der Verbflexion sind andere Flexionskategorisierungen relevant. Ver­ ben flektieren nach Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi. Diese fünf Flexionskategorisierungen zerfallen in mehrere Flexionskatego­ rien: Person in die 1., 2. und 3. Person, Numerus in Singular und Plural, Tempus in Präsens und Präteritum, Modus in Indikativ, Imperativ und Kon­ junktiv und Genus Verbi in Aktiv und Passiv. Lexem

VS.

Wortform

Ist ein Wort flektiert, spricht man von einer Wortform oder Flexionsform. Jedes flektierbare Wort, das in einem Satz verwendet ist, ist eine Wortform, d. h. es weist ein Bündel von Flexionskategorien auf. So lassen sich für die flektierten Adjektive gutes, gute, gutem und guter in den Sätzen (1-4) vier verschiedene Bündel von Flexionskategorien bestimmen:

(1) Ein Lügner muss ein gutes Gedächtnis haben. (2) Eine gute Alternative ist die Anreise mit dem Zug. (3) Allen Absolventen konnte mit gutem Gewissen ein Zertifikat ausge­ händigt werden.

(4) Nach guter Sitte sind ihm jetzt drei Wünsche frei. Abhängig von ihrem konkreten Gebrauch im Satz weisen die vier Flexions­ formen unterschiedliche Kombinationen von Flexionskategorien auf: gutes in (1) steht im Akkusativ Singular Neutrum, gute in (2) im Nominativ Singu­ lar Femininum, gutem in (3) im Dativ Singular Neutrum und guter in (4) im Dativ Singular Femininum. Während eine Wortform immer ein Bündel von Flexionskategorien auf­ weist, ist ein Lexem im Hinblick auf seine Flexionseigenschaften unspezifi­ ziert. Ein Lexem steht stellvertretend für alle Wortformen, die im konkreten Gebrauch vorkommen. So lassen sich die Wortformen gutes, gute, gutem und guter in (1-4) auf das Lexem GUT zurückführen. Das Lexem ist der Ein­ trag, den man für ein Wort im Wörterbuch findet. Für Adjektive und Sub­ stantive stellt die Grundform (z. B. GUT bzw. T ISCH) das Lexem dar. Bei Verben entspricht das Lexem dem Infinitiv (z. B. SCHREIBEN). Flexionsparadigmen

In den Referenzgrammatiken und Lehrbüchern werden die Wortformen eines Lexems in tabellenartigen Abbildungen, den so genannten Flexions­ paradigmen, zusammengefasst. Das Flexionsparadigma enthält alle Wort­ formen des jeweiligen Lexems, und jede Wortform weist ein Bündel von für die betreffende Wortkategorie relevanten Flexionskategorien auf. Dabei va­ riiert die Zahl der Positionen in einem Paradigma von Wortkategorie zu Wortkategorie.

1.2 Morphologie: Flexion vs. Wortbi Idung

Das Substantivparadigma enthält acht Positionen: vier Positionen für Ka­ sus und zwei für Numerus. Singular

Plural

Nominativ

Stift

Stifte

Akkusativ

Stift

Stifte

Dativ

Stift

Stiften

Genitiv

Stiftes

Stifte

Tabelle 1: Flexionsparadigma für STIFT Da das Substantiv die einzige nominalflektierte Wortkategorie mit festem Genus ist, gilt Genus nicht als Flexionskategorisierung des Substantivs. Vielmehr ist Genus eine inhärente Kategorisierung des Substantivs, d. h. sie wohnt ihm inne. Obwohl das Flexionsparadigma des Lexems STIFT acht Positionen aufweist, enthält es nur vier morphologisch distinkte Wortformen

(Stift, Stiftes, Stifte und Stiften). So steht ein und dieselbe Wortform wie z. B. Stift für unterschiedliche Bündel von Flexionskategorien (Nominativ Singular, Akkusativ Singular und Dativ Singular). Ein solcher Zusammenfall von Formen unterschiedlicher Flexionskategorien wird Synkretismus genannt und ist charakteristisch für Flexionsparadigmen des Deutschen und anderer flektierender Sprachen. Nominalflektierte Wortkategorien wie z. B. Artikelwörter haben umfang­ reichere Paradigmen, wie das Paradigma des demonstrativen Artikelwortes

dies- zeigt. Sg.

PI.

Mask.

Neutr.

Fem.

Nom.

dieser

dieses

diese

diese

Akk.

diesen

dieses

diese

diese

Dat.

diesem

diesem

dieser

diesen

Gen.

dieses

dieses

dieser

dieser

Tabelle 2: Flexionsparadigma für das demonstrative Artikelwort Das Paradigma des demonstrativen Artikelwortes dies- enthält deshalb dop­ pelt so viele Positionen wie das Substantivparadigma, da Artikelwörter im Unterschied zu Substantiven ein variables Genus haben. Allerdings gibt es nur im Singular eine Differenzierung nach Genus. Im Plural fallen hingegen die drei Genera zusammen. Auch hier fällt der Synkretismus auf: Lediglich fünf morphologisch distinkte Formen (dieser, diese, dieses, diesem, diesen) verteilen sich auf 16 Positionen des Paradigmas. Das Paradigma von Verben wird gewöhnlich so dargestellt, dass darin nur nach den zwei Flexionskategorisierungen Person und Numerus differenziert wird.

Synkretismus

15

16 1. Morphologie: Grundlegendes Singular

Plural

1. Person

mache

machen

2. Person

machst

machet

3. Person

macht

machen

Tabelle 3: Flexionsparadigma von MACHEN (Ausschnitt) Bei dem Flexionsparadigma in Tabelle 3 handelt es sich um das Paradigma des Verbs machen im Präsens, Indikativ, Aktiv. Für die weiteren Tempora, Modi und Genus Verbi können nach demselben Muster eigene Paradigmen aufgestellt werden. Flexionsmittel:

Das Flexionsmittel, von dem das Deutsche bevorzugt Gebrauch macht,

Affigierung

ist die Affigierung. Flexionskategorien werden dadurch markiert, dass an den Wortstamm bzw. die Grundform ein Flexionsmorphem angehängt wird. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um Flexionssuffixe, d.h. Flexionsmorpheme, die ans Ende einer Wurzel oder eines Stammes an­ gehängt werden. In der Nominalflexion werden sogar ausschließlich Suffixe zur Markierung von Flexionskategorien verwendet (z.B. Kind-er, Kind-er-n,

schön-es, dies-em ), Präfixe kommen hingegen als Flexionsmittel in der No­ minalflexion nicht vor. Ähnliches gilt auch für die Verbflexion, in der nahe­ zu ausschließlich von der Suffigierung Gebrauch gemacht wird (z.B. mach­

st, mach-te-st). Einzig die Partizip-li-Formen werden durch einen anderen Typ von Affixen gebildet, nämlich durch Zirkumfigierung: An einen Verb­ stamm, wie mach-, wird das Zirkumfix ge ...t angehängt (�-mach-t). Flexionsmittel:

Neben der Affigierung als gebräuchlichstem Flexionsmittel werden im

Umlaut und Ablaut

Deutschen Flexionskategorien auch durch Stammveränderung angezeigt. Die Stammveränderung kann ihrerseits durch Umlaut oder Ablaut erfolgen. Die Nominalflexion kennt nur den Umlaut, die Verbflexion beides.ln der Substan­ tivflexion wird der Umlaut zur Anzeige von Plural eingesetzt. Dabei kann der Umlaut allein (z.B. Ladenvs. L�den) oder in Kombination mit einem Pluralsuf­ fix auftreten (Waldvs. W�/d-er). In der Adjektivflexion wird bei der Steigerung der Umlaut immer mit dem Steigerungssuffix kombiniert, wenn das Adjektiv einen umlautfähigen Vokal enthält (klug-klüg-er-am klüg-sten). Im Bereich der Verbflexion wird der Umlaut zur Markierung des Konjunk­ tivs Ii bei den so genannten starken und unregelmäßigen Verben verwendet. Bei diesen Gruppen von Verben wird der Konjunktiv 11 dadurch gebildet, dass beim Vorliegen eines umlautfähigen Vokals die Präteritalform umge­ lautet wird (z.B. wir boten -- wir bQten, er brachte - er br�chte). Durch den Ablaut werden Präterital- bzw. Partizip-li-Formen gebildet (z.B. sprechen -

spri!.ch - gesprQchen). Beim Ablaut wird, anders als beim Umlaut, der Grundvokal im Verbstamm nicht nur durch den Umlaut modifiziert, son­ dern durch einen anderen Grundvokal ersetzt. Gelegentlich wird bei der Verbflexion der Ablaut mit Wechsel des Stammkonsonantismus kombiniert (z.B. ziehen - zQg, gehen - gi!1B). Suppletion

Suppletion ist eine weitere Form von Flexion, die aber viel seltener auftritt als die Affigierung und die Stammveränderung durch Umlaut oder Ablaut. Suppletivformen weisen keine oder nur mittelbare morphologische Ähn­ lichkeit mit dem zugrunde liegenden Lexem auf. Suppletion tritt im Deut-

1.2 Morphologie: Flexion vs. WortbiIdung 17

schen in der Verb- und Adjektivflexion auf. Wie es auch in vielen anderen europäischen Sprachen der Fall ist, handelt es sich bei den Präsens- und Präteritalformen des Verbs sein (z. B. bin, bist, ist. . bzw. war, warst, wa­ ren. . ) um Suppletivformen. Suppletion im Flexionssystem des Deutschen .

.

begegnet uns auch im Bereich der Adjektivsteigerung, wo die Komparativ­ und Superlativformen einen völlig anderen Stamm haben als die entspre­ chenden Grundformen des Adjektivs (viel-mehr-am meisten, gut-besser

-am besten, gern -lieber-am liebsten). 1.2.2

Wortbildung

Während durch die Flexion Wortformen eines Lexems gebildet werden, ent­ stehen durch die Wortbildung neue Lexeme. Diese neuen Lexeme werden nicht etwa neu ,erfunden' im Sinne von der Bildung von Wörtern mit einer völlig neuen Lautung. Vielmehr werden sie aus bereits vorhandenen Mor­ phemen, freien wie gebundenen, gebildet, indem diese in unterschiedlicher Weise modifiziert werden. Die Modifikation von bereits vorhandenen Lexe­ men kann durch unterschiedliche Verfahren erfolgen; man spricht hier von Wortbildungsarten. Dabei gelten Komposition, Derivation und Konversion als die produktivsten Wortbildungsarten des Deutschen. Dies bedeutet, dass die meisten neuen Lexeme durch diese drei Verfahren entstehen. Komposition beschreibt die Wortbildungsart, bei der zwei oder mehrere

Komposition

Wurzeln oder Stämme zu einem komplexen Wort zusammengefügt werden. Das Deutsche ist ,berühmt-berüchtigt' für seine Kompositionsfreudigkeit, die sich durch sehr lange Komposita wie Donaudampfschifffahrtsge­

seIlschaftskapitän eindrucksvoll belegen lässt. In den allermeisten Fällen werden jedoch Komposita gebildet, die deutlich kürzer sind und kognitiv leichter verarbeitet werden können (z. B. Großstadt, Fußballfeld, Schwimm-

flügel, Führerscheinprüfung). Während bei der Komposition Wurzeln und Stämme an der Bildung be-

Derivation

teiligt sind, handelt es sich bei der Derivation um eine Wortbildungsart, bei der ein Affix, d. h. ein gebundenes Morphem, an eine Wurzel bzw. einen Stamm angehängt wird (z. B. freundlich, SpielflE leslE!!t.Jl!2schön, GefüM. Wie aus den Beispielen hervorgeht, kann das Affix an den Anfang oder ans Ende eines freien Morphems angehängt werden. Nach der Position des Affixes relativ zum freien Morphem wird die Derivation in Präfigierung und Suffigierung unterteilt. Eine weitere wichtige Wortbildungsart im Deutschen ist die Konversion.

Konversion

Im Unterschied zur Derivation entstehen durch Konversion neue Lexeme ohne Zuhilfenahme von Affixen. Die Gestalt der Basis ändert sich dabei nicht: Das zugrundeliegende und das abgeleitete Lexem sind lautlich identisch. Sie unterscheiden sich allein in ihrer Wortkategorie. So wird beispielsweise das Substantiv Spiel aus dem Verbstamm spiel-, das Verb fisch(en) aus dem Substantiv Fisch, das Substantiv (das) Tief aus dem Adjektiv tief und das Substantiv (das) Aus aus der Präposition aus abgeleitet. Bei der Konversion wird also ein Lexem bei gleichbleibender lautlicher Gestalt in eine andere Wortkategorie übergeführt. Im Deutschen gibt es eine Reihe weiterer Wortbildungsarten, durch die aber weitaus weniger neue Lexeme entstehen als durch Komposition, De-

Weitere WortbiI­ dungsarten

18

1. Morphologie: Grundlegendes

rivation und Konversion. Drei dieser Wortbildungsarten ist gemeinsam, dass das neu gebildete Lexem eine reduzierte Form gegenüber der Basis auf­ weist. Es handelt es sich dabei um die Kürzung, die Abkürzung und das Akronym, durch die immer ein Kurzwort entsteht. Die Kürzung bezeichnet die Wortbildungsart, bei der ein Wort in seiner Substanz reduziert wird, indem an dessen Anfang oder Ende Teile getilgt werden (z.B.

Bus für Omnibus, Uni für Universität). Beim Akronym werden

einzelne Buchstaben bzw. Laute aus dem zugrunde liegenden Ausdruck so aneinandergereiht, dass sich ein neues Wort mit einer neuen Lautung ergibt (ELSTER

für ELektronische STeuerERklärung,

Azubi für AusZUBllden­

de(r) ...). Die Abkürzung teilt mit dem Akronym die Eigenschaft, dass die neuen Bildungen dadurch entstehen, dass dem betreffenden Ausdruck ein­ zelne Buchstaben bzw. Laute entnommen und aneinandergereiht werden. Allerdings ergibt diese Aneinanderreihung bei der Abkürzung im Unter­ schied zum Akronym keine neuen Wörter, sondern eine Abfolge von Buch­ staben, deren Aussprache den Buchstabennamen selbst im Alphabet ent­ spricht (LKW

für Lastkraftwagen,

SPD für sozialdemokratische Partei

Deutschlands ... ) . Eine weitere Wortbildungsart ist die Kontamination. Hierbei handelt es um die Verschmelzung zweier Wörter zu einem Wort, indem Teile aus bei­ den Wörtern entfernt werden (Bürotel aus Büro te

+

+

Hotel, Tomoffel aus Toma­

Kartoffel ...). Solche Bildungen werden auch Kofferwörter genannt.

1 .3 Wortanalyse Lineare

Komplexe Wörter, d. h. Wörter, die aus zwei oder mehreren Morphemen

Segmentierung

bestehen, weisen eine interne Struktur auf und können in ihre einzelnen Morpheme zerlegt werden. Ein mögliches Verfahren hierzu wäre, die Mor­ phemgrenzen innerhalb eines Wortes zu markieren, indem man die Mor­ pheme voneinander trennt (z. B. Großltstadt, Fußltbaliltfeld, freundltlich, Sitzltungltsltsaal. ..). Ein solches Analyseverfahren, bei dem ein komplexes Wort von links nach rechts in seine einzelnen Morpheme zerlegt wird, deckt auf, wie viele bzw. welche Morpheme in einem Wort enthalten sind. Bei diesem Verfahren kann auch nach der Segmentierung der Status der ein­ zelnen Morpheme bestimmt werden: z.B. Wurzel, Präfix, Suffix ...

Interne Struktur

Allerdings reicht ein derartiges lineares Analyseverfahren nicht aus, um

komplexer Wörter

die interne Struktur komplexer Wörter adäquat transparent zu machen. Denn ein komplexes Wort besteht nicht nur aus einer bloßen Aneinander­ reihung von Morphemen. Vielmehr enthalten komplexe Wörter Teilstruktu­ ren, die sich erst durch eine hierarchische Analyse erfassen lassen. Dies ist der Fall bei Wörtern, die aus drei oder mehr Morphemen bestehen. So ist es

Fußballfeld aus den zwei Teil­ Fußball und Feld und nicht etwa aus Fuß und Ballfeld zusam­ mensetzt. Das gilt ebenso für das Kompositum Kopfbahnhof, dessen Teil­ strukturen Kopf und Bahnhof, nicht etwa Kopfbahn und Hof sind. Beim ersteren Kompositum bilden das erste und das zweite Morphem, Fuß + Ball,

intuitiv fassbar, dass sich das Kompositum strukturen

eine Teilstruktur, beim Letzteren sind es das zweite und dritte Morphem,

Bahn + Hof, die zu einer Einheit zusammengefügt werden.

1.3 Wortanalyse 19

Die interne Struktur von Fußballfeld und Kopfbahnhof kann durch ein li-

Klammerstruktur

neares Analyseverfahren nicht adäquat erfasst werden. Denn in beiden Fällen ergibt sich durch ein solches Verfahren eine ähnliche Segmentierung

(Fuß#ball#feld und Kopf#bahn#hon, obwohl diese zwei Komposita, wie oben dargelegt, intern unterschiedlich strukturiert sind. Vielmehr bedarf es einer nicht-linearen Vorgehensweise, um die interne Struktur aufzudecken. Dabei können Klammern verwendet werden, indem die beteiligten Morpheme in einem ersten Schritt einzeln eingeklammert werden ([Fuß] [baln

[feld] und [Kop� [bahn] [hom, bevor Gleiches für die zwei Morpheme, die gemeinsam eine Teilstruktur bilden, vorgenommen wird: [[Fuß] [ball]] [feld] und [Kopf] [[bahn] [hof]] Schließlich wird das Gesamtwort eingeklammert:

Ä

[[[Fuß] [ball]] [feld]] und [[Kopf] [[bahn] [hof]]]

Eine solche Darstellung ist zugegebenermaßen etwas unübersichtlich, da die interne Struktur der so analysierten Wörter nicht auf den ersten Blick er­ sichtlich wird. Daher wird gewöhnlich die interne Struktur komplexer Wör­ ter als Baumdiagramm dargestellt. Gegenüber dem Klammerverfahren ist die Baumdiagramm-Darstellung viel übersichtlicher und macht das transpa­ rent, was durch die Wortanalyse transparent gemacht werden soll: den hie­ rarchischen Aufbau komplexer Wörter.

Fußballfeld

� A I

Feld

Fußball

Fuß

feld

ball

A r f

Kopf

bahn

hof

Ein solches Analyseverfahren wird unmittelbare Konstituentenanalyse ge­ nannt und geht im Grundsatz auf den amerikanischen Strukturalismus zu­ rück. Bei der Analyse wird ein komplexer sprachlicher Ausdruck, in unse­ rem Fall ein komplexes Wort,

in seine einzelnen

Bestandteile,

die

Konstituenten, segmentiert. Die so ermittelten Konstituenten werden mit der jeweiligen Wortkategorie versehen. N

N

� A N

N

N

N

I

I

Fuß

ball

feld

� A

N

N

N

Kopf

I

bahn

I

N

hof

Konstituenten­ analyse

20 1. Morphologie: Grundlegendes In unseren Wortbeispielen handelt es sich bei den jeweils drei Konstituen­ ten der zwei Wörter um Substantive, daher das Kürzel N(omen). Im nächs­ ten Analyseschritt werden zwei Konstituenten zu einer komplexeren Konsti­ tuente zusammengefügt. Im ersten Wortbeispiel sind es Fuß und Ball, im zweiten Bahn und Hof. Fußball und Bahnhof sind jeweils ein (N)omen. Schließlich wird die dritte Konstituente Feld bzw. Kopf mit der bereits ge­ bildeten, komplexeren Konstituente Fußball bzw. Bahnhof zu einer noch komplexeren Konstituente verbunden. Auf der höchsten Ebene bilden wieder Fußballfeld und Kopfbahnhof je ein (N)omen. Durch die Analyse entstehen innerhalb eines Baudiagramms binäre Strukturen, die je zwei Konstituenten enthalten. Man spricht deshalb von unmittelbarer Konstituen­ tenanalyse, weil zwei im Baumdiagramm tiefer stehende Konstituenten die Konstituenten sind, aus denen die eine Ebene höher stehende Konstituente unmittelbar gebildet ist. So sind Fußball und Feld bzw. Kopf und Bahnhof die zwei unmittelbaren Konstituenten von Fußballfeld bzw. Kopfbahnhof.

Fuß und ball bzw. Bahn und Hofbilden wiederum die zwei unmittelbaren Konstituenten von Fußball bzw. Bahnhof. Affixe in der Wortanalyse

Affixe werden in der Konstituentenanalyse formal gleich behandelt wie freie Morpheme. Beides wird als Konstituenten behandelt. So besteht bei­ spielsweise das komplexe Wort Freundlichkeit aus drei Morphemen: der Wurzel Freund und den zwei Suffixen -lieh und -keit. Die Konstituenten­ struktur dieses Wortes sieht wie folgt aus:

N

� A A

N

I

Freund

Sx

Sx

I

lich

keit

Freundlich und -keit bilden die zwei unmittelbaren Konstituenten von Freundlichkeit und Freund und -lieh die zwei unmittelbaren Konstituenten von freundlich. Affixe können im Baumdiagramm mit Px (=Präfix) oder Sx (=Suffix) gekennzeichnet werden. Funktional verhalten sich aber Derivati­ onsaffixe in einem komplexen Wort ähnlich wie freie Morpheme. Betrachtet man die Bildung freundlich, kann Folgendes festgestellt werden: Freund ist ein Substantiv und -lieh ein Affix; werden die zwei Konstituenten zu einer komplexen Bildung verbunden, entsteht das Adjektiv freundlich. Es stellt sich die Frage, worauf hier die Wortkategorie Adjektiv zurückgeführt werden kann. Auf diese Frage kann es nur die folgende Antwort geben: freundlich ist deshalb ein Adjektiv, weil mittels des Derivationssuffixes -lieh Adjektive ab­ geleitet werden. Klar ist auch, dass die Wortkategorie Substantiv von Freund­

lichkeit auf das Suffix -keit zurückgeht. Darüber hinaus legt das Suffix -keit,

1.3 Wortanalyse 21

wie die anderen substantivbildenden Suffixe auch, das Genus der Bildung fest: Alle Substantive, die das Suffix -keit enthalten, sind Feminina. Affixe verhalten sich also wie freie Morpheme. In einem Kompositum wie

Großstadt bestimmt die am weitesten rechts stehende Konstituente, i. e. Stadt, die Wortkategorie des Gesamtwortes. Die links stehende Konstituente groß bleibt hingegen in dieser Hinsicht ohne Einfluss: Großstadt ist ein fe­ minines Substantiv, weil die zweite Konstituente Stadt ein feminines Sub­ stantiv ist. Ein ähnliches Verhalten ist auch in Derivationen mit Suffixen wie

freundlich oder Freundlichkeit zu beobachten. Die am weitesten rechts ste­ hende Konstituente, also -lieh bzw. -keit, bestimmt die Wortkategorie des Gesamtwortes. Aufgrund dieser Parallele ist es sinnvoll, analog zu freien Morphemen auch Suffixe im Baumdiagramm mit einer Wortkategorie zu versehen. Allerdings muss aus der Notation auch der Unterschied zwischen freien Morphemen und Affixen hervorgehen. In der folgenden Darstellung ist die Konstituentenstruktur für Freundlichkeit mit der modifizierten Nota­ tion für die Affixe abgebildet: N

� A

N�

A

N

NI

Freund

lich

I

I

keit

Parallel zu freien Morphemen tragen die Suffixe -lieh und -keit eine Kenn­ zeichnung für ihre Wortkategorie: A(djektiv) bzw. N(omen). Um aber freie Adjektive bzw. Substantive von gebundenen Adjektiven bzw. Substantiven unterscheiden zu können, wird die Kennzeichnung zusätzlich mit einem hochgestellten af (=Affix) versehen. Dadurch wird der gebundene Status der Konstituente kenntlich gemacht. Diese Notation geht auf eine Annah­ me der Lexikalistischen Morphologie aus den 1970-80er Jahren zurück, dass Affixe genauso wie freie Morpheme mit ihren Eigenschaften im Lexi­ kon vermerkt sind und dass der einzige Unterschied zwischen diesen zwei Morphemtypen in ihrem Status als freie bzw. gebundene Kategorien be­ gründet liegt. Nicht selten finden sich in komplexen Wörtern neben den freien Mor­ phemen und Affixen weitere Elemente, die aber keinen Morphemstatus haben, da sie weder Bedeutung im engen oder im weiten Sinne noch eine grammatische Funktion haben. Es handelt sich hierbei um sogenann­ te Fugenelemente, die an der Nahtstelle von zwei unmittelbaren Konsti­ tuenten auftreten (Bischof�ring, Maus�/och. . ) und in der Wortbildung .

eine reine Verbindungsfunktion haben. Fugenelemente werden auch im Baumdiagramm dargestellt und erhalten wie die Morpheme einen eigenen Knoten:

Fugenelemente in der Wortanalyse

22 1. Morphologie: Grundlegendes N

� A N

N

N

Fu

Maus

e

I

I

loch

Wie im Baudiagramm dargestellt, bildet das Fugenelement -e- zusammen mit der vorausgehenden Konstituente Maus die nächsthöhere Ebene. Diese Analyse impliziert, dass das Fugenelement enger zur vorausgehenden als zur nachfolgenden Konstituente gehört. Für diese Annahme spricht insbe­ sondere die Beobachtung, dass Fugenelemente von der ersten Konstituente bestimmt werden. So verbindet sich ein Wort, wenn es als erste Konstituen­ te eines Kompositums oder Derivatums auftritt, in der Regel immer mit demselben Fugenelement. So verbindet sich Arbeit immer mit dem Fugen­ element -s- (z. B. arbeit�/os, Arbeit�agentur, Arbeit�ericht), Liebe immer mit dem Fugenelement -es- (z. B. Liebeserklärung, Liebesbrief, Liebeskummer) und Hund immer mit dem Fugenelement

-e-

(z. B. hund�müde, Hund�besit­

zer, Hund�abteJ). Welches Fugenelement zwischen den zwei unmittelbaren Konstituenten eines komplexes Wortes auftritt, wird also von der ersten Konstituente festgelegt, die zweite Konstituente hat hingegen keinen Ein­ fluss darauf. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache, ist es plausibel, das Fu­ genelement zusammen mit der ersten unmittelbaren Konstituente zu einer höheren Konstituente zu verbinden.

tl:n

Übungen

1. Erläutern Sie kurz den Unterschied zwischen den morphologischen Pro­

zessen Flexion und Wortbildung, indem sie auf ihre unterschiedlichen Funktionen im Sprachsystem eingehen. 2. Segmentieren Sie die folgenden Wörter in ihre einzelnen Morpheme und

bestimmen Sie den Morphemtyp (Wuzel, Präfix, Suffix, Zirkumfix): Freiheit, gekauft, Feier, Durchsicht, Versuchung, Sprung, Belastbarkeit, Maler, Abfahrt, Gezerre. 3. Erstellen Sie für die folgenden Wörter je eine Konstituentenstruktur:

Bundesgartenschau, Belagerungsring, Unanfechtbarkeit, Fußballanhän­ ger.



Lektüre zur Vertiefung

Meibauer et al. (2007) (Erläuterung zur Konstituentenanalyse)

2. Die Nominalflexion des Deutschen:

Wort- und Flexionskategorien Wie bereits in Kapitell erläutert, bezeichnet die Nominalflexion die Flexion von Wörtern, die nach den Flexionskategorisierungen Kasus, Numerus und Genus deklinieren. Auch wenn diese drei Flexionskategorisierungen in einem ,Atemzug' genannt werden, sind sie unterschiedlich gelagert bzw. mo­ tiviert. Während Kasus syntaktisch begründet ist, ist Numerus eher inhaltlich motiviert. Beim Genus handelt es sich schließlich um eine lexikalische Eigen­ schaft von Substantiven, die von diesen auf die Substantivbegleiter Artikel­ wörter und Adjektive übertragen wird und nur als Flexionskategorisierung dieser zwei Wortkategorien gilt. Genus ist hingegen keine Flexionskategori­ sierung von Substantiven, da jedes Substantiv ein festes Genus hat und dieses nicht verändert.

2.1 Kasus, Numerus und Genus Der Kasus ist insofern eine syntaktisch motivierte Flexionskategorisierung,

Kasus, Numerus und

als er durch seine Umgebung im Satz bestimmt ist. In welchem Kasus ein

Genus sind unter­

nominalflektiertes Wort steht, hängt von seiner Funktion bzw. von anderen Elementen im Satz ab. So stehen Subjekte im Nominativ, direkte Objekte überwiegend im Akkusativ und indirekte Objekte in der Regel im Dativ. Wird ein nominalflektiertes Wort etwa von einer Präposition regiert, erhält es den Kasus, den die regierende Präposition vergibt. Die Entscheidung für einen Numerus erfolgt abhängig von der Kommunikationsabsicht. Man wählt den Singular, wenn man in der Rede auf ein Objekt, und den Plural, wenn man auf mehrere Objekte in der außersprachlichen Realität referiert. Wie bereits oben erwähnt ist das Genus eine Flexionskategorisierung der Substativbegleiter, nicht des Substantivs selbst. Die Variabilität, die den Ka­ sus und den Numerus kennzeichnet, fehlt beim Genus von Substantiven. Streng genommen flektieren Substantive nach Kasus und Numerus. Unabhängig vom Status der Flexionskategorisierungen können wir fest­ halten, dass Sätze und Texte aus Verknüpfungen von Wortformen bestehen, die bestimmte Flexionseigenschaften aufweisen. Um Wortformen der No­ minalflexion adäquat erfassen zu können, müssen sie daher sowohl unter paradigmatischen als auch syntagmatischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Ersterer Aspekt ist ein formal-morphologischer und betrifft den For­ menbestand selbst einschließlich der Flexionsmarkierungen, die zur Kenn­ zeichnung der Formen gebraucht werden. Relevant auf der anderen Seite sind die syntaktischen Bedingungen, unter denen diese Formen in der Rede eingesetzt werden. Auf den paradigmatischen Aspekt der Nominalflexion wird in diesem Kapitel eingegangen. Der syntagmatische Aspekt ist Gegen­ stand des Kapitels 4.

schiedlich motiviert

24

2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien

Wie bereits in Kapitell erwähnt, werden die Wortformen eines Lexems in einem Paradigma zusammengefasst. Jede Wortform eines Paradigmas weist ein Bündel von Flexionskategorien auf. Die Wortformen unterschei­ den sich darin, dass sie abhängig von ihren Flexionskategorien verschiede­ ne Markierungen tragen können. In der Nominalflexion wird hauptsächlich von der Suffigierung Gebrauch gemacht. Orientiert man sich an dem Bestand der Suffixe, die an die nominalflek­ tierenden Wörter treten, kommt man zur Unterteilung in substantivische Flexion, pronominale Flexion und adjektivische Flexion. Wie inKapitel 4 se­ hen werden, sind diese drei Flexionstypen weitgehend aufeinander abge­ stimmt und ergänzen sich sehr gut im Syntagma.

2.2 Das Substantiv Mit der substantivischen Flexion wird das flexionsmorphologische Verhal­ ten von Substantiven bezeichnet. An Substantive treten Flexive, die Kasus und/oder Numerus anzeigen. Da Substantive genusinvariabel sind, sind die "Formen eines [Substantiv]Paradigmas [ ... ] insgesamt entweder Maskulina, Feminina oder Neutra" (Eisenberg 2004: 152). Femininum

Maskulinum

Neutrum

Singular

Plural

Singular

Plural

Singular

Plural

Nom.

Stift

Stifte

Frau

Frauen

Brett

Bretter

Akk.

Stift

Stifte

Frau

Frauen

Brett

Bretter

Dat.

Stift

Stiften

Frau

Frauen

Brett

Brettern

Gen.

Stiftes

Stifte

Frau

Frauen

Bretts

Bretter

Tabelle 4: Substantivparadigmen in den drei Genera Eine Gemeinsamkeit, die die Paradigmen in Tabelle 4 zeigen, ist die Wie­ derholung der Wortformen: Für die acht Positionen des Paradigmas stehen bestenfalls vier morphologisch distinkte Formen zur Verfügung. Diesen For­ menzusammenfall haben wir oben bereits als Synkretismus bezeichnet, der typisch für flektierende Sprachen wie das Deutsche ist. Eine weitere Ge­ meinsamkeit ist, dass in allen drei Genera der Plural markiert wird: durch -e

(Stift�), -er (Bretter) oder -en (Frauen). Dadurch ist am Substantiv selbst er­ kennbar, ob es sich hierbei um Singular oder Plural handelt. Bei der Mehr­ heit der Substantive trägt die Pluralform eine Markierung, die sie als solche kenntlich macht. Zur Markierung des Plurals bei Substantiven werden ne­ ben den Suffixen -e, -er und -en das Suffix -s (Auto�) und der Umlaut ver­ wendet. Dabei wird, wie bereits an früherer Stelle erwähnt, der Umlaut als alleinige Markierung (z. B. L!iden) oder in Kombination mit den Suffixen -e (z. B. HQt�) und -er (z. B. W!ilder) gebraucht. Bei einigen Substantiven ist die Pluralform identisch mit der Grundform. Dies betrifft zu einem großen Teil Maskulina und Neutra, deren Stamm auf -er, -eI oder -en auslautet (Messer (Sg.)

-

Messer (PI.), Zettel (Sg.)

-

Zettel (p1.), Tropfen (Sg.)

-

Tropfen (PI.)).

2.2 Das Substantiv

Während die Wortformen eines Substantivs hinsichtlich Numerus hinrei­ chend ausdifferenziert sind, verhält es sich beim Kasus etwas anders. Im besten Fall liegt innerhalb eines Numerus eine einzige Kasusdifferenzierung vor. Im Singular des Maskulinums und Neutrums ist es die Genitivform, die als einzige eine Kasusmarkierung trägt und so von allen anderen Kasusfor­ men des Singulars unterschieden wird (Stiftes, Kindes); im Plural ist es die Dativform (Stifte!!., Kinder!!.). Im Paradigma des Femininums fehlt hingegen die Kasusdifferenzierung in den meisten Fällen vollkommen. Das Paradigma der Mehrheit der femininen Substantive enthält lediglich zwei morpholo­ gisch distinkte Formen: eine Singularform (z. B. Frau) und eine Pluralform (z. B. Frauen) jeweils für alle vier Kasus. Dass am Substantiv die morphologische Differenzierung nach Numerus deutlich besser ausgeprägt ist als nach Kasus, ist das Ergebnis einer langen sprachhistorischen Entwicklung. Seit dem Indogermanischen, der ältesten Sprachstufe, auf die das Deutsche zurückgeführt kann, werden Kasusmarkierungen am Substantiv sukzessive abgebaut. Die Folge ist eine weitgehende Angleichung der Kasusformen im Paradigma des Substantivs. Die letzte Kasusmarkierung, die das deutsche Substantiv aufgegeben hat, ist das Suffix

-e zur Anzeige des Dativs im Singular von Maskulina und Neutra (dem Mann�- dem Kind!t). Dativformen mit dem Suffix -e begegnen uns im Ge­ genwartsdeutschen nur noch in festen Wendungen (z. B. im Grund!t, im Fall!t). Die Anzeige von Kasus gehört also im Gegenwartsdeutschen nicht zur Hauptaufgabe des Substantivs. Dieser Trend setzt sich fort. Inzwischen sind auch Genitivformen des Singular Maskulinum und Neutrum betroffen. So tragen Eigennamen auch standardsprachlich kein Genitiv-s (z. B. Oie Karrie-

re des Jürgen Klinsmann). Auch bei eigennamenähnlichen Substantiven wird zunehmend auf das Genitiv-s verzichtet (z. B. des Barock, des Islam). Der stetige Kasusabbau am Substantiv ging mit der Verlagerung der Kasusmarkierung auf die sogenannten Substantivbegleiter einher. So wird der Kasus hauptsächlich am Artikelwort oder am Adjektiv und nur selten am Substantiv selbst markiert (z. B. mit dem guten Gewissen, mit gutem Gewissen). In der Forschungsliteratur wird in diesem Zusammenhang von "Kasusnivellierung" am Substantiv gesprochen (Nübling 2006: 58). Der Kasusnivellierung steht die Numerusprofilierung gegenüber. Während Kasusmarkierungen am Substantiv stetig abgebaut werden, wird die morpho­ logische Differenzierung zwischen dem Singular und dem Plural vorangetrie­ ben. Die Stärkung des Numerus lässt sich u. a. an der Entwicklung des Umlauts als Pluralmarker illustrieren. So wurden im Alt- und Mittelhochdeutschen Sub­ stantive wie Lamm zunächst aus phonologischen Gründen auch im Dativ und Genitiv Singular umgelautet. Im Laufe der Sprachgeschichte entfiel der Um­ laut bei den Singularformen dieser Substantive, während die Pluralformen ihn beibehielten. Der Umlaut wurde dann zu einem wichtigen morphologischen Mittel zur Anzeige des Plurals bei Substantiven (z. B. Laden- Ljiden, Garten­

Gjirten). Im Gegenwartsdeutschen ist der Umlaut zur Pluralmarkierung sehr produktiv. Insbesondere im südlichen deutschsprachigen Gebiet ist die Ten­ denz deutlich erkennbar, den Plural von Maskulina und Neutra, die kein Plu­ ralsuffix tragen können, durch den Umlaut zu bilden (z. B. Wagen - Wjigen,

Pfosten- PfQsten). Feminina sind vom Umlaut als Pluralmarker so gut wie un­ berührt geblieben. Mütter und Töchter sind die bekanntesten Feminina, die

Kasusabbau vs. Numerusausbau

2S

26

2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien

den Umlaut angenommen haben und als Ausnahme gelten. Dass der Umlaut Maskulina und Neutra, aber keine Feminina erfasst hat, scheint daran zu lie­ gen, dass Substantive der ersten zwei Genera deutlich häufiger als Feminina kein Pluralsuffix tragen und daher auf den Umlaut als einzige Pluralmarkie­ rung angewiesen sind. So bleiben Maskulina und Neutra, die auf -er oder -eI auslauten, im Plural suffixlos (Messer-Messer, Zettel-Zette�, während Femi­ nina beim gleichen Auslaut das Pluralsuffix -ntragen (z. B. Schwester-Schwe­

ster!2, Hantel-Hantel!2)' die Relevanz-

Diese gegensätzlichen Tendenzen in der Entwicklung der Substantivflexion

hierarchie

hängen damit zusammen, dass die semantische Relevanz von Kasus und Nu­ merus für Substantive unterschiedlich zu werten ist. Während Numerus die Bedeutung eines Substantivs dahingehend modifiziert, dass dieses entweder auf ein oder mehrere Objekte referiert, beeinflusst Kasus ein Substantiv ledig­ lich im Hinblick auf seine syntaktische Funktion und somit die Rolle des Refe­ renten in einer Handlung, z. B. ob der Referent bei der Aktion des Schließens in

das Kind schließt die Tür die Handlung ausführt (das Kind) oder die Handlung übersich ergehen lässt (die Tür). Die Markierung dieser unterschiedlichen Rol­ len in einer Handlung ist die Funktion von Kasus. Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede gilt Numerus als für das Substantiv inhaltlich relevanter denn Ka­ sus. Es wird angenommen, dass inhaltlich relevantere Kategorien eher mor­ phologisch angezeigt werden und gegenüber dem Abbau resistenter sind als solche mit niedrigerer inhaltlicher Relevanz. Dieses Relevanzverhältnis spie­ gelt sich auch in der I inearen Anordnung der Numerus- und Kasussuffixe wie­ der. Die Numerussuffixe nehmen im Substantiv die innere, die Kasussuffixe die äußere Position ein (z. B. Kind-er-!2). Dass Kasusflexion durch Funktions­ wörter wie Artikelwörter (z. B. dem Mann) oder Präpositionen (z. B. die Werke

Coethes vs. die Werke von Coethe) übernommen wird, ist auch weitaus übli­ cher als die Realisierung des Numerus durch Funktionswörter.

2.3 Das Artikelwort Mit Artikelwörtern werden jene Wörter bezeichnet, die einem Substantiv vorangehen und mit diesem in Kasus, Numerus und Genus kongruieren, d.h. übereinstimmen, aber keine Adjektive sind. Artikelwörter können nach ihrer Semantik u.a. in definite (der, die, das), indefinite (ein, kein) demons­ trative (dieser, diese, dieses) und possessive Artikelwörter (mein, dein, sein) unterteilt werden. Sie folgen in ihrer Deklination der pronominalen Flexion. Mit pronominaler Flexion wird nicht nur die Flexion von Pronomina, son­ dern ein bestimmtes Flexionsmuster bezeichnet, das neben den Pronomina selbst auch Artikelwörter und Adjektive aufweisen. An ein Artikelwort, z. B. das demonstrative Artikelwort dies-, können die fol­ genden Suffixe angehängt werden: -e, -er, -es, -en und -em. Wie wir weiter un­ ten sehen werden, sind dies auch die Suffixe, die auch an Pronomina und an Adjektive treten. Dieser Flexionstyp wird als pronominal bezeichnet, da die damit verbundenen Suffixe ursprünglich an Pronomina traten, bevor sie im Laufe der Sprachgeschichte auch Artikelwörter und Adjektive erfassten. Demonstratives Artikelwort

Am Beispiel des demonstrativen Artikelwortes dies- soll das Paradigma des Artikelwortes veranschaulicht werden:

2.3 Das Artikelwort

Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

dieser

diese

dieses

diese

Akk.

diesen

diese

dieses

diese

Dat.

diesem

dieser

diesem

diesen

Gen.

dieses

dieser

dieses

dieser

Tabelle 5: Flexionsparadigma des demonstrativen Artikelwortes Das Paradigma des Artikelwortes enthält 16 Positionen und ist somit dop­ pelt so groß wie das Substantivparadima. Dies liegt wie bereits oben er­ wähnt daran, dass Artikelwörter im Unterschied zu Substantiven auch nach Genus flektieren. Im Singular stehen für jedes Genus vier Kasusposi­ tionen zur Verfügung. Wie aber auch im Falle des Substantivs ist das Para­ digma von Artikelwörtern durch Synkretismen gekennzeichnet. Es verteilen sich lediglich fünf morphologisch distinkte Formen auf die 16 Positionen des Paradigmas. So steht beispielsweise die Form dieser für Nominativ Sin­ gular Maskulinum, Dativ und Genitiv Singular Femininum und Genitiv Plural. Demgegenüber ist im Paradigma keine Form enthalten, die für ein einziges Kategorienbündel steht. Betrachtet man die Flexionskategorisie­ rungen einzeln, fällt auf, dass die Form diesem die einzige Form ist, die eindeutig im Hinblick auf ihren Kasus, spezifiziert ist: Das Suffix -em steht immer für den Dativ - Maskulinum oder Neutrum. Keine der übrigen For­ men bzw. Suffixe kann eindeutig einer Flexionskategorie zugeordnet wer­ den. Auffällig am Paradigma des Artikelwortes ist weiterhin, dass alle drei Fle­ xionskategorisierungen Kasus, Numerus und Genus in einem Wort durch ein Suffix angezeigt werden. Man spricht davon, dass die Kategorien in einem Suffix fusionieren, d. h. verschmelzen. Flektierende Sprachen wie das Deutsche werden aufgrund dieser Eigenschaft auch fusionierende Sprachen genannt. Die Flexion von Artikelwörtern wird oft am Paradigma des demonstrativen Artikelwortes dies- illustriert, weil hier im Vergleich zum definiten, indefiniten und possessiven Artikelwort die formal-morphologischen Verhältnisse am besten veranschaulicht werden können. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, zeigt ein Blick auf die Paradigmen der weiteren Artikelwörter. Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

der

die

das

die

Akk.

den

die

das

die

Dat.

dem

der

dem

den

Gen.

des

der

des

der

Tabelle 6: Flexionsparadigma des definiten Artikels

Definites Artikelwort

27

28

2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien

Im Unterschied zum demonstrativen Artikelwort dies- lassen sich die For­ men des definiten Artikels der aufgrund ihrer Einsilbigkeit nicht in Stamm und Suffix segmentieren. Eine Ermittlung des Formenbestandes der prono­ minalen Flexion wäre auf der Grundlage des Paradigmas des definiten Arti­ kelwortes nicht ohne weiteres möglich, da sich hier Stamm und Suffix zu einer unzertrennbaren Einheit verschmelzen. Abgesehen von diesem Unter­ schied ist in den zwei Paradigmen eine weitgehende formale Überein­ stimmung zu erkennen, die hauptsächlich darin liegt, dass die Verteilung der Konsonanten und Vokale im Auslaut bei beiden Artikelwörtern identisch ist. Indefinites, possessi­

Auch die Paradigmen des indefiniten, possessiven und Negations-Artikel­

ves und Negations­

wortes eignen sich nur bedingt für die Darstellung des Formeninventars der

Artikelwort

pronominalen Flexion. Dies liegt daran, dass bestimmte Positionen im Para­ digma dieser Artikelwörter unflektierte Stämme enthalten, wie das folgende Paradigma zeigt:

PI.

Sg. Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

(k)ein/mein

(k)eine/meine

(k)ein/mein

keine/meine

Akk.

(k)einen/meinen

(k)eine/meine

(k)ein/mein

keine/meine

Dat.

(k)einem/meinem

(k)einer/meiner

(k)einem/meinem

keinen/meinen

Gen.

(k)eines/meines

(k)einer/meiner

(k)eines/meines

keiner/meiner

Tabelle 7: Flexionsparadigmen des indefiniten, possessiven und Negations­ artikelworts Semantisch bilden indefinite, possessive und Negations-Artikelwörter (ein,

mein, kein) drei unterschiedliche Klassen. Formal-morphologisch lassen sie sich in einem Paradigma zusammenfassen. Das Kennzeichen dieses Para­ digmas ist, dass es im Vergleich zu den Paradigmen der anderen Artikelwör­ ter defektiv ist, und zwar dahingehend, dass die Formen des Nominativ Sin­ gular Maskulinum und des Nominativ und Akkusativ Singular Neutrum kein Suffix tragen (ein, mein, kein). In den restlichen Positionen stimmen die Formen in ihrer formalen Kennzeichnung mit den Formen des demons­ trativen und definiten Artikelwortes überein.

2.4 Das Pronomen Pronomina folgen wie Artikelwörter dem pronominalen Flexionsmuster. Aufgrund ihres ähnlichen Flexionsverhaltens werden sie oft zu einer Klasse zusammengefasst, wie dies u.a. in der Duden-Grammatik (2009) der Fall ist. Geht man jedoch vom syntaktischen Gebrauch aus, lassen sich Arti­ kelwörter und Pronomina unterschiedlichen Klassen zuordnen. Diese Diffe­ renzierung basiert darauf, dass diese zwei deklinierbaren Wortkategorien unterschiedliche Funktionen in der Nominalphrase erfüllen. Während Arti-

2.4 Das Pronomen

kelwörter lediglich als Begleiter von Substantiven fungieren, stehen Prono­ mina stellvertretend für die gesamte Nominalphrase, d.h. sie ersetzen diese. Dieser Unterschied kann u.a. am Beispiel des Demonstrativums dies­ erklärt werden.

(1) Diese Wohnung gefällt mir gut. (2) Diese gefällt mir gut. In Beispiel 1 tritt das Demonstrativum diese als Begleiter des Substantivs

Wohnung auf und ist daher als Artikelwort anzusehen. In Beispiel 2 hinge­ gen ersetzt diese die gesamte Nominalphrase diese Wohnung. Wir sprechen daher im ersten Fall vom demonstrativen Artikelwort, im zweiten vom De­ monstrativpronomen. Betrachtet man das Paradigma des Demonstrativpronomens dies-, fällt auf, dass es identisch mit dem des demonstrativen Artikelwortes ist:

Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

dieser

diese

dieses

diese

Akk.

diesen

diese

dieses

diese

Dat.

diesem

dieser

diesem

diesen

Gen.

Demonstrativpronomen

dieser

dieser

Tabelle 8: Flexionsparadigma des Demonstrativpronomens

Der Zusammenfall des Demonstrativpronomens und des demonstrativen Artikelwortes sowohl flexionsmorphologisch als auch in Bezug auf den lexi­ kalischen Stamm dies- lässt die oben erwähnte Zusammenfassung von Arti­ kelwörtern und Pronomina zu einer Wortkategorie verständlich erscheinen. Wir wollen jedoch mit Engel (2004) aufgrund der bereits erläuterten Unter­ schiede zwischen Artikelwörtern und Pronomina im syntaktischen Ge­ brauch Pronomina als eine eigene Wortkategorie ansehen. Die Definition von Pronomina verlangt also eine hinreichende Abgren­ zung zur Klasse der Artikelwörter. Diese Unterscheidung können wir auf die folgende einfache Formel bringen: Pronomina stehen stellvertretend für eine gesamte Nominalphrase und sind dadurch in ihrer Verwendung auto­ nom, während Artikelwörter immer Substantive begleiten. Es lassen sich mehrere Subklassen von Pronomina unterscheiden. Wir wollen uns im Folgenden auf die wichtigsten beschränken: Demonstrativ-, Possessiv-, Relativ-, und Personalpronomina. Das Flexionsparadigma des Demonstrativpronomens haben wir bereits oben kennengelernt und dabei eine vollständige Übereinstimmung mit den Formen des demonstrativen Ar­ tikelwortes festgestellt. Auch das Possessivpronomen und das possessive Artikelwort teilen densei ben lexikalischen Stamm. Flexionsmorphologisch unterscheiden sie sich in drei Positionen des Paradigmas:

Possessivpronomen

29

30 2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

meiner

meine

meines

meine

Akk.

meinen

meine

meines

meine

Dat.

meinem

meiner

meinem

meinen

Gen.

meiner

meiner

Tabelle 9: Flexionsparadigma des Possessivpronomens Im Singular Maskulinum und Neutrum weist das Possessivpronomen im No­ minativ bzw. im Nominativ und Akkusativ eine andere Form als das posses­ sive Artikelwort auf, wie es aus den folgenden Beispielen hervorgeht;

(3) Ist das mein Becher? Nein, das ist deiner. (4) Ist das dein Buch? Ja, das ist meines. (5) Hast du mein Buch gesehen? Nein, ich habe nur meines gesehen. Das possessive Artikelwort besitzt in den drei genannten grammatischen Po­ sitionen jeweils eine nicht flektierte Form des Possessivums, also mein im Nominativ Singular Maskulinum sowie im Nominativ und Akkusativ Singu­ lar Neutrum. Das Possessivpronomen weist hingegen in diesen Positionen eine flektierte Form auf: meiner bzw. meines. Dieser flexionsmorphologi­ sche Unterschied hängt mit den unterschiedlichen Funktionen von Artikel­ wörtern und Pronomina in der Nominalphrase zusammen und legt nahe, Pronomina einer eigenen Wortkategorie zuzurechnen. Alles, was bisher über das Possessivpronomen mein gesagt wurde, gilt auch für das Negationspronomen kein. Paradigmatisch gesehen weisen bei­ de Untertypen von Pronomina dieselben Flexionsendungen auf, und ihr For­ meninventar unterscheidet sich in identischer Weise von dem des jeweili­ gen Artikelwortes. Relativpronomen

Auch das Relativpronomen teilt seinen lexikalischen Stamm mit einem Artikelwort, nämlich mit dem definiten Artikelwort.

Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

der

die

das

die

Akk.

den

die

das

die

Dat.

dem

der

dem

denen

Gen.

dessen

deren/derer

dessen

deren/derer

Tabelle 10: Flexionsparadigma des Relativpronomens Im Genitiv aller drei Genera und im Plural sowie im Dativ Plural weist das Relativpronomen andere Flexionsformen als das Artikelwort auf. Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede kann der Zusammenfall des Relativprono­ mens und des definiten Artikelwortes in den anderen Positionen eher als zu-

2.4 Das Pronomen

fällig betrachtet und das Relativpronomen als eigenständige Wortkategorie angesehen werden. Wie alle anderen Pronomina steht auch das Relativpronomen stellvertre­ tend für eine Nominalphrase. Ein Relativpronomen nimmt Bezug auf eine Nominalphrase, die ihm vorangeht, und ist ein Satzglied des untergeordne­ ten Relativsatzes, und nicht des Hauptsatzes, in dem das Bezugssubstantiv steht.

(6) Der Baum, der gestern gefällt wurde. (7) Der Baum, den man gestern gefällt hat. So erfüllt das Relativpronomen der in (6) die Funktion des Subjekts des Rela­ tivsatzes; das Relativpronomen den in (7) fungiert als Objekt desselben. Während alle anderen Pronomina den Kasus, den Numerus und das Genus der Nominalphrase, die sie ersetzen, übernehmen, verhält es sich beim Re­ lativpronomen in dieser Hinsicht etwas anders. Ein Relativpronomen folgt in seinem Numerus und seinem Genus dem Bezugssubstantiv; sein Kasus richtet sich aber nach seiner Funktion im untergeordneten Relativsatz. So stimmen der bzw. den in (6-7) in ihrem Numerus und Genus mit Baum überein. Ihr Kasus richtet sich aber nach ihrer Funktion im Relativsatz. Während Demonstrativ-, Possessiv- und Relativpronomina ihren lexikalischen Stamm mit Artikelwörtern teilen, haben Personalpronomina außer im Genitiv exklusive Formen. Die Formen des Personalpronomens variieren zum einen nach Kasus, Numerus und Genus (ich/mich/mir, ich/wir, er/siel

es), zum anderen nach Person (ich/du/er, sie, es; wir/ihr/sie). Dabei werden nur die Formen der 3. Person nach Genus differenziert. Daher werden die Formen der 1. und 2. Person und die der 3. Person in zwei verschiedenen Paradigmen dargestellt:

2. Person

1. Person

2. Person

Singular

Plural

Singular

Plural

Distanzform

Nom.

ich

wir

du

ihr

Sie

Akk.

mich

uns

dich

euch

Sie

Dat.

mir

uns

dir

euch

Ihren

Gen.

mein(er)

unser

dein(er)

euer

Ihrer

Plural

Singular Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

er

sie

es

sie

Akk.

ihn

sie

es

sie

Dat.

ihm

ihr

ihm

ihren

Gen.

sein(er)

ihrer

sein(er)

ihrer

Tabelle 11: Flexionsparadigma des Personalpronomens

Personalpronomen

31

32

2.

Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien Auffällig im Paradigma des Personalpronomens aller drei Personen ist, dass die Genitivformen in allen Positionen identisch mit dem lexikalischen Stamm des Possessivums sind. Die Verwendung der Personalpronomina im

wir gedenken seiner) und ist insbeson­ Vergissmeinnicht oder meinetwegen belegt. Inzwischen regiert das Verb vergessen den Akkusativ (vergiss mich nichtf) und nicht den Genitiv. Nach genitivregierenden Präpositionen wie wegen wird ein Personalpronomen im Dativ, nicht die veraltete Genitivform mei­ neroder seiner gewählt (wegen mir; wegen ihm). Genitiv gilt jedoch als veraltet (z.B.

dere in festen Wendungen wie

Dass im Paradigma des Personalpronomens nur in der 3. Person nach Genus differenziert wird, hängt damit zusammen, dass nur die Pronomina der 3. Person eine Verweisfunktion haben wie die anderen Pronomina auch (z.B. Demonstrativ- und Possessivpronomina). Denn nur in der dritten Per­ son können Pronomina Größen benennen, die auch durch Substantive un­ terschiedlicher Genera benannt werden können, wie in den folgenden Bei­ spielen deutlich wird:

(8) Der Wagen/Die Wohnung/Das Buch ist teuer. (9) Er/sie/es ist teuer. Die Pronomina der 1. und 2. Person

(ich, wir, du, ihr; Sie) haben hingegen

keine Verweisfunktion. Sie werden auch Partnerpronomina genannt, da sie in der 1. Person den Sprecher bzw. Schreiber bezeichnen, in der 2. Person den Adressaten, d. h. den Hörer bzw. den Leser.

2.5 Das

Adjektiv

Paradigmatisch gesehen unterscheidet sich das Adjektiv von allen anderen deklinierbaren Wortkategorien dadurch, dass es zwei unterschiedlichen Fle­ xionsmustern folgt: einem pronominalen und einem adjektivischen. Wie aus dem folgenden Paradigma hervorgeht, ist das Formeninventar des pro­ nominalen Flexionsmusters weitgehend identisch mit dem von Artikelwör­ tern bzw. Pronomina.

Adjektiv: pronominale Flexion

Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

kleiner

kleine

kleines

kleine

Akk.

kleinen

kleine

kleines

kleine

Dat.

kleinem

kleiner

kleinem

kleinen

Gen.

kleinen

kleiner

kleinen

kleiner

Tabelle 12: pronominale Adjektivflexion Die Adjektive des pronominalen Flexionsmusters tragen dieselben Endun­ gen wie etwa das demonstrative Artikelwort

dies-. Diese formale Ähnlich­

keit erklärt sich aus der Position, die Artikelwörter und Adjektive relativ

2.5

Das Adjektiv 33

zum Substantiv, mit dem sie eine Nominalphrase bilden, einnehmen bzw. der Funktion, die diese in der Nominalphrase erfüllen. Dies soll an den fol­ genden Beispielen ausgeführt werden:

(10) Dieses Wetter! (11) Wunderbares Wetter! In den Beispielen (10-11) treten das demonstrative Artikelwort dieses bzw. das Adjektiv wunderbares unmittelbar vor dem Substantiv Wetter auf. Beide Wörter weisen dieselbe Flexionsendung auf: -es, die wiederum durch den Kasus, Numerus und Genus des Substantivs Wetter bedingt ist. Auf die Ver­ teilung der Flexionsendungen auf die einzelnen Komponenten der Nomi­ nalphrase wird in Kapitel 4.2 eingegangen. Nur im Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum weichen die Formen des Adjektivs von denen des demonstrativen Artikelwortes ab: Anstatt der Endung -es weist das Adjektiv in diesen zwei grammatischen Positionen die Endung -en auf. Auf die Frage, warum sich das Adjektiv in seinem pronominalen Flexionsmuster genau in diesen zwei Positionen vom de­ monstrativen Artikelwort unterscheidet, wird in Kapitel 4.3 eingegangen. Das Paradigma der adjektivischen Flexion enthält im Vergleich zu prono­ minal flektierten Adjektiven viel weniger formale Differenzierungen. Es werden lediglich zwei Formen unterschieden: Die Adjektive tragen entwe­ der die Endung -e oder -en.

Sg.

PI.

Mask.

Fem.

Neutr.

Nom.

kleine

kleine

kleine

kleinen

Akk.

kleinen

kleine

kleine

kleinen

Dat.

kleinen

kleinen

kleinen

kleinen

Gen.

kleinen

kleinen

kleinen

kleinen

Tabelle 13: Flexionsparadigma der adjektivischen Flexion Die adjektivisch flektierten Formen im Maskulinum Singular teilen ihr Fle­ xionsverhalten mit einer kleinen Gruppe von Substantiven: den sogenann­ ten schwachen Maskulina wie z. B. Bote und Biologe.

Sg.

PI.

Nom.

der zuverlässige Bote

die zuverlässigen Boten

Akk.

den zuverlässigen Boten

die zuverlässigen Boten

Dat.

dem zuverlässigen Boten

den zuverlässigen Boten

Gen.

des zuverlässigen Boten

der zuverlässigen Boten

Tabelle 14: Flexionsparadigma schwacher Substantive

Adjektiv: adjektivi­ sche Flexion

34 2. Die Nominalflexion des Deutschen: Wort- und Flexionskategorien Betrachtet man die Formen des Adjektivs zuverlässig und des Substantivs

Bote fällt eine vollständige Übereinstimmung in den Endungen auf. Diese Übereinstimmung ist nicht zufällig. Dieses Flexionsmuster geht auf dieselbe indogermanische bzw. germanische Deklinationsklasse, die sogenannte n­ Deklinationsklasse, zurück. Die stark reduzierte Formenvielfalt in der adjektivischen gegenüber der pronominalen Flexion hat sprachökonomische Gründe. Formen des adjekti­ vischen Paradigmas werden verwendet, wenn vor dem Adjektiv bereits ein pronominal flektiertes Wort, z. B. ein Artikelwort, steht:

(12) Dieses wunderbare Wetter! (13) Wunderbares Wetter! Die Wahl der adjektivisch flektierten Form wunderbare ist insofern sprach­ ökonomisch motiviert, als an dieses Adjektiv nicht die pronominale Endung

-es angehängt wird, da sie bereits am demonstrativen Artikelwort dieses er­ scheint. Auf die Verteilung der Adjektivformen aus den zwei Paradigmen in der Nominalphrase wird in Kapitel 4.2 eingegangen. Bisher haben wir, um die zwei Flexionsmuster von Adjektiven zu unter­ scheiden, von pronominaler und adjektivischer Flexion gesprochen. Tat­ sächlich legt diese terminologische Unterscheidung die flexionsmorpho­ logischen Verhältnisse

offen, die

hier

vorliegen:

Die

Endungen

der

pronominal flektierten Adjektive sind identisch mit den Endungen der Arti­ kelwörter bzw. Pronomina. Auch sprachhistorisch gesehen ist zu belegen, dass die Adjektive nach und nach die pronominalen Endungen übernom­ men hatten. Insofern sind diese Adjektivformen nicht genuin adjektivisch. Vielmehr ist das Flexionsset von den Pronomina bzw. Artikelwörtern ,ge­ borgt'. Demgegenüber teilen die adjektivisch flektierten Formen ihren Fle­ xionsset mit einer Gruppe von Substantiven, die eine sehr kleine Gruppe mit einem für die Substantivdeklination im Gegenwartsdeutschen atypi­ schen Flexionsverhalten darstellt. Obwohl die Bezeichnungen pronominal und adjektivisch in der Sache selbst gut begründbar und nachvollziehbar sind, hat sich für die zwei Fle­ xionsmuster des Adjektivs seit Jakob Grimm die Dichotomie starke vs. schwache Flexion durchgesetzt. Die Bezeichnungen stark und schwach ha­ ben nur wenig mit dem Wesen dieser beiden Flexionsmuster zu tun. Es sind bloße Etiketten. Wir wollen hier an unserer terminologisch besser nachvoll­ ziehbaren Unterscheidung pronominale vs. adjektivische Flexion festhalten, wenn es um die zwei Flexionsmuster des Adjektivs geht.

tbJ

Übungen

1. Begründen Sie, warum das Genus im Unterschied zum Numerus und Ka­

sus keine Flexionskategorisierung des Substantivs ist. 2. Inwiefern kann die Anzeige der Numerusunterscheidung als Hauptaufga­

be der substantivischen Flexion angesehen werden? 3. Was wird unter der Dichotomie Numerusprofilierung vs. Kasusnivellie­

rung verstanden, wenn es um die diachrone Entwicklung der substantivi­ schen Flexion geht?

2.5 Das Adjektiv

4. Was wird mit substantivischer, pronominaler und adjektivischer Flexion

bezeichnet? Wie lässt sich aus Ihrer Sicht diese Dreiteilung der Nominal­ flexion begründen? 5. Erläutern Sie kurz, inwiefern das Paradigma des indefiniten, possessiven

und Negations-Artikelwortes im Vergleich zu den Paradigmen der anderen Artikelwörter als defektiv gilt. 6. Was spricht dafür, zwischen Artikelwörtern und Pronomina zu unterschei­

den, obwohl die zwei Wortkategorien formal-morphologisch weitgehend identisch sind?



Lektüre zur Vertiefung

Duden-Grammatik (2009) (die paradigmatischen Aspekte der Nominalfle­ xion werden ausführlich und gut verständlich beschrieben) Eisenberg (2000) (eine weniger ausführliche Darstellung, die aber dafür z. T. problematisierend ist und darüber hinaus sprachtheoretische Aspekte be­ rücksichtigt)

35

3. Die Nominalflexion des Deutschen:

systematische Aspekte und Flexionsklassen Nachdem wir in Kapitel 2 den Formenbestand der nominalflektierten Wort­ kategorien kennengelernt haben, widmet sich dieses Kapitel der Frage, in­ wiefern sich die Formen der einzelnen Paradigmen systematisieren lassen. Es geht darum zu zeigen, dass die Verteilung bzw. Organisation der Formen in den einzelnen Paradigmen, z.B. die verschiedenen Pluralsuffixe des Sub­ stantivs oder die Verteilung der pronominalen und adjektivischen Suffixe auf die verschiedenen Positionen des Paradigmas, nicht willkürlich ist, son­ dern zu einem Großteil einer Systematik folgt. Diese wollen wir im Folgen­ den erläutern und begründen.

3.1 Substantivische Flexion Genusgesteuerte Pluralallomorphie

Was das Substantiv angeht, haben wir weiter oben gesehen, dass die Anzei­ ge des Plurals durch verschiedene Suffixe, die wir Pluralallomorphe genannt hatten, erfolgt. Die Verteilung dieser Pluralallomorphe ist größtenteils ge­ nusgesteuert. So bilden nach Eisenberg (2004) 90% der morphologisch ein­ fachen Maskulina (z.B. Berg) und 70% der ebenso morphologisch einfa­ chen Neutra (z.B. Pferd) ihren Plural auf -e. Das Suffix -er dient vor allem der Pluralbildung bei Neutra; 20% der morphologisch einfachen Neutra (z.B. Kind) weisen im Plural dieses Suffix auf. Ein paar wenige Maskulina bilden ihren Plural auch auf -er (z.B. Geist). Bi Idet ein Substantiv seinen Plural auf -er und besitzt es einen umlautfähigen Stammvokal, wird es im­ mer umgelautet (z.B. Wälder, Bücher). Während die Pluralbildung beim größten Teil der Maskulina und Neutra durch -e oder -er erfolgt, stellt -(e)n das häufigste Pluralsuffix bei Feminina dar. Eisenberg (2004) zufolge bilden ca. 75% der morphologisch einfachen Feminina ihren Plural durch dieses Suffix. Dabei gelten -en und -n als zwei Varianten desselben Pluralsuffixes. Lautet der Substantivstamm auf e, el oder er aus, wird an das Substantiv -n angehängt (z.B. Matte!!., Hantel!!., Schwester!!.); andernfalls trägt es das Plu­ ralsuffix -en (z.B. Schriften). Diese quantitative Verteilung lässt erkennen, inwiefern die Wahl eines bestimmten Pluralsuffixes genusgesteuert ist. Anhand der Häufigkeitsvertei­ lung der Pluralsuffixe -e, -er und -(e)n lassen sich basierend auf der Ge­ nusunterscheidung zwei Klassen von Substantiven unterscheiden: Maskuli­ na und Neutra auf der einen und Feminina auf der anderen Seite. Erstere bilden ihren Plural bevorzugt durch die Suffixe -e oder -er, Letztere zeigen eine deutliche Präferenz für das Pluralsuffix -(e)n. Die zwei Gruppen von Substantiven verhalten sich nicht nur hinsichtlich der Wahl des Pluralsuffi­ xes, sondern auch im Hinblick auf ihre Kasusflexion, unterschiedlich. So weist das Paradigma prototypischer Feminina keine Kasusflexion auf:

3.1 Substantivische Flexion

Singular

Plural

Nom.

Frau

Frauen

Akk.

Frau

Frauen

Dat.

Frau

Frauen

Gen.

Frau

Frauen

Tabelle 15: Flexionsparadigma von FRAU Die prototypischen Feminina, also die Feminina, die ihren Plural auf -(e)n bilden, haben nur zwei paradigmatische Formen: eine im Singular (Frau) eine im Plural (Frauen). Es wird also nur die Numerusunterscheidung mor­ phologisch markiert. Dagegen wird die Kasusunterscheidung weder im Sin­ gular noch im Plural angezeigt. Die prototypischen Maskulina und Neutra, d. h. die, die ihren Plural auf

-e oder -er bilden, verhalten sich hinsichtlich der Numerus- und Kasusunterscheidung anders und lassen sich von den protypischen Feminina dadurch abgrenzen, dass einige ihrer Formen auch eine Kasusmarkierung aufweisen. Die Formen von Maskulina und Neutra tragen sowohl Numerus- als auch Kasussuffixe, die von Feminina hingegen nur Numerussuffixe. Im Unterschied zum Paradigma von Frau werden sowohl im Singular wie auch im Plural je zwei Kasusformen unterschieden.

Maskulinum

Neutrum

Singular

Plural

Singular

Plural

Nom.

Stift

Stifte

Brett

Bretter

Akk.

Stift

Stifte

Brett

Bretter

Dat.

Stift

Stiften

Brett

Brettern

Gen.

Stiftes

Stifte

Bretts

Bretter

Tabelle 16: Flexionsparadigmen von STIFT und BRETT Im Singular wird das Substantiv im Genitiv morphologisch markiert und da­ durch von den anderen Kasusformen differenziert wird (z. B. Stiftes vs. Stift,

Bretts vs. Brett), im Plural ist es die Dativform des Substantivs, die eine Ka­ susmarkierung trägt und sich so von den Pluralformen der anderen Kasus unterscheidet (Stiften vs. Stifte, Brettern vs. Bretter). Aufgrund ihres ähnlichen Verhaltens im Hinblick auf ihre paradigmati­ schen Formen können Maskulina und Neutra zu einer Klasse zusammenge­ fasst werden: der Klasse der Nicht-Feminina, die der Klasse der Feminina gegenübergestellt wird. Während bei ersterer Klasse sowohl Numerus- als auch Kasusunterscheidung vorliegt, betrifft die morphologische Unterschei­ dung bei letzerer Klasse lediglich den Numerus. Was bisher über die Verteilung der Pluralsuffixe auf die verschiedenen Ge­ nera und das unterschiedliche Verhalten von Nicht-Feminina und Feminina bezüglich der Kasus- und Numerusunterscheidung gesagt wurde, trifft zwar

Feminina vs. Nicht­ Feminina

37

38 3. Die Nominalflexion des Deutschen: systematische Aspekte und Flexionsklassen auf den größten Teil der Substantive zu, gilt jedoch nicht ausnahmslos. Den­ noch ist dies kein Grund dafür, etwa die hier postulierte Klassifizierung der Substantive entlang des Kriteriums Genus zu relativieren. Es ist nämlich üb­ lich, dass Systematisierungen auf einem Kernbereich basieren, der quantitativ die größte Anzahl der Vertreter einer bestimmten Klasse bzw. Kategorie ent­ hält. Nicht-prototypische

Der Vollständigkeit halber wird im Folgenden auch auf die Substantive

Substantive

eingegangen, die in ihrem flexionsmorphologischen Verhalten von der Mehrheit ihrer Genusklasse abweichen. Davon betroffen sind sowohl Femi­ nina als auch Nicht-Feminina. So nehmen etwa 25% der Feminina das für Nicht-Feminina typische Pluralflexiv -e an (z. B. Kühe). Singular

Plural

Nom.

Kuh

Kühe

Akk.

Kuh

Kühe

Dat.

Kuh

Kühe

Gen.

Kuh

Kühen

Tabelle 17: Flexionsparadigma von KUH Im Unterschied zu Nicht-Feminina bildet diese Gruppe von Feminina ihren Plural zusätzlich durch Umlautung, immer wenn das Substantiv einen um­ lautfähigen Stammvokal enthält (z. B. Wände, Mäuse, Nöte). Demgegen­ über zieht das Pluralsuffix -e bei Nicht-Feminina auch bei Vorliegen eines umlautfähigen Stammvokals nicht immer eine Umlautung nach sich (z. B.

Tage und nicht etwa Täge). Diese Gruppe von Feminina kann als Subklasse betrachtet werden, die sich vom Prototyp dadurch unterscheidet, dass im Plural auch Kasusunterscheidung vorliegt (z. B. Kühen im Dativ vs. Kühe in den restlichen Kasus). Auf der anderen Seite bilden einige Nicht-Feminina ihren Plural durch das für Feminina typische Suffix -(e)n (z. B. Strahlen, Seen, Ohren, Augen). Neutrum

Maskulinum Singular

Plural

Singular

Plural

Nom.

Strahl

Strahlen

Ende

Enden

Akk.

Strahl

Strahlen

Ende

Enden

Dat.

Strahl

Strahlen

Ende

Enden

Gen.

Strahls

Strahlen

Endes

Enden

Tabelle 18: Flexionsparadigmen von STRAHL und ENDE Allerdings ist der Anteil dieser Substantive am Gesamtbestand der Nicht-Fe­ minina mit einer Quote von deutlich unter 10% gering (vgl. Eisenberg 2004). Diese Subklasse von Nicht-Feminina weicht vom Prototyp dadurch ab, dass hier im Plural die Kasusunterscheidung ausbleibt; im Plural verfügen diese Substantive über nur eine Form, die für alle Kasus steht (z. B. Enden).

3.2 P ronominale Flexion

Bei Feminina wie Nicht-Feminina liegt also die Abweichung vom jeweili­ gen Prototyp in der Kasusunterscheidung im Plural. Bei der Subklasse von Feminina ist sie durchgeführt, bei der Subklasse von Nicht-Feminina bleibt sie aus. Aber auch wenn die Subklassen beider Gruppen von Genera in die gesamte Systematik mit einbezogen werden, bleibt die Differenzierung von Feminina und Nicht-Feminina auf der Grundlage des Kriteriums der Kasus­ unterscheidung aufrechterhalten. In allen Fällen verhält es sich so, dass im Singular eine Kasusunterscheidung nur bei den Nicht-Feminina gegeben ist. Im Femininum Singular fallen hingegen die Substantivformen aller vier Ka­ sus immer zusammen. Eine Sonderklasse bilden die sogenannten schwachen Maskulina (z. B.

Schwache Maskulina

Bote, Student), die aber nur einen sehr geringen Anteil an dem Bestand maskuliner Substantive ausmachen.

Singular

Plural

Nom.

Bote

Boten

Akk.

Boten

Boten

Dat.

Boten

Boten

Gen.

Boten

Boten

Tabelle 19: Flexionsparadigma von BOTE Das Flexionsverhalten schwacher Maskulina unterscheidet sich grundle­ gend von dem prototypischer Nicht-Feminina. Zum einen nehmen alle schwachen Maskulina im Plural das Suffix

-(e)n (z. B. Boten, Studenten) an

und verhalten sich in dieser Hinsicht wie die prototypischen Feminina. Zum anderen wird im Singular der Genitiv durch das Suffix -(e)n, und nicht durch -(e)s morphologisch markiert (z. B. des Boten, des Studenten). Mit dem Suf­ fix -(e)n werden im Singular auch die Formen des Akkusativs und Dativs ver­ sehen (den/dem Boten, den/dem Studenten).

3.2 Pronominale Flexion Nachdem wir gesehen haben, dass die Substantivflexion zu einem Großteil

Paradigmatische

genusgesteuert ist und dass sich Substantive aufgrund ihres Flexionsverhal­

Distribution

tens in die zwei Hauptklassen Feminina und Nicht-Feminina unterteilen las­ sen, widmen wir uns in diesem Abschnitt der Systematisierung der pronomi­ nalen Flexion, der, wie oben bereits aufgeführt, Artikelwärter, Pronomina und die sogenannten starken Adjektive folgen. Es geht hier wiederum um die Frage, inwiefern sich eine Systematik für die Verteilung der verschiede­ nen paradigmatischen Formen aufstellen lässt. Dieser Frage wird anhand der Distribution der pronominalen Suffixe

-e, -er, -en, -em, und -es auf die

verschiedenen grammatischen Positionen im Paradigma des demonstrativen Artikelwortes

dies- nachgegangen.

In der horizontalen Anordnung Maskulinum - Neutrum - Femininum - Plu­ ral wie in der vertikalen Anordnung Nominativ - Akkusativ - Dativ - Genitiv

39

40 3. Die Nominalflexion des Deutschen: systematische Aspekte und Flexionsklassen lassen sich Zusammenhänge zwischen den Flexionskategorisierungen Kasus, Numerus und Genus auf der einen Seite und den für die Markierungen der ein­ zelnen Kategorien verwendeten Suffixe erkennen. Zunächst betrachten wir die horizontalen Anordnung Maskulinum - Neutrum - Femininum - Plural.

Sg.

PI. Fem.

Mask.

Neutr.

Nom.

dieser

dieses

diese

Akk.

diesen

dieses

diese

Dat.

Diesem

Gen.

Dieses

dieser

diesen dieser

Tabelle 20: Flexionsparadigma des demonstrativen Artikelwortes (genusgesteuerte Formenverteilung Femininum vs. Nicht-Femininum

Die bereits im Rahmen der Systematisierung der Substantivflexion postulierte Unterteilung der drei Genera in die zwei Klassen Femininum und Nicht-Fe­ mininum (Maskulinum und Neutrum) erhält in der pronominalen Flexion eine weitere Bestätigung. Die Genera des Nicht-Femininums teilen im Dativ und Genitiv dieselben Suffixe: -m bzw. -s und unterscheiden sich damit vom Femininum, das für diese zwei Kasus eine andere morphologische Markie­ rung wählt: das Suffix -r. Der horizontalen Anordnung kann ein weiteres Ar­ gument für die Bildung der zwei Genusklassen Nicht-Femininum und Femi­ ninum entnommen werden. Denn das flexionsmorphologische Verhalten der pronominalen Flexion von Feminina weist viel deutlichere Parallelen auf zum Plural als zum Maskulinum und Neutrum. Bis auf den Dativ verwenden das Femininum und der Plural identische Suffixe, während das Femininum und das Nicht-Femininum in ihrer Flexion in keinem Kasus übereinstimmen. Diese Verhältnisse machen deutlich, dass auch in der pronominalen Flexion die Formen im Paradigma nicht willkürlich verteilt sind, sondern einer Syste­ matik folgen, bei der das Genus eine entscheidende Rolle spielt.

Kasusgesteuerte

Was die paradigmatischen Formen der pronominalen Flexion in ihrer ver­

Distribution

tikalen Anordnung angeht, lässt sich auch eine systematische Verteilung der Formen erkennen, die sich an der Flexionskategorisierung Kasus orientiert.

Sg. Mask. Nom.

dieser

Akk.

diesen

Dat.

diesem

Gen.

dieses

PI.

Neutr.

Fem.

dieses

diese

diesen

diesem dieses

diese

dieser

Tabelle 21: Flexionsparadigma des Demonstrativums (kasusgesteuerte Formenverteilung)

dieser

3.3.

Die Teilparadigmen Neutrum, Femininum und Plural fallen durch Synkretismus, d. h. Formenzusammenfall, auf. Allerdings ist der beobachtete Synkretismus alles andere als beliebig. Vielmehr teilen innerhalb jedes dieser drei Teilparadigmen nur die Formen bestimmter Kasus dasselbe Suffix. Wenn zwei Kasusformen in einem Teilparadigma zusammenfallen, dann sind es entweder der Nominativ und der Akkusativ, wie dies bei allen drei Teilparadigmen der Fall ist, oder der Dativ und der Genitiv, die im Femininum dasselbe Suffix tragen. Diese kasusgesteuerte Formenverteilung in der pronominalen Flexion hängt mit den Funktionen zusammen, die die einzelnen Kasus im Sprachsystem erfüllen. Nach funktionalen Gesichtspunkten werden der Nominativ und der Akkusativ einerseits und der Dativ und der Genitiv andererseits zu je einer Klasse zusammengefasst: Erstere gelten als direkte,

Letztere

als

indirekte

Kasus.

Diese

Klassifizierung

basiert

auf

semantisch-syntaktischen Kriterien und orientiert sich an den semantischen Rollen, die das Subjekt und das Akkusativobjekt auf der einen Seite und das Dativ- und Genitivobjekt auf der anderen Seite im prototypischen Fall an-

schenken die Rolle des Agens, d. h. des Handlungsausführenden, und ist somit di-

nehmen. So übernimmt das Subjekt bei einem Handlungsverb wie

rekt in die Handlung involviert. Eine ähnlich direkte Beteiligung des Akkusativobjekts an einer Handlung wie der des

Schenkens ist auch gege-

ben. Das Akkusativobjekt ist nämlich die Entität, auf die die Handlung unmittelbar gerichtet ist. M. a. W.: Das Akkusativobjekt ist der Mitspieler in der Handlung, der das ,Betroffene' darstellt und ist insofern neben dem Subjekt die Größe, die direkt von der Verbhandlung betroffen ist. Wenn Peter seiner Mutter Blumen schenkt, dann ist

Peter als Subjekt bzw. Handlungsausfüh-

render unmittelbar in die Handlung involviert. Der Gegensand des Schen-

Blumen. Die EntiBlumen lässt die Handlung über sich ergehen und ist also ähnlich wie

kens ist die Entität, die hier als Akkusativobjekt erscheint: tät

die im Nominativ erscheinende Entität, d. h. das Subjekt, unmittelbar vom Schenken betroffen. Demgegenüber ist das Dativobjekt

seiner Mutter nur

mittelbar von der Handlung betroffen, da diese Entität lediglich das Ziel der Handlung ist. Daher gilt der Dativ im Unterschied zum Nominativ und Akkusativ als indirekter Kasus. Eine ähnliche Argumentation kann für das Genitivobjekt angeführt werden, das ebenso zu den indirekten Kasus zählt. In

die Staatsanwaltschaft bezichtigt ihn des Mordes ist des Mordes im Vergleich zum Akkusativobjekt ihn nur

einer Konstruktion wie das Genitivobjekt

mittelbar von der Handlung betroffen. Zusammenfassend gesehen ist die Verteilung der Formen der pronomina­ len Flexion einerseits genus-, andererseits kasusgesteuert. Die Genussteu­ erung zeigt sich darin, dass sich diese Distribution entlang der Unterteilung Feminina vs. Nichtfeminina beschreiben lässt. Bei der Kasussteuerung ist Klassifizierung direkte vs. indirekte Kasus ausschlaggebend für die Syste­ matisierung dieses Flexionsbereichs.

3.3. Adjektivische Flexion Mit der adjektivischen Flexion wird, wie oben bereits ausgeführt, die Fle­ xion des sogenannten schwachen Adjektivs beschrieben. Wir wollen uns

Adjektivische Flexion 41 Direktevs. indirekte Kasus

42 3. Die Nominalflexion des Deutschen: systematische Aspekte und Flexionsklassen kasus- und numerusgesteuerte Distribution

die Verteilung der adjektivischen Formen anhand des folgenden Paradigmas vergegenwärti gen:

Sg. Mask. Nom.

kleine

Akk.

kleinen

Fem.

PI. Neutr. Kleine kleinen

Dat. Kleinen

Gen.

Tabelle 22: Flexionsparadigme der adjektivischen Flexion (kasus- und numerusgesteuerte Formenverteilung) Die deutlich reduzierte Formenvielfalt der adjektivischen Flexion im Ver­ gleich zur pronominalen Flexion zeigt sich darin, dass hier nur zwei ver­ schiedene Suffixe an der Bildung der Formen beteiligt sind: -e und -en. Aber genauso wie in der pronominalen Flexion ist die Distribution der Formen auf die einzelnen Positionen im Paradigma hochgradig systematisch. Diese Systematik lässt sich entlang zweier Dimensionen erfassen: einer Kasus­ und einer Numerusdimension. Wenn man sich zunächst auf den Singular beschränkt, stellt sich die oben erläuterte und motivierte Unterteilung der Kasus in direkte und indirekte Kasus als ausschlaggebend für die Distribu­ tion der Formen auf -e und -en heraus. Die Formen auf -e sind den direkten Kasus, d. h. dem Nominativ und Akkusativ, die Formen auf -en den indirek­ ten Kasus, d. h. dem Dativ und dem Genitiv, vorbehalten. Eine Ausnahme stellt hier der Akkusativ Maskulinum dar. Aber auch dieses abweichende Verhalten des Teilparadigmas Maskulinum ist nicht zufällig, da das Maskuli­ num, wie wir oben gesehen haben, sich auch in der pronominalen Flexion anders verhält als die restlichen Teilparadigmen. Im Teilparadigma des Plu­ rals tragen alle Formen das Suffix -en. Eine Differenzierung nach Kasus, wie es im Singular der Fall ist, bleibt also aus. Die Verteilung der Formen im adjektivischen Paradigma kann systematisch wie folgt beschrieben werden: Im Plural werden einheitlich Formen auf -en verwendet. Im Singular ist eine Zweiteilung zu beobachten: Formen der di­ rekten Kasus weisen das Suffix -e, die indirekter Kasus das Suffix -en auf.

tbJ

Übungen

1. Die Verteilung der Pluralallomorphe auf die Substantive ist nicht willkür­

lich. Vielmehr lässt sie eine Systematik erkennen. Wonach richtet sich die­ se Systematik?

2. Wie lässt sich die Zweiteilung der Genera in Nicht-Femininum und Femi­ ninum rechtfertigen? 3. Inwiefern ist die Verteilung der pronominalen Flexion kasusgesteuert? 4. Begründen Sie, warum die Verteilung der adjektivischen Flexion als kasus­

und numerusgesteuert gilt?

3.3.



Lektüre zur Vertiefung

Wiese (2000) (eine gut nachvollziehbare Typisierung von Substantiven, bei der der Zusammenhang zwischen Flexionsklasse und Genus im Mittel­ punkt steht) Eisenberg (2000) (Eine von Wiese (2000) abweichende Einteilung der Sub­ stantive in Flexionsklassen. Es lohnt sich, die unterschiedlich begründe­ ten Typisierungsvorschläge zu vergleichen) Wiese (2009) (Systematisierung der pronominalen und adjektivischen Fle­ xion, bei der markiertheitstheoretische Konzepte herangezogen werden)

Adjektivische Flexion 43

4. Die Nominalflexion des Deutschen:

syntagmatische Aspekte Kapitel

2 und

3 waren den paradigmatischen Verhältnissen in der Nominal­

flexion gewidmet. Darin haben wir u.a. das Formeninventar der verschiede­ nen nominalflektierten Wortkategorien und deren Flexionskategorisierungen und -kategorien kennengelernt. Obwohl die nominalflektierten Wortkatego­ rien, auf deren flexionsmorphologische Eigenschaften wir eingegangen sind, nach denselben Kategorisierungen flektieren, unterscheiden sie sich in ihrem Flexionsverhalten. Wir haben eine Einteilung vorgenommen, bei der zwi­ schen substantivischer, pronominaler und adjektivischer Flexion unterschie­ den wird. Die substantivische Flexion ist den Substantiven eigen, dem pro­ nominalen

Flexionsmuster folgen Artikelwärter,

Pronomina und starke

Adjektive, während schwache Adjektive adjektivisch flektieren.

4.1 Flexion in der Nominalphrase Dieses Nebeneinander von verschiedenen Flexionsverhalten der nominal­ flektierten Wortkategorien ergibt erst ein schlüssiges Gesamtbild, wenn auch die syntagmatischen Verhältnisse, d.h. der Gebrauch dieser Wortkate­ gorien in der Nominalphrase, betrachtet werden. Tut man dies, wird deut­ lich, dass die in einer Nominalphrase enthaltenen Komponenten in ihrer Flexion aufeinander abgestimmt sind. Wenn hier die Rede von Nominal­ phrase ist, dann ist eine Substantivgruppe gemeint, die aus einem Artikel­ wort, einem Adjektiv und einem Substantiv besteht.

(1) Dieses kluge Kind! (2) Welch kluges Kind! Flexivische

Eine der wichtigsten Eigenschaften solcher Nominalphrasen ist die, dass das

Kooperation

Artikelwort, das Adjektiv und das Substantiv dieselben Flexionskategorien aufweisen: Sie kongruieren in Kasus, Numerus und Genus. Dabei geht die Kongruenz vom Substantiv aus, das als obligatorisches Element der Nomi­ nalphrase auch Kopfnomen genannt wird. Wie in den meisten Fällen wer­ den die Flexionskategorien der Nominalphrase nicht am Substantiv selbst, sondern an dessen Begleiter: am Artikelwort bzw. am Adjektiv, morpholo­ gisch sichtbar. Das gilt insbesondere für die Flexionskategorisierungen Ka­ sus und Genus, während die Numerusunterscheidung meist vom Substantiv

Kind erkennbar, dass es im Singu­ Kinder lauten müsste. Aufschluss über den Kasus

selbst geleistet wird. So ist am Substantiv lar steht, da die Pluralform und das Genus von

Kind erhält man aber erst durch die links von diesem

stehenden Komponenten; genauer gesagt durch die Endung, die an das Ad­ jektiv bzw. an das Artikelwort angehängt wird, in diesem Fall

-es. Die mor­

phologische Markierung von Flexionskategorien in einer Nominalphrase er­ folgt also im Verbund. Es kann in diesem Zusammenhang von einer Art

4.2

Verteilung der Flexion in der Nominalphrase 4S

Arbeitsteilung unter den Komponenten der Nominalphrase gesprochen wer­ den. Sie soll an dem folgenden Beispiel weiter ausgeführt werden.

(3) (Mit) diesen klugen Frauen. Es ist gut erkennbar, dass die Nominalphrase in (3) im Dativ Plural steht. Diese Gewissheit hat man aber erst, wenn alle drei Komponenten der No­ minalphrase erfasst sind. Beginnt man am linken Rand der Nominalphase, stößt man zunächst auf das demonstrative Artikelwort diesen, das keine ein­ deutigen Hinweise auf den Numerus der Nominalphrase bereitstellt. Denn

diesen kann auch für den Akkusativ Singular Maskulinum stehen (z. B. die­ sen StuM. Ähnliches gilt auch für das schwach flektierte Adjektiv klugen, das für mehrere Kategorienbündel stehen kann: für den Dativ und den Ge­ nitiv aller drei Genera im Singular (z. B. mit der klugen Frau, mit dem klugen

Mann, mit dem klugen Kind), für den Akkusativ Singular Maskulinum (z. B. diesen klugen Mann) und für den Dativ Plural (diesen klugen Frauen). Erst das Substantiv Frauen gibt aufgrund des Pluralsuffixes -en eindeutigen Auf­ schluss über das Kategorienbündel der Nominalphrase.

4.2 Verteilung der Flexion in der Nominalphrase Es kann hier von einer Kooperation der pronominalen, adjektivischen und Substantivflexion gesprochen werden. In den meisten Fällen können die Flexionskategorien einer Nominalphrase erst eindeutig bestimmt werden, wenn die morphologischen Informationen an allen Komponenten genutzt wurden. Dabei werden, wenn man am linken Rand der Nominalphase be­ ginnt, nach und nach mögliche Optionen ausgeschlossen, bis die vorliegen­ de Kombination der Formen nur noch eine oder höchstens zwei verschiede­ ne Kategorienbündel zulässt. Dieses Analyseverfahren soll am folgenden Beispiel nachvollzogen werden:

(4) diesen Akk. Sg. Mask. Dat. PI.

klugen

Sg. Mask. Dat. PI.

Frauen

Dat. PI.

Das demonstrative Artikelwort diesen steht in zwei Positionen des pronomi­ nalen Paradigmas: in der für den Akkusativ Singular Maskulinum und in der für Dativ Plural. Dann können nur noch diese zwei Kategorienbündel in Frage kommen. Geht man eine Position weiter nach rechts, findet man das schwach flektierte Adjektiv klugen, das sich aber in den beiden ausgemach­ ten Positionen im Paradigma wiederfindet. Es kann also an dieser Stelle der Nominalphrase noch keine dieser beiden Optionen ausgeschlossen wer­ den. Erst das eindeutig für den Plural markierte Substantiv Frauen trägt dazu bei, dass die durch das demonstrative Artikelwort und das Adjektiv bereitge­ stellte Option Akkusativ Singular Maskulinum ausscheidet und nur noch das Kategorienbündel Dativ Plural in Frage kommt. Dieses Analysebeispiel zeigt, wie sehr die pronominale, adjektivische und die substantivische Flexion aufeinander abgestimmt sind. Diese Abge­ stimmtheit, die ein Teil der ,Arbeitsteilung' in der Nominalphrase ist, wird an einem weiteren Flexionsverhalten deutlich: an dem Wechsel des Adjek-

Arbeitsteilung zwischen Artikelwort und Adjektiv

46 4. Die Nominalflexion des Deutschen: syntagmatische Aspekte tivs zwischen der pronominalen und adjektivischen Flexion. Wie wir weiter oben gesehen haben, verfügt das Adjektiv für jedes Kategorienbündel aus Kasus, Numerus und Genus über zwei Formen: eine pronominal und eine adjektivisch flektierte Form. Welche dieser beiden Formen zum Einsatz kommt, erfolgt in Abhängigkeit davon, wie die Position des Artikelworts be­ setzt ist.

(5) Mit dem guten Ruf. (6) Mit gutem Grund. In den Beispielen (5-6) weisen die Adjektive guten und gutem dasselbe Fle­ xionskategorienbündel auf: Dativ Singular Maskulinum. Sie tragen jedoch zwei unterschiedliche Suffixe: -en bzw. -em. Das Genus und der Kasus der Nominalphrase sind in (5) am Artikelwort dem, in (6) am Adjektiv gutem ab­ lesbar und zwar jeweils am Suffix -em. Die Anzeige der Flexionskategorien der Nominalphrase durch ein pronominales Suffix erfolgt also entweder durch das Artikelwort oder durch das Adjektiv. Es besteht also in dieser Hin­ sicht eine strikte Arbeitsteilung zwischen diesen zwei Komponenten der Nominalphrase. Diese Arbeitsteilung wird erst durch die Flexibilität des Ad­ jektivs möglich, neben der pronominalen auch die adjektivische Flexion an­ zunehmen. Dabei hat das Artikelwort bei der Realisierung der pronomina­ len Flexion Vorrang. Da in den meisten Fällen ein Artikelwort pronominale Flexion aufweist, folgt darauf wie in (5) ein Adjektiv mit dem adjektivischen, neutralen Suffix -en. Andernfalls, d. h. wenn dem Adjektiv wie in (6) kein Artikelwort vorangeht, nimmt das Adjektiv die pronominale Flexion an. Das Adjektiv wird auch pronominal flektiert, wenn ihm zwar ein Artikelwort vorangeht, dieses aber kein Suffix enthält. Dies ist der Fall bei unbestimm­ ten, possessiven und Negations-Artikelwörtern (ein, mein bzw. kein) der Fall, wenn sie im Nominativ Singular Maskulinum oder im Nominativ bzw. Akkusativ Singular Neutrum stehen.

(7) Ein/kein/sein guter Ruf. (8) Ein/kein/sein großes Wunder. Es handelt sich also bei der pronominalen Flexion um eine bewegliche Fle­ xion, die, wenn sie nicht am Artikelwort realisiert werden kann, eine Posi­ tion weiter nach rechts wandert. Dies ist die Position des Adjektivs, das in diesem Fall die Aufgabe übernimmt, den Kasus und das Genus der gesam­ ten Nominalphrase anzuzeigen. Die bisherigen Ausführungen zu der Verteilung der Flexion auf die ein­ zelnen Komponenten der Nominalphrase (Artikelwort, Adjektiv und Sub­ stantiv) zeigen, inwiefern eine Arbeitsteilung zwischen der pronominalen, adjektivischen und substantivischen Flexion in der Nominalphrase besteht. Diese Arbeitsteilung liegt zum einen darin, dass die Anzeige der Flexionska­ tegorisierung Numerus hauptsächlich vom Substantiv, die der Flexionskate­ gorisierung Kasus und Genus hauptsächlich vom Artikelwort bzw. Adjektiv geleistet wird. Zum anderen betrifft die Arbeitsteilung die pronominale Fle­ xion, die komplementär am Artikelwort oder am Adjektiv erscheint. Bei der Verteilung der Flexion auf die Komponenten der Nominalphrase sind zwei Tendenzen zu beobachten. Einerseits besteht durch die Kooperation der ver­ schiedenen Typen der Nominalflexion die Tendenz, möglichst eindeutig die

4.3 Monoflexion in der Nominalphrase

Flexionskategorien der Nominalphrase anzuzeigen. Andererseits unterliegt die morphologische Markierung der Flexionskategorien einem sprachöko­ nomischen Prinzip, dem zufolge die Anzeige von Kasus- und Genusinfor­ mationen idealerweise nur einmal erfolgt. Letztere Tendenz ist an der kom­ plementären Verteilung der pronominalen Flexion auf das Artikelwort und das Adjektiv erkennbar.

4.3 Monoflexion in der Nominalphrase Dieses sprachökonomische Prinzip, das die Verteilung der Flexion in der Nominalphrase steuert, ist in der Literatur als Prinzip der Monoflexion be­ kannt und hat sich im Laufe der Sprachgeschichte nach und nach entwickelt und etabliert. Einige ,Unregelmäßigkeiten' in den Paradigmen nominalflek­ tierter Wörter lassen sich auf das Wirken dieses Prinzips zurückführen. Wir haben in Kapitel 2 gesehen, dass pronominal flektierte Adjektive und Arti­ kelwörter bis auf zwei Positionen im Paradigma identische Suffixe aufwei­ sen. Im Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum trägt das Adjektiv anstatt des pronominalen Suffixes

-es das adjektivische Suffix -en. Legt man nach

der oben erläuterten Systematik die Regel zugrunde, dass das pronominale

im Sommer nächstes jahres und nicht im Sommer nächsten jahres heißen. Denn im Gegenzug heißt es auch im Sommer dieses jahres; das demonstra­ tive Artikelwort weist hier das pronominale Suffix -es auf. Tatsächlich ist es so, dass das pronominal flektierte Adjektiv (z. B. näch­ stes) sprachhistorisch die ältere Form ist, die noch in der frühen Phase des Suffix entweder am Artikelwort oder am Adjektiv erscheint, müsste es

Monoflexion sprach­ historisch

Neuhochdeutschen im 17. Jahrhundert die gebräuchliche Form war, bevor sie im 18. Jahrhundert von der adjektivisch flektierten Form (z. B.

nächsten)

nach und nach verdrängt wurde. Seitdem ist das Paradigma des pronominal flektierten Adjektivs defektiv: Es weist für die Positionen Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum keine pronominal flektierte Form auf, sondern sattdessen die adjektivisch flektierte Form, also

nächsten anstatt nächstes.

Das Fehlen einer pronominal flektierten Adjektivform in den zwei ge­ nannten Positionen kann damit erklärt werden, dass die Arbeitsteilung zwi­ schen dem Artikelwort und dem Adjektiv auf das Substantiv ausgeweitet wurde. Das pronominale Suffix für Genitiv Singular Maskulinum bzw. Neu­

-es entfällt deshalb am Adjektiv, weil es am Substantiv erscheint: im Sommer nächsten jahrf!2.. Die Ausweitung der Arbeitsteilung auf das Sub­

trum

stantiv kann wiederum als das Ergebnis einer konsequenteren Anwendung des Prinzips der Monoflexion angesehen werden. In einer Konstruktion wie

im Sommer nächsten jahres werden die Flexionskategorien der Nominal­ nächsten jahres nur einmal, nämlich an dem Substantiv, angezeigt. Das pronominal flektierte Adjektiv (z. B. nächstes jahres) verstieße hingegen gegen das Prinzip der Monoflexion, da das Suffix -es zweimal erscheint: am

phrase

Adjektiv und am Substantiv. Dieser Fall zeigt, wie stark die Entwicklung paradigmatischer Formen von ihrer syntaktischen Verwendung abhängt. Jede Untersuchung von Flexions­ systemen sollte daher neben dem paradigmatischen Aspekt auch die syntag­ matischen Verhältnisse berücksichtigen. Denn nur so können Flexionsfor-

Monoflexion: synchrone Variation im Gegenwarts­ deutschen

47

48 4. Die Nominalflexion des Deutschen: syntagmatische Aspekte men und ihre Verteilung in einem Paradigma sowie ihre Entwicklung adä­ quat erfasst werden. Dies gilt auch für Entwicklungen, die noch nicht abge­ schlossen sind und sich als synchrone Variation im Gegenwartsdeutschen manifestieren. So konkurrieren im Gegenwartsdeutschen zwei verschiedene Realisierungsformen des demonstrativen Artikelwortes dies-, wenn die No­ minalphrase im Genitiv Singular Maskulinum bzw. Neutrum steht:

(9) Im Sommer dies�Jahres (10) Im Sommer dies� Jahres Neben der älteren, pronominal flektierten Form dieses hat die adjektivisch flektierte Form diesen in den letzten fünf Jahrzehnten immer mehr Einzug in den standardsprachlichen Gebrauch gefunden. Dennoch ist die neuere Form diesen standardsprachlich immer noch nicht anerkannt. In keiner der Referenzgrammatiken für das Neuhochdeutsche findet sich in der Position für den Genitiv Singular Maskulinum bzw. Neutrum im Paradigma des de­ monstrativen Artikelwortes dies- die neuere Form diesen. Ein adjektivisch flektiertes demonstratives Artikelwort verstößt nicht nur gegen die Norm, sondern auch gegen die Systematik der Flexion im Neuhochdeutschen. Denn ein Artikelwort muss immer pronominal flektiert sein. Die adjektivi­ sche Flexion ist hingegen Artikelwörtern fremd und ist auf Adjektive be­ schränkt. Wie konnte es aber trotzdem zu diesem ,Verstoß' kommen? Analog zu dem oben erläuterten Fall des adjektivisch flektierten Adjektivs

nächsten in der Konstruktion im Sommer nächsten Jahres hat der Gebrauch von diesen in im Sommer diesen Jahres syntagmatische Gründe. Die Ten­ denz zur Monoflexion in der Nominalphrase scheint so stark zu sein, dass auch Artikelwörter wie dies- davon erfasst werden, indem sie ihre ange­ stammte pronominale Flexion aufgeben und die fremde adjektivische Fle­ xion annehmen.

tl:n

Übungen

1. Erläutern Sie am Beispiel

wegen der kleinen Kinder, inwiefern erst durch

die ,Kooperation' der pronominalen, adjektivischen und substantivischen Flexion die Flexionskategorien der Nominalphrase der kleinen Kinder ein­ deutig bestimmt werden können. 2. Überlegen Sie, wodurch es bedingt sein kann, dass im gegenwärtigen

Sprachgebrauch die zwei flexivischen Varianten nach gutem altem Brauch und nach gutem alten Brauch nebeneinander existieren.



Lektüre zur Vertiefung

Duden Grammatik (2009) (Kongruenz in der Nominalphrase)

5. Die Kategorien der Verbflexion

im Deutschen Das Verb ist neben dem Nomen die zweite zentrale Wortart nicht nur der deutschen Sprache. Die Flexion des Verbs, die

Konjugation,

Konjugation

richtet sich

nach gänzlich anderen Kategorien als die Deklination des Nomens. Sie erscheint auch insgesamt vielgestaltiger und weniger systematisch. Will man die verbalen Flexionskategorisierungen vollständig behandeln, so muss man zwangsläufig die Grenze zwischen Morphologie und Syntax genauso thematisieren wie die zwischen Affixen und freien Morphemen sowie zwischen Flexion und Derivation. Unterschiede zwischen Alltags- und Normsprache treten im Bereich der deutschen Verbflexion ebenfalls besonders deutlich zutage. Wenn sich Sätze in einer Sprache aus einem einzigen Wort bilden lassen,

Verb und Satz

dann handelt es sich in der Regel dabei um ein Verb, wie beispielsweise in einem deutschen Imperativ-Satz:

(1) Lauft! Sätze denotieren im Allgemeinen Vorgänge, Zustände oder Tatsachen. Meist ist es die Bedeutung des verwendeten Verbs, aus der hervorgeht, um welche Art von Vorgang oder Zustand es sich genau handelt. Mit der zentra­ len Rolle des Verbs gehen bestimmte flexionsmorphologische Charakteristi­

finites Verb Person und Numerus

ka einher. So muss jeder deutsche Hauptsatz ein sogenanntes enthalten, d. h. ein Verb, das für die Kategorisierungen sowie

Tempus und Modus flektiert ist.

In Nebensätzen haben wir die Wahl

zwischen Sätzen mit finitem Verb und Sätzen mit

zu-Infinitiv.

Neben dem

zu-Infinitiv gibt es weitere infinite Formen, den einfachen Infinitiv sowie die Partizipien I und 11. Im Folgenden werden wir abschnittsweise die zentralen Flexionskategori­ sierungen und Klassifikationskriterien für die Verben des Deutschen vorstel­ len.

5.1 Tempus, Aspekt und Modus Tempus ist, genau wie Aspekt und Modus, eine bedeutungsrelevante Fle­

Tempus

xionskategorisierung. Mithilfe der Tempusflexion geben wir an, ob der Vor­ gang/Zustand, von dem wir sprechen, in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegt - relativ zum Zeitpunkt der Äußerung. Das bis heute gül­ tige Modell für die semantische Beschreibung der Tempuskategorie in natür­ lichen Sprachen stammt von dem Logiker und P hilosophen Hans Reichen­ bach

(1947). Mittels der Flexion des Verbs, so Reichenbach, setzen wir drei

verschiedene Zeiten oder Zeitpunkte zueinander in Beziehung: a) die

Sprechzeit,

zu der wir die Äußerung tätigen, b) eine

Referenz- oder Be-

Sprechzeit, Betracht­ zeit, Ereigniszeit

50 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen trachtzeit, von der im Sprechakt die Rede ist, und c) die Ereigniszeit, in der

das im Satz benannte Ereignis stattfindet. Betrachten wir dazu folgendes Beispiel:

(2) GesternMittag um 12 Uhr hatte ich dieMail bereits abgeschickt. Die Sprechzeit ist durch das Äußerungsereignis eines Satzes wie (2) gege­ ben. Die Betrachtzeit ist hier mit Gestern Mittag um 12 Uhrexplizit angege­ ben, das Adverb gestern signalisiert bereits Vorzeitigkeit relativ zur Sprech­ zeit. Die Ereigniszeit ist die Zeit, zu der das Ereignis des Mail-Abschickens stattfand. Die Verwendung des Plusquamperfekts als verbalem Tempus sig­ nalisiert hier, dass die Betrachtzeit vor dem Sprechzeitpunkt I iegt und das Ereignis zum Betrachtzeitpunkt bereits beendet war. Das Tempus des Verbs

zeigt hier also folgende Relation an (wobei ,,>" als "ist später als" zu lesen ist):

(3) Sprechzeit > Betrachtzeit > Ereigniszeit Natürlich sind alle möglichen anderen Relationen zwischen den drei Zeiten denkbar. Wir verwenden im Wesentlichen die Tempusflexion des Verbs, um diese verschiedenenMöglichkeiten sprachlich umzusetzen. Die Terminologie, mit der wir die Tempusformen des Deutschen bezeich­ nen, entstammt der am Lateinischen orientierten Grammatiktradition. Da die Tempussysteme des Lateinischen und des Deutschen einander aber nicht ganz entsprechen, ist dies ein wenig unglücklich. Synthetische und

Bei der Konstruktion verschiedener Tempusformen wird von syntheti­

analytische Tempus­

schen wie analytischen Konstruktionsformen Gebrauch gemacht. Unter syn­

formen

thetischer Konstruktion verstehen wir die im engeren Sinne morphologische

Flexion, bei der lediglich das Verb in seiner Form modifiziert wird. Bei ana­ lytischer Konstruktion werden Flexionsformen eines Verbs unter Zuhilfenah­

me von Funktionswörtern gebildet. Die synthetische Tempusflexion finden wir im Deutschen für das Präsens ("einfache Gegenwart") und das Präteri­ tum (auch Imperfekt, "einfache Vergangenheit").

Infinitiv

Präsens

Präteritum

sag-en

ich sag-e

ich sag-t-e

sprech-en

ich sprech-e

ich sprach

Tabelle 23: Synthetische Tempusformen Präsens und Präteri-

Das Präsens kommt dabei ohne eigentliche morphologischeMarkierung aus.

tum

An das Wurzelmorphem des Verbs (sag-/sprech-) wird direkt die Personenen­ dung angefügt. Das Präteritum wird im Fall von "sagen durch die Einfügung des sogenannten Dentalsuffix -[- zwischen Wurzel und Personenendung ge­ bildet. Das Verb sprechen bildet das Präteritum durch einen Wechsel des Stammvokals (e zu a bzw. phonetisch [El zu [a:]). Wir sprechen mit )acob Grimm in diesem Fall auch von einem starken Verb, da es des Dentalsuffixes nicht bedarf, und im Fall von sagen von einem schwachen Verb.

5.1 Tempus, Aspekt und Modus

Bei den analytischen Tempusformen wird ein Hilfsverb für Tempus (Präte­ ritum im Plusquamperfekt, ansonsten Präsens), Modus (Indikativ, Konjunk­ tiv), Person und Numerus flektiert, während das Vollverb als Partizip (Per­ fekt, Plusquamperfekt und Futur 11) oder als Infinitiv (Futur I) realisiert wird. Perfekt

Plusquamperfekt

ich habe gesagt

ich hatte gesagt

Futur I

Futur 11

ich werde sagen

ich werde gesagt haben

Tabelle 24: Analytische Tempusformen Andere geläufige Bezeichnungen für Perfekt und Plusquamperfekt sind

Aspekt

auch "vollendete Gegenwart" und "vollendete Vergangenheit". Das Attribut "vollendet" verweist auf eine weitere Flexionskategorisierung des Verbs, die als Aspekt bezeichnet wird. Vergleichen Sie Beispielsatz (2) mit (4) und überlegen Sie, bevor Sie weiterlesen, wie sich das Verhältnis von Betrachtzeit und Ereigniszeit in den beiden Sätzen unterscheidet:

(4) Gestern Mittag um 12 Uhr schickte ich dieMail ab. Sie sollten zu der Lösung gekommen sein, dass in (4) Betrachtzeit und Ereig­ niszeit gleichzeitig sind, das Abschicken der Mail also gestern um 12 Uhr mittags stattfand. Das Verhältnis der drei Zeiten ist in (4) demnach wie folgt:

(5) Sprechzeit > Betrachtzeit

=

Ereigniszeit

In Satz (2) steht das Verb im Plusquamperfekt, in Satz (4) im Präteritum. Bei­ des sind Flexionsformen der Vergangenheit. Sie unterscheiden sich aber da­ rin, wie das Ereignis relativ zu der in der Vergangenheit liegenden Betracht­ zeit zeitlich verortet ist. Dieser Unterschied wird nun als Unterschied im grammatischen Aspekt aufgefasst, und nicht als Unterschied im grammati­ schen Tempus. Bezogen auf das Reichenbachsche Modell können wir den Unterschied zwischen Tempus und Aspekt jetzt so auffassen:

Tempus signalisiert die Relation zwischen Sprechzeit und Ereigniszeit. Aspekt signalisiert die Relation zwischen Betrachtzeit und Ereigniszeit. Die Tempusflexion des Deutschen ist demnach eigentlich eine Flexion, die

Tempus und Aspekt

zugleich Tempus- (Relation zwischen Sprech- und Betrachtzeit) als auch As­

in der Tempusflexion

pektinformation (Relation zwischen Referenz- und Ereigniszeit) beinhaltet. Die wesentliche Unterscheidung, die mit der Aspektkategorie getroffen wird, besteht darin, ob das Ereignis zur Betrachtzeit abgeschlossen ist (per­ fektiver Aspekt) oder noch andauert (imperfektiver oder progressiver As­

pekt). Das Plusquamperfekt signalisiert Abgeschlossenheit (Perfektivität) in der Vergangenheit. Im Unterschied dazu wird das Perfekt, die "vollendete Gegenwart", als das Tempus aufgefasst, das Abgeschlossenheit in der Ge­ genwart signalisiert. Betrachten wir dazu folgendes Beispiel:

(6) Jetzt habe ich dieMail gerade abgeschickt.

S1

52 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen Die Verwendung des Adverbs jetzt signalisiert die Gleichzeitigkeit von Sprechzeit und Betrachtzeit. Die Verwendung des Perfekts signalisiert die Ab­ geschlossenheit der Handlung zur Betrachtzeit. Vergleicht man Perfekt und Plusquamperfekt, dann sieht man, dass der Unterschied zwischen beiden nur in der Flexion des Hilfsverbs haben besteht. Im Plusquamperfekt ist es im Prä­ teritum flektiert, im Perfekt im Präsens. Man könnte somit auch sagen, dass das Hilfsverb die Tempusinformation liefert, während die Partizipform des Voll­ verbs den perfektiven Aspekt signalisiert. Präsens am Hilfsverb (im Perfekt) sig­ nalisiert Gleichzeitigkeit von Sprech- und Betrachtzeit und Präteritum (im Plusquamperfekt) signalisiert, dass die Betrachtzeit vor der Sprechzeit liegt. Futur 1 und Futur 11

Schauen wir uns die Flexion im Futur an, so können wir den Unterschied zwischen Futur I und Futur 11 leicht als aspektuellen Unterschied erkennen: (7) a. Morgen um 12 Uhr mittags werde ich die Mail abschicken. (Futur I) b. Morgen um 12 Uhr mittags werde ich die Mail abgeschickt haben. (Futur 11) Der Fall (7a) beschreibt Gleichzeitigkeit von Referenz- (morgen um 12 Uhr mittags) und Ereigniszeit, während in (7b) die Ereigniszeit vor der Betracht­ zeit liegt:

(8) a. Sprechzeit < Betrachtzeit

=

Ereigniszeit

b. Sprechzeit < Ereigniszeit < Betrachtzeit

( (

=

=

7a) 7b)

Kombinatorische

Nicht für alle denkbaren Relationen der drei Zeiten exisitieren Flexions­

Möglichkeiten

möglichkeiten. Wie würden Sie beispielsweise die Relation in (9) ausdrü­

der analytischen Tempusflexion

cken?

(9) Sprechzeit < Betrachtzeit < Ereigniszeit Ausgedrückt werden soll, dass ein Ereignis auch im Bezug auf einen zukünf­ tigen Betrachtzeitpunkt noch in der Zukunft liegt. Das könnte theoretisch etwa so aussehen:

(10) ??Morgen um 12 Uhr mittags werde ich die Mail erst noch abschi­ cken werden. Für die meisten Sprecherinnen des Deutschen dürfte dieses Beispiel nicht akzeptabel sein. Es zeigt aber, wie man im Allgemeinen verfahren müsste, um eine solche Bedeutung auszudrücken, nämlich indem man eine geeig­ nete Kombination von Hilfsverben findet. Auf diese Weise ist beispielsweise das Futur 11 zusammengesetzt: das Futur-Hilfsverb werden ist hier mit der Flexionsform des Perfekt (haben plus Partizip des Vollverbs) kombiniert, um Abgeschlossenheit in der Zukunft auszudrücken. Auf ähnliche Weise wird Doppelperfekt

das sogenannte Dopp elp erfekt gebildet, eine Konstruktion, die schon seit ei­ nigen Jahrhunderten Bestandtei I der deutschen Alltagssprache ist, der aber die Aufnahme in die genormte Standardsprache versagt blieb. Sie ist eine Ersatzform für das Plusquamperfekt und wird gebildet, indem das Hilfsverb verdoppelt wird. Satz (11) ist also bedeutungsgleich mit Satz (2):

(11) Gestern Mittag um 12 Uhr habe ich die Mail bereits abgeschickt ge­ habt.

5.1 Tempus, Aspekt und Modus

Eine Variante dieser Konstruktion, das "Doppelplusquamperfekt", ver-

Präteritumschwund

wendet hatte statt habe. Es ist unklar, ob sich dadurch eine Bedeutungsveränderung ergibt. Gebräuchlich ist das Doppelperfekt insbesondere im oberdeutschen Sprachraum (Süddeutschland, Schweiz, Österreich), für den gleichzeitig gilt, dass das Präteritum aus dem alltäglichen Sprachgebrauch weitgehend verschwunden ist (der sog. Präteritumschwund). Die Funktion des Präteritums ist hier, wie auch alltagssprachlich inzwischen im gesamten deutschen Sprachraum, weitgehend vom Perfekt übernommen worden, das inzwischen als die Normalform zum Ausdruck der Vergangenheit in der deutschen Alltagssprache anzusehen ist. Die Zuschreibung "vollendete Gegenwart" für das Perfekt trifft aus diesem Grund nicht mehr zu. Eher ist es so, dass für den Ausdruck der Vergangenheit eine synthetische (präteritum) und eine analytische Variante (perfekt) konkurrieren, wobei das Präteritum praktisch nur noch in der Literatursprache als die bevorzugte Form gilt. Neben dem perfektiven Aspekt, der die Abgeschlossenheit der Handlung

Progressiver Aspekt

zum Betrachtzeitpunkt ausdrückt, gibt es noch den progressiven oder imperfektiven Aspekt, der das Andauern der beschriebenen Handlung zur Betrachtzeit beschreibt. Allgemein können die beiden synthetischen Zeitformen Präsens und Präteritum als Tempusformen gelten, mit deren Hilfe sich das Andauern der Handlung signalisieren lässt. Präsens- bzw. Präteritumflexion gelten aber gemeinhin nicht als Aspektmarkierungen. Eher sollte man den progressiven Aspekt als Standardinterpretation für die einfachen Zeitformen betrachten, für die es keiner speziellen Aspekt-Markierung bedarf. Allerdings hat auch hier die Alltagssprache längst eine Flexionsform entwickelt, um progressiven Aspekt auszudrücken.

Es handelt sich um die

sogenannte rheinische Verlaufsform. Sie soll ihren Ursprung im Rheinischen

Rheinische

haben, ist aber im gesamten deutschen Sprachgebiet verbreitet. Sie wird ge-

Verlaufsform

bildet, indem man das Kopula-Verb sein als Hilfsverb verwendet, das Vollverb in den Infinitiv setzt und ihm die Präposition am voranstellt:

(12) Ich bin gerade eine Mail am schreiben. Neben Tempus und Aspekt ist der Modus die dritte fundamentale bedeutungsrelevante Flexionskategorisierung für die deutschen Verben. Wir unter­ scheiden hier den Indikativ ("Wirklichkeitsform") vom Konjunktiv ("Mög­ lichkeitsform) sowie dem Imperativ ("Befehlsform"). Die indikativischen Formen haben wir oben bereits weitgehend betrachtet. Unter den konjunk­ tivischen Formen unterscheiden wir den Konjunktiv I (oder Konjunktiv Präsens) vom Konjunktiv 11 (oder Konjunktiv Präteritum). Der Konjunktiv I wird vor allem für die Redewiedergabe in der indirekten Rede verwendet. Der Konjunktiv 11 wird vor allem verwendet, um Irrealität auszudrücken.

(13) Konjunktiv I: Aus dem Bundespresseamt verlautet, dass die Bundeskanzlerin sich über den bayrischen Ministerpräsidenten ärgere.

(14) Konjunktiv 11: Gewänne Deutschland die Weltmeisterschaft, lobten die Journali­ sten den Trainer wieder.

Modus

S3

54 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen Synkretismus von

Konjunktiv I und 11 sind neben Präsens, Präteritum und Imperativ die einzi­

Präteritum und

gen synthetischen Flexionskategorisierungen des deutschen Verbs. Die bei­

Konjunktiv 11

den Konjunktivformen werden allerdings, ähnlich wie das Präteritum, zuse­ hends verdrängt. Besonders im Falle des Konjunktiv 11 hat dies auch einen naheliegenden Grund. Bei schwachen Verben beobachten wir Synkretismus von Konjunktiv 11 und Präteritum Indikativ:

Präteritum (stark)

Konjunktiv 11 (stark)

Präteritum (schwach)

ich gewann

ich gewänn-e

ich lob-t-e

du gewann-st

du gewänn-est

du lob-t-est

er, sie, es gewann

er, sie, es gewänn-e

er, sie, es lob-t-e

wir gewann-en

wir gewänn-en

wir lob-t-en

ihr gewann-t

ihr gewänn-et

ihr lob-t-et

sie gewann-en

sie gewänn-en

sie lob-t-en

=

Konjunktiv 11

Tabelle 25: Präteritum und Konjunktiv 11 starker und schwacher Verben Tritt eine Form wie ich lobte auf, lässt sie sich nur schwer als Konjunktiv 11 erkennen, da das Präteritum gegenüber dem Konjunktiv 11 bei weitem häufi­ ger verwendet und deshalb auch eher erwartet wird. Will man also den Konjunktiv 11 mit einem schwachen Verb auf eindeutige Weise bilden, ist man auf eine Ersatzkonstruktion angewiesen. Auch diese existiert schon länger, auch wenn sie noch hin und wieder als umgangssprachlich und nicht normgerecht eingeschätzt wird. Es handelt sich um die synthetische Konstruktion mit dem Konjunktiv 11 des Hilfsverbs werden plus Infinitiv, also zum Beispiel ich würde loben. Analytische Erset­

Der Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten durch Synkretismen ist eine we­

zung synkreter syn­

sentliche Begleiterscheinung natürlichen Sprachwandels. Zugleich ist er ein

thetischer Formen

wichtiger Auslöser für die Herausbildung neuer grammatischer Bildungs­ weisen, die den Verlust auffangen sollen. Typischerweise werden dabei syn­ thetische durch analytische Formen ersetzt. Der würde-Konjunktiv ist des­ hai b eine folgerichtige natürliche Erscheinung in der Entwicklung der deutschen Sprache, der kein Makel anhaften sollte. Eine eher dialektale für den süddeutschen Raum typische Variante ist die Bildung mit dem Konjunk­ tiv 11 von tun, also ich täte loben.

Synkretismus von

Beim Konjunktiv I beobachten wir ebenfalls weitgehende Formgleichheit,

Konjunktiv 1

diesmal mit dem Präsens. Schwache und starke Verben werden hier gleich

und Präsens

flektiert:

Präsens

Konjunktiv I

ich gewinn-e

ich gewinn-e

du gewinn-st

du gewinn-(e)st

er, sie, es gewinn-t

er, sie, es gewinn-e

wir gewinn-en

wir gewinn-en

ihr gewinn-t

ihr gewinn-(e)t

sie gewinn-en

sie gewinn-en

Tabelle 26: Präsens und Konjunktiv I

5.1

Tempus, Aspekt und Modus SS

Man sieht, dass Konjunktiv I und Präsens sich eigentlich nur in der 3. Person Singular klar unterscheiden, wobei die 3. Person Singular im Konjunktiv I formgleich ist mit der 1. Person Singular. Diese Formgleichheit von 1. und 3. Person finden wir übrigens durchgängig im Plural, sowie auch im Präteritum. Sie ist eine allgemeine Tendenz in der Entwicklung des verbalen Flexionssys­ tems des Deutschen. Eine kleine Gruppe von Verben, die Modalverben und das Verb wissen, zeigen diesen Synkretismus auch im Präsens Singular (ich/er

kann, weiß, darf, muss etc.). Dies hat historische Gründe. Hier wurde das ur­ sprüngliche Präsens durch die alten Präteritalformen ersetzt. Diese Verben werden aufgrund dieses besonderen Flexionsmusters als Präteritopräsentien bezeichnet. Ähnlich wie wir das bei der nominalen Kasusflexion beobachten, resultiert der Synkretismus allgemein aber auch hier aus der Tendenz zum Ab­ bau von Flexionsmarkierungen, insbesondere an Inhaltswörtern. Bezieht man die etwas altertümlich klingenden Varianten der 2. Person

Konjunktivmorphem

mit ein (du gewinnest, ihr gewinnet), kann man feststellen, dass in allen Va­ rianten ein Schwa [al an die Wurzel anschließt. Dieser Vokal, der auch wie oben gesehen im Konjunktiv 11 der starken Verben regulär an die Wurzel an­ schließt, kann als Konjunktiv-Morphem aufgefasst werden. Dies wird noch klarer, wenn man die Flexionsparadigmen der beiden Verben sein und ha­

ben im Präsens und Konjunktiv I betrachtet:

haben

sein Präsens

Konjunktiv I

Präsens

Konjunktiv I

ich

bin

sei

habe

habe

du

bist

sei(e)st

hast

habest

er, sie, es

ist

sei

hat

habe

wir

sind

seien

haben

haben

ihr

seid

seiet

habt

habet

sie

sind

seien

haben

haben

Tabelle 27: Präsens und Konjunktiv I bei SEIN und HABEN Im Konjunktiv I von sein wird durchgängig die dem Infinitiv entsprechende Wurzel verwendet, während im Präsens andere Formen verschiedenen histori­ schen Ursprungs verwendet werden. Zieht man die altertümlich klingende ein­ geklammerte Variante hinzu und erklärt das Fehlen von e nach sei als Lautver­ einfachung von *seie, dann kann die Bildung des Konjunktiv I des ansonsten sehr irregulär flektierten Verbs sein genau wie bei anderen Verben als "Wurzel +e+Personenendung" beschrieben werden. Im Fall von haben beobachten wir im Präsens Singular der 2. und 3. Person die Kürzung der Wurzel um den Kon­ sonanten [bl. Dies ist ungewöhnlich, da haben ansonsten zu den schwach flek­ tierenden Verben gehört, bei denen die Wurzel unverändert bleibt (vgl. ich

lobe, du lobst, nicht*du lost). Im Konjunktiv I dagegen beobachten wir wieder die völlig reguläre Bildungsweise "Wurzel + e + Personendung" . Der Konjunktiv I findet nach wie vor verbreitet Verwendung insbesondere in der Tagespresse, in der ja recht häufig von indirekter oder berichteter Rede

Verwendung des Konjunktiv I

56

5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen

Gebrauch gemacht wird, sowie in bestimmten Fachsprachen wie beispiels­ weise in Kochrezepten (Man nehme ...) oder in der Mathematik (Gegeben sei

...).In der Alltagssprache wird er aber eher vermieden und durch das einfache Präsens oder den Konjunktiv 11 ersetzt. Eine spezielle synthetische Ersatzform für den Konjunktiv I existiert nicht. Am ehesten wird auch hier der

würde­

Konjunktiv verwendet. Imperativ

Der Imperativ schließlich kommt in Befehlssätzen vor und wird für Singular und Plural flektiert, wie im folgenden Beispiel:

Imperativ Singular: Gewinn-e! Plural: Gewinn-(e)t! Auch hier existieren analytische Ersatzformen, beispielsweise unter Zuhilfe­ nahme des Modalverbs

sollen:

(15) Du sollst nach Hause gehen! Abbau synthetischer

Neben dem Präsens (das ja eigentlich keine eigenen Flexive hat) ist der Im­

Flexion

perativ die einzige synthetische Flexionskategorie deutscher Verben, die nicht im Abbau begriffen ist. Die Verbflexion tendiert im Deutschen also sehr deutlich zur analytischen Konstruktionsweise. Auf die Faktoren, die dies begünstigen, werden wir später noch etwas ausführlicher eingehen (vgl. Kapitel 6).

5.2 Das fi n ite Verb Subjekt-Verb­

Ein Verb, das sowohl Tempus- und Modus-, als auch Person- und Numerus­

Kongruenz

flexion aufweist, wird als finites Verb bezeichnet. Welche Person- und Nu­ merusmerkmale das Verb annimmt, richtet sich nach dem Subjekt des Sat­ zes, in dem das Verb steht. Wir sprechen hier von Subjekt-Verb-Kongruenz. (16) a. Der Lehrer red-et. b. Die Lehrer red-en. In (16a) steht das Verb im Singular, da das Subjekt im Singular steht, ent­ sprechend in (16b) im Plural. Die Flexion des Verbs richtet sich streng ge­ nommen nicht einfach nach den morphologischen Merkmalen des Sub­ jekts, sondern auch nach seiner Interpretation: (17) a. Hans und Maria werd-en dich besuchen. b. Entweder Hans oder Maria In Beispiel (17a) wird das Subjekt

wird dich besuchen.

Hans und Maria als Mehrzahl interpretiert

und dies gibt den Ausschlag für die Pluralflexion des Verbs. Die beiden Eigen­ namen

Hans und Maria für sich genommen stehen allerdings morphologisch entweder ...

gesehen im Singular. Dies ist auch der Fall in (17b). Durch die

oder ...-Konstruktion ist jedoch klar, dass nur eine der beiden Personen den Besuch machen wird. Da also nur eine Person den Besuch machen wird, steht das Verb im Singular. Nicht immer kann sich das Verb nach semantischen Ei­ genschaften des Subjekts richten. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Subjekt semantisch nicht relevant ist wie bei Wetterverben: (18) Es regnet.

5.2 Das finite Verb

Das Pronomen es hat hier keinen eigenen Bedeutungsbeitrag. Es steht aber in der 3. Person Singular und entsprechend wird das Verb flektiert. 3. Person Singular finden wir auch, wenn das Subjekt keine Person- oder Numerus­ merkmale hat wie im Fall von Subjektsätzen. Sie kann als Standardflexion des finiten Verbs angesehen werden.

Standardkongruen­ flexion

(19) Dass es regnet, ärgert mich. Im allgemeinen Fall ist es allerdings so, dass semantische und morphologi­ sche Eigenschaften des Subjekts miteinander einhergehen, so dass die Be­ stimmung der Kongruenzflexion am Verb unproblematisch ist. Das Auftreten finiter Verben ist syntaktisch weitgehend festgelegt. Jeder Hauptsatz enthält genau ein finites Verb. Das gleiche gilt für Nebensätze, sofern es sich nicht um zu-Infinitive handelt. Das finite Verb ist entweder das Vollverb, bei synthetischer Flexion, oder ein Hilfsverb, bei analytischer Flexion. Im Hauptsatz ist das finite Verb die zweite Konstituente:

Satzstellung des finiten Verbs

(20) a. [Den ganzen Tag] hates geregnet. b. [Den ganzen Tag] regnete es. In Nebensätzen steht der Verbkomplex am Ende des Satzes. Je nachdem, wie viele und welche Verben den Verbkomplex bilden, sind unterschied­ liche Verbsteilungen möglich. Im Normalfall steht das finite Verb am Ende: (21) a. . . . wei I es den ganzen Tag geregnet hat. b. . . . weil es den ganzen Tag regnete. Während Tempusflexion, in analytischer Form, auch bei infiniten Verbfor­ men zu finden ist, sind Kongruenz- und Modusflexion nur bei finiten Verben möglich. Hier ein Überblick über die Flexionsparadigmen bei starker und schwa­ cher Flexion:

Plural

Singular Präsens

Präteritum

Präsens

Präteritum

1. Person

sprech-e

sprach-

sprech-en

sprach-en

2. Person

sprich-st

sprach-st

sprech-t

sprach-t

sprich-t

sprach-

sprech-en

sprach-en

3.

Person

Tabelle 28: Kongruenzflexion bei starken Verben

Plural

Singular Präsens

Präteritum

Präsens

Präteritum

1. Person

red-e

red-(e)t-e

red-en

red-(e)t-en

2. Person

red-(e)st

red-(e)t-est

red-(e)t

red-(e)t-et

red-(e)t

red-(e)t-e

red-(e)n

red-(e)t-en

3.

Person

Tabelle 29: Kongruenzflexion bei schwachen Verben

Paradigmen der Kon­ gruenzflexion

57

58

5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen

(Sie dürfen gerne 3. Person Plural. In einigen Zellen des Paradig­ mas von reden ist ein e eingeklammert. Es weist darauf hin, dass dieses e Dazu kommt noch eine Distanzform der höflichen Anrede . . .

), die identisch ist mit der

nicht Teil des Flexionsaffixes ist, sondern aus phonologischen Gründen hier eingesetzt ist, um zwei aufeinanderfolgende koronale Plosive voneinander zu trennen. Vergleichen wir diese Formen mit schwachen Verben, die nicht

-d enden, wie beispielsweise streuen (du streu-st, streu-t-est), kleben (du bangen (du bang-st, bangt-est), dann sieht man, dass das e - das phonetisch für ein Schwa steht -, im Präsens nicht erscheint. auf

kleb-st, klebt-est) oder

Der einzige Fall, in dem es allgemein auftritt, ist die 2. Person Plural Präteri­ tum bei schwachen Verben, in der es zwischen das Präteritumsuffix + und das Kongruenzsuffix -sttritt. Gehen wir auch hier von der gleichen phonolo­ gischen Motivation aus, dann haben wir eine weitgehende Übereinstim­ mung bei den Kongruenzflexiven zwischen Präsens und Präteritum, starken und schwachen Verben. Die folgenden Beobachtungen bezüglich der Flexionssuffixe sind erwäh­ nenswert: der Plural wird bei starken wie schwachen Verben in Präsens wie Präteritum gleich flektiert. Seine Formen unterscheiden sich vom Singular mit einer Ausnahme: die 2. Person Plural ist formgleich mit der 3. Person Singular Präsens. Nur im Präsens Singular unterscheidet sich die

1. von der 3. Person.

Bei schwachen Verben haben wir Formgleichheit zwischen Präsens und Prä­ teritum auch im Singular- mit der Ausnahme der 3. Person, die im Präteritum formgleich ist mit der

1. Person. Bei starken Verben unterscheiden sich die 1. und 3.

Flexive des Präsens von denen des Präteritums im Singular. Für die

Person im Präteritum Singular gibt es kein Flexionsaffix (alternativ spricht man von einem "Nullaffix"). Konjunktiv I und 11 richten sich nach dem Para­ digma, das wir hier beim Präteritum der schwachen Verben vorfinden.

5.3 Infinite Formen: Infinitiv, zu-Infinitiv und Partizipien Die infiniten Status

Die infiniten Formen des Verbs werden mit Gunnar Bech

(1983) als Status

des Verbs bezeichnet. Bech unterscheidet dabei drei verschiedene Status in verbaler wie attributiver bzw. adjektivischer Verwendung:

verbale Verwendung

adjektivische Verwendung

1 . Status: Infinitiv

Ich muss dich loben

Ein stets lobender Chef

2. Status: zu-Infinitiv

Der Chef pflegt uns zu loben

Ein zu lobender Chef

3. Status: Partizip 11

Der Chef hat uns oft gelobt

Der viel gelobte Chef

Tabelle 30: die infiniten Status des Verbs 1. Sta­ (lobend) auch als Partizip I oder Partizip Präsens bezeichnet. Es ist dabei

Nach traditioneller Terminologie wird die adjektivische Variante des tus

umstritten, ob das Partizip I so wie von Bech vorgeschlagen aus dem Infini­ tiv durch Anfügung von

-d- gebildet wird, oder ob -end- als unteilbares Suf­

fix zur Bildung des Partizip I angesehen werden soll, das direkt an die ver­ bale Wurzel angehängt wird.

5.3 Infinite Formen: Infinitiv, zu-Infinitiv und Partizipien

Das Partizip 11 wird bei schwachen und starken Verben unterschiedlich gebildet: ge-+Wurzel+-t- bei schwachen Verben und ge-+Wurzel+-en- bei

Bildung des Partizip II

starken Verben. Das vorangestellte ge- entfällt unter bestimmten Bedingun­ gen. Es unterbleibt zum Einen, falls ein Verb mit einem nicht trennbaren Präfix gebildet wird:

(22) schreiben - geschrieben verschreiben - verschrieben unterschreiben - unterschrieben

aber:

abschreiben - abgeschrieben vgl.: ich schreibe ab vs. ich unterschreibe Das Präfix ge- entfällt auch, wenn die Verbwurzel nicht auf der ersten Silbe betont ist. Häufig handelt es sich dabei um Lehnwörter oder Verben, die mit dem Suffix -ier- gebildet sind, das selbst den Hauptakzent des Wortes anzieht:

(23) riskieren - riskiert, *geriskiert betonieren - betoniert, *gebetoniert trompeten - trompetet, *getrompetet recyceln - recycelt, *gerecycelt Die Regel, dass bei Voranstellung mit ge- die nachfolgende Silbe den

ge-P räfigierung beim

Hauptakzent des Wortes tragen muss, umfasst auch die Fälle in (22), in

Partizip II

denen die Präfigierung mit ge- unterbleibt. Allerdings liegt der Fall von ab­

schreiben komplizierter. Hier ist das präfigierte ab- Träger des Hauptak­ zents. Nach dieser Logik müsste dann also *geabschrieben eine mögliche Form sein. Dass dem einerseits nicht so ist und andererseits abgeschrieben möglich ist, deutet darauf hin, dass trennbare Verben wie abschreiben nicht einfach mit untrennbaren Präfixverben wie unterschreiben in einer Katego­ rie zusammengefasst werden können. Wir werden in einem späteren Kapi­ tel auf diese Frage zurückkommen (vgl. Kapitell 0 und 12). Die Besonderheit, dass bei der Bildung des Partizip 11 sowohl vor, als

Zirkumfix

auch nach der Verbwurzel etwas angefügt wird, also Prä- und Suffigierung zugleich vorliegen, hat zu dem Vorschlag geführt, für das Partizip li-Mor­ phem die Kategorie eines diskontinuierlichen Morphems, eines Zirkumfix einzuführen. Beide Teile werden also zusammen als ein einziges Morphem gesehen, das um die verbale Wurzel herum affigiert wird. Ähnlich wie das Partizip I als aus dem Infinitiv abgeleitet aufgefasst wer­

Bildung des

den kann, gilt dies auch für den zu-Infinitiv, den man schlicht als Infinitiv

zu-Infinitivs

mit vorangestelltem zu analysieren kann. Entsprechend ist die adjektivische Form des 2. Status als zu

+

Partizip I analysierbar.

Zusammenfassend gilt für die Bildung der infiniten Status das Folgende:

Infinitiv: zu-Infinitiv:

Verbwurzel + -en zu + Infinitiv

Partizip I: Partizip 11:

Infinitiv + -d (ge-) + Verbwurzel + -t1-en

Auch wenn die Bildungsweisen hiermit korrekt beschrieben sind, sind da­

Basis der

mit noch nicht alle Fragen geklärt. Tatsächlich verhält es sich etwas kompli­

zu-Affigierung

zierter. Das wird allerdings erst deutlich, wenn man sich die syntaktischen Möglichkeiten bei komplexeren analytischen Verbformen anschaut. Ver­ gleichen Sie die folgenden Strukturen und überlegen Sie, worin sich die

S9

60 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen Regel für die Platzierung der Kongruenzflexion am finiten Verb (24a,b) von der für die Platzierung von zu (24c,d) bzw. des Partizip I-Suffixes -d (24e,f) unterscheidet! (24) a. dass du mich singen gehört hast

(finites Verb)

b. dass du mich hast singen hören e.

... mich singen gehört zu haben

(zu-Infinitiv)

d. ... mich haben singen zu hören e. ... mich singen gehört habend, ...

(Partizip I)

f. ... mich haben singen hörend, ... Verbkomplexe

Wahrnehmungsverben wie sehen oder hören können ein weiteres Vollverb lizensieren, das dann im Infinitiv stehen muss, wie beispielsweise jemanden singen hören, jemanden laufen sehen usw. Wird dieser Komplex aus zwei

Verben ins Perfekt gesetzt, erhalten wir einen Komplex aus drei Verben, wo­ bei das Wahrnehmungsverb als Partizip realisiert wird wie in (24a). (24b) stellt eine Wortstellungsvariante für diesen Verbkomplex dar, in dem das Hilfsverb, anstatt am rechten, am linken Rand des Verbkomplexes steht. In dieser Wortstellung wird das Wahrnehmungsverb als Infinitiv realisiert, ohne dass sich etwas an der Perfektbedeutung ändert. Dieses Phänomen, das auch bei Modalverben und kausativem lassen auftritt, wird als Ersatzin­ finitiv oder Lateinisch Infinitivus pro particpio (lPP) bezeichnet. Diese Alter­

nation beobachten wir auch in den beiden anderen Fällen in (24). Wort- und

Was sich in (24a,b) nicht ändert, ist der Ort für die Platzierung der Kon-

Phrasenflexion

gruenzflexion: wir finden sie in (24a,b) jeweils am Hilfsverb. Eigentlich wür­ den wir auch für zu in (24c,d) und das Partizip I-Suffix -d- in (24e,f) erwar­ ten, dass sich mit der Wortstellung nicht ändert, an welches Verb sie prä­ bzw. suffigiert werden. Dies ist aber nicht der Fall. Wenn man Regeln for­ mulieren möchte, die die Platzierung der hier diskutierten Flexive korrekt beschreiben, müsste man das etwa wie folgt tun: (25) a. Die Kongruenzflexion wird am Hilfsverb realisiert. b. Der Infinitivmarkierer zu steht vor dem linear letzten Verb eines Verbkomplexes. Dieses Verb muss ein Infinitiv sein. e.

Der Partizip I-Markierer -d wird an das linear letzte Verb eines Verbkomplexes suffigiert. Dieses Verb muss ein Infinitiv sein.

Die Formulierungen in (25b,c) unterscheiden sich von (25a) darin, dass die Platzierungsregel relativ zum gesamten Verbkomplex formuliert ist. Es han­ delt sich also um Flexive, die einerseits an einzelne Wörter prä- bzw. suffi­ giert werden, die aber andererseits eher als Markierungen für eine komplexe syntaktische Einheit, den Verbkomplex, zu verstehen sind, und nicht bloß

als Markierungen eines einzelnen Wortes. Darin unterscheiden sie sich von der Kongruenzflexion. Sie unterscheiden sich aber auch vom Infinitiv und dem Partizip 11, die man ebenfalls als Wortflexion im engeren Sinne verste­ hen muss, während es sich beim zu-Infinitiv und beim Partizip I um Phra­ senflexion handelt.

Im Zusammenhang mit dieser Frage kann eine weitere betrachtet werden, die ebenfalls schwierig zu entscheiden ist: handelt es sich beim Infinitivmar­ kierer zu um ein Präfix oder um ein freies Morphem? Selbst die ansonsten sehr regelbewusste Orthografie des Deutschen ist hier uneinheitlich:

5.3 Infinite Formen: Infinitiv, zu-Infinitiv und Partizipien 61

(26) a. Sie beschloss, nach München zu ziehen. b. Sie beschloss, wegzuziehen. In (26a) wird zu orthografisch als freies Morphem behandelt, in (26b) als Präfix.

zuals Klitikum

Man könnte der Auffassung sein, dass es sich um ein Präfix handelt, analog etwa zu ge- beim Partizip. Dem widerspräche, dass bei zu nicht die oben bei

ge- beobachtete Abhängigkeit von Akzentverhältn issen vorliegt. Naheliegend wäre es deshai b, zu in einer Zwischenstufe zwischen Wort und Affix einzuordnen. Eine solche Stufe stellen sogenannte Klitika dar. Ein Klitikum ist ein phonetisch reduziertes Funktionswort, das sich an ein anderes Wort quasi anlehnen muss, ohne schon in dieses Wort integriert zu sein. Solche Reduktionen sind in der gesprochenen Alltagssprache beispielsweise bei Artikeln üblich: (27) Ich habe 'n Auto gesehen. Der Artikel hat den Status eines freien Morphems, eines Funktionswortes. In der reduzierten Form, die wir hier sehen, entspricht dem aber lautlich keine selbstständige Einheit mehr. Im Sprachwandel stellt das Klitikum ein Stadi­ um dar im Übergang vom freien Morphem zum Flexionsaffix. Flexionsaffixe entstehen im Allgemeinen durch eine solche Reduktion ehemals freier Mor­ pheme von Funktionswörtern. Nachdem wir uns mit der Formanalyse der infiniten Formen beschäftigt haben, soll nun abschließend noch kurz auf die wichtigsten Verwendungs­ kontexte der infiniten Formen eingegangen werden. Wir finden den einfachen Infinitiv bei der Bildung analytischer Formen

Verwendung der

wie des Futur I und 11, des Konjunktiv 11 sowie generell bei Bildungen mit

infiniten Formen

Modalverben (müssen, können, dürfen usw.). Der Infinitiv wird auch bei der Nominalisierung von Verben verwendet, wie in (28): (28) a. Singen macht Spaß. b. Die Nationalspieler sind nicht zum Singen der Hymne verpflichtet. Der zu-Infinitiv wird von einigen Verben verlangt, andere erlauben ihn,

Verwendung des

wieder andere erlauben ihn nicht.

zu-Infinitivs

(29) a. Es hat aufgehört, zu regnen / *dass es regnet b. Es pflegt hier viel zu regnen / *dass es viel regnet c. Es scheint zu regnen / dass es regnet d. Er versprach, zuhause zu bleiben / dass er zuhause bleibt e. Er hat gesagt, *zuhause zu bleiben / dass er zuhause bleibt Zu-Infinitive wie in (29a,d,e) haben Satzwertigkeit. Sie sind als Nebensätze zu behandeln, als infinite Varianten zu den mit dass eingeleiteten Sätzen mit finitem Verb. Im Unterschied zu diesen fehlt den Nebensätzen mit zu­ Infinitiv einerseits das Subjekt, andererseits fehlt auch am zu-Infinitiv selbst die Person- und Numerusflexion. Einfügung eines Subjekts führt zu Un­ grammatikalität:

(30) *Er hat versprochen, er zuhause zu bleiben. Dass die zu-Infinitive in (29b,c) nicht in gleicher Weise satzwertig sind, sieht man daran, dass sie ungrammatisch werden, wenn man sie analog zu

62 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen (29a,d,e) ins Nachfeld des Satzes stellt, wie das beispielsweise im Neben­ satz der Fall ist: (31) a. *dass es hier pflegt, viel zu regnen b. *dass es scheint, zu regnen Wesentlich besser werden die Sätze, wenn man die zu-Infinitive ins MitteI­ feld, also vor das finite Verb, setzt: (32) a. dass es hier viel zu regnen pflegt b. dass es zu regnen scheint Kohärente Infinitivkonstruktion

Bei der Wortstellung in (32) sprechen wir mit Bech von einer kohärenten Infi-

nitiv-Konstruktion. Eine Möglichkeit, den Unterschied zu (25a,d,e) deutlich zu machen, besteht darin, die Komplexe zu regnen pflegen bzw. zu regnen

scheinen als morphologisch komplexe Einheiten, also einen Fall von Verb­ Komposition aufzufassen. Dies hier nur zur Illustration, wie schwierig die Un­ terscheidung von Wort und P hrase im Fall von Verbkomplexen sein kann. Daneben kann der zu-Infinitiv auch prädikativ verwendet werden. Dabei muss das Akkusativ-Objekt ausgelassen werden, da es mit dem Subjekt der P rädikation identifiziert wird: (33) Diese Bücher sind [bis morgen zu lesenl. Infinitive und zu-Infinitive können weder Person und Numerus, noch Mo­ dus morphologisch realisieren. Tempus kann auf analytische Weise reali­ siert werden, allerdings nur das Perfekt, wie in folgenden Beispielen: (34) a. Der Verteidiger soll die Hymne nicht mitgesungen haben. b. Dem Verteidiger wurde vorgeworfen, die Hymne nicht mitgesun­

gen zu haben. Warum das Gleiche mit dem Futur nicht möglich ist, ist vor diesem Hinter­ grund ein Rätsel, das auch wir hier nicht zu lösen vermögen: (35) Der Seher prophezeite uns, *morgen gewinnen zu werden / morgen zu gewinnen. Eine Erklärung könnte darin liegen, dass der einfache Infinitiv morgen zu gewinnen schon ausreicht, um die Futur-Bedeutung auszudrücken, dadurch die aufwändigere Konstruktion gewinnen zu werden überflüssig ist und des­ halb blockiert wird. Verwendung der Partizipien

Das Partizip 11 schließlich findet Verwendung in den perfektiven Zeitfor­ men (Perfekt, P lusquamperfekt, Doppelperfekt) sowie im Passiv: (36) Er ist geschlagen worden. Das Partizip I finden wir zum Einen in Konstruktionen, die eigentlich ähn­ lich wie der zu-Infinitiv Satzcharakter haben: (37) Diesen Umstand nicht wissen könnend, lief er in sein Verderben. Wie im zu-Infinitiv fehlt auch hier lediglich das Subjekt. Partizip I und II können auch attributiv gebraucht werden. Das gleiche gilt auch für die zu­ Variante des Partizip I:

5.4 Vollverben, Modalverben und Hilfsverben

(38) a. Der vorgelesene Brief b. Der vorlesende Dichter c. Der vorzulesende Brief Davon abgeleitet sind die Partizipien auch substantivisch verwendbar, wie in

das Vorgelesene, der Vorlesende oder das Vorzulesende. In diesem wie

dem vorherigen Fall dürfen wir streng genommen nicht mehr von Flexion sprechen, da mit der Verwendung der Formen ein Wortartwechsel einher­ geht (vom Verb zum Adjektiv bzw. Substantiv). Es handelt sich hier also eher um Derivation.

5.4 Vollverben, Modalverben und Hilfsverben Im Vorherigen haben wir bereits die wichtige Unterscheidung zwischen

Hilfsverben und

Hilfsverben, Modalverben und Vollverben verwendet, ohne sie explizit ein­

Vollverben

zuführen. Das soll hier nachgeholt werden. Hilfsverben (auch "Auxiliare") werden verwendet, um im Verbund mit einem Vollverb analytische Kons­ truktionen zu bilden. Als Vollverben bezeichnen wir Verben mit einer spe­ zifischen Bedeutung, die das vom Satz beschriebene Ereignis charakteri­ siert. Sie können bei synthetischer Flexion ohne Zuhilfenahme von Hilfs­ oder Modalverben das Satzprädikat bilden. Die Gruppe der Hilfsverben ist im Deutschen sehr klein. Für das Tempussystem verwenden wir norm­

sein, haben und werden. Alltagssprachlich tun dazu (wie in er tut schlafen usw.). Diese Auswahl ist aus

sprachlich die drei Verben kommt noch

sprachvergleichender Sicht nicht ungewöhnlich, sondern im Gegenteil ge­ radezu prototypisch. Alle drei bzw. vier kommen auch als Vollverben vor. Modalverben sind eine besondere Klasse von Verben in morphologischer

Modalverben

wie semantischer und syntaktischer Hinsicht. Zur Gruppe der Modalverben

dürfen, können, möchten, müssen, sollen, wollen. Dazu kommen die umstrittenen Fälle brauchen und werden, die (je nach Auffassung) nur eingeschränkt modal verwendet wer­

gehören im Deutschen eindeutig die Verben

den. Modalverben beschreiben, allgemein gesprochen, eine Einstellung zu einer durch das Verb beschriebenen Handlung. Dabei kann es sich um eine Einstellung des Sprechers handeln, dann sprechen wir von der epistemi­ schen Bedeutung des Modalverbs. Wir sprechen andererseits von der deon­ tischen Bedeutung, wenn der Satz eine für das grammatische Subjekt geltende Erlaubnis, Verpflichtung o.ä. beschreibt. Weitere Möglichkeiten bestehen, die wir im Detail hier nicht aufführen. Im Folgenden einige Bei­ spiele:

(39) Peter kann schwimmen. deontische Lesart: Peter hat die Erlaubnis zu schwimmen. epistemische Lesart: Es ist nach Einschätzung des Sprechers möglich, dass Peter (gerade) schwimmt.

(40) Maria muss arbeiten. deontische Lesart: Maria hat die Verpflichtung zu arbeiten. epistemische Lesart: Es ist nach Einschätzung des Sprechers notwendigerweise der Fall, dass Maria arbeitet.

Deontische und epistemische Lesart

63

64

5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen

(41) Paul will reich sein. epistemische Lesart: Der Sprecher berichtet, dass Paul (nach Pauls Ansicht) reich ist. Das Verb

werden kann in einer epistemischen Interpretation verwendet

werden:

(42) Magda wird im Kino sein. epistemische Lesart: der Sprecher geht davon aus, dass Magda im Kino ist. Eine deontische Lesart existiert hier nicht. Einige Autoren gehen davon aus, dass diese Lücke durch das Futur I gefüllt ist und dieses insofern gar keine Tempusflexion darstellt, sondern eben eine Art deontische Interpretation des Modalverbs

werden. Ein wichtiger Anhaltspunkt dafür ist, dass werden

im Futur I mit dem Infinitiv des Vollverbs gebildet wird, also genauso wie Konstruktionen mit Modalverben. Ein naheliegender semantischer Aspekt

müssen, sollen, möchten oder wollen auf die Zukunft gerichtet ist. In der Tat ist es so, dass

besteht darin, dass auch die deontische Interpretation von

auch diese Modalverben als Hilfsverben für das Futur fungieren können und teilweise noch im Mittelhochdeutschen fungiert haben (vgl. Engl. zum Ausdruck des Futur oder Niederländisch

will, shall

zullen).

Modalverben werden in der epistemischen Interpretation verwendet, wenn der Sprecher signalisieren möchte, dass über den berichteten Sachver­ halt keine Gewissheit besteht, sondern nur eine Vermutung oder Behaup­ tung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegt. Die Wahl des Modal­ verbs gibt dabei Hinweise, um wessen Vermutung/Behauptung es sich handelt. Eine morphologische Besonderheit der Modalverben ist, dass sie im Per­ fekt obligatorisch mit dem Ersatzinfinitiv gebildet werden:

(43) Sie hat die Hymne singen wollen/*gewollt. Modalverben können aber auch als Vollverben verwendet werden. In die­ sem Fall erscheint das Partizip im Perfekt:

(44) Sie hat ins Kino gewollt.

5.5 Passiv, Rezipientenpassiv, Zustandspassiv Bildung des Passivs

In der am Lateinischen orientierten Grammatiktradition gi It auch die Aktiv/ Passiv-Unterscheidung als Teil der Flexionsmorphologie unter der Bezeich­ nung "genus verbi". Da im Lateinischen das Passiv synthetisch konstruiert wird, ist dies auch folgerichtig. Im Deutschen gibt es nur eine analytische Bildungsweise. Trotzdem wird das Passiv häufig der Tradition folgend unter den Flexionskategorisierungen des deutschen Verbs subsummiert.

Eine

Schwierigkeit besteht gewiss darin, dass in einer Sprache, in der alle Fle­ xionskategorisierungen des Verbs in Richtung analytischer Konstruktions­ weise tendieren, diese Abgrenzung ohnehin schwer zu begründen ist. Das Passiv wird auf konventionelle Weise gebildet, mittels des Hilfsverbs

wer-

5.6 sein- und haben-Selektion

den und dem Partizip 11 des Vollverbs. Im Kontrast zum Aktiv ändern sich die grammatischen Funktionen der Verbkomplemente. Das Akkusativobjekt des Aktivsatzes wird Subjekt des Passivsatzes und das Subjekt des Aktivsat­ zes kann als Präpositionalobjekt mit von realisiert werden, muss aber nicht:

(45) a. Holger schlug den Hund.

(Aktiv)

b. Der Hund wurde (von Holger) geschlagen.

(Passiv)

Das werden-Passiv wird auch als Vorgangspassiv bezeichnet, in Abgren-

Zustandspassiv

zung zum mit sein gebildeten Zustandspassiv, das das Resultat einer Handlung beschreibt:

(46) a. Borussia hat Bayern besiegt.

(Aktiv)

b. Bayern wurde (von Borussia) besiegt. e.

Bayern ist besiegt.

(Vorgangspassiv) (Zustandspassiv)

Eine weitere Variante des Passivs besteht im sogenannten Rezipientenpassiv,

Rezipientenpassiv

bei dem anstelle des Akkusativobjekts das Dativobjekt zum Subjekt gemacht wird. Es wird mit dem Hilfsverb bekommen (eher hochsprachlich) bzw. kriegen (alltagssprachlich, dialektal) gebildet:

(47) a. Sie hat mir ein Buch geschenkt.

(Aktiv)

b. Ich habe ein Buch von ihr geschenkt bekommen/gekriegt.

(Rezipientenpassiv)

5.6 sein- und haben-Selektion Eine Unterscheidung, die für die Bildung von Perfekt und Plusquamperfekt wichtig ist und quer zur Unterteilung in starke und schwache Verben liegt, ist die zwischen Verben, die als Hilfsverb im (Plusquam-lPerfekt haben sele­ gieren und denen, die sein selegieren.

(48) a. Ich bin eingeschlafen. b. Ich habe lange geschlafen. Im allgemeinen Fall erfolgt die Perfektbildung mit haben. Für die Wahl von sein müssen besondere Bedingungen, vor allem semantische, vorliegen. Es

Auxiliarselektion im Perfekt

wird insbesondere dann verwendet, wenn eine intransitive Struktur vorliegt (also kein Akkusativ-Objekt verwendet wird) und der Satz einen Zustands­ oder Ortswechsel beschreibt. Das Beispiel in (48) ist insofern informativ, als in beiden Fällen das Verb schlafen verwendet wird - einmal mit, einmal ohne Partikel. Es ist also nicht unbedingt so, dass die Selektion des Hilfs­ verbs für ein Verb getroffen wird. Verben, die ursprünglich keine Zustands­ oder Ortsveränderung ausdrücken, können ihr Auxiliar wechseln, wenn sie einmal doch so verwendet werden wie im folgenden Beispiel:

(49) a. Es hat gedonnert. b. Der Laster ist die Straße heruntergedonnert. Es gibt allerdings einige wenige Verben (vor allem sein, werden, bleiben, gehen), die sein auch dann verwenden, wenn sie mit einem Akkusativ-Ob­ jekt zusammen auftreten:

Strukturabhä ngigkeit

6S

66 5. Die Kategorien der Verbflexion im Deutschen Lexemabhängigkeit

(50) a. Ich bin die Sache los gewesen. b. Ich bin die Sache los geworden. e.

Er ist eine Antwort schuldig geblieben.

d. Er ist einen weiteren Schritt Richtung Abgrund gegangen. Abweichungen von diesem normsprachlichen Bild betreffen die stativen Verben sitzen, stehen, liegen, die normsprachlich haben selegieren, aber im süddeutschen Raum das Perfekt eher mit sein bilden. Eine Besonderheit aus dem Westfälischen ist die Verwendung von sein mit dem Verb anfangen

(ich bin angefangen). Aufgrund dieser Diskrepanzen zwischen Regiolekt und Standard und der manchmal nicht so einfach zu beurteilenden semanti­ schen Kriterien gehören diese Fragen in den Bereich der Zweifelsfälle der deutschen Sprache.

tl:n

Übungen

1. Liegen in den folgenden Sätzen Bedeutungsunterschiede vor? Beachten Sie,

dass es für die Verbflexion auch mehr als eine Interpretation geben kann! a. i) Sie hat ihn um fünf Uhr begrüßt. ii) Sie begrüßte ihn um fünf Uhr. b. i) Sie wird ihn später suchen. ii) Sie sucht ihn später. e.

i) Sie meint, ein Besuch komme nicht in Frage. ii) Sie meint, ein Besuch kommt nicht in Frage.

2. Bestimmen Sie für die folgenden Sätze, welcher Aspekt vorliegt!

a. Ich lese gerade ein Buch. b. Da bin ich gerade losgegangen. e.

Gestern Mittag um fünf Uhr habe ich gearbeitet.

d. Morgen Abend werde ich zuhause angekommen sein. 3. Worin unterscheidet sich der folgende Beispielsatz von den besprochenen

Beispielen des Rezipientenpassivs?

Ich bekomme den Nagel nicht in die Wand geschlagen. Welche Rückschlüsse könnte man darauf basierend ziehen auf die Frage, inwiefern das Rezipientenpassiv überhaupt eine Flexionskategorie realisiert?



Lektüre zur Vertiefung

Eisenberg (2000), Kapitel 5.3, bietet eine knappe Diskussion der wesent­ lichen Kategorisierungen und wichtiger theoretischer Aspekte; im Gram­ matik-Duden (Kunkel-Razum u. a., 2009) ist wohl die detaillierteste Be­ schreibung aller relevanten Aspekte zur deutschen Verbflexion zu finden; Rothstein (2007) zu Tempus und Aspekt.

6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion

und ihre historische Entwicklung 6.1 Der Streit zwischen Sprachwissenschaft und

Sprachkritik um die Standardsprache Die Entwicklung der deutschen Sprache wird gerne zum Gegenstand eines öffentlichen, eher laienlinguistischen Diskurses gemacht, in dem mal der Sprachverfall, mal die Überfremdung durch Fremdwörter beklagt wird. Die Verdrängung synthetischer durch analytische Formen im Bereich der Verb­ flexion ist dabei des Öfteren Gegenstand sprachpflegerischer Klagen, da sie irrtümlich als Sprachverfall gedeutet wird. Diese Form der Sprachbeschreibung und -kritik stigmatisiert Entwick­ lungstendenzen im alltäglichen Sprachgebrauch und stellt so eine künstli­ che

Opposition

zwischen

Alltagssprache

und

vermeintlich

Normsprache und Alltagssprache

"gutem

Deutsch" her. Leider sind wahrscheinlich alle, die den Deutschunterricht einer deutschen Schule genießen durften, mehr oder minder stark von die­ sem Bild der deutschen Sprache (dort "schlechte Umgangssprache" - hier "gutes Hochdeutsch") geprägt, da es allen Versuchen der Sprachwissen­ schaft und der universitären Sprachdidaktik zum Trotz den schulischen All­ tag des Deutschunterrichts nach wie vor prägt, und eine sehr lange Tradition hat. In der Sprachwissenschaft werden unterschiedliche Positionen zu Fragen der sprachlichen Normierung vertreten. Man bemüht sich aber vor allem um eine differenzierte Sichtweise. Es ist an dieser Stelle notwendig, darauf etwas ausführlicher einzugehen, um die Unterschiede in der Verbflexion in Alltags- und Normsprache und ihre Ursachen zu verstehen, die wir im An­ schluss behandeln werden. Sprachwissenschaft und Sprachkritik stehen seit langer Zeit in einem be­ sonderen Spannungsverhältnis. Etwas simplifizierend ausgedrückt, ist die

Sprachwissenschaft und Sprachkritik

Lage die, dass die meisten Sprachwissenschaftler/innen es ablehnen, sich wertend zu konkreten sprachlichen Entwicklungen zu äußern. Sie wollen Sprache nur beobachten und verstehen, nicht aber selbst in sie eingreifen. Man verwirft dieses Ansinnen auch deshalb, weil man aus den gewonnenen Erkenntnissen darüber, wie Sprache und Sprachwandel üblicherweise funk­ tionieren, ableitet, dass Versuche der gezielten Beeinflussung einer Sprache entweder vergeblich sind, oder sich kontraproduktiv auswirken. Umgekehrt prangert die in der Regel von linguistischen Laien öffentlich­ keitswirksam vorgebrachte Sprachkritik die sprachkritische Enthaltsamkeit der Sprachwissenschaft an, die sich weigere, (vorgeblich) negativen Tenden­ zen der Gegenwartssprache entgegenzutreten und sich ihrer vermeintlichen Verantwortung für den Erhalt der deutschen Sprache entziehe, wo es eigent­ lich ihre Aufgabe sei, Maßstäbe zu setzen und Fehlentwicklungen entgegen­ zutreten.

Laienlinguistische Sprachkritik

68 6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung Linguistischer

Für eine Bewertung dieses Diskurses ist es zunächst wichtig, sich die ver­

Sprachbegriff

schiedenen Auffassungen von Sprache zu vergegenwärtigen, die in ihm ver­ wendet werden. Aus linguistischer Sicht gilt es, wenigstens drei verschiede­ ne Auffassungen auseinanderzuhalten. Da ist zum Einen die allgemein­ sprachwissenschaftliche, in der es darum geht, die menschliche Sprachfä­ higkeit zu ergründen. Sprache ist hier ein Teil des menschlichen Verhaltens. Eine so verstandene Linguistik verortet sich als Teilgebiet der Psychologie, Biologie und der interdisziplinären Kognitionswissenschaft. Die so abstrakt verstandene Sprachfähigkeit lässt sich in Reinform allerdings nicht beobach­ ten, so dass auch eine solche Linguistik nicht ohne das Studium konkreter Sprecher in einer konkreten Sprache auskommt.

Natürliche Sprache

Damit kommen wir zum zweiten Sprachbegriff, der der eigentlich zent­ rale der Linguistik ist, nämlich der von einer Sprache als einem in einer Sprachgemeinschaft verwendeten Zeichensystem.

Für solche konkreten

Sprachen, wie beispielsweise "Deutsch", haben wir die Bezeichnung "na­ türliche Sprache", die insofern irreführend ist, als es sich dabei eben nicht um Objekte der Natur handelt, sondern um soziokulturelle Artefakte - ver­ gleichbar beispielsweise mit nicht-sprachlichen Regeln des allgemeinen Umgangs, etwa den in einer Gemeinschaft geltenden Höflichkeitsnormen. Der Sprachwandelforscher Rudi Keller charakterisiert Sprachen als "Phäno­ mene der dritten Art", und beschreibt ihre Entstehung und Entwicklung in Anlehnung an die ökonomischen Theorien von Adam Smith. Sprachliche Veränderungen haben (wie ökonomische Marktentwicklungen) demnach keinen eigentlichen Schöpfer, sie vollziehen sich innerhalb einer Gemein­ schaft in einem ungesteuerten Prozess, der gleichwohl bestimmten (Ent­ wicklungs-)Gesetzmäßigkeiten (sozialer Dynamik) gehorcht. So, wie der Ökonom die Gesetzmäßigkeiten ökonomischer Prozesse untersucht, sucht der historische Sprachwissenschaftler nach den Gesetzmäßigkeiten sprach­ lichen Wandels - in einer einzelnen Sprache, aber auch durch den Ver­ gleich von Wandelprozessen in unterschiedlichen Sprachen. Das "Subjekt" der Sprache ist nach diesem zweiten Sprachbegriff eigent­ lich nicht das einzelne Individuum, sondern die Sprachgemeinschaft, inso­ fern wird man eine solche Linguistik eher im Bereich der Gesellschaftswis­ senschaften verorten. Sprachliche Äußerungen werden natürlich letztlich von einzelnen Personen getätigt, sie sind aber erst vor dem Hintergrund der Sprachgemeinschaft versteh- und bewertbar. Sprachbegriff der

Von diesen beiden genuin linguistischen Sprachbegriffen ist der dritte

Sprachkritik

hier zu benennende, der Sprachbegriff (auch, aber nicht nur) des sprachkri­ tischen Diskurses, zu unterscheiden, in dem die Bewertung aktuellen Sprachgebrauchs im Vordergrund steht. Eine solche Bewertung ist nicht nur ein Thema für das Feuilleton, sondern natürlich auch zentraler Gegenstand des Deutschunterrichts in der Schule. Ein wesentlicher Grund für den Un­ willen der Sprachwissenschaft, sich auf Sprachkritik einzulassen, besteht darin, dass sprachkritische Bewertung häufig weniger linguistisch, als viel­ mehr ästhetisch, stilistisch oder gesellschaftskritisch - also subjektiv - moti­ viert ist.

Standardsprache

Ein zentraler Gegenstand des Deutschunterrichts in der Schule ist die Ein­ übung in die geschriebene deutsche Standardsprache. Nur dieser Aspekt des sprachkritischen Diskurses soll uns hier interessieren. Kritik am Sprach-

6.2

Die deutsche Standardsprache 69

gebrauch (der Schülerinnen) ist hier Kritik an einem vornehmlich von der Standardsprache abweichenden Sprachgebrauch durch die Schülerinnen, der entsprechend sanktioniert und pädagogisch bearbeitet wird. Die Spra­ che, in die wir uns in der Schule einüben sollen und die wir öffentlich prak­ tizieren sollen, ist weniger ein empirischer Untersuchungsgegenstand als ein

Ideal.

Was also unterscheidet diese ideale Standardsprache von der (gesproche­ nen) Alltagssprache und wie sind diese Unterschiede entstanden?

6.2 Die deutsche Standardsprache Die neuhochdeutsche Standardsprache (NHD), wie wir sie heute als regio­

Neuhochdeutsch

nal übergreifende Sprachnorm insbesondere für die geschriebene Sprache kennen, ist das Resultat einer sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Entwicklung. Sie nahm ihren Ausgangspunkt im

16. Jahrhundert. Für sehr

lange Zeit bestand das NHD nur als geschriebene Varietät des Deutschen. Bis etwa in die Mitte des

20. Jahrhunderts dominierten in der gesprochenen

Sprache die Dialekte. Erst seit etwa dem Ende des

2. Weltkrieges, im Zuge der Entwicklung der

Massenmedien und der stetig zugenommenen Mobilität, wird das NHD

Gesprochene Standardsprache

auch zunehmend mündlich im Alltag praktiziert. Die gesprochene neu­ hochdeutsche Alltagssprache hat in Deutschland inzwischen die Dialekte vielerorts verdrängt. Die deutschsprachige Schweiz, im Kontrast dazu, hat den Zustand, der bis

1950 für den gesamten deutschen Sprachraum galt,

noch weitgehend konserviert: die mündliche Alltagssprache ist der Dialekt, in der Schrift wird Standarddeutsch praktiziert, das dort auch als "Schrift­ deutsch" bezeichnet wird. Am Anfang war das NHD das Projekt einer sehr kleinen schriftkundigen Elite. Der Sprachhistoriker Peter von Polenz, der das Standardwerk zur Ge­

NHD als Elitenprojekt

schichte des NHD verfasste, gibt an, dass der Anteil der schreib- und lese­ kompetenten Sprecherinnen um

1500 auf etwa 1-4% der Gesamtbevölke­ 5% (von

rung geschätzt wird. In den Städten lag dieser Anteil deutlich über Polenz

2000, 128). Das Deutsche war damals wie heute gekennzeichnet

durch eine außerordentliche Dialektvielfalt. Die Entwicklung einer regio­ nenübergreifenden Standardsprache musste deshalb notwendigerweise in Distanz zur dialektgeprägten Alltagssprache erfolgen. Gleichzeitig musste sie natürlich am realen Sprachgebrauch anknüpfen, dabei notwendigerwei­ se solche Merkmale bevorzugt übernehmen, die viele Dialekte gemeinsam haben, und andere eher seltene Merkmale aussondern. Das NHD entstand so als eine

überregionale Ausgleichssprache.

Darin unterscheidet sich die Entwicklung der deutschen Standardsprache von der Entwicklung im Englischen oder auch im Französischen. Dort stan­ den die gesprochenen Varietäten der jeweiligen politischen Zentren, London bzw. Paris, Pate für die Kodifizierung der geschriebenen Standardsprache. Das NHD ist demgegenüber eine Varietät, die für mehrere Jahrhunderte ohne gesprochenes Pendant auskommen musste. Dieser besondere Umstand hat zwei wichtige Konsequenzen:

1. natürliche Sprachwandelprozesse, wie wir

sie in (primär gesprochenen) Sprachen beobachten, werden verlangsamt

NHD als vorläufig reine Schriftsprache

70

6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung

bzw. ganz unterbunden,

2. bestimmte künstliche Aspekte, die bei der Kodifi­

zierung Eingang in die Sprache fanden, bleiben so in der Sprache erhalten (s. dazu auch Weiß 2004,2005). Künstlichkeit und

Solche künstlichen Merkmale konnten Eingang in das NHD finden, weil

Sprachnormierung

es zu Beginn von einem vergleichsweise kleinen Kreis entwickelt wurde. Sprachwissenschaftler/innen neigen heutzutage dazu, einen Einfluss sprach­ normerischer Bemühungen auf eine Sprache abzustreiten. Für die Gegen­ wart, in der das Standarddeutsche von fast der gesamten deutschen Sprach­ gemeinschaft nicht nur geschrieben, sondern auch im Alltag mündlich praktiziert wird, mag diese Einschätzung auch zutreffen. In der Vergangen­ heit lag die Situation anders. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die Grammatik des gegenwärtigen Standarddeutschen noch immer bestimmte unnatürliche Merkmale aufweist. Einen Kandidaten für ein solches Artefakt werden wir im folgenden Abschnitt besprechen.

6.3 Die Stigmatisierung der tun-Periphrase Ein Beispiel für eine Konstruktion, die aufgrund normativer Bestrebungen keinen Eingang in das NHD fand, ist die sogenannte tun-Periphrase. Es han­ delt sich um eine analytische Flexionsform des deutschen Verbs, die wir bis­ lang nicht besprochen haben. Sie wird gebildet mittels des Hilfsverbs tun zusammen mit dem Infinitiv eines Vollverbs. Sie ist eine analytische Ersatz­ form für die synthetisch flektierten Tempora Präsens und Präteritum.

(1) a. Peter tut schlafen. b. Peter tat schlafen. Die Linguisten Nils Langer und Winifred Davies haben die Geschichte der Stigmatisierung dieser Form im Verlauf der Kodifizierung des NHD ausführ­ lich untersucht (Langer

2001, Davies/Langer 2006). Man kann davon ausge­ 14. Jahrhundert in ihrer jetzigen

hen, dass die tun-Periphrase seit etwa dem

Form in den Dialekten des Deutschen verwendet wird. Dialektologische Studien zum Auftreten der Konstruktion haben bislang keinen regionalen Ausgangspunkt für ihre Ausbreitung erkennen lassen. Sie gilt als eine in deutschen Dialekten allgemein verbreitete Konstruktion. Die aktuelle Duden-Grammatik lässt die Verwendung der tun-Periphrase nur in einer besonderen syntaktischen Konstellation zu, nämlich bei Voran­ steilung eines in Präsens oder Präteritum flektierten Vollverbs im Hauptsatz:

(2) Schlafen tut/tat Peter nicht. Die Sätze in

(1) werden aber für das Standarddeutsche ausgeschlossen. Hier

besteht nun ein Kontrast zwischen geschriebener und gesprochener Spra­ che, da Sätze wie in

(1) in der gesprochenen Alltagssprache durchaus Ver­

wendung finden. Für die Beschreibung der Morphologie des Standarddeut­ schen

ergibt

sich

dadurch

eine

seltsame

Situation.

Wir

wollen

ja

beschreiben, was im Standarddeutschen im Allgemeinen morphologisch möglich ist. Dazu beschreiben wir die Flexion von Verben sowie das Inven­ tar der analytischen Alternativen dazu. Fragen wir nun die Duden-Gramma­ tik, ob die tun-Periphrase im Standarddeutschen möglich ist, so erhalten wir

6.3 Die Stigmatisierung der tun-Periphrase

als Antwort ein "jein": Sie ist in Fällen wie (2) möglich, in Fällen wie (1) aber nicht. Damit ist die Frage andererseits klar beantwortet. Damit sie in (2) ver­ wendet werden kann, muss die tun-Periphrase im Standarddeutschen im Allgemeinen überhaupt erst einmal gebildet werden können, das heißt: ja,

Normativer Ausschluss der tun-Periphrase

das Standarddeutsche verfügt über die Regel zur Bildung dieser analyti­ schen Konstruktion. Ihre Verwendung in Fällen wie (1) muss dann im Nachhinein explizit ausgeschlossen werden. Das Verbot von Fällen wie (1) gibt sich so als rein normativ motiviert erkennen. Die Ausdrucksmöglich­ keiten des Standarddeutschen werden auf diese Weise künstlich einge­ schränkt. Um die Geschichte der Stigmatisierung der tun-Periphrase nachzuzeich­

Geschichte der

nen, werteten Langer (2001) und Davies/Langer (2005) Grammatiken und

Stigmatisierung

Sprachratgeber zur deutschen Sprache vom 16. jahrhundert bis zur Gegen­ wart aus. Die frühen Grammatiken dienten vor allem praktischen Zwecken. In den Städten wurde die Lese- und Schreibfähigkeit für Kaufleute und Handwerker zunehmend wichtiger, so dass hier ein Bedarf an Instruktion und Lehrmaterialien entstand. Ab dem 17. jahrhundert kamen auch Gram­ matiken dazu, die sich als Einführungen in die poetische Sprache verstan­ den, also im Grunde so etwas wie Ratgeber für gutes Deutsch, schönen Aus­ druck waren. Im 17. und dann besonders im 18. jahrhundert führten die Bemühungen um eine deutsche Nationalliteratur und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht zu einer gründlichen akademischen Beschäftigung mit der deutschen Standardsprache und zu ihrer detaillierten Kodifizierung. Die einflussreichsten Werke dieser Zeit sind die Grammatiken von Gott­ sched (1762) und Adelung (1782). In seinem Korpus fand Langer (2001) bis etwa 1640 keine negativen Er­ wähnungen der tun-Periphrase. Für die Phase des Frühneuhochdeutschen (etwa 1350-1650) wird allgemein angenommen, dass sie ohne negative Konnotation verwendet wurde. Die erste Phase der Stigmatisierung identifi­ ziert Langer für Grammatiken aus der Zeit von 1640 bis 1680, in denen empfohlen wird, die tun-Periphrase in der Dichtung zu vermeiden. Die drit­ te Phase bis etwa 1740 weitet die Stigmatisierung allgemein auf geschriebe­ ne Sprache aus. Die Konstruktion wird auch irrtümlich als süddeutsch klas­ sifiziert. Ab 1740 tritt eine soziolinguistische Abwertung hinzu. Die Konstruktion wird in den Grammatiken als sprachliches Merkmal der nie­ deren sozialen Schichten klassifiziert, und mit Verweis darauf als in der "hochdeutschen" Standardsprache ungeeignet bezeichnet. In Gottscheds Grammatik liest sich das beispielsweise so: "Doch diese Art zu reden und zu schreiben, ist heutigen Tages lächerlich geworden, und gilt kaum unter Handwerksburschen und in altväterlichen Reichsstädten noch." (Gottsched

1762) Die Abwertung der tun-Periphrase als archaische Sprache, ungebildete Ausdrucksweise oder schlicht "Pöbelsprache" dominiert laut Davies/Langer

(2005) in den Grammatiken bis etwa 1900. In Grammatiken des 20. jahr­ hunderts bis zur Gegenwart findet sich die neutraler klingende, aber nicht wesentlich anders gemeinte (bloß politisch korrektere) Bezeichnung "um­ gangssprachlich". Die Autoren lassen sich in zwei Gruppen einteilen, sol­ che die tun als Hilfsverb in speziellen Fällen wie (2) für die Standardsprache

71

72

6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung

akzeptieren, und solche, die auch in diesen Fällen keine Ausnahme ma­ chen. Aus Sicht des Grammatikforschers sind beide Haltungen unbefriedigend. Denn es lassen sich aus der Logik des sprachlichen Regelsystems heraus schlicht keine plausiblen Begründungen dafür finden, warum Fälle wie

(1)

standardsprachlich ausgeschlossen sein sollen. Da es aber faktisch so ist, dass die Stigmatisierung der tun-Periphrase für die geschriebene Standard­ sprache von der Sprachgemeinschaft allgemein akzeptiert und befolgt wird, bleibt uns keine andere Wahl, als

1. die grammatische Heterogenität der

deutschen Standardsprache (schriftliche/"gehobene" Form vs. Alltagsform) zu akzeptieren, und 2. zuzugeben, dass normative Bemühungen tatsächlich einen nachweisbaren Einfluss auf die Grammatik einer Sprache - so, wie sie sich empirisch darstellt - ausüben. Tradition der

Die Nachhaltigkeit dieser Stigmatisierung - so muss der germanistische

Stigmatisierung

Linguist weiter frustriert feststellen -, wird in erster Linie durch die Deutsch­ lehrerinnen über den Deutschunterricht in der Schule abgesichert, also von genau denjenigen Personen, denen er im Laufe ihrer universitären Ausbil­ dung versucht, genau das Gegenteil beizubringen. Eine Konsequenz dieser Diskussion kann darin bestehen, dass Sprachwis­ senschaftler/innen dem Drängen der laienlinguistischen Sprachkritik nach­ geben und sich in den Diskurs um die "richtige" Fassung der deutschen Standardsprache einschalten. Das ist in der Vergangenheit auch geschehen, nur war das den Sprachkritikern dann häufig auch nicht recht. Im konkreten Fall würden Linguistinnen sich ja gegen die Stigmatisierung der tun-Periphrase wenden, weil aus ihr ein undemokratischer, diskriminie­ render Geist spricht, der zu einer modernen, egalitären und freien Demo­ kratie nicht passt. Von Sprachkritikern bekommen Linguist/innen, die sich so positionieren, dann gerne erst recht ihre vermeintliche Prinzipienlosig­ keit vorgeworfen, mit der sie dem Verfall der deutschen Sprache dann auch noch Vorschub leisteten. Das macht dann nur umso deutlicher, dass die Ent­ scheidung darüber, ob die tun-Periphrase (oder ein beliebiges anderes Ele­ ment der Alltagssprache) zum Standarddeutschen gehört, eine politische Entscheidung ist, auch wenn sie im Deckmantel der vermeintlich ästhetisch begründeten Sprachpflege daherkommt. Man kann sich eben eher konservativ-elitär positionieren und die Ver­ wendung der tun-Periphrase verdammen oder egalitär und die Verwendung der tun-Periphrase fördern. Unabhängig davon muss aus linguistischer Sicht eingewendet werden, dass man sich nur deshalb über die tun-Periphrase streiten kann, weil es sie gibt. Sie ist in diesem Sinne selbstverständlich Teil der deutschen Sprache. Dass sie dies wahrscheinlich schon weit länger ist, als man gemeinhin meint, wird im folgenden Abschnitt gezeigt, in dem es um die Geschichte der schwachen Verbflexion geht.

6.4 Die Entstehung der schwachen Verbflexion Die Frage, wie die schwache Verbflexion im Deutschen, und allgemein den germanischen Sprachen, entstanden ist, wurde sehr lange sehr kontrovers

6.4 Die Entstehung der schwachen Verbflexion

diskutiert. Sie hat noch keine absolut gesicherte Antwort erhalten. Das ist auch nicht zu erwarten, wei I der Zeitpunkt der Entstehung des Dentalsuffi­ xes in einem Zeitraum liegt, aus dem es noch keine schriftlichen Quellen gibt. Die ältesten Quellen zum Deutschen sind althochdeutsche Texte aus dem 8. Jahrhundert, in denen das Dentalsuffix bereits existiert. Trotzdem hat sich eines der vorgeschlagenen Entwicklungsszenarien für die schwache Verbflexion als das plausibelste herauskristallisiert. Es soll hier vorgestellt werden. Wir folgen dabei weitgehend der Darstellung in Sczepaniak (2009). Das Dentalsuffix hatte sich im Althochdeutschen bereits voll etabliert, wie wir hier am Beispiel des Verbs salbon ("salben") zeigen (Sczepaniak

2009, 116): Singular Präteritum

Plural Präteritum

1. Person 2. Person

salbö-t-a

salbö-t-um

salbö-t-os(t)

salbö-t-ut

3. Person

salbö-t-a

salbö-t-un

Tabelle 31: Flexionsparadigma von ahd. salbOn Es gibt hier noch einige morphologische Besonderheiten zu beachten: zwi­ schen die Wurzel salb- und die Flexionsendung tritt noch ein Stammbil­ dungssuffix, der sogenannte Themavokal -0-. Die Verben des Althochdeut­ schen lassen sich mittels ihrer Themavokale in unterschiedliche Klassen gruppieren. In den personalen Flexionsendungen sehen wir, dass hier noch verschiedene Vollvokale verwendet werden. Die Veränderungen, die sich über das Mittel- zum Neuhochdeutschen in der Verbflexion vollzogen, be­ standen vor allem darin, dass die Vollvokale im Flexionssuffix zum Schwa abgeschwächt beziehungsweise ganz abgebaut wurden. Um etwas über die Entstehung des Dentalsuffixes zu erfahren, muss man noch etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Die ältesten Schrift­ zeugnisse aus einer germanischen Sprache stammen aus dem Gotischen. Es handelt sich um eine fragmentarisch erhaltene Bibelübersetzung (die soge­ nannte "Wulfilabibel" des Bischofs Wulfila) aus dem 4. Jahrhundert n. ehr. Das Gotische gehört zur Gruppe der ostgermanischen Sprachen. Es hat ge­ ringe Übereinstimmung mit dem Althochdeutschen, einer westgermani­ schen Sprache, aber im Germanischen und Indogermanischen eine gemein­ same Wurzel. Das Dentalsuffix ist in allen germanischen Sprachen zu finden, so dass man annimmt, dass seine Entstehung in die Zeit vor der Auf­ spaltung in die verschiedenen Zweige der germanischen Sprache fällt. Das Gotische, als älteste überlieferte germanische Sprache, kann deshalb am ehesten Aufschluss über das Dentalsuffix geben. Das Verb salben stellt sich hier wie folgt dar (Sczepaniak 2009, 115): Singular Präteritum

Plural Präteritum

1. Person 2. Person

salbö-da

salbö-dpdum

salbö-dps

salbö-dpdup

3. Person

salbö-da

salbö-dpdun

Tabelle 32: Flexionsparadigma von got. salb6n

Herkunft des Dentalsuffixes

73

74

6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung

Das Besondere an dieser Form ist das ungewöhnlich komplexe Pluralsuffix. Seine Ähnlichkeit mit der Flexion von

tun im Althochdeutschen ist augen­

fällig: Singular Präteritum

Plural Präteritum

1. Person

teta

tätum

2. Person 3. Person

täti

tätut

teta

tätun

Tabelle 33: Flexionsparadigma von ahd. tuon Entstehung des Den­

Das Entwicklungsszenario für das Dentalsuffix ist aufgrund solcher und wei­

talsuffix aus einer frü­

terer Befunde das Folgende: es gab im Germanischen Verben, die nicht auf

hen tun-Periphrase

die herkömmliche Weise das Präteritum bilden konnten. Für diese Verben musste auf eine andere Konstruktion ausgewichen werden. Wie auch die heutige tun-Periphrase zeigt, ist eine Bildung mit

tun eine sehr plausible

Konstruktion für diesen Zweck. Die ursprüngliche Form war eine, in der das Vollverb in einer speziellen Form, dem heutigen Infinitiv ähnlich, verwen­ det wurde. Ihm folgte unmittelbar die Präteritalform von

tun. Diese Verbin­

dung wurde dann als feste morphologische Fügung reanalysiert, aus dem Verb ist ein Flexionssuffix geworden. Das ist in etwa der Stand in den goti­ schen Belegen. Die Phase, die sich daran anschließt, zeichnet sich durch die lautliche Reduktion des Suffixes aus, von dem schließlich, wie im AHD, nur noch das

-t- übrigbleibt.

Dieses Szenario ist auch deshalb so plausibel, weil es einem allgemeinen Entwicklungsmuster für grammatische Flexive folgt, das wir aus vielen an­ deren Fällen in vielen Sprachen kennen. Wir bezeichnen diesen Prozess als

Grammatikalisierung. Im nächsten Abschnitt werden wir ihn anhand unse­ res Beispiels noch etwas genauer beleuchten.

6.5 Grammatikal isierung Die morphologischen Einheiten, mit denen wir Substantive, Adjektive und Verben deklinieren bzw. konjugieren, sind in der Regel nicht als solche Flexionselemente in die Sprache eingeführt worden. Sie sind aus anderen Elementen in einem längeren Prozess entstanden, den wir als Grammati­ kalisierung bezeichnen. Im Zusammenhang mit dem Verb tun haben wir gleich zwei solcher Prozesse kennen gelernt, die Entstehung der schwa­ chen Flexion und die neuhochdeutsche tun-Periphrase. Sie sind auf ver­ schiedene Weise exemplarisch für Grammatikalisierungsprozesse. Zeitlicher Ablauf der

Es existieren verschiedene Vorschläge zur zeitlichen U ntertei I ung von

Grammatikalisierung

Grammatikalisierungsprozessen. Ein Modell, das sich sehr gut bewährt hat, stammt von Heine

(2003). Er unterteilt einen Grammatikalisierungsprozess

in vier zeitliche Phasen. Auch hier folgen wir in der Darstellung Sczepaniak 1. Desemantisierung

(2009): 1. Phase: Oesemantisierung. Ein ursprünglich reines Inhaltswort wird in einer grammatischen Funktion verwendet. Das führt zu einer "semantischen Ausbleichung". Wenn ein Wort in einer grammatischen Funktion verwendet

6.5 Grammatikalisierung

wird, dann fließen dabei nicht mehr alle Bedeutungsaspekte des Wortes in die Satzbedeutung ein. Das Verb tun kann als ein sehr allgemeines T ätig­ keitswort verstanden werden: jemand der etwas tut, der führt irgendeine T ä­ tigkeit oder Handlung aus. Als Hilfsverb wird tun aber auf die Tempusbe­ deutung reduziert. In der Verwendung als Vollverb hat das Verb seine Bedeutung bis heute erhalten, wie folgendes Beispiel zeigt:

(3) A: Was tust du? B: ??Ich glaube an Gott B's Antwort erscheint uns inadäquat, weil A nach einer Tätigkeit fragt, und Glauben keine T ätigkeit in diesem Sinne ist. Mit anderen Worten, tun und gla uben sind semantisch inkompatibel. Trotzdem können sie in der tun-Pe­ riphrase zusammen verwendet werden:

(4) a. Tust du an Gott glauben? b. Glauben tu ich das nicht. Man kann also Desemantisierung auch so verstehen, dass ein Inhaltswort neben seiner eigentlichen Bedeutung noch andere Bedeutungen oder Funk­ tionen hinzugewinnt. Desemantisierung lässt sich nicht nur im Rahmen von Grammatikalisierung beobachten, sondern betrifft auch den Bedeutungs­ wandel von Inhaltswörtern. In den folgenden Beispielen wird niemandem etwas gegeben und es bewegt sich auch niemand auf zwei Beinen gehend oder laufend vorwärts:

(5) a. Es gibt in Bielefeld sieben Hochschulen. b. Wie geht es dir? c. Die Vorlesung läuft besser als gedacht. Inhaltswörter werden nicht aus heiterem Himmel als grammatische Elemen­

Auslöser der

te eingesetzt. In der Regel bedarf es dazu einer Notwendigkeit. Das heißt,

germanischen

im grammatischen System muss eine Lücke aufgetreten sein, die durch die neue Form gefüllt werden muss. Im Fall der schwachen Flexion im Germa­ nischen ist diese Lücke wahrscheinlich dadurch entstanden, dass sich bei einer Gruppe von Verben die übliche Form der Präteritumsflexion nicht ver­ wenden ließ. In den frühen Stufen der germanischen Sprachen war die Mar­ kierung durch Vokalwechsel (der sog. Ablaut) die dominierende Art der Tempusflexion. Sie ist im Deutschen auch heute noch bei den starken Ver­ ben zu sehen (ich gebe/gab, ich singe/sang, ich laufe/lief, usw.). Ablaut ist beschränkt auf Verben mit einer einsilbigen Wurzel. Sobald ein Verb eine komplexere Struktur aufweist, lässt es sich nicht mehr mittels Ablaut flektie­ ren. Das betrifft Bildungen mit Präfixen allerdings nicht (ich spreche/sprach vs. be-spreche/be-sprach usw.). Die Fälle, die für die Präteritumsflexion auf tun angewiesen waren, waren morphologisch komplexe Bildungen aus Substantiven, Adjektiven oder an­ deren Verben. Ein Beispiel ist das Verb

wecken, germanisch *wak-ja-n (der

,,*" steht für "nicht belegt", sondern historisch rekonstruiert, aus dem Ger­ manischen existieren bekanntlich so gut wie keine schriftlichen Belege). Es besteht aus dem Adjektiv rivationssuffix

wak ("wach") und dem kausativen verbalen De­ -ja, das Verursachung ausdrückt. Die Bildung bedeutet also

tun-Periphrase

7S

76 6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung wörtlich so etwas wie "wach machen". wakjan konnte nun nicht per Ablaut flektiert werden. Also musste man auf eine Hilfskonstruktion zurückgreifen, die frühe germanische Variante der tun-Periphrase, in der tun unmittelbar auf eine infinite Form des Vollverbs folgte, also wecken tat. Das Germanische kannte neben dem Ablaut noch eine andere Form der Vergangenheitsflexion, die im Gotischen noch erhalten war, aber heute ausgestorben ist. Dabei wurde das Verb per Reduplikation präfigiert. Das Verb tun war selbst von dieser Art. Als Infinitiv wurde für das Germanische *dön rekonstruiert, für das Präteritum *dedunt. Das reduplizierte Präfix, hier de-, bestand aus dem ersten Konsonanten des Verbs und einem festge­ legten Vokal, der wohl dem heutigen e oder ä entsprach. Dadurch war die Präteritumsform von tun zweisilbig. In den belegten Flexionsformen der go­ tischen schwachen Verben ist diese Zweisilbigkeit im Pluralsuffix noch er­ halten. Auslöser der nhd.

Für die tun-Periphrase des Neuhochdeutschen lassen sich zwei begünsti-

tun-Periphrase

gende Umstände ausmachen. Zum einen gab es Schwierigkeiten mit der schwachen Flexion, die dadurch entstanden, dass das Präteritum einem fortgesetzten lautlichen Erosionsprozess ausgesetzt war (und ist). Dieses letzte Stadium der Grammatikalisierung wird unten beschrieben. In der All­ tagssprache und vielen Dialekten des Deutschen wird ein Schwa am Ende eines Wortes getilgt, so dass statt er sagte beispielsweise er sagt' verwendet wird. Dadurch wird das Präteritum aber ununterscheidbar vom Präsens er sagt. Will man in diesem Fall also eindeutig Vergangenheit ausdrücken, muss man auf eine andere Konstruktion ausweichen. Wir haben oben be­ reits gesehen, dass das Perfekt sich als allgemeine Form zum Ausdruck der Vergangenheit durchgesetzt hat. Die tun-Periphrase ist aber daneben als Option in den Dialekten und der Alltagssprache bis heute erhalten geblie­ ben. Ein zweiter Faktor, der generell analytische Konstruktionen gegenüber synthetischen bevorzugt, ist die Verbsteilung in der deutschen Satzstruktur. Im Hauptsatz wird die sogenannte Klammerstruktur verwendet. Das finite Verb ist die zweite Konstituente im Satz, infinite Verben stehen satzfinal. Ein finites Vollverb steht deshalb an zweiter Stelle:

(6) Ich lese Bücher. Das Verb steht so in der Normalwortstellung zum Beispiel vor dem Akkusa­ tivobjekt. Infinite Verbphrasen bevorzugen demgegenüber aber eine Ob­ jekt-Verb-Stellung, wie im folgenden Beispiel:

(7) a. [Bücher lesen] macht Spaß. b. *[Lesen Bücher] macht Spaß. Will man beide Beobachtungen in Regeln fassen, so ergibt sich, dass ein fi­ nites, also synthetisch flektiertes Vollverb zwei Anforderungen ausgesetzt ist, die sich nicht gleichzeitig erfüllen lassen. Es soll gleichzeitig an zweiter (als finites Verb) und an letzter Stelle (als Vollverb) im Satz auftreten. Analy­ tische Konstruktionen lösen dieses Dilemma auf, da das Hilfsverb als finites Verb fungiert und das infinite Vollverb in satzfinaler Position stehen kann. 2. Extension

2. Phase: Extension (Kontexterweiterung). Nachdem tun also in seiner

Hilfsverbverwendung seine ursprüngliche Bedeutung, eine allgemeine Tä-

6.5 Grammatikalisierung

tigkeit auszudrücken, verloren hatte, konnte es auch in Hilfsverbfunktion mit Verben kombiniert werden, die keine Tätigkeit beschreiben. Es erfährt so eine Erweiterung seiner Anwendungskontexte. Die semantische Ausblei­ chung wird auf diese Weise weiter gestützt. In dieser Phase sind also Ver­ wendungen wie in (4) hinzugetreten. Damit war es als Hilfsverb voll etab­ liert. Das ist das heutige Stadium der tun-Periphrase. Für die schwache Flexion besteht Extension auch darin, dass vormals stark flektierte Verben in die Klasse der schwach flektierten wechseln. 3.

Phase: Oekategorialisierung Als Hilfsverb ist tun auch in morphosyn­

taktischer Hinsicht eingeschränkt. In der Herausbildung der schwachen Prä­

3. Dekategori­ alisierung

teritumsflexion war tun als Hilfsverb beispielsweise nur für das Präteritum flektierbar. Letztlich ergab sich so eine Abspaltung zwischen tun als Vollverb und tun als Hilfsverb auch in kategorialer Hinsicht. Ein interessanter besonderer Aspekt im Gotischen ist, dass in den überlieferten Texten tun als Vollverb nicht zu finden ist. Gleiches gilt für die skandinavischen Sprachen, für die eine engere historische Verwandtschaft zum Gotischen angenommen wird. Hier dürfte tun also nur in seiner Hilfsverb-Funktion und dann als schwache Präteritumsflexion überlebt haben und in seiner Vollverb-Verwendung ausgestorben sein. 4.

Phase: Erosion. Die letzte Phase besteht darin, dass das Element in sei-

ner phonetischen Gestalt reduziert wird. Die ursprünglichen Vollvokale wurden zu schwachen Vokalen reduziert (z. B. mittelhochdeutsch salb-

eten), und fielen z. T. ganz weg (nhd. salbtenlsalbtn). Die Erosion führt tendenziell dazu, dass die Flexionsformen nicht mehr distinktiv sind. Dies ist zum Beispiel bei der oben bereits besprochenen Schwa-Tilgung am Wortende (salbte



salbO der Fall, die typisch für die oberdeutschen Dialekte ist,

in denen der Präteritumschwund am frühesten einsetzte und heute auch am weitesten fortgeschritten ist. Ein Aspekt, der auch dazu gehört, ist, dass sich die schwache Flexion im Laufe der Entwicklung als Standard-Präteritumsflexion durchgesetzt hat und der Ablaut nur noch in einer kleinen Gruppe starker Verben erhalten blieb. Neu entstandene Verben werden alle schwach flektiert. Die Erosion steht so am Ende eines Crammatikalisierungszyklus, auf den der Beginn eines neuen Zyklus folgt. Er hat seinen Ausgangspunkt wiede­ rum in der Neugewinnung von Funktionswörtern aus Inhaltswörtern für analytische Alternativen zu den erodierenden synthetischen Formen. Die Grammatikalisierungstheorie beschreibt grammatischen Wandel also als einen im Grunde ewigen Wandel zwischen analytischen und syntheti­ schen Konstruktionsweisen. Dieser Prozess ist zeitlich gerichtet: ein Wan­ del in umgekehrter Richtung, also vom (beinahe) erodierten Flexiv zum Funktionswort und weiter zum Inhaltswort ist bislang in keiner Sprache be­ legt. Gerade vor dem Hintergrund einer solchen prinzipiell dynamischen Vor­ stellung des Sprachsystems wird es aus linguistischer Sicht unmöglich, eine bestimmte Idealvorstellung von der Form einer Sprache zu verfolgen, wie dies aus den Reihen nicht nur der laienlinguistischen Sprachkritik verlangt wird. Die Forderung nach einem Sprachideal für das Deutsche wird aber auch durch die enorme dialektale Vielfalt fragwürdig, die wir im folgenden Kapitel etwas beleuchten.

4. Erosion

77

78 6. Norm und Wirklichkeit in der Verbflexion und ihre historische Entwicklung

tl:n

Übungen

1. Wie ist vor dem Hintergrund der Diskussion in diesem Kapitel die Verwen­

dung der Präposition bei mit Akkusativ wie in Ich gehe bei die Kirche ne­ ben bei+Dativ Ich bin bei der Kirche in einigen deutschen Dialekten zu bewerten? 2. Ein beliebtes Thema der Sprachkritik sind Anglizismen. Können Sie sich

vorstellen, welche Haltung dazu in der Sprachwissenschaft herrscht?



Lektüre zur Vertiefung

Zur Problematik der linguistischen Bewertung von Standardsprachen: Weiß

(2004,2005); zur Grammatikalisierung: Szczepaniak (2009).

7. Alltagssprachliche und dialektale Variation 7.1 Alltagssprache: Gesprochene Standardsprache Die gesprochene Standardsprache unterscheidet sich von der geschriebe­ nen Sprache in einer Reihe von grammatischen Aspekten. Zu unterscheiden ist dabei zwischen bloß phonetischen Vereinfachungen in der Flexion, die noch keinen Zusammen- oder Wegfall von morphologischen Distinktionen bedeuten, und solchen, in denen das der Fall ist. Beispiele der ersten Art betreffen Phänomene der lautlichen Reduktion

Lautliche Reduktion

von Flexiven, die wir aus der Geschichte der deutschen Sprache schon lange kennen, wie etwa den Wegfall (sog. Apokope) eines Schwa am Wortendeo Dies beobachten wir bei Verben in der 1. Person Singular Präsens und im Imperativ Singular:

(1) a. Ich habe gesungen. (geschrieben) b. Ich hab' gesungen. (gesprochen) c. Bleibe dort! (geschrieben) d. Bleib' dort! (gesprochen) Im ersteren Fall (1 b) wird das Verb auf seine Wurzel reduziert. Da dies aber im Präsensparadigma die einzige Stelle ist, an der diese "Nullflexion" auf­ tritt, führt es zu keinem Verlust an Distinktionen. Es ist also ein rein phoneti­ sches Phänomen. Das Gleiche gilt für den Imperativ. Im Maskulinum Dativ Singular führt der Wegfall des -e zum Synkretismus

in der Nominalflexion (im Walde � im Wald). Diese Entwicklung ist bereits

so weit fortgeschritten, dass sie sich in der geschriebenen Standardsprache durchgesetzt hat. Aber auch hier war der Ausgangspunkt der Entwicklung die gesprochene Sprache. Ein in der gesprochenen Alltagssprache sehr weit fortgeschrittener Fall von Reduktion, der in der Schrift nicht reflektiert wird, liegt beim indefiniten Artikel vor. Die reduzierten Varianten 'nen, 'nem, 'ne, 'ner werden gegen-

über den schriftsprachlichen zweisilbigen Formen einen, einem, eine, einer klar bevorzugt. Auch das einsilbige ein wird meist reduziert. Dabei kann man zwischen zwei Varianten unterscheiden. Die standardnahe reduzierte Aussprache ist

'n. Aus den süddeutschen und vielen mitteldeutschen Dialekten kennen wir

aber auch die Reduktion auf ein Schwa oder a:

(2) 'n/'e/'a Auto. Bei der Reduktion von ein wird der Wortstatus des Artikels aufgegeben. Er muss in Wörter in seiner Umgebung integriert werden. Meist lehnt sich der Artikel dabei an das vorhergehende Wort an, wobei weitere phonetische

Der indefinite Artikel

80

7. Alltagssprachliche und dialektale Variation

Vereinfachungen zu beobachten sind, wie beispielsweise eine Assimila­ tion:

(3) Ich hab'n Auto gekauft � Ich hab'm Auto gekauft Meist fallen uns solche rein phonetischen Details im Gespräch nicht einmal auf. Sie scheinen unser Verstehen nicht zu beeinträchtigen. Eine weitere in­ zwischen auch regulär verwendete Reduktion führt allerdings zur Aufgabe einer morphologischen Distinktion: die Reduktion von 'nen zu 'n. Hier­ durch lassen sich im Maskulinum Singular Akkusativ und Nominativ nicht mehr unterscheiden. Das ist insofern interessant, als die beiden Kasus ja so­ wieso nur im Maskulinum Singular unterschieden werden - abgesehen von den Pronomen der 1. und 2. Person. Dazu kommt, dass Kasus primär über den Artikel realisiert wird, so dass hier also ein echter Verlust an morpholo­ gischer Distinktion einsetzt. Der Reduktionspfad einen



'nen � 'n kann auch als exemplarisch geI­

ten für die im vorigen Abschnitt beschriebene letzte Phase der Grammati­ kalisierung, die Erosion. Das Wort einen wird zunächst von zwei auf eine Silbe reduziert, um im nächsten Schritt dann auch seinen silbischen Charak­ ter zu verlieren. Der letzte Schritt kann dann nur noch im vollständigen Ver­ schwinden des Elements bestehen. 'nen

Eine inzwischen häufiger zu beobachtende alternative Entwicklung be­ steht in der Ausbreitung von 'nen auf den Nominativ (da steht 'nen Auto). Das Ergebnis des Zusammenfalls von Nominativ und Akkusativ ist das Gleiche. Es ist nur hier so, dass die reduzierte Akkusativform (des Maskuli­ num) sich auf den Nominativ Maskulinum und das Neutrum ausbreitet. Szczepaniak (2009, 79) vermutet dahinter mit Vogel (2006) die Tendenz zur Homogenisierung des Paradigmas der indefiniten Artikels zu auf 'n begin­

nenden einsilbigen Formen mit Schwa im Silbengipfel. Weitere Besonder­

Weitere Kennzeichen der mündlichen deutschen Sprache, die sich bis­

heiten der Alltags­

lang nicht oder gering in der geschriebenen Standardsprache niedergeschla­

sprache

gen haben, bestehen in der verbreiteten Verwendung der definiten Artikel­ formen der, die, das als Pronomina (wie in weil ich den nicht kenne) und im weitgehenden Verlust des Genitivs. Auch diese Entwicklungen folgen dem bereits beschriebenen Grammatikalisierungsmuster.

7.2 Flexion in deutschen Dialekten Aus dem verbalen Bereich sind hier einige schon oben benannte Fälle des Wandels von synthetischer zu analytischer Flexion zu nennen. Bezieht man die dialektale Variation mit ein, dann liefert insbesondere das Studium von Flexionsparadigmen interessante Abweichungen vom Schriftstandard. Ra­ banus (2008) legte eine detaillierte Studie zu Distinktionen und Synkretis­ men in verbalen Paradigmen deutscher Dialekte vor. Die Studie ist auf eini­ ge Gruppen hochdeutscher und westmitteldeutscher Dialekte beschränkt. Insgesamt gibt Rabanus an, 2427 Ortsdialekte untersucht zu haben. Es geht in der Untersuchung vor allem um die Verbflexion im Präsens Indikativ und

7.2 Flexion in deutschen Dialekten

die Pronominalformen. Zur Erinnerung: Im Standarddeutschen enthält das Präsens-Paradigma die folgenden Distinktionen:

haben

sein

geben

sagen

1. Sg.

habe

bin

gebe

sage

2. Sg.

hast

bist

gibst

sagst

3. Sg.

hat

ist

gibt

sagt

1. PI.

haben

sind

geben

sagen

2. PI.

habt

seid

gebt

sagt

3. PI.

haben

sind

geben

sagen

Tabelle 34: Präsens-Flexionsparadigma des Standarddeutschen

Das Paradigma ist dadurch gekennzeichnet, dass im Singular alle drei Perso­ nen eindeutig unterschieden werden, und im Plural 1. und 3. Person zusam­ menfallen. Gleichzeitig ist der Exponent der 3. Person Singular, -t, auch der der 2. Person Plural. In den von Rabanus untersuchten Dialekten finden wir zwei Arten von abweichenden Mustern, die aber alleine den Plural betref­ fen. Im Singular findet sich in allen untersuchten Dialekten die gleiche drei­ fache Unterscheidung, die das Standarddeutsche kennzeichnet. Die Ab­ weichungen im Plural betreffen einerseits einen Zusammenfall aller drei Formen. Der typische Fall ist hier die schwäbische Dialektregion in Baden­ Württemberg. Andererseits finden wir auch die gegenteilige Entwicklung, bei der sich auch im Plural alle drei Personen voneinander unterscheiden. Hier ist das Niederbayrische der typische Fall.

haben

sein

tragen

1. Sg.

hab

bi-n

drä

2. Sg.

he-sch

bi-sch

drai-sch

3. Sg.

he-t

isch

drai-t

1. PI.

he-n

si-n

dräg-e

2. PI.

he-n

si-n

dräg-e

3. PI.

he-n

si-n

dräg-e

Tabelle 35: Verbflexion im Präsens im Dialekt von Appenweier (Baden­ Württemberg, nach Rabanus 2008, S. 131, a signalisiert ein lan­ ges a)

Der Dialekt von Appenweier steht hier für stellvertretend für Niederaleman­ nische Dialekte westlich der sogenannten "Schwarzwaldschranke". Östlich davon findet man in den schwäbischen Dialekten in allen Formen außer der 1. Person Sg. ein finales -t

81

82 7. Alltagssprachliche und dialektale Variation haben

sein

tragen

1. Sg.

ho(-n)

bT

dräg

2. Sg.

ho-scht

bi-scht

dräi-scht

3. Sg.

ho-t

isch-t

dräi-t

1. PI.

ho-nt

si-nt

dräg-et

2. PI.

ho-nt

si-nt

dräg-et

3. PI.

ho-nt

si-nt

dräg-et

Tabelle 36: Verbflexion im Präsens im schwäbischen Dialekt von Kluftern (Baden-Württemberg, nach Rabanus 2008, S. 131) In den niederbaTrischen Dialekten lässt sich die umgekehrte Entwicklung beobachten: auch im Plural werden bei den Hilfsverben haben und sein alle drei Formen unterschieden. Hier das Beispiel des Dialekts von Strau­ bing, in dem die 1. Person Plural von haben und sein auffällt:

haben

sein

tragen

1. Sg.

hob

bi-n

drog

2. Sg.

hob-ts

bi-st

drag-st

3. Sg.

ho-t

is

drag-t

1. PI.

ham-ma

sam-ma

drog-n (

2. PI.

hab-ts

sa-ts

drog-ts

3. PI.

ham

sa-n

drog-n (

=

=

[drolJ])

[drolJ])

Tabelle 37: Verbflexion im Präsens im niederbaTrischen Dialekt von Strau­ bing (Bayern, nach Rabanus 2008, S. 234) Die Entstehung dieser Markierung ist relativ transparent. Das Pronomen der

1. Person Plural ist hier mir mit abgeschwächtem Vokal und R-Vokalisie­ rung ma. Das finale n in haben wird in der Regel mit dem b assimiliert. Die -

folgende Kette phonetischer Vereinfachungen, die so auch in der nichtdia­ lektalen gesprochenen Alltagssprache zu finden sind, liegt hier vor:

(5) haben



habn



habm



ham

Die Sequenz haben wir wird also ham ma ausgesprochen. Die Identität des letzten Konsonanten des ersten und ersten Konsonanten des zweiten Wortes begünstigt das Verschmelzen der beiden Formen. In einer Region im bairisch-schwäbischen Sprachgebiet (Rabanus' Refe­ renzort ist Unterliezheim) findet sich diese besondere Markierung auch bei Vollverben. Das Suffix ist hier -mr, also ha-mr, se-mr, drag-mr. Das korreliert mit der Besonderheit, dass hier das Pronomen der 1. Person Plural in allen Kasusformen uns ist. Das ursprüngliche Pronomen wir ist hier offensichtlich als Flexionssuffix reanalysiert worden. Nach Rabanus (2008, 172) vollzog sich dies in folgenden Schritten:

7.2 Flexion in deutschen Dialekten

(6) 1. wir trag-en



2. trag-en wir



3. trag-mr



4. uns trag-mr

Das Beispiel zeigt eine etwas extreme Variante einer natürlichen Gramma­ tikalisierungsentwicklung, nämlich der Reanalyse eines Subjekts-Prono­ mens als Flexionssuffix mit nachfolgender "Füllung" der entstandenen Lü­ cke im Pronominalparadigma durch die akkusativische Form. Rabanus schränkt ein, dass die Entwicklung noch nicht vollständig vollzogen ist: bei Verb-Letzt-Stellung des Vollverbs, wird -mr an die Konjunktion angehängt und das Verb hat die Form, die auch in der 3. Person Plural verwendet wird:

(7) wia-mr uns nächt hoimkomma se-nt "Als wir gestern Abend zurückkamen." (Rabanus 2008, S. 174) Auch die gesprochene Alltagssprache kennt die Zusammenziehung von Hilfsverb und wir zu einem phonologischen Wort. Auch hier kann man noch nicht davon sprechen, dass wir bereits zu einem Suffix geworden ist. Und auch hier ist die neue Form auf den Kontext der Verb-Zweit-Stellung beschränkt:

(8) a. Das hammer (=haben wir) nicht. b. Gleich simmer (= sind wir) da. c. *weil gleich da simmer / weil wir gleich da sind.

tl:n

Übungen

1. Betrachten Sie die folgenden Formen aus einem oberhessischen Dialekt

(rheinfränkische Dialektfamilie):

e Fraa en Fux en Hont eKent eKou enOx e Schof e Stick e Wascht

-zwu Weibs/eu -zwi Fix -zwi Hon -zwäKen -zwuKai -zwiOxe -zwä Schof -zwä Stick -zwu Wöscht

eine Frau -zwei Frauen (= Weibsleute) ein Fuchs -zwei Füchse ein Hund -zwei Hunde ein Kind

-zwei Kinder

eine Kuh

-zwei Kühe

ein Ochse -zwei Ochsen ein Schaf -zwei Schafe ein Stück -zwei Stücke eine Wurst-zwei Würste

Wonach richtet sich die Wahl zwischen den drei Formen zwä, zwi, zwu für "zwei"? 2. Betrachten Sie die verschiedenen Formen der Pluralflexion in den Substan­

tiven in Aufgabe 1! Welche Besonderheiten fallen Ihnen hier auf?



Lektüre zur Vertiefung

Eine allgemeine Einführung zur Dialektologie und Soziolinguistik des Deut­ schen ist Barbour/Stephenson ( 1998)

83

8. Wie sich Flexionssysteme entwickeln:

Theorie der Markiertheit In diesem Kapitel soll es darum gehen, warum natürliche Sprachen über­ haupt Flexionssysteme haben, warum sie so aussehen, wie sie aussehen, und sich so entwickeln, wie sie sich entwickeln. Unser Beispiel sind natür­ lich die Flexionssysteme der deutschen Sprache. Mit sprachlichen Äußerungen möchten wir Bedeutungen ausdrücken. Diese Bedeutungen gehen meist über einfache Wortbedeutungen hinaus. Wir kombinieren insbesondere Inhaltswörter zu komplexen Bedeutungen. So entstehen Ausdrücke wie Bierflasche, Kuchen essen, Motorrad fahren, usw. Funktion der Flexion

Wie würde unsere Sprache aussehen, wenn sie nicht über Flexion verfügen würde? Eine solche Sprache existiert, es ist nämlich die Sprache lernen­ der Kinder im Alter etwa ab eineinhalb Jahren. In diesem Alter verwenden Kinder die ersten Wortkombinationen. Meist handelt es sich um Zwei­ Wort-Ausdrücke. Sagt ein solches Kind zu Ihnen beispielsweise Kaka ma­

chen, so müssen Sie aus einer Reihe von möglichen Interpretationen die vom Kind gemeinte herausfinden:

(1) Kaka machen (Zwei-Wort-Äußerung eines eineinhalbjährigen Kin­ des) a. Das Kind berichtet von einem Ereignis in der Vergangenheit b. Das Kind berichtet, was es gerade macht c. Das Kind berichtet, was bald passieren wird d. Das Kind berichtet, was es für möglich hält e. Das Kind berichtet, was es gerne tun möchte f.... Eine solche einfache Äußerung, die nur Inhaltsworte enthält, erschwert die temporale und aspektuelle Einordnung (1 a-c).Sie signalisiert außerdem kei­ ne Modalität (ld,e). All dies erschwert das Verständnis. Sprachliche Mittel, die eine zeitliche und modale Einordnung erlauben, sind deshalb etwas, was in der Sprache natürlicherweise häufig auftritt. Es entstehen routinemä­ ßige Verwendungen bestimmter Mittel, um Tempus, Aspekt und Modus an­ zuzeigen. Dies führt zum Einstieg in einen Grammatikalisierungsprozess, im Laufe dessen sich Flexionssysteme entwickeln, wie wir sie beim deut­ schen Verb beobachten können. Kasus

Eine ebenfalls semantische Motivation können wir für die Existenz von Kasussystemen geben. Stellen wir uns wieder unser lernendes Kind vor. Es ist mit seinem Papa draußen am spielen. Beide beobachten am Himmel ein Passagierflugzeug, das seine Kondensstreifen hinter sich her zieht. Das Kind deutet auf das Flugzeug und ruft aus "Flugzeug malen!". Der irritierte Vater fragt das Kind, ob es möchte, dass beide ins Haus gehen, um drin ein Flug-

8. Wie sich Flexionssysteme entwickeln: Theorie der Markiertheit

zeug auf Papier zu malen. Darauf das Kind: "Nein, Flugzeug malen". Es dauert eine Weile, bis der Vater versteht, dass das Kind die Kondensstreifen als Zeichnung versteht, die vom Flugzeug ausgeführt wird. Worauf beruht das Missverständnis? Das Prädikat malen hat zwei soge­ nannte semantische Rollen: jemanden, der die Tätigkeit des Maiens aus­ führt, und das, was beim Malen entsteht. In der Äußerung des Kindes liegt mit dem Flugzeug nur eine der beiden Rollen realisiert vor. Der Vater weist ihm zunächst die falsche semantische Rolle, nämlich des Gemalten, zu. Das Kind meint das Flugzeug aber als Malenden. Auch hier ist die Äuße­ rung also ohne die üblichen grammatischen Mittel mehrdeutig. Die Funktion von Kasus liegt darin, in solchen Fällen Abhilfe zu schaffen: bei mehrsteiligen Prädikaten soll er eindeutig kodieren, mit welchen se­ mantischen Rollen welche syntaktische Konstituente verknüpft wird. Ein al­ ternatives Mittel zur Feststellung der semantischen Rollen besteht in der Wortstellung. Im Englischen ist dies besonders augenfällig: das Subjekt steht immer vor dem Vollverb, im Regelfall auch vor einem Hilfsverb, das Objekt steht im Regelfall nach dem Vollverb. Auch das Deutsche kennt solche Ein­ schränkungen, wie am folgenden Satz zu sehen:

(3) ??Maria liebt Hans, ohne sie zu kennen Der Satz ist nur dann auf den ersten Blick sinnvoll, wenn man Maria als Ob­ jekt des Satzes interpretiert (oder Hans als Frauennamen). Das ist aber nicht das, was man macht, wenn keine Kasusinformation zur Verfügung steht. Mithilfe eines definiten Artikels ist das aber leicht zu ändern:

(4) Maria liebt der Hans, ohne sie zu kennen Kasus erhält dem Deutschen so die Möglichkeit der Flexibilität in der Wort­ stellung, die für die deutsche Syntax so charakteristisch ist. Der Sprachwandel in den deutschen Flexionssystemen ist, wie wir bereits in vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, nicht dadurch gekennzeichnet, dass mit der synthetischen Flexionsweise auch morphologische Distinkti­ onsmöglichkeiten verschwinden. In den beiden Hauptfeldern des Flexions­ wandels, Tempus und Kasus, sehen wir bloß den steten Wechsel von syn­ thetischen und analytischen Formen: das Perfekt ersetzt das Präteritum und Präpositionen wie von und andere Konstruktionen ersetzen in der Kasusfle­ xion den Genitiv. Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten solcher Wandelprozesse in den Fle­ xionssystemen

sind

zentraler

Forschungsgegenstand

der

historischen

Linguistik. Ein Theorieansatz, den wir im Folgenden vorstellen möchten, ist der Ansatz der Natürlichen Morphologie. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht eine spezifische Hypothese über die Richtung des morphologischen Sprachwandels. Die wichtigsten frühen Vertreter der natürlichen Morphologie (NM) sind Wolfgang U. Dressler, Willi Mayerthaler und Wolfgang Wurzel. Die NM ist wesentlich inspiriert von der von David Stampe entwickelten natürlichen Phonologie, die wir zunächst kurz betrachten möchten.

Natürliche Morphologie

8S

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8. Wie sich Flexionssysteme entwickeln: Theorie der Markiertheit

8.1 Natürliche Phonologie Die Grundidee der natürlichen Phonologie besteht darin, dass phonetische Veränderungen am zugrunde liegenden Ausdruck, wie zum Beispiel Assi­ milationen

(habn



habm) oder Tilgungen (habm



ham), natürlichen Ur­

sprungs, konkret dem Interesse der Sprecherinnen nach möglichst wenig ar­ tikulatorischem oder perzeptuellem Aufwand geschuldet sind. Zahlreiche Generalisierungen über die Lautstrukturen natürlicher Sprachen lassen sich auf diese Weise auf ökonomische Gesichtspunkte zurückführen. Dazu zählt beispielsweise die Tatsache, dass die Obstruenten (im Deutschen Frikative wie [f v s z

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