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German Pages 155 Year 2005
Grundwissen Erziehungswissenschaft Die Reihe „Grundwissen Erziehungswissenschaft“ stellt Studierenden, Lehrenden und pädagogisch Interessierten den disziplinären Wissensbestand der Erziehungswissenschaft für Studium, Selbststudium und Lehre bereit. In klarer Orientierung am Kerncurriculum der Erziehungswissenschaft der DGfE bilden die Themen der Einzelbände zusammen, systematisch gegliedert, das theoretische Wissen, über das Studierende als Basis für ihr weiteres Studium verfügen sollten. Die gut verständlichen Texte sind auf neuestem Stand der Forschung und wurden in Lehrveranstaltungen praktisch eingesetzt und gemeinsam mit Studierenden auf ihre Studientauglichkeit hin geprüft. Ein übersichtliches Layout mit leitenden Begriffen in der Randspalte erleichtert den Zugang. Jedes Kapitel enthält am Ende kommentierte Literaturhinweise sowie einen kurzen Überblick über das, was der Leser gelernt haben sollte.
Herausgeber: Lothar Wigger, Universität Dortmund Peter Vogel, Universität Dortmund
Sabine Andresen
Einführung in die Jugendforschung
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Für Manuela und Anton Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bestellnummer 15498-3 Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2005 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Katharina Gerwens Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-17516-6
Inhalt Einleitung
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A. Jugend und Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Jugendphase als Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion . 1.1 Jugend als wirksame historische Denkfigur . . . . . . . . 1.1.1 Die Jugendphase in autobiographischen Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Grundlegende Annahmen der Jugendforschung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . 1.1.3 Kriterien der historischen Jugendforschung am Beispiel Jean-Jacques Rousseaus . . . . . . . . . . 1.2 Jugend als „zweite Geburt“ . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Welten des jugendlichen Heranwachsenden . 1.2.2 Die Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Veränderungen im Jugendalter . . . . . . . . . . . 1.2.4 Rousseaus Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Sophie: Mädchenjugend und Mädchentugend . . . . . . 1.3.1 Zwischen Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit . . 1.3.2 Die Diskussion der Geschlechterforschung . . . . . 2 Jugend als Brennglas der Modernisierung um 1900 . . . . . . 2.1 Die Thematisierung von Jugend als Indiz für Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Standardisierung des Lebenslaufs . . . . . . . . . . 2.2 Kulturelle Jugendbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Leiden und Intensität . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Jugend in der Metapher des Frühlings . . . . . . . . 2.2.3 Gleichaltrige in der Literatur . . . . . . . . . . . . 2.3 Jugendbewegung und Jugendbewusstsein . . . . . . . . . 2.3.1 Jugendbewegung als pädagogische Reform . . . . . 2.3.2 Das Männlichkeitsideal des Wandervogels . . . . . 2.3.3 Konfliktlinien der Jugendbewegung . . . . . . . . . 2.3.4 Jugend im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Weibliche Jugend zwischen Natur und Kultur . . . 2.4 Jugend als Spiegel sozialer Probleme . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Halbstarken: Auffällige Großstadtjugend . . . . 2.4.2 Industriegesellschaft und Maßnahmen gegen Verwahrlosung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Sozialforschung als Jugendforschung . . . . . . . .
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Inhalt
B. Adoleszenztheorie und Jugendkunde . . . . . . . . . . . . . . 3 Jugendforschung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Adoleszenztheorie von G. Stanley Hall . . . . . . . . . 3.1 Wechselwirkung zwischen Deutschland und den USA . 3.1.1 Interdisziplinäre Universalgelehrte . . . . . . . . 3.1.2 Zum biographischen Kontext Halls . . . . . . . . 3.2 Entstehung der Adoleszenztheorie . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Entstehungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Pädagogische Intentionen . . . . . . . . . . . . . 3.3 Aspekte der Jugendtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Seele und menschliche Entwicklung . . . . . . . 3.3.2 Die Bedeutung der Sexualität . . . . . . . . . . . 3.3.3 Jugendtheorie und Kulturkritik . . . . . . . . . . 4 Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert . . . . . . . 4.1 Wahrnehmung der Jugend durch Professionelle . . . . . 4.1.1 Das Prinzip der generationalen Unterscheidung . 4.1.2 Vom Jüngling zum Jugendlichen . . . . . . . . . 4.2 Die pädagogische Jugendkunde . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Zur Entstehung der Jugendkunde . . . . . . . . . 4.2.2 Die Didaktisierung der Jugendkunde . . . . . . . 4.2.3 Otto Tumlirz: Ein Vertreter der pädagogischen Jugendkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Deutschsprachige Jugendtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Entwicklung jugendtheoretischen Wissens . . . . . . . . . 5.1 Zur Institutionalisierung der Jugendforschung . . . . . . . 5.1.1 Zwischen universitärer und außeruniversitärer Anbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Das Hamburger Institut unter William Stern . . . . 5.1.3 Das Wiener Institut unter Karl und Charlotte Bühler 5.2 Jugendkultur und Jugendtheorie bei Siegfried Bernfeld . . 5.2.1 Bernfeld als engagierter Vertreter der Jugend . . . . 5.2.2 Bernfelds theoretisch fundiertes Jugendkonzept . . 5.2.3 Bernfelds Kritik an Jugendtheorien . . . . . . . . . 5.2.4 Bernfelds Entwicklungsmodell . . . . . . . . . . . 5.2.5 Die Pubertätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Seelenleben des Jugendlichen bei Charlotte Bühler . 5.3.1 Die Phasen im Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Verlaufstheorie der Pubertät . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zwischen primitiver Pubertät und Kulturpubertät . . 5.4 Die Jugendtheorie der geisteswissenschaftlichen Pädagogik: Eduard Spranger . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Sprangers methodisches Vorgehen . . . . . . . . . 5.4.2 Der Anspruch eines Lehrbuchs . . . . . . . . . . . 5.4.3 Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
D. Sozialwissenschaftliche Jugendforschung . . . . . . . . . . . . . 6 Jugend als Bildungsmoratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Psychoanalytisch orientierte Jugendtheorien im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Anna Freud: Das Drama der Adoleszenz . . . . . . 6.1.2 Peter Blos: Der Phasentheoretiker . . . . . . . . . . 6.1.3 Mario Erdheim: Diskussionen über eine „zweite Chance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Jugend als psychosoziales Bildungsmoratorium: Erik H. Erikson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Biographie und Identität . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 „Kindheit und Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Konflikt und Krise in Eriksons Lebenslauftheorie . . 6.2.4 Zu den acht Lebensphasen . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Die Jugendphase im Lebenslauf: Ich-Identität . . . 6.2.6 Die Jugendphase im Lebenslauf: Krise . . . . . . . 6.2.7 Jugend als Moratorium . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jugendforschung aus gesellschaftstheoretischer Perspektive . . 7.1 Deutsche Teilung und Jugendforschung . . . . . . . . . . 7.2 Soziologische Jugendforschung zwischen Generation und Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Zum Begriff der Generation . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 „Die skeptische Generation“ . . . . . . . . . . . . 7.3 Jugendforschung bis Ende der Sechzigerjahre . . . . . . . 7.3.1 Peer Group und Jugendkultur . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Schichtenspezifische Sozialisation . . . . . . . . . 7.4 Sozialwissenschaftliche Jugendforschung ab den Siebzigerjahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Politische Neuorientierung . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Die Sozialisationstheoretische Analyse der Jugendphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Empirische Jugendforschung im Prozess der Demokratisierung und Pluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Jugendforschung als Einstellungsforschung: Zur Entwicklung der Shell-Jugendstudien . . . . . . . . . . . 8.1.1 Jugendforschung und Öffentlichkeit . . . . . . . . 8.2 Die Entwicklung der Shell-Studien bis zur deutschen Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Die Anfänge in der Bundesrepublik . . . . . . . . . 8.2.2 Folgestudien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren 8.2.3 Die Shell-Jugendstudien seit den Siebzigerjahren . 8.3 Empirische Jugendforschung nach der deutschen Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Zur methodischen Entwicklung . . . . . . . . . . . 8.3.2 Jugend seit der deutschen Vereinigung . . . . . . .
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Inhalt
8.3.3 Jugendliche deutscher und ausländischer Herkunft im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Moderne Jugendforschung im Spannungsfeld von Geschlecht und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Entgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Die Entdeckung der Mädchen . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Geschlechterforschung im Verhältnis zur Mädchenund Frauenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Weibliche Adoleszenz als Thema der Jugendforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Die Entstehung des Neuen in der Jugendkultur . . . 9.3.2 Zugänge der Jugendkulturforschung . . . . . . . . 9.3.3 Jugendliche Subkulturen und Widerstand . . . . . Literaturverzeichnis
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister
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Einleitung In einem Wirtschaftsmagazin wurde unlängst die Frage gestellt, was Jugendliche cool finden. Dahinter steht das Problem von Marketingstrategen, das Konsumverhalten der Jugend nicht vorhersagen zu können: „Schon mal versucht, etwas an einen Mythos zu verkaufen? Unzählige Unternehmen versuchen das Tag für Tag. Unternehmen, die mit ihren Marken auf eine ebenso attraktive wie flüchtige Gruppe zielen: die Jugend.“ (Brand eins, März 05, S. 74) Attraktiv ist die jugendliche Käufergruppe wegen ihres Geldes und weil sie zudem die Kaufentscheidungen ihrer Eltern mit beeinflusst. Da aber Jugendliche Extremnutzer zu sein scheinen, die etablierte Produkte häufig zweckentfremden, muss das Jugendmarketing offenbar speziellen Regeln folgen. Aus diesem Grund sind zahlreiche so genannte Jugendforschungsinstitute entstanden. Sie hängen mit Markforschungsinstituten und Unternehmensberatungen zusammen und erheben den Anspruch, wesentliche Aspekte der Jugendphase zu untersuchen: „Die Jugendforscher bilden ihre Fokusgruppen aus Szenetypen und Massenmenschen und quetschen sie aus. Sie wollen wissen, wie die coolen Typen aus der Schule zu Hause leben und was sie im Kühlschrank haben. Sie lesen Marktforschungsberichte und Magazine. Viermal im Jahr gleichen sie europaweit ihre Ergebnisse ab, einmal im Jahr weltweit.“ (Ebd.)
Zweifellos ist es richtig, dass Jugendliche wichtige Konsumenten sind und in Jugendkulturen und -szenen künftige Kauftrends sichtbar werden. Insofern verwundert es nicht, dass man sich mit dem Ziel der Gewinnmaximierung darum bemüht, möglichst viel über Jugend in Erfahrung zu bringen. Jugendforschung ist demnach kein geschützter Begriff und zielt nicht nur im Marketingbereich auf anwendungsorientiertes Wissen. Im späten neunzehnten Jahrhundert erhielt die Jugendphase eine vorher kaum gekannte Aufmerksamkeit. Seither ist sie ein beliebtes Thema in Forschung, Politik, Wirtschaft, Kultur und Pädagogik, ein Thema, über das Erwachsene diskutieren, lamentieren und das sie problematisieren. Jugendliche werden dabei pädagogisch, sorgenvoll, kritisch, idealistisch, politisch oder neidisch in den Blick genommen. Diese Aufmerksamkeit korrespondiert nicht zwangsläufig mit dem konsequenten Einsatz für jugendliche Belange, Bedürfnisse oder Interessen. Die Jugendphase gehört jedoch mittlerweile zu den zentralen Bedingungen des Aufwachsens in modernen Gesellschaften. Sie ist gerahmt von Familie und Gleichaltrigengruppe, von Schule, Freizeit, Ausbildung und Studium. Jugendliche genießen einen besonderen gesetzlichen Schutz, sind von bestimmten Pflichten befreit und haben gegenüber Erwachsenen eingeschränkte Rechte. Gleichwohl sind sie von strukturellen Veränderungen ebenso betroffen wie jede andere Altersgruppe, das heißt, dass die Risiken moderner Gesellschaften wie Arbeitslosigkeit vor Jugendlichen nicht Halt machen.
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Einleitung
Der Jugendforscher und psychoanalytische Pädagoge Siegfried Bernfeld hatte 1926 Erziehung als Summe aller Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache bezeichnet. (BERNFELD 1926) Dazu gehörte spätestens seit dem zwanzigsten Jahrhundert die Vorstellung, dass nicht nur Kindheit, sondern auch Jugend besonders gestaltet sein müsse: Hier wird diese gesellschaftlich organisierte und in Familien fußende Gestaltung als Moratorium bezeichnet. Ein Moratorium ist eine zeitlich befristete Befreiung von Pflichten zu dem Zweck, ein festgelegtes Ziel zu erreichen. Das Ergebnis sollte ein in die Gesellschaft integrierter, produktions- und reproduktionswilliger Erwachsener sein. Diesem Ansinnen folgten Jugendliche keineswegs immer bedingungslos, so dass zahlreiche Gefährdungsdiskurse – beispielsweise über abweichendes Verhalten, über Kriminalität oder Drogenkonsum – ebenfalls zur Summe aller gesellschaftlichen Reaktionen auf die Entwicklungstatsache gehören. Es liegt auf der Hand, dass die Pädagogik hier unmittelbar involviert ist und stets ein starkes Interesse an den Erkenntnissen der Jugendforschung hat. Vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende Einführung in die Jugendforschung deren Entstehungsbedingungen, Interessen, Methoden, Theorien und Ergebnisse dar. Der Ausbau der Jugendforschung hängt mit den gesellschaftlichen Interessen an Jugend und dem Problembewusstsein für diese spezielle Lebensphase im Zwischenraum von Kindheit und Erwachsenenleben eng zusammen. In diesem Prozess kam es zu einer Ausdifferenzierung in psychologische, soziologische, kulturtheoretische und erziehungswissenschaftliche Bereiche, so dass man es bis heute mit einer ausgesprochen heterogenen und vielseitigen Disziplin zu tun hat. Diese Heterogenität zeichnet sich auch im vorliegenden Einführungsband ab, obwohl nicht alle wichtigen Zugänge berücksichtigt werden konnten. Beispielsweise gibt es hier kein Kapitel über Diagnose und Prävention hinsichtlich besonderer Risiken im Jugendalter wie selbstverletzendes Verhalten oder Schulverweigerung, weil dies in anderen Einführungsbänden der Reihe thematisiert werden wird. Ebenso fehlt eine ausführliche Darstellung von Jugend und Jugendpolitik im Nationalsozialismus sowie von Jugend und Jugendforschung in der DDR. Auch diese Themen werden in anderen Bänden behandelt. In diesem Buch geht es im Kern um den Entstehungskontext und das Wissen über Jugend, das in die Erziehungswissenschaft und pädagogische Praxis Einzug gehalten hat und an dem diese ein nachhaltiges Interesse geäußert haben. Die Frage, die sich als roter Faden durch alle Kapitel zieht, ist die nach der Erzeugung des Wissens über Jugend sowie dessen pädagogische Anwendungsmöglichkeiten. Insbesondere die psychologisch ausgerichtete Jugendforschung hat die Unterscheidung zwischen Pubertät und Adoleszenz eingeführt. Diese spielt bis heute in wissenschaftlichen Abhandlungen eine Rolle und ist auch in unserem Alltagsverständnis wirksam. Eine schlichte Definition soll hier zunächst genügen: Mit Pubertät wird meist die einsetzende Geschlechtsreife bezeichnet. Die Forschung interessierte sich demnach vor allem für die körperlichen und hormonellen Veränderungen und für den damit einhergehenden sozialen und psychischen Wandel des jungen Menschen. Adoleszenz hingegen beschreibt die meist über die Pubertät hinausgehende Phase. Die Adoleszenzforschung erzeugte Wissen beispielsweise über die Ablösung
11 vom Elternhaus, über die Orientierung an der Gleichaltrigengruppe, über den Umgang mit Sexualität, über Identität und Selbstfindung der Jugendlichen. Die mit Pubertät und Adoleszenz verbundenen Theorien, Methoden und Ergebnisse werden Gegenstand der einzelnen Kapitel sein. Deutlich wird in ihnen, dass sich die Jugendphase nicht von selbst erklärt. Wir verfügen über keine eindeutige Biologie oder Natur, mit deren Hilfe gültige Schlussfolgerungen in Bezug auf den angemessenen Umgang im Generationenverhältnis, die Erziehung der Jugend oder über sinnvolle Verbote und Freiräume möglich sind. Das, was in einer bestimmten Zeit unter Jugend verstanden wird, ist ein soziales Konstrukt. Wir können zwar das Phänomen der körperlichen Entwicklung und der Geschlechtsreife beobachten und beschreiben, aber daraus resultieren keine Vorgaben hinsichtlich des Verständnisses von und des Umgangs mit der Jugendphase und den so genannten Jugendlichen. Jugend unterliegt demnach dem historischen Wandel. Jugendliche sind allerdings, wie Kinder und Erwachsene, eigenwillige Menschen, in der wissenschaftlichen Terminologie spricht man von Subjekten, Akteuren oder Ko-Konstrukteuren. Das heißt, die Jugendphase als soziales Konstrukt wird nicht allein durch „äußere“ Bedingungen wie Elternhaus, pädagogische Institutionen, jugendgemäße Einrichtungen, Kleidung, Musik oder Ausbildung hervorgebracht. Jugendliche selbst haben ihren Anteil daran und sei es, dass sie sich all den Politisierungs-, Pädagogisierungsoder Domestizierungsbemühungen entziehen. Diese Dynamik versuchten auch Teile der Jugendforschung in den Blick zu nehmen. Sie werden hier unter dem Begriff der Jugendkulturforschung subsumiert. Der schon zitierte Bernfeld beschrieb die Genese der Jugendkultur und ihrer Erforschung folgendermaßen: „Der Zwiespalt, den gegenwärtig große Kreise der Jugend lebhaft empfinden zwischen ihrem Wollen, das sie als ihre Eigenart rechtfertigen, und den bestehenden Einrichtungen für ihr Leben, die dem naiven Begriff der Erwachsenen von Jugend entspringen, hat uns auf das Problem Jugend aufmerksam gemacht.“ (BERNFELD 1915/ 1991, S. 70)
Was jeweils unter Jugendkultur verstanden wird, ist wiederum keineswegs einheitlich. Sicher ist, dass hier insbesondere von der Marktforschung Informationen über Trends erwartet werden. Das allerdings ist nicht das Anliegen dieses Bandes. Stattdessen sind Wissen und Kenntnisse über Jugendkulturen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht deshalb interessant, weil sie einen zeitgemäßen Zugang zu den Äußerungen und Vorstellungen, der Sprache und den Symbolen, den inneren Bildern und äußeren Performances der Jugendlichen versprechen.
A. Jugend und Modernisierung 1 Die Jugendphase als Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion Pädagogisches Handeln zielt immer auch auf Jugendliche. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, theoretische Fragen und empirische Untersuchungen richten sich auf die Lebensphase Jugend ebenso wie auf die damit eng verbundenen Subjekte. In der Geschichte der Pädagogik zeigt sich, dass die mit der Jugendphase in Verbindung gebrachten Entwicklungsphänomene und -probleme als ein wesentlicher Ausgangspunkt für das systematische pädagogische Denken angesehen werden können. Insofern wird in diesem Kapitel Jugend als eine wirksame historische Denkfigur bezeichnet. Was ist darunter zu verstehen? In einer Denkfigur werden Informationen, Erkenntnisse, Vorstellungen und auch Vorurteile geordnet, strukturiert und bewertet. Diese unterliegen zwar dem historischen Wandel, aber die Grundidee von Jugend als einer besonderen Phase im Lebenslauf bleibt mehr oder weniger konstant. Eine Denkfigur ist nicht nur für wissenschaftliche Reflexionen und Interpretationen der Geschichte wichtig, sondern sie kann auch Einfluss auf die Selbstwahrnehmung von Individuen nehmen oder besondere Praktiken, wie zum Beispiel die pädagogische Praxis der offenen Jugendarbeit, lenken. Die Wirksamkeit der Denkfigur Jugend wird im ersten Teil dieses Kapitels über die Jugendphase (1.1) als Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion auf den folgenden Seiten exemplarisch erklärt. Für die Pädagogik war eine inhaltliche Variante der Denkfigur seit dem achtzehnten Jahrhundert von großer Bedeutung: Der Eintritt in die Jugendphase wurde als zweite Geburt des Menschen verstanden und Jugend demnach als eine besondere Entwicklungsphase angesehen. Jugend als zweite Geburt soll deshalb im zweiten Teil (1.2) an der einflussreichen Jugend- und Erziehungstheorie von Jean-Jacques Rousseau vorgestellt werden. Mit ihr ist zudem eine deutliche Unterscheidung zwischen Jungen- und Mädchenjugend verbunden. Diese wird ebenfalls dargestellt und in ihrer Bedeutung für pädagogische Reflexionen diskutiert.
1.1 Jugend als wirksame historische Denkfigur Sensibilisierung in Biographie und Forschung
Dieses Kapitel stellt einige Bereiche dar, in denen die Denkfigur Jugend Einfluss gewinnen konnte. Dabei wird einleitend zunächst die Bedeutung der Jugendphase in Biographien bzw. in autobiographischen Schriften thematisiert. Die Beispiele stammen aus dem zwanzigsten Jahrhundert und fokussieren Jugend im Licht der krisenhaften Lebensphase. Persönliche Jugenderlebnisse schilderte auch Rousseau in seinen „Confessions“, die seit ihrem Er-
Jugend als historische Denkfigur
scheinen 1782 zum Vorbild für autobiographische Schriften wurden. Hier setzt er sich mit seinen eigenen Jugendjahren kritisch und psychologisch verständig auseinander, erzählt von Gefühlen, Leidenschaften und Enttäuschungen und vor allem schildert er die in dieser Phase wichtigen sozialen Beziehungen zu Frauen und Lehrherren. Dieser kurze Abschnitt soll zunächst nur darauf aufmerksam machen, dass seit Rousseau eine Sensibilisierung für die Jugendphase im Allgemeinen und für persönliche Jugenderinnerungen im Besonderen zu beobachten ist. Diese Tendenz bestätigen heute auch das breite Interesse an Biographien und die Etablierung der Biographieforschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften. In diesem Kapitel geht es ferner um die historische Jugendforschung, weil ihr Vorgehen und ihre Erkenntnisse für den ersten Teil dieses Einführungsbandes leitend sind.
1.1.1 Die Jugendphase in autobiographischen Erinnerungen „Ich hatte irgendwann einmal eine Minute halb in meinem Kindes-, halb in meinem Mannesalter … Damals hörte ich die Zeit wachsen, ich spürte den Punkt, in dem die Zeitlosigkeit sich mit der Zeit trifft. Seitdem gibt es für mich zwei Arten von Zeiten, die eine, in der das Leben sich breit macht, die Arbeit, die Sehnsucht, die Tätigkeit und der Gedanke – ein äußerer Faden, an dem entlang du dich leicht zurecht findest. Die andere Zeit (du kannst es auch Zeitlosigkeit nennen) ist das leise Strecken deiner nackten Seele, ein zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpfter Funke, der immer tiefer in seiner Flut versinkt …“ (KARL MANNHEIM, in Laube 2004)
In autobiographischen Texten aus dem zwanzigsten Jahrhundert fehlt nur selten das einschneidende „Erweckungserlebnis“ im Jugendalter. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim, dessen Generationentheorie später wichtig für die soziologische Jugendforschung werden sollte, interpretierte diese intensive Erfahrung als neues Bewusstsein für die Zeitlichkeit und Begrenztheit menschlichen Daseins. Das jugendliche Erweckungserlebnis der Existenzphilosophin Simone de Beauvoir beschreibt diese in ihren „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ (1958) als Abkehr vom göttlichen Glauben ihrer Kinderjahre angesichts des nächtlichen Sommerhimmels über Südfrankreich. Der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé hingegen gelingt durch eine enge erotisch-intellektuelle Beziehung zu einem verheirateten Theologen die Lösung von den Konventionen ihres Elternhauses. Lou Salomés jugendliche Verwicklungen und konfuse Gefühle und ihre Entschlossenheit, als Mädchen unabhängig zu werden, schildert sie in einem erst posthum veröffentlichten „Lebensrückblick“ (1968). Hierin verarbeitete die psychoanalytisch geschulte Frau fast ausschließlich ihre Jugend, obwohl später turbulente und interessante Jahre in ihrem Erwachsenenleben folgten. Eines ist typisch für diese autobiographischen Jugenderinnerungen: die Wahrnehmung einer Krise und deren Thematisierung als Einschnitt oder Zäsur im Lebenslauf. Wahrnehmung und Thematisierung der Krise bezogen sich im weitesten Sinne auf die sich verändernde Identität, auf die Deutung der Welt und das Verständnis der eigenen Position. Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (engl. O. 1968/1998) hat in seiner für die Pädagogik und Psychologie gleichermaßen bedeutsamen Jugendtheorie die Erfahrung der Krise und die Notwendigkeit ihrer Überwindung für die Hervorbringung einer sta-
Das jugendliche „Erweckungserlebnis“
Erinnerte Krise
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion
Normalitätskonstruktionen
bilen Identität als zentrale Aufgabe der Jugendphase bezeichnet. In dem Kapitel über Erikson wird ausführlich darauf eingegangen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Jugend insbesondere im Verlauf des letzten Jahrhunderts auch deshalb zu einer wirksamen historischen Denkfigur wurde, weil viele Personen aus dem öffentlichen Leben ihre Erinnerungen publizierten, viele Menschen Tagebuch schrieben und dadurch Zeugnis von ihren jugendlichen Empfindungen ablegten, andere wiederum in Briefen das politische, soziale oder kulturelle Geschehen aus der Sicht eines jungen Menschen kommentierten, persönliche Berichte über das zeittypische Familienleben lieferten oder Einblicke in jugendliche Freundschaftsund Liebesbeziehungen eröffneten. So sind beispielsweise die Feldpostbriefe, die junge Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) an ihre Familien oder an die Jugendgruppe in der Heimat schrieben, eindrucksvolle Dokumente jugendlicher Wahrnehmung des Frontgeschehens, in denen Hoffnung, Verzweiflung, Angst und Überzeugung gleichermaßen zum Ausdruck kommen. Damit Jugend also zur historisch wirksamen Denkfigur und zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Lebenslaufs werden konnte, musste diese Lebensphase sowohl von den Individuen als solche wahrgenommen und akzeptiert als auch autobiographisch und theoretisch reflektiert werden. Diese Formen der Auseinandersetzung fanden nicht zu allen Zeiten statt, weil es dazu bestimmter gesellschaftshistorischer Bedingungen bedurfte. Wenn wir uns mit Jugend als wirksamer Denkfigur befassen, so haben wir es auch mit Normalitätskonstruktionen zu tun. Das heißt, unsere Sicht auf diese Lebensphase wird durch bestimmte Vorstellungen über eine „normale“ Entwicklung, einen „normalen“ Lebenslauf oder über „normale“ Jugenderfahrungen gelenkt. Die in einer bestimmten Zeit vorherrschenden Normalitätskonstruktionen lassen sich beispielsweise an autobiographisch ausgeschmückten Erweckungserlebnissen ablesen. Wissenschaften wie die Erziehungswissenschaft, die Entwicklungspsychologie oder die Medizin haben mit ihren Erkenntnissen und Diskursen über Jugendliche und Jugend mit zu den Vorstellungen über Normalität beigetragen. Als Folge daraus entstand auch das pädagogische Interesse an Abweichungen.
1.1.2 Grundlegende Annahmen der Jugendforschung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht Pädagogisch normative Interessen
Eine Möglichkeit, etwas über die historischen Ausgestaltungen von Jugend als Denkfigur zu erfahren, besteht in der historischen Jugendforschung. Das nächste Kapitel (1.1.3) hat deshalb das Ziel, in die historische Sicht auf Jugend einzuführen. Deutlich soll dabei werden, dass es zwar in jeder menschheitsgeschichtlichen und kulturellen Epoche junge Menschen gegeben hat, aber nicht immer systematisch zwischen Menschen als Kinder, Menschen als Jugendliche und Menschen als Erwachsene unterschieden wurde. In diesem Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung: Insbesondere bei der Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen, bei der Analyse ihrer verschiedenen Kompetenzen und den normativen Vorstellungen, wie mit einem Kind und wie mit einem Jugendlichen umgegangen werden soll, spielt das
Jugend als historische Denkfigur
Interesse der Pädagogik eine zentrale Rolle. Ein anschauliches Beispiel ist der Wandel der sexuellen Aufklärungspraxis. Wir erfahren anhand der Art und Weise, wie Jugendliche im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zu verlässlichen Informationen über Sexualität kamen, sehr viel über gesellschaftliche Vorstellungen, Werte und Normen. Insofern kann man sagen, dass die systematische Analyse der Jugendphase eng mit pädagogischen Vorstellungen und Interessen verbunden war und ist. Eine theoretische Richtung der Gegenwart, der Sozialkonstruktivismus, geht davon aus, dass es sich bei Kindheit und Jugend um soziale Konstrukte handelt (vgl. BERGER/LUCKMANN 2003). Das bedeutet nicht, dass man es mit Konstruktionen im Sinne leicht einstürzender Gebäude zu tun hat, sondern mit konkreten, mehr oder weniger stabilen und sprachlich verfassten Denkfiguren, Konzepten oder Modellen, die sowohl unser wissenschaftliches Denken als auch unser Alltagsdenken beeinflussen. Damit solche Konstrukte entstehen können, bedarf es wirksamer, überzeugender Diskurse beispielsweise von Seiten der Philosophie oder der Medizin über die Besonderheiten der Jugendphase. Dieser Diskurs setzt also ein Bewusstsein für die Unterschiede der Lebensphasen voraus, aber er stützt sich ebenso auf bestimmte Institutionen wie die der Schule oder der Berufsausbildung. Zudem sind im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften für Jugend als soziales Konstrukt auch juristische Vereinbarungen, etwa die Festlegung der Volljährigkeit oder Jugendarbeitsschutzgesetze, von Bedeutung. Jugend als soziales Konstrukt zu betrachten, bedeutet nicht zwangsläufig, sich nur mit den Diskursen über Jugend, also der Sprache, zu beschäftigen. Hinzu kommen muss eine Materialisierung der Diskurse, das heißt, es muss danach gefragt werden, was wir über die Lebensformen, Gefühle, über den Körper, über Sexualität, über Gedanken und Werke von Jugendlichen in verschiedenen historischen Epochen, in der Gegenwart sowie in unterschiedlichen sozialen und räumlichen Kontexten sagen können (vgl. BECKERSCHMIDT/KNAPP 2001). Das Verständnis über die Phase, die wir heute Jugend nennen, ist und war stets abhängig von Raum und Zeit. Die historische Forschung verschiedener Fachdisziplinen, ebenso wie beispielsweise die Literatur und die Ethnologie, haben interessante Erkenntnisse darüber zutage gefördert. In dieser Einführung kann die Geschichte der Jugend allenfalls gestreift werden, sie kann die Erkenntnisse über Jugend in der Antike, im Mittelalter oder in verschiedenen ethnischen Kulturen nicht zu ihrem Gegenstand der Darstellung und Reflexion machen. Stattdessen muss sie sich auf die kulturelle und wissenschaftliche Reflexion über ein – gewissermaßen – modernes und international übergreifendes Konzept von Jugend und die daraus rekonstruierbaren sozialund kulturgeschichtlichen Phänomene konzentrieren. Die Jugendforschung ist bis heute eine interdisziplinäre Angelegenheit, bei der die Pädagogik insbesondere von der Soziologie und der Psychologie, die historische Jugendforschung auch von der Geschichts- und Literaturwissenschaft profitiert. Dieser Sachverhalt wird hier zu einer systematischen Einschränkung genutzt: Es geht vornehmlich um die pädagogische Relevanz interdisziplinärer Jugendforschung und um die pädagogisch intendierte Auseinandersetzung mit der Lebensphase Jugend.
Jugend als soziales Konstrukt
Jugendforschung in interdisziplinärer Perspektive
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion
1.1.3 Kriterien der historischen Jugendforschung am Beispiel Jean-Jacques Rousseaus Jugend in Raum und Zeit
Zur Wirkungsgeschichte Rousseaus
Jugendtheorien, Jugendleben oder Jugendkulturen sind stets abhängig von Raum und Zeit. Sie unterliegen demnach auch dem historischen Wandel. Wandel ebenso wie Kontinuität, Veränderungen, Brüche oder Übergänge bezogen auf Jugend sind Gegenstand der historischen Jugendforschung. Sie befasst sich mit der Geschichte der Jugend ebenso wie mit historischen Jugendkonzepten, die beispielsweise durch die Wissenschaften hervorgebracht und etabliert wurden. Darüber hinaus ist auch im Kontext historischer Jugendforschung ein interdisziplinärer Zugang notwendig. Kunstgeschichte, Literatur, Medizingeschichte oder Anthropologie haben Wissen über Jugend in einer bestimmten Zeit hervorgebracht. Auch Jean-Jacques Rousseau machte für seine Schrift „Emile oder über die Erziehung“ von 1762 Anleihen bei verschiedenen Disziplinen und umgekehrt befassen sich bis heute unterschiedliche Disziplinen mit diesem Autor, die Geschichtswissenschaft ebenso wie die politische Philosophie oder die Erziehungswissenschaft. Einige wesentliche Kriterien der historischen Jugendforschung sollen im Folgenden daran dargelegt werden. Rousseau galt in der Geschichte der Pädagogik lange als „Erfinder“ moderner Kindheit und Jugend. (Vgl. dazu ROTH 1983) Inzwischen wird von einer solchen Zuschreibung innerhalb der historischen Forschung deutlich Abstand genommen. Auch diese Einführung sieht in den Schriften Rousseaus nicht den Ursprung jugendtheoretischer Überlegungen. Man kann wohl nur selten einer einzelnen Person allein zuschreiben, etwas Neues hervorgebracht oder einen Anfang gesetzt zu haben. In der Regel muss man die Kontexte, das Milieu, die politischen, sozialen und ökonomischen Notwendigkeiten einer Zeit, die kulturellen Bedürfnisse, die Kollegen, Widersacher und Freunde, mit denen es Autorinnen und Autoren zu tun hatten, berücksichtigen. So integrierte Rousseau in seiner Schrift „Emile oder über die Erziehung“ ältere Texte – beispielsweise die eines Naturforschers und eines Theologen. Er brachte also nicht etwas ganz Neues über Kindheit, Jugend und Erziehung hervor, sondern er kombinierte das zur Verfügung stehende Wissen mit seinen philosophischen und politischen Ansichten. Allerdings fand Rousseau eine Sprache, die nicht nur seine Zeitgenossen aufhorchen ließ, sondern durch die seine Werke bis heute Beachtung finden. Schon zu Lebzeiten Rousseaus war die Meinung über ihn keineswegs einhellig, denn er fand sowohl eine hingebungsvolle Anhängerschaft als auch erbitterte Gegner. Vor allem in der Pädagogik fühlte man sich von Rousseau angesprochen und zeigte sich offen für viele seiner Ideen. Darüber hinaus komponierte Rousseau die Themen in seinen Schriften zukunftsweisend und nahm wirksame Wertungen über die „richtige“ Erziehung von Kindern und vor allem von Jugendlichen vor. Die bei dem Genfer Philosophen artikulierte Idee von Jugend war für das moderne westliche Bild wichtig. Eine Analyse von Jugend als wirksamer historischer Denkfigur kann deshalb Jean-Jacques Rousseau nicht übergehen und eine Einführung in die Jugendforschung sollte Informationen über Rousseau enthalten. Diese Sichtweise sollte die Lektüreperspektive im Folgenden leiten.
Jugend als historische Denkfigur
Mehr als die Hälfte des Erziehungs- und Entwicklungsromans „Emile“ befasst sich mit dem Aufwachsen eines Kindes. In drei Büchern charakterisiert Rousseau die Erziehung, die Beschäftigung, die Unterrichtung des kindlichen Zöglings Emile, bevor er diesen seinen Leserinnen und Lesern als Jugendlichen vorstellt. Dieser enge Zusammenhang von Kindheits-, Jugend- und politisch eingebetteter Erziehungstheorie ist auch für die historische Jugendforschung relevant. Gleichwohl kann man in diesem Kontext in der Rousseauschen Definition von Jugend als „zweiter Geburt“ einen zentralen Ausgangspunkt jugendtheoretischer Überlegungen sehen. In dieser Zuschreibung wird nämlich die kulturell und sozial erzeugte Herausgehobenheit der Jugendphase sichtbar. Anthropologisch kann der Mensch schließlich nur einmal geboren werden und Irritationen bei seinem Lesepublikum, in dem die Frauen bereits zu seinen Lebzeiten stark vertreten waren, sind leicht vorstellbar. Nach einer aufwendig dargelegten Erziehung des Kindes führte einen die Lektüre zu seiner These, dass man in der Jugend ein zweites Mal geboren werde. Da weiter unten ausführlich auf die jugendtheoretische und historische Bedeutung eingegangen wird, soll an dieser Stelle lediglich die prinzipielle Betrachtungsweise dargelegt werden: Derartige historische Vorstellungen von Jugend basierten in der Regel auf einem Ideal und transportierten spezifische Normalitätsvorstellungen ihrer Zeit. So kann man beispielsweise an Rousseau rekonstruieren, wie politisch fortschrittliche Kräfte und die Intellektuellen des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich über das Aufwachsen gedacht und diskutiert haben. Man kann herausfinden, was sie als normale, was als abweichende Form der Erziehung, des Umgangs, der Fürsorge angesehen haben. Darüber hinaus muss die historische Jugendforschung rekonstruieren, welcher Maßstab Jugendtheorien zugrunde lag, welches Menschenbild dominant war und ob relevante Unterschiede überhaupt in den Blick genommen wurden. Ein unkritischer Umgang mit Normalitätsvorstellungen – die auch nichts anderes als soziale Konstrukte sind – lässt allzu leicht vergessen oder übersehen, dass auch die Forschung mit ihrer Theoriebildung auf Normen und Werten basieren kann. So orientierte sich die historische Jugendforschung lange am männlichen jungen Menschen und an den Idealen und Vorstellungen der herrschenden Gesellschaftsschicht. Das führte dazu, dass der Bürgersohn, der Jüngling, das Ideal repräsentierte und alle anderen, also Mädchen oder Jugendliche außerhalb des Bürgertums als Abweichungen erschienen. Historische Erkenntnisse über die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein hatten somit nur eine begrenzte Aussagekraft über einen Teil der jungen Menschen ihrer Zeit. Ferner wird deutlich, dass die zunehmende Beschäftigung mit der Jugendphase dazu führte, dass Jugendideale entwickelt wurden und idealisierte Vorstellungen über den pädagogischen und sittlichen Umgang mit jungen Menschen kursierten. Die historische Jugendforschung hat in den letzten zwei bzw. drei Jahrzehnten wesentliche Impulse aus der Geschlechterforschung erhalten. Insgesamt ist die Beachtung der Geschlechterdifferenz in erziehungswissenschaftlichen Kontexten zentral geworden. Für die Unterscheidung zwischen Jungen- und Mädchenjugend, für die damit verbundenen normativen Vorstellungen über den Jungen und über das Mädchen im Hinblick auf Verhalten, Sittlichkeit, Erziehung und Entwicklung sind Rousseau und sein historischer Kontext im 18. Jahrhundert wichtig.
Eine kritische Sicht auf Normalitätsvorstellungen
Normen und Werte in der Jugendforschung
Die Bedeutung der Geschlechterdifferenz
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion
Die politische Dimension in der historischen Jugendforschung
Insbesondere die historisch pädagogische Geschlechterforschung hat die einseitige Wahrnehmung des männlichen Ideals im „Emile“ an der traditionellen historischen Jugendforschung systematisch kritisiert. Die Kritik richtete sich dabei auf die bewusste oder aber unreflektierte Annahme, man könne in Anlehnung an Rousseau eine „geschlechtsneutrale“ Jugendtheorie konzipieren. Die Annahme der Geschlechtsneutralität, so der Vorwurf, verdecke aber u. a. die Orientierung am männlichen Jugendideal. Bei Rousseau konnte allenfalls die Erziehung des kleinen Kindes relativ unabhängig von seinem Geschlecht vor sich gehen, wohingegen seine Erziehungsvorstellungen für den Jugendlichen markante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen aufwiesen. Diese Differenzierungen begründete Rousseau, wie vor und nach ihm viele andere, mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familie und Öffentlichkeit: Das Mädchen wird auf seine Aufgaben als liebende Ehefrau, ökonomisch umsichtig waltende Hausfrau und tugendhafte Mutter vorbereitet, der Junge hingegen auf seinen Beruf, seine politischen Pflichten als Bürger und auf die Treue zum Vaterland. Beide, weibliche und männliche Jugenderziehung, zielten bei Rousseau auf republikanische Tugenden wie Patriotismus, Aufrichtigkeit und Tapferkeit. Hierin ist ein genereller Bezugspunkt der gesellschaftlichen Betrachtungen von und der Auseinandersetzung mit Jugend zu sehen: Die Sorge der älteren Generation um die anerkannten Werte und Tugenden der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Insofern wirkt Jugend nicht selten als Maßstab für die Stabilität oder eben Instabilität der sozialen und symbolischen Ordnung. Das Geschlechterverhältnis und das Generationenverhältnis sind wesentliche Bestandteile sozialer und symbolischer Ordnungen. Insofern beziehen sich die Kriterien der historischen Jugendforschung auf die in Jugendtheorien oder -vorstellungen repräsentierten oder reproduzierten sozialen Ordnungen einer Zeit. In Anlehnung daran sind einerseits Erkenntnisse über das jeweilige Verständnis von Abweichungen und andererseits Erkenntnisse über Vorstellungen zum pädagogischen Umgang mit jungen Menschen möglich.
1.2 Jugend als „zweite Geburt“ In diesem Kapitel geht es nun um die Denkfigur von Jugend als „zweiter Geburt“. Es werden die bei Rousseau dargelegten Welten des Jugendlichen, die Handlung im „Emile“, die Erziehungsvorstellungen und die weibliche Erziehung der Sophie vorgestellt. Dabei sollen sowohl ein Überblick über diese einflussreiche Schrift ermöglicht als auch Gründe für deren Wirksamkeit aufgezeigt werden.
1.2.1 Die Welten des jugendlichen Heranwachsenden Menschliche Entwicklung für die Art und für das Geschlecht
„Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal zum Dasein und das andere Mal zum Leben, das eine Mal für die Art und das andere Mal für das Geschlecht. Diejenigen, welche die Frau als einen unvollkommenen Mann ansehen, haben ohne Zweifel unrecht; die äußerliche Erscheinung spricht allerdings dafür. Bis zum mannbaren
Jugend als „zweite Geburt“ Alter haben die Kinder der beiden Geschlechter scheinbar nichts, was sie unterscheidet; sie haben das gleiche Gesicht, die gleiche Hautfarbe, die gleiche Gestalt, die gleiche Stimme, alles ist gleich. Die Mädchen sind Kinder, die Knaben sind Kinder; ein Name genügt für so ähnliche Wesen.“ (ROUSSEAU 1762/1989, S. 256)
Im Buch IV seines Erziehungsromans beschreibt Rousseau 1762 die für ihn beobachtbaren und in seiner Epoche bereits zur Sprache gebrachten Entwicklungsphänomene und Merkmale der Phase zwischen Kindes- und Erwachsenenalter. Die für ihn relevanten Erkenntnisse stellt er in einen philosophischen und anthropologischen Kontext und entwickelt daraus unterschiedliche jugendtheoretische Ebenen. Seine Grundannahme ist, dass der Mensch erst mit dem Eintritt ins Jugendalter seine Bestimmung erfüllt, die Menschheit zu erhalten und ihre Fortsetzung zu sichern. Rousseau betrachtete die zweite Geburt und die darauf folgende neue Menschwerdung als wechselseitigen Prozess zwischen natürlichem Zwang menschlicher Entwicklung und den darauf notwenig erfolgenden kulturellen Reaktionen. Dabei erhebt er den Anspruch, das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft und deren jeweiligen Einfluss auf den Menschen und seine Entwicklung aufdecken zu können. In der zweiten Geburt manifestiert sich für Rousseau die anthropologische und kulturelle Notwendigkeit, nicht allein zu bleiben. Der Heranwachsende muss sich somit nicht nur seinen Trieben und Gefühlen, also seiner Sexualität stellen, er muss darüber hinaus die Menschen möglichst umfassend kennen und in Gesellschaft mit anderen Menschen handeln und leben lernen. Die Welt des jugendlichen Heranwachsenden bestehe, so der Erziehungswissenschaftler und Rousseaubiograph Volker Kraft, aus vier „Welten“. Diese Teilwelten bestimmen den Prozess des Aufwachsens. Rousseau unterscheidet zwischen Körperwelt, Außenwelt, Innenwelt und transzendentaler Welt. „In jeder dieser ,Welten steht der Erzieher dem Heranwachsenden in besonderer Weise zur Seite, wenn auch prinzipiell anders als in den Jahren der Kindheit: die pädagogische Inszenierung transformiert sich gleichsam zu einer Reihe pädagogischer Szenen.“ (KRAFT 1997, S. 148) Insbesondere die eingangs zitierte Passage aus dem „Emile“ über die zweite Geburt hat die Pädagogik in Anlehnung an Rousseau dazu veranlasst, über die neuen pädagogischen Anforderungen in der Jugendphase nachzudenken. Der Erziehungsroman „Emile“ fand zwar auch zahlreiche Kritikerinnen und Kritiker, gleichwohl lieferte er allen an Jugend interessierten und von Jugendlichen gewissermaßen betroffenen Personen, Müttern und Vätern, Lehrenden, Gouvernanten, Sozialarbeitern, Medizinern und Kriminologen lehrreiche Hinweise über diese markant hervortretende Lebens- und Entwicklungsphase des Menschen.
Vier Welten des Jugendlichen
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1.2.2 Die Handlung Worin besteht die Handlung dieses immerhin als Erziehungsroman bezeichneten Werkes? In fünf Büchern wird die Geschichte einer Beziehung zwischen einem Privatlehrer, dem Gouverneur, in dem Rousseau sich vermutlich selbst gesehen hat, und seinem Zögling erzählt. Emile ist ein Kind aus gutem
Kindheit
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Jugendalter
Erziehung als Gesellschaftskritik
Hause, das zunächst fernab von der verruchten Stadt Paris, inmitten einer natürlichen Umgebung einzig von seinem Gouverneur und der Natur erzogen wird. In den ersten drei Büchern lesen wir alles über die Erziehungsvorstellungen seiner Zeit, wir erleben, wie Emile in arrangierten Situationen lernt, wir erfahren, was nicht in seine Nähe gelangen darf und bekommen mit, welche Vorlieben und Eigenschaften er entwickelt. Im vierten Buch beschreibt Rousseau die Jugendphase mit ihren neuen Schwierigkeiten, aber vor allem legt er seine Auffassung zur Religion sowie zur religiösen Erziehung dar. Dafür steht ein theologisches Manifest, das „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“. Mit genau diesen Passagen handelte sich Rousseau übrigens Verfolgung, Veröffentlichungsverbot und Kritik ein. Ferner bekommen wir auch die ersten sexuellen Regungen des Jungen mit. Im fünften Buch schließlich tritt ein Mädchen, die auserwählte Gattin Emiles, die junge Sophie, in das Geschehen ein. Rousseau stellt ausführlich die ideale Erziehung des Mädchens dar. Die beiden jungen Menschen finden einander und kommen zusammen. In einem später verfassten und wenig beachteten Fragment, „Emile und Sophie oder die Einsamen“ (1780/1989), bricht die Idylle des natürlichen Aufwachsens schließlich zusammen. Emile berichtet in zwei Briefen – vom Schicksal hart getroffen – vom Niedergang seiner Ehe, vom Verlust seiner Frau und seiner Kinder, vom fernen Vaterland und von verlorener Freiheit. Konkret geht es in der pädagogischen und historischen Jugendforschung am Beispiel dieser Geschichte des Aufwachsens eines Jungen um die politisch und sittlich angelegte Frage, wie der innere und äußere Rahmen von Erziehung zu gestalten sei. Da Rousseau ein großer Kritiker der französischen Gesellschaft, ihrer Sitten, ihrer Kultur und ihrer Sprache war, diente die Darlegung seiner Erziehungsvorstellungen und dem damit verknüpften Bild von Jugend einer deutlichen Abgrenzung von den Moden und Vorstellungen seiner Zeit. Er zielte auf einen fortschrittlichen kulturellen und sozialen Umgang mit der Jugend und wählte dafür einen äußerst unkonventionellen Weg. In der Diskussion über den angemessenen Umgang mit Jugend ließ sich somit auch politische Kritik üben und über alternative Erziehungsvorstellungen konnte man die Phantasie einer besseren Gesellschaft entwickeln. Rousseau griff zwar keinen vollkommen neuen Gedanken auf, aber er brachte die Thematisierung von Gesellschaftskritik im Fokus der Jugenderziehung in eine Form, die sowohl provozierte als auch den modernen Diskurs über Jugend bis in die Gegenwart hinein beflügelte.
1.2.3 Veränderungen im Jugendalter Das Erwachen der Leidenschaften
Insbesondere die erwachenden Leidenschaften, seit der Psychoanalyse sprechen wir von den Trieben, würden im Jugendalter dramatische Wirkungen erzielen. Rousseau bedient sich zur Beschreibung jugendlicher Leidenschaften der griechischen Mythologie: Die Leidenschaften seien vergleichbar mit jenen Winden, die der irrfahrende Odysseus in Schläuchen verwahrt von Aiolos, dem Herrscher der Winde, erhalten hatte. Werden die Schläuche an falscher Stelle geöffnet, verfehlt das Schiff nicht nur die Heimat, sondern der
Jugend als „zweite Geburt“
Mann die treue Ehefrau und seine politische Pflichterfüllung. In dessen Folge erliegt Odysseus dem Zauber Circes, der erotischen Verführung Kalypsos, dem Gesang der Sirenen und dem Schrecken Skyllas, mithin durchlebt er die Laster und verfehlt ein tugendhaftes Dasein. Die zweite Geburt beschreibt Rousseau in diesem Sinne als gefahrenvolle, für Irrwege empfängliche Phase der Menschwerdung, weil sich der Jüngling dem gänzlich Neuen des Lebens gegenübersieht. „Das ist die zweite Geburt, von der ich geredet habe. Hier wird der Mensch wahrhaftig zum Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm fremd. Bisher sind unsere Sorgen nur Kinderspiel gewesen, jetzt erst erlangen sie wirkliche Bedeutung.“ (ROUSSEAU 1762/1989, S. 257)
Für pädagogische Überlegungen besonders bedeutend war die von Rousseau allgemein formulierte Konsequenz: „Diese Periode, in der die übliche Erziehung endet, ist eigentlich diejenige, wo die unsere anfangen soll.“ (Ebd., S. 257) Diese Textpassage kann man aus Sicht der Jugendforschung in zweifacher Hinsicht deuten: Nicht nur der junge Mensch wird mit dem Eintritt in die Jugendphase ein zweites Mal geboren, sondern auch die Erziehung der jungen Generation erhält ihre zweite Chance. Sie kann sich nun auf einen im Vergleich zum Kind vernünftigeren Menschen konzentrieren und muss auf diesen anders einwirken als auf das Kind. Das Alter der physischen und psychischen Geschlechtsreife hängt nach Ansicht Rousseaus zudem nicht nur von der Natur ab, sondern ebenso von der zuvor erfahrenen Erziehung. Ein wesentliches Ziel der Jugenderziehung ist für ihn, die Aneignung negativer Leidenschaften, die nicht die Natur den Menschen mitgibt, zu verhindern. Das Kind kenne sich selbst nur als physisches Wesen, weshalb es in der Kindheit die Aufgabe habe, die Beziehung zu den Dingen kennen zu lernen. Erst in der Jugend, so Rousseau, erfährt sich der Mensch als moralisches Wesen und als solches gelangt er zu der lebenslangen Aufgabe, die Beziehung zu den Menschen zu reflektieren. Das Neue der zweiten Geburt tritt demnach nicht allein durch innere Krisen, sondern vor allem durch Beziehungsdynamiken hervor. Darin liegt für Rousseau das Soziale des Menschseins verborgen, weil mit der zweiten Geburt Moral thematisiert wird. Die Basis dieser moralischen Entwicklung sind Freundschaft und Liebe. Jugend hält Rousseau für die Phase der Güte, des Mitleids und der Großherzigkeit.
Eine zweite Chance für Erziehung
1.2.4 Rousseaus Methoden Damit der Jugendliche im kritischen Alter richtig gelenkt, er also nicht erregt, sondern beruhigt, seine Phantasie nicht sinnlich gereizt, sondern sein Wesen durch richtige Beispiele zur Reife gebracht wird, entfaltet Rousseau eine pädagogisch angelegte Methode. Diese Methode basiert im Wesentlichen auf einer bis heute gültigen Denkfigur: die zeitliche Verlängerung der Jugendphase. Ihm schwebt dabei maßgeblich eine Verzögerung des Eintritts in die Sphären der Erwachsenen vor. Rousseaus naturphilosophischem Verständnis nach geht es darum, den Fortschritt der Natur zugunsten der Vernunft zu verzögern und die jugend-
Die Methode des Aufschubs
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liche Einbildungskraft daran zu hindern, der Natur ungebändigt zu folgen. Sowohl für den Jugendlichen als auch für den lenkenden Erzieher sei die Phase nach der Kindheit stets zu kurz für die anstehenden Aufgaben. Dieser Lebensabschnitt erfordere eine unablässige Aufmerksamkeit: „Das ist es, warum ich auf die Kunst, es zu verlängern, so dringe. Eine der besten Vorschriften der guten Erziehung ist, alles so lange zu verzögern, wie es möglich ist. Man mache die Fortschritte langsam und sicher; man verhindere, daß der Jüngling in dem Augenblick zum Mann wird, wo ihm nichts mehr zu tun übrig bleibt, als es zu werden.“ (Ebd., S. 286/287) Pädagogische Lenkung und Vervollkommnung
In dem eben zitierten Gedanken liegt die Vorstellung begründet, man könne durch die richtige Lenkung das fördern, was der Vervollkommnung des Individuums dient. Damit korrespondiert das Bemühen, den bis zur Geschlechtsreife Unwissenden rechtzeitig aufzuklären. Die Erwachsenen, so Rousseau, haben nun zwar noch einen Schüler, aber keinen Zögling mehr vor sich. „Denken Sie daran, dass man, wenn man einen Erwachsenen führen will, das Gegenteil von alledem tun muß, was man getan hat, um ein Kind zu führen. Zögern Sie nicht, ihn von den gefährlichen Geheimnissen zu unterrichten, welche Sie ihm so lange Zeit mit so viel Sorgfalt verhehlt haben.“ (Ebd., S. 413)
Für entscheidend hält Rousseau demnach, dass sich auch die Rolle des Erziehers sowie der Blick des Jugendlichen auf seinen Lehrer von der Kindheitsphase unterscheiden müssen. Anders als das Vertrauen des Kindes sollte das des Jugendlichen gemessen an seinem Verstand auf der Autorität der Vernunft sowie auf der Überlegenheit der guten Einsichten basieren. Emile soll erkennen, dass der Erzieher weise und aufgeklärt ist und nicht nur das Glück seines Zöglings will, sondern auch aktiv weiß, wie dieser dazu gelangt. Das Ziel der Jugendphase ist im hohen Maße politisch ausgerichtet. Mehr als die Kindheitsphase hält Rousseau die Jugend für das entscheidende Alter politischer Orientierung. Ihm geht es in seinen pädagogischen Überlegungen stets auch um die Frage nach dem politischen Gemeinwesen. Dies zeigt sich auch in seinen anderen Schriften. So erschien im selben Jahr wie der „Emile“ der „Contract social“, in dem Rousseau seine Theorie eines Gesellschaftsvertrages entwirft und so wesentliche Gedanken der Französischen Revolution vorweg formuliert. In der Frage der Jugenderziehung beschäftigt er sich jedoch nicht mit einer abstrakten Vermittlung, sondern mit der Gefühls- und Verstandeswelt des Emile. Darum herum entwickelt Rousseau die Überlegungen zur Einführung in das Gemeinwesen sowie zum Verständnis für die Idee der Menschheit. Der jugendliche Emile soll lernen, die Liebe zu verallgemeinern, um so eine Idee der Gerechtigkeit zu entfalten. „Wir müssen aus Vernunft, aus Liebe zu uns selbst, noch mehr Mitleid für unsere Art als für unseren Nächsten aufbringen, und das Mitleid mit den Bösen ist eine sehr große Grausamkeit gegen das Menschengeschlecht.“ (Ebd., S. 317) Die Methode der Erfahrung
Ein zentraler Weg, die Jugend zu lehren, ist für Rousseau die Methode, sie Erfahrungen machen zu lassen. Dies würde insbesondere ihre soziale und politische Tugendhaftigkeit fördern, wobei die erste Pflicht dem Jugendlichen selbst gilt. „Ich werde nicht müde, es zu wiederholen: Man gebe jungen Leu-
Mädchenjugend und Mädchentugend
ten alle Lehren mehr in Taten als in Worten. Sie lernen nichts von dem aus Büchern, was die Erfahrung sie lehren kann.“ (Ebd., S. 315) Zusammenfassend ist an dieser Stelle wiederum hervorzuheben, dass die Denkfigur Rousseaus, Jugend als eine Zeit des Aufschubs zugunsten der eigentlich erst zu diesem Zeitpunkt komplex werdenden Erziehung anzusehen, bis in die Gegenwart hinein existiert. Die verlängerte Jugend als Phase für individuelle Erziehung, Entwicklung, Bildung und Ausbildung hat im 18. Jahrhundert eine ihrer wichtigen Wurzeln. Auch innerhalb der Pädagogik eignete man sich diese Vorstellung an und fand dazu eine spezifische pädagogische Lesart. Im nächsten Abschnitt wird zu zeigen sein, dass das im „Emile“ dargelegte Generationenverhältnis von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter auch mit spezifischen Vorstellungen zum Geschlechterverhältnis korrespondierte.
1.3 Sophie: Mädchenjugend und Mädchentugend Im folgenden Abschnitt werden Rousseaus Vorstellungen zur weiblichen Jugend vorgestellt. Ferner geht es um einen Einblick in die Geschlechterforschung und deren spezifische Auseinandersetzung mit der geschlechtsspezifisch ausgerichteten Jugendtheorie Rousseaus.
1.3.1 Zwischen Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit „Sophie soll eine Frau sein, so wie Emil ein Mann ist, das heißt, sie soll alles haben, was der Beschaffenheit ihrer Art und ihres Geschlechtes zukommt, um ihren Platz in der physischen und sittlichen Ordnung auszufüllen. Wir wollen also mit der Untersuchung der Übereinstimmungen und der Unterschiede ihres und unseres Geschlechts anfangen.“ (ROUSSEAU 1762/1989, S. 466)
Das Zitat entstammt den ersten Zeilen des fünften Buches des „Emile“ und macht Rousseaus Einstellung zur Geschlechterdifferenz deutlich. Es geht hier um die Mädchenerziehung, der Rousseau zunächst einen ebenso großen Stellenwert einräumt wie der Jungenerziehung. Beide Geschlechter sollen die besten Möglichkeiten zur Ausbildung ihrer Kräfte erhalten, damit sie sich gleichwertig, aber nicht gleichartig gegenüberstehen können. Diese Ansicht war keineswegs selbstverständlich. Ferner zielte Rousseau besonders auf die Stärkung der Tugenden, denn Sophie sollte ihren Platz in der physischen, aber vor allem auch in der sittlichen Ordnung erhalten. Aus diesem Grund korrespondieren seine Überlegungen zur weiblichen Jugend und ihrer allgemeinen Erziehung mit Vorstellungen über die Lehrbarkeit der richtigen Tugenden. Rousseau konzipierte am Beispiel der gewählten zukünftigen Partnerin Emiles, Sophie, eine spezifische Mädchenerziehung und machte zudem deutlich, worin sich die Mädchenjugend von der männlichen Jugend zu unterscheiden hatte. Im fünften Buch erfahren wir somit etwas über die Erziehung Sophies, über ihre Biographie, ihr Umfeld, ihre Gedanken und Gefühle. Mit neuen Erkenntnissen ausgestattet, erreicht nun Emile den letzten Akt seiner Jugend, der in der Suche nach einer komplementären Vollendung durch die erotische Partnerschaft vollendet werden soll. Sophie müsse
Suche nach Übereinstimmungen und Unterschieden
Sophie als „Kunstprodukt“
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion
Vorstellungen zur Mädchenerziehung
schließlich eine Frau sein, wie Emile ein Mann ist, und ihn ergänzen. Das obige Zitat könnte einen zunächst glauben machen, Sophie sei das normative Leitbild für Emile, die aufwendige Bedingung des „homme naturel“ und zugleich das nicht mit ihm zu vereinbarende Gegenteil. Rousseau lässt seine Leserinnen und Leser nicht im Zweifel darüber, dass es sich bei Sophie mehr noch als bei Emile um seine literarische Schöpfung oder sein Kunstprodukt handelt. Er begründet dies damit, dass man Sophie, die ideale Partnerin, bereits kennen müsse, um sie überhaupt finden zu können. Die Vollendung der Erziehung liegt auf Seiten des Erziehers demnach in der Zusammenführung des richtigen Mannes mit der richtigen Frau. Das Arrangement der Liebe liegt demnach in den Händen des Pädagogen und Beziehung und Ehe werden durch das soziale Umfeld gestaltet. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der zu Lebzeiten Rousseaus nicht ungewöhnlich war und erst durch das Ideal der romantischen Liebe in Frage gestellt wurde. Seine Kenntnisse über die Erziehung und das Wesen Sophies bezieht Rousseau maßgeblich aus den Schriften François de Salignac de la Mothe Fénelons (1651 – 1715), einem Theologen, insbesondere aus dessen Abhandlung über die Erziehung von Mädchen aus dem Jahre 1687, „Traité de l’éducation des filles“, die er nahezu kopiert. Der Autor Fénelon sammelte zahlreiche pädagogische Erfahrungen: Nach seinem Vikariat wurde er um 1675 Betreuer der so genannten „nouvelles catholiques“. Das waren junge Hugenottinnen, die zum katholischen Glauben konvertiert waren. 1686 wurde er als Prinzenerzieher an den Hof des Herzogs von Burgund geholt. Bei Madame de Maintenon, der einflussreichen Maitresse von Ludwig XIV., wirkte er als Berater für eine Einrichtung in Saint-Cyr zur Erziehung verarmter adliger Damen. Die „Traité de l’éducation des filles“ (1687), wurden 1689 von dem Pädagogen August Herrmann Francke ins Deutsche übersetzt. Fénelon schrieb ferner den „Dialoge des morts“, den er wie „Les aventures de Télémaque“ (1699) für seinen pädagogischen Zögling, den Herzog von Burgund, verfasste. Einzug halten die pädagogischen Ideen Fénelons in pädagogische Diskurse weit über seine Zeit hinaus, und zwar durch A. H. Francke, aber v. a. auch durch Rousseau, der zentrale Ideen Fénelons übernahm. Fénelon beginnt seine Schrift mit der Klage darüber, dass nichts so sehr vernachlässigt worden sei wie die Erziehung der Mädchen, über die allein die Laune der Mutter entscheiden würde. Er legt dar, von welchen anthropologischen Annahmen über die Beschaffenheit der Frauen auszugehen ist, und welche angeborenen Schwächen durch Erziehung in Stärken umgewandelt werden müssten. Eine solche Erziehung läge auch im Interesse des politischen Gemeinwesens: „Die Gesellschaft ist kein leerer Begriff. Sie ist zusammengesetzt aus der Gesamtheit aller Familien. Wer aber versteht es, diesen das Gepräge der Sittlichkeit und der Gesetzmäßigkeit besser zu geben als die Frauen, welche außer ihrer natürlichen Würde und ihrem häuslichen Wirken noch den Vorzug haben, daß sie von Natur sorgfältig, achtsam auch auf das Kleine, anstellig, gewinnend und mit der Gabe der Überredung ausgestattet sind? Welche Annehmlichkeiten können aber die Männer für sich vom Leben erhoffen, wenn die engste Verbindung, die sie eingehen, die Ehe, sich in Bitterkeit verwandelt? Und erst die Kinder! Was soll aus ihnen, die das Menschengeschlecht der Zukunft bilden, werden, wenn die Mütter sie von der Wiege ab verderben?“ (Fénelon 1687/1956, S. 4)
Mädchenjugend und Mädchentugend
Zunächst widmet sich Fénelon deshalb auch Fragen der Kindererziehung und -pflege, die unabhängig vom Geschlecht des Kindes vorgestellt werden. Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zum ersten und zweiten Buch des „Emile“. Fénelon, ebenso wie Rousseau, betonen die Entwicklung des Kindes, die Bedeutung der Gesundheitspflege für Kleinkinder, die Lernfähigkeit des Säuglings vor der Ausbildung der Sprache und die Fähigkeit des Kleinkindes zur Wahrnehmung. Während Fénelon von der Unwissenheit der Kinder schreibt, deren Weichheit des Gehirns sie dazu verleitet, alles nachzuahmen, weshalb man ihnen nur gute Beispiele zu geben habe, verurteilt Rousseau zwar die nur nachgeahmte Tugend, hält aber grundsätzlich die Nachahmung auch für den Weg des Kindes zur Tugend. Fénelon schreibt zwar nicht direkt über die „negative Erziehung“, gleichwohl propagiert er sie. Ihm geht es darum, dass man in der Erziehung die gebotenen Unterweisungen in einer eher indirekten Form erteilt, um die Aufmerksamkeit der Kinder auf den gewünschten Gegenstand zu lenken. Fénelons und Rousseaus Auffassungen über die Typologie eines Mädchens ebenso wie über den natürlichen Charakter des weiblichen Geschlechts stehen hier für die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert dominante Auffassung über jugendliche Mädchen. Dabei wechselten sich anthropologische und erziehungspraktische Argumente stets ab. Der Erziehung kommt demnach die Aufgabe zu, die positiven Seiten des weiblichen Geschlechts zu stärken und negative Formen von Weiblichkeit zu unterdrücken. Zentrale Themen bei Fénelon und Rousseau sind deshalb auch die besonderen Fehler der Mädchen. Diese bezeichnen sie als natürliche Schwächen und verstehen darunter Weichheit, Zimperlichkeit und Hinterlist. Der Hauptfehler der Mädchen aber sei ihre Eitelkeit, die ihnen von frühester Kindheit an eigen wäre. Dabei sprechen sich weder Fénelon noch Rousseau gegen eine anmutige Erscheinung aus, aber sie polemisieren entschieden gegen putzsüchtige Moden.
Schwächen und Eitelkeiten der Mädchen
„Die kleinen Mädchen lieben fast von Geburt an den Putz. Sie sind nicht zufrieden damit, dass sie hübsch sind, sie wollen auch, daß man sie so findet.“ (ROUSSEAU 1762/1989, S. 479)
Rousseaus Sophie kleidet sich ganz nach den Vorstellungen Fénelons: Sie liebt schöne Kleider und versteht sich darauf, sich angemessen und der Natur des weiblichen Körpers gemäß zu präsentieren. Sie sei ihrer Mutter die beste Kammerzofe, habe viel Geschmack, hasse reichen Putz und bevorzuge Kleidung von Einfachheit und Eleganz. Da sich die weibliche ebenso wie die männliche Erziehung nach den Pflichten richtet, die Mann und Frau später zu erfüllen haben, gibt es für beide Geschlechter eine klare Vorgabe, wie sie geschlechtsgemäß zu erziehen seien. In den Händen der Frau liegen die Erziehung der Kinder, die richtige Einschätzung der Personen, die den Nachwuchs umgeben, die Führung des Haushaltes und der Umgang mit Dienstboten. Vor allem bei der richtigen Haushaltsführung komme es darauf an, so Fénelon, dass man alle notwendigen Dinge im Prinzip auch selbst erledigen könne. Auch diese Fähigkeiten besitzt Rousseaus Sophie, ist sie doch mit allen häuslichen Tätigkeiten vertraut und besonders kunstfertig in Handarbeiten. Den Mädchen müsse man stets etwas zu tun geben:
Erziehung gemäß der Pflichten
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion „Müßiggang und Eigensinn sind die beiden gefährlichsten Fehler für sie, von denen man sie am wenigsten kurieren kann, wenn sie sie einmal angenommen haben. Die Mädchen müssen wachsam und arbeitsam sein; dies ist nicht alles: sie müssen beizeiten an Zwang gewöhnt werden.“ (Ebd., S. 483)
Insbesondere der Zwang zur Schicklichkeit sei zentral für jugendliche Mädchen. Nicht nur in der Entwicklung Emiles, sondern auch in der Entwicklung Sophies zeigt Rousseau, dass die Veränderungen im Jugendalter nach einem intensiven pädagogischen Handeln verlangen, weil es um die Befähigung zu sozialen Beziehungen sowie um die politische Integration geht.
1.3.2 Die Diskussion der Geschlechterforschung Die Geschlechterforschung hat innovative Lesarten über Rousseaus Ansichten hervorgebracht. Sei es von der Erziehungswissenschaftlerin Pia Schmid (1992) in ihrem Aufspüren der zweiten, nämlich weiblichen Erziehungstheorie im „Emile“ oder sei es von Heide von Felden (1999) in ihrer Analyse der weiblichen Leserschaft im 18. Jahrhundert. Die feministische Kritik zielte in das Zentrum der Rousseauschen Erziehungskonzeption und interpretierte Sophies Aufwachsen im Vergleich zur aufwendigen Erziehung des Jungen als defizitär. Mit einem sozialkonstruktivistischen und machttheoretischen Zugriff konnte diese Rousseaukritik systematisch zeigen, wie die Ableitung der Geschlechterunterschiede aus der Natur auch der Legitimierung und Etablierung männlicher Macht diente. Vor allem die angloamerikanische Geschlechterforschung legte den Zusammenhang der pädagogischen und politischen Dimensionen Rousseaus offen. So schlussfolgerte Elizabeth Wingrove über das fünfte Buch „Emiles“, dass man die zweite Geburt Emiles und Sophies nicht nur als Bewusstwerden ihrer Geschlechtlichkeit und Sexualität betrachten dürfe, sondern in der Annäherung, Trennung und abschließenden Zusammenführung der jungen Liebenden vor allem die Hinführung zum politischen Denken und im Falle Emiles die Rückführung in die soziale Gemeinschaft sehen müsste: „The conclusion must be that in Rousseau’s tale, sexual awareness does not precede social awareness, but rather, the two are coincident: the recognition of sexual identity is a recognition of political forms.“ (WINGROVE 2000, S. 84) Erziehung als Kontrolle
Ein Beispiel dafür, wie stark Rousseau davon überzeugt war, dass die Gedankenwelt des Zöglings möglichst umfassend geprägt und kontrolliert werden müsse, zeigt seine Haltung gegenüber Lesepflichten. In Rousseaus Erziehungsmodell für die Jugendphase spielt die Lektüre des Jugendlichen eine entscheidende Rolle für einen gelungenen Prozess des Aufwachsens. Während heute allenthalben die Bedeutung des Lesens für Kinder und Jugendliche betont und eine Leseerziehung gefordert wird, sollte Emile in seiner Jugend nur ein einziges Buch lesen, den „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe, ein Bestseller der damaligen Zeit. Es handelt sich um die Geschichte eines Schiffbrüchigen, der es schafft, sich in einer unwirtlichen Umgebung, inmitten der Einsamkeit, seine erlernte soziale und symbolische Ordnung aufzubauen. Dadurch sollte dem jungen männlichen Leser eine moralische Botschaft in Gestalt eines Abenteuerromans vermittelt werden.
Mädchenjugend und Mädchentugend
Auch über die weibliche Lektüre hatte Rousseau sich Gedanken gemacht. Sophie war von den „Abenteuern des Telemachos“ aus der Feder Fénelons beeindruckt. Suite du quatrième Livre de L`Odyssées D’Homère, ou les Avantures de Télémaques, Fils D’Ulysse erschien 1699 in Brüssel und Den Haag, nachdem der Druck der Originalausgabe auf Befehl des absolutistischen französischen Königs Ludwig XIV., der darin eine Kritik an seiner eigenen Herrschaft sah, verboten worden war. Es handelt sich um einen Bildungsroman in achtzehn Büchern nach dem Vorbild spätantiker Abenteuerromane. Im Wesentlichen ging es um die Suche des Sohnes nach Vater, Vaterland und nach den wahren Tugenden. In Sorge um Odysseus macht sich sein Sohn Telemachos auf die Suche und wird von Athene in der Gestalt eines Mentors begleitet. Jede Episode des Romans sollte nach Intention des Autors Anlass zu einem pädagogischen Gespräch geben. Während die Robinsonlektüre positiv auf Emile zu wirken schien, sind die Lesefrüchte bei Sophie widersprüchlicher. Rousseau entwirft ein überraschendes und amüsantes Szenario: Sophie hatte nach der Lektüre des „Telemachos“ ein männliches Ideal vor Augen und verglich Emile mit dem antiken Helden Telemachos. Sie hatte sich in jugendlicher Schwärmerei und Leidenschaftlichkeit in eine literarische Gestalt verliebt und der konnte der konkrete junge Mann nicht genügen. Neben diesem Helden, das führt Rousseau vor Augen, musste sein tugendhafter Emile fade und wenig begehrenswert erscheinen. Sophies Eltern hatten ihrer Tochter versprochen, dass sie alle Freiheiten in der Wahl des Ehemannes habe. Freiheit, so Rousseau, müsse aber angemessen genutzt werden und durch das Verwischen der Grenzen zwischen Lektüre und Leben lief Sophie Gefahr, an der gewährten Freiheit zu scheitern. Sie missachtete Emile und verzehrte sich nach der Idealgestalt. So hätte es enden können, doch Rousseau greift den alten Erzählstrang wieder auf und lässt die Episode als Drohung stehen. Er warnt insbesondere vor den zerstörerischen Kräften der Phantasie und bekräftig sein Gebot, in der Erziehung Erfahrung höher zu bewerten, als Lektion und Lektüre. Darüber hinaus skizziert er unterschiedliche Verläufe der Jugendzeit und zeigt, dass die Fähigkeit zum intensiven Erleben Jugendliche gefährden kann. „Nein, ich verzichte auf diese traurigen Gegenstände … Wir wollen unserem Emile seine Sophie geben. Wir wollen dieses liebenswürdige Mädchen wieder beleben, um ihm eine nicht so lebhafte Einbildungskraft und ein glücklicheres Schicksal zu geben.“ (ROUSSEAU 1762/1989, S. 535)
Vor allem durch seine Übernahme der Ansichten Fénelons war es Rousseau möglich, verschiedene weibliche Jugendverläufe zu entwerfen, und in zentralen Passagen gehen die verschiedenen Entwürfe ineinander über. In der Person Sophies ist das erst später im Fragment „Emile und Sophie oder die Einsamen“ geschilderte Lebensdrama der beiden bereits angedeutet. Die Liebe und das Glück von Emile und Sophie, das beide aneinander zu finden hofften, erweist sich als Zukunftsprojekt, das letztlich wenig Chancen hat, im feudalen Frankreich realisiert werden zu können. Ihr Glück scheint von vornherein auf tönernem Grund gebaut, so dass Sophie Jahre später, unglücklich durch die Schicksalsschläge wie den Tod der Tochter und der Eltern, ihre Tugendhaftigkeit verliert und ihrem Mann untreu wird.
Sophies Lektüre
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Ausgangspunkt pädagogischer Reflexion
Sowohl Fénelon als auch Rousseau sahen in der Jugendphase die erste große Gefahr für die Entwicklung des Menschen und für die kontinuierliche Entfaltung der Tugenden in der Persönlichkeit. Beide verlangten deshalb eine intensive und sensibel steuernde Erziehung und eine möglichst umfassende Kontrolle. Somit sind Jugendbild und Jugendtheorie mit der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugenden eng verknüpft. Die Gefährdung von Tugend, Vaterland und Familie ging besonders vom weiblichen Geschlecht aus. Sophie stand trotz ihrer guten Erziehung unter dem starken Einfluss ihrer Phantasie, so dass mit der weiblichen Jugend stets Verführung und Sexualität einhergingen. Somit wird deutlich, dass für Rousseau die Mädchenjugend durch das Spannungsfeld von Leidenschaften und Tugenden geprägt war und dass das Mädchen andere Jugendkrisen durchlief als der Junge. Unabhängig von den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen von Emile und Sophie betont Rousseau für beide Geschlechter die Bedeutung einer durchdachten und gestalteten Erziehung im Jugendalter. Insofern bot Rousseau seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen Ausgangspunkt für spezielle Fragen der Jugenderziehung.
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 1 gelesen haben: – Sie sollten wissen, warum Jugend als „Denkfigur“ bezeichnet wird und was darunter zu verstehen ist. – Sie sollten wissen, wer Jugend als „zweite Geburt“ bezeichnet hat und was bis in die Gegenwart hinein darunter verstanden wird. – Sie sollten erklären können, was in der Jugendforschung mit „Normalitätskonstruktionen“ gemeint ist. – Sie sollten Funktionen und Kriterien der historischen Jugendforschung kennen. – Sie sollten erklären können, was man unter Jugend als „sozialem Konstrukt“ versteht. – Sie sollten wissen, worum es im „Emile“ geht und warum das Buch für die Jugendforschung wichtig war.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 1: KRAFT, VOLKER (31997): Rousseaus „Emile“: Lehr- und Studienbuch. Bad Heilbrunn. Dieses Buch trägt die Bezeichnung „Lehr- und Studienbuch“ zu Recht: Kraft führt konzentriert und aufschlussreich in die Lektüre des „Emile“ ein. Er bietet eine überzeugende und gut nachvollziehbare Darstellung und Interpretation der bei Rousseau angelegten pädagogischen Konzeption. Darüber hinaus werden in einer klaren Sprache Beziehungen zu sozialwissenschaftlichen Theorien hergestellt. WINGROVE, ELIZABETH ROSE (2000): Rousseau’s Republican Romance. Princeton University Press. Princeton, New Jersey. Die Studie aus den USA bietet in einem klar verständlichen Englisch einen Eindruck in das innovative Potenzial der Geschlechterforschung. Wingrove präsentiert eine sehr originelle und trotzdem nachvollziehbare Interpretation Rousseaus und konzentriert sich dabei auf
Jugend als Brennglas der Modernisierung den politischen Kontext. Wer sich für die Auseinandersetzung mit Rousseau aus der geschlechtertheoretischen und interdisziplinären Perspektive interessiert, erhält durch die Lektüre interessante Einblicke. LANDGREBE, CHRISTIANE (2004): „Ich bin nicht käuflich“. Das Leben des JeanJacques Rousseau. Weinheim/Basel. Die 2004 erschienene Biographie der Romanistin Landgrebe über Rousseau erschließt den Menschen über seinen biographischen und intellektuellen Hintergrund. Das Buch basiert auf französischen Quellen und bezieht insbesondere die „Confessions“ von Rousseau sensibel und differenziert mit ein. Man erhält einen Überblick über den Lebensweg, über wiederkehrende Probleme und Konflikte, über bekannte Zeitgenossen und über die Entstehung der Schriften und die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Autor und Werk. Die Autorin stellt in einem Glossar die wichtigsten Zeitgenossen Rousseaus vor, so dass man auch ohne ein umfangreiches Hintergrundwissen beim Lesen den Überblick behält.
2 Jugend als Brennglas der Modernisierung um 1900 Die Existenz und Gestaltung der Jugend hängt mit dem gesellschaftlichen Wandel zusammen. Im ersten Kapitel wurde bereits darauf verwiesen, dass in autobiographischen Schriften die eigene Jugend Gegenstand intensiver Betrachtung war. Dabei dominierte die Erinnerung an Krisen, die das Verhältnis zu den Eltern, zu Autoritätspersonen wie Lehrern, zu den Traditionen und Vorstellungen der Kindheit erschütterten. Man kann diese Jugenderinnerungen auch als ein Indiz dafür ansehen, dass Jugend in modernen Gesellschaften im zwanzigsten Jahrhundert den Aufbruch symbolisierte. Dieser Zusammenhang von Jugend und Aufbruch, sozialwissenschaftlich Modernisierung genannt, ist der Kern des nun folgenden Kapitels. Verschiedenen Umständen ist es zu verdanken, dass die Jugendphase und die Jugendlichen um 1900 von vielen Seiten Aufmerksamkeit erfuhren. Wie und in welchem Maß die Jugendforschung daran beteiligt war, wird in den später folgenden Kapiteln ausführlich behandelt. In diesem Abschnitt soll zunächst herausgearbeitet werden, was „Jugend als Brennglas der Modernisierung“ bedeutet. Durch ein Brennglas mit einer Konvexlinse kann Sonnenlicht gebündelt werden, wodurch ein darunter liegendes Papier zunächst zu schwelen und schließlich zu brennen beginnt. Das heißt, übertragen auf unser Thema, dass sich im Jugendbegriff, in den Vorstellungen über Jugend und den Zuschreibungen ganz unterschiedliche Modernisierungsphänomene bündeln. Dadurch wird die Jugend einerseits mit einer gewissen Sorge betrachtet, weil von ihr die „Gefahr“ der Veränderung ausgeht, andererseits verbindet man mit Jugend die Hoffnung auf neue Ressourcen und Energien. Seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart lässt sich ein Gemisch aus Fremd- und Selbstthematisierungen von Jugend beobachten. Jugend wird Gegenstand der Fremdthematisierung, also der Betrachtung durch Erwachsene, beispielsweise in Kultur, Politik, Wissenschaft, und sie wird zum Thema der Jugendlichen selbst in Jugendbewegung oder Jugendkultur. Beide Formen darf man sich jedoch nicht als streng voneinander getrennte Diskussionsstränge vorstellen, sondern als aufeinander bezogen und sich wechselseitig beeinflussend.
Das Symbol für Aufbruch und Modernisierung
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels geht es darüber hinaus um soziale Unterschiede. Jugendtheorien, das Jugendleben und die Bedingungen des Aufwachsens sind bis heute auch von der Sozialstruktur abhängig. Um 1900 zeigt sich, dass soziale Probleme einer Gesellschaft vorzugsweise an den davon betroffenen Jugendlichen diskutiert werden. Insofern ist hier von Jugend als „Spiegel sozialer Probleme“ die Rede. Insgesamt soll dieses Kapitel einen groben Überblick über den Zusammenhang von Jugend als sozialem Konstrukt und gesellschaftlicher Modernisierung ermöglichen. Deshalb wird im ersten Abschnitt (2.1) an der Standardisierung des Lebenslaufs nochmals die Grundüberlegung ausgeführt. Darauf folgen eine Form der Fremdthematisierung am Beispiel kultureller Jugendbilder (2.2) sowie die Selbstthematisierung anhand der bürgerlichen Jugendbewegung (2.3) und schließlich wird auf den Aspekt sozialer Differenzierung (2.4) eingegangen.
2.1 Die Thematisierung von Jugend als Indiz für Modernisierung 2.1.1 Standardisierung des Lebenslaufs Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften
Standardisierung und Normalbiographie
Das Bedürfnis, sein eigenes Leben niederzuschreiben, die verschiedenen Lebensetappen in eine nahezu geschlossene Form zu bringen, kann auch mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängen. Ein Kennzeichen für Modernisierungsprozesse, die Einfluss in Gesellschaften bekommen, ist der Grad des individuellen Bewusstseins hinsichtlich der eigenen Rolle und Funktion im System, hinsichtlich einer sinnstiftenden Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie der Blick auf die eigene Kindheit und Jugend. Man kann außerdem davon ausgehen, dass es sich bei der zunehmenden Beschäftigung mit Jugend aus individueller wie aus öffentlicher Perspektive ebenfalls um ein Modernisierungsphänomen handelt. Moderne Gesellschaften sind durch Ausdifferenzierungen geprägt, das heißt, ihre Systeme und deren Funktionsweisen haben sich verfeinert und vielfach aufgeteilt. Dies betrifft auch die Arbeitsvorgänge, das politische Geschehen und die soziale Gliederung einer Gesellschaft. Zugleich aber sind die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft, ihre Institutionen und Organisationen in komplexe Strukturen eingebettet. Eine erste Folge dieser Modernisierung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war eine eindeutige Regelung des Lebenslaufs und seine Standardisierung. Darunter wird hier folgendes verstanden: Durch feste und institutionell begleitete Vorgaben wie Schulpflicht und Berufsqualifizierung sowie durch sozialpolitische Regelungen, wie beispielsweise die der Altersversorgung, wurden die Lebenswege in mehr oder weniger feste Abschnitte eingeteilt. Der Lebenslauf des Einzelnen schien bei aller Individualität standardisiert und institutionell gerahmt. Auch die Aufmerksamkeit für Jugend erschließt sich durch ein allgemeines Interesse an einem normierten Lebenslauf. Somit kristallisierten sich allmählich männliche und weibliche „Normalbiographien“ heraus, zu denen, je
Kulturelle Jugendbilder
nach sozialer Herkunft, eine spezifisch gestaltete Jugendzeit gehörte. Gegenwärtig geht man angesichts struktureller ökonomischer, politischer und sozialer Veränderungen von einer „Destandardisierung“ des Lebenslaufs aus, weil sowohl die Beschäftigungs- als auch die Geburtenquote auf absehbare Zeit die Biographien stark verändern werden. Eine wichtige Frage ist derzeit auch, in welchem Ausmaß die Gestaltung der Jugendphase davon betroffen ist. Erste Konsequenzen zeigen sich in Deutschland zum Beispiel im Bereich der Berufsausbildung. So verliert beispielsweise die im zwanzigsten Jahrhundert etablierte duale Ausbildungsstruktur von Betrieb und Berufsschule an Bedeutung.
2.2 Kulturelle Jugendbilder 2.2.1 Leiden und Intensität Jugend steht folglich in einem engen Zusammenhang mit Modernisierungsphänomenen, aber es lässt sich auch umgekehrt nachweisen, dass Jugend selbst in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als Garant für Modernisierung wahrgenommen wurde. Eine um 1900 kulturell einflussreiche Form war die in Romanen und Theaterstücken entfalteten Erzählungen über Jugend. Im Mittelpunkt stand dabei das Leiden junger Menschen an den Zwängen der Gesellschaft. Eine große Rolle spielten auch die darstellende Kunst und die immer populärer werdende Photographie. Für die kulturellen Jugendbilder erwiesen sich insbesondere die Zwänge der bürgerlichen Jugend als einflussreich, und zu ihnen zählten die Strenge der Gymnasien, das Unverständnis der Elternhäuser, deren Spießigkeit und Doppelmoral, mangelnde Freizügigkeit und starke Konventionalität. Die Rolle der Erziehung durch Elternhaus und Schule oder Lehrmeister in Betrieben rückte hier meist ins Zentrum der Kritik. Einen Beleg für das Leiden der Jugendlichen sahen die Künstler beispielsweise in Schülerselbstmorden, die auch im später vorgestellten Drama „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind eine Rolle spielen. Die Vorstellung einer besonderen Gefühlsintensität im Jugendalter begann die Künstler und Intellektuellen zunehmend zu faszinieren. Sie brachten insbesondere auch die als zerrissen erfahrene, moderne Industriegesellschaft mit den inneren Empfindungen des jungen Menschen und seiner idealtypischen Suche nach Identität in Verbindung. Insofern galt Jugend als ein Symbol, mit dem sich bestehende Verhältnisse kritisieren ließen. Zugleich versprach Jugend aber auch Hoffnung auf eine bessere Welt. So gaben die Lyrik Arthur Rimbauds, Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891), Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906), Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910), Franz Werfels „Der Abituriententag“ (1928), die Romane Hermann Hesses, Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ (1906), aber auch „Der Zauberberg“ (1924) von Thomas Mann den intellektuellen Zeitgeist und seine Sensibilität für das Phänomen „Jugend“ wieder.
Leiden an der Welt
Jugend und Intensität
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
2.2.2 Jugend in der Metapher des Frühlings
Akteure und Inhalt in „Frühlings Erwachen“
Sexualität und Aufklärung
Metaphorisch verbanden sich mit dem Begriff Jugend in der Literatur der frühe Morgen, das Erwachen und der Frühling. Ein Programmbild dieser Epoche ist das Gemälde „Frühlingssturm“ von Ludwig von Hofmann. Es zeigt eine Dreiergruppe, die sich auf einer Meeresklippe dem Sturm stellt. In der Mitte ein nackter, schlanker Jüngling, der zwei junge, halb entblößte Frauen mit wehenden Röcken und Haaren im Arm hält. Nahezu prototypisch ist für diese Metaphorik auch das Theaterstück von Frank Wedekind „Frühlings Erwachen“, das der Autor als „Kindertragödie“ bezeichnet hatte. In diesem bis heute in vielen Schultheatern gespielten Stück zeigen sich die Sorgen und Nöte jugendlicher Mädchen und Jungen, auf die in Elternhaus und Schule ausschließlich mit übertriebener Strenge oder Vorsicht, mit Unverständnis und Unaufrichtigkeit reagiert wird. Die Hauptpersonen des Stücks sind Wendla Bergmann und die beiden Freunde Moritz Stiefel und Melchior Gabor. Bei den Themen handelt es sich um Schulangst, Leistungsdruck, Sexualität und Freundschaft – Aspekte, die auch heute keineswegs frag- und klaglos die Jugendphase begleiten. In „Frühlings Erwachen“ prallen die Sehnsüchte der jugendlichen Protagonisten auf die eng strukturierte Welt der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Unfähigkeit der Erwachsenen, angemessen mit jugendlichen Bedürfnissen umzugehen. Diese sehen in Moritz, Wendla und Melchior zu bekämpfende, zu formende oder zu kontrollierende Wesen. Wedekind ergreift deutlich Partei für die Bedürfnisse der Jugendlichen, ohne sie zu idealisieren. Hingegen wirken die Erwachsenen in ihrer Lächerlichkeit und Lebensferne ausschließlich destruktiv. Dies gilt für „Rektor Sonnenstich“, die Lehrer „Zungenschlag“, „Habebald“ und „Fliegentod“, für „Pastor Kahlbauch“ oder „Professor Knochenbruch“, die allesamt disziplinierende Institutionen wie Schule und Kirche vertreten. Den Jugendlichen geht es neben Sinn- und Schulfragen um ihre sexuellen Empfindungen, denen sie meist hilflos ausgeliefert sind. So bittet Moritz Stiefel seinen von einer toleranten Mutter erzogenen Freund Melchior Gabor, um eine Erklärung, was es mit der „männlichen Regung“ auf sich habe. Den bürgerlichen Jugendlichen fehlten zu Wedekinds Zeiten ein verständnisvoller Ansprechpartner, ein angemessener Unterricht oder informierende Lektüre: „Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.“ (WEDEKIND, 1. Akt, 2. Szene, S. 482). Der Freund verspricht ihm einen Aufklärungsaufsatz, den Moritz kurze Zeit später erhält. Dieser Freundschaftsdienst Melchiors – „Ich sage dir alles. – Ich habe es teils aus Büchern, teils aus Illustrationen, teils aus Beobachtungen in der Natur.“ (Ebd.) – wird schließlich von den Erwachsenen ausgenutzt. Sie geben nämlich dem Freund die Schuld an dem Selbstmord des an Schule und Elternhaus verzweifelnden Jungen Moritz. Wedekind lässt keinen Zweifel daran, dass Moritz am Unverständnis und an der Härte der Erwachsenen und der pädagogischen Institutionen zerbricht, aber die Protagonisten sind über jeden Zweifel hinsichtlich ihres eigenen Verhaltens erhaben. Die Schuld wird ausschließlich bei den Jugendlichen lokalisiert.
Kulturelle Jugendbilder
Keineswegs besser ergeht es dem Mädchen Wendla: Auch sie verlangt eine angemessene sexuelle Aufklärung und will von der Mutter wissen, wie sie sich Sexualität, Zeugung und Geburt vorzustellen habe. Die Mutter erweist sich als vollkommen überfordert und reaktionsunfähig. In der eindrucksvollen Szene zwischen Mutter und Tochter erzählt erstere zunächst ernsthaft die Geschichte vom Storch. Aber Wendla gibt sich damit nicht zufrieden und bettelt um die Wahrheit. Sie nimmt die Mutter in die Verantwortung, weil sie als Mädchen niemanden sonst fragen kann. Mit dem Kopf unter der Schürze vernimmt sie schließlich das stotternde mütterliche Bekenntnis über die bevorstehenden Lebensprüfungen: „Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheiratet ist … lieben – lieben sag ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie – wie sich’s nicht sagen lässt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … Jetzt weißt du’s.“ (WEDEKIND, 2. Akt, 2. Szene, S. 503)
Weiterhin unaufgeklärt erlebt Wendla sexuelle Begegnungen mit Melchior, deren Verlauf Wedekind nur andeutet. Sie wird schwanger und stirbt an einer Abtreibung, die die Mutter, die ihr jüngstes Kind der falschen Moral opfert, von einer Unkundigen vornehmen lässt. Wedekind entfaltet in dieser Schülergeschichte ein Grundgefühl der Jugend, das die Literatur vielfach aufgegriffen hat: Das Gefühl, von den Erwachsenen nicht verstanden zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs eignete sich hervorragend als Kontrapunkt zur jugendlichen Empfindsamkeit. Diesen Gegensatz arbeitet Wedekind deutlich heraus und gibt dem Leiden der Jugendlichen eine dramatische Basis und eine lebensfeindliche Wendung. Für Jugendliche wie Wendla oder Moritz gibt es noch kein Entrinnen, keine Erlösung, aber gerade dadurch erhalten literarische Jugendbilder ihre Wirksamkeit.
2.2.3 Gleichaltrige in der Literatur In der psychologisch sensibel dargelegten Erzählung über „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) von Robert Musil bedroht ein streng sanktionierendes, am Kollektiv ausgerichtetes Konvikt die subjektiven Empfindungen eines Schülers. Gleich zu Beginn legt Musil dar, wie sich die innere Kraft des Kindes im Verlauf der Schulzeit verliert, ohne dass die Eltern angemessen darauf reagieren können, weil ihnen das Potenzial zur Erkenntnis jugendlicher Entwicklung und zum Umgang mit diesen Prozessen fehlt. Im Zentrum der Erzählung stehen pubertäre seelische „Verwirrungen“ und das Verlorensein eines Jungen, eingebettet in die Dynamik der Gleichaltrigengruppe, zu der vor allem derbe, rohe Jünglinge guter Herkunft zählen. Törleß’ inneres Leben ist vor allem durch Bilder sehnsüchtiger Phantasien geprägt und zu denen gehören auch sexuelle Phantasien. Insbesondere Letztere erzeugen im Jugendlichen zugleich Lust und Scham, die aus seiner bürgerlichen Herkunft und Erziehung, die gewissermaßen immer präsent bleiben, resultieren. Die Krise dieser gleichaltrigen Jungengruppe gipfelt in einer erzwungenen homosexuellen Beziehung, die Scham, Sadismus und Verach-
Lust und Scham
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
Bildungsprozesse
tung unter den Jugendlichen hervor bringt. Ein Jugendlicher, als Dieb entlarvt, wird von zwei Freunden erpresst, gedemütigt und körperlich und sexuell missbraucht, von Törleß zusätzlich psychisch gequält. In der Angst, der Gewalt der gesamten Klasse ausgeliefert zu werden, stellt sich der Schüler der Schulleitung, wodurch ein Verfahren eröffnet, der Mob befragt und das Opfer, nicht seine Peiniger, von der Schule verwiesen wird. Bei dem Verhör verwirrt Törleß das Lehrerkollegium durch die Darlegung seiner eigenen, selbst empfundenen inneren psychischen Dynamik, woraufhin man den Eltern eine Privaterziehung empfiehlt. Musil stellt die Veränderung der inneren Haltung Törleß’ gegenüber seinen quälenden Freunden und dem Opfer und seine persönliche Suche nach einem hinter der Gewalt liegenden Sinn als einen Bildungsprozess dar. So kommt es, dass der Jugendliche aus dieser tiefen Krise mit einem neuen Selbstbewusstsein, einem Wachstum der Seele, hervorgeht. An diesem ästhetisch radikalen Subjektivismus Musils, der sich ganz und gar auf die inneren Prozesse konzentriert und somit keineswegs die Bandbreite der Literatur seiner Zeit repräsentiert, kann dennoch etwas Typisches gezeigt werden: In den literarischen Jugendbildern wirken das Arrangement von inneren jugendlichen Nöten wie Selbstzweifel, Identitätssuche und verunsichernde sexuelle Erfahrungen mit der Gleichaltrigengruppe in ihren Zwängen und Stärken und der Erziehungsinstitution, die für den gesellschaftlichen Auftrag der Anpassung steht, zusammen. Die Kritik an der Erziehung, ihren Institutionen und den darin Tätigen äußerte sich bei Musil weitaus subtiler und psychologischer als bei Wedekind. In einem Bild zeichnet er die innere Befindlichkeit der jugendlichen Seele markant nach: Verwirrung nämlich „bewirkten die besonderen Verhältnisse im Institut. Dort, wo die jungen aufdrängenden Kräfte hinter grauen Mauern festgehalten wurden, stauten sie die Phantasie voll wahllos wollüstiger Bilder, die manchen die Besinnung raubten. Ein gewisser Grad von Ausschweifung galt sogar als männlich, als verwegen, als kühnes Inbesitznehmen vorenthaltener Vergnügungen. Zumal wenn man sich mit der ehrbar verkümmerten Erscheinung der meisten Lehrer verglich. Denn dann gewann das Mahnwort Moral einen lächerlichen Zusammenhang mit schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen auf dünnen Beinen und mit Augen, die hinter ihren Brillen harmlos wie Schäfchen weideten, als sei das Leben nichts als ein Feld voll Blumen ernster Erbaulichkeit.“ (MUSIL 1906/1988, S. 23)
Bei Musil ist das Kennenlernen seelischer Abgründe in der Jugend der angemessene Weg zur Reifung. Als man den erwachsenen Törleß, der ein feiner und empfindsamer Mann geworden war, danach fragte, ob die Erinnerungen an den mit den Freunden erlebten Skandal nicht beschämend seien, wies er diesen Gedanken weit von sich und verlieh der jugendlichen Krise ihren spezifischen Sinn: „Ich leugne ganz gewiß nicht, dass es sich hier um eine Erniedrigung handelte. Warum auch nicht? Sie verging. Aber etwas von ihr blieb für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben. Wollen Sie übrigens die Stunden der Erniedrigung zählen, die überhaupt von jeder großen Leidenschaft der Seele eingebrannt werden? Denken Sie nur an die Stunden der absichtlichen Demütigung in der Liebe!“ (MUSIL 1906/1988, S. 181)
Jugendbewegung und Jugendbewusstsein
Diese literarischen Imaginationen über Jugend korrespondieren wie im Falle Musils auch mit den ästhetisch kulturellen Auffassungen des Autors. Sie verweisen darüber hinaus jedoch auf die unterschiedlichen Perspektiven auf die Entwicklung des Menschen vom Kind zum Erwachsenen, die mit der Moderne diskutiert wurden. Besonders nahe liegend schien es, den psychologischen Blick zu schulen. So fanden neben literaturtheoretischen Aspekten veränderte Wahrnehmungen über Jugend Eingang in die lesende bürgerliche Welt und veranlassten dort Mütter und Väter, aber auch professionelle Pädagoginnen und Pädagogen, die jungen Menschen zu beobachten. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht so ein facettenreiches Bild der Jugendphase, zu dem die Kunst, die Wissenschaft, die Pädagogik, die Politik, die Polizei, die Medizin und mit ihr die Psychoanalyse und Psychologie wesentliche Beiträge geliefert haben. In seiner Studie über die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters bezeichnet Johannes Christoph v. Bühler (1990) dies als Fremdthematisierung der Jugendphase.
2.3 Jugendbewegung und Jugendbewusstsein 2.3.1 Jugendbewegung als pädagogische Reform Insbesondere die Pädagogik und die historische Jugendforschung interessierten sich durchgängig für die bürgerliche Jugendbewegung und deren Lebensformen im Wandervogel und in der bündischen Jugend der zwanziger Jahre bis hin zur Hitlerjugend. Seit ihrer Entstehung war die Jugendbewegung nämlich institutionell mit der Schule sowie personell mit vielen Lehrerinnen und Lehrern eng verbunden. In der Geschichte der Pädagogik ist deshalb die Jugendbewegung nicht selten mit den Ideen der deutschen Reformpädagogik dieser Zeit in Verbindung gebracht, ja selbst als pädagogische Reform betrachtet worden. Es waren zunächst Lehrer, die mit den ihnen anvertrauten Gymnasiasten die Natur am Rande Berlins aufsuchten und damit ein neues Lebensideal, verbunden mit wahrer Jugendlichkeit, verkündeten. Die attraktive Utopie der Jugendbewegung war die Errichtung eines „Jugendreichs“, in dem die Rituale, die Lieder, Tänze und Feste der neuen Jugend dominieren sollten. Über alle Gegensätze der einzelnen Richtungen hinweg einte die Jugendbewegung die Idee der aktiven Gestaltung der Jugendphase. Daraus ging auch eine besondere Ästhetik der Jugendkultur, die sich in Kleidung, Haarschmuck, Buchgestaltung u. a. zeigte, hervor. Die zur selben Zeit populäre Kunstrichtung „Jugendstil“, enthielt bereits in ihrer Bezeichnung die Programmatik neuer Jugendlichkeit und wurde schon bald von der Werbung vereinnahmt. In der Geschichtsschreibung dominierte lange die Rekonstruktion des männlichen Teils der wandernden Jugend und der damit verbundenen Männlichkeit. Demgegenüber vernachlässigte man die historische Aufarbeitung der Beteiligung von Mädchen und Frauen und subsumierte weibliche Jugendformen unter dem Erscheinungsbild der männlichen Jugend. Insgesamt ist gerade die Geschlechterfrage zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein
Zur pädagogischen Bedeutung der deutschen Jugendbewegungen
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
Schlüssel zum Verständnis für diese kulturell, sozial und politisch schwierige und komplexe Zeit. An den Geschlechterverhältnissen lässt sich die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen festmachen. So wurden beispielsweise traditionelle Vaterbilder in Frage gestellt, neue Weiblichkeitskonzepte diskutiert und Mädchen und Frauen der Zugang zu den höheren Bildungsinstitutionen wie Gymnasien und Universitäten erschlossen. (KLEINAU/OPITZ 1996)
2.3.2 Das Männlichkeitsideal des Wandervogels Anfänge des Wandervogels
Neue Erziehung
1896 begann der am Gymnasium Steglitz in Berlin tätige Lehrer Herrmann Hoffman eine Gruppe von Schülern um sich zu versammeln und mit ihnen Wanderungen zu veranstalten. Sein Nachfolger Karl Fischer machte aus der lokalen Wandergruppe eine nationale Organisation, aus der schließlich der „Wandervogel“ hervorging. (Die Geschichte des Wandervogels ist vielfach dargestellt worden. Einen guten Überblick bieten nach wie vor Laqueur 1962 und der Sammelband von Koebner/Janz/Trommler 1986. Eine kritische Geschichte rekonstruiert Geuter 1994.) Man kann diese Ursprünge des Wandervogels als die bacchantische Sehnsucht nach unverwechselbarer Männlichkeit ansehen und aufzeigen, dass diese ihren Ausdruck in den Wanderungen, in den Äußerungen ihrer Führer, in der Schulkritik, der Einstellung zur Sexualität und schließlich dem Kameradschaftsideal fand. Die Leidenschaft der Zeit für ein Jugendideal fand in der Suche nach Männlichkeit ihre Form, nicht zuletzt deshalb, weil das Vorbild der Väter offenbar nicht mehr überzeugte und gesellschaftliche Prozesse die Lebens-, Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der Mädchen und Frauen des Bürgertums veränderten. Das erzeugte eine Auseinandersetzung mit Männlichkeitskonzepten, wozu man sich auch im Wandervogel häufig diffus nach geistigen Vordenkern umsah. Zu diesen zählte auch der Philosoph Friedrich Nietzsche. Der Wandervogel war alles andere als antipädagogisch, vielmehr suchten sowohl die erwachsenen Führer als auch die teilnehmenden Jugendlichen „neue“ Erzieher und Leitfiguren, die sie durch die unsicher gewordene Zeit lenken sollten. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es in dieser Epoche eine Fülle von Publikationen gab, die das Aufbruchs- und Größenpathos einerseits und das Anlehnungsbedürfnis der Jugend andererseits bedienten. Hinzu kamen eine Orientierung an historischen Vorstellungen über das, gegenüber der Moderne, „gute“ Mittelalter, eine idealisierte Hinwendung zur Natur und zur Landbevölkerung sowie eine Stilisierung des reinen Körpers. Der Wunsch nach Neugestaltung, der in der Jugendbewegung als Innovation des Jugend-, Schul- und Familienlebens auftrat, fand seinen Ort in der Auseinandersetzung mit neuer Erziehung und der Veränderung des Geschlechter- und Generationenverhältnisses. Insofern ist die Rolle der Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung wichtig für das Verstehen dieses Phänomens. Lange versuchte man die Geschichte der Mädchenbewegung vornehmlich aus der Perspektive ihrer gegenüber den Jungen geringeren Macht- und Handlungsspielräume zu betrachten. Inzwischen geht es eher um die grundsätzliche Geschlechterstruktur dieser Zeit, um die Auswirkungen der Geschlechterdiskurse auf die wissenschaftliche Erforschung der Jugend sowie auf reformpädagogische Diskussionen, sozialpädagogische Kon-
Jugendbewegung und Jugendbewusstsein
zepte und schließlich auf Selbstbilder der Jugend. (DE RAS 1988; KLöNNE 1990; ANDRESEN 1997)
2.3.3 Konfliktlinien der Jugendbewegung Die ideologische Klammer der Jugendbewegung war das sich im Kontext von Lebensreform, Kultur- und Zivilisationskritik, Natürlichkeit und Naturverbundenheit herauskristallisierende Bild des Neuen, das ein Synonym für „Jugend“ darstellte. Für Jugend als das Neue in der Gestaltung des Lebens, der Jugendlichkeit, des Geschlechterverhältnisses, der Kameradschaft war man bereit, große Widerstände zu überwinden. Mehr noch können gerade die antizipierten Widerstände von Seiten der Erwachsenen als ein wesentliches sinnstiftendes Element angesehen werden. In diesem Punkt waren sich Jungen und Mädchen einig. Darüber hinaus verband sie ein elitäres Bewusstsein, weil sie sowohl gegen den Strom der Moderne kämpften als auch gegen die überkommenen Traditionen im Umgang mit Jugendlichen. Hier richtete sich ihre Kritik nicht nur an die Erwachsenen, sondern auch an die Jugendlichen außerhalb der Bewegung. Der Wandervogel stritt vor dem Ersten Weltkrieg 1914 um viele Fragen der Organisation und die verschiedenen Gruppierungen hatten Konflikte wegen der angemessenen Form des Jugendlebens. Dies lag auch daran, dass vor allem nach den Bedürfnissen der männlichen Jugendlichen gefragt wurde. Zu den Streitpunkten der gesamten Bewegung gehörten die Fragen, ob Jungen und Mädchen getrennt voneinander oder zusammen wandern sollten, ob zu dem Gesang aus dem „Zupfgeigenhansl“, dem wohl bekanntesten Liederbuch der Jugendbewegung, am nächtlichen Lagerfeuer Alkohol getrunken und Nikotin geraucht werden durfte oder nicht, ob jüdische Jugendliche aufgenommen werden durften und wie man sich zur Politik der Erwachsenen verhalten sollte. Insbesondere die beiden letzten Fragen waren zentral für die weitere Entwicklung der Organisation. Eine zunehmend nationalistische völkische Orientierung der Jugendbewegung setzte dem Antisemitismus der Zeit nichts entgegen und aus der romantischen Naturbegeisterung, den Kriegsspielen im Wald und der Sehnsucht nach der „großen Fahrt“ – bei der es konkret um mehrwöchige Wanderungen, z. B. in Skandinavien ging – wurde die Kriegsbegeisterung der Jugend zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Zuvor kam es 1913 auf dem „Hohen Meißner“ zu einer großen gemeinsamen Veranstaltung, auf der sich die Jugendbewegung eine einheitliche Lebensformel gab. Die Meißnerformel enthielt kein konkretes Programm, aber sie zeigte den Anspruch der Jugendbewegung auf Autonomie und beschwor die Idee einer besseren Menschheit: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“ (zit. bei MOGGE 1998, S. 186)
Das Ideal des Neuen
Konfliktreiche Deutungen des Jugendlebens
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
2.3.4 Jugend im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik Vorbereitung auf jugendliche Kriegsbereitschaft
Bündische Jugend in der Weimarer Republik
Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen des „Wandervogels“ waren mit Kriegsspielen vielleicht nicht ertüchtigt, aber doch sozialisiert worden. In Schule und Elternhaus hatte man ihnen einen opferbereiten Patriotismus nahe gebracht, und schließlich fehlte es in der Rhetorik, in den Bildern und in der Vorstellungswelt der Jugendbewegung selbst nicht an romantischen Phantasien hinsichtlich einer großen, vielleicht gar romantischen Kriegsfahrt. (FIEDLER 1989) Das war der geistige Boden, aus dem zahlreiche kriegsbegeisterte junge Männer hervorgegangen waren. Männliche Jugendliche, Studenten, die sich berufen fühlten, für das Vaterland zu kämpfen und die sich 1914 freiwillig zum Einsatz meldeten, waren davon überzeugt, die Ideale der Jugendbewegung mit dem Erlebnis des Krieges verbinden und im Kampf konkretisieren zu können. Eine Illusion, deren Entzauberung die jüngeren Knaben und die Mädchen, die in der Heimat weiterhin ihren Alltag in der Jugendgruppe organisierten, durch die Feldpostbriefe der Kameraden vermittelt bekamen. Bereits während des Krieges, der auch unter den Kriegsteilnehmern aus der Jugendbewegung viele Opfer forderte, verlor sich somit die romantische Sicht auf Krieg und Kampf. Trotzdem wurde der Roman von Walter Flex „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ (1917), in dem das an die Front übertragene jugendbewegte Kameradschaftsideal im Zentrum stand, zu einem Kultbuch. Nach Kriegsende (1918) wandelte sich in der Weimarer Republik (bis 1933) die Struktur der Jugendbewegung grundlegend und daraus ging die so genannte „Bündische Jugend“ hervor. Neben den traditionellen Wandervogelgruppen existierten etliche deutsche Pfadfinderbünde und ein breites Spektrum weiterer Bünde, die sich als Lebens- und Arbeitsgemeinschaften von Gleichgesinnten verstanden. Auch politisch repräsentierte die Bündische Jugend die zersplitterte Parteienlandschaft der Weimarer Republik. Die Bünde diskutierten kulturelle, soziale und politische Fragen, arbeiteten an verschiedenen Projekten und erprobten gesellschaftliche Alternativen. (MOGGE 1998) Aber gegen Ende der Weimarer Republik hatte die Mehrheit der Bünde identitätsstiftende Vorstellungen einer völkischen Gemeinschaft und eines Führertums entwickelt und daraus resultierte eine Gegnerschaft oder mindestens eine Distanz zur Demokratie. Diese politische Haltung machte schließlich den Übergang in die Hitlerjugend für viele leicht. Der Historiograph Walter Laquer (1962) hatte die Jugendbewegung als „Mikrokosmos des Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Ebd., S. 7) bezeichnet. Welche qualitative Größenordnung die bürgerliche Jugendbewegung über die Jahre hatte, ist relativ schwer einzuschätzen, aber zahlenmäßig war sie im Verhältnis zu ihrem ideologischen und jugendbezogenen Einfluss eher gering. Zu diesem Einfluss zählten zum Beispiel der Ausbau des Jugendherbergswesens und der Jugendmusik, aber ebenso die Wirkungen auf die kirchliche Jugend und die Arbeiterjugend. (MOGGE 1998)
Jugendbewegung und Jugendbewusstsein
2.3.5 Weibliche Jugend zwischen Natur und Kultur Wie bereits aufgezeigt, war der männliche Jugendliche aus dem Bürgertum der normative Ausgangspunkt der Jugendbewegung. Die Kritik an einseitiger Schulbildung, an modernen Lebensformen der Großstadt, an deren Flüchtigkeit und Beliebigkeit, an der mangelnden Authentizität und der vermeintlichen Unreinheit war demnach geschlechtsspezifisch ausgerichtet. Das hielt Mädchen jedoch keineswegs davon ab, an der Bewegung zu partizipieren und eigene lebensreformorientierte Entwürfe zur Neugestaltung des Lebens zu entwickeln. Die Idee des Aufschubs, der Entpflichtung von traditionellen Formen bürgerlicher Konventionen ebenso wie vom Erwachsenenstatus, also die Idee eines gestalteten Jugendlebens unter Gleichaltrigen, war bei Jungen und Mädchen ein attraktives Modell. Erstmals schlossen sich 1905 Mädchen im „Bund für Wanderschwestern“ unter der Führung der aus der Frauenbewegung stammenden Schriftstellerin Marie Luise Becker zusammen. Sehr schnell bekamen die Mädchen und Frauen Zulauf und die gesamte Jugendbewegung musste sich mit der Frage auseinander setzen, welchen Einfluss Mädchen generell auf den Wandervogel haben würden, ob man für Getrennt- oder Gemischtwandern votieren solle oder ob von den Mädchen die Gefahr der Verweiblichung ausging. (DE RAS 1988; SCHADE 1996) Die Mädchen orientierten sich häufig an den Vorgaben des männlichen Teils der Jugendbewegung, aber gewannen, insbesondere durch die kriegsbedingte Abwesenheit der älteren Wandervögel, Unabhängigkeit und neue Führungsaufgaben. Die Gymnasiasten der bürgerlichen Jugendbewegung richteten sich gegen die bürgerliche Doppelmoral der Erwachsenen, gegen den Niedergang der Zivilisation und gegen die traditionelle Schule. Sie formulierten hohe ethische Ansprüche, machten sich Wahrhaftigkeit, Reinheit und Selbstbestimmtheit zur Auflage. Darüber hinaus romantisierten und stilisierten sie Natur, Volk und Jugend. Die darin begründete Pädagogik zielte auf die „äußere Natur“ und appellierte an die sozial zu bewahrende „Natürlichkeit“. Die „jugendliche Natur“ erwies sich somit als Referenzpunkt moderner pädagogischer Jugendkonzepte. Nicht nur wurde die Jugendphase mit Entwicklungs- und Zeitdimensionen der Natur verglichen (Frühlingsmetapher), sondern Jugend sollte die Natur als persönlichkeitsbildendes Erlebnis erfahren. Natur und Natürlichkeit richteten sich demnach gegen die Dekadenz der Moderne und gegen die Großstadt. Insbesondere die Mädchen sahen in dieser Gegenüberstellung ihr ideologisches Tätigkeitsfeld. Die romantisierte „äußere Natur“ wurde als authentische Heimat stilisiert, das Land machte man so zum „guten“, reinen Ort gegenüber dem „Sündenpfuhl“ Großstadt. Zugleich diente die Natur als real gedachter Schon- und Schutzraum dazu, die mit der Pubertät aufbrechende Triebhaftigkeit der „inneren Natur“ des Jugendlichen zu zähmen. Sexualität war das Subthema vieler Diskussionen innerhalb der Jugendbewegung, was eine direkte Thematisierung jedoch nicht ausschloss. Die bürgerliche Jugendbewegung blieb allerdings zwiespältig in ihrem Umgang mit und ihrer Haltung zur Sexualität. (vgl. GEUTER 1994; ANDRESEN 1997) Wesentliche Ideale, insbesondere für die Mädchen, waren jedoch Reinheit und
Anfänge des Mädchenwanderns
Gestaltete Natürlichkeit
Sexualität und Körperlichkeit
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Keuschheit, was in der Formel „rein bleiben und reif werden“ zum Ausdruck gebracht wurde. Eine viel beachtete Thematik von Beginn an war die Frage nach Homosexualität in der Jugendbewegung. Generell war das Gefühl, unter Gleichgesinnten und Gleichgeschlechtlichen sein zu können, sehr attraktiv. Insbesondere die Mädchen, auch wenn sie eine Kameradschaft mit den Knaben anstrebten, waren für die Mädchengemeinschaft offen. Darin sahen sie auch das Neue der Mädchenjugendzeit, und sie verstanden die Jugendbewegung als „Insel“, die ihnen einen Lehr-, Lern- und Schonraum besonderer Art zu bieten vermochte. (Vgl. ANDRESEN 2001; KEMPIN 1922, 1924) Die wichtigsten Aspekte weiblicher Identität in der Jugendbewegung waren Kameradschaft, Mutterschaft, Reinheit, Fürsorge und Persönlichkeitserziehung, allesamt Teile eines bewusst inszenierten mädchenhaften Schonraums. Deren Gewichtung war zwar abhängig von unterschiedlichen Gruppenideologien, politischen Haltungen und den jeweils aktuellen gruppeninternen Geschlechterkonflikten, aber dennoch lässt sich zeigen, dass die Definition des Mädchenmoratoriums von Anfang an eine zentrale Frage der gesamten Jugendbewegung war. Die Mädchen der Jugendbewegung erhoben demnach den Anspruch der selbsterzieherischen Persönlichkeitsbildung, verlangten nach einer Konzentration auf das eigene Geschlecht, strebten nach einer angemessenen, neuartigen Vorbereitung auf die Mutterschaft und formulierten vor allem das Bestreben nach Kameradschaft. Im Anspruch der bewussten gegenseitigen Erziehung innerhalb der Gruppen und an sich selbst versuchten die Mädchen, eine Verknüpfung von aktivem und passivem Verhalten zu verwirklichen. Die auf das Wesen des Weiblichen zielende Definition natürlicher Passivität im Geschlechterverhältnis sollte durch aktive Selbstbildung umgesetzt werden. Insgesamt entsprach das „Jugendreich“ der bürgerlichen Jugendbewegung wohl eher einer „Jugendprovinz“ mit starker Verbundenheit zur deutschen Kultur und Geschichte. Trotzdem handelt es sich um ein für die Jugendforschung aufschlussreiches Phänomen. Insbesondere die Rezeption von und die andauernde Auseinandersetzung mit Form, Inhalt und Darstellung der Jugendbewegung innerhalb der Pädagogik zeigt ihre Bedeutung für das pädagogisch verfügbare Wissen über Jugend.
2.4 Jugend als Spiegel sozialer Probleme Seit dem neunzehnten Jahrhundert setzten Diskurse über die Gefährdung der Jugend und die Gefahr von Jugend für die Gesellschaft im Bereich der Politik, der Wissenschaft und der Kriminologie ein. Jugend erweist sich somit um 1900 zunehmend als eine Art Reflexionsfeld für soziale Probleme. Dabei ging es unter anderem um die sozialen und moralischen Auswirkungen der Industrialisierung auf die Jugendphase und um die Bedeutung von Urbanität. Wesentliche Impulse zur Untersuchung von sozialen Einflüssen auf die Jugend kamen aus den USA.
Jugend als Spiegel sozialer Probleme
2.4.1 Die Halbstarken: Auffällige Großstadtjugend Für eine Darstellung der Anfänge der Jugendforschung stellt sich die Frage, wann und warum Jugendliche oder junge Menschen für die Wissenschaft interessant wurden. Abweichende Jugendliche standen beispielsweise um 1900 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie wurden als verwahrloste Jugendliche bezeichnet. Diese Zuschreibung enthielt auch eine Kritik an der Herkunftsfamilie. Als verwahrloste Jugendliche galten diejenigen, die sich nicht anpassten, die störten, nicht zur Schule oder zur Arbeit gingen, die sich nicht an die Sexualmoral hielten, aber auch Jugendliche, die unterernährt und psychisch und sozial mangelhaft versorgt waren, die Defizite im Verhalten aufzeigten und bereits eine kriminelle Karriere hinter sich hatten. In städtischen Banden, in kriminellen jungen Männern, in jugendlichen Prostituierten sah man weniger das Einzelschicksal, sondern Beispiele für die sozialen Probleme im gesellschaftlichen Wandel. So hat zwar Armut in jeder Epoche Verwahrlosung unter Kindern und Jugendlichen mit sich gebracht, aber deren Formation in Städten führte u. a. zu einer neuen sozialpolitischen und pädagogischen Aufmerksamkeit. Diese Situation wirkte sich auch auf Forschungsfragen aus. Am Beispiel Deutschlands zeigt sich, wie im Kaiserreich ab 1871 drei Bedingungen zusammenwirken: Erstens ist von einer Sensibilisierung der Erwachsenen auszugehen sowie zweitens von dem Sachverhalt, dass jugendliches Verhalten als allgemeines Problem wahrgenommen wurde. Drittens kam es auch unter Arbeiterjugendlichen zu einer Ausprägung spezifischer Stile, Artikulations- und Provokationsformen. (GROTUM 1994) In diesen Gesamtzusammenhang gehört auch die Geschichte der Jugendfürsorge und -pflege. (Vgl. u. a. PEUKERT 1986; UHLENDORFF 2003) Durch die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer kapitalistischen und industriellen Struktur kam es in Zeiten schlechter Konjunkturlagen insbesondere unter jugendlichen Arbeitern zu massenhafter Jugendarbeitslosigkeit. So „lungerten“ in bestimmten Stadtteilen jugendliche Arbeitslose herum und fielen als aggressive und zum Teil gewaltbereite Gruppierung auf. Ein Hamburger Pastor, Clemens Schultz, prägte 1912 für diese meist männlichen Jugendlichen den Begriff der Halbstarken (SCHULZ 1912). Der Halbstarke, so der Pastor,
Verwahrlosung
„steht am liebsten am Markte und … er ist der geschworene Feind der Ordnung, er hat eine leidenschaftliche Abneigung gegen die Ordnung; darum haßt er die Regelmäßigkeit, ebenso alles Schöne und besonders die Arbeit, zumal die geordnete, regelmäßige Pflichterfüllung. So hat er gar keinen Sinn, kein Gefühl für das was einem anderen Menschen das Leben lebenswert macht: Heim, Familie, Freundschaft, nun gar erst Vorwärtsstreben, Begeisterung.“ (SCHULTZ, zit. in GROTUM, S. 24 f.)
Es habe keine Sünde und Niederträchtigkeit gegeben, zu der die Halbstarken nicht bereit gewesen seien und angesichts dessen entwickelte sich für diese auffällige Jugend ein hohes pädagogisches Interesse. Pastor Schultz bemühte sich um eine Entwicklungstypologie des „Halbstarken“: Der „verkommene Schüler“ bis zum vierzehnten Lebensjahr fiel durch Schuleschwänzen und Herumtreiben auf. Mit dem Eintritt ins Berufsleben wurde er zu einem unzuverlässigen Lehrling und Gelegenheitsarbeiter von
Typologie
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
besonderer Träg- und Frechheit. Er sei meist mit „seinesgleichen“ auf der Straße und in anderen öffentlichen Räumen anzutreffen. Hier verhielten sie sich wie Erwachsene mit Pfeiferauchen und Wirtshausbesuch, trügen „Proleten-Look“ (SCHULTZ), provozierten Obrigkeit und Bürger. Auf der dritten Stufe habe sich der etwa achtzehnjährige „Halbstarke“ endgültig gegen die bürgerliche Ordnung entschieden und sich vollkommen der sozialen Kontrolle entzogen. Mit diesem Bild des unkontrollierten proletarischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der nicht allein, sondern stets in einer Gruppe Gleichaltriger agierte, wurde zum einen die Gefahr der Kriminalisierung der Jugend in der Großstadt und damit die Unsicherheit bürgerlichen Lebens thematisiert, zum anderen aber kam die Gefahr durch das Protest- und Umsturzpotenzial der Arbeiterschaft zur Sprache. Insofern dienten Untersuchungen über die Lebens- und Gesellungsform, die Haltung und Arbeitsbereitschaft der proletarischen Großstadtjugend auch der Bewahrung politischer Ordnung. Die pädagogischen Versuche dieser Zeit zielten somit auf eine Domestizierung der als „wild“ wahrgenommenen städtischen Arbeiterjugend, insbesondere wenn sie im öffentlichen Raum auffiel und sich der regelmäßigen Arbeit und dem bürgerlichen Familienideal nicht unterwarf. Clemens Schultz fand für seine Beobachtungen aus der Großstadt eine sprachlich deutliche Charakterisierung: Die Halbstarken „bilden den Mob, sind eine furchtbare, grauenerregende Macht, zumal im großstädtischen Leben; ein Schlamm, der immer nach unten sinkt, wenn das soziale Leben in ruhigen Gleisen fortfließt, sich am Boden der Gesellschaft festsetzt.“ (SCHULTZ, zit. in GROTUM, S. 26)
Ganz deutlich wird bei dieser Wahrnehmung jugendlichen Daseins die Angst vor dem sozialen und politischen Kontrollverlust der etablierten Erwachsenen, wodurch eine typische Perspektive auf Jugend nicht nur in modernen westlichen Gesellschaften sichtbar wird. Darüber hinaus entsteht jedoch auch ein Bewusstsein für soziale Probleme wie konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit, die in der Jugendphase besonders markant hervortreten und wirksam werden.
2.4.2 Industriegesellschaft und Maßnahmen gegen Verwahrlosung Die „soziale Frage“
Sowohl der Umgang mit jungen Menschen in sozial problematischen Situationen als auch die Wahrnehmung jugendlicher Ausdrucks- und Lebensformen wie den so genannten Halbstarken müssen im Kontext einer Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der Industriegesellschaft, ihrer Politik, Wirtschaft und Kultur betrachtet werden. Die Ballung von Arbeitskräften in Groß- und Industriestädten und die damit einhergehende Entvölkerung von Landstrichen sind Beispiele für den sozialen Wandel. Dieser bewirkte eine Freisetzung des Menschen aus relativ festen Zusammenhängen und enthielt den Anspruch ökonomischer Verfügbarkeit. Im Zuge dieser Entwicklung waren dann auch Jugendliche davon betroffen, dass Arbeitskräfte bei schwacher Konjunktur beliebig entlassen wurden. Nicht nur die Pädagogik um 1900 und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, auch kritische Sozialpolitikerinnen und -politiker charakterisierten dies als Heimatlosigkeit und Entwur-
Jugend als Spiegel sozialer Probleme
zelung des modernen Menschen und als Verlust sozialer Prägung durch Familie und Arbeit. Die Problematisierung dieser Dynamik fand bereits im neunzehnten Jahrhundert unter dem Signalbegriff der „sozialen Frage“ statt. Untersucht und diskutiert wurden im weitesten Sinne die sozialen, politischen und ideellen Fragen des Kapitalismus, die darin eingebettete Widersprüchlichkeit, Entfremdung und Arbeitsteilung. Zudem enthielt die soziale Frage das pädagogische Kernproblem, wie Menschen, vor allem junge Menschen, überhaupt zur Gestaltung von Gesellschaft befähigt werden können. (BöHNISCH/SCHRöER 2001) Auch vor diesem Hintergrund erschien deshalb die Jugend als die am stärksten von der sozialen Frage betroffene Gruppierung, eingebettet in einen Gesamtprozess, den der Sozialpädagoge Karl Mennicke (1926) in den zwanziger Jahren als „sozialpädagogische Verlegenheit der kapitalistischen Moderne“ diagnostizierte. Dabei wurde die Bedeutung der Pädagogik häufig überschätzt in der Hoffnung, durch Bildung und Erziehung die Probleme der Zeit lösen zu können. (SCHRöER 1999) Diese gesamtgesellschaftlichen Tendenzen zogen nicht nur wissenschaftliche und pädagogische Konsequenzen nach sich, sondern auch juristische Maßnahmen. So zeigt Uwe Uhlendorff in seiner Studie über die Geschichte des Jugendamtes (2003) das Zusammenwirken juristischer und erzieherischer Maßnahmen beispielsweise in der so genannten „Zwangserziehung“. So führte Hamburg 1887 das Hamburger Zwangserziehungsgesetz ein. Hier wurde festgelegt, welche Institutionen für die öffentliche Erziehung von Kindern und Jugendlichen, die entweder straffällig geworden waren oder in deren Familien die Erziehungsmittel gegen die Verwahrlosung nicht ausreichten, zuständig waren. Die Ausführung übertrug man der Behörde für Zwangserziehung und richtete zudem staatliche Erziehungsanstalten ein. Das Ziel solcher Maßnahmen war die „Besserung“ sittlich verwahrloster Kinder und Jugendlicher. Die Hamburger Zwangserziehung war idealtypisch der Situation der Großstadt geschuldet und zielte auf Risikogruppen der proletarischen Großstadtjugend.
Zwangserziehung
„Der Problemtyp war hier der Jugendliche, der ohne elterliche Aufsicht den Großstadteinflüssen ausgesetzt war. Neben einem polizeilichen Motiv, der Kontrolle bestimmter städtischer Milieus, zielte das Gesetz auf die Ertüchtigung der Jugend für gesellschaftlich produktive Zwecke ab.“ (Ebd., S. 265)
2.4.3 Sozialforschung als Jugendforschung Die Jugendforschung und die politische Auseinandersetzung mit der Jugend dokumentierten eine spezifische Wahrnehmung sozialer Probleme. Dieser Prozess war auch eng mit der Frage nach den Möglichkeiten von Erziehung und Bildung verbunden. Die Schrift von Clemens Schultz über die Halbstarken hatte eher eine solche pädagogische und disziplinierende Intention. Allerdings entstanden in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zahlreiche empirische Studien über Arbeiterjugendliche. Diese Studien stehen insgesamt im Kontext der sich entfaltenden und etablierenden Jugendfor-
Empirische Studien über Arbeiterjugendliche
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
Eine sozialwissenschaftliche Studie über die jugendliche Arbeiterin
schung der Zwanzigerjahre. An dieser Stelle sollen deshalb lediglich Forschungsinteressen kurz dargestellt werden, die sich aus der „sozialen Frage“ ableiteten. Um welche Forschungsinteressen ging es? Sozialpolitisch angelegte Jugendstudien arbeiteten die Differenz zwischen bürgerlicher Jugend und Arbeiterjugend heraus und untersuchten deren Erziehungs- und Bildungsvorstellungen. Außerdem ging es um Auswirkungen der Fabrikarbeit auf die psychische und soziale Entwicklung jugendlicher Arbeiterinnen und Arbeiter. Ferner interessierte man sich für die Gesundheit und für Ernährungsgewohnheiten, untersuchte das Freizeitverhalten der Arbeiterjugend und forschte über die Familien. Die Sozialpolitik, ebenso wie die Jugendfürsorge, hatte ein starkes Interesse an Erkenntnissen über die Familienverhältnisse, in denen Kinder und Jugendliche lebten. Hier gingen Familien- und Jugendforschung ineinander über. Sozialkritische Stimmen warnten vor den negativen Folgen der Industrialisierung für eine gesunde und gesellschaftskonforme Entwicklung der Jugend. Exemplarisch zeigt eine Studie der Sozialwissenschaftlerin Lisbeth FranzenHellersberg (1932) über die jugendliche Arbeiterin, wie die Forschung diesen sozialen und pädagogischen Fragen nachzugehen versuchte. Die Studie über die jugendliche Arbeiterin von Franzen-Hellersberg thematisierte Arbeitspraxis, kapitalistische Arbeitsmethoden, Lebenseinstellungen, Kindheitserinnerungen, Bildungserwartungen und die Verhinderung von Bildungsprozessen bei jugendlichen Arbeiterinnen. Methodisch arbeitete sie mit Fragebögen und Interviews und darüber hinaus wertete sie Berichte und Tagebücher aus. Ein Fragebogen endete mit einer Fragengruppe zur Zukunft. Damit Sie einen Eindruck solcher Studien bekommen, wird dieser Fragenkomplex hier abgedruckt: „Haben Sie ältere Bekannte oder Freunde, deren Leben Sie sich wünschen? Genau beschreiben und begründen. Möchten Sie heiraten oder was sonst? Kinder haben, wie viele? Wie würden Sie sie pflegen, wie erziehen? Wie strafen Sie ungezogene Kinder? Genau beschreiben. Kennen Sie Kinder, wo haben Sie diese beobachtet? Evt. mit ihnen gespielt? Genau beschreiben. Was möchten Sie am liebsten werden? Warum dies? Begründen!“ (FRANZEN-HELLERSBERG 1932, S. 142)
Die Autorin kritisierte grundlegend das wissenschaftliche Selbstverständnis der psychologischen und pädagogischen Jugendforschung ihrer Zeit, weil der Zusammenhang von Klasse, Bildung und Geschlecht nicht genügend betrachtet wurde. Sie versuchte, anhand von Berichten der Mädchen, diesen Zusammenhang aufzudecken. Auch hier soll ein Auszug einen Eindruck vermitteln: „Ich, die Tochter des Arbeiters L. M. geb. 1912 zu Berlin. Ohne Gottesfurcht und Liebe erzogen, lernte ich in meiner Kindheit nichts weiter als Not und Elend kennen. Denn mein Vater ist Trinker. Wenn mein Vater betrunken nach Hause kam, dann war entweder Streit oder Schlägerei.“ (Ebd., S. 117)
Ein Aspekt der jugend- und bildungstheoretischen Reflexion Franzen-Hellersbergs soll ihre eigene Perspektive verdeutlichen: Bei männlichen Arbei-
Jugend als Spiegel sozialer Probleme
tern, so Franzen-Hellersberg, konnten sich Bildungsambitionen entwickeln, wenn sie beispielsweise am Angebot von Volkshochschulen teilnahmen. Die Autorin deutete dies als einen verspäteten jugendlichen Bildungstrieb, als eine Art Spätpubertät: „Bedürfnisse, in objektiven Bezügen sich selbst zu finden, Erkenntnistrieb, gepaart mit Zweifel an sich und der Welt, können diesen ernsthaft Lernenden eine Art neuer Jugend bringen. Man hat den Eindruck, dass hier eine Erlebnisform nachgeholt wird, die in Kulturländern höhere Schüler vor dem 20. Jahr durchmachen. Etwas Ähnliches ist bei Arbeiterinnen bisher nicht beobachtet worden.“ (Ebd., S. 60)
Franzen-Hellersberg diskutierte ihren Befund vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass das pubertäre Erleben besonders nachhaltig auf den gesamten weiteren Lebenswegs ausgreifen würde und sich dementsprechend die Verhinderung des Bildungserlebens negativ auf die Biographie niederschlagen müsste. Während dem männlichen jungen Erwachsenen des Proletariats eine „zweite Chance“ zu Verfügung stünde, bliebe diese der jugendlichen Arbeiterin – vor allem aufgrund der sozialen Geschlechterdifferenz – versagt. Franzen-Hellersberg stellte diesen eklatanten Unterschied in einen ethischen und politischen Kontext und kritisierte darüber hinaus die durch die Jugendforschung etablierte Gegenüberstellung von „Kulturpubertät“ und „primitiver Pubertät“. Sie machte also auch die Geschlechterdifferenz zu einem zentralen Thema der sozialen Frage. Dabei verfolgte sie den Anspruch, die sozialen Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Arbeiterjugend herauszuarbeiten und lebenslange Folgen für Lebensführung, Sexualität, Bildung, Zufriedenheit usw. zu benennen. Die jugendliche Arbeiterin hielt Franzen-Hellersberg für einen vielfach benachteiligten modernen Menschen: „Sie sieht die Welt nicht als Aufgabe für sich, sondern höchstens als ein Mittel, um sich in ihr auszuprobieren und sich darin als lebendig zu erfahren.“ Deshalb lebe die jugendliche Arbeiterin nur in der Gegenwart und löse ihre latenten Spannungen in konkreten Erlebnissen. „Sie verzichtet auf Illusionen, wo sie sie nicht brauchen kann, kurz: sie ist realistisch. Wirklichkeit haben für sie nur ihre eigenen Vitalkräfte und alles, was diesen Nahrung gibt.“ (Ebd., S. 66) Franzen-Hellersberg zeigte in ihrer Studie das theoretische Spannungsverhältnis und die normierende Kraft der Jugendforschung auf. Diese würde vielfach zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beitragen. Sie betonte die Notwendigkeit, sich als Forscherin der sozialen Differenz in Entwicklungsverläufen, in Bildungsäußerungen und Wissensbeständen sowie in der Selbstwahrnehmung wissenschaftlich und politisch zu stellen. Dabei sollte sich die sozialwissenschaftliche Jugendforschung auch mit ethischen Fragen, zeitgenössischen Moralurteilen, Tabuisierungen jugendlicher Sexualität und Wertorientierungen befassen. In diesem Kapitel sollte die Bedeutung der sozialen Differenz zwischen der Herkunft von Jugendlichen, ihrer beruflichen Qualifikation und der Geschlechtszugehörigkeit herausgearbeitet werden. Die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Jugendforschung widmete sich Themen und Problemstellungen, die auch heute in der Jugendforschung noch virulent sind. Zu dem pädagogischen Wissen über Jugend und Jugendforschung gehört auch die institutionelle Dimension der Fürsorge und Sozialpädagogik. Diese ist in ihrem
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Jugend als Brennglas der Modernisierung
disziplinären Selbstverständnis stets von der Lebenssituation sozial benachteiligter Jugendlicher ausgegangen. Die Geschichte der Jugendforschung hängt demnach eng mit der Geschichte der Jugendfürsorge, ihrer gesetzlichen und institutionellen Entwicklung zusammen. Demgegenüber ist die bürgerliche Jugendbewegung eher mit schulpädagogischen Reformbestrebungen und der Lebensreform verbunden. Die Intellektuellen hingegen fanden ihre Form in der ästhetisch literarischen Verarbeitung von Jugendnöten, wohingegen die sozialpolitisch orientierte Jugendforschung die Auswirkungen sozialer Benachteiligung in den Mittelpunkt stellte. Hier waren in den Zwanzigerjahren viele Frauen aus dem Umfeld der Frauenbewegung und der Sozialdemokratie beteiligt.
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 2 gelesen haben: – Sie sollten erklären können, was mit Jugend als Brennglas der Modernisierung gemeint ist. – Sie sollten zwischen Fremd- und Selbstthematisierung unterscheiden können und Beispiele kennen. – Sie sollten wissen, was Standardisierung des Lebenslaufs bedeutet und welche Konsequenzen für die Jugendphase damit verbunden sind. – Sie sollten kulturelle Jugendbilder zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kennen. – Sie sollten Merkmale der bürgerlichen Jugendbewegung nennen können. – Sie sollten wissen, ob und wie sich Mädchen in den Wandervogel und in die Bündische Jugend integriert haben. – Sie sollten die Bedeutung der „Natürlichkeit“ für die Selbstthematisierung der Jugendlichen kennen. – Sie sollten wissen, was mit der „sozialen Frage“ gemeint ist und welche Rolle diese für die Jugendforschung spielte. – Sie sollten den Begriff Verwahrlosung erklären können. – Sie sollten wissen, wie man um 1900 über „Halbstarke“ diskutierte und warum. – Sie sollten Fragen sozialwissenschaftlicher Jugendstudien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kennen.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 2: ANDRESEN, SABINE (1997): Mädchen und Frauen in der bürgerlichen Jugendbewegung. Soziale Konstruktion von Mädchenjugend. Neuwied/Kriftel/Berlin. In der Monographie wird der historische Kontext der deutschen Jugendbewegung umfassend dargelegt. Dabei konzentriert sich die Autorin in Anlehnung an die neuere Jugend- und Geschlechterforschung auf die soziale Konstruktion von Mädchenjugend. SCHRöER, WOLFGANG (1999): Sozialpädagogik und die soziale Frage. Der Mensch im Zeitalter des Kapitalismus um 1900. Weinheim/München. Schröer bearbeitet in diesem Buch grundlegend den Zusammenhang von Sozialpolitik und Sozialpädagogik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Durch die Lek-
Jugend als Spiegel sozialer Probleme türe erhält man einen umfassenden Überblick über die Diskussionen sozialer Probleme und Informationen über daran beteiligte zentrale Personen. UHLENDORFF, UWE (2003): Geschichte des Jugendamtes. Entwicklungslinien öffentlicher Jugendhilfe 1871 bis 1929. Weinheim/Basel/Berlin. Uhlendorff schreibt eine Geschichte des Jugendamtes, das bis heute die deutsche Sozialund Jugendpolitik prägt. Dabei bearbeitet er nicht nur die Entwicklung einer Organisationsstruktur, sondern auch die Entstehung und Etablierung pädagogischer Arbeitsfelder. Somit wird ein guter Einblick in die Geschichte des öffentlichen Erziehungsauftrages im zwanzigsten Jahrhundert ermöglicht.
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B. Adoleszenztheorie und Jugendkunde 3 Jugendforschung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Adoleszenztheorie von G. Stanley Hall Das gesellschaftliche Interesse an Jugend entwickelte sich keineswegs nur in Deutschland. Jugend und Jugendforschung etablierten sich zeitgleich in vielen Ländern und insbesondere die USA nahmen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Einfluss auf die europäische Kultur, Theorie- und Forschungstradition. Ziel dieses Kapitels ist es, am Beispiel des Jugendforschers G. Stanley Hall einen ersten Einblick in internationale Traditionen zu ermöglichen und dafür zu sensibilisieren, dass man mit ausschließlich deutschsprachiger Literatur nur einen begrenzten Ausschnitt des in der Erziehungswissenschaft zur Verfügung stehenden Wissens erhält. Es soll ferner deutlich werden, dass man sich die Herausbildung neuer Forschungsfragen, neuer Methoden und kultureller, gesellschaftlicher und pädagogischer Interessen meist als interdisziplinären und internationalen Vorgang vorstellen muss. Darüber hinaus verfolgt dieses Kapitel das Anliegen, eine der ersten umfassenden wissenschaftlichen Abhandlungen über Adoleszenz vorzustellen. Das Buch „Adolescence“ von G. Stanley Hall wird in Publikationen zur Jugendforschung zwar zitiert, aber selten ausführlich besprochen. Deshalb wird zunächst der internationale Kontext dargelegt und der wissenschaftliche Hintergrund Halls vorgestellt (3.1), dann in die Entstehung des mehr als 1000seitigen Buches eingeführt (3.2) und schließlich werden wesentliche Aspekte seiner Adoleszenztheorie erschlossen.
3.1 Wechselwirkung zwischen Deutschland und den USA 3.1.1 Interdisziplinäre Universalgelehrte Beitrag zur Berufsbildung von Lehrkräften
Um 1900 waren nicht wenige Wissenschaftler in mehreren Disziplinen zugleich verwurzelt. Das lag einerseits an dem attraktiven Anspruch als Universalgelehrte zu gelten, aber auch an den wenig ausgeprägten Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen, die noch keiner solchen Spezialisierungen unterlagen wie heute. Der amerikanische Experimentalpsychologe William O. Krohn bezeichnete seinen Zeitgenossen G. Stanley Hall als bedeutenden Lehrer der Lehrer Nordamerikas. (STIMPFL 1902, S. 22) Insbesondere Halls Anliegen, durch die von ihm mitbegründete amerikanische Kindheitsforschung und mit seiner Adoleszenztheorie einen innovativen und substantiellen Beitrag zur Professionalisierung von Lehrkräften an Schule und Hochschule zu leisten, mögen zu diesem Urteil geführt haben. Hall gelangte biographisch über Theologie,
Wechselwirkung
Philosophie, Evolutionstheorie, Physiologie und Psychologie zur Pädagogik. Besonders deutlich werden seine Verknüpfung dieser Disziplinen, die starke Orientierung an der Pädagogik und sein naturwissenschaftliches Vorgehen in dem Buch über Adoleszenz, das 1904 erschien. Zu dieser Zeit war Hall als Präsident der Clark University unter deutschen Psychologen, Philosophen und Pädagogen bereits bekannt. Sein Buch „Adolescence“ wurde von deutschsprachigen Jugendforschern als Meilenstein der sich etablierenden Wissenschaft über die Jugend aufgenommen. Warum ausgerechnet G. Stanley Hall in Deutschland positiv rezipiert wurde, kann hier nicht ausführlich beantwortet werden. Ein Grund liegt vermutlich in den komplexen Wechselwirkungen wissenschaftlicher Diskurse. Hall selbst war nämlich stark beeinflusst von deutschsprachigen Forschern, vor allem von dem Mediziner und Physiker Hermann v. Helmholtz und dem Wahrnehmungs- und Experimentalpsychologen Wilhelm Wundt. In seiner Monographie über die Begründer der modernen Psychologie (1914, engl. 1912), behandelte Hall ausschließlich deutsche Gelehrte. Das wiederum veranlasste den deutschen Pädagogen Max Brahn im Vorwort der deutschen Ausgabe von 1914, also am Beginn des Ersten Weltkriegs, zu folgendem Urteil: „Begrüßen wir darum in Deutschland den Versuch Stanley Halls, die Begründer der modernen Psychologie nur unter den Deutschen zu suchen, aufs Wärmste. In einer Zeit, da das Deutschtum so vielfach angegriffen wird, muss es uns eine Freude sein, zu sehen, dass ein sehr ruhiger Amerikaner den schöpferischen Geist bisher auf unserem Gebiete den Deutschen zuschreibt.“ (BRAHN 1914, S. VII) Auch mit seiner schneidenden Kritik an der amerikanischen Politik und Kultur, die er bereits in „Adolescence“ äußerte, stieß Hall bei deutschen Pädagogen und Psychologen auf offene Ohren.
Rezeption in Deutschland
3.1.2 Zum biographischen Kontext Halls G. Stanley Hall repräsentiert folglich eine enge Verbindung zwischen deutscher und US-amerikanischer Forschung im psychologischen Feld. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen reiste er zu Studien- und Forschungszwecken nach Deutschland. Insbesondere der Experimentalpsychologe Wilhelm Wundt war für Hall und die von ihm maßgeblich mitbegründete amerikanische Psychologie von zentraler Bedeutung. In einem Sammelband über die Wirkung Halls urteilen die Herausgeber mehr als sechzig Jahre nach seinem Tod folgendermaßen: „Many Americans went to Germany to study with Wundt and brought back the new psychology to American universities, but by 1880 none had established a true laboratory for research and for graduate education in psychology. That task was undertaken at the Johns Hopkins University by Granville Stanley Hall in 1883.“ (HULSE/ GREEN 1986, p. IX)
Wie verlief der biographische Werdegang dieses Jugendforschers? Hall wird 1846 geboren und wächst auf einer Farm in Massachusetts auf. Er besucht die Schule, studiert zunächst Theologie in New York und interessiert sich dann für Literatur und Philosophie. (APPLEY 1986; HALL 1923) 1868 reist er erstmals nach Deutschland, um dort Sprache und Philosophie zu stu-
Biographischer Hintergrund
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Jugendforschung in den USA
Weitere berufliche Entwicklung
dieren. Er beendet zwar sein Theologiestudium, wird jedoch nicht in diesem Bereich tätig. Stattdessen übernimmt er verschiedene Lehrtätigkeiten u. a. in Harvard, wo er mit dem Psychologen und Philosophen William James zusammenarbeitet und wo er vor seiner zweiten Reise nach Deutschland promoviert. In Leipzig wird er der erste amerikanische Student von Wundt und studiert bei dem Physiologen Carl Ludwig. In Leipzig und Berlin entscheidet er sich, die Psychologie auf Fragen der Erziehung anzuwenden und hier seinen professionellen Schwerpunkt zu legen. 1880 kehrt er in die USA zurück, hält Vorlesungen über Themen aus der pädagogischen Psychologie, wird 1882 in der Johns Hopkins Universität mit einem Lehrdeputat ausgestattet und erhält den Auftrag, ein psychologisches Laboratorium aufzubauen. (Ebd.) 1884 wird er dort Professor für Psychologie und Pädagogik und verfolgt von einer beruflich sicheren Position aus sein Anliegen, die Psychologie von der Philosophie streng zu trennen. Auch an amerikanischen Universitäten setzte man sich mit der Bedeutung der Naturwissenschaften für die Erzeugungsmöglichkeiten von Wissen auseinander. Dabei ging es u. a. um die Haltung zur Evolutionstheorie und zu laboratorischen Methoden. Hall interessierte sich aber auch für pädagogische Vermittlungsfragen und -möglichkeiten. 1888 wechselte er als Präsident zum neu gegründeten Clark College. Dorthin lud er, anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens der Universität, 1909, den Psychoanalytiker Sigmund Freud zur Eröffnungsvorlesung ein. (ROSENZWEIG 1992; HALL 1923) Hall war schließlich für die amerikanische Kinder- und Jugendforschung von großem Einfluss, gründete viele Journale, die Organisation „American Psychological Association“ und begründete die psychologische Tradition der Johns Hopkins und Clark University. (HALL 1902)
3.2 Entstehung der Adoleszenztheorie 3.2.1 Entstehungskontext Pädagogisch motivierte Vorlesungen
Man könnte Halls Werk über die Adoleszenz als monumental bezeichnen. In zwei Bänden und auf weit über 1000 Seiten behandelt er in umfassend angelegten Kapiteln das ihm zur Verfügung stehende Wissen über die Jugendphase. Bereits der Titel des Buches verweist darauf, dass Hall die Psychologie der Adoleszenz möglichst komplex und differenziert darstellen will: „Adolescence its Psychology and its Relations to Physiology, Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion and Education“. Wie wenige vor ihm, mit Ausnahme der Psychoanalytiker, befasste sich Hall mit Fragen jugendlicher Sexualität. Dazu bediente er sich der Erkenntnisse Sigmund Freuds, aber er setzte sich auch mit der von Freud abweichenden Theorie des Tiefenpsychologen C. G. Jung auseinander. (BRUMLIK 2004) 1901 hält Hall im Rahmen eines Sommerferienkurses an der Clark University zwölf Vorlesungen über Adoleszenz, in denen er zentrale Aspekte seiner Adoleszenztheorie entwickelt. In einem ersten Zugang konzentriert er sich auf die Thematik Wachstum, körperliche Reifung, Geschlechtsreife und
Entstehung der Adoleszenztheorie
Menstruation. Dabei geht es ihm auch um die Wirkungen von Wachstumsprozessen auf die Jugendlichen. Außerdem befasst er sich pädagogisch und psychologisch mit der Erziehung jugendlicher Mädchen, mit Störungen im Jünglingsalter, mit der Psychologie der Liebe usw. Bereits in den Vorlesungen zeichnet sich sein Anliegen ab, möglichst umfassend alle Phänomene der Adoleszenz zu bearbeiten und deren wechselseitige Wirkung in den Blick zu nehmen. Im ersten Band von „Adolescence“ folgt auf die Kapitel zur physiologischen Entwicklung und ihre Abweichungen ein Kapitel über Moral und Kriminalität (Juvenile Faults, Immoralities, and Crimes), danach ein sehr ausführlicher Beitrag über die sexuelle Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der männlichen Adoleszenz. In einem biologisch, historisch, ethnologisch und psychologisch angelegten Kapitel setzt er sich schließlich mit der Entwicklung und Bedeutung der Menstruation auseinander. Im zweiten Band verknüpft Hall evolutionstheoretische Erkenntnisse mit pädagogischen Überlegungen. Dieser Zugang, das neue naturwissenschaftliche Wissen über die menschliche Evolution mit pädagogischen Reformideen zu kombinieren bzw. Letztere mit der Evolutionstheorie zu legitimieren, ist typisch für die pädagogischen Innovationsversuche dieser Zeit. Insbesondere die Vorstellungen des amerikanischen Reformpädagogen John Dewey basierten neben gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur Demokratie sowohl auf der neuen Psychologie als auch auf der Evolutionstheorie Charles Darwins.
Inhaltsüberblick
3.2.2 Pädagogische Intentionen Der zweite Band von „Adolescence“ nimmt darüber hinaus die soziale Bedeutung der Adoleszenz für Jungen und Mädchen sowie die Aufgaben der Pädagogik gezielt in den Blick. Hier geht es um Themen wie Liebe und Gefühle während der Adoleszenz, um Initiationsriten, um soziale Instinkte und intellektuelle Entwicklung und deren pädagogische Einbettung, um Fragen der Ethik und um jugendliche Mädchen und deren Erziehung. Das heißt, dass Hall unterschiedliche soziale Probleme, die für ihn mit der Adoleszenz verbunden sind, benennen und durch den richtigen pädagogischen Umgang mit Jugendlichen mildern oder gar lösen möchte. Bereits im Vorwort bringt er sein Anliegen, Lehrkräften Hilfe im Umgang mit Adoleszenten zu bieten, zur Sprache: „To love and feel for and with the young can alone make the teacher love his calling and respect it as supreme. … Hence the book attempts a pretty full survey of pedagogic matter and method for the age treated, and also, to some extent, for earlier and later years.“ (HALL 1904/1921, vol I, p. XIX)
To love and feel for and with the young
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Jugendforschung in den USA
3.3 Aspekte der Jugendtheorie 3.3.1 Seele und menschliche Entwicklung Halls Entwicklungsmodell
Hall strukturierte sowohl seine theoretischen Ausführungen als auch seine pädagogische Überzeugung anhand eines spezifischen Entwicklungsmodells. Damit versuchte er, gleichzeitig die Entwicklung der menschlichen Gattung und die des einzelnen Kindes und Jugendlichen zu bestimmen. Beide zusammen, also Menschheitsentwicklung hier und Individualentwicklung dort, seien der Schlüssel zum Verständnis für das jeweils andere: „Holding that the child and the race are each keys to the other, I have constantly suggested phyletic explanations of all degrees of probability.“ (Ebd., p. VIII)
Vergleich mit Rousseau
Hall übernahm das Modell einer Analogie von Menschheits- und Individualgeschichte von dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel. Haeckel lehrte seit 1861 an der Universität Jena und gehörte zu den führenden deutschen Naturwissenschaftlern. Er war früh ein überzeugter Anhänger Charles Darwins, dessen Evolutionstheorie er auf die menschliche Entwicklung übertrug. Aus seinen Überlegungen formulierte Haeckel das umstrittene „biogenetische Grundgesetz“, heute spricht man von der Rekapitulationsthese. Haeckel wollte daran den inneren Zusammenhang von Phylogenese und Ontogenese aufzeigen und nachweisen, dass die Ontogenese eine schnelle Rekapitulation der Phylogenese sei. Für seine Jugendtheorie griff Stanley Hall darauf zurück, übernahm die Denkfigur der Rekapitulation und wandte sie systematisch auf die psychische Entwicklung an. Das heißt, Hall ging davon aus, dass die psychische Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen jeweils mit einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung zu vergleichen sei. Trotz der typischen Themen und Problemstellungen, die den Diskursen um 1900 geschuldet sind, ist Halls jugendtheoretisches Werk in Themenwahl und Aufbau Rousseaus „Emile“ nicht unähnlich. Hier kristallisierte sich demnach eine Art Muster jugendtheoretischer Schriften mit pädagogischem Anliegen heraus. Adoleszenz kam auch für Hall einer zweiten Geburt gleich. Sie sollte zur höheren und vollkommeneren Menschlichkeit beitragen. „Adolescence is a new birth, for the higher and more completely human traits are new born. The qualities of body and soul that now emerge are far newer. The child comes from and harks back to a remoter past; the adolescent is neo-atavistic, and in him the later acquisitions of the race slowly become prepotent.“ (Ebd., p. XIV)
Wie Rousseau verband Hall zudem sein wissenschaftliches Interesse mit Gesellschaftskritik und formulierte daraus pädagogische Reformvorschläge. Rousseaus und Halls Jugendbegriff basierten sowohl auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Diskursen ihrer Zeit, als auch auf einem spezifischen Entwicklungsmodell und Naturbegriff. Beide befassten sich mit Ethik und Religion und mit der Frage nach den Aufgaben der Wissenschaft gegenüber diesen. Zudem hielt auch Hall es für geboten, sich ausführlich mit der Entwicklung der Mädchen und ihrer Erziehung zu beschäftigen. Anders als Rousseau es konnte, war Hall angesichts der Entwicklung in den Natur-
Aspekte der Jugendtheorie
wissenschaften und vor allem der Psychologie jedoch in der Situation, ein starkes Gewicht auf die psychische Reifung legen zu können. Darüber hinaus traf Hall den reformpädagogischen Ton der Zeit und artikulierte nicht nur attraktive pädagogische Leitideen, sondern bestätigte die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Erziehung und Pädagogik. Bereits im Vorwort zu „Adolescence“ wird deutlich, welche Denkstruktur Hall für seine Adoleszenztheorie zugrunde legte. Sein Interesse galt dem Aufbau einer ausdifferenzierten Psychologie. Dabei ging es ihm primär um den Versuch, die Theorie der Evolution auf das psychologische Feld zu übertragen, um den wissenschaftlichen Ansprüchen der modernen Welt gerecht werden zu können. Diese Ansprüche richteten sich seines Erachtens maßgeblich an die Erforschung des Menschen und an die methodischen Möglichkeiten, zu Wissen zu gelangen. Hall verband diese Intention mit einer Kritik an den Akademikern seiner Zeit, denen er eine selektive Problemwahrnehmung, eine mangelhafte Auseinandersetzung mit der menschlichen Evolution und eine einseitige Orientierung am Erwachsenen vorwarf. Er verknüpfte diese Kritik mit dem Postulat, dass man die Seele des Menschen wissenschaftlich kontrolliert erforschen müsse. Der Begriff der Seele spielte eine zentrale Rolle in seiner Adoleszenztheorie, wobei er Seele nicht religiös verstand. Vielmehr übernahm er diesen klassischen Begriff, um psychische Prozesse und Dynamiken in der menschlichen Entwicklung charakterisieren zu können. Religion und das Weiterleben nach dem Tod war für Hall keine Frage der Wissenschaft. In der menschlichen Entwicklung machte er besonders intensive Phasen aus, die einerseits Erkenntnisse über die Beschaffenheit der menschlichen Seele versprachen und andererseits durch eine besondere Empfänglichkeit für Erziehung gekennzeichnet sein sollten. So sei beispielsweise die Lebensphase zwischen acht und zwölf Jahren einzigartig im menschlichen Lebenslauf. Physisch habe das Kind den Zahnwechsel abgeschlossen, sein Gehirn gleiche an Umfang und Gewicht dem des Erwachsenen, seine Gesundheit sei hervorragend, seine Aktivitäten umfassend und variationsreich. Das Kind entwickelt in dieser Phase zudem Aktivitäten außerhalb der Familie und es entfaltet unabhängig vom familiären Einfluss neue Interessen. „Reason, true morality, religion, sympathy, love, and esthetic enjoyment are but very slightly developed.“ (HALL 1904/1921, p. IX) Alles im Kind dieser Altersphase erwartet sozusagen den Zeitpunkt der Reife (maturity) und aus diesem Grund verlangt Hall eine genaue Erforschung der relevanten Phänomene. In dem Versuch, deutlich zu machen, was wissenschaftlich erforscht werden könne und was nicht, wollte Hall nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie klären. Dazu sollte die Jugendtheorie einen Zugang liefern bzw. der Philosophie ihre Grenzen verdeutlichen. Schließlich, so Hall, habe es auch die Philosophie bislang abgelehnt, sich mit der psychologischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und dem normalen Lebensweg eines Menschen auseinander zu setzen. Hall ließ keinen Zweifel daran, dass man angesichts einer sich rasant beschleunigenden Entwicklungsgeschichte diese kontinuierlich und genau beobachten müsse. Es war typisch für diese Zeit, sowohl von der Schnelllebigkeit der Moderne als auch von einem rascheren evolutionstheoretischen Wandel auszugehen.
Intensive Phasen
Grenzen der Philosophie
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Jugendforschung in den USA „All this suggests that man is not a permanent type but an organism in a very active stage of evolution toward a more permanent form. Our consciousness is but a single stage and one type of mind: a late, partial, and perhaps essentially abnormal and remedial outcrop of the great underlying life of man-soul. The animal, savage, and child-soul can never be studied by introspection.“ (Ebd., p. VII) Methodische Vorstellungen
In diesem Kapitel wurde bereits auf Halls Interesse an Laborforschung hingewiesen. Er kritisierte angesichts seiner Entwicklungstheorie die Methode der Selbstbeobachtung und forderte stattdessen wissenschaftliche Methoden wie Laborbeobachtung und Beschreibung. Dafür sollte sich die Forschung auf die frühe Entwicklung im Kindes- und auf die Weiterentwicklung im Jugendalter konzentrieren. In der laboratorischen Untersuchung kindlicher und jugendlicher Entwicklung und früher Übergänge sah er die Möglichkeit, zu neuem Wissen über die menschliche Entwicklung generell zu gelangen: „In a word, the view here represents a nascent tendency and is in striking contrast to all those systems that presume to have attained even an approximate finality. But the twilight is that of dawn and not of evening. It is the morning hours of beginning and not that of completing the day of work, and this can appeal only to those still adolescent in soul.“ (Ebd., p. VIII)
Hall kam schließlich über seine Forschungen zur Kindheitsentwicklung und durch die Etablierung der child-studies in den USA zu der Überzeugung, dass man genau zwischen Entwicklungsphänomenen im Kindheits- und im Jugendalter unterscheiden könne und müsse. Gleichwohl trachtete er danach, stets beide Phasen menschlicher Entwicklung in ihrer Bedeutung für den gesamten Lebenslauf zu betonen und Zusammenhänge herzustellen. Neben der Überzeugung, die Rekapitulationsthese könne neue Erkenntnisse über die psychologische Entwicklung des Menschen liefern, war er sich zudem sicher, hier einen Weg gefunden zu haben, pädagogische Fehler zu vermeiden. Kenntnisse über die verschiedenen Stufen psychologischer Entwicklung sollten deshalb pädagogisches Handeln leiten. „While individuals differ widely in not only the age but the sequence of the stages of repetition of racial history, a knowledge of nascent stages and the aggregate interests of different ages of life is the best safeguard against very many of the prevalent errors of education and of life.“ (Ebd., p. VIII)
3.3.2 Die Bedeutung der Sexualität Wie bereits angedeutet, widmete Hall sich explizit der Bedeutung von Sexualität für einen positiven Verlauf der Jugendentwicklung. Er untersuchte die biologischen, psychologischen und physiologischen Aspekte der Sexualität im Jugendalter und kam dadurch zu einer Unterscheidung zwischen weiblicher und männlicher Jugendentwicklung. Noch bevor Hall 1909 den Psychoanalytiker Freud in die USA einlud, befasste er sich mit der psychoanalytischen Auffassung über kindliche und jugendliche Sexualität. Dies schlug sich auch in „Adolescence“ deutlich nieder. Dabei ging es ihm nicht darum, abweichende Entwicklungen zu charak-
Aspekte der Jugendtheorie
terisieren, er wollte vielmehr nachweisen, dass Sexualität ein wesentlicher Bestandteil der „normalen“ jugendlichen Entwicklung sei. Der amerikanische Philosoph und Psychologe Saul Rosenzweig beurteilt diese Einsicht folgendermaßen: Hall „hence explored its relevance to everyday adolescent life, its great significance in the understanding of marriage, and its paramont role in the religious experiences of youth.“ (ROSENZWEIG 1992, p. 106) Hall tabuisierte demnach die Sexualität nicht, sondern integrierte sie als ein Entwicklungsphänomen der Jugendphase, das er als einflussreich für die gesamte soziale und psychische Entwicklung des Jugendlichen erkannte. Das Thema Sexualität, Pädagogik und Jugendforschung beschäftigte Hall auch nach seiner Veröffentlichung von „Adolescence“. 1911 erschien sein Buch„Educational Problems“, in dem er ein mehr als 150 Seiten starkes Kapitel über„The Pedagogy of Sex“ veröffentlichte. In diesem Werk vervollständigte er den in „Adolescence“ angelegten pädagogischen Anspruch und stellte eine Verbindung zwischen jugendlicher Sexualität und sozialen Problemen, beispielsweise der Prostitution jugendlicher Mädchen oder Drogenkonsum und Alkoholismus, her. Die Bedeutung, die Hall der Sexualität beimaß, wurde später von den deutschsprachigen Jugendforschern, die sich auf ihn bezogen, meist ignoriert. Allein Siegfried Bernfeld sollte Halls Auffassungen für seinen eigenen jugendtheoretischen Ansatz nutzen.
Sexualpädagogik
3.3.3 Jugendtheorie und Kulturkritik Halls Jugendtheorie ist ohne seine pädagogischen Intentionen undenkbar. So forderte er in Anlehnung an Rousseaus Erziehungskonzeption, dass man zur Förderung einer guten Entwicklung eine geeignete Umgebung schaffen müsse. Dies begründete er nicht nur mit dem Genfer Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, sondern auch mit seinem rekapitulationstheoretischen Entwicklungsmodell. Die Umgebung des Kindes und Jugendlichen sollte stets der jeweiligen Stufe der Menschheitsgeschichte angepasst sein. Vor allem in der Erziehung sollte man darauf achten, dass die Umgebung nicht etwas vorgab, was dem Alter und damit der Entwicklungsstufe nicht angemessen war. Hall problematisierte die Gefahr einer zu frühen Konfrontation mit nicht altersgemäßen Phänomenen. Kinder durften also beispielsweise nicht zu früh mit Sexualität in Kontakt kommen. Für einen gesunden Entwicklungsverlauf war demnach Frühreife (precocity) schädlich. Mit der Warnung vor Frühreife formulierte Hall eine Sorge, die in der Jugendforschung lange dominant sein sollte. Er sah besonders in der modernen städtischen Gesellschaft die Gefahr, dass Jugendliche in ihrer Entwicklung zu früh mit unangemessenen Anforderungen konfrontiert würden. „So, too, in our urbanized hothouse life, that tendends to ripen everything before its time, we must teach nature, although the very phrase is ominous …“ (p. XI) Zu keiner Zeit sei die Gefährdung der Jugendlichen so groß gewesen wie in der US-amerikanischen Gegenwart. Für seine politische Deutung orientierte Hall sich ebenfalls an seinem Entwicklungsmodell, das heißt, er wendete die Rekapitulation von Menschheits- und Individualgeschichte auf den historischen gesellschaftlichen Prozess an. Vor diesem Hintergrund interpretierte er
Urbanized hothouse life
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die amerikanische Geschichte: Die USA habe ihre politischen Werte und ihre Kultur aus der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts erhalten. Historisch habe das Land somit selbst keine Kindheit und Jugend gehabt, woraus sich die Gefahr für amerikanische Jugendliche ergebe, ebenso wie die Nation Entwicklungsstufen zu überspringen. „To this extent we are a fiat nation, and in a very significant sense we have had neither childhood nor youth, but have lost touch with these stages of life because we lack a normal development history.“ (Ebd., p. XVI)
Mit derartigen Aussagen legte er eine Basis für die sich in Deutschland ausbreitende Skepsis gegenüber einer Amerikanisierung der Jugend im 20. Jahrhundert. Halls konsequente Anwendung der Rekapitulationsthese auf psychische, physische, moralische, soziale und historische Entwicklungsprozesse zeigt, dass seine Jugendtheorie aus heutiger Sicht weitgehend überholt ist. Sie hat allerdings einen erheblichen historischen Wert, wenn man die Ausformulierungen jugendtheoretischer Überlegungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verstehen will. G. Stanley Hall hatte eine Adoleszenztheorie vorgelegt, die auf einem naturwissenschaftlichen Verständnis psychologischer Forschung basierte und die die Formulierung von Erziehungsaufgaben enthielt. Insbesondere die modernen Gesellschaften innewohnende Gefahr der Frühreife veranlasste ihn, sich auf Erziehung zu konzentrieren und eine pädagogische Verwertbarkeit von Jugendtheorie und -forschung zu fordern. Dieser Ansatz war für die in Deutschland entstehende Jugendforschung im zwanzigsten Jahrhunderts ausgesprochen populär.
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 3 gelesen haben: – – – –
Wer G. Stanley Hall war. Sie sollten Thematik und einige Aspekte aus „Adolescence“ kennen. Sie sollten wissen, was mit der Rekapitulationsthese gemeint ist. Sie sollten wissen, welche Rolle Sexualität in Halls Adoleszenztheorie spielt. – Sie sollten wissen, was hier mit „Frühreife“ gemeint ist. – Sie sollten die Bedeutung der Adoleszenztheorie von Hall einschätzen können.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 3: HULSE, STEART H./ GREEN, BERT E. JR. (Ed.) (1986): One Hundred Years of Psychological Research in America. G. Stanley Hall and the Johns Hopkins Tradition. The Johns Hopkins University Press. Baltimore, Maryland. In der deutschsprachigen Überblicksliteratur zur Jugendforschung wird Hall stets erwähnt, ohne dass man Näheres über ihn erfährt. Dieser Sammelband ermöglicht einen Überblick über Geschichte und Entwicklung der psychologischen Forschung. Dadurch wird der Kontext Stanley Halls ausführlich dargelegt. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Psychologie und Universitätsgeschichte bietet der Band gutes Material.
Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert
4 Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert Warum interessierten sich Pädagoginnen und Pädagogen zunehmend für die Jugend und deren Entwicklung? Welche Hilfe für ihre Berufsausübung versprachen sie sich von besseren Kenntnissen über die Jugendphase? Welche Vorstellungen hatte man über das notwendige Ausbildungswissen angehender Lehrerinnen und Lehrer oder angehender Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter? In diesen Fragen liegt ein Grund für die Entstehung und Etablierung der pädagogischen Jugendkunde in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie ist eine spezifische Form der Jugendforschung mit einer eindeutigen pädagogischen Intention und deshalb wird sie im Rahmen eines gesonderten Kapitels behandelt. Jugendkunde getrennt von der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung zu betrachten, ist zudem mit der Frage verbunden, ob sich die pädagogische Instrumentalisierung wissenschaftlichen Wissens mehr oder weniger gradlinig in die Jugendforschung des Nationalsozialismus integrieren ließ, wie dies an Otto Tumlirz, einem Vertreter der Jugendkunde, exemplarisch gezeigt werden kann. (4.2.3) Erst im nächsten Kapitel folgt die Darstellung und Diskussion einiger im deutschsprachigen Raum bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dominanten Jugendtheorien. In ihnen wurde das komplexe Wissen über Jugend in eine systematische Form gebracht und so die Entwicklung des Menschen, die kulturelle Vorstellung einer Lebensphase, das Generationenverhältnis und der pädagogische und soziale Umgang mit den Individuen dieser Phase in einer Theoriesprache ausgedrückt. Deren Themen, Methoden, Konzepte, Denkfiguren und Zugänge finden sich auch in aktuellen Jugendtheorien wieder. Durch die ersten Kapitel sollte bereits deutlich geworden sein, wie eng unsere Sicht auf Jugend mit unserem Problembewusstsein für Erziehung, Aufwachsen und Verantwortung für die Gesellschaft zusammenhängt. Nun soll explizit herausgearbeitet werden, wie bestimmte Bereiche der Jugendforschung ausschließlich durch pädagogische Problemstellungen inspiriert wurden. Dabei ging es um ein besseres Verstehen jugendlicher Ausdrucksformen und psychodynamischer Prozesse mit dem Ziel einer effektiveren pädagogischen Beeinflussung. Anders ausgedrückt, ging es um die Möglichkeiten zu Erziehung, Bildung, Integration und Teilhabe im Jugendalter und um die Überprüfung gesellschaftlicher Erwartungen an die junge Generation. Heute könnte Letzteres beispielsweise die Frage nach sich ziehen, in welchem Maße Jugendliche und junge Erwachsene bereit sind, den Generationenvertrag, auf dem unsere soziale Ordnung bislang basierte, aufrechtzuerhalten. Der Erziehungswissenschaftler Peter Dudek vertritt in seiner Studie über „Jugend als Objekt der Wissenschaften“ (1990) die These, dass zwar das Nachdenken über Jugend sowie die Selbstthematisierung des Jugendalters in bestimmten Gesellungsformen keine neuen Erscheinungen seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts seien, aber dass die gesellschaftliche Bedeutung des Jugendphänomens seit dieser Zeit zugenommen habe. Diese Tendenz zeige sich auch in der wissenschaftlichen Betrachtung von Jugend. „Jugend wird dabei nicht nur zur Chiffre für Fortschritt, sondern auch für gesellschaftliche Instabilität.“ (DUDEK 1990, S. 22)
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Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert
Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Diagnose von Dudek geht es im Folgenden erstens um die Wahrnehmung der Jugend durch Professionelle im pädagogischen Feld (4.1) und zweitens um die pädagogische Jugendkunde (4.2).
4.1 Wahrnehmung der Jugend durch Professionelle 4.1.1 Das Prinzip der generationalen Unterscheidung Kinder und Erwachsene
Das prinzipielle Wissen über den Unterschied zwischen „großen“ und „kleinen“ Menschen, zwischen Jugend und Alter, zwischen „Reifen“ und „Unreifen“ ist keineswegs eine Erfindung europäischer Kultur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Ethnologische Studien rekonstruieren beispielsweise die Bedeutung von Initiationsriten verschiedener Völker, was auf ein Verständnis unterschiedlicher Alters- und Lebenssphären hinweist, die griechische Vasenkunst zeigt uns deutliche Variationen in der Darstellung von Menschen unterschiedlichen Alters (SCHMALTZ 2003), aus der bildenden Kunst kennen wir Darstellungen von Kindern und Jugendlichen beispielsweise aus der Renaissance. (GRUSCHKA 2003) Allerdings kennt gerade die Kunstgeschichte bis weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein Gemälde, auf denen Kinder und Jugendliche wie Erwachsene aussehen, von denen sie sich lediglich durch die ihnen beigefügten Attribute wie Spielzeug oder Tiere unterscheiden. Die zunehmend wissenschaftliche Erschließung dieser Phase erzeugte bei den Zeitgenossen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch den Eindruck, erstmals eine klare Abgrenzung vorgenommen zu haben, nämlich die zwischen Kindern, worin auch Jugendliche enthalten waren, und Erwachsenen. Das lag auch im Interesse der Pädagogik, wie ein einschlägiger Artikel in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“ aus dieser Zeit belegt: „Das rasche Emporblühen der Jugendkunde hat seine Ursache nicht allein in den Fortschritten der exakten psychologischen Forschungsmethoden, sondern vor allem auch in der Erkenntnis, dass das Kind nicht nur geistig ein anders geartetes Wesen als der Erwachsene ist, dass es vielmehr auch körperlich nicht, um eine alte Formel zu gebrauchen, den Erwachsenen im kleinen Maßstabe vorstellt.“ (RITTMANN 1915, S. 472)
Schüler im Übergang
Besonders die Lehrerschaft hatte ein starkes Interesse an einem besseren Wissen über Jugend. Sie erhoffte sich neue Möglichkeiten zur gezielten und effektiven pädagogischen Einflussnahme. Dabei unterschied sie allerdings nicht immer deutlich zwischen Kindern und Jugendlichen. Um sich zu behelfen, führten die Lehrerinnen und Lehrer zunächst eine Hilfskonstruktion, die vornehmlich der Schulpraxis entnommen war, ein: Die Bezeichnung Schüler. Die Orientierung an der Institution Schule führte dann zu einer Konzentration auf zwei Übergangsphasen: Auf den Eintritt in die Schule als Zäsur für Kindheit und die Schulentlassung als Zäsur der Jugendphase. Das heißt, die Wahrnehmung von Jugend durch Professionelle war maßgeblich durch das pädagogische Feld selbst, also durch pädagogische Institutionen gelenkt.
Wahrnehmung der Jugend durch Professionelle
4.1.2 Vom Jüngling zum Jugendlichen Der Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Walter Hornstein (1965) hatte in seiner historischen Studie den Perspektivwechsel im achtzehnten Jahrhundert vom „jungen Herrn“, der ausschließlich zum Adel zählte, zum „hoffnungsvollen Jüngling“ rekonstruiert. In vielen jüngeren Studien wird von diesem nicht nur begrifflichen, sondern kulturellen Wandel ausgegangen. Für die Jugendforschung ist auch heute zentral, wie Jugendliche in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, welchen Wahrnehmungen die Wissenschaften und die Professionellen unterliegen. Diese Perspektive ist deshalb aufschlussreich, weil man mit ihr auch andere Vorstellungen über das Generationenverhältnis und über die politische Ordnung rekonstruieren kann. Der Wandel im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts wird dabei häufig mit den Begriffen vom „Jüngling“ zum „Jugendlichen“ charakterisiert. In diesem Sinne schreibt der Jugendforscher Wilfried Ferchhoff: „Schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts setzte sich empirisch und in einigen pädagogischen Kreisen ein neues Konzept allmählich durch und ersetzte zusehends das alte Jünglingskonzept: das Konzept des Jugendlichen, obwohl es in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche gab, die alten Jünglingsvorstellungen pädagogisch mit ihren bürgerlich-christlichen Tugenden neu zu beleben.“ (FERCHHOFF 2000, S. 33, H. i. O.)
Mit dem Jünglingskonzept waren demnach bürgerliche Vorstellungen vom geordneten und behüteten Aufwachsen und von christlichen Tugenden verbunden. Diese Beschreibung eines allmählichen kulturell, sozial und politisch bedingten Konzeptwechsels ist bis heute in der deutschsprachigen Jugendforschung wirksam. Aber sie berücksichtigt zu wenig, dass viele verschiedene Jugendkonzepte nebeneinander existierten. Darauf hatte beispielsweise die Mädchen- und Geschlechterforschung aufmerksam gemacht. Demnach muss jeweils genau geprüft werden, welche Interessen mit einem vereinheitlichenden normativen Blick auf Jugend und Jugendliche im zwanzigsten Jahrhundert verbunden waren. Für pädagogische Interessen an der jungen Generation waren die Unterschiede Herkunft, Bildung und Geschlecht jedenfalls bedeutsam, ohne dass sich dies zunächst in einer systematischen Unterscheidung niedergeschlagen hätte. Die Unterschiede machte man am pädagogischen Feld fest und das Wissen über Jugend korrespondierte mit dem Wissen über das jeweilige Feld. Im Schulkontext war somit meist vom Schulkind oder Schüler, Volksschüler und Gymnasiasten die Rede, im außerschulischen Bereich dominierten entweder Berufsbezeichnungen wie Dienstmädchen oder ungelernte Arbeiter. Wenn hingegen Probleme thematisiert wurden, so benutzte man meistens die Bezeichnung „Jugendlicher“. Der Begriff des Jugendlichen war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit Gefährdungen verbunden. Diese tendenziell negative Konnotation des Jugendlichen verlor sich allmählich, was u. a. auf neue Rechtsvorgaben und internationale Diskussionen zurückzuführen ist. Die allgemeine Durchsetzung des Begriffs „Jugendliche“ griff nicht nur auf die Pädagogik, Psychologie und Medizin über, sondern
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fand auch Eingang in andere Bereiche. So interessierte sich beispielsweise die Volkskunde für Phänomene im Jugendalter und favorisierte den Begriff des Jugendlichen, weil „Jüngling“ zu eng an das bürgerliche Milieu geknüpft schien. Man kann davon ausgehen, dass sich an der Bezeichnung des jungen Menschen als „Jugendlichen“ ein spezifisches Problembewusstsein in professionellen Berufsbereichen und den damit verbundenen Forschungsinteressen abzeichnet. So wurden Begriffe wie Jüngling, Flegeljahre oder Backfisch (für ein jugendliches Mädchen) immer weniger gebraucht, sie schienen angesichts einer modernen Gesellschaft offenbar antiquiert. Sie verloren an Aussagekraft, weil sie immer weniger zu dem professionellen Ernst der Lehrerund Ärzteschaft, der Juristen und Psychologen passten.
4.2 Die pädagogische Jugendkunde 4.2.1 Zur Entstehung der Jugendkunde Programmatik
Das Kind als Objekt der Jugendkunde
In dem Begriff „Jugendkunde“ verbirgt sich ein disziplinär motiviertes Programm: Man wollte sich systematisch „kundig“ machen über die Jugend, ihre Entwicklung und die damit verbundenen Schwierigkeiten und dies dann gegenüber Eltern und Lehrkräften „kundtun“. In der Bezeichnung „Jugendkunde“ sollte demnach die Distanz zu alltäglichen Vorstellungen bzw. zu Alltagstheorien über Jugend deutlich hervortreten. Anstelle der heute gängigen Bezeichnung „Jugendforschung“, sprach man im pädagogischen Kontext zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fast ausschließlich von „Jugendkunde“. Zeitgenössisch verband man folglich mit dem Begriff der Jugendkunde den Anspruch, durch theoretische und empirische Forschung pädagogisch verwertbare Erkenntnisse über die Nichterwachsenen zu gewinnen. Dabei ging die Entdeckung des Kindes als Objekt der pädagogischen Forschung einer Auseinandersetzung mit Jugend zeitlich voraus. In der Kinderforschung war das medizinische Wissen über Kinder und Kindheit sehr einflussreich (s. a. Stroß 2000). Durch den Einfluss der Medizin orientierte man sich auch in der Pädagogik an der Gegenüberstellung von normaler Kindheit und abweichender oder pathologischer Kindheit. Auch die Betrachtung von Jugend und Jugendlichen sortierte dementsprechend „normale“ Jugendliche und deren Entwicklungsverläufe und „abweichende“ Jugendliche. Diese Normalitätskonstruktionen wirkten sich besonders auf das kriminologische, aber auch auf das sozialpädagogische Wissen aus, weil man nach Ursachen und Symptomen von Kriminalität, Verwahrlosung, Erziehbarkeit und Begabung suchte. Erst in den 1920er Jahren entkoppelten sich in der deutschsprachigen Forschung Jugendforschung und Medizin weitgehend. Für den Unterricht verlangte die Jugendkunde „Individualisierung“ des Unterrichts, was jedoch nichts anderes hieß, als die Orientierung der Lehrerin oder des Lehrers an der unterschiedlichen Begabung ihrer Schülerinnen und Schüler. Die pädagogische Jugendkunde bemühte sich um eine Abgrenzung von der Psychologie und begründete ihre Existenz mit der Erziehungsbedürftig-
Pädagogische Jugendkunde
keit und -fähigkeit des Jugendlichen. Die Vereinheitlichungsversuche der Pädagogik verweisen auf die höchst unterschiedlichen Kontexte, aus denen heraus sich das heterogene Feld namens „Jugendkunde“ entwickelt hat (FOERSTER 1904). In seiner Studie über „Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters“ zählt Johannes-Christoph von Bühler neben der psychologischen Kinderforschung und der Heilpädagogik vor allem auch die experimentelle Psychologie und die experimentelle Pädagogik zu den einflussreichen Strömungen. Wilhelm Wundt, bei dem Stanley Hall studiert hatte, war die zentrale Figur der experimentellen Psychologie. Er verstand die Psychologie als empirische und naturwissenschaftlich orientierte Disziplin. Wundt richtete, inspiriert durch chemische und physikalische Laborversuche, psychologische Laboratorien ein. Seine experimentelle Laborschulung hatte enormen nationalen und internationalen Einfluss. Die experimentelle Pädagogik war maßgeblich aus Wundts experimenteller Psychologie hervorgegangen und hatte von Beginn an ein starkes Interesse an der Begabungs- und Intelligenzforschung, an der Lernforschung und den Funktionen des Gehirns. Dabei waren es vor allem Lehrerinnen und Lehrer, die sich um experimentell psychologische Erkenntnisse bemühten, um diese für den Unterricht fruchtbar zu machen. Ferner sahen sie für sich persönlich eine Möglichkeit zur Professionalisierung. So veröffentliche der Lehrerseminarleiter Wilhelm August Lay 1903 beispielsweise eine „Experimentelle Didaktik“. Wichtig für die Jugendkunde war in diesem institutionellen und forschungspolitischen Prozess Ernst Meumann, ein Schüler Wundts. Meumann, der zuletzt Professor für Philosophie und Pädagogik in Hamburg war, begründete eine eigenständige experimentelle Pädagogik. (V. BüHLER 1990; MEUMANN 1914) Deren wichtigster Teil sollte die Jugendkunde sein, Meumann wollte sie zum ersten und grundlegenden Arbeitsgebiet der experimentellen Pädagogik machen (MEUMANN 1914). Meumann schloss mit „Jugendkunde“ jedoch auch die systematische und methodisch kontrollierte Erforschung von Kindern und Kindheit mit ein. Das heißt, dass pädagogische Jugendkunde hier nicht zwischen Kindern und Jugendlichen generell unterschied. Christoph von Bühler kommt dementsprechend zu der Einschätzung, es habe sich im Umfeld von Meumann vor allem um eine Volksschulkinderund Unterrichtsforschung gehandelt (V. BüHLER 1990, S. 271). Meumann verfolgte mit der Jugendkunde auch das Anliegen, das vorhandene Wissen in eine lehrbare Form zu bringen und damit erziehungspraktischen Nutzen zu erzeugen. Damit prägte er eine Kontinuität der pädagogischen Jugendkunde, die auch nach dem Ersten Weltkrieg am erzieherischen Gedanken festhielt. Diese Kontinuität basierte auf der Überzeugung, dass man nur leiten und erziehen könne, wenn man Kenntnisse über das Spezifische der Jugend habe. Zu den typischen Eigenschaften der Jugend zählte man deren Erziehungsbedürftigkeit. Auf diesem Weg legitimierte sich die pädagogische Jugendkunde. Insbesondere die Volksschullehrer versuchten durch sie eine möglichst enge Verzahnung von Forschung und pädagogischer Praxis.
Der Einfluss der experimentellen Psychologie
Die Bedeutung der experimentellen Pädagogik
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Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert
4.2.2 Die Didaktisierung der Jugendkunde Wissenstransfer
Wie kommunizierte man innerhalb der pädagogischen Jugendkunde die Erkenntnisse, Forschungsergebnisse und Zugänge, wenn neben der Erzeugung und Diskussion von Wissen auch die Anwendung des Wissens im pädagogischen Alltag beabsichtigt war? Eine Reihe von Zeitschriften, Monographien, von Vorträgen und Fortbildungen war dafür notwendig. Ernst Meumann gab beispielsweise die „Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“ heraus. Darin ging es maßgeblich auch um Themen der Jugendkunde. Die Zeitschrift erschien von 1899 bis 1944 mit verschiedenen Schwerpunkten. Des Weiteren hatte in den Zwanzigerjahren beispielsweise die „Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt“ eine Abteilung für Erziehungswissenschaft und Jugendkunde gegründet und veröffentlichte in diesem Zusammenhang ihre Schriften. Ab 1925 erschien das Jahrbuch der Erziehungswissenschaft und Jugendkunde mit dem Ziel „der Vertiefung pädagogischer und jugendlicher Einsicht“. Diese Publikationen geben die thematischen Schwerpunkte der Jugendkunde vor und nach dem Ersten Weltkrieg wieder. Hier wurden auch über Kongresse berichtet und Vorträge abgedruckt. Im Mittelpunkt standen Themen aus dem Kontext von Schule, Unterricht, Jugendbewegung, Fürsorge, Lehrerbildung und Reformen. Darüber hinaus waren neben den Publikationen auch Tagungen und Kongresse wichtig, um Diskussionen zwischen pädagogischer Forschung und Praxis aufrecht zu erhalten. Der erste „Deutsche Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde“ fand 1911 in Dresden unter Federführung des „Bundes für Schulreform“ statt. Er behandelte bezeichnenderweise die Arbeitsschule, wozu der Arbeitsschulpädagoge Georg Kerschensteiner gehört wurde und Meumann referierte über Intelligenzprobleme und Schule (SCHEIBNER 1911). Diese Themenstellung ist ein Beispiel dafür, wie eng im Bereich der Jugendkunde Reformbestrebungen innerhalb der Wissenschaft mit denen der pädagogischen Praxis korrespondieren konnten. Dieses Anliegen formulierte Meumann mit folgenden Worten: „Man kann die experimentelle Pädagogik unserer Tage geradezu auffassen als die wissenschaftliche Parallelbewegung zu unseren gegenwärtigen Schulreformbestrebungen, und sie tritt der praktischen Arbeit mit einer zweifachen wissenschaftlichen Arbeit zur Seite: sie verhält sich zu dieser einerseits gebend, andererseits nehmend.“ (MEUMANN 1911, S. 1)
Didaktik und Jugendkunde
Für die experimentelle Pädagogik resultierten daraus für Meumann zwei Forschungszweige, die Kindheitsforschung oder Jugendkunde sowie die didaktische Forschung. Beides müsse zusammengehen, weil man besonders auf Phasen von Entwicklungsschwankungen bei jugendlichen Schülerinnen und Schülern mit der „richtigen“ Didaktik reagieren müsse. Zu den kritischen Phasen, die nach einer sensiblen didaktischen Lenkung verlangten, zählte man den Eintritt in die Schule und die Pubertät. Die Pubertät „ist die Zeit, in welcher sich gewissermaßen der Charakter des Kindes allmählich verliert und der geistige und körperliche Habitus des Erwachsenen entsteht. Das
Pädagogische Jugendkunde Kind bietet längere Zeit eine Art von Vermischung der Merkmale des Kindes und des Erwachsenen dar. Zugleich wissen wir, dass diese Zeit des Lebens eine außerordentlich gefährdete ist … Diese Zeit ist daher zugleich die eigentliche und wahre Bildungsperiode des zukünftigen erwachsenen Menschen.“ (Ebd., S. 3, H. i. O.)
An diesem Zitat wird deutlich, wie sehr die Jugendkunde von der spezifischen Bildungsmöglichkeit und dem Potenzial im Jugendalter ausgegangen ist. Das war die prägende Perspektive auf das angestrebte Wissen und darin liegt zugleich eine Erklärung für den Optimismus hinsichtlich einer einvernehmlichen Parallelisierung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis. Ferner setzte dieses Denken eine Organisation des Wissens über Jugend voraus, mit deren Hilfe sich das Bild des „normalen Jugendlichen“ durchsetzte. Die Definition und Erforschung der normalen geistigen und körperlichen Entwicklung sollten dazu beitragen, Abweichungen zu erkennen und pädagogisch zu behandeln. Daran schloss man pädagogisch an und entwickelte pädagogische Minimalstandards: „Die praktische Bedeutung dieser Untersuchungen ist einleuchtend: sie geben uns bestimmte Anhaltspunkte für die normalen Forderungen der Schulleistungen, und sie zeigen uns z. B. auch nicht selten, dass manches, was die gegenwärtige Schule in bestimmten Jahren von dem Schüler fordert, nach seiner normalen Entwicklung noch gar nicht geleistet werden kann … und ebenso, dass die Forderungen der Schule in anderen Punkten gesteigert werden könnten.“ (Ebd., S. 4, H. i. O.)
In dem wissenschaftlichen Bemühen, sehr genau das „Normale“ jugendlicher Entwicklung bestimmen und verstehen und somit die Handlungsfähigkeit der pädagogischen Praxis verbessern zu können, lag die Idee zur „Jugendkunde“ aus pädagogischer Perspektive begründet. In diesem Punkt wollte man eine deutliche Abgrenzung zur rein psychologischen und zur soziologischen Jugendforschung. In der Jugendkunde entwickelte sich eine Sprache und Begrifflichkeit, mit der sich Schul- und Unterrichtsformen kritisieren ließen. Als Kristallisationspunkte stellten sich dabei die so genannten Übergänge Schuleintritt und die institutionellen Übergänge ins Jugendalter heraus. Für Letzteres formulierte Meumann beispielsweise die Forschungsfrage, ob der Schulbesuch generell mit 14 Jahren abgeschlossen werden darf und welche Bedeutung ein längerer Schulbesuch für das spätere Leben haben kann. Abschließend wird demnach deutlich, dass sich die Jugendkunde in ihrer Konzentration auf Schulkinder und damit sowohl auf Kinder als auch auf junge Jugendliche einem bis heute viel diskutierten Problem der Erziehungswissenschaft zu stellen versuchte, nämlich dem Verhältnis von Theorie und Praxis.
4.2.3 Otto Tumlirz: Ein Vertreter der pädagogischen Jugendkunde Mit dem Österreicher Otto Tumlirz (1890 – 1957) soll abschließend ein Repräsentant der Jugendkunde vorgestellt werden, der sowohl die Schulpraxis als auch die Forschung der Jugendkunde vertrat. Dudek hebt als Verdienst der früheren Schriften von Tumlirz hervor, dass dieser beharrlich auf die bildungstheoretischen Konsequenzen der Jugendkunde hingewiesen habe.
Verwertbarkeit des Wissens
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Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert
Charakteristik der Jugendkunde in den Zwanzigerjahren
Konsequenzen für die Pädagogik
(DUDEK 1990, S. 281) Charakteristisch war für ihn u. a. der Glaube, dass der Zuwachs an Wissen über Entwicklungsphänomene im selben Maße die Erziehung und Bildung der Jugend verbessere und so zur Qualität der Pädagogik beitrage. Tumlirz ging es folglich um die Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens in der pädagogischen Praxis. Seine Biographie zeigt die Verknüpfung von Schulerfahrung und Forschungspraxis, da Tumlirz zugleich als Lehrer an einem Realgymnasium und an der Universität in Graz tätig war. Zunächst wirkte er als Privatdozent und dann als außerordentlicher Professor für Pädagogik, ab 1930 als ordentlicher Professor für Pädagogik und Leiter des pädagogischen Seminars. Seine wissenschaftlichen Qualifikationen erwarb er sich durch die jugendkundliche Forschung. 1920 veröffentlichte Tumlirz eine zweibändige „Einführung in die Jugendkunde“ (1920/21) und einige Jahre später seine Monographie über „Die Reifejahre“ (1924/27). Insbesondere in dieser Studie beschäftigte er sich mit einer zentralen Frage der Jugendkunde: Mit den prinzipiellen Möglichkeiten von Erziehung und Bildung der Jugend. In der Beachtung von und den Bedingungen für die Bildsamkeit der Jugend sah er eine übergreifende Aufgabe von Wissenschaft und Praxis. Unter anderem vor diesem Hintergrund schuf er Anfang der Dreißigerjahre ein Publikationsorgan, die „Vierteljahresschrift/Zeitschrift für Jugendkunde“ und verfolgte die Idee einer international vergleichenden Jugendkunde. Die Zeitschrift wurde von 1931 bis 1935 von Otto Tumlirz herausgegeben. (Vgl. auch V. BüHLER 1988) Was charakterisierte die Jugendkunde von Otto Tumlirz in den Zwanzigerjahren? Vor allem wollte er naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Perspektiven in der Jugendkunde verknüpfen, weil er sich davon eine bessere pädagogische Wirksamkeit versprach. Aus diesem Grund machte er die Entwicklungspsychologie und die geisteswissenschaftliche Bildungstheorie zu den beiden wesentlichen Säulen seiner Jugendkunde. Die Entwicklung des Jugendlichen hatte laut Tumlirz drei Antriebe: erstens die Anlage (Erbbildung), zweitens die Umwelt (Fremdbildung) und drittens die Selbstbildung der jungen Menschen. Diese drei Antriebe und ihr Zusammenwirken sollte die Jugendkunde systematisch erforschen. Angesichts der ihr zugeschriebenen Erkenntnismöglichkeiten erklärte er die Jugendkunde zur „unentbehrlichen Grundlage jeder Bildungslehre“. (TUMLIRZ 1925, S. 108) Vor dem Hintergrund seiner Gewichtung der Jugendkunde beklagte Tumlirz noch Mitte der Zwanzigerjahre ihre Missachtung durch Lehrkräfte an den Schulen einerseits und durch die geisteswissenschaftliche Pädagogik andererseits. Er war stattdessen davon überzeugt, dass die Ergebnisse der Jugendkunde zur Professionalisierung der Lehrerinnen und Lehrer einen erheblichen Beitrag leisten könne. Außerdem hielt er es für wichtig, dass die philosophische Orientierung der universitären, geisteswissenschaftlichen Pädagogik durch den naturwissenschaftlichen Zugang der Jugendkunde einen Gegenakzent erhalte. Während die Psychologie die Jugendkunde „außerordentlich überschätzt“, würden die „Ergebnisse und Aufgaben jugendkundlicher Forschung von praktischen Pädagogen, die sich auf die ,Intuition verlassen, und von manchen Theoretikern, welche die Pädagogik rein philosophisch auffassen wollen, gewaltig unterschätzt.“ (Ebd.) ,
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Pädagogische Jugendkunde
An der Person Otto Tumlirz’ lassen sich die politische Entwicklung und die Verstrickung von Personen vor und während des Nationalsozialismus rekonstruieren. Bei öffentlichen Personen aus Forschung, Politik oder Kultur in Deutschland und Österreich stellt sich die Frage nach der Entwicklung ihrer Biographie ab 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland beziehungsweise 1938, dem Jahr der Annexion Österreichs durch die Nationalsozialisten. Insbesondere die Beherrschung der Jugend und deren totale Vereinnahmung war das Ziel der Nationalsozialisten und so liegt die Frage nahe, welche Rolle dabei Jugendkunde und Jugendforschung sowie die darin tätigen Personen eingenommen haben. Tumlirz’ Schriften aus den Zwanzigerjahren zeigten bereits Ansätze eines völkischen und antisemitischen Ressentiments und passten offenbar weitgehend in die nationalsozialistische Jugendideologie, so dass er beruflich keine negativen Konsequenzen zu tragen hatte wie beispielsweise William Stern oder Martha Muchow, denen 1933 ein Berufsverbot erteilt wurde (5.1). Tumlirz’ Schrift „Abriß der Jugend- und Charakterkunde“ von 1940 zeigte schließlich deutlich völkisch rassistisches Gedankengut. Zu bemerken ist, dass das Buch bereits 1951 in der vierten, aber neu bearbeiteten Auflage erschien. Tumlirz integrierte die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen und die Gestaltung des Jugendlebens durch die Hitlerjugend in seine Analyse. In mehreren Kapiteln zentrierte er seine Argumentation um die nationalsozialistische Jugendpolitik. Ein Beispiel soll dafür genügen und auf eine zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage verweisen. Diese bezog sich darauf, dass die einseitige Orientierung an der pädagogisch funktionalen Verwertbarkeit des Wissens die Jugendkunde an die nationalsozialistische Ideologie anpassungsfähig machte. Das Kapitel über die Formung der Erbanlagen beschließt Tumlirz mit einem Vergleich der Vorkriegs- und Nachkriegsjugend mit der Jugend im Nationalsozialismus, der „politischen Jugend“: „Die Wesenszüge der politischen Jugend, die der Nationalsozialismus herausgearbeitet hat, sind gesunder, vor allem nordischer und dinarischer Jugend eigen, doch waren sie durch die frühere Kulturlage und den Verlust des Vorbildes des nordischen Leistungsmenschen verschüttet. Der Reifende hat das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Führertum, er ist begeisterungsfähig für große Persönlichkeiten, er ist wagemutig und kampflustig, er hat eine Freude an starken körperlichen Leistungen, an heldischen Formen und Sinnbildern. Wie wenig haben doch die expressionistischen Pädagogen um 1930 diese neue politische Jugend verstanden!“ (TUMLIRZ 31943, S. 88)
Zur Geschichte und Entwicklung der deutschsprachigen Jugendforschung gehört die Frage nach ihrer Rolle im Nationalsozialismus, nach der von Jugendforschern vorgenommenen Bewertung der Rassenideologie oder der Hitlerjugend und nach ihrem Werdegang 1933 und nach 1945. Otto Tumlirz ging 1945 weitgehend unbehelligt in den Ruhestand und veröffentlichte weiterhin seine Schriften zur Jugendkunde.
Politisierung der Jugendkunde
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Pädagogische Jugendkunde im 20. Jahrhundert
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 4 gelesen haben: – Sie sollten wissen, welche Vorstellungen sich hinter unterschiedlichen Jugendbezeichnungen (z. B. Jüngling, Jugendlicher) verbargen. – Sie sollten wissen, dass und wie die Jugendkunde von der experimentellen Psychologie und Pädagogik beeinflusst war. – Sie sollten Ernst Meumann einordnen können. – Sie sollten wissen, welche Rolle didaktisch pädagogische Vorstellungen in der Jugendkunde spielten. – Sie sollten wissen, warum die Jugendkunde davon ausging, einen Beitrag zur Professionalisierung von Lehrkräften zu leisten. – Sie sollten den historischen und wissenschaftlichen Kontext von Otto Tumlirz darlegen und problematisieren können.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 4: DUDEK, PETER (1990): Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890 – 1933. Opladen. Die umfassende Studie gibt einen differenzierten Einblick in die Anfänge der deutschsprachigen Jugendforschung und deren unterschiedliche Richtungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Dudeks Ausgangspunkt ist die Frage, wie und in welcher Form Jugend zum Objekt der Wissenschaften wurde, welche Institutionen und Personen beteiligt waren, welche Theorien und Methoden eine Rolle spielten. BüHLER, JOHANNES-CHRISTOPH VON (1990): Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Weinheim. In der Studie unterscheidet v. Bühler die Selbstund Fremdthematisierung von Jugend. Ihm gelingt so eine überzeugende und klare Darstellung, wie man sich die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters vorstellen muss. Man erhält Informationen darüber, wer zu einer spezifischen Sicht auf Jugend beiträgt und wie dies geschieht. Auch konzentriert er sich maßgeblich auf deutschsprachige Literatur. FEND, HELMUT (2000): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe. Opladen. Helmut Fend ist wie nur wenige in psychologischer, soziologischer, historischer und erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung ausgewiesen. Dies charakterisiert auch den inhaltlichen Reichtum seines Lehrbuchs über die Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Darin widmet Fend sich auch der Geschichte der Jugendforschung. Das Buch kann eine Reihe von Fragen zum Forschungs- und Praxisfeld Jugend beantworten.
C. Deutschsprachige Jugendtheorien 5 Die Entwicklung jugendtheoretischen Wissens Die Entwicklung der deutschsprachigen Jugendforschung hängt eng mit wissenschaftlichen Instituten in- und außerhalb der Universitäten sowie mit häufig interdisziplinär orientierten Forscherinnen und Forschern in Deutschland und Österreich zusammen. Sie bilden den Ausgangspunkt dieses Kapitels über einflussreiche Jugendtheorien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Im ersten Abschnitt werden zwei der führenden Jugendforschungsinstitute in Hamburg und Wien kurz vorgestellt, um einen wichtigen institutionellen Rahmen der Forschung zu skizzieren (5.1). Im Anschluss daran sollen drei Typen jugendtheoretischer Konstruktionen dargestellt werden. Erstens die jugendkulturell und psychoanalytisch angelegte Jugendtheorie von Siegfried Bernfeld (5.2), zweitens die sozialwissenschaftliche Jugendtheorie von Charlotte Bühler (5.3), die dem Wiener Institut für Jugendforschung maßgeblich seine Prägung gab und drittens die Jugendtheorie Eduard Sprangers aus dem Umfeld der geisteswissenschaftlichen Pädagogik (5.4). Bei der Präsentation und Diskussion der Jugendtheorien geht es auch um die Frage nach ihrer Bedeutung für erziehungswissenschaftliches Denken bzw. für den pädagogisch inspirierten Blick auf Jugendliche. Im Vergleich zu den Jugendtheorien von Bühler und Spranger ist die Darstellung von und die Auseinandersetzung mit Siegfried Bernfeld umfangreicher, was u. a. mit der jugendtheoretischen Anschlussfähigkeit Bernfelds an aktuelle Diskussionen zusammenhängt. Hier soll der Blick auf einen Jugendforscher und -theoretiker freigelegt werden, der bereits mit seinen ersten Arbeiten aus dem Kontext der Jugendkulturbewegung eine jugendtheoretische Kontinuität zu begründen vermochte, ohne auf eine sichere institutionelle und berufliche Bindung zurückgreifen zu können. Schon 1915 entstand Bernfelds Dissertation „Über den Begriff der Jugend“, in der er den internationalen Stand der Forschung analysierte, deren Erträge und Grenzen aufzuzeigen vermochte und – anknüpfend an die Psychoanalyse – innovative Systematisierungen vornahm. Im Unterschied zu Bühler und Spranger integrierte Siegfried Bernfeld konsequent die soziologische Perspektive und forderte ein Zusammenwirken von Jugendpsychologie und Jugendsoziologie. Er hoffte, mit der Jugendforschung auf wissenschaftlicher Basis eine Veränderung des Erziehungswesens bewirken zu können. Neben der deutlichen Abgrenzung zur Jugendkunde hatte Bernfeld sich auch intensiv mit anderen Jugendtheorien und der Jugendforschung seiner Zeit befasst und diese kritisch gewürdigt. Seine Kritikpunkte an Bühler, Spranger und Hall werden in diesem Kapitel dargelegt, um einen Eindruck von der Pluralität jugendtheoretischer Ansätze zu vermitteln. Bernfelds, Bühlers und Sprangers Jugendtheorien werden unter folgenden Aspekten diskutiert: Was wird als charakteristisch für die Jugendphase ange-
Zur Auswahl jugendtheoretischer Ansätze
Siegfried Bernfeld im Vergleich
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
sehen im Vergleich zur Kindheit? Welche Idee von Entwicklung liegt der theoretischen Konzeption zugrunde? Welche Vorstellungen über Erziehung sind mit der theoretischen Erklärung der Jugendphase verbunden? Wie wird zwischen Pubertät und Adoleszenz unterschieden? Welche inneren Vorgänge dominieren den jugendlichen Menschen?
5.1 Zur Institutionalisierung der Jugendforschung 5.1.1 Zwischen universitärer und außeruniversitärer Anbindung Entstehungsmilieus
Die Jugendforschung reagierte auf die gesellschaftliche, politische und kulturelle Thematisierung von Jugend. Parallel dazu bewegte sie sich aber auch in einer engen Verzahnung mit der universitären Disziplingeschichte der Pädagogik und der Psychologie. (DUDEK 1990) Krüger und Grunert (2002) heben hervor, dass es in den Zwanzigerjahren im deutschsprachigen Raum bereits 26 Forschungsinstitute gab. Insbesondere die pädagogische Jugendkunde wurde hier zu einem Aktionsfeld disziplinärer Auseinandersetzungen und thematischer und methodologischer Überschneidungen zwischen Pädagogik und Psychologie (s. a. HORN 2003). Um 1900 mussten sich Pädagogik und Psychologie in der Wissenschaftslandschaft gegenüber der Philosophie einerseits und den Naturwissenschaften andererseits behaupten. Noch bevor man über einen theoriegeleiteten Jugendbegriff verfügte, begann die Institutionalisierung der Jugendforschung, die sich zunächst weiterhin auf die Entwicklung von Kleinkindern ebenso konzentrierte wie auf die von Schulkindern. An der Erforschung des Schulalters waren vor allem die Lehrerverbände und -vereine interessiert. Hier erfolgt eine Zusammenführung reformpädagogischer Ideen mit der Jugendforschung. Dudek kommt diesbezüglich zu dem Ergebnis: „Untersucht man die verschiedenen Entstehungsmilieus der Jugendkunde auf ihre Leistungen zur Institutionalisierung einer wissenschaftlich ambitionierten Kinderund Jugendforschung hin, so ist es zweifelsohne die Lehrerbewegung, die im voruniversitären Bereich und im Kontext von Psychologie und Pädagogik deren soziale Institutionalisierung betreibt.“ (DUDEK 1990, S. 90)
Einfluss außeruniversitärer Diskurse
Dabei handelte es sich um eine typische Entwicklung in Deutschland, die dazu führte, dass zunächst vor allem die Lehrerbildung und nicht die universitäre Pädagogik und Psychologie die Jugendforschung bzw. das, was sie darunter verstand, forcierte. Durch die Gründung von außeruniversitären Instituten, die Herausgabe von Zeitschriften und Jahrbüchern oder die Organisation in Vereinen entstand lange vor der universitären Etablierung ein Diskurs über Erziehung und Entwicklung. Der im Umfeld der Lehrerschaft dominierende Zugang hatte vornehmlich eine berufsbezogene Unterrichts- und Lernforschung vor Augen. Die daran angelehnten Institute sahen neben der Forschung auch die Lehrerweiterbildung als ihre Aufgabe an. Darauf zielte beispielsweise auch Otto Tumlirz und betonte, dass die psychologische Forschung nicht Sache des einzelnen Lehrers sein könne, sondern diese bereits vor dem eigentlichen
Institutionalisierung der Jugendforschung
Unterrichtsgeschehen als Wissen zur Verfügung stehen und den Lehrern handhabbar angeboten werden müsse. „Nehmen wir nun an, wir hätten bereits Lehrpläne und Vorschriften, welche mit den jugendpsychologischen Tatsachen in Übereinstimmung gebracht sind, in denen nicht auf Schritt und Tritt die Entwicklungstatsachen vergewaltigt würden, der Schüler nicht als eine lebensfremde Konstruktion, als ein Homunkulus erscheint, der sich stetig und gleichmäßig und gradlinig, ohne Sprünge und Rückfälle, ohne Kämpfe und Stürme, Krisen und Verwandlungen entwickelt, gesetzt also, die Lehrpläne würden die Schüler als wirkliche, sich entfaltende, bestimmten Entwicklungsgesetzen unterworfene Lebewesen betrachten, welche Dienste würde die Jugendpsychologie dem Lehrer bei seiner Unterrichtstätigkeit leisten?“ (TUMLIRZ 1925, S. 120)
Tumlirz bezog sich in den Zwanzigerjahren auf William Stern. Dieser hatte schon vor der institutionellen Hochphase der Jugendforschungsinstitute darauf hingewiesen, dass die Jugend kein Luxusgegenstand der Forschung sein dürfe. Vielmehr müsse man allen in der Jugendbildung Tätigen ein brauchbares Wissen zur Verfügung stellen.
5.1.2 Das Hamburger Institut unter William Stern Während des Ersten Weltkrieges publizierte William Stern, der kurz zuvor auf den Lehrstuhl des verstorbenen Meumann in Hamburg berufen worden war, einen programmatischen Artikel mit dem Titel „Jugendkunde als Kulturforderung“ (1916). Kern dieser „Kulturforderung“ war die Begabungsforschung einerseits und die Berufsberatung andererseits. Beides resultierte für Stern aus den Überlegungen, wie die Bedingungen des Aufwachsens nach dem Krieg gestaltet werden sollten und welche Möglichkeiten zu einer „Nationalerziehung“ vorlagen. (DUDEK 1990) Während des Ersten Weltkrieges war es nicht selten, dass Jugendforschung mit nationalistischem Gedankengut verbunden war. Bei Stern trat diese Mischung ab 1918 jedoch in den Hintergrund. Die Neugründung der Universität Hamburg nach dem Ersten Weltkrieg brachte auch einen Ausbau der Pädagogik und Lehrerbildung mit sich. (MOSER 1991) Stern etablierte das „psychologische Laboratorium“ – es wurde 1930 offiziell in „Psychologisches Institut“ umbenannt –, das sich neben der Forschung maßgeblich der Lehrerausbildung verpflichtet fühlte. Zu den Forschungsbereichen zählten die allgemeine Psychologie, die Wirtschaftspsychologie, die sich u. a. mit Eignungsprüfungen befasste und die pädagogische Psychologie und Jugendkunde, hinzu kamen ab Mitte der Zwanzigerjahre und in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Positionen in der Jugendforschung Fragen der Sexualität und Erotik, Tagebuchforschungen, sowie die Untersuchung von Krisen in der Jugendphase. Außerdem fanden Themen aus dem Bereich der Jugendfürsorge, wie das Sozialverhalten männlicher Fürsorgezöglinge, das Aufwachsen in sozial schwachen Familien oder die Probleme unehelicher Kinder einen zunehmend größeren Raum. Das Institut etablierte sich unter Stern und einer großen Zahl interessanter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem der führenden Institute der Jugendforschung. Diese forschungsintensiven und -produktiven Jahre während der
Forschungsthemen am Hamburger Institut
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
Martha Muchows Lebensraumstudie
Weimarer Republik kamen zu einem abrupten Ende, als Stern und seine wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten entlassen wurden und der nationalsozialistische Pädagoge Gustav Deuchler die Leitung übernahm. William Stern ging in die USA, seine Mitarbeiterin Martha Muchow, die zwangsweise in den Schuldienst versetzt wurde, beging nach Auflösung dieses Instituts Selbstmord. (LüCK 1990; ZINNECKER 1978/1998) Martha Muchow ist ein Beispiel für die rege Forschungstätigkeit an Sterns Institut. Sie hatte interessante neue Perspektiven auf Kinder und Jugendliche eingebracht. 1935 erschien postum ihre bis heute lesenswerte und aufschlussreiche Studie über den „Lebensraum des Großstadtkindes“ (1935/ 1998), in der sie sich systematisch mit der großstädtischen Straßensozialisation von Kindern und Jugendlichen befasste. Muchow inspiriert damit bis heute Untersuchungen über die Bedeutung des sozialen Raumes im Prozess des Aufwachsens und die Aneignung von öffentlichen Räumen durch Jugendliche sowie weitere umweltpsychologische Zugänge. Über die Jugendforschung eröffnete Muchow einen Blick für die Bedeutung von Urbanität im Prozess des Aufwachsens. Dabei schloss sie sich jedoch nicht der in dieser Zeit sehr populären Kritik an den deformierenden Wirkungen des Großstadtlebens an. In der Tradition der Jugendkunde und des Instituts verfolgte auch Muchow die Intention, mit dem erzeugten Wissen zur pädagogischen Handlungsfähigkeit beizutragen. Ihre Ergebnisse sollten deshalb auch eine behutsame „pädagogische Auswertung“ erfahren. (MUCHOW 1935/1998, S. 72) Mit weiteren neuen Forschungsperspektiven und einer pädagogischen Einschätzung schloss Muchow ihre Studie: „Aber schon heute vermag der Lehrer, Erzieher und Fürsorger an Hand unseres Versuches – so wagen wir zu hoffen – einige Blicke in dieses Reich zu tun, die ihm dann seinen ,Verkehr mit dem Großstadtkind erleichtern werden.“ (Ebd., S. 150) Eine Weiterführung ihrer Untersuchungen wurde durch die Nationalsozialisten unmöglich gemacht. Erst im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgte, inspiriert durch Forschungen in den USA, eine „Wiederentdeckung“ und neuerliche Auseinandersetzung mit Muchow in der Psychologie, der Erziehungswissenschaft und vor allem der Kindheits- und Jugendforschung. Die Biographien von William Stern und Martha Muchow sind Beispiele für den akademischen und intellektuellen Verlust, den die deutsche Wissenschaft durch den Nationalsozialismus und die bereitwillige Hingabe der deutschen Universitäten an Rassenwahn und Antisemitismus erlitten hat. ,
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5.1.3 Das Wiener Institut unter Karl und Charlotte Bühler Die Entwicklung der zweiten „Hochburg“ der Jugendforschung (DUDEK 1990) in Wien verlief sowohl wissenschaftlich als auch politisch anders als in Hamburg. Die Arbeit am Psychologischen Institut unter Karl und Charlotte Bühler begann erst in den zwanziger Jahren. Karl Bühler hatte sich mit seinem Ruf an die Universität die Möglichkeit verschafft, ein psychologisches Institut einzurichten. Doch auch die Bühlers und einige ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten nach der Annexion Österreichs durch die Na-
Institutionalisierung der Jugendforschung
tionalsozialisten ihre berufliche Tätigkeit in Wien aufgeben. (Karl Bühler wurde 1938 zunächst verhaftet und musste das Land zusammen mit seiner Frau verlassen. Ihrer Selbsteinschätzung nach seien sie, so Charlotte Bühler, unpolitisch gewesen bzw. hätten die Bedeutung des Nationalsozialismus zunächst falsch beurteilt.) Die Wiener Jugendforschung entwickelte sich in einem anregenden intellektuellen Kontext zwischen einer sozialdemokratischen Sozial- und Bildungspolitik, der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und dem anspruchsvollen Wiener Kreis der Philosophie, der mit bis heute wichtigen Namen wie Ludwig Wittgenstein oder Rudolf Carnap verbunden ist. (BYER 1988) Wie in Hamburg ergab sich auch in Wien eine enge Verzahnung der Jugendforschung mit der Lehrerausbildung, und insbesondere das Bühler-Institut übernahm die Funktion, zwischen Universität und pädagogischer Praxis zu vermitteln. So standen ihm viele pädagogische Institutionen für Feldstudien zu Verfügung. Nach wie vor ist für eine anspruchsvolle Jugendforschung ein offener und breiter Zugang zum Feld der Schule und der Jugendarbeit zentral. Wiederum vergleichbar mit Hamburg entstanden am Institut nicht nur kinder- und jugendpsychologische Forschungen, vielmehr ließen sich die Forscherinnen und Forscher auch von anderen Zugängen wie der Experimentalpsychologie und vor allem von sozialen Forschungsfragen inspirieren. Mit Letzteren sind bedeutende Namen der Sozialforschung, die auch Aspekte der Jugendforschung berücksichtigte, wie Paul Lazarsfeld (1931) und Marie Jahoda verbunden. (vgl. ANDRESEN 2002) Charlotte Bühler und nicht ihr Mann hatte letztendlich die wissenschaftlichen, personellen und politischen Geschicke des Instituts in ihrer Hand und zahlreiche, in der Wissenschaft sehr präsente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind daraus hervorgegangen. Die Vielfalt der Personen erzeugte offenbar auch ein breites Spektrum an methodischen Zugängen, so orientierte sich Lazarsfeld an der empirischen Sozialforschung, während Bühler viele Dissertationen betreute, die mit Tagebuchanalysen arbeiteten. Bühlers Kontakten in die USA durch Reisen und Gastprofessuren und vor allem ihren Beziehungen zur Rockefeller-Foundation war es zu verdanken, dass sie eine große Anzahl von Personen einstellen konnte. Hinzu kamen auch zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; fast alle aus der pädagogischen Praxis. Dudek rekonstruierte, dass das Wiener Institut thematisch nahezu das gesamte Spektrum der Jugendforschung abzudecken vermochte. Kaum ein Thema, dem man sich dort nicht annahm, von Jugend und Sexualität, über Jugend und Kunst, Jugend und Geschlecht oder Jugend und Zukunftsvorstellungen. Eine Liste, die auch heute in der Jugendforschung thematisch durchaus anschlussfähig wäre.
Verbindung zur pädagogischen Praxis
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
5.2 Jugendkultur und Jugendtheorie bei Siegfried Bernfeld 5.2.1 Bernfeld als engagierter Vertreter der Jugend Der Außenseiter
Engagement für Schulreformen
Peter Dudek (1990; 2002) erklärt in seiner Studie Siegfried Bernfeld – wegen seines Kontextes von Jugendkulturbewegung, Marxismus, Judentum und Psychoanalyse – zum Außenseiter der sich etablierenden universitären Jugendforschung. Vor allem an Bernfeld und der Rezeption seiner Schriften kann man einen Teil der Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik und Psychologie rekonstruieren. Im Nationalsozialismus waren seine Ansätze verboten und auch nach dem zweiten Weltkrieg dauerte es lange, bis man sich darauf besann. Im Zuge der einsetzenden Liberalisierung und der Suche nach alternativen Theorien zur geisteswissenschaftlichen und positivistischen Theorie entdeckte man Bernfeld neu und legte seine Schriften wieder auf. Dabei unterlief den Rezipienten der Fehler, in ihm einen Vertreter der Antipädagogik zu sehen. Bereits im Umfeld der bürgerlichen Jugendbewegung, zu der er im Grunde gehörte, wirkte der junge Bernfeld aus Wien suspekt, weil er zu Volkstum und Nationalismus auf Distanz ging und stattdessen ausschließlich etwas über die Jugend an sich erfahren wollte. In Wien hatte er die Zeitschrift der Jugendkulturbewegung „Der Anfang“ mitgegründet (ANDRESEN 1997), er hatte Schülerhilfegruppen ins Leben gerufen und war am „Akademischen Comité für Schulreform“ (ACS) beteiligt. Für das ACS formulierte Bernfeld drei Arbeitsgebiete, nämlich erstens wissenschaftliche Fundierung von Begriff, Aufgaben und Technik der Jugendkultur, zweitens Verbreitung von Begriff und Gesinnung unter den Studierenden und drittens Einrichtung von jugendkulturellen Veranstaltungen für die Schülerschaft. (BERNFELD 1913) Hier sieht man deutlich, dass es Bernfeld um die Errichtung eines Netzwerkes zwischen pädagogischen Institutionen und den verschiedenen Jugendaltern, also Schülern und Studierenden, ging. Auf das vom ACS eingerichtete Archiv für Jugendkultur reagierte auch die etablierte Jugendforschung durchaus positiv, sah darin aber primär ein pädagogisches Feld der Jugend. In einem Zeitschriftenbeitrag heißt es dazu: „Mit der Gründung des Archivs für Jugendkultur treten die noch jungen pädagogischen Gruppen unter den Studierenden in erfreulicher Weise hervor. Gelingt ihnen ihr Unternehmen, so wird der wissenschaftlichen Forschung ein wertvolles Arbeitsmittel an die Hand gegeben. Jedenfalls verdient die Ausführung des Planes durch reichliche Zuwendung tätige Unterstützung.“ (In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik. 14. Jg. 1913, S. 637f.)
Jugendliche Gegenöffentlichkeit
Wenn Bernfeld forderte, man müsse mehr über die Jugend in Erfahrung bringen, so zielte er damit auf eine bewusste und durch Jugendliche selbst initiierte Dokumentation des Jugendlebens. (ROSENMAYR 1962; 1976) Bernfeld war in jungen Jahren von dem charismatischen Pädagogen Gustav Wyneken beeinflusst worden. Der erwachsene Pädagoge und der junge Student bemühten sich gemeinsam, durch Diskussionsrunden und Zeitschriften eine jugendliche „Gegenöffentlichkeit“ herzustellen. Insofern weist die im Kapitel über Spranger formulierte Kritik, die Bernfeld an dem geisteswissen-
Jugendkultur und -theorie
schaftlichen Pädagogen und an Charlotte Bühler (1927) übt, auf die frühe Auseinandersetzung des Schülers und Studenten Bernfeld mit den etablierten Pädagogen und Psychologen zurück. Bernfeld trat stets als aufmerksamer Vertreter der Jugendinteressen hervor und forderte von der Jugend, sich Gehör zu verschaffen, um eigene Rechte gegenüber den Eltern und der Schule zu erkämpfen und die eigenen kulturellen Werke wertzuschätzen und zu sammeln. Dabei entfaltete er ein idealistisches Bild vom jungen Menschen, seiner Kritikfähigkeit, seinen Idealen und seinen inneren und äußeren Kräften. Diese Idealisierung resultiert vermutlich aus seiner eigenen Nähe zur Jugendkulturbewegung: „Der junge Mensch bejaht den Menschen und die wahrhaft menschliche Gemeinschaft, die den Staat einmal überflüssig machen soll, und sein Geist ist darauf gerichtet, Mittel und Wege zu finden, um diese Gemeinschaft zu verwirklichen.“ (BERNFELD 1914/1994, S. 77 f.)
Sein politisches Streben nach Humanisierung resultiert bei Bernfeld aus den Zweifeln der Jugend an überkommenen Werten. Das heißt, Bernfeld geht wie viele seiner Zeitgenossen selbstverständlich davon aus, dass die Jugendphase eine Zeit der Abgrenzung von Familie, Schule, Staat und Tradition sei. In diesem Sinne müsse Jugend sich stets neue Ziele setzen und neue Zwecke erfüllen. Aus dieser Überlegung leitet Bernfeld einen jugendpolitischen Anspruch ab: Die prinzipielle Anerkennung der Jugend als einer eigenen und unvergleichbaren Lebensform. Die Gesellschaft habe die Pflicht, Menschen ihr Recht auf Jugend zuzugestehen und jugendliche Lebensformen zu ermöglichen:
Notwendigkeit der Kritik durch Jugend
„Alle Menschen haben das Recht auf Jugend, vornehmlich aber die, die ihrer seelisch-leiblichen Verfassung nach – es sind meist die um 20 herum – noch nicht eingespannt sind in den mechanischen Gang des alltäglichen Geschehens, in das geschäftige Getriebe des Verdienens; vornehmlich die, die noch gleichsam außerhalb der Linie des Fortschritts stehen, die noch gleichsam mit dem Leben „spielen“ – das Wort Spiel in seinem metaphysischen Sinn verstanden -; die noch leiblich in Spannkraft sind, die noch überschüssige Kräfte, die noch Feuer und Wollust und Übermut besitzen; die noch springen und singen und tanzen können; die noch so viel Freude haben, einmal gründlich töricht zu sein.“ (Ebd., S. 78)
Eine systematische Analyse insbesondere der frühen Schriften von Bernfeld ergibt, dass er für ein Moratorium der Jugend plädiert, das aber nicht primär durch ein pädagogisches Arrangement, sondern durch die Möglichkeit zur Eigengestaltung geprägt sein sollte. Die Gesellschaft müsse dafür Sorge tragen, dass die Jugend nicht zu fremden Zwecken des „Fortschrittlebens“ vergewaltigt werde. In diesem Zusammenhang greift er den für das moderne pädagogische Denken so wichtigen Begriff der Autonomie auf und definiert ihn als erstrebenswerten Zustand der Selbstgesetzgebung, freien Bindung und Aufgabenstellung. Solche Ideen von Selbstbestimmung oder Autonomie, von Freiheit und Kritik an Autorität zu äußern, war im repressiven und autoritären deutschen und österreichischen Kaiserreich keineswegs selbstverständlich. Die Gruppe um Gustav Wyneken und Bernfeld hatte deshalb auch stets mit Verboten zu rechnen. Während des Ersten Weltkrieges beschäftigte
Jugendliche Freiheit und Selbstbestimmung
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
Bernfelds reformpädagogischer Versuch mit jüdischen Waisenkindern
Bernfeld sich neben der Jugendforschung vor allem mit der Situation der europäischen Juden und mit dem Zionismus (s. a. BERNFELD 1921/1966). Nach dem Ersten Weltkrieg gründete Bernfeld das „Kinderheim Baumgarten“ und übernahm dessen Leitung. Das Heim nahm jüdische Waisen aus Osteuropa auf und Bernfeld wollte diese Kinder und Jugendlichen durch eine neue Erziehung auf die Ausreise und ihr späteres Leben in Palästina vorbereiten. In seinem Bericht über das „Kinderheim Baumgarten“ (1921/1996) schildert er praktische Erfahrungen und seine daran anschließenden theoretischen Reflexionen. Man kann anhand dieses Projektberichts auch die Weiterentwicklung seiner Vorstellungen zur Jugendforschung von der Dissertation 1915 bis in die Zwanzigerjahre hinein verfolgen. Darüber hinaus ist dieser Bericht ein eindrucksvolles Dokument über das Scheitern einer Erziehungsreform. Bernfeld wurde 1920 als Leiter des Heims entlassen und gründete daraufhin das „Jüdische Institut für Jugendforschung und Erziehung“. Dafür griff er frühere Gedanken und Perspektiven auf und arbeitete sie aus. Das Institut sollte auch dem Aufbau des jüdischen Erziehungswesens in Palästina dienen, dazu gehörten die Vermittlung der Forschungsmethoden der amerikanischeuropäischen Pädagogik und Psychologie sowie die Einführung in die sozialistische Gesinnung. Damit einher ging in den Zwanzigerjahren Bernfelds zunehmende Orientierung an der Psychoanalyse; so wurde er beispielsweise nach Absprache mit Sigmund Freud auch als Laienanalytiker tätig und nahm fortan eine zentrale Position in der psychoanalytischen Pädagogik und Jugendforschung ein.
5.2.2 Bernfelds theoretisch fundiertes Jugendkonzept Im Folgenden sollen Bernfelds Begriff von Jugend und seine theoretische Konzeptionalisierung dargestellt werden. Sein erster systematischer Theorieversuch war die Doktorarbeit über den „Begriff der Jugend“. (1915/1991) Er selbst verstand seine Dissertation als ersten und noch unvollständigen Schritt, sich dem Begriff wissenschaftlich zu nähern. Er verfolgte aber bereits hier das Ziel einer interdisziplinären und grundlagentheoretischen Arbeit, um der in seinen Augen theoretisch unzureichenden zeitgenössischen Jugendkunde etwas entgegenzusetzen. Mit der Jugendkunde gemeinsam hatte er, dass auch er das Wissen über den physischen und psychischen Organismus der Jugend für die Grundlage jeder Pädagogik hielt. Allerdings schränkte er dieses Wissen nicht auf den psychologischen Bereich ein, sondern forderte, die Jugend sowohl psychologisch als auch soziologisch zu verstehen. Bernfeld grenzte den theoretischen und wissenschaftlich fundierten Begriff von Jugend von einem „naiven“ Begriff ab. Er argumentierte, dass Jugendliche selbst und die meisten Erwachsenen einen naiven und verkürzten Begriff von Jugend als Phase ohne eigenen Wert und als Durchgangsstadium zum Erwachsenenalter hätten. Was verstand Bernfeld darunter? Bei einem naiven Begriff gehe man davon aus, dass die Bezeichnung Jugend prinzipiell etwas Defizitäres benenne. Man betrachte die Jugend als einen defekten Zustand, als eine Zeit geringerer physischer, geistiger und sittlicher Kompetenz und Fähigkeit. Die naiven Erklärungen beziehen sich, so
Jugendkultur und -theorie
Bernfeld, auf das Phänomen des Wachstums sowie auf die technokratische Vorstellung der Unverbrauchtheit. „Aus dieser Meinung über die Jugend folgt die vulgäre Bewertung dieses Zustandes als eines quantitativ unvollkommenen, dem gegenüber die einzig richtige Haltung ist zu helfen, dass er ein quantitativ vollkommenerer werde.“ (BERNFELD 1915/1991, S. 49) Wissenschaften müssten deshalb einen Beitrag zur Überwindung des naiven Begriffs leisten. Bernfeld führte in die Jugendforschung die bis heute wichtige Unterscheidung zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen und ihrer jeweiligen öffentlichen Bedeutung und Verwendung ein. Bernfeld lehnte für sich eine Begriffsbildung anhand äußerer Bedingungen wie Gesetze und ordnende Institutionen der Pädagogik ab, weil diese lediglich eine formale Bestimmung und keine wissenschaftliche Klärung liefern würde. Hinzu käme der Einfluss der naiven Anschauung auf Normen, Gesetzgebungen und die pädagogischen Institutionen seiner Zeit. Für besonders gravierend hielt Bernfeld demnach, dass die naive Auffassung stillschweigend die allgemeine Praxis im Erziehungswesen anleitet. Angesichts seiner jugendkulturtheoretischen und politischen Schriften wird klar, warum er dem naiven Blick eine gut begründete und ausdifferenzierte wissenschaftliche Sicht entgegenstellen will. Die mannigfaltige und teilweise widersprüchliche Verwendung des Begriffs Jugend findet jeweils dort eine Einschränkung, so Bernfeld, wo Jugend das Objekt bestimmter Maßnahmen – beispielsweise juristischer, medizinischer oder eben pädagogischer Art – geworden ist. Zu solchen Maßnahmen zählen Festsetzung der Straffähigkeit, Volljährigkeit oder die Grenze der Schulpflicht. Bernfeld arbeitet heraus, dass eine Abgrenzung nach unten, zur Kindheit hin, relativ übergreifend vorgenommen werden kann, wohingegen die nach oben große Schwierigkeiten mit sich bringt. Unter einem Erwachsenen verstehe u. U. die Rechtswissenschaft etwas anderes als die Medizin und diese wiederum etwas anderes als Pädagogik und Psychologie. Bernfeld selbst favorisierte eine altersmäßige Einschränkung der Jugendphase auf die Zeit zwischen 14 und 21 Jahren. Angesichts der Pluralität von Vorstellungen verlangte Bernfeld insbesondere von der Psychologie fundierte Erkenntnisse über den Übergang in die Erwachsenenphase. Auch an die Pädagogik stellte er spezifische Ansprüche: „Soweit die Jugend in diesem Sinne nicht tätig im Erwerbsleben steht, ist sie in unserer heutigen Ordnung Objekt der Pädagogik. Wir dürfen daher erwarten, in der Pädagogik in höherem Maße als in der Rechtswissenschaft usw. eine genauer unterscheidende Begriffsbestimmung von Jugend zu finden.“ (BERNFELD 1915/1991, S. 48) Für Bernfelds theoretische Konzeption war das Wissen über das jugendliche Selbstverständnis wichtig. Ihn interessierte eine genaue Analyse jugendlicher Vorstellungen über die Jugendphase, weshalb er literarische, kulturelle oder politische Selbstzeugnisse zu sammeln begann. An diesen arbeitete er heraus, dass die Jugend sich selbst gegenüber dem Alter vor allem eine Begeisterung für Ideen, sei es in der Kunst, der Literatur, der Religion oder Politik und eine Bereitschaft, sich diesen vollkommen hinzugeben, attestierte. Besonders in einigen Kreisen der „Mittelschichtsjugend“ habe sich jedoch ein naiver Begriff etabliert. Hier hatte Bernfeld vermutlich die bürgerliche Jugendbewegung vor Augen, weil diese die Jugend zwar idealisierte, aber keine kon-
Abgrenzung
Jugendliches Selbstverständnis
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
sequente Abgrenzung vom Erwachsenen erlaubte. Bernfeld plädierte schließlich dafür, dass nur die Wissenschaft eine Richterfunktion zwischen den unterschiedlichen affektiv entstandenen Auffassungen einnehmen könne.
5.2.3 Bernfelds Kritik an Jugendtheorien Konstruktive Skepsis
Es wurde bereits deutlich, dass Bernfeld ein sehr kritischer Theoretiker war. Somit verwundert es nicht, dass er das zur Verfügung stehende Wissen seiner Zeit über Jugend und die daran gebundenen Theorien einer Prüfung unterzog. In seinen Augen hatte es bis 1915 nur zwei Versuche psychologischer Studien über Jugend gegeben, in denen auch das Bemühen um einen Zusammenhang zu allem, was man insbesondere aus der pädagogischen Praxis kennt, sichtbar war: Die zweibändige Studie von Hall über Adoleszenz und die Studie von Meumann über Experimentelle Pädagogik. Bernfeld urteilt darüber folgendermaßen: „Aus diesen beiden Werken können wir einen geschlossenen Überblick gewinnen über die bisherigen Versuche, einen wissenschaftlichen Begriff von der seelischen Eigenart (der Jugend) zu fassen.“ (Ebd., S. 77)
Kritik an Meumann
Kritik an G. Stanley Hall
Methodenkritik
Er zollt beiden Arbeiten als „außerordentliche Geistesleistung“ (Ebd., S. 111) großen Respekt und bemüht sich um eine konstruktive und für die Sache Jugendforschung weiterführende Kritik. Was kritisiert er an seinen Vorgängern? An Meumann arbeitet er das selektive Vorgehen der Psychologie heraus, weil diese sich vornehmlich der Schulzeit widme und kaum mehr als „Gemeinplätze“ über die Pubertät und die daran anschließenden Jahre aussagen könne. Über die Besonderheit des Zustandes Jugend, wie Bernfeld schreibt, wisse Meumann als Repräsentant der deutschen Psychologie nichts zu sagen. Dieses Defizit resultiere aus dem positiv bewerteten Bemühen um die Begründung der Pädagogik als Wissenschaft. Das aber habe zur Folge, dass auch die Jugendforschung stets im Licht des pädagogisch Relevanten betrachtet würde: Es sei zu befürchten, „dass eine Jugendpsychologie, die den Hauptanreiz zur Forschung aus den Bedürfnissen der Pädagogik nimmt, vor allem sich um jene Gebiete einer universalen Jugendkunde bemühen wird, die nur für den Unterricht direkt in Betracht kommen.“ (Ebd., S. 86) Ganz anders fällt Bernfelds Urteil über G. Stanley Hall aus, auf dessen Werk er ausführlich eingeht. Hall habe es verstanden, phänomenologisch den Zustand der Jugend darzulegen und Entwicklungen zu erklären. Einen wichtigen Aspekt hebt er hervor: Im Unterschied zur deutschen Psychologie, die Jugend und Sexualität kaum untersuchen würde, stelle Hall diese ins Zentrum seiner Studie. In diesem Vorgehen sieht Bernfeld Anknüpfungspunkte, die sich auch mit seinen psychoanalytischen Interessen decken. Ihn interessiert wie Hall, wie die jugendliche Sexualentwicklung zum Antrieb für die intensive Auseinandersetzung mit Kunst, Literatur, Natur und Religion wird. Sowohl bei Meumann als auch bei Hall setzt sich Bernfeld mit den Erhebungsmethoden des Experiments und der Befragung auseinander und versucht, deren Grenzen und deren Beschränkung auf bestimmte gesellschaftliche Schichten aufzuzeigen. Er bereitet bereits in dieser frühen Dissertation
Jugendkultur und -theorie
sein methodisches Vorgehen der Text- und Materialsammlung sowie der offenen Interpretation vor. Ihm ging es um die methodisch gesicherte Auswertung von Materialien, die nicht erst durch eine Erhebung entstanden sind. Für Bernfeld bildeten nur solche Quellen authentische jugendliche Subjektivität ab. Sie boten die Chance einer Weiterentwicklung in der Jugendforschung: „Soll die Jugendpsychologie weitere wesentliche, nicht bloß quantitative Fortschritte machen, so muss eine Möglichkeit gefunden werden, in jene Gebiete einzudringen, die nicht nur der experimentellen, sondern auch der Methode der Rundfrage notwendig verschlossen sind. Wir bedürfen eines Antworten-Materials, das nicht durch eine gestellte Frage angeregt, sondern das spontan entstanden ist.“ (Ebd., S. 105)
Das Zitat macht nochmals deutlich, warum Bernfeld ein starkes Interesse an der Sammlung und Archivierung von Material aus dem Jugendleben hatte. Damit hat er der gesamten Jugendforschung im zwanzigsten Jahrhundert wichtige Impulse geben können.
5.2.4 Bernfelds Entwicklungsmodell Während Hall vom biogenetischen Grundgesetz ausgegangen war, grenzte sich Bernfeld trotz seiner positiven Rezeption von diesem Entwicklungsbegriff deutlich ab. (Vgl. 3.3.1) Eine Analogie zwischen physischer und psychischer Entwicklung herzustellen, lehnte Bernfeld insbesondere als Erklärung für den psychischen Zustand in der Pubertät ab. Allenfalls könne man diese Denkfigur im übertragenen Sinne auf die psychischen Vorgänge anwenden. Bernfeld ging ferner davon aus, dass das biogenetische Grundgesetz deshalb aufgekommen sei, um weiterhin an der Vorstellung kontinuierlichen Fortschritts festhalten zu können. Dabei zeige gerade der Prozess des Aufwachsens, mit wie vielen Gefahren und Abwegen Entwicklung verbunden sei. Ebenso kritisch distanzierte er sich von der Vorstellung, die erblich bedingte Anlage sei zentral, weil man dadurch wiederum die Komplexität der Bewusstseinsprozesse in der Jugendphase nicht erklären könne. Bernfeld suchte folglich nach einem allgemeinen Entwicklungsmodell, mit dem sich die Besonderheiten der Jugendphase ursächlich erklären ließen. Dabei ging er sehr vorsichtig mit dem Begriff Entwicklung um und riet vor allem von der Vorstellung eines linearen, kontinuierlichen Prozesses, eines stetigen Fortschritts von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter ab. Das Aufwachsen verläuft in seiner Theorie nicht linear und deshalb fordert er eine Konzentration auf die Erforschung von Übergängen: „Denn weder ist eine Periodizität in der Aufeinanderfolge der einzelnen Stadien von Kindheit, Jugend, Erwachsenheit und späteren Altern vorhanden, noch ist – was uns hier besonders angeht – der Übergang aus der Kindheit in die Jugend und von der Jugend in die Erwachsenheit ein stetiger; vielmehr folgen diese Stadien einander plötzlich, und der Schein einer Stetigkeit rührt daher, dass sich nicht plötzlich, das ist mit einem Mal, alle kindlichen psychischen Phänomene in Jugendliche verwandeln, sondern dass dies nacheinander, für jedes für sich plötzlich, geschieht.“ (Ebd., S. 123)
Bernfeld entfaltet seine Vorstellungen zum Unterschied zwischen Kindheit und Jugend und die damit verbundene Entwicklungsidee am Bild der Treppe,
Kritik am biogenetischen Grundgesetz
Vorsichtige Annäherung an Entwicklung
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deren untere Stufe die Kindheit, die mittlere die Jugend und deren obere das danach folgende Stadium des Erwachsenenalters symbolisiert. Der Stufenabsatz wäre dann die kurze, aber intensive Zeit plötzlicher Veränderungen. Jede Stufe sei zudem in sich wieder eine eigene Treppe und die jeweiligen Übergänge können sehr unterschiedlich sein – um im Bild zu bleiben – es variiert die Steilheit der Absätze.
5.2.5 Die Pubertätstheorie
Bedeutung der Sexualität
Bernfelds großes Verdienst ist es, in seiner Dissertation eine Pubertätstheorie entfaltet zu haben, mit deren Hilfe sowohl psychologische als auch soziologische Analysen möglich sind. Dazu unterschied er zunächst zwischen den Altersphasen und dann zwischen den Formen pubertären Erlebens in ihrer zeitlichen und sozialen Dimension. Eine wichtige Rolle spielen Sexualität, emotionale Verwirrung und das Herkunftsmilieu des Jugendlichen. In Anlehnung an die Psychoanalyse setzte sich Bernfeld mit der Bedeutung der Sexualität für die Jugendphase auseinander. Er kritisierte allerdings die naive Auffassung, dass darin ein wesentlicher Unterschied zwischen Kindern und Jugendlichen begründet liege. Das heißt, er bestritt die populäre Ansicht der Asexualität des Kindes. Der Unterschied liege vornehmlich darin, dass Kinder ihre Sexualität naiv erlebten, während Jugendliche sie bewerteten. Auch gegenüber dem Erwachsenen unterscheidet sich der Jugendliche nicht in einem Zuwachs sexueller Aspekte, sondern allenfalls in der Art der Sexualbetätigung. Das würde dazu führen, dass die Sexualität im Jugendalter einen größeren Raum einnimmt als beim Erwachsenen: „Sie nimmt sozusagen, da ihr das normale erwachsene Endglied fehlt, allerhand Verwandlungen vor, und so – als Kunstbetätigung, als Naturliebe, als Religiosität usw. – beherrscht sie das Bewusstseinsleben, und in dieser Form erfährt sie jene bezeichnete höhere Bewertung.“ (BERNFELD 1915/1991, S. 129)
Pubertätsverläufe in sozialer Abhängigkeit
Der damit verbundene Bewusstseinszustand ist von höchster Unruhe, Inkonsequenz, Gärung und Verwirrung geprägt. Interessant ist, dass Bernfeld typische jugendliche Haltungen zu beschreiben und typischen Grundstimmungen nahe zu kommen versucht. So setzt er sich beispielsweise mit der Frage auseinander, warum Jugendliche Ansprüche, die an sie gestellt werden, häufig ablehnen und diese als unangemessen für ihr Alter betrachten. Man könnte darin eine Suche nach der neuen Rolle sehen. Bernfeld schließt seine Arbeit 1915 mit Überlegungen ab, die sich um die unterschiedliche Dauer der Pubertät drehen. Er versucht ferner, erste Erklärungen für die Differenzen zwischen der Gymnasial- und Hochschuljugend und der proletarischen Jugend zu geben. Angesichts dieser Fragen wendet er sich der soziologischen Jugendforschung zu und fordert, dass man diese mit der psychologischen verknüpfen müsse. Ungeachtet des sozialen Ortes, in dem sich Jugend abspielt, nahm Bernfeld zunächst eine vom sozialen Umfeld unabhängige konkrete zeitliche Einschränkung der Jugendzeit vor und stellte eine Normalitätserwartung auf: Wenn sich die Jugendphase über das 25. Lebensjahr hinaus erstreckt, müsse man vermutlich von pathologischen Erscheinungen und Symptomen ausgehen.
Jugendkultur und -theorie
Die Tatsache, dass Pubertätsverläufe unterschiedlich lang waren, beschäftigte ihn auch noch in den Zwanzigerjahren und führte ihn schließlich zu einer differenzierten Pubertätstheorie. (BERNFELD 1923/1991) Diese entfaltete er in einer engen Anbindung an Freud am Beispiel der männlichen Form des pubertären Verlaufs. (Ebd.) Darin folgte er der aus der Tierpsychologie und der Völkerpsychologie entlehnten These, dass die Pubertät nicht notwendig zur Psyche des Menschen gehören müsse, sondern von kulturellen oder sozialen Tatsachen abhängig sei. In diesem Zusammenhang prägte Bernfeld den Begriff der „gestreckten Pubertät“. Was verstand er darunter? Mit gestreckter Pubertät meinte er zunächst die auf die physische Geschlechtsreife folgende psychisch motivierte Libidoentwicklung: Dabei gehe es, so Bernfeld, um die Differenz zwischen physischen und psychischen Phänomenen und um das Ziel einer Anpassung zwischen beiden. Er definierte die „gestreckte Pubertät“ deshalb folgendermaßen:
Gestreckte Pubertät
„Als gestreckte Pubertät wollen wir eine bezeichnen, deren Ende im Bereich des Normalen liegt, aber erst nach Abschluß der Entwicklung des Sexualvermögens plus der kürzesten empirisch festzustellenden Anpassung des Sexualbedürfens an das entwickelte Sexualvermögen eintritt.“ (Ebd., S. 144)
Innerhalb dieses Pubertätstypus zeigen sich jedoch unterschiedliche Formen, die die Forschung beschreiben und analysieren muss. Typische Jugendliche, die eine gestreckte Pubertät erlebten, waren die Jugendlichen aus der bürgerlichen Jugendbewegung, die sich eine lange sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt hatten. Die gestreckte Pubertät geht darüber hinaus mit Sublimierungen einher. Sublimierung ist ein zentraler Begriff der Psychoanalyse und bezeichnet die Verwandlung oder Verfeinerung eines Triebes in kulturelle oder andere Leistungen. Deshalb ist die gestreckte Pubertät ein kulturelles Phänomen, dessen Merkmale Bernfeld anhand des männlichen Teils der bürgerlichen Jugendbewegung beschreibt: Die gestreckte Pubertät der Jugendbewegung charakterisiert er als „genialische Pubertät“, zu deren Merkmalen die Entstehung von Idealen bzw. idealistischen Interessen, eine hohe Produktivität, eine positive Selbsteinschätzung und Selbstliebe, ein starkes Bedürfnis nach Gruppenbildung sowie eine Freundes-, aber auch Führerverehrung zählen. In diesem Kontext interessierte sich Bernfeld dann auch für das dichterische Schaffen in der Pubertät, dem er sehr viel Aufmerksamkeit widmete (1924). Eine große Gruppe von Jugendlichen durchläuft die Jugendphase der gestreckten Pubertät in Form einer „neurotischen Pubertät“, die durch eine innere Angst gekennzeichnet ist. Deren Antipode bezeichnet Bernfeld (1935) als „einfache Pubertät“, die, so deutet er an, durchaus neurotische Formen annehmen könne. Die einfache Pubertät bei Knaben ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Die Jugendlichen nehmen ihre Geschlechtsreife von Anfang an positiv auf und bewerten sie als Anzeichen für das ersehnte Erwachsenwerden: „Nicht unmöglich, dass diese die häufigeren und die eigentlich repräsentativen sind.“ (Ebd., S. 233) Es handelt sich um Jugendliche, die von ihren Kindertagen an auf das Erwachsensein warten und die damit Macht und Lust verbinden. Von diesen Kindern wird die Latenzzeit als echte Wartezeit hingenommen. Charakteristisch für den Verlauf der einfachen Pu-
Beispiel Jugendbewegung
Neurotische und einfache Pubertät
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Proletarische Pubertätsverläufe
bertät ist laut Bernfeld nicht der innere Konflikt des Jugendlichen, sondern der permanente Kampf gegen die soziale Umwelt, die den Jugendlichen noch nicht als Erwachsenen anerkennt. Das aus Sicht des Jugendlichen unangemessene Verhalten der Erwachsenen führt häufig zu narzisstischen Kränkungen. Bernfeld richtet sein Augenmerk dabei auf den Umgang mit Sexualität im „sozialen Ort“ des Kindes und Jugendlichen (vgl. auch MüLLER 2002). Die einfache Pubertät hat ihren Raum vornehmlich nicht im bürgerlichen, sondern im proletarischen Milieu und hier ist nur die inzestuöse Sexualität kategorisch ausgeschlossen (vgl. dazu auch FRANZEN-HELLERSBERG 1932). Das Problem, mit dem sich Bernfeld konfrontiert sah, war, dass die repräsentative soziale Schicht, das Bürgertum, die einfache Pubertät ablehnte und dabei kulturell so einflussreich war, dass ihre Werte und Vorstellungen auch zum Maßstab anderer Schichten und Milieus wurden: „Es bildet sich so etwas wie ein nach der Pubertät der repräsentativen Schicht gestaltetes Ideal von Jugend und Jugendleben, das, ohne Wirksamkeit auf den Pubertätsverlauf, doch sehr bedeutsam für die Beurteilung und Selbstbeurteilung der Jugendlichen wird. Diese setzen nämlich entweder Bemühungen an, sich dem idealen Pubertätsverlauf anzuähneln, oder, da dies gewöhnlich keinen Erfolg hat, färben sie ihr eigenes Leben mit etwas trotzigem Ressentiment.“ (Ebd., S. 243)
In der einfachen Pubertät dränge der Jugendliche nach einem frühen Beginn des Sexualverkehrs. Die Jugendlichen sind kaum bereit, den normativ vorgegeben Zeitpunkt abzuwarten. Dieser Zeitpunkt richte sich nach den gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen. Wie Hall thematisierte Bernfeld folglich die Reaktionen der Öffentlichkeit auf sexuelle Bedürfnisse der Jugend. Diese würden selten anerkannt und sexuelle Aktivität würde meistens als verfrüht angesehen. In seinen jugendtheoretischen Schriften der Zwanzigerjahre ebenso wie in seiner Erziehungstheorie, die er in der Schrift „Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung“ (1926) darlegt, tritt der Einfluss der Psychoanalyse deutlich hervor. Die Schriften Bernfelds machen auf grundlegende Aspekte der jugendlichen Gefühls- und Alltagswelt in modernen Gesellschaften aufmerksam. Vieles von dem, was er anspricht, ist auch heute noch relevant. Sein Verdienst war es, neben der psychologischen Jugendforschung eine soziologische zu fordern und beide miteinander zu verknüpfen. Durch seine Parteilichkeit für die Interessen und den Eigenwert der Jugend, war er gegenüber allen Pädagogisierungsbemühungen skeptisch eingestellt. Anhand empirischer Daten und Beobachtungen beschäftigte Bernfeld sich mit der unterschiedlichen Dauer von Pubertätsverläufen, dem Umgang mit Sexualität und der kulturellen Gestaltungskraft der Jugendlichen. Daraus entwickelte er seine Pubertätstheorie, deren Fundament psychologisch und soziologisch war.
5.3 Das Seelenleben des Jugendlichen bei Charlotte Bühler Vergleichende Perspektive
Im Gegensatz zu Bernfeld der als Außenseiter galt, war Charlotte Bühler die „Grande Dame“ der Jugendforschung des zwanzigsten Jahrhunderts. Marie Jahoda, zu Beginn ihrer Karriere Mitarbeiterin bei den Bühlers, charakterisierte sie folgendermaßen: „Charlotte Bühler war von ganz anderem Kaliber.
Das jugendliche Seelenleben
Sie war brillant, extrovertiert, sehr schön, sehr eitel, sehr dominierend, sehr begabt, sehr elegant.“ (JAHODA 2002, S. 44) Beide Bühlers hatten einen weitaus größeren Wirkungsgrad als andere Jugendforscher, sie bauten im Wiener Institut die Jugendforschung theoretisch und methodisch aus und hatten zahlreiche Schülerinnen und Schüler. Bernfeld fehlte im Unterschied zu Charlotte Bühler der institutionelle Rahmen und er hatte, anders als Spranger, keine Universität hinter sich. In einer Zeit, in der die pädagogische Jugendkunde in naiv anmutender Weise nach einem harmonischen Transfer der „richtigen“ Erkenntnisse über Jugend in die „gute“ pädagogische Praxis strebte, legte Bernfeld eine der Pädagogik gegenüber kritische Jugendtheorie vor. Ihn verband jedoch mit Bühler und Spranger das starke Interesse an Jugendtagebüchern. Während Charlotte Bühler jedoch mit einer systematischen Sammlung von Tagebüchern aus der Hand Jugendlicher begann, arbeitete Spranger vornehmlich mit Tagebüchern und Autobiographien „großer Männer“. Der Entwicklungspsychologe und Erziehungswissenschaftler Helmut Fend beschreibt die generellen Schwierigkeiten der Datenerhebung in den Anfängen der Jugendforschung folgendermaßen: „Im Vergleich zur heutigen Forschungslage standen in dieser Hinsicht sowohl Bühler als auch Spranger am Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts vor einem großen Problem. Auf welche Daten sollten sie eine umfassende Entwicklungspsychologie des Jugendalters aufbauen? In den Tagebüchern von Jugendlichen fanden beide Autoren eine solche Datenquelle.“ (FEND 2000, S. 44)
Die Tagebuchanalyse hatte eine weit zurückreichende naturwissenschaftliche Tradition. So boten bereits vor der Jugendforschung im zwanzigsten Jahrhundert genaue Tagebuchaufzeichnungen von Eltern über die Entwicklung ihres Kindes wichtige Hinweise für die Forschung. Schon im achtzehnten Jahrhundert wurden Väter zum Tagebuchführen im wissenschaftlichen Interesse aufgefordert. (SCHMID 2000; ANDRESEN 2004) Charles Darwin und der Kinderpsychologe Wilhelm Preyer gehörten zu den populären Tagebuchautoren im neunzehnten Jahrhundert. Im Rahmen dieser Einführung kann nicht auf das Gesamtwerk Bühlers eingegangen werden. Stattdessen erfolgt hier eine Konzentration auf ihre Tagebuchanalysen und auf die Studie „Das Seelenleben des Jugendlichen“, die 1921 erstmals erschien. Mit dieser Studie wurde der Autorin eine Pionierleistung der Jugendforschung attestiert.
5.3.1 Die Phasen im Lebenslauf Die Studie über „Das Seelenleben des Jugendlichen“ von Charlotte Bühler ist ein erster Versuch, in einer Gesamtdarstellung über die innere Entwicklung und spezifische Befindlichkeit des Jugendlichen Aussagen zu treffen. Bühler war eine Phasentheoretikerin. Das heißt, sie teilte den menschlichen Lebenslauf in aufeinander folgende Lebensphasen ein. Jede Phase war dabei spezifisch gekennzeichnet und für sie war es wichtig, genau beschreiben zu können, wodurch sich die Phase Kindheit von der der Jugend unterschied. Mit der Analyse von Phasen sollte auch die Entwicklung beschrieben werden.
Phasen
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Bühlers Entwicklungsmodell in der Studie von 1921, von dem sie sich später jedoch distanzierte, basierte auf der Vorstellung einer Parallelität von psychischer und physischer Entwicklung. „Die Phase der Reifung nun zeigt beim Menschen eine Reihe besonderer seelischer Erscheinungen, die mit der Reifung in einem biologischen Sinn-, d. h. Zweckzusammenhang stehen. Diese seelische Pubertät, wie wir sie nennen wollen, setzt häufig schon als ein Vorbote der physischen Reifung ein und dauert meist noch lange über diese hinaus.“ (BüHLER 1921/1991, S. 53 H. i. O.)
Diese parallelisierende Sichtweise verhalf Charlotte Bühler dazu, Sexualität und deren Bedeutung nicht zu tabuisieren, sondern in einem entwicklungsbedingten Zusammenhang mit der seelischen Persönlichkeitsentwicklung zu sehen. Trotzdem nahm sie damit noch keine systematische Betrachtung von Sexualität und Erotik in der Jugendphase vor. Das mag auch daran gelegen haben, dass sie zur Psychoanalyse eine distanzierte und kritische Haltung einnahm. Das bestätigte auch Marie Jahoda in einem Interview: „Alle Psychologiestudenten und -studentinnen, die in der Analyse oder von Freud irgendwie intellektuell beeinflusst waren, haben dies als großes Geheimnis vor den Bühlers bewahren müssen.“ (JAHODA 2002, S. 153)
Kindheits- und Jugendbilder
Als konsequente Phasentheoretikerin hatte Bühler ein kontinuierlich aufbauendes Entwicklungsmodell vor Augen. Die Formbildung des jungen Menschen schreitet gemäß dieser Theorie unaufhörlich fort; war eine Stufe einmal erreicht, so ließ sie sich nicht wieder rückgängig machen. Welche Vorstellungen entwickelte Bühler von Kindheit, welche von Jugend? Kindheit sei, so die Psychologin, vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich das Kind den Objekten, dem Werk, zuwende. Ist das kleine Kind zunächst das spielende und sich mit Freude bewegende Kind, so rückt ab dem fünften Lebensjahr die Schaffenskraft des Kindes in den Mittelpunkt: „Von dieser Auseinandersetzung des Kindes mit Material her lässt sich die Kindheit mit großer Vollständigkeit verstehen, während die Auseinandersetzung mit Menschen in der Kindheit noch keine nennenswerten Ergebnisse zeitigt.“ (Ebd., S. 60 H. i. O.)
Erziehungsvorstellungen
Demgegenüber setzt mit der Pubertät beim Jugendlichen die Auseinandersetzung mit sozialen Beziehungen ein. Beim jungen Erwachsenen, das sind die Neunzehn- und Zwanzigjährigen, dominiert die „Tatreife“, die es mit sich bringt, sich für sich selbst und für andere handelnd einzusetzen. In der Pubertät entwickelt sich im Unterschied zum Kindesalter die Motivation, soziale Beziehungen aufzubauen. Ein typischer Ausdruck für die Motivation sei die Lust der Jugendlichen an Zukunftsentwürfen und Lebensplänen. „Hierbei sucht er sich systematisch klar zu machen, was und wozu er dies oder jenes will.“ (Ebd., S. 61) Wie wir es von Rousseau deutlich vorgeführt bekommen haben, geht auch Bühler von unterschiedlichen Anforderungen an die Erziehung aus. Kinder seien anders zu leiten als Jugendliche, wobei die Übergangsphase der Elfund Zwölfjährigen die Erziehung vor besonders schwierige Aufgaben stelle. Auch in der Jugendforschung der Gegenwart ist man sich darüber einig, dass
Das jugendliche Seelenleben
der Übergang oder die „Lücke“ zwischen – grob gesprochen – Kindheit und Jugend pädagogisch anspruchsvoll sei und in der Forschung besonders intensiv betrachtet werden müsse. Bühler beruft sich auf Untersuchungen über die problematisierte Großstadtjugend, die hier bereits dargestellt wurden: „Eine eigene Kategorie sind die Elf- bis Zwölfjährigen. Mit ihnen lässt sich am allerschwersten auskommen. Sie sind zügellos und rauflustig, für die Spiele der Älteren haben sie noch kein Verständnis, für Kinderspiele aber dünken sie sich schon zu erwachsen. Bei der Persönlichkeit und persönlichen Eitelkeit oder höheren Idealen sind sie noch nicht zu packen, und der kindliche Autoritätsgehorsam ist nicht mehr vorhanden. Hier liegen disziplinarisch für den Jugendleiter die schwersten Aufgaben, aber unmittelbar an dieses negative Stadium anschließend sind die lockendsten und aussichtsreichsten pädagogischen Ansatzstellen, die wir noch sehen werden.“ (Ebd., S. 63)
5.3.2 Verlaufstheorie der Pubertät Im Zitat über die schwer zu erziehenden Großstadtjugendlichen gebraucht Bühler den Terminus der „negativen Phase“. Dieses Stadium bildet in ihrer theoretischen Konzeption den Auftakt der Jugend. Bühler konstruiert demnach nicht nur eine Phaseneinteilung des gesamten Lebenslaufs, sondern unterteilt auch die Jugend in verschiedene, aufeinander folgende Stationen. Auch diese Jugendphasen sind jeweils mit einer typischen Haltung verbunden. Die Pubertät baut sich bei Bühler durch die Vorpubertät und durch die darauf folgende Phase der Verneinung auf. Im Anschluss daran tritt der Jugendliche, der pubertierende junge Mensch, in die Adoleszenz, und das ist die Phase der Bejahung. Mit den Begriffen Verneinung und Bejahung verweist sie auf die Grundhaltung der jungen Menschen gegenüber ihrer sozialen Umwelt. Die oben im Zitat beschriebene Vorpubertät ist die Vorbereitung auf die Pubertät als Phase der Verneinung. In dieser Phase sei es schwierig, pädagogisch die Jugendlichen zu erreichen, weil Passivität, Unmut und Unlust, Ablehnung und Negation vorherrschen würden. Im siebzehnten Lebensjahr verortet die Jugendforscherin zeitlich und räumlich die Phase der Bejahung, die positive Entdeckung einer Welt von Werten. Das ist die Adoleszenz. Bühler kommt zu dieser Einteilung, indem sie u. a. Tagebuchanalysen vornimmt. Ferner versteht sie den Verlauf als eine Entwicklung, bei der der Jugendliche ein jeweils höheres Niveau erreicht. Das heißt, typische Themen der Jugend wie Religion oder die Beschäftigung mit Kultur – bei Bernfeld ging es um Sublimierung – finden sich auch schon in der Kindheit, aber auf einem anderen Niveau der Auseinandersetzung. Darin unterscheidet sich auch der pubertäre Jugendliche vom Adoleszenten und dieser schließlich vom jungen oder älteren Erwachsenen. So bleibt Bühlers Jugendtheorie im Modell eines kontinuierlich fortschreitenden Lebenslaufs verankert, und das Seelenleben des Jugendlichen erhält seinen Sinn durch die Einbettung zwischen Kindheit, Adoleszenz und Erwachsenenstatus. Für die Jugendforschung formulierte Bühler deshalb auch die Aufgabe, nach Hinweisen für den Ablauf des späteren Lebens zu forschen und gegebenenfalls typische Muster zu rekonstruieren.
Zwischen Vorpubertät und Adoleszenz
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5.3.3 Zwischen primitiver Pubertät und Kulturpubertät Herkunft und Geschlecht
Methodenreflexion
Bühler unterschied nicht nur Phasen, sondern auch sozial bedingte Arten des Pubertätsverlaufs. Daran machte sie schicht- und geschlechtsspezifische Unterschiede fest (vgl. HETZER 1926). Der Umgang mit Sexualität und die Bereitschaft, sich mit der Gesellschaft konstruktiv auseinander zu setzen markieren die Unterschiede zwischen der „primitiven Pubertät“ und der „Kulturpubertät“. Die primitive Pubertät verortete Charlotte Bühler eher im proletarischen Milieu, die Kulturpubertät war im bürgerlichen Umfeld beheimatet. Für ideal hielt sie die Kulturpubertät. Damit nahm sie bewusst in Kauf, dass die durch Schule und Behütung gekennzeichnete bürgerliche Jugend zum normativen Maßstab der Jugendforschung wurde. Gleichwohl war sie sich darüber im Klaren, dass sie insbesondere durch die Tagebuchforschung maßgeblich bürgerliche Jugendliche in den Blick bekam. Sie konnte folglich auf wenig Material aus dem proletarischen Milieu zurückgreifen. Deshalb dachte sie dezidiert auch über den methodischen Zugang zur proletarischen Jugend und deren schriftliche Ausdrucksformen nach: In einer Einleitung zu zwei veröffentlichten Knabentagebüchern formulierte sie die Frage nach der schicht- und geschlechtsspezifischen Repräsentativität dieser Daten: „Welchen Bruchteil der Jugend repräsentiert der T[agebuch]schreiber und wieweit ist sein Erleben auch für den Nichttagebuchschreiber gültig?“ (BüHLER 1925, S. VII) Sie vermutete, dass der im Tagebuch repräsentierte innere Prozess der Selbstfindung ein bürgerliches Phänomen sein könne. Dies schlug sich schließlich in allgemeinen Auffassungen über die Jugendentwicklung nieder. Erst 1967, in einer neuen Einführung zur sechsten Auflage ihres Buches, hob die Jugendforscherin den wissenschaftlichen und pädagogischen Wert einer weiteren Erhebungsmethode hervor: die Gruppendiskussion. Charlotte Bühler hatte in den USA neue Erfahrungen gesammelt und erkannt, dass nicht nur die Schichtspezifik als Ursache für unterschiedliche Verläufe zentral war, sondern auch nationale kulturelle Unterschiede, wie sie sich an der Jugend in Europa und in den USA darstellten. Gleichwohl hielt sie an der Entwicklungsbedeutung der inneren Auseinandersetzung mit dem Selbst fest und schlug deshalb die Gruppendiskussion vor. „Der Hauptgrund ist, dass in dieser Art der Gruppendiskussionen eine systematische Anleitung zum Nachdenken über innere Vorgänge gegeben wird, wobei der Teilnehmende zu absoluter Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber und zum Verstehen seelischer Motive geführt wird.“ (BüHLER 1967, S. 23)
Sexualität und Arbeitswilligkeit
Worin unterschied sich nun die primitive Pubertät von der Kulturpubertät? Die primitive Pubertät sei, so Bühler, erstens durch eine frühe Bereitschaft zur aktiven Sexualität und zweitens durch eine geringe Motivation für gesellschaftliche Produktivität gekennzeichnet. Im Unterschied zu Zeitgenossen argumentierte sie jedoch umwelt- und nicht anlagetheoretisch, d. h. sie vermutete die Ursachen unterschiedlicher Verläufe im Milieu und nicht in der Erbanlage. Dieses Modell sozial bedingter Pubertätsverläufe hatte im zwanzigsten Jahrhundert großen Einfluss und erlaubte es, ein normatives Bild einer „nor-
Das jugendliche Seelenleben
malen“ Entwicklung für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Der Motor, sich politisch und wissenschaftlich der Jugend zuzuwenden, lag aber gerade in den Phänomenen, die Bühler und andere mit der „primitiven Pubertät“ verbanden. Jugendliche sollten sich schließlich den Konventionen der Gesellschaft anpassen und arbeitswillig sein. Neben der Jugendforschung existierte stets eine Reihe von Gefährdungsdiskursen. Diese Gefährdung bezog sich wechselweise auf sittliche, moralische oder politische Aspekte der Jugendphase, und der sexuell aktive, arbeitsscheue und politisch nicht konforme Jugendliche der Großstadt war ein Schreckensbild der modernen Gesellschaft. Bühler erarbeitete ihre Unterscheidung von primitiver Pubertät und Kulturpubertät anhand von Tagebuchaufzeichnungen. Sie entwickelte dabei klare Vorstellungen über den rechten Zeitpunkt, das rechte Maß und die gesunde Haltung im Prozess der physischen und psychischen Reifung. An zwei Mädchentagebüchern, die Bühler veröffentlicht hat, wird die von ihr stark gemachte soziale Differenz deutlich (1927). Die Tagebücher ermöglichen zusammen mit Bühlers Interpretation einen klaren Einblick in diese sozial normative Theorie. Die Tagebuchschreiberin, die eher dem primitiven Pubertätsverlauf zugeordnet wird, schreibt über ihre Sehnsucht, „unter den wütenden sinnlosen Küssen eines Mannes zu ersticken. Das wäre köstlich, nicht wieder zur Besinnung zu kommen und dann sterben oder in diesem Taumel weiterleben. Ich kann vor Sehnsucht fast keinem Manne mehr ohne Wunsch in die Augen schauen.“ (BüHLER 1927, S. 96)
Im zweiten Tagebuch thematisiert ein Mädchen aus gut bürgerlichem Hause ihre Schwärmerei für eine Lehrerin: „Fräulein Wörner! Was diese Worte für mich sagen, kann keiner ermessen. Wenn sie nicht wie jeder Mensch Sünden haben müsste, so stände sie wie ein Engel da.“ (Ebd., S. 4)
Diese Tagebuchschreiberin sublimiert, das heißt, sie verfeinert ihre sexuellen Phantasien durch die Schwärmerei für eine Lehrerin. Deshalb ordnete Bühler sie der Kulturpubertät zu. Die typischen Phänomene wie sexuelle Reifung, das Bedürfnis nach Ergänzung, Orientierung an Gleichaltrigen, Sehnsuchtsempfinden, Auseinandersetzung mit der Zukunft und Suche nach Intensität entfaltet Bühler auch im Umfeld weiterer Arbeiten am Wiener Institut stets mit Blick auf ihre Konstruktion primitiver und anspruchsvoller oder kultureller milieubedingter Entwicklung und aktiver Gestaltung. Das entscheidende Kriterium für den Fortgang der Entwicklung im Lebenslauf ist die Kategorie der Zeit. Je später beispielsweise die negative Phase einsetze, desto Erfolg versprechender sollte der gesamte Verlauf sein. Bühler urteilte generell – und nicht nur hinsichtlich sexueller Erfahrungen – negativ über einen zu frühen Zeitpunkt des Pubertätsbeginns (BüHLER 1921/1991, S. 69 ff.) und formulierte somit Vorstellungen über eine Gestaltung von Jugend als räumlichen und zeitlichen Aufschub von Erfahrungen und Verpflichtungen der Erwachsenen. Erik H. Erikson (1970/1998) nannte dies später das psychosoziale Bildungsmoratorium. Die Verzögerung oder der zeitliche Aufschub ist eine wesentliche Idee des modernen wissenschaftlichen und pädagogischen Nachdenkens über Jugend.
Soziale Differenz im Tagebuch
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens Bernfelds Kritik
Siegfried Bernfeld kritisierte an Charlotte Bühlers Entwurf, dass er primär außerpsychologischen Bedürfnissen diene. Zudem sei sie der Versuchung erlegen, „an entscheidenden Stellen pädagogisch, sogar ethisch zu sein, aber sie versucht eine reinliche Scheidung, die ihr freilich nicht gelingt, und die gerade in den Problemen, welche die Psychoanalyse aufwirft, scheitert“. (BERNFELD 1927, S. 35)
Für Bühlers theoretischen Zugang war zweifellos nicht die Psychoanalyse zentral, für sie war die Einbettung der Jugendphase in den ganzen Lebenslauf eines Menschen wichtig. Die Entwicklungsdimensionen erschließen sich in einer solchen Rahmung durch ihre Funktion, ihren Sinn für den weiteren Lebenslauf, und haben demnach keinen spezifischen Eigenwert, da das Ziel jeglicher Entwicklung der gelungene Übertritt ins Erwachsenenalter darstellt. Vor diesem Hintergrund hielt sie die Jugendphase für eine krisenhafte Zeit, die der besonderen Erziehung bedurfte. Der Zusammenhang von Jugend und Krise ist für nahezu alle Jugendtheorien, die Einfluss auf die Pädagogik gewannen, bis heute von großer Bedeutung.
5.4 Die Jugendtheorie der geisteswissenschaftlichen Pädagogik: Eduard Spranger 5.4.1 Sprangers methodisches Vorgehen Normative Jugendforschung
Hermeneutik versus Empirie
Eduard Spranger gehört zu den Vertretern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Professor für Philosophie und Pädagogik in Berlin entwickelte eine in der Erziehungswissenschaft populäre Jugendtheorie. Er wollte Begriffe und Kategorien über den „Menschen in seiner Jugendzeit“ anbieten, die von der Praxis in „Leben, Tat und Liebe“ umgewandelt werden sollten. Anders als Bühler in Wien oder Stern in Hamburg war Spranger selbst kaum an empirischen Jugendforschungsprojekten beteiligt. (SPRANGER 1924/1925, S. XV) Sein Ziel war es, eine Studie mit Lehrbuchcharakter anzubieten. Aus der Lektüre sollten schließlich Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher oder Jugendführer, ja letztlich auch Eltern, auf konkrete Handlungsmöglichkeiten schließen können. Wir haben hier somit wieder eine typische Form jugendtheoretischen Denkens, das mit der Intention einer Übersetzung in die pädagogische Praxis verbunden war. Kaum ein Buch habe in der jüngeren Geschichte der Pädagogik eine solche Resonanz erzielt wie Sprangers „Psychologie des Jugendalters“ (1924), so das Urteil Peter Dudeks (1990). Sprangers Buch wurde in viele andere Sprachen übersetzt und in Deutschland hatte es fast dreißig Auflagen. Spranger integrierte die Jugendforschung prominent in die geisteswissenschaftliche Pädagogik, übernahm einzelne Aspekte von William Stern und den Wiener Erkenntnissen und orientierte sich zudem stark an den Publikationen aus der pädagogischen Praxis. Das verhinderte jedoch nicht, dass kritische Zeitgenossen Sprangers Distanz zur Realität der Jugendlichen bemängelten. Die Kritik an Spranger zielte auf die Konstruktion eines normativen Idealtypus. Was heißt das?
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Ein Idealtyp ist in der Realität kaum anzutreffen, so dass Sprangers Aussagen über Jugend nicht empirisch gesichert waren. Normativ bedeutet in diesem Fall, dass von vornherein eine Wertung in die Jugendtheorie eingeflossen ist. Sprangers Vorgehen basierte auf der Methode der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Diese war die verstehende Methode, die Hermeneutik, mit deren Hilfe Texte, Schriftstücke und Quellen interpretiert wurden. Idealtypen könnten auch auf der Basis empirischer Datenerhebung konstruiert werden, aber das war nicht Sprangers Zugang. Insofern gehörten vor allem diejenigen zu seinen Kritikern, die empirische Jugendforschung betrieben und diese als Kern wissenschaftlicher Reflexion über Jugend ansahen. Manche Zeitgenossen verbanden mit ihrer Auseinandersetzung auch einen politischen Vorwurf: Dieser bezog sich auf das mangelnde Interesse für und die fehlenden Erkenntnisse über empirisch relevante Fakten zu den Arbeits- und Lebensbedingungen beispielsweise der Jugendlichen aus dem Proletariat. Dieses Defizit sahen sozialdemokratische oder sozialistische Jugendforscher aus dem Umfeld des Wiener Instituts besonders deutlich. So warf Paul Lazarsfeld, ein früher Mitarbeiter Charlotte Bühlers, Spranger Ignoranz vor. Lazarsfeld sah in Sprangers Jugendpsychologie auch eine Strategie der politischen Immunisierung gegen soziale Ungleichheit. Die Bedeutung von Politik, Gemeinschaft und Beruf sei bei dem geisteswissenschaftlichen Pädagogen wenig greifbar und könne frei vom sozialen Kontext diskutiert werden. (LAZARSFELD 1931)
Politische Immunisierung
5.4.2 Der Anspruch eines Lehrbuchs Am Beispiel von Sprangers Jugendpsychologie und ihrer einerseits kritischen und andererseits aber auch begeisterten Rezeption ließe sich die Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik exemplarisch entfalten. Spranger argumentierte und forschte geisteswissenschaftlich, das heißt, es ging ihm um das Verstehen der Phänomene und um das Verständnis jugendlichen Seelenlebens unter dem Einfluss des historischen Wandels. „Die Aufgabe, die sich dieses Buch stellt, besteht darin, durch ein vollständiges Gemälde der seelischen Organisation in der Jugendzeit ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. Unter Verzicht auf andere wichtige Ziele, die eine Psychologie sich setzen kann, will es ausdrücklich eine verstehende Psychologie des Jugendalters geben.“ (SPRANGER 1924, S. 2, H. i. O.)
In einem Brief an den Berliner Gymnasiallehrer und Ministerialbeamten Ernst Goldbeck (GOLDBECK 1926), mit dem Sprangers Buch beginnt, wird eine Orientierung an der normalen Entwicklung im Jugendalter gefordert. Spranger und die geisteswissenschaftliche Pädagogik wollten demnach nicht, dass Vorstellungen über das Abweichende im Jugendalter die Systematik einer Jugendtheorie bestimmen. Er brachte dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Niemand wird eine Lehre vom Organischen mit der Theorie der Missbildungen beginnen. Wie wir alle deutlich fühlen, ob ein Baum dem großen, reinen, inneren Bildungsgesetz seiner Art im Wachstum folgen konnte, oder ob ein Wurm in ihm
Verstehende Psychologie
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens saß, ein Mangel an Saft und Licht und Wärme ihn beengte, frühe Stürme ihn zerbrachen –, so gibt es auch im Seelischen ein Urgesetz der Form, ein Urgesetz des Wachstums, das wir kennen müssen, ehe wir die Abirrungen studieren, die aus den dunklen Tiefen früh zerstörter Innenkräfte oder aus dem Druck feindseliger Entwicklungshemmungen von außen folgen.“ (SPRANGER 1924/1925, S. XIV) Formtrieb und Sinnstruktur
Pädagogisches Verstehen in der Jugendforschung
Erwachsenes Wissen und persönliche Erfahrung
Im obigen Zitat deutet sich ein weiterer Aspekt an: Spranger ging nämlich davon aus, dass im jungen Menschen ein Formtrieb, unabhängig von inneren und äußeren Umständen, zur Wirkung käme. Anders als bei Charlotte Bühler basierte sein Entwicklungsmodell nicht auf einer Abfolge von Phasen, sondern auf der Dynamik des Reifeprozesses und der inneren Strukturveränderung. Der Formtrieb korrespondiert mit der Notwendigkeit einer Sinnstruktur. Für die menschliche Entwicklung sei es notwendig, etwas als sinnvoll auffassen zu können. Damit rechtfertigte Spranger auch die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens, die grundsätzlich von einem sinnvollen Zusammenhang ausgehen müsse. Es ist die Konzentration auf das Verstehen des Sinns, die es Spranger ermöglicht, seine Jugendpsychologie mit kulturellen Wertvorstellungen eng zu verknüpfen. Das heißt: Einzelne Handlungen oder Erlebnisse und einzelne Lebensphasen haben nur dann einen Sinn, wenn und sofern sie für das Ganze des Lebens bedeutsam sind. Das ganze Leben wiederum hat Sinn, wenn es in einem größeren (kulturellen) Wertzusammenhang steht. Auf die Jugendpsychologie bezogen forderte Spranger, dass sie nicht nur beschreiben dürfe, was in der Seele des jungen Menschen vor sich gehe und wo der individuelle Sinn liege. Vielmehr müsse sie das Erleben in übergreifende Sinnzusammenhänge, für die Spranger theoretische Kategorien zu entwickeln versuchte, einordnen. Um das umsetzen zu können, bedurfte es jedoch einer Vorstellung vom Ziel der Entwicklung, vom Resultat der seelischen Reifung. Spranger sprach deshalb von einer „übergreifenden Teleologie“, ohne die auch die Biologie nicht auskomme. So erschloss sich für den geisteswissenschaftlichen Pädagogen jede Einzelseele nur im „objektiven Geist“ bzw. in der „überindividuellen Struktur“. (Ebd., S. 13) Auch Spranger ging von Schwankungen und Krisen in der Jugendphase aus. Diese bewertete er jedoch, getreu seines normativen Systems, als sinnvoll für den Prozess und das Ziel der Reifung. Insbesondere im Verstehen der Krisen lag allerdings auch die Bedeutung der verstehenden Jugendpsychologie für die Pädagogik begründet. Es sollte erreicht werden, dass die in der Jugenderziehung Tätigen mit dem richtigen Wissen ausgestattet wurden, die Jugendlichen und das, was sie durchleben, besser zu verstehen. Das heißt, Lehrerinnen und Lehrer in der Schule oder Professionelle in der Sozialen Arbeit sollten über ein Wissen verfügen, mit dem sie den jugendlichen Reifungsprozess besser verstehen, als die Jugendlichen selbst. In dieser Idee von Jugenderziehung mit Hilfe einer normativen Jugendtheorie steckt ein paternalistisches Modell von Erziehung, weil die Erwachsenen stets besser wissen, was den jungen Menschen bewegt. Ferner grenzt diese Vorstellung an ein technokratisches Modell der Machbarkeit von Erziehung auf der Basis festgesetzter Entwicklungsnormen. Abweichungen von Jugendlichen waren insofern nicht ein Anlass zur Überprüfung der eigenen theoretischen Annahmen, sondern führten allenfalls zur Überprüfung des
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
richtigen Verstehens in der konkreten Erziehungssituation. In diesen Kontext gehört auch Sprangers selbst vorgenommene Einschränkung: Seine Jugendtheorie sei vornehmlich am männlichen Jugendlichen ausgerichtet, so wie die von Charlotte Bühler unausgesprochen vom Mädchen ausgehen würde. „Hier spielt eben doch der Faktor des Selbsterlebthabens und die damit gegebene Möglichkeit adäquater anschaulicher Erfüllung des Strukturschemas eine erhebliche Rolle.“ (Ebd., S. 21)
Spranger verstand folglich die Jugendpsychologie als normative und teleologische Wissenschaft. Seelische Entwicklung beschrieb er als dynamische Entfaltung des individuellen Seelenlebens zu größerer innerer Gliederung und Wertsteigerung. Dazu bedurfte es keiner ausführlichen Auseinandersetzung mit physischen Reifungsprozessen, die bei Charlotte Bühler eine zentrale Rolle spielten, auch nicht mit Sexualität und Verdrängung, die psychoanalytische Jugendtheorien prägten. Spranger, der die Psychoanalyse ablehnte, entwarf demnach eine Jugendtheorie, in der Körperlichkeit und Sexualität mehr oder weniger Zufallsprodukte des objektiven Geistes waren. Gleichwohl konnte er als Pädagoge die Gefahren, die man in dieser Zeit von der Sexualität für die Jugend ausgehen sah, nicht übergehen. Deshalb unterschied er einerseits zwischen einer „gesunden“ Erotik, als angemessene Form des Umgangs mit sexuellen Bedürfnissen und andererseits der Sexualität, deren zu frühes Ausleben, die innere Seelenentwicklung des Jugendlichen hemmen würde.
5.4.3 Typenbildung Das Jugendalter ist in dieser Theorie nicht nur diejenige Entwicklungsphase, die physiologisch zwischen Kindheit und Erwachsenenalter liegt, sondern
Unterschiede zur Kindheit
„es ist für uns das Lebensalter zwischen der typisch unentfalteten Geistesstruktur des Kindes und der festen Geistesstruktur des erwachsenen Mannes oder der Frau“. (Ebd., S. 18)
Die Phase der Kindheit unterscheidet sich von der Jugend insofern, als dass sie vom Wertganzen typischerweise noch weit entfernt steht. Diese Entfernung des Kindes machte Spranger, der die mangelnden Erkenntnisse der Kinderpsychologie kritisiert, beispielsweise an der fehlenden Unterscheidung des Kindes zwischen Phantasie und Realität fest, an den anderen Erlebnisbeziehungen von Raum und Zeit und an fehlenden Reflexionen über die eigene Seele. Das Kind vor dem „Ausbruch“ der Pubertät ist gewissermaßen mit sich und der Welt im Reinen bzw. lebt in einem inneren und äußeren Gleichgewicht. Den Übergang ins Jugendalter charakterisierte Spranger in Anlehnung an Rousseau: „In diese gesicherte Seelenlage [des Kindes, S. A.] bringt die Reifezeit so tiefe neue Erschütterungen, dass man nicht mit Unrecht von einer zweiten Geburt gesprochen hat.“ (Ebd., S. 37)
Übergang
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
Welches sind nun die Kennzeichen der Entwicklung oder besser, der sich ändernden seelischen Organisation? Spranger nennt drei Bereiche: 1. Es gehe erstens um die Entdeckung des Ichs, damit verweist er auf das Grunderlebnis der Individuation, der bewussten Reflexion über das eigene Selbst. Diese führe zu typischen Haltungen bzw. zu prägenden Gefühlen wie Einsamkeit und Sensibilität. 2. Zweitens komme es, so Spranger, zu einer Entstehung eines Lebensplans, womit eine Zusammenführung der individuellen Form mit dem gesellschaftlichen Leben gemeint ist. Der Jugendliche entwickelt beispielsweise Zukunftspläne über Beruf und Familie, Wünsche und Phantasien über den eigenen Werdegang. 3. Drittens erfolge das Hineinwachsen in die einzelnen Lebensgebiete als konkrete Auseinandersetzung mit den einzelnen Aspekten des Lebens, also eine allmähliche Ausdifferenzierung innerhalb des „Wertganzen“ und eine aktive Beteiligung an der Kultur. Das Kind verhalte sich den Kulturgütern gegenüber rezeptiv, allenfalls nachahmend. Mit der Pubertät verändere sich das grundlegend: „Es beginnt eigenes Kunstschaffen, eigenes Nachdenken, eigene Gesellschaftsbildung, eigenes religiöses Welterleben.“ (Ebd., S. 50, H. i. O.) Auf dieser Basis stellt Spranger das Phantasieleben und -schaffen des Jugendlichen, die jugendliche Erotik, das Sexualleben, das Hineinwachsen in die Gesellschaft, seine sittliche Entwicklung, das Rechts- und Politikbewusstsein, die Eingliederung in den Beruf und die Entwicklung von Weltanschauung und Religion dar. Insbesondere in der Einschätzung der religiösen Entwicklung wird Sprangers normatives Entwicklungsmodell in seinem transzendentalen Gehalt deutlich: „Und so erscheint denn zuletzt die jugendliche Entwicklung nicht mehr als ein vielfach Geteiltes, sondern als ein Ringen um den Zentralsinn. Weit über das hinaus, was im historischen und theologischen Sinne Religion genannt wird, ist das Kreisen um dieses geahnte und gesuchte Zentrum religiös: jeder Lebensstandpunkt, jedes Empfangen von Wertoffenbarung und jede ethische Wertgebung, ja schon jedes grundlegende Lebensgefühl ist Reflex des Göttlichen in die Seele hinein und Ausstrahlung des gefundenen Gottes in die Welt hinaus.“ (Ebd., S. 326) Typenpsychologie und Erlebnis
Abschließend soll noch auf Sprangers Versuch einer Typenbildung eingegangen werden, weil diese auch auf ein vertieftes Verständnis der Pädagogik zielte. Bereits die oben angesprochene Typisierung der Geschlechter steht in dem Zusammenhang einer „Typenpsychologie“, wie Spranger dies nannte. Am Ende seines Buches entfaltete er anhand von Gegensätzen Typen des jugendlichen Lebensgefühls, wobei er von der Bedeutung des Erlebnisses und der Orientierung an Werten ausging. Das Erlebnis ist ein zentraler Begriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und Spranger betrachtete es als Teil der Entwicklung. Insofern ist ein Erlebnis bei Spranger stets das, was zum Aufbau des Geistes beiträgt, Kräfte unterstützt und was unterschiedlich in den gesamten Lebensvollzug und vor allem in die persönliche Wertstruktur eingreift: „Der Grad dieser Erlebnisfähigkeit ist der Grad der persönlichen Plastizität; die Stellen dieser Erregbarkeit sind die Stellen, an denen die Hebel des Selbstbildungstriebes oder des fremden Bildungswillens ansetzen müssen.“ (Ebd., S. 329)
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Ausgehend von den Erscheinungsformen vornehmlich der bürgerlichen Jugend legte Spranger seine sieben Typen dar: – der ästhetische Schwärmer, der vom Körpergefühl der Vitalität ausgeht und dem es um den Wert des Schönen geht; – der Berufsfreudige, der sich am ökonomischen Wert ausrichtet; – der Problematiker, für den die Theorie wichtig ist; – der Tatendurstige, der sich am Machtwillen orientiert; – der Liebevolle, der sich an der Sympathie orientiert; – der religiöse Typus und – der ethische Enthusiast, bei dem das Religiös/Sittliche dominiert. Spranger nahm diese Typologisierung allerdings nicht auf empirischer Basis vor und zeigte auch keine Sensibilität für eventuelle Mischformen. Sein Maßstab der Einteilung basierte auf der bereits beschriebenen normativen Ausrichtung. Spranger formulierte schließlich den Anspruch, ein normativ orientiertes Lehrbuch verfassen und so einen substanziellen Beitrag für die pädagogische Praxis leisten zu können. Er knüpfte damit im Vergleich zu Bernfeld und Bühler weitaus am Stärksten an die pädagogische Intention der pädagogischen Jugendkunde an. Die hohe Auflage seines Buches lässt erkennen, dass er ein Bedürfnis der Praxis zu befriedigen schien. Auch Charlotte Bühler und einige ihrer Mitarbeiterinnen, wie Hildegard Hetzer, standen dieser nicht fern. Ihr Ziel war es jedoch, auf möglichst breiter empirischer Basis zu Erkenntnissen über die Jugendphase zu kommen, ohne primär nach der pädagogischen Verwertbarkeit ihrer Erkenntnisse zu fragen. Spranger ging es um das Hineinwachsen der Einzelseele in den normativen Geist der jeweiligen Zeit und um die Höherentwicklung des Individuums zur Idealform als geistiges Formprinzip. Diese Idealform war jedoch keineswegs historisch eingebettet oder empirisch abgesichert, sie basierte auf den politischen und normativen Vorstellungen einer universitären bürgerlichen Elite, die häufig auch dem Demokratisierungsprozess in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg eher kritisch gegenüberstand. Auch das stieß auf erhebliche Kritik und zeigt erneut, wie sehr die Jugendforschung sich als Feld für wissenschaftliche und politische Auseinandersetzungen eignete. So kritisierte Siegfried Bernfeld in einem grundlegenden Artikel über den Stand der Jugendforschung sowohl das Bedürfnis der Jugend nach einem Führer als auch die Bereitschaft Sprangers zum Führertum. (BERNFELD 1927) Spranger habe die Rolle des Führers gegenüber der des Forschers in seinem Buch vorgezogen. Bei ihm herrsche deshalb ein wehleidiger, romantischer und ressentimentbelasteter Begriff von Wissenschaft vor. (Ebd., S. 13) Bernfeld setzte sich besonders mit Sprangers Begriff und Vorstellung von Psychoanalyse auseinander, und er legte dar, worin sich diese Auffassung von Freuds Theorie zur Sexualität in der Jugendphase unterschied. Er hob dies deshalb hervor, weil Spranger, aber auch andere führende Jugendforscher, der Psychoanalyse die Wissenschaftlichkeit abzusprechen versuchten. Bernfeld wollte Spranger nachweisen, dass seine Einsichten letztlich ohne die Psychoanalyse nicht möglich wären, ja uneingestanden auf dieser basierten. Man muss sich bei dieser Kritik von Bernfeld vor Augen halten, dass die Psychologie, auch die „verstehende Psychologie“ in den Zwanzigerjahren, durch die Psychoanalyse und deren Lesart psychischer Entwicklung sowie durch deren kulturtheo-
Kritik
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Entwicklung jugendtheoretischen Wissens
retische Deutungen besonders herausgefordert wurde, und umgekehrt musste sich die Psychoanalyse stets gegen heftige Angriffe aus der universitären Wissenschaft zur Wehr setzen. Dies ist ein wichtiger Hintergrund für den Diskurs über Jugend und erklärt die Schärfe des Urteils über Sprangers geisteswissenschaftlich angelegte, verstehende Jugendpsychologie. Bernfeld schloss dementsprechend den Absatz über Spranger mit einer fundamentalen Kritik: „Wir aber dürfen – bei aller Bescheidenheit – empfinden und sagen, dass er nicht Wissenschaft, nicht Psychologie betreibt, sondern Seelengemälde malt; und dass er den Aufbau einer bescheidenen psychologischen Wissenschaft durch verfrühte Totalitätsforderungen, durch unsichere Methodik und durch ,tiefe Gedanken stört.“ (Ebd., S. 35) ,
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In diesem Kapitel wurden drei Zugänge zur Jugendforschung vorgestellt und diskutiert. Sie repräsentieren auch wissenschaftstheoretische und -historische Differenzierungen. Auf Eduard Spranger und Charlotte Bühler wurde im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts häufig zurückgegriffen, während Siegfried Bernfeld erst in jüngerer Zeit intensiver rezipiert wird. Sicherlich hat das hier vorgestellte Wissen die Jugendforschung im zwanzigsten Jahrhundert markiert. Deutlich sollte geworden sein, dass es sich bei der Jugendforschung keineswegs um eine einheitliche Disziplin handelt. Interessant bleibt die Frage, wie die einzelnen Protagonisten sich zur pädagogischen Verwertbarkeit ihres Wissens verhalten haben.
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 5 gelesen haben: – Sie sollten deutschsprachige Institute der Jugendforschung und deren Vertreterinnen und Vertreter kennen. – Sie sollten wissen, was Siegfried Bernfeld mit einem Archiv für Jugendkultur bezweckte. – Sie sollten wissen, was Bernfeld mit dem „naiven Begriff von Jugend“ meinte und wie er die „gestreckte Pubertät“ definierte. – Sie sollten die „negative Phase“ in der Theorie Charlotte Bühlers beschreiben können. – Sie sollten zwischen der „primitiven Pubertät“ und der „Kulturpubertät“ nach Bühler unterscheiden können. – Sie sollten wissen, welche wissenschaftliche Richtung Eduard Spranger vertrat. – Sie sollten die Vorwürfe von Paul Lazarsfeld und Bernfeld an Sprangers Jugendtheorie nennen können. – Sie sollten wissen, was Spranger unter dem Formtrieb und der Sinnstruktur verstand. – Sie sollten die von Spranger entwickelten Typen kennen und aufzählen können.
Geisteswissenschaftliche Pädagogik
Weiterführende Literatur zu Kapitel 5: DUDEK, PETER (1990): Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890–1933. Opladen. Siehe Kapitel 4. DUDEK, PETER (2002): Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Klinkhardt: Bad Heilbrunn 2002. Der Jugendforscher Peter Dudek legt mit dieser Monographie eine Studie vor, in der insbesondere Jugendphase, Jugendkultur und frühe theoretische Reflexionen anhand zweier wichtiger und interessanter Protagonisten aufgearbeitet und entfaltet werden. Ein sehr lesenswertes und gut verständliches Buch. PRIEM, KARIN (2000): Bildung im Dialog. Eduard Sprangers Korrespondenzen mit Frauen und sein Profil als Wissenschaftler (1903 – 1924). Köln. Karin Priem ist sowohl in der historischen Bildungsforschung als auch in der erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung versiert. Ihre lesenswerte Studie beleuchtet die pädagogische Theoriebildung in der Formations- und Etablierungsphase des Faches. Sehr interessant ist dabei der Einfluss von Frauen auf das Schaffen Eduard Sprangers.
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D. Sozialwissenschaftliche Jugendforschung 6 Jugend als Bildungsmoratorium 6.1 Psychoanalytisch orientierte Jugendtheorien im Lichte gesellschaftlicher Veränderungen In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich die Vorstellung durch, Jugend generell als Zeit für Bildung, Ausbildung, Entwicklung und Identitätsbildung anzusehen. Trotzdem wurden dadurch keine homogenen Lebensbedingungen geschaffen. Der Jugendalltag verlief für Jungen und Mädchen, für Jugendliche aus eher bürgerlich oder eher sozial schwachen Milieus keineswegs gleich, die Chancen und Risken im Prozess des Aufwachsens blieben unterschiedlich verteilt. Daran hat sich im Wesentlichen bis in die Gegenwart hinein wenig verändert. Trotzdem konnte sich die Normalitätsvorstellung bzw. die Erwartung durchsetzen, dass Jugend als ein psychosoziales Bildungsmoratorium zu gestalten sei. Dieser Begriff geht auf den Jugendtheoretiker und Analytiker Erik H. Erikson zurück. Ihm und seiner theoretischen Konzeption ist ein großer Teil dieses Kapitels gewidmet, nicht zuletzt deshalb, weil Erikson auch in der Erziehungswissenschaft einflussreich war (6.2). Da auch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Psychoanalyse nicht ohne Bedeutung für die Weiterentwicklung der Jugendforschung war, aber vor allem Erikson der neueren Psychoanalyse nahe stand, sollen im ersten Teil einige Ausschnitte psychoanalytischer Jugendforschung dargelegt werden (6.1). So gehörte sie zwar zu keiner Zeit zu den Hauptströmungen, gleichwohl drangen einige psychoanalytische Sichtweisen selbst in unser Alltagswissen über Jugend ein.
6.1.1 Anna Freud: Das Drama der Adoleszenz Fortführung
Bernfeld hatte im direkten Rückgriff auf Freud seine Überlegungen zur Jugend- und Erziehungstheorie entfaltet und darüber hinaus sensibel die Bedeutung des sozialen Milieus für die Pubertät dargelegt. Damit konnte er zeigen, dass Arbeits-, Liebes- und Genussfähigkeit an soziale Orte gebunden sind und diese auch den Verlauf der Pubertät im hohen Maße beeinflussen. Für die Jugendforschung sind vor allem „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ und „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (beide 1905) von Sigmund Freud wichtig. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich die psychoanalytisch ausgerichtete Jugendtheorie zunächst durch die Tochter Freuds, Anna Freud, und dann im angloamerikanischen Kontext weiter. So gründete Anna Freud 1945 beispielsweise das Jahrbuch „The Psychoanalytic Study of the Child“, in dem die Weiterentwicklung der Jugendforschung dokumentiert wurde.
Psychoanalytische Jugendtheorien
Anna Freud rückte die Dynamik zwischen Trieb und sozialer Beziehung in den Mittelpunkt und bezeichnete sie als „Objektbeziehung“. Die Adoleszenz ist für sie mit radikalen, ja dramatischen Leiden verbunden. Vor allem verwies Anna Freud auf die extremen Ängste der Adoleszenten, die ein Schwanken zwischen Extremen erzeugen würden. Dadurch sei der junge Mensch zwischen großer Begeisterung und tiefer Verzweiflung, zwischen großer Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit hin und her geworfen. (FREUD 1958) Vor diesem Hintergrund definierte Anna Freud die Jugendphase als starke Erschütterung des ruhigen Wachstumsprozesses der ersten Schulkindjahre und damit als eine Zeit der Krise von hoher Dramatik. Außerdem interessierte sie an der Jugendphase die Abwehr gegen sexuelle Impulse und gegen die Elternbindung sowie die Neuausrichtung der Libido auf Objekte außerhalb der Familie. Das „Drama der Adoleszenz“ spielt sich laut Anna Freud maßgeblich im familiären Umfeld ab.
Schwanken zwischen Extremen
6.1.2 Peter Blos: Der Phasentheoretiker Der Psychoanalytiker Peter Blos (1962/1983; 1979) knüpfte an Anna Freuds Konzept an und führte es wirkungsvoll weiter. Seine Theorie der unterschiedlichen Phasen in der Adoleszenz als Ablauf einer „normalen“ Jugendentwicklung wurde auch in der Erziehungswissenschaft rezipiert. Wie muss man sich seine Grundkonzeption vorstellen? Blos betonte die zeitliche Dimension, den Prozesscharakter der Adoleszenz, und teilte diese in insgesamt sechs Phasen ein, die jeweils einen markanten Übergang bezeichnen. Die Phasen folgen entwicklungslogisch aufeinander, und sie gehen idealtypisch jeweils aus der früheren Phase hervor. Das heißt, keine Phase kann übersprungen werden. Welches sind nun die Phasen, die Peter Blos in seiner Adoleszenztheorie entwickelte? 1. Latenzzeit: Bei ihr handelt es sich um die Zeit der späten Kindheit, in der die Triebstruktur an zahlreiche Außenaktivitäten gebunden und die Identifikation mit den Eltern unproblematisch ist. In der Latenzzeit geht es um Erfahrungen des eigenen Könnens und der eigenen Produktivität. 2. Präadoleszenz: Auf die Latenzzeit folgt eine der ersten Verunsicherungen durch Vorformen der genitalen Sexualität. Die Präadoleszenz umfasst das Alter zwischen zehn und zwölf Jahren und erzeugt bei Mädchen und Jungen eine deutliche Distanzierung von gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen. Bei beiden Geschlechtern entsteht eine wachsende Distanzierung von den Eltern und der mit ihnen verbundenen und bislang anerkannten Normen und Werte. 3. Frühadoleszenz: Sie ist zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren angesiedelt. In dieser Phase kommt es schließlich zu unterschiedlichen Formen der Regression. (FEND 2000) Was bedeutet das? Einmal errungene Eigenschaften oder Haltungen scheinen verloren zu gehen und der Frühadoleszente scheint einen Rückschritt zu machen. 4. Mittlere Adoleszenz: Dies ist die Phase zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren. Ab diesem Zeitpunkt ist die libidinöse Bindung an die Eltern nahezu vollständig in den Hintergrund gerückt, und an ihre Stelle sind die
Prozesscharakter der Adoleszenz
Vorstellung der sechs Phasen
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Orientierung an Gleichaltrige und eine libidinöse Bindung an außerfamiliäre Personen getreten. Die Psychoanalyse erklärt die Notwendigkeit, sich von den Eltern ab- und anderen zuzuwenden, auch mit dem kulturell wichtigen Inzesttabu. 5. Späte Adoleszenz: Sie liegt zwischen achtzehn und zwanzig Jahren. Mit dieser Phase beginnt bei Blos die aktive Identitätsarbeit, weil erst ab diesem Zeitpunkt die Triebstruktur an Eindeutigkeit und das Ich-Ideal Bodenhaftung gewonnen haben. 6. Postadoleszenz: Da sich unter historischen Veränderungen und der Modernisierung des Aufwachsens die Jugendphase verlängert zu haben scheint, kann die letzte Phase bis fünfundzwanzig Jahre gehen. Letztlich handelt es sich um einen Abschnitt, in dem anhand konkreter Lebensbewältigungsaufgaben die Identitätsarbeit weiter fortgeführt wird. Auch in der Phasentheorie von Peter Blos, der im Übrigen ein Freund und Kollege von Erik Erikson war, zeigt sich, dass man lange von einer im Erwachsenenalter voll entwickelten Identität ausging. Das wird in der neueren Forschung hinterfragt und ist einer der Kritikpunkte an psychoanalytischen und anderen phasen- und entwicklungstheoretischen Jugendtheorien.
6.1.3 Mario Erdheim: Diskussionen über eine „zweite Chance“ Zum Zusammenhang von Kindheit und Jugend
Grundsätzlich besteht in jedem psychoanalytischen Entwicklungsmodell ein enger Zusammenhang zwischen der Vorstellung von Kindheit und der von Jugend. So resultiert die jeweilige Interpretation der Adoleszenz aus der Konzeption und Gewichtung von Kindheit. Dies hatten wir bereits bei Rousseau deutlich gesehen. Der psychoanalytische Adoleszenztheoretiker Mario Erdheim beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Betrachtete man Symbiose und Individuation als von aggressiven und libidinösen Trieben gelenkte Prozesse der frühkindlichen Entwicklung, so wurde die Grundproblematik der Adoleszenz als eine Wiederaufnahme der frühkindlichen Konflikte interpretiert. Arbeitete man hingegen mit der Bindungshypothese, so betonte man die Kontinuität der Bindungsentwicklung.“ (ERDHEIM 2002, S. 69 f.)
Kritik am Determinismus
Unter anderem durch den legendären Psychoanalytiker René Spitz hatte sich die Psychoanalyse mit der Kommunikation des Säuglings mit seiner Umwelt und deren Störungen befasst. Daneben entwickelte John Bowlby die bis heute vielfältig diskutierte Bindungstheorie, die besagt, dass der Mensch in seiner Entwicklung nicht primär nach Lust, sondern nach Sicherheit und Geborgenheit strebe. Dadurch entstand zunächst ein ganz neues Bild der frühen Kindheit (vgl. dazu auch DORNES 1993). Auf diese nur grob skizzierten Ansätze basiert das Urteil Erdheims über die daran jeweils anschließende Vorstellung der Jugendentwicklung. Insbesondere die Vorstellung eines Determinismus der frühen Kindheit mit ihrer Wirkung auf das gesamte Leben, also die Idee, die biographische Vergangenheit wirke linear auf die Gegenwart ein, ist häufig kritisiert und hinterfragt worden. Eine alternative theoretische Lesart, durch die die Bedeutung der Adoleszenz neu gewichtet wurde, ist die der Nachträglichkeit. (ERDHEIM 1993)
Jugend als psychosoziales Bildungsmoratorium
Diese Konzeption besagt im Unterschied zum Determinismus der frühen Kindheit, dass man Adoleszenz als zweite Chance betrachten müsse. (EISSLER 1958/1966) Durch diese zweite Chance habe das jugendliche Individuum die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln und so zu neuen Interpretationen früherer Erfahrungen zu gelangen. Die so genannte Latenzzeit, die Phase zwischen früher Kindheit und Jugend, schafft in dieser Theorie überhaupt die Voraussetzung, dem Determinismus zu entkommen, weil ein zeitlicher Abstand prinzipiell Distanz und Neubewertung ermöglicht. Gelingt diese Neuinterpretation nicht, so ist die Voraussetzung für eine Kumulation des Traumas gegeben, dann wirken sich die frühen Defizite der Kindheit aus. Es können Neurosen oder Psychosen entstehen. (Siehe auch FEND 2000) Erdheim charakterisiert den gesamten Vorgang mit folgenden Worten: „Während der Adoleszenz bildet sich eine neue bedeutungsgebende Struktur heraus, die sowohl vergangenheitsorientiert ist, indem sie andere Bedeutungen aus den positiven und negativen Erfahrungen der Kindheit herausholt, als auch zukunftsbezogen, indem sie Erwartungen erzeugt, die die Zukunft beeinflussen werden. Die Adoleszenz wird damit auch zur kulturellen Produktivkraft in dem Sinn, als die Erfahrungen dieser Phase das Reservoir bilden, aus dem das Individuum psychische Energie für das Mitwirken am Kulturwandel ziehen kann.“ (ERDHEIM 2002, S. 71)
Die Geschlechterforschung machte darauf aufmerksam, dass sich die Vorstellung einer „zweiten Chance“ nahezu ausschließlich an männlichen Biographien orientierte. So wies beispielsweise die Soziologin und Geschlechterforscherin Karin Flaake (1989) darauf hin, um wie viel schwerer es für Mädchen sei, die zweite Chance konstruktiv für den Ausbau ihres Selbstbewusstseins zu nutzen. Insgesamt gehört seit einigen Jahren die psychoanalytisch angelegte Geschlechterforschung zu einem innovativen Bereich der Jugendforschung, ebenso wie Untersuchungen zur Jugendgewalt. Auch dabei geht es unter anderem um die Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Widersprüche für den Verlauf adoleszenter Krisen. In diesem Zusammendenken von gesellschaftlicher und psychischer Entwicklung der Subjekte sowie in der psychoanalytischen Betrachtung von Bindungen in Familien und pädagogischen Institutionen lag stets eine große Bereicherung erziehungswissenschaftlicher Jugendforschung. Gleichwohl führt insgesamt die psychoanalytische Pädagogik disziplinär eher ein randständiges Dasein, wohingegen ihre Denk- und Deutungsfiguren einflussreich geblieben sind.
6.2 Jugend als psychosoziales Bildungsmoratorium: Erik H. Erikson 6.2.1 Biographie und Identität Kaum ein psychologischer Fachbegriff ist so selbstverständlich in andere Disziplinen und auch in die Alltagssprache übernommen worden wie der Begriff der Identität, der für die Jugendforschung maßgeblich von Erik Homburger Erikson geprägt wurde. (1959/1981) Der Entwicklungspsychologe August Flammer (2002) schätzt die Bedeutung von Erikson für die Jugendforschung
Perspektive der Geschlechterforschung
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deshalb hoch ein, weil dieser deutlich gemacht habe, wie sehr das Individuum mit der sozialen Umwelt in wechselseitiger Verbindung stehe: „Er [Erikson, S. A.] beschrieb das Individuum weniger als ein isoliertes Opfer seiner (erzieherischen) Umgebung denn als Person, die mit der sozialen Umwelt im Austausch steht und sich dadurch und mit ihr entwickelt.“ (FLAMMER 2002, S. 55) Biographische Aspekte
Nach dem Abitur ermöglichte Erikson sich selbst ein etwa siebenjähriges Moratorium, in dessen Verlauf er sich beruflich, künstlerisch und menschlich orientierte. Bereits am Gymnasium in Karlsruhe hatte er sich mit Peter Blos angefreundet. Dieser studierte in Wien und holte seinen inzwischen fünfundzwanzigjährigen Freund in die Stadt der Psychoanalyse, um mit ihm eine Privatschule für amerikanische Kinder zu gründen. In dieser Schule arbeitete Erikson als Lehrer, der, ohne ein Studium oder eine Ausbildung zu haben, reformpädagogische Ideen umzusetzen versuchte. Seitdem war für ihn das von Anna Freud eingerichtete kinderanalytische Seminar interessant, weil die Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik durch die alltägliche und gezielte Beobachtung von Kindern inspiriert wurde. Erikson nahm die psychoanalytische Ausbildung auf sich und absolvierte mit Hilfe eines Stipendiums die Lehranalyse bei Anna Freud. (CONZEN 1996) Sein Biograph Peter Conzen zeichnet deutlich nach, wie sich Eriksons Einstellung zur Psychoanalyse entwickelte und sich allmählich auf Fragen der Identität konzentrierte: „Erikson begann, die Psychoanalyse als künstlerisches und wissenschaftliches Verfahren zugleich aufzufassen.“ (Ebd., S. 23) Nach der Emigration in die USA 1933 wurde Erikson dort als erster Kinderanalytiker tätig und als nicht ausgebildeter Mediziner in die medizinische Fakultät von Harvard aufgenommen. Dort schloss er sich dem Bestreben vieler amerikanischer Intellektueller an, die soziale Einbettung des modernen Menschen in den Blick zu nehmen. Interessant für die Geschichte der Psychoanalyse ist, wie Conzen herausarbeitet, dass Erikson durch seine kulturanthropologische Feldforschung bei den Sioux-Indianern auf deutliche Grenzen der an der europäischen Kultur entwickelten Erkenntnisse der Psychoanalyse stieß. Für die Jugendforschung relevant war, dass er Freuds Phasen der infantilen Sexualität als Teil des psychosozialen Hineinwachsens in verschiedene kulturelle Umwelten ansah. (CONZEN 1996, S. 27)
6.2.2 „Kindheit und Gesellschaft“ Subjekt und Gesellschaft im Wechselprozess
In der Veröffentlichung seines Buches „Kindheit und Gesellschaft“ (1950), das ihn weit über die USA hinaus bekannt machte, entwickelte Erikson zentrale Ansätze einer Sozialpsychologie. Von evolutionstheoretischen Vorstellungen ausgehend, verdeutlichte er den engen Wechselprozess des Subjekts mit gesellschaftlichen Institutionen. Dieser sei jedoch störanfällig auf beiden Seiten, denn nirgendwo gebe es eine reibungslose Erziehung oder eine konfliktfreie Gesellschaft. Zentral für den theoretischen Zugang Eriksons sind in „Kindheit und Gesellschaft“ seine Ausführungen über das Zusammenwirken des menschlichen Lebenszyklus mit dem Zyklus ganzer Volksgemeinschaften. Ihm ging es dabei um die einander ergänzenden und wechselseitig be-
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einflussenden psychosexuellen und psychosozialen Betrachtungsweisen und deren jeweilige Bedeutung für die Entwicklung des Ichs. Die Psychoanalyse differenzierte nach Sigmund Freud zwischen drei Instanzen des Menschen, und zwar zwischen dem Es, dem Ich und dem ÜberIch. Das Es ist die Triebinstanz und enthält mit seinen sexuellen und aggressiven Energien Teile des Unbewussten. Das Es liegt im ständigen Kampf mit dem Über-Ich. Dieses ist die an Zivilisation und Kultur ausgerichtete moralische Instanz, deren Ausbildung sehr stark von Erziehung abhängt. Das Ich, und dafür interessierte sich Erikson im Besonderen, hat die Aufgabe, zwischen beiden zu vermitteln und ist insofern eine realitätsnahe Instanz. Erikson ging es um Folgendes:
Ich, Es und Über-Ich
„Ich kann deshalb auf Grund fallgeschichtlicher und lebensgeschichtlicher Erfahrungen nur von der Annahme ausgehen, dass die Existenz des Menschen in jedem Augenblick von drei Organisationsprozessen abhängt, die sich gegenseitig ergänzen. Es handelt sich, in beliebiger Reihenfolge, um den biologischen Prozeß einer hierarchischen Organisation der Organsysteme, die einen Körper (Soma) bilden; um den psychischen Prozeß, der die individuelle Erfahrung durch Ich-Synthese (Psyche) organisiert; und schließlich um den gesellschaftlichen Prozeß der kulturellen Organisation der wechselseitigen Abhängigkeit von Personen (Ethos).“ (ERIKSON 1988, S. 27)
Bei der Ausbildung und Stabilisierung der Ich-Instanz schrieb Erikson später der Jugendphase eine bedeutsame Rolle zu. Dabei integrierte er jedoch jede einzelne Phase in sein gesamtes Lebenslaufmodell, das er auch in „Kindheit und Gesellschaft“ präsentierte. Erst gegen Ende seines Lebens machte der Wissenschaftler auf die historische Relativität theoretischer Auseinandersetzungen mit den Altersphasen aufmerksam. Je nach gesellschaftlicher Problemlage, so Erikson, setzte sich die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert mit den Lebensabschnitten im Einzelnen oder mit dem Zyklus als Ganzem auseinander. Während gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Konzentration auf das Alter zugenommen habe, weil der demographische Wandel, wie wir ihn derzeit auch diskutieren, sich dort bereits abzeichnete, habe es zwanzig Jahre zuvor eine intensive Beschäftigung mit der Jugendphase gegeben: „In den sechziger Jahren, der Zeit einer nationalen Identitätskrise, die sich in dramatischer Weise im öffentlichen Verhalten eines Teils unserer Jugend reflektierte, galt unsere ganze Aufmerksamkeit der adoleszenten Identitätskrise, die im Zentrum der Entwicklungsdynamik des Lebenszyklus steht.“ (Ebd., S. 10)
Erikson selbst begann schon ab Mitte der Fünfzigerjahre mit seiner intensiven Forschung über die Jugendphase und publizierte zwischen 1954 und 1963 eine Reihe von Artikeln zu dieser Thematik. Diese erschienen 1968 gesammelt in seinem Buch, dessen Titel und Inhalt die darauf folgende Jugendforschung lange inspirieren sollte: „Jugend und Krise“ (1968/1998). Dieses Werk, so sein Biograph Conzen, habe Erikson zu einem international renommierten Jugendforscher gemacht. (CONZEN 1996)
Historisch unterschiedliche Gewichtung
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6.2.3 Konflikt und Krise in Eriksons Lebenslauftheorie Epigenese der Identität
Konflikt als Motor der Entwicklung
Eriksons Entwicklungslogik
In „Jugend und Krise“ nahm Erikson die Darstellung seiner schon 1953 entwickelten „Epigenese der Identität“ im Lebenszyklus wieder auf. Epigenese ist ein naturwissenschaftlicher Begriff, der das schrittweise Wachstum von etwas Einfachem zu etwas Höherem nach einem festgelegten Plan beschreibt. Sie bildet den Kern auch weiterer Schriften, so zum Beispiel in Eriksons Biographie über den jungen Martin Luther (1958). Erikson orientierte sich an der von Freud hervorgebrachten Sichtweise der Konflikthaftigkeit menschlicher Entwicklung, das heißt, dass weder eine ideale Erziehung noch perfekte soziale Umstände und eine unerschütterliche physische und psychische Gesundheit für ein harmonisches Aufwachsen sorgen können. Er teilte den Lebenslauf in acht zusammenhängende und konflikthaft verlaufende Phasen auf. In diesen acht Phasen beschrieb Erikson schließlich die Grundprobleme der menschlichen Existenz und die in jeder Phase neu eintretenden Entwicklungskrisen. Erikson fokussierte bei der Epigenese der Identität weniger einen biologischen, sondern vielmehr einen persönlichkeitstheoretischen Vorgang. Er charakterisierte damit eine Entwicklungslogik, die man sich als Abfolge verschiedener Phasen durch etwas in jeder Phase neu Hinzukommendes vorstellen muss. Wie ist das zu verstehen? „Ich werde das menschliche Wachstum vom Standpunkt der inneren und äußeren Konflikte aus darstellen, die die vitale Persönlichkeit glücklich übersteht, die aus jeder Krise mit einem erhöhten Gefühl der inneren Einheit hervorgeht, mit einer Zunahme an guter Urteilsfähigkeit und einer Zunahme der Fähigkeit, ,etwas zustande zu bringen‘, entsprechend ihren eigenen Maßstäben und den Maßstäben derer, die für sie bedeutsam sind.“ (ERIKSON 1968/1998, S. 91)
Krisenverständnis
Motor der Entwicklung ist die jeweils zu bewältigende Krise, die für den einzelnen Menschen zwischen Geburt und Tod stets sowohl Chancen der Bewältigung als auch Risiken der Abweichung enthält. Jede Phase ist demnach durch ein spezifisches Spannungsfeld gekennzeichnet, durch zwei Pole, die einander gewissermaßen konkurrierend gegenüberstehen. Krise gebraucht Erikson in einem entwicklungsmäßigen Sinn, weshalb man darunter nicht die alltagssprachliche Verwendung verstehen darf. Krise ist bei ihm nicht der Hinweis auf eine bevorstehende Katastrophe, sondern bezeichnet einen Wendepunkt im Lebenslauf. Diesen krisenhaften Wendepunkt versteht der Jugendtheoretiker als „eine entscheidende Periode vermehrter Verletzlichkeit und eines erhöhten Potentials“. (Ebd., S. 96) Für die Entwicklung der Persönlichkeit ist die Krise einer jeden Phase die Quelle für „Stärke oder Fehlanpassung in der Generationenfolge“. (Ebd.)
6.2.4 Zu den acht Lebensphasen Zum genetischen Grundplan
Wenn man sich mit Erikson als Jugendtheoretiker beschäftigt, muss man sich darüber im Klaren sein, dass seine Jugendtheorie in das Lebenslaufmodell eingebettet ist. Alle Phasen basieren zudem auf einem genetischen Grundplan, der jedoch keine feststehenden Entwicklungsresultate vorgibt. Dieser
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Grundplan bedingt, dass in der Jugendphase das Erlebte der Kindheitsphasen nachwirkt und sich bereits Lebensthemen über die Jugendphase hinaus andeuten. Man kann demnach keine Phase isolieren, weil stets der Zusammenhang eine Rolle spielt und zu bedenken ist. Eriksons Biograph drückt dies folgendermaßen aus: „Das heißt: In den einzelnen Phasen wird ein Mehr oder Weniger an positiven und negativen Komponenten angelegt, ein Fließgleichgewicht, das sich in der kommenden Entwicklung immer wieder in die eine oder andere Richtung verschiebt. In allen Neuentscheidungen und Krisen werden früheste Lebenskonflikte wieder angerührt.“ (CONZEN 1996, S. 118)
Welches sind nun die acht Phasen, durch welches Spannungsfeld werden sie von Erikson beschrieben und vor allem, wie charakterisiert er die Jugendphase? Er unterteilt den Lebenszyklus in vier Kindheitsphasen, nämlich Säuglingszeit, Kleinkindalter, Kindergartenalter und Grundschulzeit und drei Phasen für das Erwachsenenalter, das junge Erwachsenenalter, mittlere Lebensjahre, das hohe Erwachsenenalter. Zwischen diesen Gruppierungen von Kindheit und Erwachsenenalter liegt die Adoleszenz. Bevor auf die damit verbundenen Merkmale eingegangen wird, sollen die einzelnen Spannungsfelder, in denen die Krise als Quelle für Entwicklung eingelagert ist, kurz skizziert werden: – Säuglingszeit: In der Säuglingszeit geht es um das Gefühl des Urvertrauens, dem die Gefahr eines Urmisstrauens gegenüber steht. Wenn das Neugeborene nicht willkommen geheißen und ihm nicht das gegeben wird, was es braucht, kann es kein Urvertrauen entwickeln. Erikson bringt das Ergebnis mit folgenden Worten auf den Punkt: „Was würden wir für das früheste und undifferenzierteste Identitätsgefühl halten? Ich würde sagen, daß es aus dem Zusammentreffen von mütterlicher Person und Neugeborenem entsteht, einer Begegnung der wechselseitigen Vertrauenswürdigkeit und des gegenseitigen Erkennens.“ (ERIKSON 1968/1998, S. 106)
– Kleinkindalter: Im Kleinkindalter stehen das Streben nach Autonomie und der Wille, man selbst zu sein, den Gefühlen der Scham und des Zweifels einander gegenüber. In der klassischen Psychoanalyse ist diese Phase durch die Erziehung zum „Trockenwerden“ der Kinder geprägt. Ein Gefühl der Selbstbeherrschung ohne Verlust der Selbstachtung hält Erikson für eine Quelle des freien Willens. „Aus dem unausweichlichen Gefühl, die Herrschaft über sich selbst verloren zu haben und einer übermäßigen Beherrschung durch die Eltern unterworfen zu sein, entspringt ein fortdauernder Hang zu Scham und Zweifel.“ (Ebd., S. 111, H. i. O.)
Diese zweite Phase hält Erikson jugendtheoretisch für bedeutsam, weil es viele Hinweise darauf gäbe, dass es in der Jugend gewissermaßen zu einer Wiederholung des frühkindlichen Kampfes um Autonomie gehe. – Kindergartenalter: Diese Phase zeichnet sich durch den Willen zur Initiative aus, weil Kinder erstmals gezielt in der Lage sind, ihre Neugier durch Engagement und Verhalten umzusetzen. Hier sind Spiel und Phantasie von zentraler Bedeutung. Da sich die Kinder zunehmend mit den Werten der Eltern zu identifizieren beginnen, können erste Schuldgefühle entstehen. Bei Erikson ist der Motor der Initiative des Kindes sein Gewissen, die innere Stimme, und damit der ontogenetische Grundstein der Moral.
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– Grundschulalter: In dieser Zeit geht es um die Identifikation mit der Aufgabe, dem „Werksinn“ des Kindes, seiner Schaffensfreude weit über die Schule hinaus und der Gefahr der Minderwertigkeitsgefühle:
„Die Weisheit des Grundplans fügt es so, dass das Kind zu keiner Zeit derartig bereit ist, schnell und begierig zu lernen, groß zu werden im Sinne der Übernahme von Verpflichtungen, Disziplin und Leistung als am Ende der Periode der expansiven Phantasie.“ (Ebd., S. 125)
Minderwertigkeitsgefühle bilden als Entfremdung von sich selbst und den anstehenden Aufgaben die zentrale Gefährdung dieser Phase. Anhand der Gefahrenpotenziale entfaltet Erikson Vorstellungen über gute Lehrkräfte in den Schulen und verweist auf die nachhaltige Wirkung, die einmal erzeugte Minderwertigkeitsgefühle für den gesamten Entwicklungsverlauf besitzen. Damit nimmt er innerhalb der psychoanalytischen Theorie eine Aufwertung der Latenzzeit und ihres Beitrags zur Ich-Stärkung vor. Erikson vertritt die These, dass kulturhistorisch die Arbeit bzw. die kulturelle Produktion stets unverzichtbar für die Identität der Menschen war. – Adoleszenz: Im nächsten Kapitel wird ausführlich auf Entwicklungsaufgabe und Krisenpotenzial dieser Phase eingegangen. In ihr geht es um die Herausbildung und Festigung von Identität. – Das junge Erwachsenenalter (Postadoleszenz): Die erste Krise nach der Adoleszenz sei die der Intimität, denn erst nach weitgehender Ausbildung einer Identität sei „echte Intimität“ (Ebd., S. 138) als Verschmelzung von verschiedenen Identitäten möglich. Erikson denkt hier an eine wechselseitige psychosoziale Intimität, aber nicht nur in einer erotischen Liebesbeziehung, sondern auch in der Freundschaft oder der gemeinsamen Begeisterung für etwas. „Der Jugendliche, der seiner Identität nicht sicher ist, scheut vor der zwischenmenschlichen Intimität zurück oder stürzt sich in intime Akte, die promiskuös ohne echte Verschmelzung oder wirkliche Selbstaufgabe sind. Wo ein Jugendlicher solch intime Beziehungen mit anderen … nicht in der späten Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter erreicht, kann er sich unter Umständen auf weitgehend stereotypisierte zwischenmenschliche Beziehungen festlegen und zu einem tiefen Gefühl der Isolierung kommen.“ (Ebd., S. 139, H. i. O.)
Das junge Erwachsenenalter kann demnach noch in die jugendtheoretischen Überlegungen mit einbezogen werden. Es handelt sich um die Postadoleszenz, in der man durch Isolierung und extremer Distanz zu anderen in seiner weiteren Persönlichkeitsentwicklung schwer gestört werden kann. Eriksons normative Annahme besagt, dass eine geglückte Intimität eine wesentliche Voraussetzung für Gesundheit und Zufriedenheit im Erwachsenenalter ist. Demnach misst er privaten Beziehungen für die gelungene Persönlichkeitsentwicklung einen hohen Stellenwert bei. Abhängigkeit und Reife seien dabei reziprok, denn der reife Mensch habe das Bedürfnis, dass man seiner bedarf. – Mittlere Lebensjahre: Aus dem zuletzt geschilderten Zusammenhang erklärt sich bei ihm auch das Interesse im Erwachsenenalter, „die nächste Generation zu begründen und zu führen“. (Ebd., S. 141) Generativität nennt Erikson dieses Bedürfnis, das sich aus der gemeinsamen Intimität ergibt und das den Kern der mittleren Lebensjahre bildet. Sexualität und Beruf würden den Erwachsenen auf Dauer nicht zufrieden stellen. Eigene Kinder, mehr als alle Ersatzphänomene, stellten eine ontogenetische Bereicherung dar:
Jugend als psychosoziales Bildungsmoratorium „Wo diese Bereicherung misslingt, findet eine Regression auf ein zwanghaftes Bedürfnis nach Pseudointimität statt, oft mit einem durchdringlichen Gefühl der Stagnation, Langeweile und zwischenmenschlichen Verarmung.“ (Ebd.)
Allgemeiner gesprochen geht es Erikson hier um die Verantwortung, die man in dieser Lebensphase für den Fortbestand der Gesellschaft übernimmt, zum einen aus einer Sorge um die Welt zum anderen aber, weil der Lebenssinn dieser Phase mit dem Maß der Verantwortung korrespondiert. – Hohes Erwachsenalter: Im hohen Erwachsenenalter sieht Erikson den Menschen mit der Aufgabe konfrontiert, seinen Lebensweg gewissermaßen souverän abzurunden und ihm Sinnhaftigkeit zu verleihen. Die Krise ist mit dem Begriff Integrität bezeichnet und ihr gegenüber stehen die Gefahren der Verzweiflung und des Ekels. Verzweiflung angesichts der Begrenztheit des Lebens und chronischer Ekel oder Missbilligung gegenüber Institutionen oder Menschen: „Hier nimmt die Stärke die Form jenes distanzierten und doch aktiven Interesses an, das durch den Tod gebunden ist, das wir Weisheit nennen – Weisheit in ihren vielen Bedeutungen vom ,gereiften Verstand bis zum angesammelten Wissen, der reifen Urteilsfähigkeit und dem allumfassenden Verstehen.“ (Ebd., S. 144) ,
Peter Conzen betont, dass es Eriksons Verdienst sei, das Alter, das zuvor nur als Phase des Abbaus betrachtet worden sei, ins Blickfeld der Psychologie gerückt zu haben. Eine angemessene Betrachtung seiner einflussreichen Jugendtheorie kann, das sollte dieser Abschnitt belegen, nur im Licht der gesamten Lebensphasen erfolgen. Die Krisen und die damit verbundenen Hinwendungen des Individuums zu seiner Innen- und Außenwelt greifen im Lebenslauf vor und zurück, so dass die von Erikson beschriebenen Krisen zwar idealtypisch in einer Phase existenzialistisch wirksam werden, aber durchaus zuvor in irgendeiner Form präsent waren oder später Thema werden. Das pädagogische Wissen zentrierte sich um Eriksons Krisenbegriff in der Jugendphase, die – wie gesehen – zwischen mehreren Kindheits- und Erwachsenenphasen liegt und je nach kulturellem, sozialem und historischem Kontext sich in der Grundschulphase mehr oder weniger stark ankündigt und sich auf die frühe Erwachsenenphase ausdehnt. Auch wenn die Adoleszenz eingebettet ist und sich ihr Verlauf aus dem Lebenslaufmodell erschließt, kommt ihr in Eriksons Theorie ein großer Stellenwert zu, weil sie das Thema Identität beinhaltet. Zur Ausbildung der Identität gestaltete sich im historischen Prozess Jugend als „psychosoziales Bildungsmoratorium“. In den folgenden Abschnitten geht es um Identität, Krise und Moratorium.
6.2.5 Die Jugendphase im Lebenslauf: Ich-Identität Was versteht Erikson unter der Ich-Identität? In Abgrenzung zu Freud interessierte er sich für die bewussten Anteile der Person und für das „Ich“ als Bezugspunkt des Willens, wobei bei ihm das „Ego“ die unbewussten Anteile repräsentiert. An dieser Stelle ist eine weitere Unterscheidung für die Identitätstheorie wichtig: Erikson fügte eine Differenz zwischen „Ich“ und „Selbst“ ein: während das Ich die beobachtende und reflektierende Instanz der Person ist, repräsentiert das Selbst den vom Ich beobachteten Teil. Das Selbst ist bei
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Der jugendliche Identitätsbildungsprozess
Entstehung von Identität
Erikson der sich verändernde Gegenstand der Reflexion. Den Begriff der Identität benutzt er meist als Ausdruck für das Verbundensein von Selbst und Welt. Conzen fasst dies folgendermaßen zusammen: „Zur Identität scheinen die Selbst- und Objektrepräsentanzen zu zählen, die ein Individuum als subjektiv besonders bedeutsam und ich-nahe empfindet.“ (CONZEN 1996, S. 64) Die Ich-Identität ist dann diejenige Instanz, die die Bilder und Erfahrungen des Selbst prüft, auswählt und integriert. Darin manifestiert sich für die Theorie Eriksons die Fähigkeit zur Autonomie, die durch starke Identitätskrisen im Lebenslauf besonders gefährdet ist. Aufgabe der Entwicklung ist deshalb, die eigene Identität zu finden, das heißt, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, Rollenübernahme zu leisten und eine Werthaltung vor allem hinsichtlich der Religiosität zu entwickeln. Insofern ist bei Erikson die Ich-Identität in eine soziale Identität eingebettet. Man habe es mit einem Prozess zu tun, der im Kern des Individuums lokalisiert sei, aber ebenso im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur. (ERIKSON 1968/1998, S. 18 ff.) Besonders zu beachten ist der Identitätsprozess der Jugend: „Beim pittoresken Ausschnitt der jüngeren Generation sind wir Zeugen einer erbitterten ,Identitäts-Bewußtheit‘, die nicht nur unsere Formulierungen der positiven und negativen Identität über den Haufen rennt, sondern auch unsere Annahmen hinsichtlich des manifesten und latenten Verhaltens und bewußter und unbewußter Prozesse.“ (Ebd., S. 22)
Hinsichtlich der Hervorbringung einer stabilen Vorstellung von sich selbst bekommt die Adoleszenz somit eine bedeutende Funktion für den gesamten Lebenslauf, weil der Mensch erst in dieser Phase seiner kognitiven und sozialen Entwicklung dazu in der Lage ist. Bei der Adoleszenz handelt es sich um die Zeit einer, wie Erikson dies nennt, normativen Identitätskrise, weil der Jugendliche sich unter anderem von den Identifikationen der Kindheit distanzieren muss, mit neuen fordernden gesellschaftlichen Erfahrungen konfrontiert ist und sich zu seiner Sexualität verhalten muss. In diesen Überlegungen liegt ein Grund für die Attraktivität von Eriksons Jugendtheorie weit über die Psychoanalyse und seine Zeit hinaus. Die Entstehung von Identität als Teil der Jugendphase sozialwissenschaftlich zu untersuchen, nahmen sowohl die soziologische, die psychologische als auch die pädagogische Jugendforschung in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts auf. Für Erikson konnte sich die Identität im Erwachsenenalter nur noch bedingt verändern, eine Annahme, die inzwischen heftig bestritten wird. Aber vor diesem Hintergrund erschließt sich das Gewicht der Jugendphase für den gesamten Lebenslauf eines Menschen in seiner Theorie. „Die endgültige Identität, wie sie am Ende der Adoleszenz feststeht, ist also jeder einzelnen Identifizierung mit Individuen der Vergangenheit übergeordnet: sie schließt alle bedeutsamen Identifizierungen in sich, aber sie verändert sie auch, um ein einzigartiges und entsprechend zusammenhängendes Ganzes aus ihnen zu machen.“ (ERIKSON 1959/1981, S. 165)
Dass ein solcher Vorgang durchaus krisenhaft erlebt wird, liegt auf der Hand. Zudem betrachtet Erikson die als kritisch erlebte Identitätsbildung der Jugendzeit als Generationenproblem. Die ältere Generation müsse, damit
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sich die Gesellschaft weiterentwickelt, „kraftvolle Ideale“ zur Verfügung stellen, an denen sich die Identitätsbildung der jüngeren Generation erproben kann. In diesem Spannungsfeld liegen insbesondere die Konflikte der Jugendlichen mit ihren Eltern begründet.
6.2.6 Die Jugendphase im Lebenslauf: Krise Eine Gesellschaft, die wisse, wie schnell sich junge Menschen in ihren stärksten Neigungen ändern können, sei zur Gewährung eines Moratoriums als Spanne zwischen abgeschlossener Kindheit und den späteren Taten und Werken der erwachsenen Persönlichkeit, bereit. Was in modernen Gesellschaften allmählich zur Norm der Jugendgestaltung werden konnte, war in früheren Gesellschaften eher ein Privileg. So habe für Mönche wie Martin Luther die Zeit im Kloster auch ein solches Moratorium sein können. In seiner Studie über Kindheit und Jugend Martin Luthers (1958) zeigt Erikson am konkreten Beispiel, wie die Identitätskrise im individuellen Leben mit zeitgenössischen Krisen der Gesellschaft zusammenhängen kann. In der Jugendzeit wirkten sich politische Ideologien besonders aus, eine Ansicht, zu der Erikson auch angesichts der politisch ideologischen Vereinnahmung der Jugend im zwanzigsten Jahrhundert, besonders im Nationalsozialismus, gelangte. An seinem Lutherbuch entwickelte Erikson am historischen Fall – später am politischen Fall Mahatma Ghandis – die Geschichte eines krisenhaften, aber wirkungsreichen Jugendverlaufs. Die Erfahrungen des jungen Reformators Luther deutete er als Identitätskrise. Dabei bezog er sich auf eine Legende aus dem Leben des Reformators: Dieser soll in jungen Jahren im Chor seines Klosters eine Art „Besessenheitsanfall“ bekommen, sich auf den Boden geworfen und ,Ich bin’s nit! gerufen haben. Erikson machte diese Begebenheit zum Ausgangspunkt seiner Identitätsinterpretation: Sie offenbare nämlich den ,
„Anfall als Teil einer sehr ernsten Identitätskrise – einer Krise, in der der junge Mönch sich verpflichtet fühlte zu beteuern, was er nicht war (besessen, krank, sündig), um dadurch vielleicht zu dem vorzudringen, was er in Wirklichkeit war oder sein sollte.“ (Ebd., S. 39)
Erikson interessierte sich sowohl in seinen biographiehistorischen als auch in seinen jugendtheoretischen Schriften für die persönliche Identität als die nach außen sichtbare, unverwechselbare Gestalt eines Individuums. Die IchIdentität verstand er als subjektive Empfindung gegenüber sich selbst, was einem beispielsweise in Lebenskrisen besonders bewusst wird. Hier kann nicht auf die weit zurückreichende philosophische Tradition und deren Konfliktlinien zu Ich und Identität eingegangen werden. Eine Kernfrage war, ob sich die Identität überhaupt erst aus den Erfahrungen, die der Mensch empirisch macht, entwickelt oder ob man von einem vor aller Erfahrung liegenden Ich ausgehen kann. Die theoretische Konzeption basierte auf der genetischen Idee der Veränderung der Identität im Lebenslauf. Dabei gehe es stets um die Erfahrung der Kontinuität, die man selbst, aber vor allem auch andere an einem erkennen
Jugendkrise und Gesellschaftskrise
Am Beispiel Martin Luthers
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können. In seinem Buch „Identität und Lebenszyklus“ geht Erikson darauf näher ein: „Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz.“ (ERIKSON 1959/1981, S. 18) Die Funktion der Krise
Obwohl der Begriff der Identitätskrise zentral ist, hat Erikson ihn maßgeblich als Ausdruck für einen Wendepunkt verstanden. Somit lässt sich zunächst an seine allgemeine Vorstellung von Krise als Motor des Lebenslaufs anknüpfen. Krise definiert sich so als ein Chancen und Risiken bergendes Spannungsfeld einer Lebensphase. Die sich wiederholenden Identitätskrisen hängen mit dem Gefühl der Entfremdung und der Angst vor einer äußeren und inneren Entwurzelung zusammen. Als Kliniker hat Erikson dabei wieder beide Aspekte, das Typische und das Abweichende, im Blick: „Nach dem klinischen Ursprung dieses Ausdrucks zu urteilen, wäre es also durchaus vernünftig, die pathologischen und die entwicklungsmäßigen Aspekte der Sache miteinander in Verbindung zu setzen und zuzusehen, was die für eine Krankengeschichte typische Identitätskrise von der einer Lebensgeschichte unterscheidet.“ (ERIKSON 1968/1998, S. 14)
Krise und Demokratie
Erikson verbindet seine Identitäts- und Jugendtheorie mit einem demokratietheoretischen Anspruch, der anders gelagert ist als die Sorge der Politikerinnen und Politiker um die politische Haltung der Jugend, wodurch die empirische Einstellungsforschung ihren Impuls erhalten hat. Erikson geht es jedoch darum, politisch und gesellschaftlich „zornige“ Jugendliche von ihren Institutionen und einer demokratischen Identität zu überzeugen: „Die Demokratie muß ihren Jugendlichen daher Ideale bieten, die von jungen Menschen aus vielerlei Milieus gemeinsam akzeptiert werden können und die die Autonomie in der Form der Unabhängigkeit und die Initiative in der Form konstruktiver Arbeit betonen.“
Für den in die USA emigrierten Erikson ist die soziale Institution Hüterin der Identität, weil sie ideologisch stets in die nächste Generation eindringen muss, um „die verjüngende Macht der Jugend“ aufzunehmen. (Ebd., S. 137) Unter diesen psychosozialen Vorzeichen wirkt die adoleszente Krise als Regenerator gesellschaftlicher Entwicklung, weil die Jugend den Traditionen gegenüber loyal sein, aber diese auch zur Disposition stellen kann. Seine Anschauungen über Identitätskrisen entnimmt er nicht nur den historischen und klinischen Studien, sondern auch der Beobachtung des Jugendprotestes Ende der Sechzigerjahre. In den USA war diese Zeit durch den Vietnamkrieg, der 1964 begann, und die weltweit stattfindenden Proteste insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geprägt. Hier habe sich, so Erikson, die Jugend im Vergleich zu vielen Erwachsenen gegenüber der gedankenlosen Zustimmung zur Eskalation des Krieges als weitsichtiger erwie-
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sen. Amerikas Jugend sei jedoch in ihrem ideologischen Protest bzw. der Haltung gegenüber den Möglichkeiten der Gesellschaft geteilt und darin sieht er eine typische Form der Spannung in der Identitätskrise. Erikson versuchte aus seinen Beobachtungen ein universales Prinzip von Jugendidentitäten abzuleiten: „Denn bestimmt nicht immer eine Wechselwirkung zwischen einer neuen dominanten Klasse von Spezialisten – die, die wissen, was sie tun – und einer intensiven neuen Gruppe von Universalisten – die, die meinen, was sie sagen – die Identitätsmöglichkeiten eines Zeitalters?“ (Ebd., S. 33)
In diesem Zitat zeigt sich noch einmal, wie sehr Eriksons Jugendtheorie auf die komplexen Entwicklungsdimensionen des Individuums in seiner sozialen Umgebung konzentriert ist. Jugend wird sowohl in ihrer Besonderheit analysiert, und das geschieht von verschiedenen methodischen Standpunkten aus, als auch in das Allgemeine des menschlichen Lebenslaufs und seiner sozialen Verankerung eingebettet. Diese letztlich offene Struktur und der undogmatische Umgang mit der Psychoanalyse und anderen Theorien, die Eriksons Denken auszeichnen, ermöglichten konstruktive Auseinandersetzungen und Anschlüsse aus verschiedenen Perspektiven der Jugendforschung. Zudem erwies sich Erikson als ein sensibler Beobachter der Identitätskrisen aus politischer Sicht, was besonders Ende der Sechzigerjahre wichtig war.
6.2.7 Jugend als Moratorium Wie bereits mehrfach betont, ist das Moratorium eine zentrale Denkfigur für die Phasen des Aufwachsens, so auch für Eriksons Jugendphase. Zunächst könne man, so Erikson, historisch beobachten, dass durch den technologischen Fortschritt immer mehr Zeit zwischen dem frühen Schulleben und der endgültigen Entlassung des Menschen in die Berufstätigkeit liege und die Phase Jugend zu einer „Lebensform“ geworden sei.
Ausdehnung der Jugendphase
„In der Suche nach einem neuen Gefühl der Kontinuität und Gleichheit, das jetzt auch die sexuelle Reife umfassen muß, haben manche Jugendliche sich noch einmal mit den Krisen früherer Jahre auseinanderzusetzen, ehe sie bleibende Idole und Ideale als Hüter einer endgültigen Identität einsetzen können. Sie bedürfen vor allem eines Moratoriums für die Integration der Identitätselemente, die wir im Vorangehenden den Kindheitsstadien zuordneten.“ (Ebd., S. 131)
Insbesondere an Biographien zeigt er, wie sich die Ausdehnung eines Moratoriums als eine Zeit der Entpflichtung auswirkt. Vor diesem biographietheoretischen Hintergrund bezeichnet der das psychosoziale Moratorium als „Intervall zwischen Jugend und Erwachsensein“. (ERIKSON 1968/1998) Wie definierte er den Begriff des Moratoriums für die Jugendtheorie? „Ein Moratorium ist eine Aufschubsperiode, die jemandem zugebilligt wird, der noch nicht bereit ist, eine Verpflichtung zu übernehmen, oder die jemandem aufgezwungen wird, der sich selbst Zeit zubilligen sollte. Unter einem psychosozialen Moratorium verstehen wir also einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen und doch handelt es sich nicht nur um einen Aufschub. Es ist eine Periode, die durch selektives Gewährenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist.“ (Ebd., S. 161)
Definition
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Jugend als Bildungsmoratorium Beispiel aus der Tätigkeit des Analytikers
Aus dem Erfahrungsschatz seines klinischen Alltags heraus hielt Erikson insbesondere die Bereitschaft von Eltern, ihren jugendlichen Kindern unter verschiedenen Umständen ein Moratorium zu gewähren, für wichtig, weil dadurch ungelöste Konflikte der Kindheit einer konstruktiven und identitätsfördernden Lösung zugeführt werden könnten. In „Jugend und Krise“ beschreibt er die Entwicklung eines Mädchens, das zunächst übergewichtig und esssüchtig war, aber an Wildheit mit ihren Brüdern rivalisierte. Gefräßigkeit und Rivalität konnte sie jedoch ab einem gewissen Zeitpunkt zügeln, und so schien sie sich ohne große Krisen weiterzuentwickeln. Allerdings äußerte sie plötzlich den Wunsch nach einer Auszeit außerhalb von Schule und Familie, der ihr von verständnisvollen Eltern erfüllt wurde. Sie blieb nach den Ferien ohne Familie auf einer Ranch, auf der sie Verantwortung übernahm und sehr viel Bestätigung erhielt. Erikson beurteilte diesen Vorgang idealtypisch für den Identitätsbildungsprozess, der prinzipiell durch Identitätsverwirrung erheblich gestört werden kann: „Derartige, selbstgewählte ,Therapien hängen natürlich von dem Spielraum ab, der im rechten Geist zur rechten Zeit gewährt wird, und das wiederum hängt von einer großen Vielfalt von Umständen ab.“ (Ebd., S. 134) ,
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Moratorien als feste Bestandteile menschlicher Entwicklung
Hier fällt auf, dass Erikson von parallel wirkenden Vorgängen spricht und individuelle Variationen einräumt. Er fügt der individuellen Seite, die er primär unter dem Aspekt der Identitätsentwicklung betrachtet, eine Sicht auf gesellschaftliche Dynamiken hinzu. Jede Gesellschaft und jede Kultur institutionalisiere ein Moratorium für die Mehrheit der jungen Generation. In diesem Sinne verortet Erikson das Modell nicht generell in einen modernisierungstheoretischen Rahmen, sondern nur partiell im Hinblick auf neuere Erscheinungen wie die der Psychiatrisierung von Jugendlichen. In der jüngeren Kindheits- und Jugendforschung stellt sich die Frage nach selbst geschaffenen Ritualen und Initiationen des Aufwachsens in Regie der Kinder und Jugendlichen. Diese wären mit Eriksons Überlegungen zu den selbstinszenierten Moratorien zu vergleichen. Dahinter steckt das Bedürfnis nach Ritualen, Freiräumen und Entpflichtungen, die in der modernen Gesellschaft kaum noch gegeben sind, die aber prinzipiell zum Prozess des Aufwachsens gehören. Für Erikson ist das psychosoziale Moratorium in den „Plan der menschlichen Entwicklung“ eingeschrieben und durch den historischen Prozess bestimmt. Demnach wäre die Gestaltung der Jugend durch höchst unterschiedlich motivierte und bedingte Moratorien die Summe der gesellschaftlichen und kulturellen Maßnahmen für den Aufschub des Aufwachsens. Sein Biograph Conzen gibt zu bedenken, dass auch Erikson ein normatives Bild der Jugend als gebildet und begütert, also Jugend bürgerlicher Herkunft vor Augen gehabt und seine eigenen Jugenderfahrungen, also sein Moratorium, idealisiert habe.
Deutsche Teilung und Jugendforschung
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 6 gelesen haben: – Sie sollten psychoanalytisch orientierte Jugendtheoretikerinnen und -theoretiker kennen. – Sie sollten die Bezeichnung „zweite Chance“ in einen jugendtheoretischen Zusammenhang stellen können. – Sie sollten wissen, welche Begriffe für Erik Erikson zentral waren. – Sie sollten die von Erikson beschriebenen acht Phasen des Lebenslaufs benennen können und wissen, durch welche Aufgaben und Krisen die einzelnen Phasen gekennzeichnet sind. – Sie sollten wissen, was, in Anlehnung an Erikson, unter einem psychosozialen Bildungsmoratorium verstanden werden kann.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 6: FEND, HELMUT (2000): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe. Opladen. Siehe Kapitel 4. CONZEN, PETER (1996): Erik H. Erikson. Leben und Werk. Stuttgart/Berlin/Köln. Die Monographie von Peter Conzen gibt einen guten und sehr verständlichen Einblick in die Biographie sowie den historischen Kontext von Erikson. Vor allem führt der Autor grundlegend in die einzelnen Werke ein und stellt zahlreiche Verbindungen her. Ein lesenwertes und sehr informatives Buch.
7 Jugendforschung aus gesellschaftstheoretischer Perspektive 7.1 Deutsche Teilung und Jugendforschung Nach dem zweiten Weltkrieg entstand in Westdeutschland ein deutlich anderes Jugendbild als in der DDR. Die politische Teilung schlug sich darüber hinaus auch in der Forschung nieder. In beiden deutschen Staaten war jedoch das starke Interesse an der politischen Haltung der Jugend unübersehbar. In der DDR orientierte man sich an dem Ideal der zu entwickelnden sozialistischen Persönlichkeit und favorisierte in der Jugendtheorie die sowjetische Psychologie. Ein zentraler Unterschied zur Bundesrepublik lag auch in dem hohen Organisierungsgrad der DDR-Jugend durch die Pionierorganisation für Schulkinder und die FDJ, die staatliche Einheitsjugendorganisation. Daneben bot allenfalls die kirchlich ausgerichtete „Junge Gemeinde“ eine Alternative, aber deren Mitglieder unterlagen zum Teil erheblichen staatlichen Repressionen. Der Schriftsteller Uwe Johnson schildert in seinem eindrucksvollen Erstlingswerk „Ingrid Babendererde“ (1953) die Situation jugendlicher Gymnasiasten in der DDR, die nicht bereit waren, sich den staatlichen Vorgaben zu
Richtungsentscheidungen
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Jugendforschung und Gesellschaftstheorie
Transformationsforschung
Verlängerung und Entgrenzung der Jugendphase
unterwerfen. Ein wichtiges Ritual, mit dem der Übergang in einen neuen Lebensabschnitt begangen wurde und das mit dem Eintritt in die FDJ korrespondierte, war die Jugendweihe, die nahezu alle Jugendlichen in der DDR als Initiationsritus feierten. Nach wie vor findet in den neuen Bundesländern die Jugendweihe statt und erfreut sich bei Jugendlichen und Eltern einer großen Attraktivität. Die Jugendforschung der DDR ist eng verbunden mit dem „Zentralinstitut für Jugendforschung“ in Leipzig. Von hier aus fanden empirische Studien über die Jugend in sozialistischen Ländern statt. Deren Ergebnisse wurden jedoch meist nur dann veröffentlicht, wenn sie politisch konform waren. Nach der Vereinigung wurde das Zentralinstitut teilweise dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München angegliedert, das in Halle eine Außenstelle einrichtete. In der Bundesrepublik entwickelten sich Jugendalltag und Jugendforschung vollkommen anders. Hier kam es zu einer Verlängerung der Jugendphase, was sich beispielsweise auch in der viel späteren Familiengründung junger Menschen zeigte. Für junge Erwachsene in der DDR war es hingegen typisch, möglichst früh eine eigene Familie zu gründen, so dass diese Lebensform häufig parallel zu Ausbildung oder Studium organisiert wurde. Solche Unterschiede sind der Grund dafür, dass sich bis heute ein Strang der Transformationsforschung der Frage nach Gemeinsamkeiten und Differenzen der Jugend in Ost und West widmet. (ANDRESEN/BOCK u. a. 2003) Die Transformationsforschung befasst sich generell mit Phänomenen des Übergangs nach der politischen Auflösung der DDR und der deutschen Vereinigung. Während das Jugendbild der Bundesrepublik über lange Zeit stabil von der Idee der Jugendphase als psychosozialem Bildungsmoratorium geprägt war, zeichnen sich seit einigen Jahren sozialpolitisch so genannte Entgrenzungen ab. Das heißt, dass durch die strukturellen Veränderungen der letzten Jahre für viele Jugendliche eine institutionelle Rahmung der Jugendzeit nicht mehr gewährleistet ist, weil sie beispielsweise keinen Ausbildungsplatz finden. Trotzdem ist die Vorstellung eines Moratoriums nach wie vor normativ leitend, auch wenn es Bestrebungen gibt, dieses angesichts internationaler Vergleiche zumindest zeitlich zu reduzieren, und zwar in Form kürzerer Schul-, Ausbildungs- und Studienzeiten. Für die westdeutsche Jugendforschung resultierten aus der Idee von Jugend als psychosozialem Bildungsmoratorium neue Perspektiven in Bezug auf Identität und Krise sowie auf besondere Entwicklungsaufgaben der Jugendphase. (s. ERIKSON) Dabei geht es bis heute auch um die Frage, wie sich die junge Generation gegenüber gesellschaftlichen Aufgaben verhält bzw. welche Einstellung sie dem politischen System entgegenbringt. Dies sind Fragen, die insbesondere auch die soziologisch ausgerichtete Jugendforschung beschäftigt hat. Deshalb geht es im Folgenden um die soziologische Jugendforschung der letzten Jahrzehnte, und zwar entlang der Begriffe Generation und Sozialisation. Ziel ist die Darstellung der heterogenen Jugendforschung im Kontext demokratischer und pluralistischer Gesellschaften seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Zwischen Generation und Sozialisation
7.2 Soziologische Jugendforschung zwischen Generation und Sozialisation 7.2.1 Zum Begriff der Generation In diesem Kapitel soll ein systematischer Überblick über sozialisations- und gesellschaftstheoretische Ansätze gegeben werden. Erst jüngere Forschungstendenzen beziehen sich auf konstruktionstheoretische und akteursbezogene Perspektiven. Im ersten Fall wird Jugend als ein von Raum und Zeit abhängiges soziales Konstrukt analysiert und im zweiten Fall davon ausgegangen, dass Jugendliche als Akteure die sie umgebende Wirklichkeit aktiv mitgestalten, verändern und wahrnehmen. Die Erziehungswissenschaftler Krüger und Grunert (2002) weisen darauf hin, dass in den Nachkriegsjahrzehnten bis ca. 1970 die Kindheitsforschung durch die Entwicklungspsychologie dominiert worden ist, die Jugendforschung hingegen in Empirie und Theorie starke Impulse durch die Soziologie erhalten hat. Diese Impulse resultierten auch aus der Überzeugung, dass man anhand der Erkenntnisse der soziologischen Jugendforschung auch auf gesamtgesellschaftspolitische Entwicklungen schließen könne. (ANDRESEN/ BOCK/OTTO 2004) Einen ersten wichtigen Impuls in der Nachkriegszeit setzte der Soziologe Helmut Schelsky mit seiner Studie „Die skeptische Generation“ (1957/ 1960). Sie wirkte bahnbrechend und gab bereits im Titel eine bis in den Alltagsgebrauch hineinreichende neue charakteristische Gesamtsicht der Nachkriegsjugend vor. Schelsky hatte bereits 1952 auf Initiative der Gewerkschaften zur ersten großen repräsentativen Jugenduntersuchung beigetragen. Dabei ging es um die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Jugend. (SCHELSKY 1952) Der Soziologe hatte an der Jugendforschung kritisiert, dass psychologische Reifungstheorien dominieren würden und man daneben hauptsächlich an einer pädagogischen Instrumentalisierung Interesse habe (ABELS 2000). Deshalb verlangte er den Ausbau soziologischer Forschung und zudem eine Distanzierung von normativen bürgerlichen Idealen, mit denen man die Realität der Jugend nicht erfassen könne. Seiner Ansicht nach waren eher die jungen Arbeiter und Angestellten typisch für die Jugendgeneration und nicht die Gymnasiasten und Studierenden. Damit gab er die Richtung seiner soziologischen Jugendforschung vor: Es kam ihm nicht darauf an, die Herausforderungen durch physische und psychische Reifungsprozesse zu analysieren, ihn interessierten die Chancen und Risiken der Jugendlichen in der Industriegesellschaft. 1957 knüpfte Schelsky für seine Studie an die Wissenssoziologie der Zwanzigerjahre, namentlich an den Soziologen Karl Mannheim an. Dieser hatte einen theoretischen Generationenbegriff geprägt, der es ermöglichte, den zeitgeschichtlichen Einfluss auf eine Jugendgeneration zu erfassen. Mannheim (1928) sprach von einer „Generationslagerung“. Damit bezeichnete er den Sachverhalt, dass es eine Summe zeitgeschichtlicher Handlungsmöglichkeiten und zentraler Themen bzw. Konflikte einer Epoche gäbe, von denen eine altersgleiche Generation besonders geprägt sei: So ließ sich die Generation des Wandervogels beispielsweise von der Generation der Hitler-
Soziologische Perspektiven
Generationslagerung
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Jugendforschung und Gesellschaftstheorie
jugend merkmalstypisch unterscheiden. Schelsky zielte auf eine Analyse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, indem er die Generation der „Halbstarken“, d. h. derjenigen, die zwischen 1945 und 1955 zwischen 15 und 25 Jahre alt waren, untersuchte. Er verglich diese Generation systematisch mit der der Jugendbewegung, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatte (1900 – 1918) und der politisierten Jugend (1920 – 1945), die den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg auf die eine oder andere Art mitgemacht hatten. Seine übergreifende Perspektive auf die drei Jugendgenerationen bildete die Struktur seiner Untersuchung zu den Chancen und Risiken Jugendlicher in der Industriegesellschaft. Anhand dieses Vorgehens sollte nachgewiesen werden, dass im Unterschied zu vorindustriellen Epochen Jugend eine Phase sei, in der die Individuen aus den überschaubaren Herkunftskontexten, den „Primärgruppen“ wie z. B. der Familie, in unüberschaubare, anonyme und funktional-arbeitsteilig strukturierte „sekundäre Systeme“ wie die Jugendorganisation wechselten. Das heißt, Schelsky unterteilte die Gesellschaft in zwei unterschiedlich strukturierte Systeme. Aufgabe der Jugendphase sei der Wechsel von der Rolle des Kindes in die des Erwachsenen. Er beschreibt diesen Vorgang als „Übergang zwischen zwei sozialen Verhaltenshorizonten, die weitgehend gegensätzlich strukturiert sind“. (SCHELSKY 1957/1960, S. 39) In aller Regel erfolge der Übergang abrupt und sei für die Mehrheit der Jugendlichen nicht durch ein Moratorium abgefedert. Angesichts dessen wandte Schelsky sich gegen die pädagogisch attraktiven Vorstellungen eines Schon- und Schutzraumes bzw. eines institutionalisierten psychosozialen Moratoriums, weil diese für die Industriegesellschaft nicht funktional seien. Die moderne Gesellschaft verlange ein Rollenverhalten auf dem Niveau der Erwachsenen und nicht die Schonung durch die Pädagogik. (Vgl. ABELS 2000) In der Taschenbuchausgabe seines Buches machte Schelsky (1975) in einem Vorwort wiederum die Pädagogik für die Unruhen um 1968 und für die Anspruchshaltung dieser Jugend verantwortlich. Es sei zu einer Überbewertung der Jugend und einer autonomen Jugendkultur gekommen. Er schreibt von der „parasitären Selbstüberschätzung der Jugend“ und zielt damit vor allem auf das studentische Milieu. (Ebd., S. XIII)
7.2.2 „Die skeptische Generation“ Umgang mit Integrationsanforderungen
Die Notwendigkeit, sich in das gesellschaftliche System möglichst übergangslos zu integrieren, machte für Schelsky die Schwierigkeit der industriegesellschaftlichen Jugend generell aus. Er zeigte in seiner Untersuchung die generationsgelagerten Unterschiede des Umgangs mit Industrie, Anonymität, Bürokratie, Technisierung u. a. auf. Während die Generation der Jugendbewegung in nostalgischer Verklärung und elitärer Pädagogisierung die Natur und einen romantischen Ursprung gesucht und die Urbanität, der sie entstammte, verurteilt habe, organisierte sich die politische Generation in straff geführten Gruppierungen, um Arbeit, Politik und Gesellschaft planend zu beherrschen. Hier mag Schelsky vor allem die völkischen Jugendbünde und die Hitlerjugend vor Augen gehabt haben.
Jugendforschung bis Ende der Sechzigerjahre
Was waren die Kennzeichen der skeptischen Generation? Schelsky hob hervor, dass sie den totalen Zusammenbruch und die militärisch erzwungene Befreiung vom Nationalsozialismus erlebt hatte und angesichts dessen fortan misstrauisch gegenüber Politik und Ideologie war. Ferner zeigte sich diese Generation im Alltag pragmatisch und leistungsorientiert. Schelsky arbeitete heraus, wie die skeptische Generation durch eine starke Entpolitisierung und Entideologisierung einerseits und einen ausgeprägten Realitätssinn und eine angeberische Vollmundigkeit („Halbstarke“) andererseits geprägt war. Er stellte dementsprechend einen Rückzug ins Private und eine Orientierung an Arbeit und Beruf fest. Für seine Studie verwendete der Soziologe eine große Anzahl von Einzeluntersuchungen und hatte neben statistischem Material eine Reihe empirischer Daten zu Familie, Arbeit und Freizeit zur Verfügung. Schelsky stärkte mit Hilfe seiner Studie die Einsicht, dass man Aufklärung über jugendspezifische Soziallagen und Probleme eher von einer sozialwissenschaftlich-diagnostischen Jugendforschung erwarten könne als von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Hier zielte seine Kritik vor allem auf das idealisierte Jugendbild, wie es Eduard Spranger, dessen Werk nach wie vor populär war, geliefert hatte. Insbesondere die frühe und über den Beruf geleitete Integration in die Gesellschaft der Erwachsenen, veranlasste Schelsky zu folgenden Thesen: Erstens ging er von einer Nivellierung der Altersund vor allem der Schichtunterschiede aus und zweitens vom Verschwinden der Jugend als eigenständige Phase im Zuge der Ausdifferenzierung der Industriegesellschaften.
Kennzeichen
Sozialwissenschaftlich-diagnostische Jugendforschung
7.3 Jugendforschung bis Ende der Sechzigerjahre 7.3.1 Peer Group und Jugendkultur Nahezu zeitgleich entstanden vollkommen entgegengesetzte Annahmen, die sich auf die Stärkung einer von Kindheit und Erwachsenendasein abgetrennten Jugendphase bezogen. Angesichts der Kritik Schelskys an der pädagogischen Vorstellung eines Jugendschonraums, erscheint die hohe Attraktivität Eriksons innerhalb der Pädagogik besonders plausibel. Doch auch im Kontext soziologischer Jugendforschung blieb Schelskys Ansatz nicht unumstritten. Es entstanden soziologische Vorstellungen, die mit der Idee eines Jugendmoratoriums korrespondierten. Genannt werden muss hier beispielsweise die an den Strukturfunktionalismus von Tacott Parsons anknüpfende Untersuchung von Samuel Eisenstadt (1956/1966). Der Strukturfunktionalismus untersucht gesellschaftliche Strukturen und fragt nach deren Funktion. Parsons ging davon aus, dass soziale Systeme sich selbst erhalten, wofür bestimmte Leistungen erforderlich sind wie Anpassung, Zielerreichung und Integration. Eisenstadt kam zu dem Ergebnis, dass in der pluralen und ausdifferenzierten modernen Gesellschaft primäre und sekundäre Gruppen, Familie und Gesellschaft, auseinander fallen. Das führe im Prozess des Aufwachsens zu neuen Bedürfnissen der Jugend und zu notwendigen gesellschaftlichen Maßnahmen. Was heißt das konkret? Eisenstadt zeigt in seiner Studie, wie die ju-
Strukturfunktionalismus
Eine Funktion der Peer Group
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Jugendforschung und Gesellschaftstheorie
gendliche Gleichaltrigengruppe, die so genannte „peer group“, die Funktion übernommen habe, zwischen Familie und Gesellschaft zu vermitteln. In der Jugendphase müssten in modernen Gesellschaften immer komplexere Übergangsprobleme gelöst werden, weshalb Jugendliche ihre Rollen lernen bzw. gut darauf vorbereitet werden müssten. Dies könne optimal nur in der Gleichaltrigengruppe geschehen. „Damit war die soziologische Theorie geschaffen, die der peer group ihre gesellschaftliche Funktionalität bescheinigte und den Jugendlichen und der Pädagogik den Anspruch auf einen autonomen sozialen Bereich erleichterte. Das Bild, das über diese soziologische Theorie in die Gesellschaft drang, hieß: Jugend muß in sozialen Räumen leben, die von Erwachsenen respektiert werden müssen.“ (ABELS 2000, S. 85) Jugendkulturen als Teilkulturen
Auf den Ansatz von Eisenstadt bezog sich auch Friedrich Tenbruck (1962). Er vertrat die Auffassung, dass sich Jugend in modernen Gesellschaften als eine eigenständige Lebens- und Sozialisationsphase mit einer unabhängigen Jugendkultur herausgebildet habe. (Vgl. KRüGER/GRUNERT 2002) Dabei betonte er die Bedeutung pädagogischer Institutionen wie der Schule, die auch darauf basierten, dass Gleichaltrige in ihnen zusammengefasst wurden. Tenbruck zeigte ein Gespür für die gesellschaftliche Bedeutung von Jugendkulturen, die er als „Teilkulturen“ bezeichnete. Er ging sogar davon aus, dass mit zunehmender Attraktivität und Anziehung die Jugendkulturen die gesamte moderne Kultur allmählich dominieren könnten. Dies läge allerdings auch an der Rolle der Erwachsenen, die kaum noch präzise Konturen aufweisen würde. Für die Jugendforschung im zwanzigsten Jahrhundert war, wie man auch an Tenbruck sieht, ein kulturpessimistischer Grundzug nicht untypisch.
7.3.2 Schichtenspezifische Sozialisation Eine weitere Studie aus den Sechzigerjahren soll hier noch kurz vorgestellt werden, weil sie einen zentralen Zugang repräsentiert. Dieser sei, so der Soziologe Abels, typisch für die Jugendsoziologie der Sechzigerjahre und für die bundesdeutsche Jugendpolitik bis in die Siebzigerjahre hinein einflussreich gewesen. Es handelt sich um das Buch „Die Junge Generation“ von Friedhelm Neidhardt (1967). Es geht hierbei um den Sozialisationsaspekt. Neidhardt bereitete die Forschungsperspektive auf die „schichtenspezifische Sozialisation“ mit vor, indem er davon ausging, dass Psychologie und Pädagogik die Krise der Jugendphase zu hoch bewertet hätten. Stattdessen habe sich gezeigt, dass Jugendliche aus defizitären Sozialisationskontexten, in denen eine Reihe von Gefährdungen vermutet wurden, sehr früh den Übergang in Erwachsenenrollen schafften. Nur in sozial höheren Schichten könne eine Verlängerung der Jugendphase und ein Festhalten an Jugendrollen ökonomisch und normativ möglich gemacht werden. Die schichtenspezifische Sozialisationsforschung wurde dann zu einem Motor der in der Bundesrepublik zu Beginn der Siebzigerjahre eingeleiteten sozialliberalen Bildungsreform. (Vgl. GEULEN 2002) Darüber hinaus kritisierte Neidhardt, dass in der westdeutschen Gesellschaft diejenigen Jugendlichen, denen nach vierzehn Jahren keine Zeit zum
Jugendforschung ab den Siebzigerjahren
Lernen und Reifen eingeräumt wurde, in ähnlichen Kontexten Leistung erbringen mussten wie die Erwachsenen, jedoch lange Zeit ohne deren Rechte eingeräumt zu bekommen. So konnte ein Jugendlicher zwar vollkommen im Erwerbsleben stehen, aber erst mit 21 Jahren wählen. Neidhardt sah darin vornehmlich ein Herrschaftsinstrument der Erwachsenen und sprach auch von „Domestikationsideologien“, mit denen die Erwachsenen ihre Macht sichern wollten.
7.4 Sozialwissenschaftliche Jugendforschung ab den Siebzigerjahren 7.4.1 Politische Neuorientierung Die Proteste von Studentinnen und Studenten in der Folge von 1968 gegen die Strukturen der Gesellschaft, gegen autoritäre Väter und strenge moralische Konventionen wirkten sich auch auf die Jugendforschung aus. Zunächst befand sich die etablierte Jugendsoziologie in einem Erklärungsnotstand, weil sie die Proteste der Jugend nicht vorausgesehen hatte. Im Zuge dessen kamen neue theoretische Perspektiven hinzu, das pädagogisierte Jugendmoratorium und die sozialen Differenzen der Jugend wurden stärker in den Blick genommen. Zu solchen sozialen Differenzen zählten beispielsweise die bis dahin schlechteren Bildungschancen der Mädchen. Zudem entstand auch innerhalb der Jugendforschung eine gezielte Kritik an der spätkapitalistischen Gesellschaft. Der etablierten soziologischen Jugendforschung wurde aus marxistischer Sicht ihre Konzentration auf die Mittelschichtsjugend ebenso vorgeworfen wie ihre Ignoranz gegenüber den materiellen Verhältnissen. (Vgl. KRüGER/GRUNERT 2002, S. 16 ff.) Rainer Döbert und Gertrud Nunner-Winkler artikulierten in ihrer Studie „Adoleszenzkrise und Identitätsbildung“ (1975) aus soziologischer Sicht ihre Skepsis hinsichtlich der Integrationsmöglichkeiten der Jugend in die widersprüchliche kapitalistische Gesellschaft. Die Jugend würde die Widersprüche besonders intensiv erfahren und empfinden und sie habe insgesamt durch die allmähliche Ausdehnung der Jugendphase auch das intellektuelle Potenzial zur Kritik. Döbert und Nunner-Winkler gingen davon aus, dass immer mehr Jugendliche über Fähigkeiten verfügten, die Gesellschaft und mit ihr die Erwachsenen zu hinterfragen, Begründungen von ihren Eltern und Lehrkräften einzufordern, Alternativen zu entwickeln und zu behaupten. Zu diesem Wandel hat vermutlich auch die allmähliche Umsetzung liberaler Erziehungsstile in Familie und Schule beigetragen. Diese Liberalisierung ging zwar zunächst eher von der gebildeten Mittelschicht aus, aber sie konnte sich zunehmend gesellschaftsübergreifend ausbreiten.
Studentenproteste
Liberalisierung
7.4.2 Die Sozialisationstheoretische Analyse der Jugendphase Der entscheidende Perspektivwechsel innerhalb der Jugendforschung vollzog sich durch die Orientierung an sozialisationstheoretischen Fragestellun-
Zum Begriff Sozialisation
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Jugendforschung und Gesellschaftstheorie
Sozialisationstheoretische Jugendforschung
gen. In der Erziehungswissenschaft erhielt der Begriff Sozialisation neben Bildung und Erziehung eine zentrale Position. Sozialisation bezeichnet den Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit in Abhängigkeit von der sozialen und materiellen Umwelt. (s. a. TILLMANN 2003) Sozialisation zielt folglich auf die wechselseitige Beziehung zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realität. (H URRELMANN 1986) Dabei wurde das Subjekt – auch das kindliche und jugendliche Subjekt – in einem innovativen Schub der Sozialisationsforschung in den Achtzigerjahren als aktiver und produktiver Verarbeiter der Realität betrachtet. Eine solche Sichtweise hat nach Krüger/Grunert (2002) sowohl in der Jugend- als auch in der Kindheitsforschung dazu beigetragen, stärker auf die Eigentätigkeit der Subjekte zu achten. Klaus Hurrelmann, einer der zentralen Vertreter der Sozialisationsforschung, beschreibt den Zugang zur sozialisationstheoretischen Jugendforschung mit folgenden Worten: „Die Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter wird in einem gesellschaftlichen und ökologischen Kontext gestellt, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, in diesem Sinn auf das Individuum einwirkt, immer auch zugleich durch das Individuum beeinflusst, verändert und gestaltet wird.“ (HURRELMANN 1995, S. 72)
Das aktive, Realität verarbeitende Subjekt
Hurrelmann erhebt den Anspruch, mit der Sozialisationstheorie psychologische und soziologische Ansätze zur Analyse des Jugendalters konstruktiv verknüpfen zu können. Dazu formuliert er acht theoretische Maximen: 1. Jugendliche sind als produktiv Realität verarbeitende Subjekte und als schöpferische Konstrukteure ihrer eigenen Lebenswelt zu verstehen. 2. Die Lebensphase Jugend ist durch die lebensgeschichtlich erstmalige Chance gekennzeichnet, eine Ich-Identität zu entwickeln. 3. Jugend birgt wegen des Zusammentreffens von Individuations- und Integrationsprozessen sowohl ein Stimulierungs- als auch ein Belastungspotenzial in sich. 4. Der Sozialisationsprozess im Jugendalter kann krisenhafte Formen annehmen, und zwar dann, wenn die Anforderungen der Individuation und Integration nicht miteinander verbunden werden können. 5. Der Jugendliche benötigt individuelle Bewältigungsstrategien, um die voneinander abweichenden Dynamiken im Individuations- und Integrationsprozess in den Griff zu bekommen. 6. Um dieses Spannungsverhältnis von Individuations- und Integrationsprozess abzuarbeiten, ist der Jugendliche auf wirkungsvolle und vielseitige soziale Unterstützung durch die wichtigsten Bezugsgruppen angewiesen. 7. Ob die Stimulierungs- oder die Belastungspotenziale im Jugendalter überwiegen, hängt von der sozialstrukturellen Gestaltung der Jugendphase ab. 8. Die Lebensphase Jugend kann auch unter veränderten historischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen in heutigen Industriegesellschaften als eigenständige Phase im Lebenslauf identifiziert werden. (Ebd., S. 72 ff.) Der Sozialisationsforscher Dieter Geulen (2002) wies nicht ohne Grund darauf hin, dass es bei Sozialisation nicht um ein deterministisches Konzept gehe. Der junge Mensch werde nicht einfach von seiner Umwelt gemacht. Aus diesem Grund ist die Betonung des aktiven und produktiv Realität verarbeitenden Subjektes zentral für das sozialisationstheoretische Verständnis.
Jugendforschung ab den Siebzigerjahren
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Idee, dass es bei der Frage nach Sozialisation um Interaktionsdynamiken geht. Insofern ist die Sozialisation mit dem Ende der Jugendphase zwar nicht abgeschlossen, obwohl Kindheit und Jugend im Zentrum der Sozialisationsforschung stehen. Geulen hebt ebenso hervor, dass es bei der Diskussion um die Sozialisationsforschung auch um den Stellenwert der Erziehung, durch die die Persönlichkeit entwickelt werden sollte und um den Einfluss der Erbanlagen geht: „Der Sozialisationsbegriff wird noch deutlicher, wenn wir ihn von zwei anderen Auffassungen über die Genese der Persönlichkeit abgrenzen, nämlich der Annahme, dass diese durch Erbanlagen festgelegt sei, sowie vom Begriff der Erziehung. Dass die Merkmale der Persönlichkeit im wesentlichen durch die individuelle genetische Ausstattung ein für alle mal fixiert seien, wobei die Entwicklung nur noch als ,Reifung dieser Anlagen verstanden und der Umwelt keine entscheidende Rolle dabei zugestanden wird, ist eine vor allem in der darwinistischen Denktradition in England vertretene Auffassung, die neuerdings durch die rapiden Fortschritte der Genforschung neuen Auftrieb erhält.“ (GEULEN 2002, S. 85) ,
Sozialisationstheoretische Überlegungen zur Bedeutung der sozialen Umwelt auf das Entwicklungs- und Handlungspotenzial der Individuen finden sich in höchst unterschiedlichen Ansätzen der Jugendforschung. Hurrelmann (1995) formuliert methodische Arbeitsweisen, die aus einem sozialisationstheoretischen Ansatz der Jugendforschung erwachsen. Dabei geht es ihm um die Verbindung unterschiedlicher Ebenen wie die der Persönlichkeitsentwicklung und Biographie, der alltäglichen Interaktion und Nahwelt von Jugendlichen und die der übergreifenden soziokulturellen und ökonomischen Strukturen. Neben Bildung und Erziehung gehört Sozialisation nach wie vor zu den wichtigen Begriffen der Jugendforschung in der Erziehungswissenschaft. Je nach Schwerpunkt müssen die jeweiligen Umwelten, in denen die Dynamik des aktiven Subjekts stattfindet, definiert werden. Eine theoretische und methodische Konzentration auf den Akteur ermöglicht einen Zugang, entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Zugänge miteinander zu verknüpfen und so zu einer innovativen Öffnung der Jugendforschung beizutragen. Sowohl in psychologischen als auch in soziologischen Untersuchungen war der Identitätsbildungsprozess in der Jugendphase zentral. Mit dem Begriff Identität ließen sich weitere wichtige Dimensionen wie Rolle, Krise, Familie und Gleichaltrige konstruktiv verbinden. Insgesamt hat sich das Spektrum der Jugendforschung theoretisch und methodisch zwar weiterentwickelt, aber nicht extrem ausgeweitet. Insbesondere die über den Generationenbegriff begründete Engführung von Jugendkultur und Gesellschaft hat mit dazu beigetragen, dass wir seit den Siebzigerjahren über eine große Anzahl von Einzelstudien verfügen, die die gesellschaftstheoretischen und politischen Diskurse über Jugend materialisieren.
Akteursperspektive und Materialisierung der Diskurse
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Jugendforschung und Gesellschaftstheorie
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 7 gelesen haben:: – Was Karl Mannheim und Helmut Schelsky unter „Generationslagerung“ verstanden. – Sie sollten die Begriffe Generation und Sozialisation definieren können. – Sie sollten wissen, warum Schelsky das bürgerliche Jugendbild kritisierte. – Sie sollten die Kennzeichen der „skeptischen Generation“ kennen. – Sie sollten wissen, wie sich die Jugendforschung ab den Siebzigerjahren des zwanzigsten Jahrhundert veränderte und welche gesellschaftlichen Umstände mit dazu beitrugen. – Sie sollten die acht Maximen einer sozialisationstheoretischen Jugendforschung nach Hurrelmann (1995) kennen. – Sie sollten wissen, was man unter einem aktiven, Realität verarbeitenden Subjekt versteht.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 7: KRüGER, HEINZ-HERMANN/GRUNERT, CATHLEEN Hg. (2002): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Opladen. In diesem Handbuch werden Theorien, Methoden und Forschungsfelder der Kindheits- und Jugendforschung systematisch verknüpft und bilanziert. Viele Beiträge des Handbuchs führen gut strukturiert in die Felder, Theorien, Themen und Methoden der Jugendforschung auch aus internationaler Sicht ein. Hinzu kommen Einzelbeiträge zu Querschnittsthemen wie Politik, Sexualität oder Gewalt. SANDER, UWE/VOLLBRECHT, RALF Hg. (2000): Jugend im 20. Jahrhundert. Sichtweisen – Orientierungen – Risiken. Neuwied/Kriftel/Berlin. Dieser Sammelband gibt einen guten Überblick über die in dieser Einführung vorgestellten Forschungstraditionen sowie über die Situation der Jugend im 20. Jahrhundert. TILLMANN, KLAUS-JüRGEN (122003): Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek b. Hamburg. Bei diesem Buch handelt es sich um eine interdisziplinär angelegte Einführung in die Sozialisationsforschung. Das Buch ist klar aufgebaut und führt in einer verständlichen Sprache in die unterschiedlichen Aspekte von Sozialisation ein. Ein umfangreiches Kapitel befasst sich mit der Sozialisation im Jugendalter.
Jugendforschung als Einstellungsforschung
8 Empirische Jugendforschung im Prozess der Demokratisierung und Pluralisierung 8.1 Jugendforschung als Einstellungsforschung: Zur Entwicklung der Shell-Jugendstudien 8.1.1 Jugendforschung und Öffentlichkeit Empirische Forschung spielt eine zunehmend wichtige Rolle für die Jugendforschung im erziehungswissenschaftlichen Kontext. Je nach Forschungsfrage kommen dabei quantitative oder qualitative Methoden zur Anwendung. Allerdings basieren zahlreiche Untersuchungen auf einer Methodentriangulation, d. h. auf einer systematischen Kombination empirisch quantitativer und interpretativ qualitativer Methoden. In diesem Kapitel geht es um Jugendforschung im Auftrag der Öffentlichkeit. Durch einen Konzern finanziert, geben seit mehr als fünfzig Jahren die Jugendstudien der Deutschen Shell in regelmäßigen Abständen ein umfassendes Bild von der deutschen Jugend, ihren Problemlagen und Selbstbildern. (SHELL DEUTSCHLAND 2002; ZINNECKER 2001) Dabei werden die Ergebnisse meist schlaglicht- und schlagwortartig zugespitzt, um der Öffentlichkeit politische bzw. gesellschaftliche Tendenzen einer Jugendgeneration zu vermitteln. Auf Interesse stoßen diese Studien deshalb sowohl in der Politik und den Medien als auch unter Professionellen im pädagogischen Sektor, weil es um die Einstellung der Jugendlichen gegenüber der Gesellschaft geht. Das Ziel dieses Kapitels ist folgendes: Die Shell-Jugendstudien werden hier als Typus einer spezifischen etablierten empirischen Erforschung von Einstellungen junger Menschen behandelt. Sie stellen somit einen „Fall“ dar und zeigen, was eine Gesellschaft über die junge Generation in Erfahrung bringen möchte und in welchem gesellschaftspolitischen Zusammenhang dies steht, mit welchen wissenschaftlichen Methoden dies geschieht, welche Deutungen vorgenommen und wie die Ergebnisse politisch aufgegriffen werden. Die Shell-Jugendstudien repräsentieren somit ein Stück Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik und nach 1989 auch des vereinten Deutschlands. Die Selbstwahrnehmung der Deutschen Shell nach 50-jähriger Tradition in der deutschen Jugendforschung kommt in ihrem Geleitwort zur 14. ShellJugendstudie (2002) zum Ausdruck:
Gesellschaftsgeschichte
„Shell ist mehr als ein Energieunternehmen. Wir engagieren uns auch für gesellschaftliche Belange. So fördern wir beispielsweise seit 50 Jahren die Forschung zur Jugend in Deutschland. Kernstück dieses Einsatzes sind die Shell-Jugendstudien, die wir regelmäßig in Auftrag geben. Sie gehören mittlerweile zu den gefragtesten Publikationen auf ihrem Gebiet.“ (DEUTSCHE SHELL 2002, S. 11)
Doch auch die Politik hat sich in den Sechzigerjahren zur regelmäßigen Berichterstattung über Kinder und Jugendliche verpflichtet. Auf der gesetzlichen Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes(§ 84 SGB VIII) muss jede Bundesregierung in einer Legislaturperiode eine Expertenkommission mit dem Jugendbericht, seit 1998 in Kinder- und Jugendberichtumbenannt, beauftragen. Meist publiziert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugendberichte der Regierung
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Empirische Jugendforschung
Forschungsförderung
Jugend die Berichte, von denen bislang zwölf erstellt worden sind. Auch sie bieten jeweils einen aktuellen Überblick über die Lebenssituation junger Menschen und fokussieren gesellschaftliche Problemfelder sowie die Leistungen, Aufgaben und Perspektiven der Jugendhilfe. Die Jugendberichte erschienen 1965, 1968, 1972, 1978, 1980, 1984, 1986, 1990, 1994, 1998 und 2002. Der Neunte Jugendbericht (1994) konzentrierte sich auf die Situation in den neuen Bundesländern im Prozess der Transformation, der Zehnte Kinderund Jugendbericht (1998) setzte sich vor allem mit Kindern und den zur Verfügung stehenden Hilfen auseinander und reflektierte die Notwendigkeit, sozial und sozialpolitisch stärker zwischen Kindern und Jugendlichen zu differenzieren. Der Elfte Kinder- und Jugendbericht (2002) brachte das Verhältnis von öffentlicher und privater Verantwortung zur Sprache und forderte ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Der Energiekonzern Shell zielt auf einen kontinuierlichen Beitrag zur wissenschaftlichen und gesellschaftsweiten Diskussion über Jugend in Deutschland, um diese besser verstehen zu können. Eine solche Finanzierung von Jugendstudien ist kein Einzelfall. Zahlreiche internationale Forschungsprojekte sind von einer finanziellen Ausstattung und Unterstützung aus öffentlichen oder wirtschaftlichen Stiftungen abhängig. Damit werden unter Umständen auch spezifische Richtungen vorgegeben. Insofern können Schwerpunkte im Bereich der Gefährdung oder Abweichung von Jugendlichen gelegt, es kann aber auch die Frage nach gelungenen Jugendentwicklungen gestellt werden. Letzteres ist beispielsweise das Anliegen des 2004 gegründeten „Jacobs Center for Productive Youth Development“ in Zürich. Dessen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich individueller und sozialer Voraussetzungen für eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer europäisch vergleichenden Jugendforschung sowie in der Übergangsforschung von der Schule in den Beruf. Der Begründer der seit 1988 agierenden „Jacobs Foundation“, Klaus J. Jacobs, beschreibt das Programm seiner Stiftung als politisches und ökonomisches Anliegen. Der Jacobs Foundation gehe es um den Zusammenhang des sozialen Wandels und des technologischen Fortschritts mit der systematischen Unterstützung der jungen Generation: „Young People’s hope and energy, their enthusiasm, their imagination, ideals and visions, as well as their willingness to experiment, are the key dimension for social change, economic development and technological innovation.“
8.2 Die Entwicklung der Shell-Studien bis zur deutschen Vereinigung 8.2.1 Die Anfänge in der Bundesrepublik Das Interesse der Praxis
Im November 1953 veröffentlicht das EMNID-Institut für Meinungsforschung in Bielefeld eine von der Deutschen Shell Aktiengesellschaft in Auftrag gegebene „Untersuchung zur Situation deutscher Jugend im Bundesgebiet“. (JUGENDWERK SHELL 1953) Untersucht und befragt wurden 1500 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren. Im Vorwort wird die damit ebenfalls verbundene pädagogische Intention benannt:
Jugendforschung bis zur deutschen Vereinigung „Der Gedanke zur Durchführung einer Untersuchung, wie sie hier vorgelegt wird, tauchte zum ersten Mal auf, als im März 1952 Jugenderzieher, Jugendbetreuer sowie Leiter und Leiterinnen von Jugendgruppen im ,Jugendhof Vlotho über das Thema ,Jugend und öffentliche Meinungsbildung diskutierten. Aus der unmittelbaren Praxis der Jugendarbeit heraus wurde hier das Verlangen nach repräsentativen Unterlagen über Meinungen und Verhaltensweisen der Nachkriegsjugend im Bundesgebiet deutlich, um dadurch zuverlässige Informationen über den derzeitigen geistig-seelischen Standort der deutschen Jugend zu erhalten.“ (Ebd., S. 5) ,
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Das Zitat belegt, dass zunächst im pädagogischen Feld die Forderung nach Empirie laut wurde. Diese professionell und ehrenamtlich tätigen Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter verfolgten das Ziel, ihre Erfahrungen in die pädagogische Praxis zurückzuführen, um diese zu verändern. Allerdings war außer dem Arzt, Psychologen und Sonderpädagogen Helmut von Bracken niemand aus der Pädagogik an der Untersuchung beteiligt. 1953 hatten die Verantwortlichen zweifellos die Fragen vor Augen, welche Einstellung die Jugendlichen zum Nationalsozialismus hatten und wie sie die noch junge Demokratie beurteilten. Diese erste Studie bietet einen eindrucksvollen Überblick über Methodenstand und Fragetechnik. Befragt wurden Jugendliche der Jahrgänge 1929 bis 1938, die nach repräsentativen Kriterien wie Region, Schulabschluss, Geschlecht und Status ausgewählt worden waren. Die Befragung erfolgte in Form mündlicher Interviews, von denen etwa 1 500 geführt wurden. Im Vorfeld wurden die Interviewer von EMNID geschult bzw. mit konkreten Arbeitsanweisungen ausgestattet. Dabei wurden sie auf besondere Schwierigkeiten der Interviewführung gegenüber Jugendlichen vorbereitet: „Diese Interviews mit Jugendlichen werden Ihnen wenig Schwierigkeiten bereiten, wenn Sie den richtigen Ton finden. Stellen Sie sich bitte ganz auf den Jugendlichen ein. Im allgemeinen werden Sie die Anrede Sie anwenden müssen. … Bitte vermeiden Sie alles, was die Antworten des Jugendlichen beeinflussen könnte. Sie wissen, dass Jugendliche sehr leicht durch scheinbar unbedeutende Nebenbemerkungen zu beeinflussen sind.“ (Jugend zwischen 15 und 24 1954, S. 113)
Die insgesamt 41 Fragen lassen sich in Themengruppen sortieren. Die Autorinnen und Autoren der Studie nehmen diese Gruppierung in der Darstellung der Ergebnisse selbst vor und verweisen auf folgende inhaltliche Abschnitte: Der Jugendliche und die Gemeinschaft, seine Einstellung zur Erziehung, Jugend und Beruf, kulturelle und publizistische Einflüsse, Religion und Kirche, Jugend und Politik, Jugend und Ehe sowie Grundrichtungen und Wünsche. Wie muss man sich die Fragen vorstellen? Teilweise musste man mit ja oder nein antworten, ein großer Teil der Fragen war jedoch relativ offen formuliert. Zur Veranschaulichung werden einige Fragen aufgelistet: „1a) Welche Rundfunksendung hören Sie am liebsten? … 1b) Hörten Sie gestern oder vorgestern Rundfunk? … 8a) Gehören Sie einer Jugendorganisation, also einer Jugendgruppe, einem Bund, einer politischen, sportlichen, konfessionellen oder gewerkschaftlichen Jugendvereinigung an? Bitte nennen Sie alle Gruppen oder Organisationen, denen Sie zur Zeit angehören. (Interviewer fragte zum Schluß zurück, ob keine Organisation vergessen wurde.) …
Fragetechnik und Methodenstand
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Empirische Jugendforschung 8e) Welches sind die wichtigsten Eigenschaften eines guten Jugendführers? … 10a) Sollen Jugendgruppen Uniform tragen? … 10b) Warum bzw. warum nicht? … 17a) Jeder von uns hat so etwas wie ein Vorbild. Wem möchten Sie am liebsten in etwa gleichen? … 28a) Können Sie mir den Namen des Bundespräsidenten nennen? … 31) Woran lag es, dass wir den letzten Krieg verloren haben? … 33a) Was waren Ihrer Meinung nach die wesentlichen Merkmale des Nationalsozialismus?“ (Jugend zwischen 15 und 24 1954, S. 116 – 123) Erste Ergebnisse
Politische Bildung
Die Ergebnisse wurden in Tabellen und Graphiken dargestellt und in kurzen Berichten erläutert. So bot die Erhebung sicherlich einen ersten Überblick u. a. über die politische Einstellung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, über deren Bewusstsein hinsichtlich des Nationalsozialismus, über religiöse Orientierungen und kulturelle Einflüsse. Ferner ging es um die Bedeutung der Gleichaltrigen und Eltern. Im Mittelpunkt stand jedoch zweifellos das Interesse, etwas über den Bedarf an politischer Bildung zu erfahren. Letzteres zeigen insbesondere die Fragen über Autorität, Gemeinschaft, Krieg, Demokratie oder Uniformierung. Diese empirischen Ergebnisse könnten mit Erkenntnissen über Reeducationmaßnahmen und politischen Bildungsbemühungen an den Erwachsenen, deren Wahlverhalten usw., verbunden werden, um die Stimmung der Jugend in den Fünfzigerjahren rekonstruieren zu können. Insbesondere die USA wollten durch ein umfassendes Umerziehungsprogramm die Deutschen nach dem Nationalsozialismus zu demokratischen Bürgerinnen und Bürgern erziehen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Ein wichtiger Theoretiker für diese Reeducation war John Dewey. Welche Erkenntnisse konnten nun aus der Befragung gewonnen werden? Und welche waren für die politische Jugendbildung interessant? 1953 zeigte sich, dass eine große Mehrheit der befragten Jugendlichen der deutschen Demokratie positiv gegenüberstand, aber immerhin 19% dagegen waren und fast 30% Vorbehalte gegenüber Europa und einer internationalen Aufgeschlossenheit hatten. Dies korrespondierte mit den Ergebnissen über die Einstellung zum Nationalsozialismus und zur Person Adolf Hitlers. Hier bekannten sich 11% zu einer positiven Wertung, wohingegen fast 40% keine Stellungnahme abgaben. An diesem Beispiel lässt sich die Abhängigkeit empirischer Jugend- und Einstellungsforschung von der politischen und historischen Situation einer Gesellschaft und ihrem Interesse an einem spezifischen Wissen über Jugend deutlich zeigen. In den Fünfzigerjahren waren die Haltung gegenüber der neuen und durch die militärische Niederlage möglich gewordenen Demokratie sowie die Einschätzung des Nationalsozialismus und seiner historisch weiter zurückreichenden Ideologie zentral. Hier setzte die politische Bildungsarbeit an. Sie hatte jedoch das Problem, dass die pädagogische Vermittlung demokratischer Werte dann besonders schwierig war, wenn die Personen, also Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer selbst nicht demokratisch mit den Jugendlichen umgingen. So war beispielsweise in Elternhaus und Schule die Prügelstrafe für Jugendliche nicht unüblich. (GROTUM 1994; PREUSS-LAUSITZ u. a. 1983) Nicht zuletzt deshalb wurden vermutlich teilweise Vergleichsdaten aus Meinungsumfragen unter Erwachsenen herangezogen. So
Jugendforschung bis zur deutschen Vereinigung
zum Beispiel bei der Frage, ob eine Ehe mit einem Juden oder einer Jüdin eine glückliche sein könne. (Ebd., S. 101) Zudem spielte die Existenz der DDR und deren ganz anders ausgerichtete Jugendpolitik und -pädagogik eine erhebliche Rolle im Hinblick auf die Interessen an der bundesrepublikanischen Jugend. Vor dem Hintergrund des „Kalten Krieges“, der in Deutschland in der Teilung sein herausragendes Symbol fand, reagierte die Bundesrepublik mit neuen Maßnahmen für den Jugendschutz. Dieser bezog sich auf politische, familiäre, kulturelle, ethische und natürlich sexualpädagogische Aspekte und beeinflusste alle pädagogischen Felder wie Schule, Jugendhilfe und Jugendarbeit. (GROTUM 1994) Die Autoren der Shell-Studie betonten die dringend gebotene Vorsicht bei der Interpretation der Daten. Deshalb bemühten sie sich um eine neutral wirkende Darstellung errechneter Ergebnisse und waren sehr vorsichtig mit komplexen Interpretationen. Zugleich machten sie auf ein Phänomen, das die empirische Jugendforschung nach wie vor begleitet, deutlich aufmerksam: Die Schwierigkeit der Verallgemeinerung und der Vereinheitlichung von Ergebnissen. Sie hoben die Vielfalt von Auffassungen, die Heterogenität von Haltungen und die Variationsbreite von Verknüpfungen hervor:
Abgrenzung zur DDR
Aussagefähigkeit der Befragungsergebnisse
„Nicht nur in den Antworten, die von den Jugendlichen im Zusammenhang mit den meinungsbeeinflussenden Faktoren der Publizistik und Kultur gegeben wurden, sondern auch bei vielen anderen Fragenkomplexen, fällt die große Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Interessen- und Einstellungsrichtungen der Jugendlichen auf, die viele der weit verbreiteten Verallgemeinerungen über die geistige Orientierung der heutigen Jugend als problematisch erscheinen lassen bzw. diesen oft nur für einen bestimmten und begrenzten Kreis der Jugendlichen Gültigkeit geben. In den Antworten der Jugendlichen treten meist nebeneinander sehr verschieden gerichtete Tendenzen zutage.“ (JUGENDWERK SHELL 1953, S. 21)
Gleichwohl stellten die Autoren in manchen Abschnitten deutliche Tendenzen heraus: Beispielsweise hielten sie die Kontaktarmut von nahezu der Hälfte der Befragten für bedenklich. (Ebd., S. 23) Solche Aussagen waren für die pädagogische Praxis von Relevanz, auch wenn keine Erklärungen dafür geboten wurden.
8.2.2 Folgestudien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Die zweite Studie zur Situation der deutschen Jugend im Bundesgebiet von 1955 wies eine vergleichbare Struktur zur ersten auf, wobei seelische Probleme, Vorbilder und bewunderte Persönlichkeiten sowie der Sport ausführlicher behandelt wurden. In beiden repräsentativen Umfragen spielten jugendtheoretische Überlegungen zumindest keine große Rolle (s. a. JUGENDLICHE HEUTE 1955). Obwohl der Leiter des EMNID-Instituts, Karl-Georg von Stackelberg, im Vorwort die Absicht bekundete, die Umfrage jährlich fortzuführen, erschien erst 1966 die dritte, mit dem Konzern Shell verbundene, Jugendstudie zur Situation der deutschen Jugend. Das heißt, in dem Moment, in dem Jugendliche als „Halbstarke“ die Kultur der Bundesrepublik mit ihren Krawallen irritierten, wurden zunächst keine weiteren Shell-Jugendstudien in Auftrag gegeben (vgl. GROTUM 1994). Allerdings veröffentliche der thema-
Zögerliche Weiterentwicklung der Shell-Studien
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Empirische Jugendforschung
Zur dritten Studie 1966
Bildung und Freizeit
tische Leiter der zweiten Studie, Rolf Fröhner, noch 1956 Daten über die Halbstarken. (FRöHNER 1956) Außerdem entstanden im Umfeld pädagogischer und psychotherapeutischer Forschung neue Studien über abweichendes Verhalten. (BONDY/BRADEN/COHEN/EYFERTH 1957; ZULLINGER 1958) Die dritte Studie, die vom Shell-Konzern finanziert wurde, erschien 1966 in einer spannungsreichen Zeit, in der intensiv über die Bildungschancen der deutschen Jugend diskutiert wurde. Bildung war ein dominierendes gesellschaftliches Thema nicht nur unter Pädagoginnen und Pädagogen. Erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte hatte der Religionsphilosoph Georg Picht (1964) der Gesellschaft eine „Bildungskatastrophe“ attestiert. Picht kritisierte angesichts eines technologischen Rückstandes die mangelnde Ausschöpfung von so genannten „Begabungsreserven“. Ausgangspunkt für diese These bildete der „Sputnikschock“ der westlichen Länder. Die Sowjetunion hatte es nämlich vor den USA und dem gesamten Westen geschafft, einen Satelliten (Sputnik) zu entwickeln und zu erproben. Darüber hinaus übte Picht systematische Kritik an der Sozialauslese des dreigliedrigen deutschen Bildungssystems und an der dadurch in der Schule verankerten sozialen Ungerechtigkeit. 1966 erschien das ebenfalls viel beachtete Buch des Soziologen Ralf Dahrendorf „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965). Dazu passend hatte die Jugendstudie erstmals einen thematischen Schwerpunkt: nämlich Bildung und Freizeit. Sie unterschied sich zudem von den ersten Untersuchungen durch eine vorab erfolgte theoretische Begriffsklärung. In einer Vorstudie wurden die Begriffe Jugend, Bildung und Freizeit reflektiert und ihre historische Verwendung rekonstruiert. Für den Begriff Jugend bezogen sich die Autoren um den Jugend- und Freizeitforscher Viggo Graf Blücher auf Schelskys Definition von Jugend als einer Phase des Übergangs. Ihre operationale Definition von Jugend lautet demnach folgendermaßen: „Unter Jugend sollen in der vorliegenden Untersuchung junge Menschen der an die Volksschulzeit anschließenden Jahrgänge verstanden werden, die nicht mehr ,Kind und noch nicht ,Erwachsene sind, d. h. sich zumeist noch in der Ausbildung und noch nicht im endgültigen Beruf befinden. Verheiratete bleiben ausgeklammert.“ (JU2 GENDWERK SHELL 1966/ 1967, S. 7) ,
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Sozialisation durch Familie und Medien
Darüber hinaus machten die Forscher deutlich, dass sie sich von der in der Pädagogik maßgeblich unter Andreas Flitner (1963) erfolgten Konzentration auf jugendliche Subkulturen distanzieren und stattdessen von einer Verankerung des Jugendlichen in seiner Familie ausgehen wollten. Mit dieser Positionierung der Familie gegenüber der Gleichaltrigengruppe hing zudem das Forschungsinteresse für den so genannten „freien Bildungsraum“ außerhalb der Schule zusammen. Von Bedeutung war in dem Zusammenhang die Frage, ob und in welcher Form die den Jugendlichen quantitativ zur Verfügung stehende Zeit einen qualitativen Beitrag zur Bildung zu leisten vermochte. Insgesamt hielt man es für erwiesen, dass die Ausgestaltung des freien Bildungsraums und der Freizeit sowie die damit verbundenen Chancen vor allem von den Familien abhingen. Diese Prozesse fasste man in der Studie unter den Begriff der „Sozialisation“ zusammen. Hier und in anderen Studien wie z. B. in einer Untersuchung über Mädchen (GöBEL 1964; BLüCHER 1966) wurde insgesamt das
Jugendforschung bis zur deutschen Vereinigung
Forschungsinteresse am Verhältnis der Jugend zu den Erwachsenen sichtbar. Das führte zu einer starken Fokussierung auf die Familie. Erst in der sechsten Shell-Studie von 1975 fragte man schließlich im Bewusstsein eines gesellschaftlichen Wandels seit Ende der sechziger Jahre nach der Bedeutung der Gleichaltrigen und kam zu einer Relativierung familiärer Sozialisation im Jugendalter. (Jugendwerk SHELL 1975) Die dritte Studie kritisierte die Unterschätzung der Familie in der zeitgenössischen soziologischen Forschung, aber sie verwies auf die Unterschiede hinsichtlich der Einflussgröße des Elternhauses innerhalb der Bildungsgebiete. Hinzu kam in den Sechzigerjahren ein sich zunehmend ausbreitendes und heute hoch relevantes Feld: die Bedeutung von Massenmedien, ihre Wirkung und der jugendliche Umgang mit ihnen. Während sich die empirische Jugendforschung der Gegenwart mit Computer- und Videospielen und den Möglichkeiten des Internets beschäftigt, konzentrierte man sich 1966/67 noch auf den Fernsehkonsum. Seither aber nimmt die Untersuchung von medialer Präsenz in Jugendkulturen, von Medienkonsum und Medienwirkung einen breiten Raum in der Jugendforschung ein.
8.2.3 Die Shell-Jugendstudien seit den Siebzigerjahren In diesem Abschnitt kann lediglich ein kurzer Überblick über Themenspektren und Problemwahrnehmungen bis zur deutschen Vereinigung gegeben werden. Erst Mitte der Siebzigerjahre wurde die Jugendforschung um den Shell Konzern wieder aktiviert. Die bereits erwähnte dreibändige sechste Shell Studie von 1975 enthielt umfangreiches Material über die Jugend nach 1968. Sie thematisierte den Prozess der Ablösung vom Elternhaus als Teil und Vorbedingung für die Identitätsbildung des jungen Menschen. Das Themenspektrum um jugendliche Identität hatte demnach seit Eriksons Jugendtheorie nicht an Aktualität und Interesse verloren. Es bot der empirisch angelegten Jugendforschung Anknüpfungspunkte an gesellschaftstheoretische Überlegungen. (DöBERT/NUNNER-WINKLER 1975) Der in der Theorie an den Begriffen Ablösung und Identität markierte Generationenkonflikt wurde durch die Shell Studie jedoch nicht bestätigt, sondern relativiert. Über die Jugend in den zwei Jahrzehnten vor der Vereinigung heißt es rückblickend:
Relativierung des Generationenkonfliktes
„Die Jungen glauben nicht an einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Jung und Alt. Die Generationenkluft ist aus ihrer Sicht im realen Leben viel kleiner, als von den Medien immer behauptet wird.“ (SHELL DEUTSCHLAND Hg. 2002, S. 61)
Der Soziologe Abels beurteilt diese Diskrepanz zwischen Theorie, medialer Dramatisierung und empirischer Datenlage folgendermaßen: „Die Ergebnisse waren denn auch dazu angetan, die Gesellschaft zu beruhigen, ihr den Eindruck zu vermitteln, dass sich die Jugend keineswegs gegen die gesellschaftliche Ordnung stelle. Emanzipation hielt sich in den Grenzen temporärer Widerspenstigkeit.“ (ABELS 2000, S. 91)
Anfang der Achtzigerjahre wurde ein Perspektivenwechsel innerhalb der Jugendforschung versucht. Das zeigt sich bereits im Titel: Seit 1981 tragen
Perspektivenwechsel
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Empirische Jugendforschung
die Shell-Studien die prägnante Formel „Jugend ’81“ usw. Den Autoren ging es nun um eine Orientierung an der Biographie, um Zukunftsperspektiven und um jugendkulturelle Ausdrucksformen. Die Biographieforschung begann sich auch in der Erziehungswissenschaft zu etablieren und das schlägt sich bis heute in der Jugendforschung nieder. Nicht zuletzt die zunehmende Infragestellung konventioneller Lebensentwürfe brachte diesen Perspektivwechsel hervor. Er war insofern notwendig, als die Selbstverständlichkeit, sich alterskonform zu verhalten, vielfach nicht mehr gegeben war und die Bereitschaft zu alterskonformem Verhalten sank. Damit begannen Altersnormen allmählich an Relevanz und Verbindlichkeit zu verlieren, ein Prozess, der Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene betraf. Im Rückblick stellt sich diese Tendenz folgendermaßen dar: „Anfang der 80er Jahre machen die Erwachsenen eine aufregende Entdeckung: Die Jugendphase dauert viel länger, als man bisher vermutet hatte – zumindest für einen beachtlichen Teil des deutschen Nachwuchses. Nach der Schule treten die Jugendlichen nicht automatisch ins Erwachsenenleben über, sondern viele schwappen in eine Art ,Nachjugendphase ; die Wissenschaftler der ,81 Shell Studie nennen sie ,Postadoleszenz .“ (SHELL DEUTSCHLAND Hg. 2002, S. 62) ,
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Die Sicht von Jugendlichen
Jugendliche Skepsis
In dieser Studie „Jugend ’81“ wurden weitere Veränderungen dokumentiert: Man versuchte Zukunftssichten, Lebenskonzepte und biographische Perspektiven aus Sicht der Jugendlichen zu rekonstruieren. Das heißt, die Jugendlichen selbst kamen stärker als zuvor „zu Wort“, ohne dass die Vorstellungen sofort normativ eingeordnet worden wären. Seitdem zählen zu den Merkmalen der Shell-Studien erstens der spezifische Blickwinkel, der den Sichtweisen der Jugendlichen folgt und zweitens die methodische Vorgehensweise. Diese kombiniert quantitative und qualitative Methoden; auch werden Vergleiche zu den früheren Studien gezogen und insgesamt die Daten möglichst detailliert ausgewertet. Inhaltlich zeigte sich 1981 deutlich die Skepsis der Jugendlichen hinsichtlich ihrer persönlichen und der gesellschaftlichen Zukunft. Ein Resultat, so die Autoren, sei die Abwendung von der etablierten Gesellschaft und eine intensive Hinwendung zur Jugendkultur. Orte dieser Jugendkultur konnten autonome Jugendzentren, Wohngemeinschaften, besetzte Häuser, Kinderund Frauenläden oder Szenekneipen sein. Außerdem kamen die Autoren, zu denen u. a. Jürgen Zinnecker zählte, zu dem Schluss, die erste Jugendgeneration untersucht zu haben, die mit einer allmählichen Liberalisierung der Elternhäuser aufgewachsen sei. Autorität und Repression waren dem gesellschaftlichen Anspruch nach durch Partnerschaft und Freiheit im Generationenverhältnis abgelöst worden. Auch die Studie „Jugendliche+Erwachsene ’85“ verdeutlicht die Tendenz einer wachsenden Bereitschaft der Erwachsenen, Verständnis für Jugendliche aufzubringen. Eigenverantwortung, Selbstbehauptung und das Bekenntnis zur Jugendkultur setzten sich nach der Datenlage in den Achtzigerjahren durch. Die Jugendforschung ging davon aus, dass sich die Mentalität der Jugend stark verändert hatte: „Die Jugendlichen sind ganz allgemein offensiver geworden. Und sie sehen ihr Leben nicht mehr so optimistisch. Aufrüstung, Jugendarbeitslosigkeit, Schulstress – lau-
Jugendforschung nach der deutschen Vereinigung ter Dinge, die ihnen die Zuversicht nehmen. Die Jugend hat eines erkannt: Der Teufel steckt im Detail. Und provokant stellt sie daraufhin die Frage: Wo aber steckt Gott?“ (SHELL DEUTSCHLAND Hg. 2002, S. 63)
An den Ergebnissen der Shell-Studien lässt sich zeigen, dass Jugend und Jugendliche in der Bundesrepublik mit den Halbstarkenkrawallen in den Fünfzigerjahren, den Protesten und Folgen von 1968 auch weiterhin ein beliebtes Objekt massenmedialer Präsentation blieben (vgl. auch BUDE 1995). Die Popularisierung und Kommerzialisierung bestimmter Stile und Phänomene stand dabei allerdings nicht selten im Kontrast zu empirischen Ergebnissen.
8.3 Empirische Jugendforschung nach der deutschen Vereinigung 8.3.1 Zur methodischen Entwicklung Ein markantes Merkmal der Shell-Jugendstudien ist seit 1981 die systematische Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden. In der jüngsten Studie (2002) wird das methodische Vorgehen folgendermaßen dargestellt: „Auch bei der neuen 14. Shell Jugendstudie wurde wieder auf das bewährte Studiendesign zurückgegriffen, eine standardisierte, quantitative Erhebung bei einer ,repräsentativen Stichprobe von Jugendlichen durchzuführen und diese dann durch eine qualitative Erhebung mit 20 Portraits von Jugendlichen, die nach systematischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden, zu ergänzen.“ (SCHNEEKLOTH 2002, S. 415) ,
Wechselweise entscheidet sich das Autorenteam zwischen einer deutlichen Panoramastudie, die einen Gesamtüberblick verschaffen sollte oder einer Konzentration auf zuvor festgelegte Themenschwerpunkte. Die biographischen Portraits fehlen in keiner Studie. Sie geben interessante und dichte Einblicke in jugendliche Biographien und in die Sprache junger Menschen. Hier zwei Beispiele aus „Jugend 2002“, in der es auch um das Engagement von Jugendlichen im öffentlichen Raum ging: Das erste Portrait ist von der 21-jährigen Anna aus Berlin. Zunächst wird in einer kleinen Einleitung die aktuelle Situation beschrieben, danach wird aus dem Interview zitiert: „Anna ist in Ostberlin aufgewachsen und absolviert gerade eine Ausbildung zur Mediengestalterin. Neben ihrer Arbeit engagiert sie sich stark in einem schwul-lesbischen Internet-Café, um anderen Jugendlichen in ähnlicher Situation, in der sie war, eine Anlaufstelle zu bieten. ,Ich arbeite in einem Café, was für Jugendliche ist, ja, und praktisch fallen da ganz einfach organisatorische Sachen an, die das Café betreffen … Und es geht hauptsächlich darum, Kontakt zu Jugendlichen aufzunehmen, die in unser Café kommen, und ihnen eine Möglichkeit zu geben, Freiraum zu haben, wo sie unbefangen sein können, da es ein schwul-lesbisches Café ist. “ (DEUTSCHE SHELL Hg. 2002, S. 380) ,
Im zweiten Beispiel werden die beiden sechzehnjährigen Ronald und Digga portraitiert:
Portraits
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Empirische Jugendforschung „Ronald und Digga leben in Dresden. Beide sind in der 10. Klasse am Gymnasium, allerdings an unterschiedlichen Schulen. Digga wird zum nächsten Schuljahr auf eine Realschule wechseln. Beide spielen zusammen in einer Band. Schon seit vier Jahren sind sie Punks. Durch ihren Anblick sollen die Menschen darauf hingewiesen werden, ,dass es auch Leute gibt, die anders sind, die nicht nur in Karstadt einkaufen, sondern die auch in der Lage sind, für sich selber frei zu sein. … Punk bedeutet für die beiden, dass sie mit ihrem Aussehen ihre Umgebung provozieren und gesellschaftliche Normen in Frage stellen wollen: ,Letztlich ist ja die Frage: Was ist normal? Ist es noch normal, wenn jemand mit normalen Klamotten rumrennt und grüne Haare hat? … ,Ich genieße die abwertenden Blicke und lache so im Innerlichen darüber. (DEUTSCHE SHELL Hg. 2002, S. 386) ,
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8.3.2 Jugend seit der deutschen Vereinigung Situation der Jugend
Im Anschluss an die deutsche Vereinigung entstand eine Fülle an Literatur zur Situation der Jugend. In vielen empirischen Studien ging es, wie in den zwei ersten Nachkriegsjahrzehnten, um die politische Einstellung der Jugend gegenüber dem Gesellschaftssystem. Die politische Haltung war nun auch bei der Betrachtung von Transformationsprozessen und ihrer Wirkung bei den ostdeutschen Jugendlichen von großem Interesse. (ANDRESEN/BOCK u. a. 2003) „Die deutsche Wiedervereinigung bedeutete auch für die Jugendforschung eine Herausforderung, denn man musste unterstellen, dass die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme auch zu Differenzen in den Einstellungen geführt haben.“ (ABELS 2000, S. 95)
Gesellschaftliches Engagement
Zu welchen Erkenntnissen kam die empirische Forschung? Die elfte ShellJugendstudie (1992), die sich explizit mit den Jugendlichen im vereinten Deutschland befasste, schien die oben zitierte Annahme nicht zu bestätigen. Weitgehend, so ein Fazit, seien sich Jugendliche in Ost und West sehr ähnlich. Ähnlichkeiten zeigten sich im Freizeitverhalten und in der optimistischen Sicht auf die Zukunft. Die Betonung großer Ähnlichkeiten wurde in den Folgestudien jedoch relativiert. Immer noch unter dem Eindruck konfliktreicher Transformationsprozesse und deren Folgen sowie der beklagten politischen Distanz der Jugend wollte „Jugend ’97“ (JUGENDWERK SHELL 1997) Voraussetzungen, Motive, Formen und Verständnis des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Engagements Jugendlicher analysieren, ohne authentische Sichtweisen aus dem Blick zu verlieren. Die Autorinnen und Autoren dieser Untersuchung gingen mit einer markanten Diagnose an die Öffentlichkeit: Die gesellschaftliche Krise habe die Jugend erreicht. „Wenn die Arbeitsgesellschaft zum Problem wird, dann muß auch die Jugendphase als Phase der biografischen Vorbereitung auf diese Gesellschaft zum Problem werden.“ (FISCHER/MüNCHMEIER 1997, S. 12)
Die Konzeption der Studie basierte auf dem Versuch, über die Ausweitung der qualitativen Methoden durch eine große Zahl narrativer Interviews Politik und politisches Engagement aus Sicht der Jugendlichen zu definieren. Diese Herangehensweise begründete sich aus der Kritik an der klassischen
Jugendforschung nach der deutschen Vereinigung
Einstellungsforschung und einem etablierten Politik- und Engagementbegriff. In der Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse formulierten die Autoren ihr Anliegen folgendermaßen: „Es sollte vermieden werden, dass Jugendliche, die sich nicht im klassischen Sinn sozial oder politisch betätigen, als ,unengagiert oder ,unpolitisch abgestempelt werden.“ (Ebd.) ,
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Ferner bemühte man sich darum, die „feinen“ Unterschiede zwischen ostund westdeutschen Jugendlichen hinsichtlich ihrer Übergangsmöglichkeiten ins Berufsleben, ihrer Zukunftsvisionen, ihrem Vertrauen in Institutionen, ihrer Freizeitpräferenzen oder ihres politischen Engagements darzustellen. Eine sowohl Ostdeutsche als auch Westdeutsche, Mädchen als auch Jungen prägende Generationenerfahrung war 1997 die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Ihr galt die größte Sorge, die Jugendliche artikulierten. An dieser Situation hat sich auch bislang kaum etwas geändert.
8.3.3 Jugendliche deutscher und ausländischer Herkunft im Vergleich Eine multikulturelle Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft leben, macht auch in der empirischen Jugendforschung die Untersuchung von Differenz notwendig. So stellte sich die 13. Shell Jugendstudie „Jugend 2000“ (DEUTSCHE SHELL 2000) die Aufgabe, Jugendliche deutscher und ausländischer Herkunft, vor allem aus türkischen und italienischen Familien, zu untersuchen und damit das Anliegen fortzusetzen, ein möglichst differenziertes Bild von Jugend zu erhalten. Dezidiert richtete sich die Forschergruppe gegen Pauschalisierungen und kennzeichnete ihre thematische Schwerpunktsetzung: „Zum erstenmal haben wir deshalb ausländische Jugendliche in allen Phasen der Studie, sowohl im qualitativen wie im quantitativen Teil, einbezogen. Unser Thema lautet ,Jugendliche in Deutschland‘, also nicht mehr ,deutsche Jugendliche .“ (DEUTSCHE SHELL 2000, S. 12) ,
In „Jugend 2000“ kamen somit auch sehr heterogene Einsichten zutage: Ein eher beruhigendes Ergebnis war der Befund, dass sowohl Jungen als auch Mädchen nach Beruf und Familie strebten und beides miteinander verbinden wollten. Wohingegen die Distanz zur Politik und zu den großen politischen Ideen, wie die der europäischen Einheit, eher zugenommen hatte. Das Aufsehen erregende Detail der Ergebnisse bezog sich jedoch auf das Verhältnis zwischen Jugendlichen deutscher und ausländischer Herkunft. Hier gaben die Autoren u. a. eine Art „Stimmungsbarometer“ (DEUTSCHE SHELL 2000, S. 240) wieder: Dieses bezog sich auf die Einschätzung deutscher Jugendlicher hinsichtlich des Ausländeranteils in Deutschland. Im Durchschnitt gaben gut 62% der deutschen Jugendlichen an, dass sie den Ausländeranteil für zu hoch hielten. Dabei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den Bundesländern: „Am entschiedensten geben dieses Urteil die Jungen und jungen Männer in Ostdeutschland
Multikulturalität
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Empirische Jugendforschung
Passive Demokraten
Zusammenfassung
(71,1%) ab.“ (Ebd., S. 241) Diese Daten erzeugten eine große Debatte über die Bereitschaft und Fähigkeit zur Multikulturalität. Die bislang letzte Shell-Jugendstudie „Jugend 2002“ konzentrierte sich wieder auf das medial vorherrschende Thema der Politikverdrossenheit junger Menschen und untersuchte politische Einstellungen und politisches Engagement. Für den qualitativen Teil haben sich die Verantwortlichen auf politisch interessierte Jugendliche konzentriert, die politische Aktivität über das Internet betreiben. Weiter oben wurden daraus zwei Portraits vorgestellt. Ferner haben sie einen Schwerpunkt auf die geschlechtsspezifische Ausprägung politischer Einstellungen und Verhaltensweisen gelegt. Neben zahlreichen aufschlussreichen Einzelergebnissen, u. a. die soziale Vererbung von Bildungserfolg und -abschluss, kommen die Autoren zu folgendem Ergebnis: Es gibt nach wie vor ein breites Spektrum politischer Ausprägungen und Haltungen. Insgesamt seien die Jugendlichen in Deutschland jedoch pragmatisch, leistungsbereit und vom politischen System durchaus überzeugt. Sie werden jedoch eher als „passive Demokraten“ eingeschätzt. (DEUTSCHE SHELL 2002, S. 14; BEHNKEN/ZINNECKER 2002) Die Studie erstellt in Anlehnung an die Daten eine Typologie der Wertorientierung im Spannungsfeld von sozialem Idealismus und robustem Materialismus. Folgende Typen wurden gebildet: – pragmatische Idealisten, – robuste Materialisten, – selbstbewusste Macher und – zögerliche Unauffällige. Eine solche Typenkonstruktion dient in der empirischen Jugendforschung einer Kontrastierung der verschiedenen Zugänge innerhalb der untersuchten Gruppe und bietet die Möglichkeit plakativer Zuschreibungen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Typisierungen den Aussagen der Jugendlichen angemessen sind. Die Shell-Jugendstudien wurden hier als wichtiger und beachteter Typus empirischer Jugendforschung eingeführt. Sie haben inzwischen eine mehr als fünfzig Jahre alte Geschichte, und sie repräsentieren die sich wandelnde Wahrnehmung von Jugendlichen, den Wandel gesellschaftlicher Fragen an Jugend und Jugendforschung sowie die Entwicklung von politischen Einstellungen, Zukunftsbildern und Bildungsdimensionen in Deutschland seit 1953. Das Interesse an und die häufig artikulierte Sorge um die Einstellung Jugendlicher gegenüber der Demokratie, der deutschen Vereinigung, der europäischen Idee oder einer multikulturellen Gesellschaft verweisen darauf, dass man sich in der modernen Gesellschaft über den Zusammenhang der Entwicklungsmöglichkeiten der Jugend mit denen der Gesellschaft sehr wohl im Klaren ist, aber politisch nicht immer nach diesem Wissen handelt. Insofern kommt den Jugendstudien auch die Funktion der Aufklärung über komplexe Sachverhalte in der pluralistischen Gesellschaft zu. Hiervon können auch die Pädagoginnen und Pädagogen im hohen Maße profitieren. Ferner benötig man empirische Daten, um einer populistischen Dramatisierung sowie einer unangemessenen Pauschalisierung „der“ Jugend keinen Vorschub zu leisten.
Jugendforschung nach der deutschen Vereinigung
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 8 gelesen haben: – Sie sollten wissen, wann die erste Studie vom Shell-Konzern in Auftrag gegeben wurde. – Sie sollten etwas zum Entstehungskontext sagen können, wer daran ein Interesse hatte usw. – Sie sollten die Weiterentwicklung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren darlegen können. – Sie sollten einige markante Aspekte der empirischen Jugendforschung in den folgenden Jahrzehnten bis 1989 nennen können. – Sie sollten wissen, mit welchen Methoden gearbeitet wurde. – Sie sollten darlegen können, worauf sich die „Einstellungsforschung“ bezog. – Sie sollten erklären können, warum die Frage nach der politischen Orientierung in den Shell-Jugendstudien eine große Rolle spielte, und wissen, wann dies besonders der Fall war. – Sie sollten erklären können, worin der Unterschied besteht, nach der Situation der „deutschen Jugendlichen“ oder nach der der „Jugendlichen in Deutschland“ zu fragen.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 8: SHELL DEUTSCHLAND Hg. (2002): 50 Jahre Shell Jugendstudie. Von Fräuleinwundern bis zu neuen Machern. München. Dieses interessant geschriebene und mit zahlreichen Fotografien gestaltete Buch gibt einen Überblick über die Shell-Jugendstudien und bietet Einblicke in die Geschichte der Jugend in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr lesenswert und informativ. ZINNECKER, JüRGEN (2001): Fünf Jahrzehnte öffentliche Jugend-Befragung in Deutschland. Die Shell-Jugendstudien. In: MERKENS, HANS/ZINNECKER, JüRGEN Hg.: Jahrbuch Jugendforschung. 1. Ausgabe. Opladen, S. 243 – 274. Jürgen Zinnecker gehört zu den bekannten deutschsprachigen Kindheits- und Jugendforschern und war selbst an den Shell-Jugendstudien beteiligt. Sein Artikel in dem Jahrbuch zur Jugendforschung gibt einen hervorragenden Überblick über die Geschichte der Shell-Studien.
9 Moderne Jugendforschung im Spannungsfeld von Geschlecht und Kultur Im letzten Kapitel dieser Einführung sollen weiterführende Forschungs- und Theorieperspektiven dargestellt und diskutiert werden. Diese beziehen sich auf Entgrenzung (9.1), Geschlecht (9.2) und Kultur (9.3). Insbesondere an der Weiterentwicklung der Themen Geschlecht und Kultur wird das spannungsreiche Verhältnis zwischen Jugendforschung und der Gesellschaft, in der sie stattfindet, noch einmal sichtbar. Ein wesentlicher Ausgangspunkt dieses Buches war die These, dass die Bedeutung der Jugendphase in den einzelnen
Jugendpolitische Anwaltschaft
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Jugendforschung zwischen Geschlecht und Kultur
Biographien, ebenso wie im sozial organisierten Generationenverhältnis, mit der Etablierung der Jugendforschung eng zusammenhängt. Diese war zudem im zwanzigsten Jahrhundert stets an den gesellschaftlichen Wandel gekoppelt. Dessen Phänomene wirken sich immer auch auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen aus und können als Chancen oder Risiken wirksam werden. Insbesondere das Anwachsen der Risiken wie Jugendarbeitslosigkeit, soziale Benachteiligung, mangelnde Anerkennung oder Suchtverhalten hat einzelne Akteure in der Jugendforschung immer wieder dazu bewogen, in jugendpolitischer Anwaltschaft zu agieren.
9.1 Entgrenzung Jugendforschung und Jugendpolitik
Es zeigt sich gegenwärtig, dass die Gestaltung von Jugend als ein psychosoziales Bildungsmoratorium (ERIKSON) für bestimmte soziale Gruppierungen wieder zur Disposition steht. Das heißt einerseits, dass die Jugendphase in vielen Kontexten nicht mehr durch klare und sichere Rahmungen gestaltet ist, sondern das Aufwachsen, die Organisationsformen in Familie, Schule, Bezugsgruppe und Arbeitswelt unsicher geworden zu sein scheinen. Andererseits bietet die formale Ausbildung vielfach nicht mehr die notwendige Bedingung, um auf den neuen Arbeitsmärkten erfolgreich sein zu können. Um Experten der Informationstechnologie zu sein, sind quasi im Gegenzug gerade Jugendliche meist nicht auf Schule und Elternhaus angewiesen. Das heißt, neben den Risiken gilt es auch die Chancen zu analysieren. Insgesamt handelt es sich bei den geschilderten Phänomenen um eine „Entgrenzung“ der Jugendphase. In der Diagnose des Sozialpädagogen Wolfgang Schröer klingt das folgendermaßen: „Betrachtet man die jüngsten Debatten um Jugend und Bildung, so fällt auf, dass sich die Auseinandersetzungen kaum mehr auf die Jugend als gesellschaftliche Figur beziehen.“ (SCHRöER 2004, S. 109)
Stattdessen würden vornehmlich demographische Überlegungen oder die Konstruktion einer europäischen Bürgerrolle im Blickpunkt stehen, ohne dass beispielsweise die Konsequenzen des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft auf die Lebensphase Jugend genügend reflektiert würden. Schröer folgert daraus: „Die Grundrisse der zukünftigen Sozialpolitik und Bürgergesellschaft werden – so könnte man folgern – gekennzeichnet, ohne dass man sich über die soziale Gestalt Jugend grundlegend vergewissert hat.“ (Ebd., S. 110) Jugend als soziale Gestalt
Die Definition von Jugend war auch vor dem von Schröer diagnostizierten Bruch mit der Tradition der Jugendpolitik und Pädagogik des Jugendalters keineswegs einheitlich. Aber aufgrund seiner Analyse wichtiger Veränderungsprozesse muss die Jugendforschung ihren Gegenstand als Teil eines komplexen Spannungsfeldes betrachten.
Geschlecht
9.2 Geschlecht Der Einfluss geschlechter- und kulturtheoretischer Zugänge hat der Jugendforschung in den letzten Jahrzehnten innovative Perspektiven für Theorie und Empirie eröffnet. Geschlecht und Kultur bilden zwei thematische und strukturelle Pflöcke, durch die das Spannungsfeld moderner Jugendforschung gekennzeichnet ist. Dabei geht es grundsätzlich um Fragen der Anerkennung sowie um Gerechtigkeit und Gleichheit, also um das Risiko der Benachteiligung. Auch dafür wurden unter den Begriffen Geschlecht und Kultur wichtige Impulse für eine erziehungswissenschaftlich angelegte Jugendforschung geliefert.
9.2.1 Die Entdeckung der Mädchen In der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ erschien 1986 ein Beitrag unter dem programmatischen Titel „Die Entdeckung der Mädchen. Neue Perspektiven für die Jugendsoziologie“. (OSTNER 1986) Darin zeigte die Autorin, Ilona Ostner, zentrale Defizite der traditionellen Jugendforschung auf. Ihr Vorwurf konzentrierte sich auf die Illusion einer geschlechtsneutralen Betrachtung von Jugend, weil diese traditionell an der männlichen Normalbiographie orientiert sei. Angesichts dessen forderte Ostner eine grundsätzliche Dekonstruktion dominanter Jugendtheorien. Dekonstruktion bedeutet in diesem Zusammenhang mehr als eine kritische Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten. Der Vorschlag Ostners zielte primär darauf, die unausgesprochene Orientierung an männlichen Jugendverläufen, die implizite Gleichsetzung von Jugend mit männlicher Jugend in den Theorien aufzudecken. Erst dann könne gezeigt werden, dass weibliche Jugend bislang nicht angemessen erfasst werden konnte. Ostner beklagte demnach nicht nur den Umstand, dass Mädchen und weibliche Problemfelder weit weniger Gegenstand der Jugendforschung waren, sondern dass darüber hinaus ein jugendtheoretisch oberflächlicher Umgang mit Geschlechterdifferenz vorherrschen würde. Man könne zwar davon ausgehen, dass in vielen jugendlichen Interaktionen innerhalb der Peer Group männliche Jugendliche dominierten und zahlreiche Subkulturen von diesen geprägt seien, das rechtfertige jedoch nicht, in der Forschung selbst die beteiligten Mädchen lediglich als „Begleiterinnen“ wahrzunehmen. Dieser Argumentation liegt ein Hauptvorwurf der Geschlechterforschung zugrunde: Die durch Forschung erzeugte Bestätigung und Reproduktion der Geschlechterhierarchie. Durch die Marginalisierung von Mädchen in der theoretischen und empirischen Jugendforschung würde ihre tendenzielle Randstellung in vielen gesellschaftlichen Bereichen stets aufs Neue bestätigt. Festzuhalten ist folgendes: Eine Reflexion über den Zusammenhang von jugend- und geschlechtertheoretischen Zugängen lässt sich nicht darauf beschränken, Mädchen und deren Sichtweisen, Problemfelder und Orientierungen sichtbar zu machen oder gar Mädchen permanent als Opfer männlicher Strukturen, männlicher Gewalt und Unterdrückung zu betrachten. Stattdessen kommt es darauf an, die eigenen impliziten geschlechterrelevanten Voraussetzungen stets zu überprüfen.
Reproduktion der Geschlechterhierarchie
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Jugendforschung zwischen Geschlecht und Kultur
Die Geschlechtertheoretikerin Carol Hagemann-White (2002) verweist auf einen inzwischen nicht mehr hinterfragten Standard: „Inzwischen werden in der gesamten Kindheits- und Jugendforschung Mädchen und Jungen unterschieden; … Geschlechtertheoretische Ansätze fragen nach der ordnungs- und sinnbildenden Funktion des Geschlechts und danach, wie Unterschiede, die gesellschaftlichen Ursprungs sind, in einer Art Verschmelzung mit der Zweigeschlechtlichkeit effektiv zur Natur werden.“ (Ebd., S. 143)
9.2.2 Geschlechterforschung im Verhältnis zur Mädchen- und Frauenforschung Geschlecht als Kategorie
Geschlechterforschung
Die Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft hat verschiedene Stadien durchschritten, von denen auch die Jugendforschung beeinflusst war. Während es zunächst tatsächlich um die Entdeckung und um das Sichtbarmachen von Mädchen in der Geschichte – beispielsweise in der Jugendbewegung, in den Institutionen, als Subjekte der Bildung, in Familien, in Jugendbewegung und -kultur – ging, kam es schon bald zu dem Versuch einer theoretisch systematischen Einbeziehung der Geschlechterdifferenz in pädagogische Theorien. Dadurch wurde auch der oben bereits angesprochene Opferdiskurs relativiert, weil es nicht mehr nur um Frauen- und Mädchenforschung im engeren Sinne ging, sondern um die Geschlechterdifferenz als strukturelle Kategorie. Damit ist gemeint, dass das Geschlecht und die Geschlechterdifferenz alle Ebenen der sozialen Umwelt durchziehen und beeinflussen. Geschlecht spielt auch dann eine Rolle, wenn diese nicht sichtbar oder deutlich markiert ist. In einer Einführung in feministische Theorien beschreiben die Autorinnen den Unterschied zwischen Frauen- und Geschlechterforschung folgendermaßen: „Frauenforschung konzentriert sich auf die Angehörigen der weiblichen GenusGruppe, um zum einen die Bedeutung ihrer Erfahrungen und ihres Wissens bei der Einrichtung von sozialen Räumen herauszuarbeiten und ihre Rolle in der Kulturgeschichte sowie der Wissenschaftsentwicklung wider alles Vergessen in Erinnerung zu bringen. Zum anderen deckt sie die Diskriminierungen auf, die Frauen zugemutet werden. Dabei berücksichtigt sie Unterschiede in den Lebenssituationen von Frauen, die auf Differenzen der sozialen Herkunft, der ethnischen Abstammung oder der Hautfarbe zurückzuführen sind. Das heißt nicht, dass auf das männliche Geschlecht kein Bezug genommen würde; es erscheint als Gegenpart und Kontrast, als Machtfaktor und als Folie der Abgrenzung.“ (BECKER-SCHMIDT/KNAPP 22001, S. 36)
Geschlechtsspezifisches Verhalten
Die Geschlechterforschung unterscheide sich davon durch eine generelle theoretische und methodische Verschiebung. „Die soziale Bezogenheit der Geschlechter wird relevant, und zwar im Kontext von sozialgeschichtlich situierten Gesellschaften.“ (Ebd.) Vor diesem Hintergrund wurde die Frage nach den Ursachen für geschlechtsspezifisches Verhalten mit sozialisationstheoretischen Ansätzen verbunden. Sozialisationstheoretisch angelegte Geschlechterforschung untersucht,
Geschlecht „wie sich Kinder und Jugendliche mit einer nach Geschlecht geordneten Umwelt auseinandersetzen und dabei relativ stabile Dispositionen, Eigenschaften und Verhaltensmuster entwickeln.“ (HAGEMANN-WHITE 2002, S. 145)
Hier spielt auch die feministische Schulforschung eine große Rolle, weil sie beispielsweise danach fragt, warum Mädchen trotz formaler Gleichberechtigung auf Handlungsfelder verzichten oder eine ungünstige Berufswahl treffen.
9.2.3 Weibliche Adoleszenz als Thema der Jugendforschung Welche Bedeutung hat die Thematik der weiblichen Adoleszenz für die Jugendforschung? 1992 publizierten Karin Flaake und Vera King einen Sammelband zu dem Thema „Weibliche Adoleszenz“. Dieses Buch erschien in mehreren Auflagen und prägte den deutschsprachigen Diskurs über das Themenspektrum Geschlecht und Adoleszenz. Die Herausgeberinnen, beide Soziologinnen, waren u. a. beeinflusst von der Psychoanalyse und von dem zunächst aus den USA kommenden Diskurs über männliche und weibliche Moral. (GILLIGAN 1982 engl. O./1984) Sie betonten, dass man zur Erforschung weiblicher Adoleszenz soziologische und psychoanalytische Theorieansätze miteinander verbinden müsse. Beides sei für das Verständnis gleichermaßen wichtig:
Soziologie und Psychoanalyse
„Die Wahrnehmung der Körperlichkeit und die subjektiven Interpretationen des Körper- und Geschlechtserlebens sowie die damit verbundenen psychischen Prozesse sind untrennbar verflochten mit der Wahrnehmung und Interpretation der kulturellen Geschlechtsrollenvorgaben.“ (FLAAKE/KING 1992/41998, S. 13)
Aus soziologischer Forschungsperspektive sind Fragen nach strukturell bedingten Selektionsprozessen in Schule, Ausbildung, Hochschule und Beruf von Interesse, ebenso wie die nach subjektiven und geschlechtsspezifischen Zukunftsorientierungen für Partnerschaft, Familie und Beruf. Durch die psychoanalytische Perspektive hingegen erschließt sich die „Konflikthaftigkeit weiblicher Lebensentwürfe auf eine Weise, die scheinbar ,irrationale Bindungen an tradierte Muster ebenso verstehbar werden lässt, wie sie innere Voraussetzungen für Veränderungen bezeichnet. Durch eine Erweiterung der Analysen um die Dimension unbewusster Identifizierungen, Wünsche, Phantasien und Ängste wird deutlich, dass die Orientierung von Mädchen an beruflicher Arbeit bzw. Partnerschaft und Kindern häufig keine gleichgewichtige und nicht allein durch rationale Strategien auszubalancierende ist.“ (Ebd., S. 18) ,
Es geht folglich um widersprüchliche Orientierungen, die sich nicht allein rational erschließen und dem Mädchen Probleme bereiten können, dies hängt, so die psychoanalytische Sicht, auch mit der mütterlichen oder väterlichen Identifizierung des Mädchen zusammen. (OLIVIER 1984) Hierzu bieten wiederum autobiographische Schriften aufschlussreiche Einblicke in Identifikationen und adoleszente Konflikte und Widersprüche auch aus den Reihen der Psychoanalyse selbst. (ANDREAS-SALOMé 1968; DOLTO 2004)
Konflikthaftigkeit
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Jugendforschung zwischen Geschlecht und Kultur Das Themenspektrum
Innovative Perspektiven auf Jugendtheorien
Welche Themen sind für die Erforschung weiblicher Adoleszenz darüber hinaus von Bedeutung? Gefährdungen und Abweichungen, ihre Diagnose und der therapeutische und pädagogische Umgang damit, sodann Körper und Sexualität, Freundschaft und Liebe, Identität und Kreativität, Aneignung von Räumen, Gewalt und Gewalterfahrung, Berufsfindung, Mutter-Tochterbzw. Vater-Tochter-Dynamiken. Insbesondere für die Jugendforschung in der Erziehungswissenschaft sind Kenntnisse darüber wichtig, welche Selbstbilder Mädchen entwickeln und wie dies geschieht, welche Bindungen sie eingehen und von welcher Qualität diese sind, wie sie in der weiblichen Adoleszenz die Ablösungsprozesse bewältigen. Dabei geht es insbesondere für Lehrerinnen und Lehrer oder innerhalb der außerschulischen Jugendarbeit auch um die Frage nach diagnostischer Kompetenz und einem fachlichen Wissen für spezifische Adoleszenzprobleme, die mit der Geschlechterdifferenz zusammenhängen. (KING/ MüLLER 2000) Es geht folglich auch um das zur Verfügung stehende Wissen über Gefährdungen und Abweichungen in der Adoleszenz wie Suchtverhalten oder Gewalt, die auch aus der Perspektive des Geschlechterverhältnisses betrachtet werden müssen. Für die weibliche Adoleszenz geraten beispielsweise Bulimie, Anorexie oder Selbstverletzungen ins Blickfeld. Welche theoretischen Zugänge können als innovativ für die Jugendforschung bezeichnet werden? Erstens wirkten konstruktivistische und diskurstheoretische Ansätze innovativ. Deren Stärke liege darin, kollektive Erfahrungen und Konstruktionen zu erfassen. (HAGEMANN-WHITE 2002) In ihrer Studie über „Jugend, Körper und Geschlecht“ betrachtete beispielsweise Cornelia Helfferich (1994) riskante kulturelle Körperpraktiken, die bei den Akteuren einen Beitrag zur sexuellen Identität leisten sollten. Helfferich ging dabei von einer Konstruktion der Geschlechter aus. Vera King hat in ihrer Studie über die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz einen innovativen Zugang entwickelt, indem sie die Adoleszenz nicht nur als Lebensphase betrachtete, sondern die „potenzielle Qualität dieser Übergangsphase“, den „psychosozialen Möglichkeitsraum“ in den Mittelpunkt stellte. (KING 2002, S. 28 ff.) Sie stellt demnach die Frage nach Kreativität. Im Unterschied zu verdichteten und ritualisierten Übergängen, wie sie aus vormodernen Gesellschaften bekannt seien, biete der psychosoziale Möglichkeitsraum die Chance zur Individuierung. Dabei müsse untersucht werden, welche Chancen, Risiken oder Ressourcenstrukturen für Autonomie, Bindung, Integration und Kreativität damit verbunden seien. Historisch gesehen hat es eine Angleichung der Lebenssituationen und der Bedingungen für weibliche und männliche Jugend gegeben. Jugendliche Mädchen und Jungen haben in etwa die gleichen Bildungsmöglichkeiten, eine vergleichbare Dauer des Moratoriums, Experimentierräume für Beziehungen und beide zögern die Familiengründung hinaus. Trotzdem bestehen nach wie vor Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Adoleszenz beispielsweise im Umgang mit dem sich verändernden Körper, im Selbstwertgefühl und in der Gestaltung der Jugendkulturen. (BREITENBACH 2000) Insgesamt ist mit dem sozialen Entstehen weiblicher Adoleszenz und dem Eintritt von Mädchen und Frauen in nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens, ein neues Konfliktpotenzial entstanden. Mädchen erscheinen weitaus
Kultur
häufiger als Konkurrentinnen als dies noch vor 50 Jahren der Fall war. In einem ähnlichen Sinne schlussfolgert Hagemann-White, dass die Geschlechterperspektive auf Jugend dann wirksam geworden war, als diese sich selbst zu verändern schien. „So stellt sich weniger die Anforderung, Erkenntnisse über Jugendliche als männerzentriert zu relativieren und einen Korpus entsprechender Forschungsergebnisse über Mädchen hinzuzufügen. Vielmehr scheinen Mädchen und Jungen als solche sichtbar zu werden, weil und indem bisherige Erkenntnisse über Jugend ins Wanken geraten.“ (Hagemann-White 2002, S. 156)
9.3 Kultur 9.3.1 Die Entstehung des Neuen in der Jugendkultur Es ist bereits mehrfach thematisiert worden, dass Jugendkulturen für Jugend und Jugendforschung sehr wichtig sind. Hier stößt man auf aktuelle Themen, Trends, Moden, Sprachen der Jugendlichen, kann ihre Bindungen und Übergänge beobachten oder Funktionen der Jugendkultur herausarbeiten. Die Bedeutung der Jugendkultur für die Jugendphase und für einzelne Jugendliche hängt mit modernen Gesellschaftsbedingungen zusammen, von denen in dieser Einführung für die Herausbildung der Jugendphase ausgegangen wird. Vera King beschreibt dies mit folgenden Worten:
Ausgangspunkte moderner Individuation
„So sind auch Jugendkulturen Ausgangspunkte der adoleszenten Individuation im Spiegel der Peers, die emotionale Sicherheitsnetze wie auch Abgrenzungs- und Reibungsflächen darstellen. Aber auch Jugendkulturen sind dabei, auf eine jugendtheoretisch oftmals unbegriffene Weise, vielfältig intergenerativ strukturiert. Zugleich bilden Jugendkulturen adoleszente Räume, in denen sich Geschlechterbedeutungen inszenieren und verdichten, in denen sich Vergeschlechtlichungsprozesse reproduzieren und transformieren.“ (KING 2002, S. 101)
Was heißt das? Jugendliche grenzen sich von den Erwachsenen, ihren Eltern und Lehrern und deren Wert- und Lebenshaltung ab und orientieren sich stärker an und in Gleichaltrigengruppen. Dennoch sind Jugendkulturen nicht frei von Einflüssen, die aus dem dominanten Generationen- und Geschlechterverhältnis resultieren. Für ihre Individuation benötigen die Gleichaltrigen konkrete Räume wie Jugendgruppen, in denen sie ihre spezifischen Interessen gemeinsam umsetzen und schöpferisch tätig werden können. Darüber hinaus bedürfen sie ideeller Räume und Zeit für Aneignung und Kreativität, um Neues schaffen zu können. (DEINET/REUTLINGER 2004) Somit wäre von einer ontologisch bedingten Möglichkeit zum Neuen durch die Plastizität menschlicher Entwicklung auszugehen, ein Gedanke, der die Pädagogik spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begleitet. Die Bildsamkeit nun wird mit der psychischen Destabilisierung und Entstrukturierung in der Adoleszenz konfrontiert. Genau in diesem Schnittfeld liegen die Bedingungen für kreative Potenziale, und zwar nicht nur der Individuen, sondern der gesamten Gesellschaft und ihrer sozialen Wand-
Jugendkulturelle Räume
Bildsamkeit und Plastizität
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Jugendforschung zwischen Geschlecht und Kultur
lungsprozesse. Der kreative Prozess der Adoleszenz besteht aus Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung, er geht ferner strukturlogisch stets mit Einsamkeit als Position des Übergangs einher. King versucht nicht nur eine systematische Verbindung von Individuation und Generativität, sondern fokussiert mit der Frage nach der Entstehung auch die der Verhinderung des Neuen. So wird der Blick auf die sozialen Bedingungen des Aufwachsens für Jugendliche sowie auf die Möglichkeitsräume ihrer Entfaltung und auf die Zeit der Entwicklung gerichtet.
9.3.2 Zugänge der Jugendkulturforschung Patchwork
Es stellt sich die Frage, ob man Jugendkultur primär als Abweichung von der gesellschaftlichen Norm ansieht, ob man sich durch sie gefährdet fühlt, oder ob man davon ausgehen kann, Jugend und Jugendkultur als Motor gesellschaftlichen Wandels zu verstehen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben Jugendliche zwar keine prinzipiell anderen Entwicklungs- und Lebensbewältigungsaufgaben als frühere Jugendliche, sie stehen jedoch in anderen Zusammenhängen. Der Jugendforscher Wilfried Ferchhoff prägte deshalb den Begriff der „Patchwork Identität“ einer „Patchworkjugend“. (FERCHHOFF/NEUBAUER 1997) Roland Roth und Dieter Rucht (2000) kommen zu folgender Einschätzung: „Als Kulturen im Übergang vom Kind zum Erwachsenen sind Jugendkulturen und ihre Artikulationsformen, die gelegentlich, aber eher als Ausnahme bis zum artikulierten politischen Protest reichen können, durch eine spezifische Ambivalenz geprägt. Handelt es sich um mehr oder weniger kurzzeitige Episoden, um Experimente, Lebensstile und politische Orientierungen, die am Ende der Jugendzeit – oder bereits mehrfach in ihr – abgelegt werden und keine Spuren im Erwachsenenalter hinterlassen? … Gewiss scheint nur dies: Jugendliche und Jugendkulturen sind permanenten Veränderungsprozessen ausgesetzt bzw. erzeugen sie. Als Form der Gemeinschaftsbildung ist Jugendkulturen ein Moment von Unberechenbarkeit eigen, das zwischen spielerischer Selbsterprobung und politischer Botschaft schwankt.“ (ROTH/RUCHT 2000, S. 20)
Heterogenität der Jugend
Insofern ist es nachvollziehbar, dass jugendkulturelle Phänomene seitens der Erwachsenen häufig als Bedrohung oder Gefährdung, mit Sicherheit aber als Abweichung wahrgenommen werden. Mit Dieter Baacke und Winfried Ferchhoff etablierte sich im deutschsprachigen Raum ein anderer Blick. Ihnen ging es von Anfang an um eine an der Heterogenität der Jugend ausgerichtete sozialwissenschaftliche Erforschung von Jugendkulturen. In einer Festschrift für Baacke heißt es über dessen Zugang: „Dieter Baackes wissenschaftliches Verdienst ist es, Jugend(sub)kulturen aus dem marginalisierten und diskriminierten Abseits in den Horizont der Normalität und der Berechtigung zu rücken. Andere Jugendforscher rekonstruieren eher ,Jugend als Problem‘, neigen zur Dramatisierung und Alarmbereitschaft, versuchen zu disziplinieren, zu renormalisieren oder zu pädagogisieren.“ (FERCHHOFF/SANDER/VOLLBRECHT 1995, S. 7)
Kultur
Bei der Erforschung von Jugendkulturen mit Hilfe qualitativer, aber auch quantitativer Forschungsmethoden (vgl. GRUNERT 2002), sollen demnach Einblicke in die Vielfalt jugendlicher Lebenswelten eröffnet werden. Themen sind bis heute Stile, Moden, Musik, religiöse oder okkulte Praktiken, der Zusammenhang von Jugendkultur und Modernisierung, Gestaltung und Bedeutung von Events, Umgang mit und Präsenz von Gewalt, jugendliches Risikoverhalten und vor allem auch die Bedeutung und Rezeption von und der Umgang mit alten und neuen Medien.
Themen und Trends
9.3.3 Jugendliche Subkulturen und Widerstand Vielfach wurde in der Jugendforschung darüber diskutiert, ob man von Jugendkultur oder Jugendsubkultur ausgehen müsse. Letzteres bezieht sich auf die Überlegung, dass Jugendliche eine Gegenkraft zu den dominierenden gesellschaftlichen Normen bilden und somit Widerstand gegen gesellschaftliche Normierungen leisten wollen. Eine aus England kommende Forschungsrichtung betrachtet diese Formen als jugendlichen Widerstand, der in bestimmten historischen Kontexten politisch motiviert sein konnte. 1964 wurde in Birmingham das „Centre for Contemporary Cultural Studies“ gegründet. Dieses Forschungsinstitut ging davon aus, dass sich die Kultur westlicher Industriegesellschaften in einen proletarischen und einen bürgerlichen Zweig spalte. Insbesondere proletarische Jugendliche seien deshalb gezwungen, sich in Subkulturen zusammenzuschließen, um von dort aus auf gesellschaftliche Widersprüche und Probleme reagieren zu können. In ihren elterlichen sozialen Herkunftsmilieus würden proletarische Jugendliche keine für sie angemessenen Lösungen für ihre Lebensprobleme finden. Diese gesellschaftskritische und kulturtheoretische Jugendsubkulturforschung ist mit Namen wie John Clarke, Tony Jefferson oder Stuart Hall (1976) verbunden, deren Schriften teilweise auch ins Deutsche übersetzt wurden. (vgl. CLARKE u. a. 1979; WILLIS 1981) Sie inspirierten mit ihren Studien über proletarische Jugendliche in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, über englische Skins oder Rocker und deren Musik auch die deutsche Forschung und den damit verbundenen Diskurs. Was ist das Kennzeichen von Jugendsubkulturen? Sie basieren auf Stilen, zuweilen auch auf bestimmten Ideen, die sich anfangs von der hegemonialen Gesamtgesellschaft deutlich unterscheiden, bevor sie durch Kommerzialisierung in diese übergehen. Viele zunächst als abweichend empfundenen Stile und Ausdrucksformen werden nämlich – das kann man ständig beobachten – vom Mode- oder Musikmarkt übernommen und „gesellschaftsfähig“ bzw. mehrheitsfähig gemacht. (SCHWENDTER 1971; 1995) Einer der Experten, Rolf Schwendter, beschreibt den Wandel folgendermaßen: Die Jugendsubkulturen seien eher durch Stile als durch Ideen bestimmt. „Ein Moment dieser Stile betrifft zumeist eine gruppennormativ konzentrierte Musikrichtung; ihre durchschnittliche Halbwertszeit beträgt ein knappes Jahrfünft; nach dieser Zeit pflegen die Stile marktförmig integriert zu sein (oder, in anderen Fällen, die Subkulturen durch Kriminalisierung zerschlagen); der größere integriert sich (und sei es infolge von Beruf und Familie), der kleinere Teil integriert sich nicht und pflegt
Gegen gesellschaftliche Normierung
Jugendsubkulturforschung
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Jugendforschung zwischen Geschlecht und Kultur die Keimformen für eine nächste oder übernächste Jugendsubkultur auszubilden.“ (SCHWENDTER 1995, S. 12) Stile und Szenen
Innovative Perspektiven
Auch für die Frage nach der Bedeutung unterschiedlicher Stile für Jugendkulturen und Szenen war die englischsprachige Forschung zunächst führend. (HEBDIGE 1983) Inzwischen hat sich die Stilforschung innerhalb der Jugendforschung von der strengen Orientierung an den Hegemonien der Klassengesellschaft distanziert. (VOLLBRECHT 1995) Stattdessen geht man in der Lebensstilforschung davon aus, dass nicht mehr das soziokulturelle Milieu quasi zwanghaft den Stil der Jugendlichen prägt, sondern diese selbst als aktiv Handelnde einen wesentlichen Beitrag zur Stilprägung leisten. Dies korrespondiert insgesamt mit dem Perspektivwechsel innerhalb der Jugendforschung der letzten zwanzig Jahre, durch den die Jugendlichen als eigenwillige Subjekte und Akteure in den Blick genommen wurden. Ein Wechsel, der notwendig war, weil im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen wie der Bildungsexpansion Jugendkulturen nicht mehr auf ihr Herkunftsmilieu beschränkt blieben und durch Migration die Vielfalt komplexer wurden. Dennoch empfiehlt sich eine sehr genaue Analyse über Einflüsse der Herkunftsmilieus beispielsweise für jugendliche Migranten. Der Anschluss an Jugendkulturen erfolgt häufig situativ, wobei sich Jugendliche eher an ästhetischen und weniger an sozialen Werten zu orientieren scheinen. Hinzu kommt, dass heutige Stile meist auch medial vermittelt sind. „Insbesondere entlang spezifischer Musikrichtungen verlaufen heute vielfach die Grenzen verschiedener Jugendszenen“ (ebd., S. 34), wobei schneller Wandel und die Tatsache, dass heute für Jugendliche die Wahl eines Lebensstils nur eine Option unter anderen ist, die Jugendkulturforschung vor besondere Herausforderungen stellt. Gleichwohl liegen gerade in diesem Feld viele und methodisch innovativ anzugehende Möglichkeiten, etwas über die Heterogenität der Jugend in Erfahrung zu bringen, ohne diese stets mit dem Maßstab des Normalen zu messen. Lehrerinnen und Lehrer haben täglich verschiedene Stile, deren Ästhetik und Symbolik sich ihnen nicht immer erschließen, vor Augen, sie hören die sich stets wandelnde Jugendsprache, und sie können selbst die musikalischen Vorlieben ihrer Schülerinnen und Schüler mitbekommen. In der Jugendarbeit hat man möglicherweise Probleme, Interesse für politische Themen zu wecken und sieht sich stattdessen mit der Organisation von Events oder von LAN-Parties konfrontiert. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter setzen sich mit konstanten und neuartigen Formen jugendlichen Risikoverhaltens oder mit Gewaltphänomenen auseinander. In nahezu allen Bereichen spielt die mediale Präsenz und Vermittlung eine zentrale Rolle. Die Beispiele sollen genügen, um die Bedeutung einer innovativen und offenen Jugendforschung im erziehungswissenschaftlichen Kontext aufzuzeigen.
Kultur
Was Sie wissen sollten, wenn Sie Kapitel 9 gelesen haben: – Sie sollten erklären können, was in der Jugendforschung mit dem Begriff „Entgrenzung“ gemeint ist. – Sie sollten wissen, was unter der Überschrift „Entdeckung der Mädchen“ verstanden werden soll. – Sie sollten erklären können, warum die Jugendforschung auch zur Reproduktion der Geschlechterhierarchie mit beigetragen hat. – Sie sollten zwischen Mädchen- und Geschlechterforschung unterscheiden können. – Sie sollten wissen, wie in der neueren Jugendforschung weibliche Adoleszenz thematisiert wird. – Sie sollten den Ansatz von Vera King zur Entstehung des Neuen darlegen können. – Sie sollten erklären können, was sich hinter den Begriffen Jugendkultur und Jugendsubkultur verbirgt. – Sie sollten den Ansatz des „Centre for Contemporary Cultural Studies“ über die proletarische Jugend kennen.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 9: ROTH, ROLAND/RUCHT, DIETER Hg. (2000): Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? Opladen. Dieser Sammelband bietet einen informativen, ein- und weiterführenden Einblick in die komplizierten Zusammenhänge der Jugendkulturen. FERCHHOFF, WILFRIED/SANDER,UWE/VOLLBRECHT, RALF Hg. (1995): Jugendkulturen – Faszination und Ambivalenz. Einblicke in jugendliche Lebenswelten. Festschrift für Dieter Baacke zum 60. Geburtstag. Weinheim/München. Mit der Festschrift wird der Jugend- und Jugendkulturforscher Dieter Baacke geehrt. Der Band besticht durch die doppelte Perspektive des Anliegens: Theorieperspektiven aufzuzeigen und konkrete Einblicke zu ermöglichen. RENDTORFF, BARBARA (2003): Kindheit, Jugend und Geschlecht. Einführung in die Psychologie der Geschlechter. Weinheim/Basel. Barbara Rendtorff geht in dieser sehr lesenswerten Monographie der Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter nach. Darüber hinaus informiert sie über den neuesten Stand der Geschlechterforschung, so dass jugend- und geschlechtertheoretische Zugänge systematisch im Blick sind.
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Personenregister Abels, Heinz 114, 125 Andreas-Salomé, Lou 13
Goldbeck, Ernst 87 Grunert, Cathleen 68, 111, 116
Baacke, Dieter 138 Beauvoir, Simone de 13 Becker, Marie Luise 39 Bernfeld, Siegfried 10 f., 55, 67, 72 – 80, 83, 86, 91, 94 Blos, Peter 95 f., 98 Blücher, Viggo Graf 124 Bowlby, John 96 Bracken, Helmut von 121 Brahn, Max 49 Bühler, Charlotte 67, 70 f., 73, 80 – 86, 87, 89, 91 Bühler, Johannes Christoph von 35, 61 Bühler, Karl 70
Haeckel, Ernst 52 Hagemann-White, Carol 134, 137 Hall, G. Stanley 48 – 56, 61, 67, 76, 80 Hall, Stuart 139 Helfferich, Cornelia 136 Helmholtz, Hermann von 49 Hesse, Hermann 31 Hetzer, Hildegard 91 Hitler, Adolf 122 Hoffmann, Herrmann 36 Hofmann, Ludwig von 32 Hornstein, Walter 59 Hurrelmann, Klaus 116 f.
Carnap, Rudolf 71 Clarke, John 139 Conzen, Peter 98, 99, 103 f., 108 Dahrendorf, Ralf 124 Darwin, Charles 51, 52, 81 Defoe, Daniel 26 Deuchler, Gustav 70 Dewey, John 51, 122 Döbert, Rainer 115 Dudek, Peter 57 f., 63, 68, 71, 86 Eisenstadt, Samuel 113 f. Erdheim, Mario 96 f. Erikson, Erik H. 13, 85, 94, 96, 97 – 109, 113, 125 Felden, Heide von 26 Fend, Helmut 81 Fénelon, Franc¸ois de Salignac de la Motte 24 f., 27 Ferchhoff, Wilfried 59, 138 Fischer, Karl 36 Flaake, Karin 97, 135 Flammer, August 97 Flex, Walter 38 Flitner, Andreas 124 Francke, August Herrmann 24 Franzen-Hellersberg, Lisbeth 44 f. Freud, Anna 94 f., 98 Freud, Sigmund 50, 54, 74, 79, 91, 94, 98 f., 103 Fröhner, Rolf 124 Gandhi, Mahatma 105 Geulen, Dieter 116 f.
Jacobs, Klaus J. 120 Jahoda, Marie 71, 80, 82 James, William 50 Jefferson, Tony 139 Johnson, Uwe 109 Jung, C. G. 50 Kerschensteiner, Georg 62 King, Vera 135, 136 f. Kraft, Volker 19 Krohn, William O. 48 Krüger, Heinz-Hermann 68, 111, 116 Laquer, Walter 38 Lay, Wilhelm August 61 Lazarsfeld, Paul 71, 87 Ludwig XIV. 24, 27 Ludwig, Carl 50 Luther, Martin 100, 105 Madame de Maintenon 24 Mann, Thomas 31 Mennicke, Karl 43 Meumann, Ernst 61 f., 63, 69, 76 Mannheim, Karl 13, 111 Muchow, Martha 65, 70 Musil, Robert 31, 33 f. Neidhardt, Friedhelm 114 Nietzsche, Friedrich 36 Nunner-Winkler, Gertrud 115
Personenregister Parsons, Talcott 113 Picht, Georg 124 Preyer, Wilhelm 81
Spranger, Eduard 67, 72, 81, 86 – 92, 113 Stackelberg, Karl-Georg von 123 Stern, William 65, 68, 69 f., 86
Rilke, Rainer Maria 31 Rimbaud, Arthur 31 Rosenzweig, Saul 55 Roth, Roland 138 Rousseau, Jean-Jacques 12, 16 – 28, 52, 55, 82, 89 Rucht, Dieter 138
Tenbruck, Friedrich 114 Tumlirz, Otto 57, 63 – 65, 68, 69
Schelsky, Helmut 111 – 113 Schmid, Pia 26 Schröer, Wolfgang 132 Schultz, Clemens 41 f. Schwendter, Rolf 139 Spitz, René 96
Uhlendorff, Uwe 43 Wedekind, Frank 31, 32 f. Werfel, Franz 31 Wilde, Oscar 31 Wingrove, Elizabeth 26 Wittgenstein, Ludwig 71 Wundt, Wilhelm 49, 50, 61 Wyneken, Gustav 72, 73 Zinnecker, Jürgen 126
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Sachregister Abgrenzung 137 Abweichung/abweichendes Verhalten 14, 63, 87, 124, 138 Adoleszenz 10, 48, 50 f., 83, 95, 101, 136 f. – weibliche 135 f. – mittlere 95 – späte 96 Adoleszenztheorie 48, 50 f., 53 Akademisches Comité für Schulreform 72 Akteur 11, 111, 140 Amerikanisierung 56 Anerkennung 133 Anlage/Umwelt 64, 77, 84 Anorexie 136 Antipädagogik 72 Antisemitismus 37, 65 Arbeiterjugend (proletarische Jugend) 41, 42, 43, 78, 84, 87, 139 Arbeitslosigkeit 111, 129 Archiv für Jugendkultur 72, Ästhetische Schwärmer (Spranger) 91 Ausbildung (Berufs-)/duale Ausbildungsstruktur 31, 94, 132 Autobiographische Jugenderinnerungen 13 f., 135 Autonomie 37, 73, 101, 104 Backfisch 60 Begabung/-sforschung 60, 69 Bejahung 83 Berufsberatung 69 Berufsfreudige (Spranger) 91 Bewältigungsstrategien 116 Bildsamkeit 64, 137 Bildung 34, 43, 45, 57, 59, 94, 124 Bildungschancen 124 Bildungskatastrophe 124 Bildungsmoratorium (psychosoziales)/Moratorium 10, 73, 85, 94, 97 f., 107 f., 110, 112, 132 Bildungstheorie 64 Biographie 12, 97 f., 107, 126, 132 Biographische Portraits 127 Bulimie 136 Bund für Wanderschwestern 39 Bündische Jugend 38 f. Bürgertum 32 f., 36, 39, 59, 80 Centre for Contemporary Cultural Studies 139 Child-studies 54
Dekonstruktion 133 Demokratisierung 119 Denkfigur/Historische Denkfigur 12 f., 16, 77 Destandardisierung des Lebenslaufs 31 Determinismus 96 Deutsche Teilung 109 Deutsches Jugendinstitut (DJI) 110 Diagnostische Kompetenz 136 Didaktik, Didaktisierung 62 f. Differenz 30, 45, 129 Diskurs 15, 139 Drama der Adoleszenz 95 Drogenkonsum 55 Einbildungskraft 22 Einfache Pubertät 79 f. Einschulung 58 Einstellung/-sforschung 106, 121, 128 Eltern 73, 81, 86, 107 EMNID-Institut für Meinungsforschung 120, 123 Empirie 43, 86, 87, 91, 119 f., 121 Entgrenzung 110, 131, 132 Entpflichtung 107 Entpolitisierung 113 Entwicklung 19, 25, 33, 52, 54, 68, 77, 81, 90, 94, 120 Entwicklungsaufgaben 110 Entwicklungskrisen 100 Entwicklungslogik 100 Entwicklungsmodell 52, 55, 77, 82, 88 Entwicklungspsychologie 64 Entwicklungsstufe 78 Entwurzelung 43 Epigenese 100 Erfahrung 22, 27 Erlebnis 90 Erotik 82 Erster Weltkrieg 14, 37, 38, 61, 69, 73 f., 91, 112 Erwachsene/Erwachsenenphasen 102, 103, 126 Erweckungserlebnis 13 Erziehbarkeit 60 Erziehung 20, 21 f., 28, 34, 43, 53, 57, 68, 86, 117 Erziehungsbedürftigkeit 60, 61 Erziehungsroman 19 Es (psychoanalytisch) 99 Ethik 52 Ethischer Enthusiast (Spranger) 91 Event 140 Evolutionstheorie 50, 51, 52, 98
Sachregister Experimentalpsychologie 49, 61, 71, 81 Experimentelle Pädagogik 61, 62 f., 76 Familie 44, 95, 117, 124 f. Familiengründung 110, 136 FDJ 109 Feministische Kritik 26 Feministische Schulforschung 135 Flegeljahre 60 Formbildung /-strieb 82, 88 Frauenbewegung 39, 46 Freiheit 27 Freizeit 124 Fremdthematisierung 29, 35 Freundschaft 21, 32 Frühadoleszenz 95 Frühreife 55, 56 Führer/Führertum 38, 91
Ich (psychoanalytisch) 99, 103 f. Ich-Ideal 96 Ich-Identität 103 f., 116 Identität/-sbildung 94, 96, 97 f., 103, 117, 125 Identitätskrise 99, 105 Individualentwicklung 52, 55 Individualpsychologie 71 Individuation 90, 116, 136 Industrialisierung 40, 42 Initiationsriten 58, 108, 110 Institutionalisierung 68 Integration 116 Interaktion 117 Interdisziplinarität 15, 16 Internet 130 Intimität 102 Inzesttabu 96
Gefahr/Gefährdung 28, 29, 40, 55, 59, 85, 89, 138 Geisteswissenschaftliche Pädagogik 64, 67, 86 f., 90, 113 Generation 110, 111 f., 117 Generationenkonflikt 125 Generationenverhältnis 18, 23, 126, 132 Generationenvertrag 57 Generationslagerung 111 Generativität 102 Genialische Pubertät 79 Gerechtigkeit 133 Geschichte der Pädagogik 12, 35 Geschlecht 59, 131 f. Geschlechterdifferenz 17, 45, 84, 133 Geschlechterforschung 17, 18, 23, 26 f., 59, 97 Geschlechterhierarchie 133 Geschlechterverhältnis 18, 23, 36 Geschlechtsreife 10, 21, 79 Geschlechtsspezifisches Verhalten 134 Gestreckte Pubertät 79 Gleichaltrige/Peer Group 34, 85, 113, 117, 124 f. Gleichgewicht 89 Großstadt 39 Großstadtjugend 42, 43, 83 Gruppendiskussion 84 Gymnasiasten 35, 78, 109
Jacobs Center for Productive Youth Development 120 Jugend als Lebensform 73 Jugendarbeit 121 Jugendarbeitslosigkeit 41 Jugendbewegung 35 f., 46, 72, 79, 112 Jugendbildung 62 Jugendfürsorge 41, 44, 69 Jugendgewalt 97 Jugendideal 17, 36 Jugendkultur 11, 35, 67, 72 f., 114, 117, 126, 136, 137 f. Jugendkulturforschung 11, 138 f. Jugendliche Arbeiterin 44 f. Jugendlicher 59, 85 Jugendpflege 41 Jugendpolitik 132 Jugendprotest 106, 115 Jugendpsychologie 67 Jugendschutz 123 Jugendsoziologie 67 Jugendsprache 140 Jugendstil 35 Jugendsubkulturforschung 139 Jugendtagebücher 81, 85 Jugendtheorie 52 f. Jugendweihe 110 Junge Gemeinde 109 Jüngling 17, 59 f.
Halbstarke 41 f., 112, 123 Herkunft 59 Hermeneutik 87, 88 Heterogenität 138, 140 Historische Jugendforschung 14, 16 f. Hitlerjugend 35, 38, 65, 111 Homme naturel 24 Homosexualität 33, 40
Kameradschaft 36, 38, 40 Kind/Kindheit 19 f., 53, 60, 77, 82, 89, 96 Kinder- und Jugendbericht 119 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) 119 Kinderheim Baumgarten 74 Kinderpsychologie 89 Kindheitsforschung 48 Ko-Konstrukteure 11
153
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Sachregister Kommerzialisierung 139 Konflikt 100 Körper/-lichkeit/-praktiken 135, 136 Kreativität 136 Kriminalisierung 42 Kriminalität 60 Krise 13, 69, 86, 88, 100 f., 105 f., 117 Kultur/-kritik 31 f., 55 f., 131 f. Kulturpubertät 45, 84 Laborforschung 54 LAN-Parties 140 Latenzzeit 79, 95, 102 Lebenskonzept 126 Lebenslauf/-theorie 12, 83, 86, 99, 100 f., 104 Lebensphase 53, 62, 81 f., 100 f. Lebensreform 37, 46 Lebensstilforschung 140 Lehrerbildung und -weiterbildung 68, 69, 71 Lehrerschaft 48, 58 f., 61 Lehrerverbände und -vereine 68 Leidenschaft 20, 21, 28 Leseerziehung 26 Liberalisierung 115, 126 Libido/-entwicklung 79, 95 Liebe 21, 22, 24 Liebevolle (Spranger) 91 Literatur 31 f. Mädchen/-jugend/weibliche Jugend 23, 25, 39 f., 52, 97, 133 f. Mädchenbewegung 36 Mädchenerziehung 23, 24, 52 Mädchenforschung 59 Mädchenmoratorium 40 Männlichkeit 36 Marginalisierung 133 Marketing 9 Medien/Massenmedien 125 Medizin 60 Meißnerformel 37 Menschheitsentwicklung 52, 55 Menstruation 51 Methoden 21 f., 76 f., 87, 119, 121, 126, 127 Methodentriangulation 119 Migration 140 Minderwertigkeitsgefühle 102 Mittelschichtsjugend 75, 115 Modernisierung 12, 29 f., 108 Moral 21, 101, 135 Motivation 82 Multikulturalität 129, 130 Musik 140 Nachkriegsjugend 111 Nachträglichkeit 96
Naiver Begriff von Jugend 74 f., 78 Nationalsozialismus 65, 70 f., 105, 121 Natur/Natürlichkeit 21, 39, 52 Naturwissenschaft 48 f., 64 Negative Erziehung 25 Negative Phase 83 Neue Erziehung 36 Neurotische Pubertät 79 Nivellierung 113 Normalbiographie 30, 133 Normalitätskonstruktion/-vorstellung 14, 17, 60, 78, 94 Normativer Idealtypus 86, 87 Objektbeziehung 95, 102 Objektiver Geist 88, 89 Opferdiskurs 134 Pädagogische Jugendkunde 57, 60 f., 67, 68, 74, 91 Pädagogische Psychologie 50 Passive Demokraten 130 Patchwork-Identität 138 Patchworkjugend 138 Paternalistisches Modell 88 Phasen/Phasentheorie 95 f. Pionierorganisation 109 Pluralisierung 119 Politik (politisches Gemeinwesen) 22, 24 Politikverdrossenheit 130 Politische Bildung 122 Politisches Engagement 128, 130 Postadoleszenz 96, 102, 126 Präadoleszenz 95 Pragmatische Idealisten 130 Primärgruppen 112 Primitive Pubertät 45, 84 f. Problematiker (Spranger) 91 Problembewusstsein 57 Professionalisierung 48, 61 Professionelle 57 f. Prostitution 55 Prügelstrafe 122 Psychoanalyse 54, 71, 74, 78 f., 82, 86, 89, 91, 98 f., 135 Psychoanalytische Pädagogik 74, 97 Psychologie 50 f. Psychologisches Institut Hamburg 69 f. Psychologisches Institut Wien 70 f. Psychologisches Laboratorium 50, 61, 69 Pubertät 10, 62, 76, 82, 83 Pubertätstheorie 78 f. Realitätssinn 113 Recht auf Jugend 73 Reeducation 122 Reformpädagogik 35, 46, 53, 98
Sachregister Regression 95 Reifung/Reife 34, 53, 82, 85, 88 Rekapitulationsthese 52, 55, 56, 77 Religion/religiöse Erziehung 20, 52 Religiöser Typus (Spranger) 91 Risiken 132 Robuste Materialisten 130 Rocker 139 Rolle/Rollenübernahme 104, 117 Sadismus 34 Schichtspezifische Sozialisation 114 Schule 73 Schulentlassung 58 SchülerInnen 22, 58, 72 Schülerselbstmorde 31, 32 Schulkritik 36 Schulpflicht 75 Schulreform 61 f. Seele/Seelenleben 53, 80, 81 f., 89 Sekundäre Systeme 112 Selbst 103 Selbstbewusste Macher 130 Selbstbildung 64 Selbstthematisierung 29 Selbstverletzung 136 Selektionsprozesse 135 Sexualität 15, 19, 26, 28, 32, 36, 39, 50, 54, 69, 76, 78, 82, 89 Sexuelle Aufklärung 15, 32, 33 Shell-Jugendstudien 119 f. Sinnstruktur 88, 103 Skeptische Generation 11, 112 f. Skins 139 Sowjetische Psychologie 109 Sozialdemokratie 71 Soziale Frage 43 f., 45 Soziale Identität 104 Soziale Ordnung 18, 23, 26, 57 Soziale Probleme 40 f., 51 Soziale Schicht/Differenz 84, 85 Soziale Vererbung 130 Sozialer Ort 78, 80, 94 Soziales Konstrukt 11, 15, 30, 111 Sozialisation/-sprozess 110, 114 f., 116, 124 Sozialistische Persönlichkeit 109 Sozialkonstruktivismus 15 Sozialliberale Bildungsreform 114 Sozialpädagogik 45 Sozialpolitik 44 Sozialpsychologie 98 Sozialstruktur 30 Sozialwissenschaft/sozialw. Jugendforschung 44, 115 f. Soziologische Jugendforschung 110, 111, 113
Sputnikschock 124 Standardisierung des Lebenslaufs 30 Stile 139 Straffähigkeit 75 Straßensozialisation 70 Strukturfunktionalismus 113 Studierende 72, 78 Subjekt 11, 116 f., 140 Subkultur 124, 133, 139 f. Sublimierung 79, 83, 85 Symbolische Ordnung 18, 26 Tagebuchforschung, -analyse 69, 71, 81, 83, 84 Tatendurstige (Spranger) 91 Tatreife 82 Technokratisches Modell Teilkulturen 114 Transformationsforschung/-prozess 110, 120, 128 Trieb/Triebstruktur 96, 99 Tugend/Tugendhaftigkeit 18, 21 f., 23, 25, 27, 28, 59 Typenbildung 89 f., 130 Übergang/ Übergangsphasen/-forschung 82 f., 110, 120, 124 Über-Ich (psychoanalytisch) 99 Überindividuelle Struktur 88 Unterrichtsforschung 61 Urbanität 40, 55, 70 Vergleichende Jugendforschung 120 Verlängerung der Jugendphase 21 Verneinung 83 Vernunft 22 Verstehende Psychologie 78, 91 f. Vervollkommnung 22 Verwahrlosung 41, 43, 60 Völkische Gemeinschaft 38 Volksschule 61 Volljährigkeit 15, 75 Vorpubertät 83 Wandervogel 36 f., 111 Weimarer Republik 38, 70 Widerstand 139 Wissenssoziologie 111 Zentralinstitut für Jugendforschung 110 Zionismus 74 Zögerliche Unauffällige 130 Zögling 22 Zukunftsentwürfe 82, 90, 126 Zwangserziehung 43 Zweite Chance 21, 45, 96 f. Zweite Geburt 52, 17, 18 f., 21, 26, 89 Zweiter Weltkrieg 72, 109, 112
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