Einführung in die Geschichte und Methoden der romanischen Sprachwissenschaft [Reprint 2022 ed.] 9783112649107


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Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft
Kapitel I Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900
Friedrich Diez
Graziadio Isaia Ascoli
Französische Romanisten
Die sprachwissenschaftlichen Studien und die Natufwissenschaften
Die Junggrammatiker
Hermann Paul
Wilhelm Meyer-Lübke
Die Gegner der Junggrammatiker
Georg Curtius
G.I. Ascoli
Hugo Schuchardt
Die Dialektstudien
Der Abbé Rousselot
Louis Gauchat
Die „Lautgesetze". Gegenwärtiger Stand dieses Problems
Maurice Grammont
Joseph Vendryes
Antoine Meillet
Sextil Pufcariu
Ramón Menéndez Pidal
Clemente Merlo
P.-G. Goidànich
J. van Ginnecken
Die romanische Sprachwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts
Hugo Schuchardt
Die Methode „Wörter und Sachen"
Rudolf Meringer
Hugo Schuchardt
Gottfried Baist
Max Leopold Wagner
Gheorghe Giuglea
Der Affekt und die menschliche Rede
Kapitel II Die idealistische oder ästhetische Schule Karl Vosslers
Die Sprachtheorien Vosslers
Die Kritik der Lehre Vosslers
Wilhelm v. Humboldt
Benedetto Croce
Diskussion um die idealistische Schule
Eugen Lerch
Etienne Lorck
Leo Spitzer
Giulio Bertoni
Kapitel III Die Sprachgeographie
Sprachkarten
Der Atlas von Georg Wenker
Der dacorumänische Sprachatlas von Gustav Weigand
Der französische Sprachatlas
Die sprachgeographischen Arbeiten Jules Gillierons
Kritik der Theorien Gilliörons
Weitere sprachgeographische Arbeiten in Frankreich
Georges Millardet
Charles Bruneau
A. Terracher
Oscar Bloch
Albert Dauzat
Die Sprachgeographie in der Schweiz
Heinrich Morf
Louis Gauchat
Karl Jaberg
Jakob Jud
J . U. Hubschmied
Walther v. Wartburg
Die Sprachgeographie in Deutschland und Österreich
Ernst Gamillscheg und Leo Spitzer
Karl v. Ettmayer
Die Sprachgeographie in Katalonien und Italien
Antoni Griera
Giulio Bertoni
B. A. Terracini
Mundartforschungen
Sprachatlanten außerhalb Frankreichs
Der Atlas Korsikas
Der Atlas Kataloniens
Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz
Ein speziell italienischer Sprachatlas
Rumänische Sprachatlanten
Andere Sprachatlanten
Weitere Anwendungen der Sprachgeographie
Die volkskundliche Geographie
Die Neolinguistik
Kapitel IV Die französische sprachwissenschaftliche Schule
Die Lehre Ferdinand de Saussures
Kritik der Lehre Saussures
Antoine Meillet
Joseph Vendryes
Charles Bally
Albert Sechehaye
Ferdinand Brunot
Maurice Grammont
Argotstudien
Lazare Sainöan
Albert Dauzat
Weitere Verfasser von Argotstudien
Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik
Schlußbetracktungen
Anhang Strukturalistische Bestrebungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft im Hinblick auf die romanische Sprachwissenschaft
Die Phonologie
Die amerikanische deskriptive Sprachwissenschaft
Der Kopenhagener Strukturalismus
Die Feldtheorie von Jost Trier
Kritik der Lehre Triers
Die strukturelle Erfassung des Gesamtwortschatzes einer Sprache (Begriffssystem)
Die strukturell-soziologische Methode von G. Matore
Nachträge
Personenregister
Sachregister
Wortregister
Abkürzungsverzeichnis
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Einführung in die Geschichte und Methoden der romanischen Sprachwissenschaft [Reprint 2022 ed.]
 9783112649107

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IORGU

IORDAN

EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE UND METHODEN DER ROMANISCHEN SPRACHWISSENSCHAFT

IORGU IORDAN

EINFÜHRUNG IN DIE GESCHICHTE UND METHODEN DER ROMANISCHEN SPRACHWISSENSCHAFT

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN, ERGÄNZT UND TEILWEISE NEUBEARBEITET VON WERNER

A K A D E

M I E - V E

BAHNER

R L A G

19 6 2



B E R L I N

Iorgu Iordan Introducere in studiul limbilor romanice Ins Deutsche übertragen, ergänzt und teilweise neubearbeitet von Werner Bahner

Erschienen im Akademie -Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Straße 3-4 Copyright für die deutsche Ausgabe 1962 by Akademie-Verlag GmbH, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/53/62 Gesamtherstellung: IV/2/14 • VEB Werkdruck Gräfenhainichen • 1529 Bestellnummer: 5431 • ES 7 H

VORWORT

Der vorliegenden Ausgabe „Einführung in die Geschichte und Methoden der romanischen Sprachwissenschaft" liegt das von der Fachwelt günstig aufgenommene Werk des bekannten rumänischen Romanisten Iorgu Iordan „Introducere in studiul limbilor romanice. Evolufia §i starea actúala a lingvisticii romanice" (Ia§i 1932)1 zugrunde. Da seit dessen Erscheinen vor nunmehr dreißig Jahren neue wichtige Forschungsergebnisse erzielt wurden und verschiedene Einschätzungen von damals sich nicht als gerechtfertigt erwiesen haben bzw. einer Korrektur bedürftig sind, nahm Herr Prof. Dr. Iorgu Iordan den Vorschlag des Akademie-Verlages zu Berlin an, eine deutsche umgearbeitete Ausgabe dieses Werkes zu veröffentlichen. Vor zwei Jahren bekam ich als Übersetzer und Bearbeiter vom Autor ein Manuskript von etwa 200 Schreibmaschinenseiten, das die entsprechenden Abänderungen und Zusätze enthielt. Dieses Manuskript wurde in die deutsche Übersetzung eingearbeitet. Ich selbst fügte mehrere bibliographisch-sachliche Ergänzungen hinzu und arbeitete teilweise einige Abschnitte um, die mehr für den rumänischen Leser gedacht waren. In jedem Falle blieben dabei die Einschätzungen und Wertungen der einzelnen sprachwissenschaftlichen Richtungen durch den Autor unverändert. Außerdem sind von mir die Einleitung „Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft" und der Anhang „Strukturalistische Bestrebungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft im Hinblick auf die romanische Sprachwissenschaft". Das Sach-, Personen- und Wortregister sowie die Nachträge sind ebenfalls vom Übersetzer dieses Buches angefertigt worden. W E E N E R BAHNEB

1

Dieses Buch wurde auch ins Englische übersetzt und erschien 1937 in London bei Methuen & Co., Ltd., unter folgendem Titel: „An Introduction to Romance Linguistics, its Schools and Scholars. Revised, translated and in parts recast by J o h n Orr.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung Kapitel

I

Die Vorgeschichte der romanischen wissenschaft

Sprach1

D i e r o m a n i s c h e S p r a c h w i s s e n s c h a f t b i s 1900 . Friedrich Diez Graziadio Isaia Ascoli Französische Romanisten Die sprachwissenschaftlichen Studien und die Natufwissenschaften

19 23 26

Die Junggrammatiker Hermann Paul Wilhelm Meyer-Lübke

30 35 36

Die Gegner der Junggrammatiker Georg Curtius G . I . Ascoli Hugo Schuchardt

40 él 42 47

Die Dialektstudien Der Abbé Rousselot Louis Gauchat

51 52 52

Die „Lautgesetze". Gegenwärtiger Stand dieses Problems Maurice Grammont Joseph Vendryes Antoine Meillet Sextil Pufcariu Ramón Menéndez Pidal d e m e n t e Merlo P.-G. Goidànich J . van Ginnecken

55 56 58 58 60 61 64 64 65

Die romanische Sprachwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts Hugo Schuchardt Die Methode „Wörter und Sachen" Rudolf Meringer Hugo Schuchardt Gottfried Baist

67 68 84 86 88 90

28

Inhaltsverzeichnis

VIII

Max Leopold Wagner. . Gheorghe Giuglea Der Affekt und die menschliche Rede Kapitel I I

Die idealistische Karl V o s s l e r s

oder

ästhetische

90 95 96 Schule

Die Sprachtheorien Vosslers Die Kritik der Lehre Vosslers Wilhelm v. Humboldt Benedetto Croce Diskussion um die idealistische Schule Eugen Lerch Etienne Lorck Leo Spitzer Giulio Bertoni Kapitel I I I

105 122 129 135 143 151 156 159 167

Die S p r a c h g e o g r a p h i e Sprachkarten Der Atlas von Georg Wenker Der dacorumänische Sprachatlas von Gustav Weigand Der französische Sprachatlas Die sprachgeographischen Arbeiten Jules Gillierons . Kritik der Theorien Gilliörons

171 173 174 175 184 210

Weitere sprachgeographische Arbeiten in Frankreich . . Georges Millardet Charles Bruneau A. Terracher Oscar Bloch Albert Dauzat

231 231 234 237 242 245

Die Sprachgeographie in der Schweiz Heinrich Morf Louis Gauchat Karl Jaberg Jakob J u d J . U. Hubschmied Walther v. Wartburg

246 247 249 252 254 257 258

Die Sprachgeographie in Deutschland und Österreich Ernst Gamillscheg und Leo Spitzer Karl v. Ettmayer

262 265 269

Die Sprachgeographie in Katalonien und Italien. . . . Antoni Griera Giulio Bertoni B. A. Terracini Mundartforschungen

271 272 274 275 276

Inhaltsverzeichnis

Kapitel IV

Anhang

IX

Sprachatlanten a u ß e r h a l b Frankreichs

285

Der Atlas Korsikas Der Atlas Kataloniens Der Sprachatlas Italiens u n d der Südschweiz E i n speziell italienischer Sprachatlas Rumänische Sprachatlanten Andere Sprachatlanten Weitere Anwendungen der Sprachgeographie Die volkskundliche Geographie . . Die Neolinguistik

287 287 289 295 297 301 306 308 314

. . . .

Die französische sprachwissenschaftliche Schule

323

Die Lehre F e r d i n a n d de Saussures K r i t i k der Lehre Saussures Antoine Meillet J o s e p h Vendryes Charles Bally Albert Sechehaye Ferdinand Brunot Maurice G r a m m o n t

324 334 345 358 365 380 392 404

Argotstudien Lazare Sainöan Albert D a u z a t Weitere Verfasser von Argotstudien Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik

414 424 427 430 437

Schlußbetrachtungen

443

S t r u k t u r a l i s t i s o h e B e s t r e b u n g e n in d e r g e g e n w ä r t i g e n S p r a c h w i s s e n s c h a f t im Hinblick auf d i e r o m a n i s c h e S p r a c h w i s s e n s c h a f t (Versuch eines kritischen Überblicks)

450

Die Phonologie Die amerikanische deskriptive Sprachwissenschaft . . Der Kopenhagener Strukturalismus Die Feldtheorie von J o s t Trier K r i t i k der Lehre Triers Die strukturelle E r f a s s u n g des Gesamtwortschatzes einer Sprache (Begriffssystem) Die strukturell-soziologische Methode von G. Matorf

451 462 463 466 473 478 482

Nachträge Personenregister Sachregister Wortregister Abkürzungsverzeichnis

487 495 507 510 517

EINLEITUNG

Die Vorgeschichte der romanischen

Sprachwissenschaft

Alle Romanisten sind sich heute darüber einig, daß die romanische Sprachwissenschaft von F B I E D K I C H D I E Z begründet worden ist. Er gilt mit Recht als der erste, der sich systematisch und mit brauchbaren wissenschaftlichen Methoden um die Erforschung der romanischen Sprachen bemühte. In seiner Grammatik der romanischen Sprachen wurden „nach dem glänzenden Vorbild und mit der strengen Methode der Deutschen Grammatik J A C O B GRIMMS zum erstenmal alle romanischen Sprachen auf ihr Erbgut, ihre Lautentwicklung, Flexion, Wortableitung und Syntax untersucht und verglichen".1 Dennoch sollte dabei nicht vergessen werden: Bereits Jahrhunderte vor F R I E D R I C H D I E Z war u.a. die Erkenntnis verbreitet, daß das Lateinische und die romanischen Sprachen in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen.2 Es bedurfte nicht der historisch-vergleichenden Methode der neu geschaffenen Sprachwissenschaft im Zeitalter der Romantik, um das festzustellen.3 Durch die historisch-vergleichende Methode konnte daher gleichsam nur ein Nachvollzug erfolgen, d. h., es war möglich geworden, mit wissenschaftlich fundierter Methode das eingehend und bis in die kleinsten Einzelheiten zu beweisen, was bereits für viele Gelehrte offensichtlich schien. Bedeutsam ist dabei, daß sich F R I E D R I C H D I E Z in seiner Grammatik der romanischen Sprachen in bezug auf historische Daten vielfach auf Historiker und Philologen der vorangehenden Jahrhunderte stützte, deren Darlegungen, Annahmen und Feststellungen erstmals ein wissenschaftliches 1 L. GAUCHAT, Friedrich Diez in: VRo I (1936), S. III. 2 Es sollte stets beachtet werden, daß der genetische Zusammenhang des Lateinischen mit den romanischen Sprachen schon viele Jahrhunderte vor der Herausbildung der exakt wissenschaftlichen Forschung im vergangenen Jahrhundert bekannt war. H. MEIER unterstreicht dies mit Recht sehr nachdrücklich: „Daß die romanischen Sprachen in einem (historischen) Zusammenhang stehen, oder, um den gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, v o m Latein abstammen, ist, solange man sich über ihren Ursprung überhaupt Gedanken gemacht hat, wie selbstverständlich und bekannt gewesen." (s. Die Entstehung der romanischen Sprachen und Nationen, Frankfurt a. M. 1941, S. 6). Bereits im 10. Jahrhundert scheint dies, zumindest für das Italienische, der Fall gewesen zu sein, denn sowohl E. NORDEN, Die antike Kunstprosa, Leipzig-Berlin 1909, Band II, S. 749, als auch E. R. CuBTius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 41, zitieren eine Textstelle aus jenem Jahrhundert, in der von einer Affinität zwischen dem Lateinischen und dem Italienischen gesprochen wird. 3 So meint z. B. K. VOSSLER, Frankreichs Kultur und Sprache, Heidelberg 1 9 2 9 , S. 6: „Erst die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat das Bewußtsein von der römischen Herkunft des Französischen wieder gehoben."

2

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

Fundament gab und damit die Epoche der exakt wissenschaftlichen Erforschung der romanischen Sprachen einleitete. Obgleich die Abhandlungen der Historiker und Philologen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts über die romanischen Sprachen auf keiner exakten Methode beruhen, viele Willkürlichkeiten enthalten und daher zur Vorgeschichte der Sprachwissenschaft gehören, sollten sie im Interesse der historischen Kontinuität als Ansatzpunkte nicht übergangen werden, ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie einen interessanten Einblick in einzelne Aspekte der Geistesgeschichte der romanischen Völker vermitteln. GUSTAV G R Ö B E R ist sich in seiner gründlichen, leider nicht genug beachteten Geschickte der romanischen Philologie1 bewußt, daß die Beschäftigung mit den romanischen Sprachen und Literaturen nicht plötzlich im 19. Jahrhundert einsetzt. Er formulierte sehr treffend: „Obgleich von .Romanischer Philologie' erst seit wenigen Jahrzehnten gesprochen und die Vorstellung von einer notwendig zu betreibenden geschichtlichen Wissenschaft von romanischer Sprache und Rede mit jenem Namen erst seit dem letzten Drittel des verflossenen Jahrhunderts verbunden wird, ist sie doch keine Entdeckung der jüngsten Generationen. Sie wurde vielmehr in jahrhundertelanger, nach sehr verschiedenen Seiten gerichteter, z. T. auch anderen Zwecken dienender Vorarbeit schon im Mittelalter betrieben und war im Keime wenigstens vorhanden, als man anfing, sich wie ehedem in Griechenland und Rom mit griechischer und lateinischer Sprache und Literatur, mit romanischer Sprache und Literatur in den romanischen Ländern praktisch oder theoretisch zu beschäftigen. Das geschah bereits im 13. Jahrhundert. Seitdem rankte sich die Beschäftigung mit den romanischen Sprachen und Literaturen wie eine Schlingpflanze an den verwandten, ihrer Zeit als festgegründet geltenden Wissenschaften empor, wuchs mit ihnen, wurde von ihnen genährt, bildete ein Lehrgebiet nach dem anderen aus und konnte im zweiten Drittel des vorigen Jahrhunderts als selbständiges Glied in die Reihe der Sprach- und geschichtlichen Wissenschaften eintreten." (S. 1.) GUSTAV G R Ö B E R versteht hier unter romanischer Philologie sowohl Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft als auch Philologie im engeren Sinne des Wortes. Ansätze zu diesen Disziplinen in der Romania finden wir erstmals im 13. Jahrhundert bei den Vertretern des provenzalischen Minnesangs: Prosaerläuterungen, Troubadourbiographien und Grammatiken der altprovenzalischen Literatursprache. Es ist allerdings bezeichnend, daß diese Bemühungen vorwiegend nach dem Höhepunkt der provenzalischen Troubadourkunst einsetzten und größtenteils in Gebieten zu finden waren, die nicht zum Stammland des provenzalischen Minnesangs gehört hatten. Einerseits leistete der Niedergang der Troubadourpoesie nach den Albigenserkriegen dem immer stärker werdenden Einfluß der lebenden südfranzösischen Mundarten auf die altprovenzalische Dichtungssprache Vorschub, und andererseits zeigte es sich, daß die hohe Kunst der Troubadours an den Höfen außerhalb der Provence eine Pflegestätte 1

Vgl. Grundriß der romanischen Philologie, Straßburg 1905, Band I (2. Auflage), S. 1 - 1 8 5 .

Einleitung, Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

3

gefunden hatte, vor allem in Katalonien und Oberitalien. Das sollte für die Förderer und Vertreter der provenzalischen Dichtungssprache Veranlassung werden, auf die immer mehr in Gefahr geratende Reinheit der „parladura drecha" zu achten. Sie versuchten, die metrischen und sprachlichen Elemente des provenzalischen Minnesangs in verbindliche Regeln zu fassen und durch Kommentare auf die „echte" provenzalische Dichtungssprache hinzuweisen. Gleich der Ars grammatica des DONATUS aus dem 4. Jahrhundert, die neben PRISCIANS umfangreichen grammatischen Unterweisungen als maßgebliches Lehrbuch für das Lateinische galt, wurden nun auch entsprechende Werke für die altprovenzalische Dichtungssprache geschaffen.1 Eines davon trägt den bezeichnenden Titel Donat proensal; als sein Verfasser wird gewöhnlich Uc FAIDIT genannt. Hier geht es im wesentlichen um eine Bestandsaufnahme unter normativen Gesichtspunkten. Theoretische Ansätze fehlen. Fragen nach der Ursache bestimmter Erscheinungen werden nicht gestellt, und auf das Aufzeigen von irgendwelchen Zusammenhängen im Bereich der Sprache wird von vornherein verzichtet. Die Auslegung und Erklärung von Werken der Dichtkunst für die Beobachtung sprachlicher Tatsachen im Interesse der „parladura drecha" stehen im Vordergrund und bilden das Hauptanliegen jener kunstbeflissenen Magister des provenzalischen Minnesangs. Auch für Italien hatten diese Bemühungen um die provenzalische Sprache und Literatur große Erfolge. Die provenzalische Dichtungssprache erwies sich als Vorbild im volkssprachlichen Bereich und machte deutlich, welche Wege die italienische Sprache in Nachahmung des Altprovenzalischen einzuschlagen hatte, um ebenbürtig dazustehen, d. h. sich ebenfalls zur Literatursprache zu erheben. „Solche Hingabe an fremde Dichtung, ihre buchmäßige Forterhaltung und Erlernung und die Gewöhnung an eine grammatische Erfassung fremder Sprache macht verständlich, daß die italienische Dichtung von vornherein als Produkt sprachlicher Bildung auftritt und philologische Betrachtung die Leistung des Schriftstellers begleitet." (GRÖBER, op. cit., S. 5.) Besonders bei DANTE ist dies offensichtlich.2 Gemäß dieser Tradition suchte er Lösungen für das Italienische. 1

Die beiden ältesten provenzalischen Grammatiken, Marburg 1 8 7 8 . formuliert in Las Rasos de trobar: ,,. . . car tota la parladura de Lemosyn se parla naturalmenz et drecha per cas et per nombres et per genres et per temps et per personas et per motz, aisi com poretz auzir aissi, si ben o escoutas" (zitiert nach C A R L A P P E L , Provenzalische Chrestomathie, Leipzig 1 9 0 7 , S . 1 9 6 — 9 7 ) . D e vulgari eloquentia, ed. A. M A B I G O in: Opere di Dante, vol. VI, Firenze 1948 ( 2 . Auflage). S. a. A. E W E B T , Dante's theory of language in: MLR X X X V (1940), S. 355—366; H . K U E N , Sprachen und Dialekte in der Göttlichen Komödie in: Deutsches Dante-Jahrbuch, Weimar 1957, S. 63—95; E. Frh. v. R I C H T H O F E N , II trattato di Dante alla luce della geografia linguistica moderna in: Homenaje a Fritz Krüger I I , Mendoza 1954, S. 71—83; H . W. K L E I N , Latein und Volgare in Italien, München 1957, S. 18—46. K L E I N stellt fest: „Bis zu Dante erkennt man also in Italien nicht nur die Höhe der französischen Kultur neidlos an, man bestreitet auch nicht die Überlegenheit der französischen und provenzalischen Sprache über die italienische Volkssprache. Erst Dante wird versuchen, der l i n g u a v o l g a r e neben den anderen romanischen Sprachen einen Ehrenplatz zu sichern." (op. cit., S. 18.) S.

E.

STENGEL,

RAIMON VIDAL

2

4

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

In De vulgati eloquentia geht es ihm um die Poetik der italienischen Dichtersprache, um das noch zu findende „vulgare cardinale, illustre, curiale, aulicum". Doch er will nicht nur die dichterischen Möglichkeiten dieser edlen Hofsprache erkunden, wie es seine provenzalischen Vorgänger getan haben. Auf Grund seines enzyklopädisch-scholastischen Strebens faßt er diese Frage viel umfassender auf. Er stellt sie in den Rahmen scholastischer Sprachphilosophie hinein und versucht auf fundamentale Fragen eine Antwort zu geben. Dabei sind nicht so sehr die im Anschluß an die biblisch-patristische Sprachauffassung vorgebrachten Meinungen, sondern vielmehr seine sprachlichen Beobachtungen von großer Bedeutung, die er in seine Darlegungen einbaute, so vornehmlich seine Einschätzung der italienischen Dialekte. Sie lassen für seine Zeit ein außerordentlich feines Sprachgefühl und eine vortreffliche philologische Beobachtungsgabe erkennen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß er als erster in der Vorgeschichte unseres Faches auf die zwischen dem Französischen, dem Italienischen und dem Provenzalischen bzw. Katalanischen bestehende Sprachverwandtschaft hinwies.1 Den Beweis hierfür sieht D A N T E in der Tatsache, daß diese drei Volkssprachen für vieles gemeinsame Wörter haben. Als Beispiel führt er an deus, caelum, amoretti, mare, terram, est, vivit, moritur, amat, under schließt mit dem wichtigen Zusatz : „...alia fern omnia".2 Doch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Latein und den romanischen Sprachen stellte er nicht, vielleicht weil er im Latein, das er traditionsgemäß 'grammatica' nannte, eine in ihrem Grundcharakter von den Volkssprachen (vulgaria) verschiedene Sprache erblickte. Die 'grammatica' war seiner Ansicht nach eine unveränderliche, durch gemeinsame Übereinstimmung geregelte Sprache, ein Werk der Gelehrten, im Gegensatz zur Volkssprache, die „wir ohne alle Regel, die Amme nachahmend, erlernen", die ,,uns natürlich ist", wie es im I. Kapitel dieser Schrift heißt. 3 Für die Romanisten des vergangenen Jahrhunderts war es geradezu selbstverständlich, daß der geniale Dichter der Göttlichen Komödie in zeitlicher Hinsicht als erster Vertreter unseres Faches auf der Ahnentafel der romanischen 1

3

Unter Spanisch versteht D A N T E in seinem Traktat De vulgari eloquentia nicht die 'lengua castellana', sondern das Katalanische. Mit 'Yspani' sind die Bewohner der Iberischen Halbinsel schlechthin gemeint. I m 2. Buch seiner Abhandlung (XII, 3 ) spricht D A N T E von den „Yspanos qui poetati sunt in vulgari oc". In all seinen Darlegungen zeigt es sich, daß es ihm immer um das Französische, Provenzalische 2 und Italienische geht. I, VIII, 6. D A N T E stellt das Lateinische, das er gemäß der spätlateinischen Tradition 'grammatica' nennt, den Volkssprachen als unveränderliche, durch gemeinsame Übereinstimmung geregelte Sprache gegenüber. Er kennzeichnet es als Werk der Gelehrten, der ,,inventores grammaticae facultatis". Danach scheint er also neben der lateinischen 'grammatica' eine römische Volkssprache anzunehmen. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht eine Stelle im Convivio (I, Kap. 11), wo er sich gegen die Verächter der eigenen Muttersprache wendet und sich dabei auf C I C E R O beruft, „perocché al suo tempo biasimavano lo latino romano, e commendavano la grammatica greca". Hier drückt D A N T E also die Überzeugung aus, daß zu C I C E B O S Zeiten eine lateinische 'grammatica' neben der Volkssprache der Börner noch nicht vorhanden gewesen wäre.

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

5

Sprachwissenschaft zu gelten hatte. G. G R Ö B E R schrieb: „Sein Tiefsinn machte auch seine Schrift De vulgari eloquentia (um 1305) zu einem Werk der Forschung von allgemeinerem Charakter über Fragen, die gegenwärtig noch die Sprachwissenschaft beschäftigen. Die Ursachen der Vielheit der Sprachen, ihrer Veränderlichkeit, der Mundartbildung beginnt er zu erörtern und auch die Langsamkeit der Sprachveränderungen (I, 9; Convivio I, 5) entgeht ihm nicht. Die Ähnlichkeit des Wortschatzes läßt ihn bereits das Spanische, Italienische und Französische auf eine gemeinsame Grundsprache zurückführen (De vulg. eloq. I, 8), und er kennzeichnet und gliedert die italienischen Mundarten (I, 10) nach einem noch heute gültigen Teilungsgrunde." (op. cit., S. 5—6.) Gegen diese Deutung erheben sich in neuerer Zeit immer mehr Einwände, die nicht zuletzt auch deshalb Gewicht besitzen, weil ja D A N T E mit De vulgari eloquentia in erster Linie ganz andere Ziele verfolgte. 1 Natürlich handelt es sich um Überspitzungen, wenn manche traditionsbewußte Romanisten der positivistischen Forschergeneration in Verkennung der modernen Wissenschaftsproblematik unseres verhältnismäßig jungen Faches D A N T E zum ersten Romanisten stempeln. Doch es steht wohl entgegen neueren Deutungen unverrückbar fest, daß eben D A N T E als erster auf die Verwandtschaften zwischen den einzelnen romanischen Sprachen hinwies und über Probleme, die seine Muttersprache berührten, nachdachte, wenn auch wegen der zu innigen Verbindung mit dem scholastischen Weltbild dabei nicht von geringsten Ansätzen zu einer modernen sprachwissenschaftlichen Anschauung die Rede sein kann. Das sollte Grund genug sein, um die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft mit D A N T E S Darlegungen in De vulgari eloquentia zu beginnen. Nach D A N T E S feinen sprachlichen Beobachtungen erfreute sich die italienische Sprache in Anbetracht der aufkommenden humanistischen Studien zunächst keiner liebevollen und eingehenden Beachtung. 2 Doch die Pflege und Förderung der lateinischen Sprache durch die Frühhumanisten warf die Frage nach dem Ursprung der italienischen Sprache auf, nach dem Verhältnis zwischen Italienisch und Latein ( 1 4 3 5 ) . L E O N A R D O B R U N I war der Meinung, es hätte im alten Rom bereits ein großer Unterschied zwischen der lateinischen Literatursprache und der römischen Volkssprache bestanden und die letztere sei die heutige italienische Sprache. F L A V I O B I O N D O und F R A N C E S C O F I L E L F O bekämpften diese Meinung und vertraten demgegenüber, daß die italienische Sprache von der lateinischen Literatursprache, nicht von der römischen Volkssprache, herzuleiten sei. Erst der Einbruch der germanischen Völkerschaften nach Italien hätte die Korrumpierung des Lateins verursacht und damit den ,,volgare italiano" geschaffen. 3 Diese Ansicht war dann in der Renaissancephilologie weit verbreitet und wurde nach ver1 2

8

Vgl. W . P A B S T , Dante und die literarische Vielsprachigkeit der südlichen Romania in: RoJb V (1952), S. 172. Vgl. A. BTTCK, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 97ff. Vgl. H . W . KLEIN, op. cit.,

S. 54FF.; H . MEIEB, o p . c i t . ,

S . 7£F.; A . F U C H S ,

Die

romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen, Halle 1849, S. 30.

6

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

schiedenen Richtungen hin in den einzelnen romanischen Ländern erweitert bzw. modifiziert. Das 16. Jahrhundert bot als Jahrhundert der Konstituierung der Nationalstaaten in Westeuropa sehr günstige geschichtlich-gesellschaftliche Voraussetzungen für eine Belebung der philologischen Studien, besonders auf dem Gebiet der Volkssprache. Wörterbücher und Grammatiken der einzelnen jungen Nationalsprachen wurden notwendig. Die Geschichte des eigenen Volkes und damit auch die der eigenen Sprache bewegten die geschichtlich wie philologisch interessierten Gemüter, wobei politische Momente eine entscheiden i e Rolle spielten. Als nach der Überwindung des feudalen Ständestaates politisch und wirtschaftlich eine Zentralisierung erfolgte, galt es auch, die Sprachformen der entsprechenden Nationalsprache, von der Aussprache bis zur Syntax unter Einschluß der Orthographie, festzulegen. Dabei standen die philologischen Methoden der Humanisten Pate. „Der romanische Grammatiker aber beobachtet und regelt die Muttersprache in der Weise des lateinischen Grammatikers und oft sind der romanische und der lateinische Grammatiker, Sprachkritiker, Lexikograph, Etymolog ein u n d dieselbe Person." (GRÖBER, op. cit., S. 10.)

Diese Bemühungen und die Beobachtung und Festlegung der eigenen Nationalsprache sowie deren Geschichte beherrschten in allen romanischen Ländern jener Zeit — abgesehen von Rumänien 1 — die vulgärhumanistischen Studien. Sie machten sich zuerst auf der Apenninen-Halbinsel bemerkbar, obgleich Italien sich noch nicht als Nationalstaat konstituiert hatte und durch die vielen rivalisierenden Stadtrepubliken und fremden Herrschaftsbereiche in staatlicher Hinsicht noch ein buntes Bild bot. Doch der Gedanke der gemeinsamen Tradition und Kultur beherrschte damals bereits die humanistischen Generationen Italiens. Die Tatsache des noch nicht geformten Nationalstaates gab der „Sprachenfrage" in Italien ihr besonderes Gepräge und ist dafür im wesentlichen mitverantwortlich, daß dieses Problem erst im 19. Jahrhundert zum Abschluß gelangte.2 1

2

Die ersten Aussagen und Zeugnisse über den romanischen Grundcharakter der rumänischen Sprache finden sich bereits im 15. Jahrhundert im Schrifttum der italienischen Renaissance. I n Spanien formulierte im Jahre 1587 ein gewisser A N D R E S D E PogA: „ D e la lengua latina han resultado las generales que agora se usan en Italia, Espana, Francia y Vvalachia." (De la antigua lengua, poblaciones, y comarcas de las Espanas, en.que de paso se tocan algunas cosas de la Cantabria, fol. 13.) Doch in Rumänien selbst wurde erst im 17. Jahrhundert die lateinische Herkunft des Rumänischen betont, und zwar durch die Chronisten. Vgl. W. BAHNEB, Zur Romanität des Rumänischen in der Geschichte der romanischen Philologie v o m 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in: R o J b V I I I (1957), S. 75—94. Die eigentliche Beschäftigung mit der rumänischen Sprache in historischer und grammatischer Hinsicht begann im 18. Jahrhundert in Siebenbürgen. Hier sind vor allem zu nennen: C L A I N , S I N C A I und M A I O B . Vgl. M. R r r r i N i , La scuola latinista romena (1780—1871), Studio storico-filologico, R o m a 1941. Der umfassendste Überblick übr r die Geschichte der rumänischen Philologie ist immer noch L. SÄINEANU, Istoria filologiei romäne. Studii critice, Bucurefti 1892. Vgl. A. BTTCK, D a s Problem der Nationalsprache in der italienischen Geistesgeschichte in: ZdG I V ( 1 9 4 2 ) , S . 1 7 9 - 1 8 9 ; H . W . K L E I N , op. cit,; T H . L A B A N D E -

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

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Die erste beachtenswerte Grammatik der italienischen Sprache schrieb F R A N Regole grammaticali della Volgar lingua ( 1 5 1 6 ) . Er ließ seine humanistischen Zeitgenossen aufhorchen durch die Feststellung, daß die Volkssprache geregelt sei, wie es die Sprache der großen italienischen Dichter bezeuge.1 Das war ein entscheidendes Argument gegen die von Vertretern der klassischen Sprachen vorgebrachte Ansicht, nach der die Volkssprachen völlig unregelmäßig seien und sich infolgedessen grammatisch nicht festlegen lassen würden. FORTUNIOS Erkenntnis teilte auch PIETRO BEMBO in seinen Prose della lingua volgare und betonte, daß bei entsprechender literarischer Pflege das Italienische ( = Toskanische) die gleiche Höhe und Würde wie das klassische Latein erreichen könne. „Die Entdeckung einer regelmäßigen italienischen Sprache führte zugleich zu Versuchen, die noch mit völliger Willkür gehandhabte Kechtschreibung zu regeln, zu Vorschlägen zur Vereinheitlichung der Schreibung, zur Vermehrung der Schriftzeichen usw." (GRÖBER, op. cit., S. 13.) Die verschiedensten Systeme wurden vorgeschlagen, und es fehlte dabei nicht an heftigen Auseinandersetzungen. Zugleich wurde dadurch der Blick für etymologische Untersuchungen geschärft. So weist beispielsweise G. GRÖBER darauf hin, P. B E M B O habe bereits erkannt, daß dem offenen und dem geschlossenen e im Italienischen verschiedene lateinische Laute entsprechen, d. h. ital. g = lat. e und ital. e = lat. i. Obgleich bei jenen sprachlichen Untersuchungen des 16. und 17. Jahrhunderts keine exakte methodische Grundlage gegeben war, wurden doch schon in einzelnen Punkten Erkenntnisse gewonnen, die erst im 19. Jahrhundert durch die systematische Anwendung der historisch-vergleichenden Methode in einem größeren Zusammenhang dargelegt wurden. C. CITTADINI und C L . TOLOMEI zum Beispiel unterschieden bereits „gelehrte" und „volkstümliche" Wörter im italienischen Vokabular, und CASTELVETRO sah schon, daß im Italienischen das Futur eine Verbindung des Infinitivs mit Präsensformen von avere darstellt. Auch die Erfassung des Wortschatzes der italienischen Sprache machte große Fortschritte. Zahlreiche Wörterbücher erschienen, deren Verfasser sich verschiedene Ziele gesteckt hatten: Der Wortschatz einzelner Autoren wurde aufgenommen, zweisprachige Lexika sowie ein Synonymik- und ein nach Begriffen geordnetes Wörterbuch wurden geschaffen.2 Hierbei kam dem „Vocabolario" der CESCO FORTUTSTIO,

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JEANROY, La Question de la Langue en Italie, Strasbourg 1 9 2 5 ; B . MIGLIORINI, La questione della lingua in: Questioni e correnti di storia letteraria I I I , Milano 1949, S. 1—75; R. A. HALL, The Italian Questione della Lingua, Chapel Hill 1942; F. STBAUSS, Vulgärlatein und Vulgärsprache im Zusammenhang der Sprachenfrage im 16. Jahrhundert (Frankreich und Italien), Marburg 1938; V. VIVALDX, Storia delle controversie linguistiche in Italia da Dante a M. Cesarotti, Catanzaro 1925. FOKTUNIO meint im Vorwort zu seiner italienischen Grammatik, er könnte sich nicht vorstellen, daß die großen italienischen Dichter Dante, Petrarca und Boccaccio „senza alcuna regola di grammaticali parole la volgar lingua cosi armonizzatamente trattasseno" (zitiert nach der Ausgabe v o m Jahre 1545). Es handelt sich hier um das Werk von FRANCESCO ALUNNO, Deila fabrica del mondo, Venezia 1548, dessen Untertitel lautet: ,,. . . contengono le voci di Dante, del Petrarca, del Boccaccio, & d'altri buoni auttori, mediante le quali si possono scrivendo esprimere tutti i concetti dell'huomo di qualunque cosa creata".

2 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

„Accademia dellaCrusca" (1612) zwar eine Vorrangstellung zu, doch auf Grund der streng puristischen Einstellung, nur die Wörter aufzunehmen, die bei den großen Dichtern des Trecento nachzuweisen waren, hielt es immer weniger den Forderungen der Zeit stand. Durch diese vorherrschende puristisch-archaische Sprachkonzeption ist es nicht verwunderlich, daß erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die lebendige Umgangssprache die Aufmerksamkeit der Lexikologen auf sich zog. Damals wurde sogar mit der Registrierung des Wortschatzes bestimmter italienischer Mundarten begonnen. Ähnlich lagen die Verhältnisse im 16. und 17. Jahrhundert auch auf der Iberischen Halbinsel.1 Bereits im Jahre 1492 erschien die erste spanische Grammatik, die den berühmten Humanisten A N T O N I O DE N E B R I J A zum Verfasser hat. Sie stellt die erste nach humanistischen Prinzipien ausgerichtete volkssprachliche Grammatik dar. Außerdem verfaßte N E B R I J A ein lateinisch-spanisches, ein spanischlateinisches2 und ein katalanisch-lateinisches Wörterbuch. Wie die meisten Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts sah er in der „lengua castellana" ein durch germanische Völkerschaften korrumpiertes Latein, das eine Eigengesetzlichkeit erlangte. N E B R I J A zeigte ein tiefes Verständnis für bestimmte sprachliche Zusammenhänge und eilte in dieser Hinsicht sogar verschiedenen RenaissancePhilologen in Italien und Frankreich voraus, und zwar „ . . . in der Deutung des prothetischen i, e vor s impurum folgen ihm bald BEMBO, DUBOIS, R O B E R T E S T I E N N E ; sechzig Jahre vor DOLCE und CASTELVETRO entdeckt er das romanische Futurum und Konditional als habere-Kompositionen, eine Feststellung, die ihm durch die Trennbarkeit der beiden Komponenten im Altspanischen und Portugiesischen wohl erleichtert wurde ; und in der Auffassung über die viel diskutierte Aussprache von lat. c, g vor e, i stimmt ihm mit Erasmus, dessen Einstellung zu Spanien in erster Linie durch die Hochschätzung bestimmt wurde, die er Nebrija entgegenbrachte, die gesamte Philologie der Folgezeit zu." 3 Nach N E B R I J A erschienen in Spanien noch zahlreiche Wörterbücher und Grammatiken, die von einem wachsenden philologischen Interesse zeugen ; ebenso auch Werke mit „sprachgeschichtlichen" Erwägungen, die mehr für das Nationalbewußtsein jener Zeit als für die wissenschaftliche Forschung Interesse besitzen. Hervorzuheben ist, daß in diesem Zusammenhang Fragestellungen auftauchten, die gegenwärtig noch die Forschung beschäftigen, so z. B. bei den vorrömischen Substraten die Frage nach der Stellung und Bedeutung des Baskischen. Schon 1

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Vgl. W. BAHNER, Beitrag zum Sprachbewußtsein in der spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1956; L. KUKENHEIM, Contributions à l'histoire de la grammaire italienne, espagnole et française à l'époque de la Renaissance, Amsterdam 1932; J. F. PASTOB, Las apologías de la lengua castellana en el siglo de oro (Los Clásicos olvidados, Band 8), Madrid 1929. Vgl.

ELIO

ANTONIO

DE

NEBRIJA,

Vocabulario

Español-Latino

(Salamanca

¿1495 Î), nuevamente reproducido en facsímile por acuerdo de la Real Academia Española, Madrid 1951. H. MEIER, Spanische Sprachbetrachtung und Geschichtsschreibung am Ende des 15. Jahrhunderts, in: RF 1935, S. 6.

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

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seit dem 15. Jahrhundert wurde in Spanien die Ansicht vertreten, nach der das Baskische die allgemein verbreitete vorrömische Sprache der Pyrenäenhalbinsel gewesen sei. Gegen diese Ansicht wurde allerdings in Spanien bereits im 17. Jahrhundert polemisiert, so daß die Diskussion über die Rolle des Baskischen in der spanischen Sprachgeschichte jahrhundertealt ist. Das bedeutendste Werk über den Ursprung der spanischen Sprache war im 'siglo de oro' ohne Zweifel Del origen, y principio de la lengua castellana o romance que oi se usa en España (Roma 1606) von BEBNABDO ALDBETE. Dieser Gelehrte untersucht im ersten Teil seines Buches vor allem die Romanisierung auf der Iberischen Halbinsel und stellt die Sprachverwandtschaft des Spanischen mit dem Portugiesischen, Französischen und Italienischen heraus. In diesen romanischen Sprachen sieht er wie italienische Humanisten des 15. Jahrhunderts und viele spanische Sprachgelehrte seit N E B B I J A ein durch verschiedene germanische Völkerschaften korrumpiertes Latein. ALDBETE erkannte zahlreiche lautliche Veränderungen in der Entwicklung vom Lateinischen zur „lengua castellana", was in Anbetracht des Standes der philologischen Forschung im 16. und 17. Jahrhundert eine anerkennenswerte Leistung war. Dabei ist natürlich nichts von modernen sprachwissenschaftlichen Konzeptionen zu spüren, denn ALDBETE stand fest in den „sprachwissenschaftlichen" Traditionen des Humanismus.1 Von großer Bedeutung ist jedoch, daß sich ALDBETE eingehend mit der sprachlichen Gliederung der Iberischen Halbinsel beschäftigte und die wesentlichen Gründe für die Herausbildung des Portugiesischen, Spanischen und Katalanischen in der Reconquista sieht. Damit betonte er im Anschluß an bereits im 16. Jahrhundert gängige Anschauungen (s. JUAN VALDÉS : Diálogo de la lengua) einen Gesichtspunkt, der durch die moderne hispanistische Forschung als grundlegend erwiesen worden ist. Dadurch erhält auch die spanische Sprachbetrachtung im 16. und 17. Jahrhundert gegenüber der italienischen Renaissance einen viel stärkeren historischen Zug. Dasselbe gilt für Portugal. Der Bedeutung von ALDBETEs Werk entspricht in diesem Land die ebenfalls im Jahre 1606 erschienene Schrift Origem da lingua

1



Daher ist die folgende Feststellung v o n AMADO ALONSO (Castellano, Español, idioma nacional, Buenos Aires 1938, S. 105) wohl doch übertrieben: „Aldrete tenía una mente científica poderosa, y en su libro admiramos las bases y primera realización satisfactoria de la gramática histórica y de la comparada, que sólo en el siglo X I X se han desarrollado." Vgl. die aufschlußreiche Arbeit v o n E. WEBER, Die Bedeutung der Analogie für die Beschäftigung Henri Estiennes mit der Vulgärsprache, Marburg 1939. WEBEB stellt in bezug auf die unter den Vulgärhumanisten verbreitete etymologische analogistische Methode, die v o n den antiken Grammatikern übernommen worden war, heraus ( S. 76) : „Man ist nur zu einer oberflächlichen Einteilung der Lautveränderungen vorgedrungen : Ausfall v o n Lauten, H i n z u k o m m e n anderer, Umstellung und Veränderung v o n Lauten . . . Wie schon erwähnt, kann m a n auf sie die Formulierung anwenden, die F . W. Diez v o n der unkritischen Methode der Etymologie g i b t : 'Eine unkritische Methode ist die, die durch bloße Ähnlichkeit der Form auf den Ursprung schließt oder bei geringer Ähnlichkeit durch Mittelglieder die Ähnlichkeit erzwingt' (Etymologisches Wörterbuch, Vorrede S. V I I ) . "

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E i n l e i t u n g . Die Vorgeschichte der r o m a n i s c h e n S p r a c h w i s s e n s c h a f t

portuguesa von D U A R T E N T T N E S D E LEÄO.1 Auch hier wird bereits auf Erscheinungen hingewiesen, die im 19. Jahrhundert mit der historisch-vergleichenden Methode als wissenschaftliche Erkenntnisse begründet und herausgestellt werden. In Frankreich2 entstanden im 16. Jahrhundert auf Grund der gegebenen geschichtlichen Konstellation ebenfalls verschiedene Werke, die normativen Charakter anstrebten. Zahlreiche Philologen suchten mit den Mitteln der klassischen Philologie die zur Nationalsprache erhobene Volkssprache darzulegen. Auch die Frage nach dem Ursprung der französischen Sprache wurde gestellt. Dabei wurden verschiedene Ansichten vorgebracht, so u. a., daß das Französische vom Griechischen herzuleiten sei.3 Griechische Etymologien zu einzelnen französischen Wörtern wurden aufgestellt, die selbst manchem Zeitgenossen absurd erschienen. Die erste bedeutende Schrift im „sprachhistorischen" Bereich stellt das 8. Buch der Recherches de la France (1560ff.) von E T I E N N E P A S Q U I E R dar. Er sieht im Französischen eine vorwiegend aus lateinischen Elementen entstandene Sprache, weist jedoch auch auf die verschiedenen keltischen und fränkischen Bestandteile dieser Sprache hin. Wohl als einer der ersten hebt er hervor, daß ü für lateinisches ü im Französischen dem keltischen Einfluß zuzuschreiben sei, und in diesem Fall eine Lautsubstitution vorliege. Obgleich von manchen Vertretern der romanischen Sprachwissenschaft ernste Einwände dagegen erhoben worden sind, wird diese Ansicht in modifizierter Form noch von einzelnen, zum Teil angesehenen Forschern geteilt.4 P A S Q U I E R erkannte auch erstmals die Veränderung von lat. a > frz. e. Ähnliche Ideen wie P A S Q U I E R vertritt bezüglich des Ursprungs und der 1

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Vgl. a u c h die v o n J . P . M A C H A D O h e r a u s g e b r a c h t e A u s g a b e dieses W e r k e s (Lisboa 1945), die t e x t k r i t i s c h n i c h t i m m e r b e f r i e d i g t . Z u m p o r t u g i e s i s c h e n V u l g ä r h u m a n i s m u s s. A . E . BEAU, N a t i o n u n d S p r a c h e i m p o r t u g i e s i s c h e n H u m a n i s m u s i n : V K R (1937), S. 77ff. ; derselbe, D i e E n t w i c k l u n g d e s p o r t u g i e s i s c h e n N a t i o n a l b e w u ß t s e i n s , H a m b u r g 1945; S. D A S I L V A N E T O , M a n u a l de filologia p o r t u g u ê s a , R i o d e J a n e i r o 1952, S. l f f . Vgl. M. W I T T O N , D a s N a t i o n a l i s i e r u n g s p r o g r a m m der f r a n z ö s i s c h e n R e n a i s s a n c e auf d e m Gebiet der S p r a c h e , D i c h t k u n s t , Religion u n d Sitte, Diss. B r e s l a u 1940; F . S T B A U S S , op. c i t . ; F . C O G A N - B E R N S T E I N , L a l u t t e p o u r la l a n g u e n a t i o n a l e d a n s l ' h u m a n i s m e f r a n ç a i s i n : R e c h e r c h e s Soviétiques, H i s t o i r e d e s idées, P a r i s , maij u i n 1956, S. 9 - 3 2 . So z. B . T O R Y , B U D É , P É R I O N u n d teilweise a u c h H . E S T I E N N E . L e t z t e r e r w a r o h n e Zweifel d e r b e d e u t e n d s t e f r a n z ö s i s c h e Philologe seiner Zeit, d e r sich i n t e n s i v m i t seiner M u t t e r s p r a c h e b e s c h ä f t i g t e . Vgl. v o r allem L . C L É M E N T , H e n r i E s t i e n n e e t son œ u v r e f r a n ç a i s e , P a r i s 1899; F . S T R A U S S , o p . cit., u n d E . W E B E R , o p . cit. Z w a r w i r d in der m o d e r n e n F o r s c h u n g n i c h t m e h r v o n einer b l o ß e n L a u t s u b s t i t u t i o n gesprochen, doch w i r d a n k e l t i s c h e r E i n w i r k u n g v o n v e r s c h i e d e n e n F o r s c h e r n festg e h a l t e n . Z u diesem l a u t h i s t o r i s c h e n P r o b l e m g i b t es eine s e h r reiche L i t e r a t u r , wobei a u f f ä l l t , d a ß zahlreiche V e r t r e t e r d e r positivistischen G e n e r a t i o n als a u c h gegenw ä r t i g e F o r s c h e r d e r phonologischen R i c h t u n g die A n n a h m e eines k e l t i s c h e n E i n flusses a b l e h n e n . Vgl. u . a. M E Y E R - L Ü B K E , Z F S L X L I , S. 1 — 7 ; u n d e b e n d a X L I V , S. 7 5 - 8 4 ; E . G A M I L L S C H E G , Z F S L X L V , S. 3 4 1 ; P H . A B E C K E R , R F L X , S . 2 9 1 ; H . L A U S B E R G , R F L X , S. 2 9 6 ff. ; A . G. H A U D R I C O U R T / A . G. J U I L L A N D , E s s a i p o u r u n e H i s t o i r e s t r u c t u r a l e d u p h o n é t i s m e f r a n ç a i s , P a r i s 1 9 4 9 , S. lOOff. W . v. W A R T B U R G s c h r e i b t i n : Die Ausgliederung der r o m a n i s c h e n S p r a c h r ä u m e , B e r n 1950, S . 3 6 : ,,Der gallische U r s p r u n g des L a u t w a n d e l s ist d a h e r , seit i h n Ascoli p o s t u l i e r t h a t ,

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Geschichte der französischen Sprache CLAUDE FATJCHET in seinem für die französische Literaturgeschichtsschreibung wichtigen Recueil de l'origine de la langue, et poésie françoise ( 1 5 8 1 ) . 1 Auch in lexikologischer Hinsicht finden sich im 16. Jahrhundert fruchtbare Ansätze. Davon zeugen die ersten Wörterbücher der noch jungen französischen Nationalsprache. Hier sind als Verfasser R O B B E T E S T I E N N E und J E A N N I C O T ZU nennen. Während das Wörterbuch von E S T I E N N E , das durch J E A N T H I E B B Y 1 5 6 4 und 1572 ergänzt worden war, sich noch ziemlich sklavisch an das Vorbild der damals üblichen lateinischen Wörterbücher hielt, löste sich J E A N N I C O T in seinem Thresor de la langue françoise tant ancienne que moderne (Paris 1606) von dieser Tradition. Im 17. Jahrhundert erfreute sich die französische Sprache der gleichen Aufmerksamkeit seitens der Philologen und Altertumsforscher. Sprachhistorisch bedeutsam für jene Zeit war vor allem das etymologische Wörterbuch von G. M É N A G E , das den Titel trägt: Origines de la langue française ( 1 6 5 0 ) . Wenn 2 MÉNAGE auch noch der humanistischen Methode der Analogie folgt und manchmal phantastische Konstruktionen bringt, so sollte nicht vergessen werden, daß er seine Vorgänger auf diesem Gebiet weit übertrifft. Eine erstaunliche Zahl von Wörtern sucht er auf ihre Etyma zurückzuführen, so ungefähr 2 7 0 0 französische, 4 7 0 italienische und 5 6 0 lateinische. G . G B Ö B E B traf folgende Feststellung : „Von den 300 Wörtern, die er (bis 'cascade') und F. Diez gemeinschaftlich behandeln, hat Diez bei nicht weniger als 216, also bei etwa 72%, die von Ménage empfohlene Herleitung anerkannt, aber freilich noch zu beweisen gehabt." (op. cit., S. 26) Im Anschluß daran gibt G B Ö B E B den interessanten Hinweis, daß im 1 7 . Jahrhundert durch die polyglotten Wörterbücher, „die zu Calepins lateinischem Wörterbuch die gleichbedeutenden Ausdrücke der griechischen und lebenden Sprachen setzten", die Etymologien zu vielen französischen Wörtern viel klarer zutage traten. Als Philologe jener Zeit ist ferner PLEBEE DE CASENEUVE zu erwähnen, der zu hundert französischen Wörtern die Etyma gab und dabei noch vorsichtiger als MÉNAGE ZU Werke ging. Daß es im Französischen Doppelwörcer gleicher lateinischer Herkunft gibt, stellte schon im 1 7 . Jahrhundert der Jurist NICOLAS CATHÉEINOT in Les doublets de la langue française ( 1 6 8 3 ) heraus. Damals erschienen auch einzelne Wörterbücher der französischen Sprache des 17. Jahrhunderts, die für jene Zeit eine beachtliche philologische Leistung darstellen. Hierher gehören: P I E B E E R I C H E L E T , Nouveau Dictionnaire français ( 1 6 8 0 )

1 2

oft verfochten, aber öfter bekämpft worden." Er stellt die bisherigen Einwände gegen die, .keltische' ' Theorie zusammen (,, 1. In älterer Zeit und in gewissen Gegenden wirkt ü auf die Umgebung wie ein velarer, nicht wie ein palataler Vokal. 2. Das ü hat sich vielerorts nur unvollständig durchgesetzt. 3. Die geographische Übereinstimmung mit dem alten Keltengebiet fehlt") und sucht sie zu entkräften. Vgl. JANET G. ESPINER-SCOTT, Claude Fauchet and Romance Study in: MLR X X X V (1940), S. 173-184. Vgl. E. SAMFERESCO, Ménage-Polémiste, Philologue, Poète. Thèse, Paris 1902. Vgl. auch hinsichtlich der Italienischstudien von Ménage die Freiburger (Schweiz) Dissertation von J. ZEHNDER, Les „Origini della lingua italiana" de Gilles Ménage. Étude historique et critique (1939).

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Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

und A N T O I N E F Û R E T I È R E , Dictionnaire universel (1690).1 Auch die französische Akademie schuf ein Wörterbuch, das allerdings ebenso streng nach puristischen Gesichtspunkten angelegt worden war wie das der italienischen Crusca. Dieses „beau français" des Akademiewörterbuches enthielt nicht den gesamten Reichtum der französischen Sprache. Es fehlten vor allem die volkstümlichen und fachsprachlichen Ausdrücke und Wörter. Diese Lücke füllte teilweise T H . CORNEILLE auö mit seinem Dictionnaire des arts et des sciences (1694), das die berufssprachliche Sphäre des französischen Wortschatzes registrierte. Aber auch veraltete französische Wörter mußten von bestimmten Kreisen in ihrem Sinn erkannt werden. ,,Die Pflege der Landes- und Rechtsgeschichte zwang sogar auch zur Sammlung und Bestimmung der Bedeutung veralteter Wörter in den französisch geschriebenen Geschichts- und Rechtsquellen des Mittelalters zu schreiten." (GRÖBER, op. cit., S. 28). Dabei sind vor allem zwei Namen zu nennen: P I E R R E BOKEL mit seinem Trésor des recherches et antiquités gauloises et françoises (1655) und Du F R E S N E DOM. DTJ CANGE (1610—1688) mit seinem Glossarium mediae et infimae latinitatis (1678). Du CANGES Wörterbuch ist für die damalige Zeit eine äußerst hoch zu bewertende sprachwissenschaftliche Arbeit. Aus siebzig handschriftlich überlieferten Texten „geschichtlichen und rechtlichen Inhalts", aus Epen und Romanen und aus gegen zwanzig damals bereits wieder gedruckten altfranzösischen Prosawerken zog er ungefähr dreitausend altfranzösische Wörter aus und bestimmte ihren Bedeutungsumfang. Diese altfranzösischen Wörter mußten meistens zur Deutung mittellateinischer Wörter dienen. So finden wir also bereits -im 17. Jahrhundert die Begründung einer altfranzösischen Lexikographie, die auch der exakten Sprachwissenschaft wertvolle Hilfsdienste leisten sollte. Auch auf dem Gebiet der Grammatik wurde mit der sprachvergleichenden und logizistisch ausgerichteten Grammaire générale et raisonné, contenant les fondements de l'Art de parler, expliqués d'une manière claire et naturelle ( 1 6 6 0 ) von LANCELOT und ARNATJLD in allgemein sprachwissenschaftlicher Hinsicht ein entscheidender Schritt nach vorn getan: Es setzte eine philosophisch-rationalistische Sprachbetrachtung ein, die im 18. Jahrhundert vor allem entsprechende Traktate in bezug auf das Französische zeitigte. Im 18. Jahrhundert war zwar die Frage nach der Herkunft der eigenen Sprache und deren Beobachtung und Erforschung noch von Bedeutung, spielte aber nicht 1

CH. BRUNEATJ, Petite histoire de la Langue Française, Paris 1958 (2. Auflage), S. 182/83, charakterisiert sie wie folgt: «Le premier, celui de Richelet, est le meilleur. Il est l'œuvre d'un groupe d'honnêtes gens (dont Patru), qui fondèrent leurs décisions sur l'usage et sur des exemples empruntés à des écrivains, poètes et prosateurs, choisis avec soin (nous y retrouvons, entre autres, Pascal, Molière, Despréaux, Racine, La Fontaine, etc.; noter que Boileau y représente Gilles, et non Nicolas). Les mots y sont soigneusement classés; les emplois figurés sont distingués par des astérisques ; tout ce qui est hors du bon usage est marqué d'une croix . . . Le Dictionnaire de Fûretière (1690) est un dictionnaire de 'choses' en-même temps qu'un dictionnaire de mots. L'article Loup est particulièrement riche de renseignements de toute sorte, y compris sur les loups garous. C'est en quelque sorte la première de nos encyclopédies.»

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mehr eine solche zentrale Rolle wie im Zeitalter der Renaissance. Die Erforschung der Literatur der älteren Epochen rückte dafür wesentlich stärker in den Vordergrund. G. GRÖBER meinte sogar: „Die romanische Philologie wird jetzt allgemein Bearbeitung der romanischen Literaturwerke. . . Die sensualistische Auffassung von der allmählichen Ausbildung der geistigen Kräfte und Tätigkeiten des Menschen im 18. Jahrhundert veranlaßte wohl dem natürlichen Ursprung der Sprache, nicht aber der Sprachen und den Ursachen ihrer Veränderung emsiger nachzuspüren. . . Die beobachtende, ordnende und etymologische Sprachbetrachtung älterer Zeit tritt gleichfalls hinter dieser philosophischen zurück." (GRÖBER, op. cit., S. 36.) Wenn auch die eigentlichen romanischen Probleme nicht mehr entscheidend Neues gegenüber dem 17. Jahrhundert aufweisen, so wurde doch in der allgemeinen Sprachbetrachtung durch den Sensualismus ein entscheidender Umbruch erzielt.1 Ein so grundlegendes Problem wie das Verhältnis zwischen Sprache und Denken wurde Gegenstand breiter Erörterungen. Deshalb sollte auch das 18. Jahrhundert für die Herausbildung der allgemeinen Sprachwissenschaft viel mehr als bisher berücksichtigt werden. Obgleich die sensualistische Sprachkonzeption in jener Zeit bei den Einzelphilologien noch keine umfassende Anwendung fand und die erste exakte sprachwissenschaftliche Methode, nämlich die historisch-vergleichende, erst im 19. Jahrhundert zu belegen ist, wurde erstmals durch den Sensualismus ein wichtiges Fundament für die moderne Sprachbetrachtung gewonnen. Die Sensualisten sahen in der Sprache das entscheidende Verbindungsglied, um den Aufbau des Gedankens und der Begriffe auf der Grundlage der Empfindung und Wahrnehmung darzustellen. Die Sprache erscheint als der entscheidende Mittler zwischen Empfindung und Denken. Bei den Auseinandersetzungen jener Zeit über den Ursprung der französischen Sprache fällt auf, daß von einigen Gelehrten und Schriftstellern immer mehr das keltische Element betont wird. Auch wird gegenüber Anschauungen des 16. Jahrhunderts besonders darauf hingewiesen, daß nicht das Hochlatein, sondern das Volkslatein in den römischen Provinzen und damit auch in Gallien gesprochen worden sei. Hierbei ist vor allem PIERRE BONAMY (1694—1770) zu erwähnen. Er

schrieb im Jahre 1751 eine umfangreiche Abhandlung über die Einführung des Lateins in Gallien, über das niedere Latein und über die Sprache der Straßburger Eide. G. GRÖBER, von der heute in einzelnen Punkten überholten Konzeption des Vulgärlateins ausgehend, schreibt, daß er in „lichtvoller Weise die schon Du Cange bekannte, im wesentlichen noch heute bestehende Ansicht von der Entstehung der romanischen Sprachen" begründete, (op. cit., S. 39.) Auch dem Altfranzösischen widmeten einige Gelehrte liebevolle Aufmerksamkeit. Wörterbücher des Altfranzösischen wurden verfaßt, so von FRANÇOIS LACOMBE, JEAN FRANÇOIS, SAINTE-PALAYE u n d BONAVENTURE DE ROQUEFORT. I n

erster Linie galt natürlich damals das Interesse der französischen Sprache des 18. Jahrhunderts selbst. Es wurden Wörterbücher und Grammatiken verschiedener Art, philosophisch oder normativ eingestellt, herausgegeben. G. GIRARD erar1

Vgl. G. HARNOIS, Les théories du langage en France de 1 6 6 0 — 1 8 2 1 , Paris 1 9 2 9 .

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beitete in seinem Werk Justesse de la langue française Grundlagen einer wissenschaftlichen Synonymik und setzte damit auf einer neuen Ebene eine Tradition fort, die im Zuge der puristischen Sprachauffassung des 17. Jahrhunderts bereits von dem P È R E BOUHOTJRS U. a. eifrig gepflegt worden war und im Bereich der klassischen Philologie schon im 16. Jahrhundert entsprechende Werke aufweist. In Spanien1 und Portugal lagen im sprachhistorischen und grammatischen Bereich die Dinge ähnlich. In sprachhistorischer Hinsicht tat sich besonders GBEGORIO MAY AUS Y SISCAE hervor, der in seinem Werk Origines de la lengua española die vonALDBETE gewonnenen Erkenntnisse noch vertiefte. Auch ANTONIO DE CAPMANY Y DE MONTPALATT zeigte für seine Zeit eine vortreffliche philologische Begabung. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts erschien das Wörterbuch der spanischen Akademie, auch Diccionario de autoridades2 genannt: ein für den Philologen noch heute unentbehrliches Werk, in dem zwar auch der berufssprachliche Wortschatz nicht berücksichtigt, aber im Gegensatz zu gleichen Akademieunternehmungen in Italien und Frankreich nicht so puristisch vorgegangen wird. Es enthält sogar Ausdrücke der Gaunersprache und Provinzialismen. In jener Epoche sind auch gewisse Ansätze zu Synonymwörterbüchern festzustellen, wobei das französische Vorbild Ansporn gab. Die Beschäftigung mit dem Altspanischen, die bereits im 16. Jahrhundert begonnen hatte, wurde im 18. Jahrhundert verstärkt fortgesetzt. Verschiedene Glossare und Wörterbücher des Altspanischen entstanden. In diesem Zusammenhang muß für die altportugiesische Sprache auch die Sammlung Elucidario das palavras que en Portugal antiguamente se usaräo ( 1 7 9 8 ) von J. DE SANTA R O S A DE VITEBBOS genannt werden. In Italien wurden auf sprachhistorischem und grammatischem Gebiet keine bahnbrechenden Werke veröffentlicht. Nur Mundartwörterbücher erschienen mehr als bisher. Manche hatten den Zweck, dem zu vermeidenden Dialektwort den entsprechenden Ausdruck der Hochsprache gegenüberzustellen, so das sizilianische Wörterbuch von MICHELE DEL BONOS. Demgegenüber gab es aber schon Wörterbücher, die von einem wissenschaftlichen Interesse an der betreffenden Mundart zeugen, besonders MICHELE PASQTTALINOS Vocabolario siciliano ( 1 7 8 5 ) und FERDINAÍÍDO GALIANIS etymologisches Vocabolario del dialetto napoletano ( 1 7 8 9 ) . Sehr bedeutsam für die Entwicklung der italienischen Philologie war das Wirken von L . A. MURATORI ( 1 6 7 2 - 1 7 5 0 ) . Er entwickelte kritische Methoden in der Quellenforschung und gab die Geschichtsquellen des italienischen Mittelalters heraus. MUBATOBIS sehr umfangreiches Sammelwerk Rerum Italicarum scriptores ( 1 7 2 3 bis 1751) bildet auf Grund des hier gesammelten und kritisch gesichteten Materials noch heute ein wichtiges Hilfsmittel für die italienische Sprachforschung, obgleich hier kein sprachgeschichtliches Anliegen seitens des Herausgebers vorlag. 1

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S . F. LÁZARO CARRETEE, Las ideas lingüísticas en España durante el siglo X V I I I , Madrid 1949. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das folgende aufschlußreiche spanische Wörterbuch des 17. Jahrhunderts von SEBASTIÁN DE COVARRUBIÁS, Tesoro de la Lengua Castellana o Española, 1 6 1 1 (vgl. auch die Ausgabe von MARTÍN DE RIQTJER Barcelona 1 9 4 3 ) .

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Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten die Konstituierung einer exakten sprachwissenschaftlichen Forschung durch F R A N Z B O P P und J A C O B GKIMM. Der erste begründete wissenschaftlich 1816 in seinem Werk Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem, der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache die Einheit der indogermanischen Sprachen, indem er erstmals die vergleichende Methode anwandte ; der zweite verband in seiner Deutschen Grammatik (1819—37) die Sprachvergleichung B O P P S mit sprachgeschichtlicher Betrachtung und schuf so die historischvergleichende Grammatik. Diese Methoden und Erkenntnisse wandte dann F R I E D R I C H D I E Z auf das Studium der romanischen Sprachen an und begründete so die romanische Sprachwissenschaft. F R I E D R I C H D I E Z selbst jedoch bezeichnete in seiner vornehmen Bescheidenheit den französischen Gelehrten F R A N Ç O I S R A Y N O U A R D (1761—1836) als Begründer unseres Faches. Zweifelsohne leistete R A Y N O U A R D viel für die aufkommenden Studien der romanischen Sprachwissenschaft, doch gerade vom methodischen Gesichtspunkt aus erweist er sich nur als unmittelbarer Vorläufer von F R I E D R I C H D I E Z . E D O U A R D B O U R C I E Z schätzte R A Y N O U A R D S Stellung in der romanischen Sprachwissenschaft, besonders gegenüber F R I E D R I C H D I E Z , sehr richtig ein: „Que Raynouard ait été un précurseur, peut-être même quelque chose de plus, cela ne fait aucun doute, et les dates sont là. Dans sa Grammaire des langues de l'Europe latine, publiée en 1821, il y a déjà de bonnes observations, certains rapprochements justes, mais le tout reste encore un peu hésitant, et la matière dans son ensemble n'y a pas été soumise à une méthode assez sévère. E t puis, surtout, ce qui se détache au fond de cet ouvrage, c'est une hypothèse des plus malencontreuses, une inconcevable erreur." 1 Diese Hypothese, auf die hier B O U R C I E Z anspielt, bezieht sich auf RAYNOTTARDS Einschätzung des Provenzalischen. Das Altprovenzalische war für ihn die romanische Vulgärsprache gewesen, von der aus die anderen romanischen Sprachen sich entwickelt haben sollen. So erscheint das Altprovenzalische in einer historisch völlig abwegigen Konzeption als das entscheidende Mittelglied zwischen dem Latein und den romanischen Sprachen. Diese Anschauung R A Y N O U A B D S wurde allerdings schon von A U G U S T W I L H E L M V. S C H L E G E L kurz nach ihrer Darlegung in Observations sur la langue et la littérature des tr/oubadours (1818) als unhaltbar zurückgewiesen. Bedeutung 2 gründete sich für seine Zeit weniger auf seine sprachvergleichenden romanischen Studien als auf seine sprachlichen und philologischen RAYNOUAKDS

1

U n centenaire: La grammaire de Fr. Diez en 1836 in: A S N S C L X X (1936), S. 211.

2

V g l . J . KÖBNBB, d e r i n F r a n ç o i s - J u s t e - M a r i e R a y n o u a r d , G R M V ( 1 9 1 3 ) , S. 4 5 6

bis 488, eine eingehende Darstellung des Lebens und Wirkens dieses südfranzösischen Philologen gibt. Er übertreibt die Bedeutung RAYNOUABDS für die Herausbildung der romanischen Sprachwissenschaft. KÖRNEB möchte zugleich beweisen, daß F. DIEZ nicht in vollem Maße die ihm allgemein zugestandene Wertschätzung als Begründer der romanischen Sprachwissenschaft verdiene. E i n e n guten Einblick in die Beziehungen RAYNOUABDS zu den Gebrüdern SCHLEGEL sowie eine Darlegung der Verdienste RAYNOUABDS vermittelt G. RICHEBT (Die Anfänge der romanischen Philologie und die deutsche Romantik, Halle 1914; besonders K a p . I I , S . 39FF.).

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Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

Bemühungen um die Sprache der provenzalischen Troubadours. In dieser Hinsicht gingen von ihm entscheidende Impulse aus. Seine Grammatik des Altprovenzalischen, Grammaire de la langue romane, gewährte für seine Zeit interessante Einblicke in den Aufbau einer Sprache, die einst als mittelalterliche Literatursprache eine bedeutende Rolle gespielt hatte und nun wegen ihrer Dichtungen das Interesse der Romantiker auf sich zog. Doch das einzige Werk R A Y N O U A K D S , das auch heute noch bei neueren Forschungen berücksichtigt wird, stellt das sechsbändige Wörterbuch dar: Lexique roman ou Dictionnaire de la langue des troubadours (1838—1844). Das bezeugt nicht zuletzt die Tatsache, daß ein unveränderter Neudruck dieses Wörterbuches im Jahre 1929 erfolgte. 1 Um die Herausbildung der romanischen Sprachwissenschaft besser zu verstehen, gilt es einen Blick auf die Anfänge der indogermanischen Sprachwissenschaft 2 zu werfen. Die erste exakte wissenschaftliche Methode, die historischvergleichende, war im 19. Jahrhundert bestimmend für die Sprachwissenschaft. Sie "wurde daher auch zur Grundlage für die Entstehung der Einzelphilologien im sprachwissenschaftlichen Bereich. V. T H O M S E N weist in seiner Geschichte der Sprachwissenschaft bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Halle 1927, darauf hin, daß der Unterschied zwischen der älteren und der neueren Sprachwissenschaft, d. h. zwischen der „Vorgeschichte" und dem „Beginn der exakten Wissenschaft", vor allem in der Erkenntnis besteht, daß es bei dem Aufzeigen von Sprachverwandtschaft „nicht die Gleichheit einzelner Wörter ist — an die man sich bisher ausschließlich gehalten hatte, die aber vielen Zufällen unterworfen sein kann —, sondern in allererster Linie einzig und allein eine methodische Behandlung des ganzen Sprachbaues, all des Grammatischen".3 Diese Erkenntnis brach sich schon Ende des 18. Jahrhunderts Bahn. Hier ist es vor allem der Däne R . K. R A S E (1787—1832), der mit seinen Werken den Übergang zur neuen wissenschaftlich fundierten Sprachwissenschaft herstellt. Er hob bereits die grammatikalische Übereinstimmung als ein wesentliches Moment für die Festlegung der Sprachverwandtschaft hervor.4 Für die Erkenntnis der indogermanischen Sprachverwandtschaft sollte vor allem die Beschäftigung mit der altindischen Literatursprache, dem Sanskrit, von großer Bedeutung werden. Die Engländer W. J O N E S (1746-1794) und H. T. 1

E. LEVY verfaßte ein Provenzalisches Supplement-Wörterbuch (8 Bände), Leipzig 1 8 9 4 — 1 9 2 4 , i n d e m e r z a h l r e i c h e B e r i c h t i g u n g e n u n d E r g ä n z u n g e n z u RAYNOTTABDS

2

3 4

Wörterbuch gibt. Vgl. auch von E. LEVY, Petit dictionnaire provençal-français, Heidelberg 1923 (2. Auflage). Vgl. H. ABENS, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg-München 1955, S. 133—204; J. WEISWEILER, Die indogermanische Sprachwissenschaft in: Historisches Jahrbuch 1949, S. 464—490; A. MEILLET, Einführung in die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen, Leipzig-Berlin 1909, S. 272—295. S. 44. V g l . V . THOMSEN, o p . c i t . , S . 4 4 — 5 1 ; R . v . R A U M E S , G e s c h i c h t e d e r g e r m a n i s c h e n

Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870, S. 470ff. und S. 507ff., und K. SANDFELD, R. Rask in: Dansk Biografisk leksikon, Band X I X (1940), S. 1 8 0 - 1 9 4 .

Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

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(1785—1837) machten durch ihre Veröffentlichungen die europäische Gelehrtenwelt auf diese sehr formenreiche Sprache aufmerksam. F E I E D EICH SCHLEGEL, von diesen Publikationen angeregt, beschäftigte sich ebenfalls mit dem Sanskrit und veröffentlichte im Jahre 1808 sein Werk Über die Sprache und Weisheit der Inder. Hierin unterstrich er die Feststellung von JONES, daß das Sanskrit mit dem Lateinischen, Griechischen, Germanischen und Persischen verwandt sein müsse. Im 1. Kapitel dieser Schrift konstatiert er: „Die Ähnlichkeit liegt nicht bloß in einer großen Anzahl von Wurzeln, die sie mit ihnen gemein hat, sondern sie erstreckt sich bis in die innerste Struktur und Grammatik. Die Übereinstimmung ist also keine zufällige, die sich aus Einmischung erklären ließe, sondern eine wesentliche, die auf gemeinschaftliche Abstammung deutet." 1 Die letzten Konsequenzen aus dieser Einsicht zog FBANZ BOPP. 2 In seinem im Jahre 1816 erschienenen Werk Über das Conjugationssystem . .. gelingt es ihm zu zeigen, daß die Verbalflexion in den untersuchten Sprachen eine allen gemeinsame Ausgangssprache voraussetzt. Seine Erkenntnisse vertiefte und erweiterte er noch in Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gotischen und Deutschen, 1833—1852. Dieses Werk bildete das erste Fundament der neu geschaffenen indogermanischen Sprachwissenschaft. Im Vordergrund steht die genetische Seite, die Ermittlung der Sprachverwandtschaft. Sie fand eine sehr fruchtbare Ergänzung durch 3 JACOB GBIMM , der vor allem das historische Werden betrachtete und so zur histprischen Grammatik hinlenkte. Im Jahre 1819 veröffentlichte JACOB GBIMM den ersten Band seiner Deutschen Grammatik, die entgegen ihrem Titel eine historische Grammatik der gesamten germanischen Sprachengruppe ist. Sie erhielt drei Jahre später (1822) in der völlig neu bearbeiteten 2. Auflage ein gediegenes Fundament. Erstmals wurden dabei auch die Laute mit berücksichtigt, so daß es sich hier um die erste historische Laut- und Formenlehre einer indogermanischen Sprache überhaupt handelt. „Als die fruchtbarste der darin gebotenen Neuentdeckungen darf die Formulierung des Lautgesetzes gelten, das sein Entdecker als germanische Lautverschiebung bezeichnete und das heute noch von den Engländern Grimm's Law genannt wird." 4 COLEBBOOKE

In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob J. GBIMM in gewissem Sinne nicht auch der Begründer der romanischen Sprachwissenschaft gewesen ist, war doch F R I E D R I C H D I E Z seinem Beispiel gefolgt. Das hieße jedoch, die Leistung und das Verdienst von D I E Z schmälern. Seine Grammatik und sein etymologisches Wörterbuch bezeugen, daß er ein sehr selbständiger, kritischer und schöpfe1 2 3 4

Werke, B o n n 1877, Band V I I I , S. 278. Siehe S. LEFMANN, Franz Bopp, sein Leben und seine Wissenschaft, Berlin 1891 bis 1897. Siehe W. SCHEBER, Jacob Grimm, Berlin 1885 (2. Auflage). WEISWEILER, op. cit., S. 4 7 6 . E s handelt sich hier u m Lautveränderungen, die unter dem N a m e n „erste deutsche Lautverschiebung" bekannt sind: 1. D i e Tenuis des Indogermanischen wird im Germanischen zum Reibelaut; 2. Media Aspirata zu Media; 3. Media zur Tenuis (s. O . BEHAGHEL, Die deutsche Sprache, Halle 1 9 5 4 (11. Auflage).

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Einleitung. Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft

rischer Forscher war. Gerade gegenüber dem Romantiker J . GRIMM zeigt er „bei gleicher Gründlichkeit, Tiefe und umfassendem Wissen noch mehr Klarheit, Durchsichtigkeit und philologische Schärfe in seinem Meisterwerk." 1 Sehr aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch der Vergleich, den G. PARIS im Vorwort zu seiner französischen Übersetzung der Grammatik der romanischen Sprachen zwischen J . GRIMM und F. DIEZ anstellt. Auch er unterstreicht die Selbständigkeit und Solidität des Begründers der romanischen Sprachwissenschaft: „Jacob Grimm, qu'une érudition immense, une grande pénétration, une haute intelligence du génie des nations et des langues, ont fait placer à bon droit au premier rang des philologues, pèche quelquefois par trop d'imagination et de subtilité, plus souvent par la confusion et un entassement d'idées et de faits qui rend la lecture de ses livres extrêmement pénible. M. Diez a porté plus d'ordre dans la disposition de ses matériaux ; il a mieux digéré sa science et l'a rendue plus facilement abordable; enfin il a plus sévèrement subordonné son imagination à son observation, et n'a jamais demandé qu'aux faits eux-mêmes leur explication logique." 2 1

1

Diese Charakteristik stammt von dem bekannten Wiener Romanisten FERDINAND WOLF ( 1 7 9 6 — 1 8 6 6 ) ; z i t i e r t b e i G . RICHERT, o p . c i t . , S . 7 6 . Z i t i e r t b e i G . RICHERT, o p . c i t . , S . 7 6 .

KAPITEL I

Die romanische Sprachwissenschaft

bis 1900

Friedrich Diez ( 1 7 9 4 - 1 8 7 6 ) Gestützt auf die Arbeiten v o n BOPP u n d GKIMM, veröffentlichte FRIEDBICH DIEZ i n d e n Jahren 1836—1843 in B o n n sein dreibändiges Werk Grammatik der romanischen Sprachen, in d e m er die romanische Sprachwissenschaft zu einer wirklichen Wissenschft erhob. 1 DIEZ teilt die romanischen Sprachen in drei Gruppen ein, u n d zwar a) in die östliche Gruppe, zu der das Italienische u n d das R u m ä n i s c h e gezählt werden, b) in die nordwestliche Gruppe, zu der das Altprovenzalische u n d das Französische gehören, und c) in die südwestliche Gruppe, die das Spanische u n d das Portugiesische u m f a ß t . 2 Anschließend zeigt er, wie ihre „ F o r m " , d. h. die Laute, die 1

DIEZ ist der Schöpfer der g e s a m t e n r o m a n i s c h e n Philologie ( = Sprachwissenschaft, Philologie im engeren Sinne des W o r t e s u n d L i t e r a t u r g e s c h i c h t e ) . Wie seine G r a m m a t i k die v o n RAYNOUABD ersetzt h a t t e , so h a t t e n a u c h seine W e r k e : Beiträge z u r K e n n t n i s der r o m a n i s c h e n Poesie (1825), Poesie d e r T r o u b a d o u r s (1826) u n d L e b e n u n d W e r k e d e r T r o u b a d o u r s (1829) die gleichartigen A r b e i t e n jenes f r a n z ö sischen Philologen f a s t überflüssig g e m a c h t . I n diesem Z u s a m m e n h a n g m u ß darauf hingewiesen werden, d a ß die sehr a l t e u n d v e r b r e i t e t e Ansicht, n a c h d e r F . DIEZ d u r c h den g r ö ß t e n d e u t s c h e n D i c h t e r , d u r c h J . W . v . GOETHE, auf die Schätze d e r altprovenzalischen Poesie h i n g e l e n k t w o r d e n sei, n i c h t s t i c h h a l t i g ist. E . R . CtTRTitrs stellt fest i n : B o n n e r G e d e n k w o r t e auf Friedrich Diez z u m 15. März 1944, R F L X (1948), S. 3 8 9 - 4 1 0 , d a ß DIEZ b e r e i t s z w e i J a h r e v o r s e i n e r U n t e r -

2

r e d u n g m i t GOETHE im J a h r e 1818 E n t w ü r f e zu einem W e r k ü b e r r o m a n i s c h e M i n n e d i c h t u n g angefertigt h a t t e . I n dieser G e d e n k r e d e b e m ü h t sich E . R . CUBTIUS, d e n Nachweis zu f ü h r e n , d a ß DIEZ auf G r u n d einer resignierenden Lebenss t i m m u n g so bedeutungsvolle W e r k e wie die G r a m m a t i k u n d das E t y m o l o g i s c h e W ö r t e r b u c h der r o m a n i s c h e n Sprachen v e r f a ß t h a b e . CURTIUS f o l g e r t : „ D i e rom a n i s c h e Philologie u m f a ß t L i t e r a t u r g e s c h i c h t e u n d Sprachgeschichte. Auf b e i d e n Seiten h a t Diez Grundlegendes geleistet. A b e r es ist bezeichnend, d a ß er sich zuerst der L i t e r a t u r f o r s c h u n g , d a n n der S p r a c h f o r s c h u n g z u w a n d t e . J e n e n ä h r t sich n o c h von d e m , w e n n a u c h verklingenden, E n t h u s i a s m u s seiner J u g e n d ; diese ist die F r u c h t der E r n ü c h t e r u n g . " (S. 401.) Wie richtig a u c h dieser G e s i c h t s p u n k t i m A n s a t z sein m a g , er e r k l ä r t u n s n i c h t die gewaltige L e i s t u n g u n d d a m i t auch n i c h t die H i n g a b e dieses sehr bescheidenen Gelehrten a n sein W e r k . H i n t e r der A r g u m e n t a t i o n v o n CUBTIUS v e r b i r g t sich letztlich die Einstellung eines „ L i t e r a r h i s t o r i k e r s " , d e r n i c h t ohne gewisse S c h a d e n f r e u d e diesen G e s i c h t s p u n k t f u n dieren m ö c h t e . Seit DIEZ w e r d e n v o n d e n V e r t r e t e r n unseres F a c h e s i m m e r wieder die verschied e n s t e n Versuche u n d A n s t r e n g u n g e n u n t e r n o m m e n , die r o m a n i s c h e Sprachwelt zu gliedern. F ü r DIEZ w a r d a b e i e n t s c h e i d e n d , ob die b e t r e f f e n d e r o m a n i s c h e S p r a c h e N a t i o n a l s p r a c h e ist oder ob sie z u m i n d e s t ü b e r eine eigene L i t e r a t u r verf ü g t . Obgleich DIEZ bei seiner zu Beginn gegebenen E i n t e i l u n g (I, 3) n i c h t auf das K a t a l a n i s c h e Bezug n i m m t , k o m m t er auf S. 112 des I . B a n d e s zu d e m S c h l u ß :

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Kapitel I . Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Flexion, die Ableitung, die Zusammensetzung und die Syntax entstanden und sich entwickelt haben. Im ersten Teil seiner Grammatik, der die Phonetik der romanischen Sprachen behandelt, wird der Lautwandel als die Grundlage aller „Die katalanische Sprache s t e h t zur provenzalisehen n i c h t eigentlich im Verhältnisse einer M u n d a r t : sie ist vielmehr ein selbständiges m i t ihr zunächst verw a n d t e s I d i o m . " — G . G R Ö B E B (Grundriß, S. 535ff.) bezeichnet D I E Z ' E i n t e i l u n g zwar als zweckdienlich, doch als wissenschaftlich nicht befriedigend. G R Ö B E B sieht in der Sprachgliederung eine Aufgabe der Sprachgeschichte, die darin bestehe, M u n d a r t e n m i t t e l p u n k t e aufzusuchen. Wegen der komplizierten Lage im romanischen Sprachbereich verzichtet G R Ö B E R selbst jedoch auf eine Einteilung der romanischen Sprachen. M E Y E B - L Ü B K E ( E i n f ü h r u n g in das S t u d i u m der romanischen Sprachwissenschaft, Heidelberg 1920 [3. Auflage], S. 16ff.) unterscheidet u n t e r Berücksichtigung der politischen u n d literarischen Verhältnisse n e u n romanische S p r a c h e n : R u m ä n i s c h , Dalmatinisch, R ä t o r o m a n i s c h , Italienisch, Sardisch, Provenzalisch, Französisch, Spanisch u n d Portugiesisch. A S C O L I dagegen wollte f ü r die Einteilung in größere Sprachgruppen lautliche u n d morphologische Kriterien zugrunde gelegt wissen. N a c h diesen Prinzipien e n t d e c k t e er das Ladinische (oder Rätoromanische) u n d das Frankoprovenzalische als besondere romanische Spracheinheiten. G R I E B A (Afroromänic o Ibero-rom&nic?, BDC X (1922), S. 33 bis 54), dem es u m die sprachhistorisch b e g r ü n d e t e Selbständigkeit des K a t a l a n i schen ging, t r e n n t e die romanischen Sprachen in eine afro-romanische Gruppe u n d in eine ibero-romanische u n d errichtete so eine Scheidewand zwischen dem Spanischen u n d d e m Katalanischen. Diese Unterteilung, die sich n u r auf einige lexikalische Beispiele s t ü t z t , wurde v o n den meisten R o m a n i s t e n als u n h a l t b a r verworfen. Vgl. M E Y E B - L Ü B K E , Afro-romanisch u n d Ibero-romanisch i n : Z R P h X L V I (1926), S. 116ff. u n d A M A D O A L O N S O , L a subagrupación románica del catalán i n : Estudios lingüísticos, Madrid 1954, S. l l f f . , speziell S. 57—100. M. B A R T O L I (Das Dalmatische, Wien 1906) gliederte die romanischen Sprachen in eine pyrenäisch-alpine W e s t r o m a n i a u n d in eine balkan-apenninische Ostromania. Die E i n teilung in Ost- u n d Westromanisch wurde besonders von W . v. W A B T B U R G vert i e f t , dessen A r g u m e n t a t i o n von zahlreichen R o m a n i s t e n h e u t e gebilligt u n d übern o m m e n worden ist. W . v. W A R T B T T B G (Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume, Bern 1950, S. 60ÍF.) sieht in der Scheide, die Italien v o n Spezia zur Adria d u r c h q u e r t e , die Grenze zwischen d e m Ost- u n d Westromanischen vor d e n Germaneneinfällen. W ä h r e n d im Ostromanischen, d. h . also im Gebiet südlich dieser Linie m i t Einschluß des Balkanlateins, das a u s l a u t e n d e s v e r s t u m m t e , erfolgt im Westromanischen eine Sonorisierung der intervokalischen stimmlosen Verschlußlaute (p, t, k). Vgl. a u c h die kritischen E i n w ä n d e v o n H . M E I E R , Die E n t s t e h u n g der romanischen Sprachen u n d Nationen, F r a n k f u r t a. M., S. 42fF., u n d die sachlichen u n d manches klärenden B e m e r k u n g e n von M. L. W A G N E R in R F L X I (1948), S. 1—20. T. H . M A U R E R jr. (A u n i d a d e d a R o m á n i a ocidental, Säo Paulo 1951) setzt dem R u m ä n i s c h e n eine geistig-kulturelle Einheit aller übrigen romanischen Sprachen gegenüber (vgl. die eingehende Rezension dieses Buches durch K . B A L D I N G E R in Z R P h L X X I V [1958], S. 294—302). Bei all diesen Einteilungen spielen die jeweilige Fragestellung u n d der B l i c k p u n k t natürlich eine große Rolle. D a eine solche Einteilung sprachgeschichtlich orientiert sein m u ß , sollen doch a u c h die Gründe f ü r die entsprechenden Gegebenheiten aufgedeckt werden, k ö n n e n die Kriterien n u r relativ sein. Dennoch darf das nicht zu einer völlig atomisierend-individuellen Auflösung f ü h r e n , wie sie sich in der Konzeption V O S S L E R S abzeichnet: „ J e näher m a n die einzelnen Gestaltungen der Sprache p r ü f t , desto klarer u n d zahlreicher t r e t e n die Verschiedenheiten hervor, u n d wenn m a n ganz genau u n d ganz ins Einzelne g e h t , so zeigt es sich, d a ß schließ-

F r i e d r i c h Diez

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sprachlichen Veränderungen aufgefaßt. D I E Z verwechselte nicht mehr wie alle anderen vor ihm den Laut mit dem Buchstaben1, wenn er auch nicht immer den wirklichen Grund der lautlichen Veränderungen fand. (Er dachte nämlich, daß die Absicht und das Bewußtsein des Sprechers zuweilen eine Rolle bei diesen Veränderungen spielen würden.) 2 Ebenso beobachten wir, daß er nicht einwandfrei die ererbten lateinischen Wörter von den später aus der lateinischen Sprache entnommenen Wörtern zu unterscheiden vermochte, obgleich die erstgenannten andere Lautveränderungen erfahren haben als die später aus dem Latein entlehnten Wörter. Dagegen erkannte er, daß von der Aussprache her betrachtet gewöhnlich ein Laut in einen verwandten Laut übergeht. Besonders aber begriff er den großen Wert des Prinzips der Analogie auf dem Gebiet der Flexion. Da seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe der Grammatik von D I E Z bereits über hundert Jahre vergangen sind, hat dieses Werk selbstverständlich viel von seiner Bedeutung verloren, die zur Zeit seines Erscheinens und auch lange danach außerordentlich groß gewesen ist. 3 Der erste und zweite Band (Phonetik und Morphologie) besitzen nur noch historischen Wert, während der dritte Band, der die Syntax enthält, auch heute noch in mancher Hinsicht wertvoll ist. Im Jahre 1854 veröffentlichte DIEZ, ebenfalls in Bonn, sein Etymologisches

Wörterbuch der romanischen Sprachen, eine natürliche und notwendige Ergänzung zu seiner Grammatik. In diesem Wörterbuch zeigt er die Herkunft einer sehr großen Zahl romanischer Wörter auf und teilt sie ein in a) gemeinromanische, d. h. Wörter, die alle romanischen Sprachen aufweisen, und b) Wörter, die nur

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2

3

lieh jedes I n d i v i d u u m seine b e s o n d e r e A r t zu a r t i k u l i e r e n , s e i n e n b e s o n d e r e n Stil i m B a u d e r S ä t z e , in d e r W a h l d e r W o r t e u s w . h a t . J e m e h r m a n sich e n t f e r n t , d e s t o größer w e r d e n die G r u p p e n . " ( E i n f ü h r u n g ins V u l g ä r l a t e i n , h e r a u s g e g e b e n u n d b e a r b e i t e t v o n H . SCHMECK, M ü n c h e n 1953, S. 12.) G e m ä ß d e n gesellschaftlich-historischen V e r h ä l t n i s s e n u n d d e n s p r a c h l i c h e n B e d i n g u n g e n gilt es hier, t r o t z b e d i n g t e r größerer oder kleinerer R e l a t i v i t ä t d a s G e m e i n s a m e b e s o n d e r s herauszuarbeiten. D e r B u c h s t a b e ist n u r ein graphisches Zeichen f ü r d e n L a u t . Die S p r a c h e h a t L a u t e , k e i n e B u c h s t a b e n , u n d infolgedessen k ö n n e n die e n t s p r e c h e n d e n Verä n d e r u n g e n , die i m Verlauf der Z e i t e n in d e r Sprache erfolgen, n u r die L a u t e betreffen. Dieser G e s i c h t s p u n k t w u r d e v o n G. GRÖBER ( G r u n d r i ß , S. 105), wie ü b e r h a u p t v o n d e n J u n g g r a m m a t i k e r n , als Mangel e m p f u n d e n . D o c h g e r a d e GILLIERON u n d seine Schule sollten i h n i m Gegensatz zu d e n J u n g g r a m m a t i k e r n wieder als F a k t o r i m S p r a c h l e b e n h e r v o r h e b e n . L . GAUCHAT (op. cit., S. V) s a g t f e r n e r , d a ß DIEZ m i t S c h a r f b l i c k „ d i e G e f a h r d e r K ö r p e r l o s i g k e i t f ü r d a s F o r t l e b e n des W o r t e s , diejenige der H o m o n y m i e " v o r a u s g e s e h e n h a b e . Dies beweisen die f ü n f A u f l a g e n in d e r Z e i t s p a n n e v o n u n g e f ä h r 45 J a h r e n (die l e t z t e erschien 1882; DIEZ h a t n u r die V e r ö f f e n t l i c h u n g der e r s t e n drei ü b e r w a c h e n k ö n n e n ) . N o c h g r ö ß e r e n E r f o l g s c h e i n t sein W ö r t e r b u c h g e h a b t zu h a b e n , d e n n in k ü r z e r e r Zeit, v o n 1854 bis 1887, w u r d e n ebenfalls f ü n f Ausg a b e n v e r ö f f e n t l i c h t . E i n e N e u b e w e r t u n g der G r a m m a t i k v o n DIEZ u n t e r n a h m m i t E r f o l g E . BOUBCIEZ i n : A S N S C L X X (1936), S. 211FF., in d e m A u f s a t z L a G r a m m a i r e de F r . Diez e n 1836. V g l . a u c h B . TERRACINI, der sich i n : A L I I (1941), S. 3—5, m i t der A u f f a s s u n g v o n DIEZ als vergleichender S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r beschäftigt.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

in einzelnen romanischen Sprachgebieten vorkommen. Dabei bildet er die drei Gruppen: italienisch, spanisch-portugiesisch und französisch-provenzalisch. Was hier über die Grammatik gesagt worden ist, trifft auch für das Wörterbuch zu: Wie jedes Werk, das als ein Ganzes geschaffen worden ist und die Grundlage aller ähnlichen Untersuchungen späterer Zeiten bildet, enthält auch dieses Wörterbuch viele Erkenntnisse von bleibendem Wert, die von allen Nachfolgern übernommen wurden und Gemeingut der romanischen Sprachwissenschaft geworden sind, neben anderem, das nur noch angeführt wird, weil es eben von F R I E D R I C H D I E Z stammt. Gerade auf dem Gebiet der etymologischen Forschung zeigt sich, welche gewaltigen Fortschritte das Wörterbuch von F R . D I E Z gegenüber seinen Vorgängern aufweist. Sein kluges, vorsichtiges Abwägen, sein Verzicht auf kühne Spekulationen verbanden sich mit der neuen sprachwissenschaftlichen Methode, die völlig im Banne der lautlichen Veränderungen steht. D I E Z schreibt in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe seines Etymologischen Wörterbuches: „Im Gegensatz zur unkritischen Methode unterwirft sich die kritische schlechthin den von der Lautlehre aufgefundenen Prinzipien und Regeln, ohne einen Fußbreit davon abzugehen, sofern nicht klare tatsächliche Ausnahmen dazu nötigen." Vergessen möge nicht werden, daß auch bei der Herausgabe und Auslegung von Sprachdenkmälern die große philologische Befähigung von F R . D I E Z zutage trat. Hier sind vor allem zu nennen seine Ausgabe der Straßburger Eide, der Eulaliasequenz und des Boetiusgedichts in Altromanische Sprachdenkmäler (1846) und die Clermonter Legenden in Altromanische Gedichte ( 1 8 5 2 ) . Auch auf diesem Gebiet distanzierte sich D I E Z durch seinen kritischen Sinn und die in der Schule des Philologen L A C H M A N N erfahrene Ausbildung von seinen Vorgängern in unserem Fach. Schließlich sei noch auf die kleine Abhandlung Romanische Wortschöpfung von D I E Z hingewiesen, die 1 8 7 5 in Bonn erschien und den „Ausgangspunkt für die romanistische Bezeichnungslehre" bildet, d. h., die in Ansätzen schon die onomasiologische Methode befolgt. D I E Z fragt sich in dieser Schrift immer wieder: „Wie hat der Sprachgenius mit dem römischen Erbteil geschaltet?" Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie für bestimmte Begriffe die lateinischen Bezeichnungen in allen oder einzelnen romanischen Sprachen geblieben sind oder durch eigene Neubildungen oder Entlehnungen aus nichtromanischen Sprachen ersetzt wurden. Es handelt sich hier um kleine onomasiologische Skizzen, die späteren Untersuchungen teilweise als Ausgangspunkt dienten. „Was dabei überraschen mag, ist die Tatsache, daß der Einfluß dieser programmatischen Arbeit des Altmeisters sich nicht unmittelbar geltend macht, dauert es doch volle zwei Jahrzehnte, bis die von Diez in großen Linien vorgezeichnete Forschungsmethode von Ernst Tappolet erstmals in größerem Rahmen auf einen bestimmten Begriffskreis angewandt wird." 1 1

B. QUADBI, Aufgaben und Methoden der onomasiologischen Forschung, Bern

1952, S. 45.

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Graziadio Isaia Ascoli (1829-1907) Italien besaß in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einen ganz hervorragenden Sprachforscher in G B A Z I A D I O I S A I A A S C O L I , der Indogermanist und Romanist zugleich war. Der Einfluß dieses großen Gelehrten begann in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern schnell spürbar zu werden. Ohne eigentlich Schüler der deutschen Sprachwissenschaftler gewesen zu sein, hat A S C O L I viel von diesen gelernt, besonders von B O P P und D I E Z , auf deren Spuren er seine fruchtbare und unermüdliche Tätigkeit auf oftmals sehr voneinander verschiedenen Gebieten entwickelte. Uns interessieren in erster Linie die romanistischen Werke A S C O L I S , obgleich es schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, von ein und derselben Person 2u sprechen und doch unterscheiden zu wollen, wie ich es gern möchte, zwischen dem Indogermanisten A S C O L I und dem Romanisten A C S O L I . Vor allem muß gesagt werden, daß dieser Sprachforscher die italienische Dialektologie als ein wirklich wissenschaftliches Fach geschaffen hat und er infolgedessen als Begründer der romanischen Mundartforschung im allgemeinen1 betrachtet werden muß; denn bis zu ihm hatten die Volksmundarten in den verschiedensten Gebieten der Romania nur die Aufmerksamkeit von Dilettanten auf sich gezogen. Für die Veröffentlichung seiner eigenen Arbeiten und die seiner Schüler gründete A S C O L I die Zeitschrift Archivio glottologico italiano (1873)2, was ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft darstellte. Der 8. Band (1882-1885) bringt auf Seite 98ff. den Aufsatz Ultalia dialettale, in dem A S C O L I für lange Zeit 3 die Prinzipien und Methoden der italienischen Dialektologie festlegte. Eine romanische Sprache, die bis dahin den Spezialisten fast unbekannt geblieben war, verdankt ihren Eintritt in die Forschungen unseres Faches auch diesem Linguisten. Im ersten Band (S. 1—556) seiner Zeitschrift veröffentlichte er die Arbeit, die weiterhin fundamental für die rätoromanischen Dialekte bleibt: Saggi ladini, ein Modell von Gelehrtheit und weitem Blick bei einem an sich nicht so ergiebigen Problem.4 A S C O L I hat von 1 2

Von der neueren Betätigung auf diesem Gebiet wird im III. Kapitel die Rede sein. Nach dem 1. Weltkrieg ist diese Zeitschrift in zwei Reihen oder „Sektionen", wie die Herausgeber sagen, erschienen. Die eine Reihe ist der Indogermanistik und allgemeinen Sprachwissenschaft, die andere der romanischen Sprachwissenschaft gewidmet. Während die erste Reihe unter Leitung von P . G . GOIDÄNICH stand, wurde die zweite von M . G. B A B T O L I geleitet. Gegenwärtig ist man zur ursprünglichen Form in dem Sinne zurückgekehrt, daß die Zeitschrift eine einzige Serie hat wie zur Zeit ihres Begründers (Herausgeber: G. D E V O T O , B. M I G L I O B I N I , B. TEBBACINI, V . PISANI,

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4

3

G . VIDOSSI).

Gegenwärtig führt die Schule von C . M E B L O , dem führenden Gelehrten der italienischen Dialektologie, die von A S C O L I eröffnete Tradition fort (vgl. die Zeitschrift L'Italia dialettale, Pisa 1922fF.). In demselben Band, S. XLIIff., gibt er uns die bei der schriftlichen Wiedergabe der Laute benützten diakritischen Zeichen an. A S C O L I ist auch der Initiator der Studien über die Gruppe der frankoprovenzalischen Dialekte (vgl. AGI III, S. 61 ff., Schizzi francoprovenzali), deren bester Kenner zwischen den beiden Weltkriegen der französische Phonetiker und Dialektologe A. D U B A F F O U B gewesen ist Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel I . Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Anfang an erkannt, welch, großen Nutzen das Studium der Volksmundarten der allgemeinen Sprachwissenschaft bringen kann, denii er verstand etwas, das bis heute noch nicht von den fanatischen Parteigängern der rein historischen Betrachtungsweise gebilligt zu werden scheint. Es handelt sich darum, daß die direkte Beobachtung der sprachlichen Erscheinungen, angewandt auf die lebende Sprache, uns mit ziemlicher Sicherheit sagt, wie sich Veränderungen jeder Art in den vorangegangenen Phasen irgendeines Idioms vollzogen haben können, während das Umgekehrte nicht immer den Tatsachen entspricht, daß nämlich das Studium alter Sprachzustände uns das Verstehen der gegenwärtigen erleichtern würde. Große Bedeutung hat ASCOLI dem ethnischen Element oder Substrat, wie man kürzer sagt, zuerkannt, als es darum ging, die spezifischen Besonderheiten irgendeiner Sprache zu kläfen. Bekanntlich ist die Veränderung des lateinischen ü > ü, die wir in Frankreich, Norditalien und einigen rätoromanischen Dialekten antreffen, keltischen Stämmen zugeschrieben worden, die in jenen Gebieten des römischen Imperiums gelebt hatten. Ebenso hat man wortanlautendes / > h im Spanischen und einigen Mundarten der Gascogne (im Südwesten Frankreichs) als eine Veränderung iberischen Ursprungs erklärt.1 Was man heute noch von dieser Substrattheorie hält, soll hier nicht besprochen werden. Erwähnt sei jedoch, daß sich zwar niemand diesem Gesichtspunkt prinzipiell entgegensetzt, der mit soviel leidenschaftlicher Anteilnahme und Beredsamkeit von ASCOLI vertreten wurde, daß aber in bestimmten konkreten Fällen dieses ethnische (vgl. DURAFFOTJRS W e r k e : Phénomènes généraux d'évolution phonétique d a n s les dialectes francoprovençaux étudiés d ' a p r è s le parler de la c o m m u n e de Vauxen-Bugey (Ain), Grenoble 1932, u n d Description morphologique, avec notes syntaxiques d u parler franco-provençal de V a u x (Ain) en 1919—1931, Grenoble 1932). I n den letzten J a h r e n erschienen einige wichtige Arbeiten, die dem Frankoprovenzalischen gewidmet s i n d ; z. B. H . STIMM, Studien zur Entwicklungsgeschichte des Frankoprovenzalischen, Wiesbaden 1953 (vgl. die Rezensionen von G. GouGENHEIM i n B S L X L I X [ 1 9 5 3 ] , S . 95FF„ H . LATTSBERG i n R F L X V I I S . 454FF., u n d A . M A R T I N E T i n W o r d X I [ 1 9 5 5 ] , S . 156FF.); H . H A F N E R ,

1

[1954], Grund-

züge einer Lautlehre des Altprovenzalischen, B e r n 1955; A. HALL, The Linguistic Position of Franco-Provençal i n : Language X X V (1949), S. l f f . ; K . LOBECK, Die französisch-frankoprovenzalische Dialektgrenze zwischen J u r a u n d Saône, B e r n 1945; H . - E . KELLER, E t u d e s linguistiques sur les parlers valdôtains. Contribution à la connaissance des dialectes franco-provençaux modernes, Bern 1958. Hingewiesen sei auch auf das zweibändige W e r k von A. DEVAUX, das n a c h dem Tode des Verfassers 1935 in L y o n erschien u n d eine Gruppe frankoprovenzalischer Munda r t e n b e h a n d e l t : Les patois du D a u p h i n é . I . Dictionnaire des patois des TerresFroides, avec des m o t s d ' a u t r e s patois daufinois; I I . Atlas linguistique des TerresFroides. E r w ä h n t möge hier n u r sein, d a ß die lange Zeit übliche Gleichsetzung v o n Baskisch u n d Iberisch auf Grund der Arbeiten der letzten J a h r z e h n t e k a u m m e h r h a l t b a r ist. D a h e r d ü r f t e wohl a u c h die Veränderung v o n / > h n i c h t einem iberischen, sondern einem P y r e n ä e n s u b s t r a t zuzuschreiben sein, dessen letzte noch erhaltene R e s t e oder Ausläufer in der einen oder anderen F o r m das Baskische darstellt. Vgl. die reichhaltigen I n f o r m a t i o n e n , die zu diesem diffizilen P r o b l e m K . BALDINGER gibt in seinem B u c h Die Herausbildung der S p r a c h r ä u m e auf der Pyrenäenhalbinsel, Berlin 1958, S. 6 7 f f . , S. 97ff. u n d S. 143ff.

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Erklärungsprinzip abgelehnt, zumindest aber nur mit Vorbehalten anerkannt worden ist. 1 1

Vgl. den allgemein orientierenden Aufsatz v o n G. R O H L F S Vorlateinische Einflüsse in den M u n d a r t e n des heutigen Italiens i n : GRM X V I I I (1930), S. 37ff. Obgleich der A u t o r sich speziell f ü r süditalienische Dialekte interessiert, zeigt er kurz, wie es sich a u c h in anderen romanischen Sprachen d a m i t v e r h ä l t . E b e n s o gibt er einen geschichtlichen Überblick über diese Frage. Der Gedanke des Subs t r a t s erscheint erstmals bei d e m italienischen Philologen C A T T A N E O , so heißt es in A G I X X I I / X X I I I , S. 304. Den Einfluß einer a u t o c h t h o n e n Sprache, die mit der Zeit besiegt wurde, auf die siegende Sprache h a b e n auf die eine oder a n d e r e A r t überdies verschiedene Linguisten seit den Anfängen unseres Faches gelten lassen. So schrieb der Slawist K O P I T A R bereits im J a h r e 1 8 2 9 die spezifischen Besonderheiten der r u m ä n i s c h e n Sprache der Sprache der a u t o c h t h o n e n , v o n den R ö m e r n besiegten u n d aufgesogenen Bevölkerung zu (s. A. P H I L I P P I D E , Principii de istoria limbii, Ia§i 1894, S. 288ff.). Ähnliche Vorstellungen, auch in V e r b i n d u n g m i t dem R u m ä n i s c h e n , finden wir bei F . M I K L O S I C H , Die slavischen E l e m e n t e im R u m u n i s c h e n (1862), bei H . S C H U C H A R D T , Vokalismus des Vulgärlateins I I I , Leipzig 1868, S. 45ff., usw. Das Problem des S u b s t r a t s w u r d e ausführlich diskut i e r t auf dem 3. I n t e r n a t i o n a l e n Sprachwissenschaftlerkongreß (Rom 1933). Die meisten der d o r t vorgetragenen R e f e r a t e sind in der R L i R I X (1933) erschienen. Ferner einige Studien, die sich auf dieses Problem beziehen: A. G R A U R , Ab, ad, a p u d et cum en latin de Gaule in : B S L X X X I I I (1932), S. 225-298; C . M E R L O , II sostrato ètnico e i dialetti italiani i n : I t D X (1933), S. LFF.; P A U L K R E T S C H M E R , G l o t t a X X I I I (1934), S. l f f . ; A. B R U N , Linguistique et p e u p l e m e n t i n : L R i R X I I (1936), S. 165ff. (er erklärt d a s Bestehen von zwei Sprachen in Gallien m i t Hilfe des Substrats) ; R . M B N B X D B Z P I D A L , Sobre el s u b s t r a t o mediterraneo Occidental i n : Z R P h L I X (1939), S. 139ff. (auf der Grundlage von O r t s n a m e n ) ; F . H . J U N G E MANN, L a teoria del s u s t r a t o y los dialectos hispano-romances y gascones, Madrid 1955; G. R O H L F S , Vorrömische L a u t s u b s t r a t e auf der Pyrenäenhalbinsel? i n : Z R P h L X X I ( 1 9 5 5 ) , S.408ff. ; B . A. S E R E B R E N N I K O V , V I I V ( 1 9 5 5 ) , F a s z . I , S.7ff.Vgl. a u c h die ältere Arbeit, die erst in letzter Zeit f ü r die Leser, die nicht über dänische Sprachkenntnisse verfügen, zugänglich wurde : S u b s t r a t et e m p r u n t en r o m a n et en germanique, Copenhague-Bukarest 1948 (Übersetzung der dänischen Ausgabe v o n 1917), von V. B R O N D A L . E S m u ß darauf hingewiesen werden, d a ß die meisten neueren Linguisten ausschließlich dem Substrateinfluß auf die P h o n e t i k nachgegangen sind, was offensichtlich zumindest eine n i c h t b e g r ü n d e t e Begrenzung darstellt, wenn nicht gar einen Fehler, weil weder theoretisch noch faktisch (vgl. a u c h die Studie v o n G R A U R ) a u f r e c h t e r h a l t e n u n d vor allem bewiesen werden k a n n , d a ß die besiegte Sprache die siegende n u r auf dem Gebiet der Aussprache beeinflußt. S E R E B R E N N I K O V b e t o n t nachdrücklich, es würden alle Bereiche dpr Sprache den Einfluß des S u b s t r a t s erfahren, den er in sehr weitem Sinn f a ß t als Prod u k t einerseits eines „ G r e n z k o n t a k t s " (bei Sprachgrenzen), andererseits eines „inneren regionalen K o n t a k t s " (auf demselben Gebiet werden zwei verschiedene Sprachen gesprochen). Zum Unterschied von diesem Sprachwissenschaftler, der u n t e r S u b s t r a t nicht n u r das Superstrat, sondern auch das A d s t r a t m i t f a ß t (unter der Bedingung, d a ß der ausgeübte Einfluß in der F o r m des Bilinguismus sehr s t a r k ist), v e r f ä h r t M. G. B A R T O L I (Introduzione alla Neolinguistica, Firenze-Ginevra 1925) gewissermaßen umgekehrt, weil er kein S u b s t r a t zuläßt, sondern n u r ein Superstrat. Eine ziemlich reichhaltige u n d relativ neue Bibliographie (sie reicht bis zum J a h r e 1947) hinsichtlich des S u b s t r a t s finden wir in SL I (1947), S. 79ff. Zu all diesen Problemen findet sich eine sehr umfassende Bibliographie bei U. W E I N R E I C H , Languages in contact, New York 1953, S . 123—146. Vgl. ferner K . S C H Ö N F E L D E R , Probleme der Völker- u n d Sprachmischung, Halle 1956.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Schließlich sollte nicht vergessen werden, daß A S C O L I sehr stark das Recht der schöpferischen Intuition in den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen betont hat. I n Kritische Studien zur Sprachwissenschaft (Weimar 1 8 7 8 \ S. III, VIII, X I I I u. a.) meint er, die Sprachwissenschaft sei den exakten Naturwissenschaften deshalb unterlegen, weil sie nicht Gesetze festlegen könne, vielmehr sich auf die systematische und umfassende Beobachtung v o n Tatsachen beschränken müsse. Doch fügt er hinzu, daß die Arbeit des Philologen nicht nur ein „Zusammenstellen v o n Karteikarten" sein darf, sondern auch ein wenig Phantasie erfordert, ein besonderes Gefühl für das, was wahrscheinlich ist, was allein zur Entdeckung des Wirklichen führt. U n d mehr noch als das: Mut ist nötig, oftmals sogar Kühnheit, weil anders ein Fortschritt schwer erreicht wird. 2

Französische Romanisten Wenn A S C O L I die v o n den Schöpfern der Romanistik eröffnete Tradition fortgesetzt hat, ohne deren eigentlicher Schüler gewesen zu sein, so finden wir in Frankreich einige Zeit später, aber noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, G A S T O N P A R I S . Dieser Wissenschaftler, der der glänzendste Vertreter der französischen Philologie des 19. Jahrhunderts war, hatte in Bonn studiert und als Lehrer D I E Z gehabt. Zusammen m i t P A U L M E Y E R — ein anderer berühmter 1

2

Sie e n t h a l t e n die Übersetzung eines Teils der Studien, die zuerst in italienisoher Sprache in Saggi critici, Gorizia 1861 (Band I) u n d T u r i n 1877 (Band IV), erschienen waren. I m zweiten K a p i t e l wird m a n sehen, wie K . V O S S L E B diese Ideen A S C O L I S aufn a h m u n d sie bis zur letzten Möglichkeit a n w a n d t e . Von der Einstellung des italienischen Linguisten gegenüber den J u n g g r a m m a t i k e r n u n d den „Lautgesetz e n " wird in diesem K a p i t e l noch gesprochen werden. Ü b e r das Leben u n d die wissenschaftliche Tätigkeit A S C O L I S vergleiche m a n die Artikel v o n F B . D ' O V I D I O in A G I X V I I (1910-1913), S. l f f . ; B. A. T E B R A C I N I , ebenda X I X (1925), S. 129ff., u n d in La Cultura V I I I (1929), S. 641ff. ; P . G . G O I D A N I C H , A G I X X I I - X X I I I 1929), S. 9ff.; L. S P I T Z E B , Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I , München 1929, S. 351—352 u n d 357. Ebenso verdient die W ü r d i g u n g von P . M E Y E B in R o X X X V I (1907), S. 326ff., gelesen zu werden, der u n t e r a n d e r e m sagt, d a ß A S C O L I in der romanischen Sprachwissenschaft v o m Gesichtspunkt der Methode aus einen F o r t s c h r i t t gegenüber D I E Z b e d e u t e u n d bis zu seinem Tod v o n niem a n d e m in dieser Hinsicht übertroffen worden sei. Das Erscheinen der Zeitschrift Archivio glottologico italiano, f ü g t M E Y E B hinzu, p r ä g t eine E p o c h e in der Geschichte unseres Faches u n d ist selbst f ü r die bestens informierten R o m a n i s t e n eine w a h r h a f t e O f f e n b a r u n g gewesen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die B ä n d e X X I I — X X I I I der Zeitschrift A G I (s. die wichtige Rezension v o n L E O S P I T Z E B in I F L (1932), S . 147ff.) d e m Gedächtnis ihres Begründers anläßlich seines h u n d e r t s t e n Geburtstages gewidmet worden sind u n d zahlreiche Aufsätze enthalten, in denen in der einen oder a n d e r e n F o r m Gesichtspunkte u n d Anschauungen e r ö r t e r t werden, die der große italienische Linguist entwickelt h a t t e . E i n Teil des umfangreichen Briefwechsels v o n A S C O L I m i t a n d e r e n b e d e u t e n d e n Rep r ä s e n t a n t e n der Sprachwissenschaft seiner Zeit ist in Anales de Filología Clásica (Buenos Aires), I V (1947-1949), S. 245ff., erschienen.

Französische Romanisten

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Name in der Geschichte unseres Faches — gründete G. P A B I S die Zeitschrift Romania (1877). 1 Beide waren weit mehr Philologen als Linguisten. Sie interessierten sich in erster Linie für die älteren Phasen der französischen Sprache, so wie sie in mittelalterlichen Texten bewahrt wird. Ebenso beschäftigten sie sich viel mit der französischen Literatur jener Epoche. Durch ihre Methoden und ihren Forschergeist, die sie in ihren Untersuchungen anwandten, hatten sie eine äußerst ernsthafte wissenschaftliche Atmosphäre geschaffen und so zum Fortschritt der romanischen Philologie im allgemeinen beigetragen. Vor allem muß der Name von GASTON P A R I S im Gedächtnis festgehalten werden, der direkt oder indirekt der Lehrer aller späteren französischen Romanisten war. Es genügt zu wissen, daß J . GILLIÉRON, der Begründer der Sprachgeographie, von dem ich noch ausführlich im I I I . Kapitel sprechen werde, in der Schule von G. P A R I S ausgebildet und von ihm ermuntert worden war, die französischen Mundarten durch entsprechende Dialektaufnahmen vor dem Untergang zu bewahren.2 G. P A R I S wandte sich entschieden gegen die biologisch-naturalistische Sprachkonzeption SCHLEICHERS, der den „Daseinskampf" Darwins auf die sprachliche Entwicklung übertrug (s. Revue critique d'histoire et de littérature I I (1868), S. 242). In seiner sehr ausführlichen Besprechung des Buches von A. DARMESTETER, L a vie des mots étudiée dans leur significations, Paris 1887 (wiederabgedruckt in Mélanges linguistiques, S. 281 ff.), betont er die innige Verbindung zwischen der Sprache und der geschichtlichen Entwicklung des Volkes, das sie spricht. Der biologischen Sprachkonzeption DABMESTETERS hält er entgegen: 1

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Gegenwärtig wird diese Zeitschrift von FÉLIX LECOY herausgegeben und setzt die Tradition ihrer Begründer fort (sie gewährt der altfranzösischen Sprache und Literatur und dem Altprovenzalischen größte Aufmerksamkeit). Die rein linguistischen Studien dieses großen französischen Gelehrten wurden nach seinem Tod gesammelt und in einem über 700 Seiten umfassenden Band veröffentlicht, der den Titel trägt Mélanges linguistiques (publiés par Mario Roques), Paris 1909. Der interessanteste Aufsatz von allen, besonders für die Erörterungen im vorliegenden Buch, ist darin Les parlers de France. Es handelt sich um einen Vortrag, den er auf der „Réunion des Sociétés savantes" am 26. Mai 1888 hielt. In ihm finden wir viele wertvolle Anregungen hinsichtlich der wissenschaftlichen Untersuchung der Volksmundarten. Es kann gesagt werden, daß sich in gewissen Partien dieser Arbeit die Grundlagen für die spätere Tätigkeit GILLIÉBONS finden. GASTON PARIS s p r i c h t m i t a n e r k e n n e n d e n W o r t e n v o n GILLIÉBON

und empfiehlt für Dialektstudien dessen in Petit Atlas phonétique du Valais roman (sud du Rhône) angewandte Methode. Im I I I . Kapitel, in dem ich mich mit der Sprachgeographie beschäftige, werde ich die Ansicht von G. PARIS darlegen in bezug auf die Art und Weise, wie er das Studium der Dialekte durchgeführt wissen wollte. (Er forderte die Herstellung sprachwissenschaftlicher Monographien.) Meiner Ansicht nach ist es in diesem Zusammenhang nützlich, folgende Stelle wiederzugeben, die uns zeigt, daß der Begründer der romanischen Philologie in Frankreich auch unter dem Einfluß seiner Zeit stand, indem er der lautlichen Seite der Sprache seine größte Aufmerksamkeit schenkte: „. . . dresser l'atlas phonétique de la France, non pas d'après des divisions arbitraires et factices, mais dans toute la richesse et la liberté de cet immense épanouissement." (op. cit., S. 440.)

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

, , . . .l'histoire interne des mots ne peut être tout à fait isolée de leur histoire externe." (S. 282.) Die soziologische Sprachauffassung, die ein herausragendes Merkmal der französischen sprachwissenschaftlichen Schule bildet, zeichnet sich bereits bei G . P A R I S ab: „Le langage est une fonction sociale et ne peut être considéré que comme le produit d'une collaboration." (S. 286.) Ferner denkt er bei lexikologischen Studien schon an eine onomasiologische Fragestellung. Nicht nur wie die Wörter eine neue Bedeutung erlangen, sollte man studieren, sondern wie neue Dinge und Begriffe bezeichnet werden. Dadurch könnten auch die innersprachlichen Bedingungen für BedeutungsVeränderungen erkannt werden.

Die sprachwissenschaftlichen Studien und die Naturwissenschaften In jener Zeit nahmen die Naturwissenschaften einen beträchtlichen Aufschwung und begannen mächtigen Einfluß auf alle Bereiche des geistigen Lebens auszuüben. Auch die Sprachwissenschaft vermochte sich diesem Einfluß nicht zu entziehen, besonders nachdem Darwin einige seiner bedeutendsten Arbeiten veröffentlicht hatte. Da man dem lautlichen Teil der Sprache eine übertriebene Aufmerksamkeit widmete und in den Lauten ein natürliches, nämlich ein physiologisches Produkt sah, gleich anderen rein physischen Produkten, kamen viele Sprachwissenschaftler um so leichter unter die fast tyrannische Herrschaft der naturwissenschaftlichen Theorien, je mehr sie das gesamte Sprechen auf die Laute beschränkten. Von dem Indogermanisten A U G U S T S C H L E I C H E R (1821-1868) 1 erschien 1863 in Weimar Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, worin die lautlichen Veränderungen als Prozesse betrachtet werden. Diese finden auf der Grundlage von feststehenden Gesetzen statt, die unveränderlich und identisch mit den Naturgesetzen sind. Für jede Lautveränderung suchte man ein „Lautgesetz", das natürlich nur für eine einzige Sprache gültig ist, und die „Ausnahmen" wurden erklärt bald als „sporadischer Lautwandel", bald als Wirkung einiger spezieller Gesetze, die den Ausnahmen eigen sind. S C H L E I C H E R ließ sich von H A E C K E L , der sein Kollege an der Universität Jena war, auch darin beeinflussen, daß die Sprache einem Organismus gleiche und infolgedessen eine Phase der Entwicklung (in prähistorischer Epoche) und eine des Verfalls (in geschichtlicher Epoche) aufweise, und daß letztere durch zahlreiche und verschiedenartige Veränderungen charakterisiert werde. Besonders typisch für S C H L E I C H E R S Methode war es, daß er, von übereinstimmenden Formen zwischen Einzelsprachen ausgehend, eine gemeinsame Ursprache rekonstruierte. Daher war er auch der erste, der einen Stammbaum der indoger1

Vgl. W. STREITBERG, Schleichers Auffassung von der Stellung der Sprachwissenschaft in: I F VII (1897), S. 3 6 0 - 3 7 2 ; V. PISANI, A. Schleicher ed alcuni orientamenti della moderna linguistica in: Paideia IV (1949), S. 297FF.; G. PÄTSCH, Grundfragen der Sprachtheorie, Halle 1955, S. 6 und S. 49/50; V. THOMSEN, op. cit., S. 7 4 - 8 1 .

Die sprachwissenschaftlichen Studien und die Naturwissenschaften

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manischen Sprachen aufstellte und damit die Frage der Sprachverwandtschaft sehr deutlich in den Vordergrund rückte. Jede echte Klassifikation konnte für ihn, wie es Darwin mit Nachdruck betont hatte, nur eine genealogische sein. „Zwar sind seine Ergebnisse bereits in den siebziger Jahren vor allem durch seinen Schüler Johannes Schmidt korrigiert worden. Das Bild des Stammbaumes wurde durch das der Welle ersetzt, und die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen sahen sich im Lichte neu entdeckter Tatsachen ganz anders an als in der abstrakten Konstruktion Schleichers. Aber durch seine tiefbohrenden Fragen und mutigen Antworten hat er der folgenden Sprachforscher generation ein reiches und verpflichtendes Erbe hinterlassen." 1 Indem S C H L E I C H E R die Sprachen als Naturorganismen betrachtete und die Sprachwissenschaft zur Naturwissenschaft stempelte, zog er auch einen entschiedenen Trennungsstrich zwischen der Sprachwissenschaft und der Philologie als einer historischen Disziplin. Die Philologie besaß damit keine Stellung mehr als Mittelglied zwischen Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft. Gr. PÄTSCH (op. cit., S. 4 9 ) zeigt, daß auch M A X M Ü L L E R den naturwissenschaftlichen Standpunkt in der Sprachbetrachtung verfochten hat, den er von S C H L E I CHER übernahm, und dabei den wichtigen Gedanken der Objektivität sprachlicher Erscheinungen vertrat: die ununterbrochene Veränderung der Sprache, unabhängig vom Willen und selbst vom Bewußtsein der Menschen. M Ü L L E R vergleicht sie mit physiologischen Prozessen, wie z. B. dem des Blutkreislaufs, der ebenfalls weder von Menschen bestimmt noch aufgehalten werden kann. Vor einem Jahrhundert waren in der Geschichte, einer der Sprachwissenschaft am nächsten stehenden Wissenschaft, Gesetzmäßigkeiten noch unbekannt. Deshalb orientierten sich die Vertreter der Sprachwissenschaft nach den Naturwissenschaften hin, die erfolgreich Regelmäßigkeiten mit gesetzmäßigem Charakter bei organischen Prozessen entdeckt hatten. Auch der sowjetische Sprachforscher N. J . M A R R glich die Entwicklung der menschlichen Sprache an die der Gattungen an, indem er sogar noch weiter ging als S C H L E I C H E R , ohne jedoch dabei die Entschuldigung für letzteren (und dessen Zeitgenossen) für sich in Anspruch nehmen zu können. Der Einfluß dieser nach den Naturwissenschaften ausgerichteten Theorien machte sich bald auch im Bereich der Romanistik bemerkbar, und natürlich mehr zum Schaden als zum Nutzen unseres Faches. Etwas Gutes hatten jedoch die Sprachwissenschaftler von den Naturwissenschaftlern gelernt. Besonders durch D A R W I N hatten die Naturwissenschaften aufgehört, nur eine Beschreibung der Natur zu sein, sie waren zu einer Geschichte der Natur geworden: Phänomene aller Art wurden nicht nur dargelegt, sondern auch mit Hilfe der Kausalgesetze erklärt. Indem die Sprachwissenschaftler die Naturwissenschaftler nachahmten, veränderten sie allmählich ihr Fach in eine Sprachgeschichte. Sie hatten somit begonnen, sich auch für die unbedeutendsten Tatsachen zu interessieren, indem sie deren Entwicklung nachgingen und sie erklärten. 1

J . WEISWEILER, op. cit., S. 484.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Neben dieser naturwissenschaftlichen Auffassung der Sprache existierte jedoch auch weiterhin der alte Gesichtspunkt, der D I E Z und anderen als Führer gedient hatte, daß nämlich die menschliche Rede, obgleich sie sich in der materiellen Form der Laute ausdrückt, ein rein geistiges Produkt ist und bleibt. Die Verfechter dieser Theorie betonten noch viel stärker als bisher die Rolle der Analogie, die in ihrer linguistischen Methode schon einen wichtigen Platz einnahm, in einer Art übertriebener, aber unter solchen Umständen natürlichen Reaktion gegen die neue Schule: Ein Wort verändert sich sehr häufig unter dem Einfluß eines anderen Wortes oder anderer Wörter, ohne daß sie zugleich etymologisch verwandt miteinander sind. Sie hielten sich in besonderer Weise bei den Ausnahmen auf. Weil die „regelmäßigen" Erscheinungen mehr oder weniger mühelos mit Hilfe sogenannter Gesetze erklärt werden konnten, war es notwendig, auch für die Fälle eine Erklärung zu finden, die von der Regel abwichen, und zwar, soweit wie möglich für alle, ohne Unterschied. Besonders auf dem Gebiet der Ausnahmen griffen die Gegner der naturwissenschaftlich orientierten Forschungsrichtung1 zur Analogie. Diese Tendenz bemerkt man sehr deutlich bei W. S C H E B E B , Zur Geschichte der devischen Sprache (1868).

Die

Junggrammatiker

Aus dem Konflikt zwischen diesen beiden Auffassungen entstand eine neue Schule2. Dieser, so scheint es, ist es gelungen, so erbitterte Gegner auszusöhnen, wie es in der Tat die Verfechter der Theorie waren, nach der die Sprache ein physisches Produkt sei, und die Vertreter der Theorie, die in der Sprache ein geistiges Produkt sahen. Es handelt sich um die berühmte Schule der Junggrammatiker. Deren Ansichten wurden erstmals genauer dargelegt und ent1

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Ihr Ausgangspunkt muß in den Werken von W. v. H U M B O L D T ( 1 7 6 7 — 1 8 3 5 ) gesucht werden, der als erster die Sprache nicht als etwas Feststehendes, ein für allemal Geschaffenes aufgefaßt hat, sondern als einen lebendigen Organismus, der sich entwickelt, der sich verändert (oder, um die griechischen Bezeichnungen zu gebrauchen: die Sprache ist kein „egyov", sondern eine „ivegyeia"). Bis zu W. v. H U M B O L D T fragten sich die Menschen: Was ist Sprache? Ihm ist es zu danken, daß die Sprachwissenschaft die Sprache vom genetischen Gesichtspunkt aus zu verstehen und zu erklären sucht, daß also gefragt wird: Wie verändert sich die Sprache?). Von W. v. H U M B O L D T wird im II. Kapitel die Rede sein, das sich mit der Schule V O S S L E R S befaßt. Nach H. S C H U C H A E D T (Brevier, 2 . Ausgabe, S . 4 5 2 , Fußnote zu S . 4 5 1 ) wäre dieser Name erstmals von F B . Z A R N C K E gebraucht worden, der dabei an die bekannte Richtung der deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an „Das junge Deutschland" gedacht habe. Die scherzhafte Nuance des Ausdrucks spielte nach der Absicht Z A R N C K E S eine sekundäre Rolle. E . S C H W E N T N E R (IF LVI [ 1 9 3 8 ] , S . 1 7 0 ) sagt, indem er sich auf eine Behauptung E D . S I E V E R S ' stützt, daß der Name „Junggrammatiker" von CTTRTITJS, einem erbitterten Gegner der neuen Schule, gegeben worden sei. Vgl. über diesen Namen auch den letzten Teil des III. Kapitels vorliegenden Buches, in dem die Theorien von M. B A R T O L I erörtert werden.

Die Junggrammatiker

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wickelt von HEBMANN OSTHOFF und K A B L BBUGMANN 1 im Vorwort zur Arbeit Morphologische Untersuchungen, I. Teil, Leipzig 1878, das daher mit Recht als Programm oder Manifest der neuen Schule angesehen werden muß. Hier die wichtigsten Ideen, die in diesem Vorwort von Seite III bis X X dargelegt werden: Die Autoren stellen zuerst fest, daß die Sprachwissenschaft sich bisher zuviel mit der Sprache und zuwenig mit dem Menschen beschäftigt habe, als ob die Sprache eine gesonderte, unabhängige Existenz hätte. Ebenso tadeln OSTHOFF und BBUGMANN an ihren Vorgängern und Zeitgenossen, sie hätten dem physischen Teil der Sprache eine übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt. 2 Um die Sprache zu erkennen, d. h. die menschliche Sprache im allgemeinen und die Fähigkeit der Menschen, zu sprechen, ist es nach ihrer Meinung nicht nötig, wie es gewöhnlich geschah, mit der vergleichenden Methode die indogermanischen Sprachen, speziell die alten, mit dem Hauptziel zu studieren, zur indogermanischen Ursprache zu gelangen, die eine reine Fiktion ist. Vielmehr sei es erforderlich, die gegenwärtigen lebenden Sprachen zusammen mit ihren Dialekten zu untersuchen, bei denen man leicht das psychologische Element beobachten könne, weil sie ja gegenwärtig vor unseren Augen gesprochen werden. Alle diese Feststellungen und Postulate sind völlig richtig, und jeder heutige Linguist stjmmt ihnen ohne Vorbehalte zu. Aber von der Theorie bis zur Praxis ist es häufig ein weiter Weg, der, wie es scheint, oft sehr schwer zu bewältigen ist. Denn BBUGMANN z. B., der zu Beginn unseres Jahrhunderts der bedeutendste Indogermanist der Welt geworden war, fuhr entgegen seinen eigenen Ansichten fort, fast ausschließlich mit der vergleichenden Methode alte oder tote Sprachen zu studieren, und die Mehrheit seiner Schüler tat nichts anderes, als dem Lehrer zu folgen. Aber besehen wir uns auch die anderen theoretischen Betrachtungen dieser zwei Junggrammatiker, denn sie sind außerordentlich interessant und bilden zugleich nach der Meinung der einen die Stärke, nach der der anderen die Schwäche der neuen Schule. Warum müssen die modernen Sprachen in unseren Studien bevorzugt werden ? „In allen lebenden Volksmundarten erscheinen die dem Dialekt eigenen Lautgestaltungen jedesmal bei weitem konsequenter durch den ganzen Sprachstoff durchgeführt und von den Angehörigen der Sprachgenossenschaft bei ihrem Sprechen innegehalten, als man es vom Studium der älteren bloß durch das Medium der Schrift zugänglichen Sprachen her erwarten sollte." 3 Es scheint, daß zwischen den hier wiedergegebenen Worten und einem Teil der weiter oben getroffenen Feststellungen ein Widerspruch besteht, den wir andererseits im 1

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Beide sind, wie auch die meisten der oben angeführten Gelehrten, Indogermanisten gewesen. Der Leser wird verstehen, daß es unbedingt notwendig ist, hier in erster Linie über die nichtromanistischen Linguisten zu sprechen, da diese Richtungen und Schulen begründeten, die nachher unser Fach beherrscht haben. U m diese Behauptung zu stützen, führen sie neben anderen Beweisen die Studie von H . S T E I N T H A L an: Assimilation und Attraktion, psychologisch beleuchtet, veröffentlicht in ZVS I (1860), S. 93FF., die nicht das verdiente Echo gehabt hat. S. I X .

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gesamten System der Junggrammatiker finden: Auf der einen Seite protestieren sie gegen die ausschließliche (oder fast ausschließliche) Berücksichtigung des physischen Elements der Sprache und verlangen demzufolge, daß dem psychischen Faktor gebührende Beachtung geschenkt werde, auf der anderen Seite sprechen sie mit viel Überzeugung von der Regelmäßigkeit der Lautveränderungen, die indessen gerade eine mechanische, nämlich physische Auffassung der Sprache voraussetzen, wie man sehr bald sehen wird. Doch O S T H O F F und B E U G M A N N vergessen nicht das Prinzip der Analogie, das f ü r sie rein psychischer N a t u r ist, und sie loben W. S C H E R E R , weil er in seinem bereits zitierten Werk mit Hilfe der Analogie zahlreiche Formen erklärt hat, die von anderen gerade als Ergebnisse des Lautwandels betrachtet worden sind. Die meisten Linguisten haben S C H E R E R bekämpft, einige jedoch sind ihm gefolgt, unter diesen A. L E S K I E N , der in Die Deklination im Slavisch-Litauischen und Germanischen, Leipzig 1876 (also zwei J a h r e vor dem Erscheinen der Morphologischen Untersuchungen), als erster den Grundsatz formuliert hat, daß die Lautgesetze keine Ausnahme kennen. „ L ä ß t m a n beliebige, zufällige, untereinander in keinen Zusammenhang zu bringende Abweichungen zu, so erklärt man im Grunde damit, daß das Objekt der Untersuchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich i s t . " 1 Nach O S T H O F F und B R U G M A N N liegen der Auffassung L E S K I E N S folgende Gedanken zugrunde: ,,. . .erstens, daß die Sprache kein Ding ist, das außer und über den Menschen steht und ein Leben in sich führt, sondern nur im Individuum ihre wahre Existenz hat, und daß somit alle Veränderungen im Sprachleben nur von den sprechenden- Individuen ausgehen können, und zweitens, daß die psychische und physische Tätigkeit des Menschen bei der Aneignung der von den Vorfahren ererbten Sprache und bei der Reproduktion und Neugestaltung der ins Bewußtsein aufgenommenen Lautbilder zu allen Zeiten im wesentlichen dieselbe sein müsse." 2 Die methodischen Prinzipien der junggrammatischen Richtung sind, so sagen unsere Autoren, die folgenden: 1. „Aller Lautwandel, soweit er mechanisch 3 vor 1

S. X X V I I I . Nach der Art, wie O S T H O F F und B R U G M A N N über S C H E R E R und L E S sprachen, sowie auf Grund der Gegenüberstellung ihrer Ideen mit denen der letzteren wird leicht verständlich, daß die Quelle der meisten in den „Morphologischen Untersuchungen" dargelegten Gedanken in den bereits erwähnten Arbeiten von W. S C H E R E R und A. L E S K I E N gesucht werden muß. Übrigens haben dies auch die Gegner der Junggrammatiker behauptet. S. X I I / X I I I . Diese Feststellung ist nur insofern richtig, wenn wir uns nicht auf das Individuum beziehen (oder auf isolierte Individuen), wie es die Junggrammatiker getan haben (besonders H . P A U L , wie wir noch sehen werden), sondern auf die gesamte Sprachgemeinschaft: Die Sprache ist die Schöpfung der Gesellschaft und muß abhängig von der Entwicklung der Gesellschaft studiert werden. Eine Bemerkung auf der gleichen Seite besagt, man habe lange schon gewußt, daß die Sprache in dem Menschen existiert, aber in der Praxis wäre es vergessen worden. Ähnlich erging es vielen Junggrammatikern, die auch in ihren Arbeiten diese in der Tat doch so wesentliche Kleinigkeit vernachlässigt haben. In seiner Arbeit Das Verbum in der Nominalkomposition im Deutschen, Griechischen, Slavischen und Romanischen, Jena 1 8 7 8 , S. 3 2 6 , spricht O S T H O F F von der blinden Naturnotwendigkeit, mit der die Lautgesetze der Sprache wirken, und KIEN

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Die Junggrammatiker

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sich geht, vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen", d. h., alle Individuen, die eine Sprache sprechen (außer natürlich im Falle der Dialektspaltung), als auch -alle Wörter, die sich unter den gleichen Bedingungen befinden, gehorchen gleichen Gesetzen. 2. „. . . die Neubildung von Sprachformen auf dem Wege der Analogie spielt im Leben der neueren Sprachen eine sehr bedeutende Rolle" (ebenso wird es sich in den vorangehenden Epochen vollzogen haben) 1 . Mit anderen Worten: Auf die menschliche Sprache wirken zwei K r ä f t e ein, und zwar eine physische oder mechanische, der Lautwandel, und eine psychische, die Analogie. Welche von beiden bevorzugen nun die Theoretiker der junggrammatischen Schule ? Wenn wir nach der bisher geführten Diskussion urteilen, besonders nach den Vorwürfen, die gegen diejenigen Sprachwissenschaftler erhoben wurden, die in der Sprache nur das materielle Element sehen, nämlich die Laute, müßten wir erwarten, daß OSTHOFF und B E U G M A N N die Analogie über den Lautwandel stellen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Auch f ü r sie ist die Regel, d. h. die übliche Erscheinung im Leben der Sprache, mechanischer N a t u r („Lautgesetz"), während die psychische K r a f t („Analogie") die Ausnahme bildet. Mit der Analogie erklärt m a n somit das, was als „Brosamen" vom Tisch der Lautgesetze abfällt. Nicht nur die Praxis hat bewiesen, daß die Junggrammatiker sich im Widerspruch mit sich selbst befanden, sondern sogar bestimmte prinzipielle Erklärungen, die von ihren beiden Koryphäen gegeben wurden. Denn das ist es, was wir auf Seite X V I I des Vorworts zu den Morphologischen Untersuchungen vorfinden. Indem sie denen zu antworten suchen, die behaupteten, daß die Analogie nur gelegentlich zur Entdeckung der Wahrheit führen kann, schreiben OSTHOFF und B R U G M A N N , nachdem sie andererseits sehr schwach versuchten, die Analogie gegen diese Beschuldigungen zu verteidigen: „Unser nach bestem Willen streng eingehaltenes Prinzip ist es, erst dann zur Analogie zu greifen, wenn uns die Lautgesetze dazu zwingen. Auch f ü r uns ist die Formassoziation immer noch ein 'ultimum refugium'; der Unterschied ist nur der, daß wir uns viel früher und viel öfter vor dieses gestellt sehen als die anderen, eben weil wir es mit den Lautgesetzen genau nehmen und weil wir der Überzeugung sind, daß die kühnste Annahme von Analogie Wirkung, wenn sie im Bereich des Möglichen liegt, immer noch mehr Anspruch darauf h a t , 'geglaubt' zu werden, als willkürliche Umgehungen der mechanischen Lautgesetze." Wenn wir dieses Manifest der junggrammatischen Schule lesen, sollten wir weniger von der Tatsache überrascht sein, daß es zu einem Gegensatz unter den älteren Sprachwissenschaftlern wie auch unter einigen der neueren kam, sondern vielmehr von dem Enthusiasmus, mit dem zahlreiche Vertreter unseres Faches die neue Forschungsrichtung aufnahmen. Lange Zeit war diese Auffassung bei den Sprachwissenschaftlern vorherrschend, und sogar heute noch finden sich Forscher, die, obgleich sie sich selbst nicht zur Theorie der Junggrammatiker bekennen, in davon, „daß es Ausnahmen von ihnen oder Versohonungen durch dieselben schlechterdings nicht g i b t . " I n bezug auf LESKIEN vgl. auch H . DELACROIX, 1

Le langage et la pensée, Paris 1930 (2. Auflage), S. 159. S. X I I I .

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Wirklichkeit doch Anhänger dieser Theorie sind, wenn man die Art und Weise betrachtet, wie sie die sprachlichen Erscheinungen studieren und erklären. Der große Erfolg dieser Schule ist zum guten Teil auf die geistige Atmosphäre jener Zeit zurückzuführen. Wie ich bereits darauf hinwies, wurde das geistige Leben auf allen Gebieten von einem naturwissenschaftlichen Geist beherrscht, den der ungewöhnliche Fortschritt der Naturwissenschaften sehr leicht überall aufgedrängt hatte. Die Sprachwissenschaft beschäftigte sich hauptsächlich mit kleineren und individuellen Tatsachen, von denen aus sie dann zu allgemeinen Grundsätzen zu gelangen hoffte. Sie ging also wie die Naturwissenschaften induktiv vor. Diese methodische Anpassung hat sicherlich im großen Maße zum Entstehen der junggrammatischen Schule beigetragen, besonders auch deshalb, weil sich damals die Sprachwissenschaft an einer Art Scheideweg befand. Durch die Zunahme der Sprachen und Dialekte, die eine ständig wachsende Zahl von Gelehrten erforschte, häufte sich ein immer reicheres Material an und erhöhte dadurch den Eindruck der Verwirrung und Unordnung. Aber auch ohne dies schien es so, als ob sich die Sprachwissenschaft vom Leben der Sprache löste, so daß sich das energische Dazwischentreten eines Gesetzgebers erforderlich machte. Dieser kam bald und schaltete in der weiter oben aufgezeigten Weise. Die neue Lehre war bequem, da sie so antagonistische Tendenzen aussöhnte und dem Gefühl für Symmetrie und Harmonie entgegenkam. Doch diese neue Lehre hielt sich an der Oberfläche der Dinge auf. Sie stellte die allzu offensichtliche Regelmäßigkeit von sprachlichen Veränderungen fest, ohne daß sie deren Ursachen entdeckte oder zumindest zu entdecken suchte, ohne daß sie folglich zu wirklichen Gesetzen gelangte. Es muß indessen anerkannt werden: Die Theorien der Junggrammatiker bedeuteten einen wirklichen Fortschritt gegenüber dem vorangehenden Stand der sprachwissenschaftlichen Studien, besonders durch die Proklamierung einiger Prinzipien, die bald von den Anhängern der neuen Schule angewandt worden sind. Hierher gehören die mit Vorliebe durchgeführten Untersuchungen lebender Volksmundarten, die Beachtung des psychologischen Elements bei der Hervorbringung sprachlicher Veränderungen und das Bestehen der Sprache in und durch die Menschen, die sie sprechen. Andererseits haben sie, indem sie von dem Gedanken ausgingen, daß die Sprachwissenschaft den Naturwissenschaften gleiche, von diesen die Methode der direkten Beobachtung von Tatsachen entlehnt, d. h., man begann die sprachlichen Phänomene aufmerksam zu betrachten und gründlich zu untersuchen, was als erstes Resultat eine genauere Kenntnis der menschlichen Rede zur Folge hatte. Von diesen Vorstellungen geleitet, haben die Junggrammatiker eine stattliche Reihe bedeutender Werke hervorgebracht, sowohl in der Indogermanistik als auch in den anderen Zweigen der Sprachwissenschaft, von denen uns hier nur die Romanistik interessiert 1 . 1

Eine Diskussion philosophischen Charakters über die junggrammatische Lehre auf marxistischer Grundlage führt G. PATSCH, Grundfragen der Sprachtheorie, Halle 1955, S. 38ff.

Hermann Paul

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Hermann Paul (1846-1921) Ehe die Auawirkungen der junggrammatischen Lehre auf unser Fach gezeigt werden, sei kurz auf die Bedeutung des Germanisten H E B M A N N P A U L eingegangen. Er hat nach dem Zeugnis der Anhänger als auch der Gegner dieser Lehre in höchstem Grade zum wahren Fortschritt der Sprachwissenschaft beigetragen und ihr direkt und indirekt den Weg bereitet, auf dem sie sich heute befindet. Es kann gesagt werden, daß sich bei diesem Sprachwissenschaftler weniger als bei allen anderen Junggrammatikern der Widerspruch zwischen den theoretischen Feststellungen und ihren praktischen Anwendungen findet, den ich bei der Erörterung des Vorwortes zu den Morphologischen Untersuchungen aufgezeigt habe. Für H. P A U L z. B. war die Bedeutung des psychologischen Faktors bei den sprachlichen Veränderungen nicht nur eine prinzipielle Erklärung, sondern eine Wirklichkeit, der wir auf Schritt und Tritt in seinen Werken begegnen. Sein Hauptwerk, wenigstens vom theoretischen Gesichtspunkt aus betrachtet, ist Prinzipien der Sprachgeschichte1, dessen erste Ausgabe 1880 erschien, die fünfte und letzte 1920. In I J I X (1922/23), S . 280, schrieb W. S T R E I T B E R G U. a. folgendes über H. P A U L : „Denn Paul ist in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer der entschiedensten Vorkämpfer der neuen, von Scherer vorbereiteten, von Leskien durchgeführten sprachwissenschaftlichen Methode gewesen, er hat 1880 in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte als erster die Grundsätze der Sprachforschung mit unvergleichlicher Klarheit und Schärfe systematisch erörtert und so das Fundament gelegt, auf dem bald ein halbes Jahrhundert hindurch die Forschung mit reichem Erfolge weiter gebaut hat." Wo S T R E I T B E R G speziell auf Prinzipien der Sprachgeschichte zu sprechen kommt (S. 283), nennt er dieses Werk „das Gesetzbuch der Sprachwissenschaft", um dann fortzufahren: „Der leitende Gedanke ist in dem Bestreben zu sehen, die Bedeutung der Wechselwirkung der Individuen aufeinander für die Entwicklung der Sprachen darzulegen." 2 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch, daß P A U L zwar der Meinung ist, der Verkehr bildet die gemeinsamen Elemente heraus und fördert sie, daß er aber den einzelnen Sprecher völlig isoliert betrachtet. Er versucht die Sprache sowohl vom Gesichtspunkt des Sprechenden als auch von dem des Hörers aus zu fassen. Die enge gemeinschaftsbedingte Beziehung aber zwischen beiden vermag er nicht herauszuarbeiten, weil er u. a. auf Grund der Isolierung des einzelnen auch die Übertragung fremder Bewußtseinsinhalte leugnet und das individuelle Bewußtsein als völlig autonom einschätzt. P A U L versuchte eine Lösung „vom Standpunkt des geschlossenen Herbartschen Ich und mit Hilfe jenes Sensualismus, 1 2

Bin ähnliches Werk mit sehr wertvollen rumänischen Beispielen verfaßte nach den Prinzipien P A U L S A . P H I L I F F I D E , Principii de istoria limbii, Iafi 1 8 9 4 . H. S C H U C H A R D T findet, daß die prinzipiellen Erklärungen O S T H O F F S und B R U G M A N N S in den Morphologischen Untersuchungen sowie die von P A U L in bezug auf den individuellen Ursprung der sprachlichen Veränderungen offensichtlich im Widerspruch stehen zu der Lehre von den ausnahmslosen „Lautgesetzen" (siehe Schuchardt-Brevier, Halle 1928, [2. Auflage] S. 452/53, Anmerkung 1).

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der physische Zeichen einlegend aus den mit deren Analogen verbundenen eigenen Bewußtseinskomplexen auch beim anderen deutet." (E. TROELTSCH, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922, S. 682, Fußnote.) Wie wichtig auch für die Sprachentwicklung der von den einen Sprechern auf die anderen Sprecher ausgeübte Einfluß sein mag, so kann er doch nicht mit der Wirkung der gesellschaftlichen Verhältnisse verglichen werden. Diese sind tatsächlich die einzigen, die uns helfen, die tieferen Ursachen der Sprachentwicklung zu verstehen, weil diese mit der Entwicklung der Gesellschaft verbunden ist. PAUL hat richtig gesehen, wie eine sprachliche Erscheinung im Geist der Sprecher erzeugt wird und wie sie von dem einen zu dem anderen weiter vermittelt werden kann. Damit aber hat er nur den individuellen Aspekt der sprachlichen Tätigkeit, nämlich den der Sprachentwicklung, erklärt. 1 Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936) Die junggrammatische Lehre hat unter den Romanisten zahlreiche Schüler gefunden. Von den begeisterten Anhängern der neuen Schule gelang es einem, auf dem Gebiet der Romanistik sehr bald zum hervorragenden Führer in dieser Richtung zu werden. Es handelt sich um W. MEYER-LÜBKE, dessen Bedeutung in der Geschichte unseres Faches in den Jahren 1890 bis 1936 überragend war. Dieser Gelehrte wurde gerade zu der Zeit ausgebildet, da der Stern der Junggrammatiker in stetem Aufstieg begriffen war. Und es war für einen jungen Gelehrten schwer, wenn nicht unmöglich, der Anziehungskraft zu widerstehen, die diese neuen Theorien damals ausübten. Noch aussichtsloser wäre ein solches Unterfangen für M E Y E R - L Ü B K E gewesen, dessen gesamte Werke, ob die ersten oder die letzten, die kleinsten oder die umfangreichsten, uns zeigen, wie er ein f ü r Ordnung und Festigkeit empfänglicher Geist war, ein Freund von Regelmäßigkeit und Disziplin. Er war ein Wissenschaftler, der in der menschlichen Sprache ein Produkt sah, das mehr oder weniger starr, ohne große schöpferische Initiative und ohne Phantasie war, sondern voller Nüchternheit und allein aus der unerbittlichen Notwendigkeit entsprungen, sich untereinander zu verständigen. Ausgestattet mit solchen Eigenschaften, mußte M E Y E R - L Ü B K E die Lehre der Junggrammatiker mit ganzem Herzen aufnehmen. Sie wurde bei ihm, indem er sie je nach den Umständen in gewissem Maße verbesserte, ein sprachwissenschaftliches Glaubensbekenntnis für sein ganzes Leben. Beachten wir dann noch andere Qualitäten des ehemaligen Bonner Romanisten, nämlich seinen erstaunlichen Scharfsinn und seine ungewöhnliche Kombinationsgabe bei der Erklärung schwierigster sprachlicher Erscheinungen, so verstehen wir, weshalb er sich gleich von Anfang an in unserem Fach durchgesetzt und schon frühzeitig einen außerordentlich großen Einfluß ausgeübt hat, selbst auf Gelehrte, die älter waren als er. Bei unserer hier geführten Diskussion sollte auch die so wichtige Tatsache nicht vergessen werden, daß M E Y E R - L Ü B K E schon vor Vollendung seines 30. Lebens1

V g l . G. PÄTSCH, o p . c i t . , S . 1 9 - 2 2 u n d S . 4 3 / 4 4 .

Wilhelm Meyer-Lübke

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jahres mit der Veröffentlichung seiner monumentalen Grammatik der romanischen Sprachen (I.Lautlehre, Leipzig 1890; II. Formenlehre, 1893; I I I . Syntax, 1899; IV. Register, 1902) begonnen hatte, die, wie nicht anders zu erwarten war, vor allem hinsichtlich des Reichtums und der Verschiedenartigkeit des bearbeiteten Materials einen offensichlichen Fortschritt gegenüber dem gleichen Werk von DIEZ darstellt. 1 Mit diesem Werk hat MEYER-LÜBKE stets die Aufmerksamkeit und das Interesse der Fachwelt wachgehalten. Das gleiche giltauch für viele Arbeiten, wie z . B . : Italienische Grammatik, Leipzig 1890; Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft, Heidelberg 1901 (2. Auflage 1909, 3. Auflage 1920); Historische Grammatik der französischen Sprache (I. Laut- und Flexionslehre, Heidelberg 1909, 2 . - 3 . Auflage 1913, 4 . - 5 . Auflage 1934; II. Wortbildungslehre, 1921); Romanisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1911-1920 (die 3. Auflage erschien in der Zeit von 1930-1935, die zweite Auflage (1924) war die unveränderte Wiedergabe der ersten); Das Katalanische, Heidelberg 1925, usw., um nicht noch unzählige Studien, Aufsätze und Rezensionen zu erwähnen, die in Zeitschriften, Festschriften und akademischen Denkschriften erschienen sind. 2 Schließlich dürfen wir auch nicht die Lehrtätigkeit des „Fürsten der Romanisten" vergessen, wie ihn oft M. BARTOLI, einer seiner berühmtesten Schüler, bezeichnete. Fünfundzwanzig Jahre lang, die besten und schönsten seines Lebens, war MEYER-LÜBKE Professor an der Universität Wien, wo es vor dem 1. Weltkrieg zahlreiche begabte Studierende aus dem großen Nationalitätenkonglomerat Österreich-Ungarn sowie aus den benachbarten Ländern gab. So erklärt sich die sehr große Zahl der Schüler MEYER-LÜBKES, unter denen sich einige befanden, die später selbst zu den führenden Romanisten in Österreich, Deutschland, Italien, Rumänien und anderen Ländern gehörten. Die Stärke MEYER-LÜBKES in der Zeit zwischen 1 8 8 5 und 1 9 1 0 , und gleichzeitig seine Schwäche für unsere heutige Zeit, besteht darin, daß er eifrig und überzeugt die Lehre der Junggrammatiker geteilt und sie regelmäßig und konsequent im Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit angewandt hat. Charakeristisch für die Einstellung MEYER-LÜBKES gegenüber linguistischen Problemen im allgemeinen ist die Art, wie er sich bezüglich des Vergleichs der romanischen Sprachen die Theorie GRÖBERS angeeignet hat mit dem Ziel, das Vulgärlateinische zu rekonstruieren. Die Hypothese GRÖBERS, die sehr feinsinnig und streng mathematisch aufgebaut war, obgleich sie keine reale Grundlage besaß, mußte einen Geist wie den MEYER-LÜBKES, bei dem, wenn ich mich so ausdrücken darf, der 1

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Über die Grammatiken v o n D I E Z und M E Y E B - L Ü B K E vgl. auch Schuchardt-Brevier, 2. Auflage, S. 99ff., w o ein sehr kritischer Maßstab angelegt wird. Man beachte, daß die hauptsächlichen Werke M E Y E R - L Ü B K E S Grammatiken und Wörterbücher sind, also Bücher, die in der Bibliothek keines Romanisten fehlen dürfen. Das h a t natürlich sehr zur Verbreitung seines N a m e n s in allen Teilen der Welt beigetragen. Der entgegengesetzte Fall liegt bei SCHTJCHABDT vor, der in 60jähriger intensiver wissenschaftlicher Tätigkeit eigentlich nur ein B u c h geschrieben hat, sonst nur Studien, Aufsätze und Rezensionen. Ebenso verhält es sich z. B . m i t den Veröffentlichungen J . J U D S , des führenden Vertreters der Sprachgeographie, der in vieler Hinsicht S C H U C H A B D T ähnelt (vgl. Kap. I I I ) .

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

geometrische Gesichtspunkt vorherrschte, mit unwiderstehlicher Kraft anziehen. In GRÖBERS Grundriß I , 1. Auflage, S . 3 5 9 , erkennt MEYER-LÜBKE allen anderen Quellen des Vulgärlateins1, mit Ausnahme des Vergleichs der romanischen Sprachen, nur geringen Wert zu. Er betont entschieden, man sollte im Konfliktfall allein dem Vergleich der romanischen Sprachen den Vorzug geben.2 Es stimmt, daß in der zweiten Auflage des Grundrisses diese entsprechende Stelle verschwunden ist. Aber das bedeutet nicht, daß MEYER-LÜBKE auf die Rekonstruktion von vulgärlateinischen Wörtern und Formen mit Hilfe der romanischen Sprachen verzichtet hat. Seine Arbeiten, selbst die neueren, sind voll von sprachlichem Material, das er auf diese Weise gewonnen hat. Als Beispiel kann vor allem sein Romanisches Etymologisches Wörterbuch angeführt werden, in dem wir mehr als in anderen Werken noch einen charakteristischen junggrammatischen Zug finden können, nämlich die übertriebene Bedeutung, die MEYER-LÜBKE bei der Feststellung der Etymologien dem phonetischen Element zuerkennt, zum Schaden des semantischen Faktors.3 Ebenso überrascht bei einem Sprachwissenschaftler, der über eine so lange Erfahrung und so reiche und vielfältige Kenntnis verfügt, die ungewöhnlich geringe Aufmerksamkeit, die er theoretischen Fragen schenkt. Ich führe hier nochmals das Romanische Etymologische Wörterbuch an, in dem zu ungefähr 1100 Seiten Material (einschließlich Index) eine Einleitung von kaum fünf Seiten zu finden ist, die den Leser jedoch nicht über die Probleme der romanischen Etymologie unterrichtet, wie es wohl selbst ein Junggrammatiker erwartet haben würde. Mehr noch als das! In der Arbeit Das Katalanische, S. VII, spricht sich MEYER-LÜBKE gegen prinzipielle Diskussionen aus, indem er folgendes schreibt: „Man könnte daher erwarten, daß ich etwas eingehender mich darüber ausspreche, warum ich Mundartgrenzen annehme, warum größere und kleinere Sprachgruppen, die zu ihren Nachbarn in verschiedenem Verwandtschaftsverhältnis stehen. Ich unterlasse das aber, nicht nur, weil ich eine gewisse 1

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Die Auffassung M E Y E R - L Ü B K E S vom Vulgärlatein war sehr unterschiedlich. Während F. D I E Z noch von einer Einheit zwischen Schriftlatein und Volkslatein ausging, wenngleich den niederen Sprachgebrauch betonend, nimmt M E Y E B - L Ü B K E in seiner Arbeit Die lateinische Sprache in den romanischen Ländern ( G R Ö B E R S Grundriß, Band I [erste Auflage], 1888) eine strenge Trennung vor zwischen Schriftlatein und Vulgärlatein. Das Vulgärlatein wird als gesonderte Sprache betrachtet, und M E Y E R - L Ü B K E prägt die Formel: „Die romanischen Sprachen stammen vom Vulgärlatein ab." U m die Jahrhundertwende scheint M E Y E B L Ü B K E diese Konzeption allmählich aufzugeben. In der ersten Auflage seiner Einführung . . . (1901), S. 82ff., wendet er sich bereits gegen ein selbständiges einheitliches Vulgärlatein. Besonders deutlich wird diese veränderte Einstellung sichtbar in der 2. Auflage des I. Bandes von G B Ö B E B S Grundriß (1904—1906), S. 451—497. Vgl. auch den aufschlußreichen Aufsatz von H . M E I E B , Über das Verhältnis der romanischen Sprachen zum Lateinischen in: R F LIV (1940), S. 165ff. Vgl. auch A. P H I L I P P I D E , U n specialist romin la Lipsca, Iafi 1909, S. 119ff. Diesem Romanischen Etymologischen Wörterbuch sehr ähnlich ist das Französische Etymologische Wörterbuch, Heidelberg 1926—1929, dessen Verfasser, Ernst G A M I L L S C H E G , sich auf Schritt und Tritt als ein sehr getreuer Schüler M E Y E B L Ü B K E S erweist.

Wilhelm Meyer-Lübke

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Abneigung gegen theoretische Erörterungen habe, die allzu leicht in das rein Akademische ausarten, sondern auch, weil das Büchlein soviel Tatsachenmaterial für die Beantwortung der Frage gibt, daß ich es füglich jedem Leser überlassen kann, zu urteilen, wie es ihm gut scheint." 1 Zwar hat M E Y E R - L Ü B K E Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft veröffentlicht, ein Buch, in dem er prinzipielle Fragen behandelt, aber auch hier herrscht der junggrammatische Standpunkt vor, wie man unter anderem aus folgenden Kapitelüberschriften ersehen kann: Äußere Grenzen und innere Gliederung der romanischen Sprachen; Der Stoff der romanischen Sprachwissenschaft; Aufgaben der Sprachgeschichte (das Lautsystem, das Formensystem, Wortbildungslehre, Syntax); Fremde Elemente; Die Namenforschung usw. So sind wir bei den vielen und verschiedenartigen Fragen, die die Existenz der menschlichen Sprache aufwirft, weit entfernt nicht nur von der Auffassung eines S C H U C H A R D T , sondern sogar von der eines S A U S S U R E , der zwar selbst noch in mancher Hinsicht Junggrammatiker war, aber gefühlt und verstanden hat, daß sieh die Sprache ständig verändert und daher unsere Ansichten über sie einen mehr oder weniger relativen Wert haben. Es muß jedoch anerkannt werden, daß sich M E Y E R - L Ü B K E neuen Richtungen gegenüber nicht immer feindlich zeigte, sondern im Gegenteil von ihnen soviel übernahm, wie es ihm seine streng historisch und vergleichend ausgerichtete Wissenschaftsgesinnung erlaubt hat. So finden wir in seinen älteren Arbeiten Entlehnungen, wenn auch mit persönlichen Aspekten, aus der soziologischen Sprachauffassung, aus der Sprachgeographie usw., um nicht noch von der Richtung „Wörter und Sachen" zu sprechen, für die er von Anfang an eingenommen war, weil sie so gut zu seiner linguistischen Ausbildung paßte. Daher kann gesagt werden, daß M E Y E R - L Ü B K E in unserem Fach einen eklektischen Gesichtspunkt vertreten hat: Wie er sich im Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit mit dem gesamten Bereich der Romania befaßte (nicht nur als Verfasser der Grammatik und des Wörterbuchs, sondern auch als Erforscher spezieller Probleme in bezug auf fast alle romanischen Sprachen), ebenso nahm er auch in seine Sprachauffassung Elemente auf, die zu der einen oder anderen der neueren Forschungsrichtungen gehören. 2 1

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Diese Stelle erregte auch die Aufmerksamkeit von H. SCHUCHABDT, Der Individualismus in der Sprachforschung (vgl. Schuchardt-Brevier, 2. Auflage, S. 421). Vgl. femer MEYER-LÜBKE, Historische Grammatik der französischen Sprache I, 2. bis 3. Auflage, S. V, wo ähnliche Ideen geäußert werden. Obgleich die Sprachgeographie nach Meinung M E Y E B - L Ü B K E S in einigen Punkten der alten Schule ziemlich nahesteht, erfreut sie sich in seinen Augen keiner besonderen Beachtung. Den letzten, irgendwie endgültigen Beweis dafür haben wir in RLiR I (1925), S. 22ff. Daher rührt die Unzufriedenheit sowohl von G I L L I E R O N , der im Vorwort zu einer seiner Arbeiten außerordentlich heftig (und natürlich zu Unrecht) auf die Rezension M E Y E B - L Ü B K E S zu L'Abeille in LgrP X L (1919), col. 371ff., geantwortet hat, wie auch die der Schüler GILLIEBONS, die sich nur selten direkt, meistens jedoch durch eine sehr beredte Zurückhaltung den Arbeiten M E Y E B - L Ü B K E S gegenüber äußerten. Vgl. z. B. die Rezension J . JTTDS ZU M E Y E B L Ü B K E S Einführung..., 2. Auflage, veröffentlicht in A S N S C X X I X (1910), S. 383ff. Iordan, Eom. Sprachwissenschaft

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Zur Vervollständigung dieser Skizze über die wissenschaftliche Tätigkeit des berühmten Komanisten darf nicht vergessen werden, daß M E Y E B - L Ü B K E im Unterschied zu dem größten Teil der Junggrammatiker, die, wie wir wissen, vorzugsweise die Laute, die grammatischen Formen (wenn auch weniger) und den Wortschatz in etymologischer Hinsicht studiert haben, große Aufmerksamkeit syntaktischen Problemen gewidmet hat. Das zeigt der dritte Band seiner Grammatik der romanischen Sprachen, der der umfangreichste seiner Grammatik und zugleich der heute noch wertvollste ist. Außerdem ist dieser Band die einzige historisch-vergleichende Gesamtdarstellung der romanischen Syntax und ihrer Probleme. Ehe ich die Auffassungen der Gegner der Junggrammatiker darlege, halte ich es für notwendig, noch auf zwei ernste Fehler der junggrammatischen Richtung nachdrücklich hinzuweisen. Erstens haben sich die Junggrammatiker bei ihrem Beweis, daß sich die Entwicklung der menschlichen Sprache nach einigen „Gesetzen" richtet und so den Charakter der Regelmäßigkeit besitzt, lediglich auf die Untersuchung der Laute beschränkt, auf den labilsten und kompliziertesten Faktor der Sprache. Durch den Einfluß der Naturwissenschaften und durch ihre Vorliebe für das, was sie „Lautgesetze" nannten, haben die Junggrammatiker die Tatsache aus ihrem Gesichtskreis verloren, daß die Laute nicht die Sprache schlechthin ausmachen. Ihre sprachwissenschaftliche Auffassung kann als naturwissenschaftlich oder, noch genauer, als sensualistisch (in der philosophischen Bedeutung dieses Ausdrucks) betrachtet werden. Zweitens besteht ihre hauptsächliche Tätigkeit in der Sammlung, der Gruppierung und Beschreibung eines so reich wie möglichen Materials (gleich den Forschern im Bereich der Naturwissenschaften): Tatsachen, Tatsachen und nochmals Tatsachen, ohne daß sie eigentlich erklärt werden. Daher bezeichnet sie PÄTSCH (op. cit., S. 174) als „Chronisten", nicht als „Geschichtsforscher". PÄTSCH empfiehlt die Verbindung des historischen Gesichtspunktes mit dem „strukturellen" oder „deskriptiven", das heißt, das Aufzeigen der gegenwärtigen lebendigen „Gesetze" der Sprachen, die mit Hilfe der Geschichte erklärt werden (op. cit., S. 177ff.).

Die Gegner der

Junggrammatiker

Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Junggrammatiker von Anfang an auf zum Teil sehr ernsten Widerstand stießen. In erster Linie hatten sich gegen Hinsichtlich der wissenschaftlichen Tätigkeit MEYEB-LÜBKES vgl. man u. a. das 26. Beiheft zur ZRPh, Halle 1910, S. 18ff., J. JUD, W. Meyer-Lübke in: Neue Züricher Zeitung 1921 (anläßlich des 50. Geburtstages von MEYEB-LÜBKE, der aus der Schweiz stammte); A. ZAUNEB, GRM I X (1921), S. lff., und L. SPITZEB, Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I, München 1929, S. 353ff. und S. 363ff., sowie Band II, München 1930, S. 348fF. Eine vollständige Bibliographie der Werke des großen Romanisten publizierte G. MOLDENHAUEB unter dem Titel Verzeichnis der Veröffentlichungen von Wilhelm Meyer-Lübke, JenaLeipzig 1938.

Georg Curtius

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sie die Verfechter der vor den Junggrammatikern bestehenden Forschungsrichtung erhoben, die verschiedene Sprachen studiert hatten, ohne von Gesetzen zu sprechen. Es waren Forscher, die sich damit begnügten, jede Erscheinung, wenn möglich, gesondert zu erklären. Die meisten von ihnen waren Indogermanisten, wie ja auch die Begründer der junggrammatischen Richtung Indogermanisten waren. Ich werde nun einige besonders bedeutende Vertreter der älteren Richtung anführen und von jedem die wesentlichsten Gedanken aufzeigen. Georg Curtius (1820-1885) In seiner A r b e i t e r Kritik der neuesten Sprachforschung, Leipzig 1885, richtete G. C T J R T I U S 1 seinen Angriff besonders gegen die Analogie, der die Junggrammatiker übertriebene Aufmerksamkeit schenkten. Die Analogie, so sagt C U R T I U S , ist kein erst neuentdecktes Prinzip, sondern schon seit der Zeit der alten Griechen bekannt und erst recht seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, als die wissenschaftliche Sprachbetrachtung begründet wurde. Nur waren die Vorgänger der Junggrammatiker vorsichtig und suchten keinen Mißbrauch mit der Anwendung der Analogie zu treiben, die zwar überall möglich, aber nirgendwo notwendig ist. Das beweisen so viele Fälle, bei denen die Analogie nicht wirksam ist, obgleich sie genau den gleichen Bedingungen unterliegen wie die anderen, die von diesem Prinzip beeinflußt sind. 2 Denn neben der Analogie existiert in der Sprache eine entgegengesetzte Tendenz, nämlich diejenige, im Verlauf von Jahrhunderten zahlreiche Formen fast unverändert zu bewahren. Schon F. M I S T E L I , ein Bewunderer der Junggrammatiker, meinte in Steinthals Zeitschrift IX, S. 444, daß die Analogiebildung das Resultat eines Kampfes zwischen der erhaltenden und der nivellierenden Tendenz ( = Analogie) der Sprache sei: Einmal siegt die eine, einmal die andere, ohne daß man für jeden speziellen Fall das Warum und Wie aufzeigen könne. Die Analogie, so behauptet C U R T I U S weiter, sei launenhaft wie eine Krank1

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Im Gegensatz zu A. S C H L E I C H E R war G E O R G C U R T I U S vor allem bemüht um eine enge Verbindung zwischen Sprachwissenschaft und Philologie. Von Hause aus Gräzist, wandte er sich gegen diejenigen Vertreter der klassischen Philologie, die von dem neu geschaffenen Fach der Indogermanistik nichts wissen wollten. Bereits im Alter von 25 Jahren veröffentlichte er eine Schrift mit dem programmatischen Titel: Sprachvergleichung in ihrem Verhältnis zur klassischen Philologie (1845). Derjenige, der die Bedeutung der Analogie sehr übertrieben hat, ist nach C U R T I U S ' Worten A. L E S K I E N gewesen, der vorgab, daß er bei der Erklärung grammatischer Formen zuerst zur Analogie greife und erst dann zu anderen Mitteln. Dasselbe meinte anfangs auch K . B B U G M A N N (S. Curtius, Studien IX, S. 3 1 7 ) . Später aber ist er in den Morphologischen Untersuchungen teilweise auf L E S K I E N S Einstellung zurückgekommen. Solche Übertreibungen sind selbst von dem Vorgänger der Junggrammatiker, von W. S C H E R E R , in der 2. Auflage seiner Arbeit Zur Geschichte der deutschen Sprache bekämpft worden, dann auch von J. S C H M I D T , der in anderer Weise die neuen Theorien im allgemeinen akzeptiert hat. Vgl. B. DELB R Ü C K , Die neueste Sprachforschung. Betrachtungen über Curtius' Schrift, Zur Kritik der neuesten Sprachforschung, Leipzig 1885.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

heit. Daher empfiehlt er, man solle zuerst die „gesunden" Formen, dann die „kranken" ( = analogischen) Formen studieren. Ebenso wendet sich dieser Sprachwissenschaftler gegen die Gleichsetzung von Analogie und Psychologie, indem er zeigt, daß sich das psychische Element auch dann einmischt, wenn gewisse sprachliche Formen unverändert bewahrt werden, denn ihre Erhaltung ist dem Gedächtnis zuzuschreiben, das eine Fähigkeit unseres Geistes ist. Diese Identität von Analogie und Psychologie haben auch MISTELI und danach ASCOLI verneint, und selbst BRUGMANN mußte die Existenz eines psychischen Geschehens bei einigen Lautveränderungen zugeben, wie es z. B. bei der Assimilation der Fall wäre. Einen anderen Fehler der Junggrammatiker sieht CURTIUS darin, daß sie aus der Analogie immer dann ein bewußtes Prinzip machen, wenn sie diese auf gegebene sprachliche Erscheinungen anwenden — so wie einst die Grammatiker vorgingen —, obgleich die Junggrammatiker die Analogie als Ergebnis eines unbewußten Antriebes betrachteten. Mit zahlreichen, besonders aus dem Lateinischen und dem Griechischen entnommenen Beispielen erörtert CURTIUS die Bedingungen, bei denen wir das Recht haben, zur Analogie zu greifen. So fragt er sich z. B., ob viele Formen notwendig sind, damit der Einfluß der Analogie ausgeübt werden kann, in welcher Periode (ob der älteren oder jüngeren) der Geschichte einer Sprache die Analogie gewirkt hat, u. a. m. Schließlich zeigt er verschiedene Fälle auf, die weder durch „Lautgesetze" noch durch Analogie erklärt werden können, wie die Haplologie (nämlich die Weglassung einer Silbe, die sieh in ein und demselben Wort wiederholt), die Kürzung der Eigennamen (auch sogar die einiger Appellativa), die Verdoppelung einer Lautgruppe (die der Haplologie entgegengesetzte Erscheinung) usw. Im Epilog (S. 1 5 4 ) trifft CURTIUS das Fundament der junggrammatischen Lehre, wenn er schreibt, daß die Junggrammatiker „in einer verfehlten Nachahmung der Naturwissenschaft" versucht haben, „für die Lautforschung ausschließlich in den Lautverhältnissen eine feste Regel zu gewinnen und deren Ausnahmslosigkeit zu erhärten". Die Wörter und Formen einer Sprache verdienen es mindestens ebenso wie die Laute, studiert zu werden. Das aber haben die Junggrammatiker nicht verstanden, noch wollten sie es verstehen.

G. I. Ascoli Noch ernster sind die Einwände, die G . I. ASCOLI vorbrachte. Dieser Forscher hatte gegenüber den Indogermanisten, ob sie Junggrammatiker waren oder nicht, den Vorteil, daß er zugleich auch ein berühmter Romanist war, ein Kenner vieler lebender Dialekte, an denen er irgendwie direkte Beobachtungen machen konnte. 1 1

ASCOLI hat begriffen, was heutzutage so viele Linguisten durchaus nicht anerkennen wollen, nämlich die Tatsache, daß uns lebende Sprachen, eben weil sie vor unseren Augen bestehen, sehr gut über die Vergangenheit unterrichten können, das heißt über die toten Sprachen oder über die älteren Phasen der lebenden Sprachen. Die Verfechter der historischen Methode dagegen bilden sich ein, daß

G. I. Ascoli

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Die Ideen dieses Sprachwissenschaftlers in Verbindung mit den von der junggrammatischen Schule aufgeworfenen Problemen finden wir genauer dargelegt und dokumentiert in Prima lettera glottologica, veröffentlicht in der RFIC X (1882), S. lff., und in Due reeenti lettere gbttologiche (der dritte dieser Briefe trägt den Titel: Über die Junggrammatiker), die begleitet werden von einer Poscritta nuova1 in A G I X (1886—88), S. lff. Betrachten wir nun ASCOLIS Argumentation. ASCOLI begegnet den Junggrammatikern mit Ironie, weil sie soviel Aufhebens von der Psychologie, d. h. von der Analogie machen: Das seien nur große Worte, denn in Wirklichkeit seien seit langem verschiedene sprachliche Phänomene mit Hilfe dieses Verfahrens erklärt worden. So verdanke z. B. ital. mietiamo den Diphthong ie der „Angleichung" an mieto, wo ie < lat. e entspricht, nur daß nicht von einem psychischen Moment oder von psychischer Tätigkeit gesprochen worden ist. Hinsichtlich der Ausnahmen, die die neue junggrammatische Schule nicht zulassen möchte, gibt der italienische Linguist eine sehr wichtige Erklärung: „Ich spreche niemals, weder in meinen Schriften noch auf dem Katheder von Ausnahmen. Ich zeige und beweise, daß ein gegebener Laut oder eine gegebene Lautgruppe in ein und derselben Sprache oder in ein und demselben Dialekt divergierende Entwicklungen haben kann, und suche nach den Gründen solcher Divergenzen. Häufig finde ich sie; gelingt es mir nicht, dann folgere ich so: es ist nicht gut möglich, daß das betreffende Wort oder die betreffende Serie von Wörtern nicht die etymologische Grundlage haben sollte, die wir ihnen zuschreiben; nur ist der Grund ihrer speziellen Lautentwicklung noch nicht gefunden." 2 Eine solche Feststellung bedeutet nicht nur die Negierung der „Lautgesetze", so wie sie die Junggrammatiker verstanden, sondern auch die Anerkennung des individuellen Elements bei der Lautveränderung. Das heißt doch, daß ein und derselbe Laut oder ein und dieselbe Lautgruppe in verschiedener Weise von einem Wort zum anderen wechseln können, weil die Bedingungen, unter denen sich jedes befindet, nicht identisch sind. Von einer solchen Feststellung bis zum Prinzip GiixiiiEONS, daß jedes Wort seine eigene Geschichte hat, ist die Entfernung nicht allzu groß. Doch hat ASCOLI nicht die Kühnheit besessen, diese Entfernung zu überwinden. Im Gegenteil, er mußte anscheinend eine orthodoxe Erklärung geben, die wohl dazu bestimmt war, den revolutionären Geist der anderen zu mildern. In Sprachwissenschaftliche Briefe, S. 48, erörtert er die Möglichkeit eines individuellen Ursprungs einiger lautlicher Veränderungen. Dabei zeigt er sich geneigt zu glauben, daß die individuelle Aussprache einzelner in der sprachlichen Überlieferung eines gesamten Volkes Störungen hervorrufen und die spezifischen Merkmale der regio-

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das Gegenteil richtig sei. Daher auch die große Bedeutung, die ASCOLI der Dialektologie zuerkennt. Er sah in ihr ein Mittel, um zur allgemeinen Sprachwissenschaft zu gelangen. Zuerst veröffentlicht in Miscellanea di filologia e linguistica in memoria di Napoleone Caix e Ugo Angelo Canello, Firenze 1886, S. 425ff. Vgl. auch die deutsche Übersetzung all dieser Schriften, die unter dem Titel: Sprachwissenschaftliche Briefe, Leipzig 1887, erschienen ist. Zitiert nach G. I. ASCOLI, Sprachwissenschaftliche Briefe. Autorisierte Übersetzung von Bruno Güterbock, Leipzig 1887, S. 7, Fußnote.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

nalen Mundarten zerstören kann. Um uns aber vorzustellen, daß die Auswirkungen dieser Tätigkeit bedeutend gewesen sind, müßten wir voraussetzen, daß sie die natürliche und rationelle Entwicklungsgeschichte der Sprachen unmöglich oder gar unvorstellbar gemacht haben. Das zuzulassen, untersagt uns aber die sprachliche Wirklichkeit, betont ASCOLI. Das, was die Junggrammatiker Analogie nennen und dem Lautwandel entgegensetzen, ist in der Tat auch eine lautliche Veränderung. Sie wird auf dem Wege der Analogie verbreitet (vgl. ital. chiedete, nach chiedo, weil ie < g des Vulgärlateinischen) oder unterdrückt (s. afrz. chevauchier, das „lautgerecht" vom lat. caballicare kommt und zu -eher verändert worden ist durch Angleichung an die große Mehrheit der Verben der 1. Konjugation, die auf -er, nicht auf -ier ausgehen) oder schließlich durch Analogie hervorgerufen oder diszipliniert (ital. esco, esci usw. an Stelle von eio usw. nach dem Vorbild von cresco, cresci usw., oder escita wurde zu uscita unter dem Einfluß von uscio). Die hauptsächliche Neuheit der Junggrammatiker — die Phonetik neben der Psychologie — ist in der Romanistik alt, sie gibt es seit DIEZ, der zwischen den historischen Formen (den Fortsetzern der lateinischen Formen) und den analogischen unterschied. D I E Z beachtete ferner den Wert des ethnischen Elements in der Entwicklung der Sprachen. So hatte er im Baskischen das Vorherrschen einer Abneigung gegen / beobachtet und meinte, daß infolgedessen die Veränderung des wortanlautenden / > h im Spanischen dem „iberischen" Substrat zugeschrieben werden könnte. Von dem Zeitpunkt an, da unser Fach zur Erklärung sprachlicher Erscheinungen über diese zwei so sicheren Mittel verfügt, braucht es nicht mehr die Neuerungen der Junggrammatiker, die entweder Nichtigkeiten sind oder alte Dinge wiederholen, die nur mit einem neuen Namen bezeichnet werden, folgert ASCOLI. Er verteidigt ständig die sogenannten alten Sprachwissenschaftler, zu denen er sich auch zählt, gegenüber den neuen. Unter anderem zeigt er, daß erstere bereits die von den anderen gewünschten Ergebnisse gefunden hätten, aber nicht, weil sie sich von den neuen hätten beeinflussen lassen, sondern weil sich die Junggrammatiker im Grunde nicht von ihren Vorgängern unterscheiden. Immer wieder betonte er, daß die Junggrammatiker keine Neuerer darstellen. So schreibt er wörtlich auf Seite 70 in AGI X (1886—88): „Nachdem wir also der 'neuen Schule' jede wirkliche Neuheit, sei es in den Prinzipien, sei es in der Methode, abgesprochen hatten, wagten wir sogar, die Frage aufzuwerfen, ob überhaupt die Möglichkeit einer vernünftigen Kontroverse über den Punkt der wissenschaftlichen Prinzipien zuzugeben sei." (S. 168—169 der deutschen Übersetzung.) Und weiter auf Seite 71: „Diejenigen, die man 'Junggrammatiker' zu nennen pflegt, haben, ich wiederhole es ausdrücklich, in doppelter Hinsicht ein großes Verdienst. Sie haben die analysierende und rekonstruierende Tätigkeit ihrer Vorgänger und Mitforscher erfolgreich weitergeführt; und zugleich haben sie einige gute Maximen mit ungewöhnlichem Eifer erfaßt und betont, wodurch sie viel zur allgemeinen Anerkennung und Befolgung derselben beigesteuert haben." (S. 170 der deutschen Übersetzung.) Mit anderen Worten: ASCOLI lobt die Junggrammatiker deswegen, weil sie die Lehre ihrer Vorgänger, wenn auch mit anderem Namen, weitergetragen und dabei geglaubt

G. I . Ascoli

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haben, Neues zu schaffen, und weil sie mit der Leidenschaft von Neophyten zur Verbreitung dieser Lehre beigetragen haben.1 Er wirft ihnen aber vor, daß sie mit ihren „Entdeckungen" zu großes Aufsehen machten, sich hochmütig zeigten und Fehler begingen, die eine unangenehme Erinnerung zurückließen. Daher erachtete er es für notwendig, in die Diskussion einzugreifen und die Frage zum Abschluß zu bringen. In Poscritta (in der deutschen Übersetzung S. 173 ff.) vervollständigt A S C O L I mit einigen Einzelheiten die in den Briefen dargelegten Ideen. Er stellt z. B. fest, 1

H i n s i c h t l i c h i h r e r H a l t u n g g e g e n ü b e r ASCOLI m u ß die Quelle des M i ß v e r s t e h e n s zwischen m o d e r n e n italienischen Neolinguisten u n d J u n g g r a m m a t i k e r n gesehen w e r d e n . E r s t e r e , so z . B . M . BABTOLI (s. A G I X X I I - X X I I I , S. 113FF.), b e t r a c h t e n i h n als einen i h r e r L e h r e r , weil er u . a . ein Gegner d e r Gesetze auf d e m G e b i e t d e r S p r a c h e w a r („Ascoli ist w e d e r J u n g g r a m m a t i k e r noch Neolinguist . . .; die Ans i c h t e n des Meisters s t i m m e n j e d o c h in i h r e m t i e f e r e n Sinne u n d häufiger m i t der R i c h t u n g der Neolinguisten ü b e r e i n als m i t d e r j e n i g e n d e r J u n g g r a m m a t i k e r , u n d der G r u n d t o n u n s e r e r Ü b e r e i n s t i m m u n g ist die G e s c h i c h t e " , loc. cit., S. 116). D i e a n d e r e n d a g e g e n sehen in ASCOLI einen g l ä n z e n d e n V e r t r e t e r der a l t e n Schule v o r 1900 (vgl. C. MEBLO, G. I . Ascoli e i c a n o n i della glottologia i n : A G I X X I I X X I I I [1929], S. 587FF., sowie P . - G . GOIDINICH, L'Ascoli e i N e o g r a m m a t i c i u n d L'Ascoli e lo S c h u c h a r d t , e b e n d a , S . 6 1 1 f f . ) . W e r h a t .recht? Die oben g e m a c h t e n A u s f ü h r u n g e n auf G r u n d d e r D a r l e g u n g e n ASCOLIS selbst zeigen, d a ß beide G e s i c h t s p u n k t e v e r t r e t e n w e r d e n k ö n n e n ; n i c h t e t w a weil der große italienische Gelehrte keine b e s t i m m t e E i n s t e l l u n g zu d e n J u n g g r a m m a t i k e r n g e h a b t h ä t t e , s o n d e r n weil er sie i m G r u n d e als d e n V e r t r e t e r n der v o r a n g e h e n d e n Schule n a h e s t e h e n d b e t r a c h t e t e . E r h a t d e n J u n g g r a m m a t i k e r n in d e m M a ß e z u g e s t i m m t , in d e m sie der ä l t e r e n R i c h t u n g glichen, u n d sie d o r t b e k ä m p f t , wo sie seiner M e i n u n g noch F e h l e r begingen. I c h glaube, es ist ebenso i m p a s s e n d , a u s ASCOLI eine A r t Neolinguist vor der Zeit zu m a c h e n , wie i h n als J u n g g r a m m a t i k e r einzus c h ä t z e n . Gegen letztere A n s i c h t e n s p r i c h t u . a. die T a t s a c h e , wie s e h r ASCOLI (in d e r bereits g e n a n n t e n P o s c r i t t a ) v o n der K r i t i k SCHUCHARDTS (S. weiter u n t e n ) begeistert w a r u n d feststellte, d a ß sie „ u n a u s l ö s c h b a r e S p u r e n " h i n t e r l a s s e n h a b e . N o c h b e r e d t e r ist folgende Einzelheit a u s d e m zweiten Brief, d e r sich, wie wir ges e h e n h a b e n , speziell m i t d e n J u n g g r a m m a t i k e r n a u s e i n a n d e r s e t z t . ASCOLI b e g i n n t die E r ö r t e r u n g m i t der F e s t s t e l l u n g K . BBUGMANNS in der A r b e i t Z u m h e u t i g e n S t a n d d e r S p r a c h w i s s e n s c h a f t , S t r a ß b u r g 1885, S. 125: „ I c h f ü r m e i n e P e r s o n h a b e die n e u e r e n A n s c h a u u n g e n i m m e r n u r f ü r die organische u n d folgerechte F o r t e n t w i c k l u n g d e r ä l t e r e n B e s t r e b u n g e n g e h a l t e n , u n d diese A n s i c h t h a t sich m i r v o n J a h r zu J a h r m e h r b e f e s t i g t . " D e r italienische L i n g u i s t f r e u t sich ü b e r diese E r k l ä r u n g , die „ s o z u s a g e n v o n d e r G e g e n p a r t e i k o m m t " , u n d h o f f t , d a ß H . OSTHOFF, der Kollege K . BBUGMANNS, dies ebenfalls t u n wird. D a s bed e u t e t a l s o : ASCOLI s a h in diesen beiden j u n g g r a m m a t i s c h e n H a u p t v e r t r e t e r n Gegner. Dies k a n n n i c h t a n d e r s g e d e u t e t w e r d e n , als d a ß er sich selbst n i c h t als V e r t r e t e r der n e u e n R i c h t u n g b e t r a c h t e t e , s o n d e r n als A n h ä n g e r d e r a l t e n Schule, ü b e r die er a n a n d e r e r Stelle sehr d e u t l i c h s a g t , sie h a b e seit zwanzig J a h r e n b e s t i m m t e Dinge festgestellt, die seines E r a c h t e n s g u t sind. M a n vergleiche f e r n e r die E i n s c h ä t z u n g e n i m S c h u c h a r d t - B r e v i e r , 2. Auflage, S. 451/52, F u ß n o t e , die a u c h beweisen, w e s h a l b d a s M i ß v e r s t ä n d n i s u n t e r d e n h e u t i g e n italienischen G e l e h r t e n hinsichtlich der P o s i t i o n ASCOLIS m e h r oder weniger n a t ü r l i c h i s t : SCHUCHARDT s a g t , d a ß die M e t h o d e d e r J u n g g r a m m a t i k e r bereits v o r d e r e n A u f t r e t e n b e s t a n d e n h a b e u n d d a ß s p ä t e r BSUGMAUN u n d a n d e r e auf einige ihrer ü b e r t r i e b e n e n A u f f a s s u n g e n v e r z i c h t e t e n , so d a ß die U n t e r s c h i e d e zwischen J u n g g r a m m a t i k e r n u n d der a l t e n Schule m i t der Zeit m e r k l i c h a b n a h m e n .

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K a p i t e l l . Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

daß ein und dieselbe lautliche Veränderung in mehreren, hinsichtlich ihres Ursprungs oftmals verschiedenen Sprachen gerade deshalb erfolgen kann, weil die entsprechende Veränderung überall fast momentan aus ethnologischen oder anderen Gründen erzeugt worden ist. Ebenso existieren jedochFälle von Lautveränderungen, die, obgleich sie momentan und allgemein sind, Schwankungen darstellen, besser gesagt, Abstufungen in ihrer Intensität, z. B. geschlossenes vlat. u > ü in Gallien, Norditalien und Rätien, und im Surselvischen finden wir es als i. Solche Variationen können auch durch den Umstand hervorgerufen werden, daß der Prototyp der zur Erörterung stehenden Wörter sich sukzessiv verändert hat und folglich unterschiedlich ist in den einzelnen Beispielen, die sich sonst unter gleichen oder fast gleichen Bedingungen darbieten ; z. B. entspricht klat. tl vlat. cl, das sich in der einen oder anderen Form in allen romanischen Sprachen findet. In einigen rätoromanischen Dialekten jedoch stoßen wir auf die umgekehrte Erscheinung (cl > tl, wie auch gl > dl). Doch die Ursachen, weswegen eine lautliche Veränderung von einem Dialekt zum anderen, von einem Wort zum anderen Variationen erfahren kann, sind vielfacher A r t : der Akzent, die Natur der vorangehenden oder nachfolgenden Laute, die syntaktische Verbindung (die sogenannte Satzphonetik), der Einfluß der benachbarten Dialekte u. a. 1 Von anderen Indogermanisten, die die Junggrammatiker bekämpft haben, will ich kurz nur noch A . BEZZENBEKGER erwähnen, der in G G A (1879), S. 641 ff., ein Argument von besonderer Bedeutung anführt: Des öfteren kommt es vor, daß eine lautliche Veränderung bei einem Individuum oder mehreren Individuen erfolgt, von denen aus sie sich dann auf andere ausdehnt und sogar verallgemeinert werden kann. Die Verbreitung der ursprünglich individuellen Erscheinung hängt von vielen und verschiedenartigen Umständen ab, die der Autor mit aus verschiedenen Sprachen entnommenen Beispielen zu illustrieren sucht.

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In Verbindung mit dieser in der vorangehenden Fußnote erörterten Frage verdient noch eine Ansicht A S C O L I S zitiert zu werden, die ihn uns noch deutlicher als Gegner der Junggrammatiker zeigt: „ I m Leben der Sprache ist wie in dem jedes anderen Naturorganismus solche starre und beständige Einfachheit in jeder Beziehung eine Utopie." (S. 10 der deutschen Übersetzung: Kritische Studien zur Sprachwissenschaft.) Hier noch ein Zitat, aus dem sich die fast totale Negierung der notwendigen Bedingungen für die Anwendung eines Lautgesetzes ergibt: „Ich kann mir niemals vorstellen, daß ich mich dem Prinzip widersetze, nach dem ein grundlegender Laut oder eine grundlegende Lautgruppe in einer bestimmten Sprache direkt nur einen einzigen Reflex haben müßten, wenn zwischen ihnen gleiche Bedingungen bestehen, unter denen er bzw. sie in den einzelnen Beispielen entstanden war. Es ist aber nicht immer leicht zu sehen, ob die Wirklichkeit in der Tat diese Identität nach sich zieht oder nicht." („Non mi posso io mai sognare di oppormi al principio che un suono fondamentale o un gruppo fondamentale di suoni non debba direttamente avere in un determinato linguaggio se non un unico riflesso, quando sien tra loro identiche le condizioni in cui nei singoli esemplari egli era nato. Ma non è sempre facile vedere sè la realtà importa davvero o non importi questa identità." [Zit. bei B. A. TERBACINI, Correnti vecchie e nuove nella linguistica storica contemporanea, in: Atti della Società italiana per il progresso delle scienze X V I I I (1929), I , S. 275]).

Hugo Schuchardt

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Hugo Schuchardt (1842-1927) Der erbittertste Gegner der Junggrammatiker aber war der Romanist H . Nicht lange nach der Veröffentlichung des junggrammatischen Manifestes, wie ich das von O S T H O F F und B R U G M A N N verfaßte Vorwort zu Morphologische Untersuchungen genannt habe, erschien von S C H U C H A R D T der Aufsatz Über die Lautgesetze, der den bezeichnenden Untertitel Gegen die Junggrammatiker trug (Berlin 1885)1. Die in dieser Broschüre vorgebrachten Argumente gegen die neue Lehre sind theoretischer und praktischer Natur oder, richtiger gesagt: Der Autor beruft sich zur Stützung prinzipieller Erklärungen nicht nur auf logische Erwägungen, sondern auch auf sprachliche Tatsachen. S C H U C H A R D T bekämpft vor allem den Begriff „Gesetz", so wie ihn die Junggrammatiker verstanden haben, obgleich festgestellt werden muß, daß sich diese selbst nicht klar genug waren über den Charakter der Lautgesetze. Im Leben der Sprache kann nicht wie in der Natur von blindwirkenden Gesetzen die Rede sein, denn die sprachlichen Normen haben keine allgemeine und absolute Anwendung wie die Naturgesetze. Mehr als das: Die Relativität der sogenannten Lautgesetze ist vom Gesichtspunkt der Zeit und des Raumes aus bedingt und auch verhältnismäßig kompliziert. Im gleichen Zeitraum und auf dem gleichen Gebiet zeigt ein Lautgesetz bei einer Reihe von Beispielen aus derselben Kategorie nicht die gleiche Verbreitung. „Die Beziehung der Lautgesetze zu ihrer äußeren Ausdehnung trägt den Charakter einer wechselnden und zufälligen." (S. 59.) Eine andere Frage, die eng verbunden ist mit der vorhergehenden, ist die der Dialekte. S C H U C H A R D T fragte sich, was „Dialekt" bedeutet (die Junggrammatiker hatten diesen Ausdruck in ihren theoretischen Formulierungen gebraucht). Dabei zeigt er, daß wir es hier mit einem abstrakten Begriff, ohne realen Bestand, zu tun haben. Im Innern einer Sprachgemeinschaft, eines Dialekts also, finden wir unzählige Individualsprachen, die je nach Geschlecht, Alter, Temperament und Bildungsgrad verschieden sind. Diese Redeweisen beeinflussen sich gegenseitig sehr stark, ohne daß es jedoch zu einem Verschwinden der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede kommt, denn die Mode arbeitet auch hier mit unwiderstehlicher Macht: Die Art, wie die tonangebenden Persönlichkeiten zu sprechen pflegen, die aus dem einen oder anderen Grund überlegen sind, wird beständig nachgeahmt. Das führt unvermeidlich zur Sprachveränderung wie auch zu einer so ausgesprochenen Mischung der Sprechweisen, daß jeder Versuch einer gesetzlichen Regelung in diesem Bereich von Anfang an vergeblich erscheint. 1 SCHUCHARDT.

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Wieder abgedruckt inHugo-Sehuchardt-Brevier, 2. Auflage, S. 51 ff. Fortan wird immer nach der 2. Auflage dieses Buches zitiert werden, ohne es besonders zu erwähnen. Daß die Einteilung in Sprachen und vor allem der Sprachen in Dialekte, Unterdialekte und Mundarten mehr oder weniger relativ ist, hat SCHUCHARDT bereits seit dem Jahre 1870 vertreten, zu einer Zeit also, da von Junggrammatikern noch nicht die Rede war. SCHUCHARDT tat das in seiner Probevorlesung mit dem Thema:

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Kapitel I . Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Große Aufmerksamkeit schenkt SCHUCHAKDT der Sprachmischung, mit der er sich später in besonderer Weise und wiederholt beschäftigt hat. Er versteht nicht nur die ethnische Vermischung darunter (z. B. die der Eingeborenen mit den römischen Siedlern auf der Iberischen Halbinsel, in Gallien usw.), sondern auch diejenige, die selbst in der homogensten Sprachgemeinschaft erfolgt durch die Übersiedlung der Angehörigen ein und derselben Sprachgemeinschaft von einem Ort zum anderen, das Hinüberwechseln von einer Gesellschaftsgruppe in die andere usw. oder durch die Nachahmung, wie oben schon ausgeführt.1 Ebenso energisch bekämpft SCHUCHABDT den Begriff „Sprachperiode", dessen sich die Junggrammatiker bedienten, wenn sie behaupteten, daß im Leben einer Sprache innerhalb einer bestimmten Epoche das „Lautgesetz" ohne Ausnahme wirke. So wie es keine geographischen Grenzen zwischen verschiedenen Dialekten gibt, so sind auch die zeitlichen Grenzen zwischen den aufeinanderfolgenden Phasen einer Sprache eine Fiktion: Der Übergang von der einen Phase zur anderen geht unmerklich vor sich, gerade wie der von einem Dialekt zum anderen. Und daher können wir nicht sagen, wann eine Epoche zu Ende ist und wann eine andere anfängt. Ebenso unmöglich ist es, genau festzustellen, wo ein Dialekt aufhört und wo ein anderer beginnt. Dann hatten die Junggrammatiker ferner noch von den „gleichen lautlichen Bedingungen" gesprochen, die ohne Ausnahmen für die Erzeugung des Lautwandels notwendig seien. Auch diese gleichen Bedingungen gibt es nicht, so sagt SCHUCHABDT, denn jedes Wort befindet sich unter speziellen Umständen, wie sehr es uns auch scheint, daß es anderen Wörtern

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Ü b e r die Klassifikation der romanischen M u n d a r t e n , die erst 30 J a h r e s p ä t e r veröffentlicht wurde. E s scheint, als h a b e der Verfasser g e a h n t , d a ß die späteren Untersuchungen über die romanischen Dialekte die Ideen bestätigen werden, zu denen er auf rein theoretischem Weg gelangt war (s. Schuchardt-Brevier, S. 1 6 6 F F . ) . Wie ich bereits festgestellt habe, setzt die A n n a h m e v o n Lautgesetzen die des Bestehens von Dialekten voraus. Bekanntlich erfolgen die Abgrenzungen bei den Dialekteinteilungen m i t Hilfe der lautlichen Besonderheiten (und denen anderer A r t natürlich), die teilweise jeder M u n d a r t eigen sind. Mit dieser F r a g e beschäftigt sich S C H U C H A B D T in op. cit., S . 9 1 ff. Obgleich die im T e x t gegebenen E r k l ä r u n g e n genügend klar sind, m u ß ich darauf hinweisen, d a ß S C H U C H A K D T nirgends über Sprachmischung im Sinne des sowjetischen Sprachforschers N . J . M A R R spricht, der d a s Bestehen v o n „Mischsprachen" a n n i m m t , die sich aus der „ K r e u z u n g " zweier der S t r u k t u r n a c h verschiedener Sprachen bilden w ü r d e n u n d als R e s u l t a t eine neue Sprache ergeben h ä t t e n , eine d r i t t e nämlich, die sowohl von der einen wie a u c h v o n der a n d e r e n der „ g e k r e u z t e n " Sprachen verschieden sei. K . - H . S C H Ö N F E L D E R b e m e r k t in Probleme der Völker- u n d Sprachmischung, Halle 1956, S. 37: „ E s gibt k a u m einen Sprachwissenschaftler, der sich so ausführlich mit den Problemen der Sprachmischung, der Mischsprachen u n d des Sprachwechsels beschäftigt h a t wie N. J . M a r r ; u n d m a n k a n n sagen, d a ß es nur wenige Sprachwissenschaftler gab, die diese Probleme so gründlich m i ß v e r s t a n d e n . " Vgl. auch die kritischen Auseinandersetzungen mit der Lehre M A H R S in dem Sammelband Beiträge aus der sowjetischen Sprachwissenschaft, Berlin 1952. Besonderes Interesse besitzt in diesem Zusammenhang der Aufsatz von B. W . H O R N U N G , Über die historische Gemeinschaft der indoeuropäischen Sprachen, ebenda, S. 84ff.

H u g o Schuchardt

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mit gleichen Lauten gleicht. 1 Bei den sprachlichen Veränderungen spielt die häufigere oder seltenere Verwendung des sprachlichen Materials eine große Rolle: Ein oft gebrauchtes Wort ist mehreren und tieferen Veränderungen ausgesetzt als ein anderes Wort, das nur dann und wann in unserer Sprache erscheint; ein Lautwandel dagegen, der von anderswo herkommt, läßt gerade die häufig gebrauchten Wörter unberührt. Am Schluß seiner Erörterungen zeigt SCHUCHABDT, welche Stellung er selbst zu dem von den Junggrammatikern aufgeworfenen Problem einnimmt. Weil er die Komplexität und Verschiedenartigkeit der sprachlichen Erscheinungen beachtet, überrascht uns seine vorsichtige, relativistische Einstellung nicht, sondern sie scheint uns im Gegenteil natürlich. SCHUCHABDT behauptet nicht, daß die sogenannten Lautgesetze Ausnahmen aufweisen würden. Er betont nachdrücklich das Bestehen eines sporadischen Lautwandels, ja, daß in gewissem Sinne jeder Lautwandel in irgendeiner seiner Phasen sporadisch, das heißt individuell sei. Das ist das einzige Gesetz ohne Ausnahmen, wenn wir uns durchaus solcher Ausdrücke bedienen wollen. Das Dogma von den ausnahmslosen Lautgesetzen hat seinen Ursprung in der linguistischen Schule vor den Junggrammatikern, die die Sprache als eine Wesenheit mit gesonderter Existenz, unabhängig vom Menschen, betrachteten. Die Ursprünge dieser Überzeugung waren romantisch-mystischer Natur und wurden außerdem ausgesprochen stark gefärbt von der Naturwissenschaft, d. h. von der Lehre SCHLEICHERS. SCHUCHABDT lobt H . PAUL, der, obgleich Junggrammatiker, bewiesen habe (in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte),daß eres versteht, tief in das Wesen der Sprache einzudringen, und dieses oftmals sehr richtig erfaßt. Schließlich plädiert SCHUCHABDT für die methodische Einheit in allen sprachwissenschaftlichen Disziplinen und protestiert gegen diejenigen, die die Indogermanistik von der Romanistik oder anderen sprachlichen Einzeldisziplinen trennen und sich höchstens nur für diese oder jene Sprache interessieren, die mit der Sprache verwandt ist, die sie selbst studieren. Die menschliche Sprache ist in ihrem innersten Wesen überall die gleiche, zwischen den Sprachen bestehen Ähnlichkeiten, so daß das Studium der einen uns hilft, die anderen Sprachen zu verstehen. 2 Die Opposition gegen die Junggrammatiker, die ich kurz umrissen habe, hat keine sofortigen Resultate gehabt. Vor allem konnte sie nicht den Enthusiasmus eindämmen, den die meisten Sprachwissenschaftler der neuen Lehre entgegenbrachten. Sie mußte eine mächtige Anziehungskraft ausüben, wenn wir den Umständen Rechnung tragen, unter denen sie entstand. Es sollte noch lange Zeit 1 2

Diese Feststellung SCHUCHARDTS ähnelt sehr der, die GILLIERON später vorbrachte, nämlich daß jedes Wort seine eigene Geschichte hat. Ich habe mich hier besonders m i t dieser Schrift SCHUCHARDTS befaßt, weil sie zu diesem Problem v o n allen seinen Schriften die umfassendste ist. Das soll aber nicht heißen, daß dieser bedeutende Linguist nicht auch in anderen Schriften die Frage der Lautgesetze berührt hat. W e n es interessiert, wo er noch das gleiche Problem behandelt, der kann es im Schuchardt-Brevier finden (die Bibliographie der Werke ist auf S. 15ff. angegeben. Vgl. ferner S. 87ff.).

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dauern, bis die Ideen eines SCHTTCHAKDT, der mehr von einem wahrhaft genialen intuitiven Erfassen der Erscheinungen ausgegangen war, sich durchzusetzen und die Überzeugungen der Junggrammatiker 1 zu zerstören begannen. Bis dahin setzten die Gegner der Junggrammatiker ihren Kampf fort. Vor allem aber wurde dies ermöglicht durch bestimmte Dialektforschungen, die reiches Material brachten und an Ort und Stelle durchgeführt worden waren. Die Junggrammatiker waren gezwungen, einige Präzisierungen vorzunehmen, die teilweise einem Zurückweichen gleichkamen. Hier einige Einzelheiten. In der zweiten Auflage seiner Arbeit Zur Geschichte der deutschen Sprache (1878) sagt W. S C H E E E B J der Vorläufer der Junggrammatiker: „DieLautgesetze sind nur empirische, keine echten Gesetze." (S. 17, Fußnote.) Anders H . PAUL!' Zunächst hat er von der „absoluten Notwendigkeit" der Lautgesetze gesprochen und sie mit den physikalischen und chemischen Gesetzen verglichen, d. h., er hat sie ihnen angeglichen. Dann aber stimmt er dem Gesichtspunkt des Philosophen L. TOBLEE zu, wenn er in Prinzipien der Sprachgeschichte schreibt, daß Lautgesetze keine Naturgesetze sind. Zu erwähnen ist schließlich noch J . SCHMIDT, der im allgemeinen die Theorien der Junggrammatiker übernommen hatte. E r schreibt in Z v S X X V (1884), S. 134, d a ß das Vorhandensein von Lautgesetzen

ohne jede Ausnahme, d. h. deren Ausnahmen wir völlig zu erklären imstande sind,, eine der größten Seltenheiten bildet. Im folgenden Band derselben Zeitschrift, S. 371, stellt J . SCHMIDT ebenfalls fest, daß neben bekannten Lautgesetzen unbekannte existieren, die auf die Sprache einwirken, ohne daß wir ihnen auf die Spur kommen. 2 Mit anderen Worten: Die Junggrammatiker selbst waren gezwungen, die Bedeutung, die sie anfangs den Lautgesetzen zugemessen hatten, weniger hoch anzuschlagen. Sie kamen im wesentlichen dahin, in ihnen vor allem ein praktisches Mittel zu sehen, eine Art von unbedingt notwendigem Führer, um das der Forschung vorliegende unermeßliche Material beherrschen zu können 1

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Interessant für die geistige Atmosphäre jener Zeit ist die Tatsache, daß auch die Philosophen in die Diskussion über die Lautgesetze eingriffen. (Wenn wir allerdings bedenken, daß das Problem der Gesetze im allgemeinen eine philosophische Angelegenheit ist, überrascht das nicht.) So bekämpft L. T O B L E R in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Band III, Nr. 1, S. 30ff., die Junggrammatiker und betont, daß sich das, was sie Lautgesetze nennen, wesentlich von den Naturgesetzen (der Physik oder Chemie) unterscheide. Die sprachlichen Normen sind gut, denn sie setzen der subjektiven Entscheidung eine Schranke. Aber sie dürfen nicht so aufgefaßt werden, als würde dadurch die Vorstellung von der Sprache mechanisiert. Gerade die Lautgesetze, die als allgemein und ohne Ausnahmen betrachtet werden, sind in Wirklichkeit nur Feststellungen von Tatsachen, die uns überhaupt nicht die Ursache und erst recht nicht das Wesen der entsprechenden Erscheinungen zeigen. Letztere Beobachtung wie auch die Anerkennung der Notwendigkeit einiger „Regeln" beim Studium der Sprachen hat eine ungewöhnliche Bedeutung. Wir werden noch sehen, daß ein so bedeutender Linguist wie A. M E I L L E T , dem viele andere folgten, von einer Konzeption ausgeht,, die der L. T O B L E R S sehr ähnlich ist. Vgl. auch die Feststellung im Schuchardt-Brevier, S.452, Fußnote, daß L E S K I E N , . B R U G M A N N und andere „die Lautgesetze in ein bescheidenes Gewand gehüllt und das Beiwort 'ausnahmslos' gestrichen haben".

Die Dialektstudien

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und eine bestimmte Ordnung in den Wirrwarr so verschiedenartiger und komplexer Erscheinungen zu bringen. Noch eine weitere Einschränkung führen die Junggrammatiker hinsichtlich der Wirkung der Lautgesetze an: In jeder menschlichen Sprache treffen wir auf alte Sprachgegebenheiten, die unverändert durch die Jahrhunderte hindurch weitervermittelt worden sind und irgendwie Gesetze ausschließen. Auch diese Erkenntnis bedeutet die Einschränkung des Hauptdogmas im System der Junggrammatiker auf Proportionen, die der Wirklichkeit näherstehen. Die Dialektstudien Der kräftigste Schlag aber mußte von anderer Seite kommen, obgleich die Begründer der neuen Schule selbst indirekt den Anstoß dazu gegeben hatten. Wie wir sahen, hatten O S T H O F F und B E U G M A N N immer wieder die Untersuchung der gegenwärtig gesprochenen Sprachen und Mundarten empfohlen, weil wir nur diese direkt beobachten können (besonders von dem Gesichtspunkt aus, auf welche Art und Weise die menschliche Sprache funktioniert). Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts begann dieser Wunsch der junggrammatischen Koryphäen realisiert zu werden. Zwar hatten sich die Volksmundarten bereits der Aufmerksamkeit vieler Interessenten erfreut, doch den meisten dieser Forscher fehlten die notwendigen Voraussetzungen, wodurch ihre Studien auf keiner soliden wissenschaftlichen Grundlage beruhten. Erst mit A S C O L I wird die Dialektologie ein wirklich wissenschaftliches Fach. Zahlreiche Schüler von ihm gingen mit Enthusiasmus ans Werk, so daß sich mit den italienischen Dialekten, auf deren Erforschung ohnehin schon viel Mühe verwandt worden war, bald die Linguisten, speziell die Romanisten, beschäftigten; und das nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern. Doch selbst den Schülern A S C O L I S fehlte oftmals der rechte Blick für die interessantesten Tatsachen der von den Junggrammatikern aufgeworfenen Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Sie waren noch nicht an die bis ins kleinste gehende präzise Beobachtung gewöhnt, noch an die Notwendigkeit eines mehr oder weniger langen Zusammenlebens mit den Menschen auf dem Lande. Außerdem war die Phonetik nicht zu der Vollkommenheit gelangt, wie sie für Dialektuntersuchungen absolut notwendig ist. 1 Deshalb mußte noch längere Zeit vergehen, bis diese und andere weniger schwerwiegende Mängel abgeschwächt oder beseitigt worden waren. Und wir müssen anerkennen, daß man in dieser Hinsicht den Fortschritt zum großen Teil ebenfalls der von den Junggrammatikern eingeschlagenen Richtung verdankt. Vor allem ihre übertriebene Aufmerksamkeit für das materielle, physische Element der menschlichen Rede hat dazu geführt, daß sich die historische und die beschreibende Phonetik in ungeahntem Maße entwickelten und so die streng wissenschaftliche Untersuchung der Dialekte außerordentlich erleichterten. 1

Denn die schwierigsten und heikelsten Fragen beim Studium irgendeiner Sprache, sei es im entsprechenden Sprachgebiet oder sei es mit Hilfe der Texte, waren und sind noch heute gerade die der Phonetik.

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Der Abbé Rousselot (1846-1924) Eine Umwälzung auf dem Gebiet der Mundartforschung erfolgte nicht in Italien, sondern in Frankreich und in der Schweiz, wo vereinzelt Arbeiten über Volksmundarten schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen waren. Das erste dialektologische Werk von großem Wert ist von dem Abbé P. J. R O U S S E L O T verfaßt worden und trägt den Titel Modifications phonétiques du langage étudiées dans le patois d'une famille de Cellefrouin (Charente), 1891 1 . Die außergewöhnliche Bedeutung dieses Buches liegt vom theoretischen Gesichtspunkt aus in der Feststellung, daß die menschliche Rede selbst im Schöße einer einzigen Familie nicht einheitlich sei: Die Mitglieder dieser Familie unterscheiden sich in ihrer Redeweise nach Geschlecht, Alter, Beschäftigung usw. Weil das von R O U S S E L O T gesammelte Material so außerordentlich reich und genau war, wurde nicht mehr wie bisher abstrakt diskutiert, sondern auf solider Grundlage. Wenn also die sprachliche Einheit schon in der kleinsten menschlichen Gemeinschaft, in der Familie, fehlt, deren Angehörige ständig zusammenleben und sich leicht gegenseitig beeinflussen können, wird es diese erst recht um so weniger in immer größer werdenden Gemeinschaften, im Dorf, in der Gemeinde, im Kreis und in der Provinz, geben. 2 Louis Gauchat (1866-1942) Die Arbeit R O U S S E L O T S bedeutete den ersten ernsten Schlag, den die junggrammatische Schule nicht von den Theoretikern, sondern von der Praxis erhielt. Danach nehmen die Angriffe dieser Art zu und werden heftiger. Ich will hier nur an zwei Studien 3 erinnern, die als eine Art Fortsetzung des Werkes dieses fran1

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Cellefrouin ist ein Ort im Département Charente (im Westen Frankreichs, südlich der Loire u n d nördlich von Bordeaux), wo das Heimatdorf des Autors liegt. ROUSSELOT h a t das sprachliche Material nicht auf der Grundlage eines Questionnaire gesammelt, wie m a n es später t u t (vgl. das Kapitel über Sprachgeographie im vorliegenden Buch), sondern in Gesprächen mit den Einwohnern, deren Mundart er ausgezeichnet k a n n t e . Zugleich gibt er uns über die „ S u j e t s " Informationen jeglicher Art, genauso wie die Autoren der zukünftigen Sprachatlanten. Obgleich es selbstverständlich sein sollte, möchte ich darauf hinweisen, daß sich die fehlende Einheitlichkeit auf den konkreten (oder realisierten) Aspekt der Sprache bezieht, nicht auf den abstrakten. I n phonetischer Hinsicht werden (oder können) sich die L a u t e von einem Sprecher zum anderen unterscheiden, nicht aber die Phoneme : L a u t e werden gesprochen, aber Phoneme werden wahrgenommen (und folglich verstanden). Daher verstehen sich die Menschen trotz nicht vorhandener Einheitlichkeit ohne Schwierigkeit, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, die gleiche Sprache (ja sogar den gleichen Dialekt) sprechen. Eine ähnliche Situation liegt bei den grammatischen Formen vor. N u r Wörter können Verständnisschwierigkeiten bieten, wenn sie von einem Sprecher zum anderen verschieden sind. Doch dies k o m m t n u r innerhalb einer Sprache vor oder seltener innerhalb eines auf einem ausgedehnten Gebiet gesprochenen Dialekts, der regionale Unterschiede aufweist. E r w ä h n t werden muß jedoch, daß der Abbé ROUSSELOT bereits zehn bis zwölf J a h r e früher begonnen h a t t e , sich f ü r die französischen Dialekte zu interessieren. I m

Louis Gauchat

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zösischen Phonetikers betrachtet werden können, weil sie denselben W e g verfolgen und fast zu den gleichen Ergebnissen kommen. Ihr Autor ist L. GATJCHAT, der Professor an der Universität Zürich war. Die erste Arbeit trägt den bedeutsamen Titel Gibt es Mundartgrenzeni und ist in A S N S X I (1903), S. 365 ff., veröffentlicht worden. Basierend auf einem an Ort und Stelle gesammelten Material, gelangt GATJCHAT ZU Schlüssen, die zeigen, daß die sprachliche Wirklichkeit viel komplizierter ist, als wir uns das mittels nur theoretischer Kenntnisse gewöhnlich vorstellen. Von einem Gebiet zum anderen bestehen Dialektunterschiede, die in einigen Fällen sehr kraß sind, in anderen allmählich übergehend. Die Art dieser Grenzen zwischen den Dialekten hängt nicht immer v o n der Gestaltung des Bodens ab: Berge oder Hügel können wohl Sprachgrenzen bilden, brauchen aber ebenso gut auch keine Hindernisse für den W e g der sprachlichen Neuerungen zu sein. Oft bemerkt m a n auch, daß Gebirge keine Grenzen zwischen den Volksmundarten bilden. Die entscheidende Rolle scheinen auf diesem Gebiet die politischen und administrativen Grenzen zu spielen. 1 GATJCHAT führt als Beispiele

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J a h r e 1887 begründete er zusammen m i t G I L L I É B O N die R e v u e des patois galloromans. G I L L I É R O N sollte zu Beginn unseres J a h r h u n d e r t s die Sprachgeographie schaffen u n d h a t t e bereits 1880 : P a t o i s de la c o m m u n e de Vionnaz (Bas Valais), m i t einer K a r t e , u n d 1881 : P e t i t Atlas phonétique d u Valais r o m a n (sud du Rhône), m i t 30 K a r t e n , herausgegeben. Dabei beschritt er den von seinem Lehrer J . C O R N U (er war auch Schweizer) in Phonologie d u B a g n a r d (s. R o V I [1877], S. 369ff.) aufgezeigten Weg. Ebenfalls im J a h r e 187 7 begründete ein anderer Franzose, L. C L É D A T , die R e v u e des patois, die zwei J a h r e später in die R e v u e de philologie française et provençale umgewandelt wurde u n d ebenfalls d e m S t u d i u m der Dialekte gewidmet war. R O U S S E L O T h a t zeit seines Lebens auf d e m Gebiet der Dialektologie u n d P h o n e t i k gearbeitet. (1924 ist er im Alter v o n 78 J a h r e n gestorben.) I h m v e r d a n k t m a n die E x p e r i m e n t a l p h o n e t i k (vgl. Principes de phonétique expérimentale, P a r i s 1897—1908, 2. Auflage ebenda 1923), diese f ü r die Sprachwissenschaft so wertvolle Hilfswissenschaft, f ü r die die französische Regierung einen speziellen L e h r s t u h l a m Collège de F r a n c e u n d ein L a b o r a t o r i u m einrichten ließ. Mit beiden wurde d e r A b b é R O U S S E L O T b e t r a u t . ( R O U S S E L O T h a t a u c h rumänische Schüler g e h a b t : den verstorbenen I o s i r POPOVICI, ehemals Professor a n der U n i v e r s i t ä t Cluj, sowie die Professoren A L . R O S E T T I u n d E . P E T R O V I C I . Vgl. die Arbeiten R O S E T T I S : Curs de fonetica generala, B u c u r e f t i 1930, u n d : I n t r o d u c e r e în fonetica, ebenda 1957. I O S I F P O P O V I C I h a t t e anläßlich des Todes von R O U S S E L O T die Broschüre : Abatele Rousselot, c r e a t o m i foneticii experimentale, Cluj 1926 veröffentlicht.) Die F e u d a l o r d n u n g im Mittelalter erschwerte oder verhinderte o f t die Verbindungen zwischen den Bewohnern der einzelnen, m a n c h m a l ziemlich kleinen Feudalgebiete u n d folglich a u c h die B e w a h r u n g der a n f a n g s sprachlichen E i n h e i t . E s h a n d e l t sich hier u m das, was die marxistischen Historiker als feudale Zersplitter u n g bezeichnen. D a r a u s ergibt sich als unvermeidliche Konsequenz die sprachliche Zersplitterung. Ü b e r die B e d e u t u n g der politischen Grenzen in der Sprachentwicklung vgl. u. a. W . WENZEL, W o r t a t l a s des Kreises Wetzlar u n d der umliegenden Gebiete, Marburg 1930. I m allgemeinen bestehen keine Dialektgrenzen bei den f ü n f h u n d e r t Begriffen, deren Bezeichnungen der A u t o r verfolgt h a t . Manchmal aber bilden die entsprechenden W ö r t e r wohl begrenzte E i n h e i t e n , denen alte territoriale E i n h e i t e n zugrunde liegen. W e n n die sprachlichen Grenzen nicht m i t den politischen (oder administrativen) übereinstimmen, so b e d e u t e t d a s , d a ß im Z u s a m m e n h a n g m i t der Verkehrsverbindung Gründe ökonomischer u n d

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zwei Dörfer an, die sehr nahe aneinander liegen und durch einen bequemen Weg miteinander verbunden sind, sich aber dennoch vom sprachlichen Gesichtspunkt her sehr stark unterscheiden. Der Grund dafür muß in den Lebensbedingungen der Vergangenheit gesucht werden: Einst hatten die beiden Ortschaften zu verschiedenen politischen Gebilden gehört, und es konnte daher kein Verkehr zwischen beiden bestehen. Die Folge war eine immer stärker werdende sprachliche Trennung. Zusammenfassend sehen wir, daß die Situation meist schwieriger und verworrener ist als größtenteils angenommen wird. Die zweite Arbeit GAUCHATS heißt L'unité phonétique dans le patois d'une commune1 und ist erschienen in: Aus romanischen Sprachen und Literaturen, Festgabe für Heinrich Morf, Halle a. d. S. 1905, S. 174ff. Sie ähnelt in dem behandelten Gegenstand und in den Resultaten der bereits angeführten Arbeit RousSELOTS. Wie ROUSSELOT hatte GAUCHAT das Fehlen der sprachlichen Einheit bei den Angehörigen einer Familie festgestellt, und ebenso beweist er, daß die Sprechweise der Einwohner eines Dorfes von einem Individuum zum anderen ziemlich variiert, da sie von Alter, Geschlecht, sozialer Stellung, Beruf u. a. abhängig ist. Hier einige der interessantesten Einzelheiten: 1. Die aus anderen Gegenden hinzugezogenen Individuen eignen sich niemals völlig die Mundart der Ortschaft an, in der sie sich niedergelassen haben. Ihre Kinder dagegen unterscheiden sich in nichts von den Kindern der eingeborenen Bewohner. 2. Man beobachtet eine lautliche Verschiedenheit und Entwicklung gemäß dem Alter; es gibt jedoch Familien, in denen die alte Sprechweise verwurzelter zu sein scheint als in anderen Familien. 3. Den ersten Schritt zur lautlichen Veränderung tun die Erwachsenen, nicht die Kinder, wie P . PASSY und der Abbé ROUSSELOT behauptet hatten. 4. Diese Veränderungen dürfen nicht allein durch die Übermittlung der Mundart von der einen Generation zur anderen erklärt werden, denn nicht die Personen, sondern die Wörter spielen in den sprachlichen Veränderungen die bedeutendste Rolle. 2 Die Schlußfolgerung nähert sich sehr der von ROUSSELOT: Gestützt auf die aufmerksame und feine Beobachtung der Wirklichkeit, meint GAUCHAT genau wie ROUSSELOT, daß es bei einer zusammengehörenden Gruppe von Sprechern (bei ihm ein Dorf, bei ROUSSELOT eine Familie) keine sprachliche Einheit gibt. Diese

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technischer Art dazwischengetreten sind. Der religiöse und der juristische Faktor spielen eine nur sekundäre Rolle (s. Siebenbürgische Vierteljahrsschrift LVI [1933], 5. 292ff.). Es handelt sich um Charmey, ein großes Dorf im östlichen Gruyère (im Schweizer Kanton Fribourg, in dem frankoprovenzalische Mundarten gesprochen werden). Auch die in der vorangehenden Studie GATJCHATS enthaltenen Untersuchungen haben die frankoprovenzalischen Mundarten desselben Kantons zur Grundlage. Eine Einzelheit, die ebenfalls nicht vergessen werden sollte, ist folgende : Die in der Aussprache, in der Syntax und im Wortschatz im Verlauf von 30 Jahren vollzogenen Veränderungen können verfolgt und geprüft werden, indem man die Sprache der folgenden Generationen studiert.

Die „Lautgesetze". Gegenwärtiger Stand dieses Problems

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Einheit trifft man dagegen bei Individuen an, die zur gleichen Generation gehören (vgl. A . T E B B A C H E B , Les aires morphologiques dans les parlers populaires du nordouest de l'Angoumois I, Paris 1914, S. 138).1 In bezug auf die „Lautgesetze" erklärt GATJCHAT folgendes: „Malgré tout le respect que j'ai, et qu'il faut avoir, pour les 'lois phonétiques', j'ai toujours lutté en faveur de leur application moins rigoureuse, laissant à chaque mot son individualité. Je ne suis pas seul de cet avis. M. Salverda de Grave, entre autres, a déjà combattu l'absolutisme qui règne en linguistique dans le tome III p. 161 du Neophilologus. Surpris du développement double, quelque fois triple de certains groupes de consonnes, il 's'inscrivait en faux' contre cette méthode qui consiste à ne considérer comme phonétiquement correcte qu'une des deux formes que présente en français tel son latin." (VRo II [1937], S. 45-46.) Von der eigentlichen Tätigkeit der Romanisten auf dem Gebiet der Dialektologie wird im Kapitel über die Sprachgeographie ausführlich die Rede sein. Hier habe ich es für notwendig erachtet, nur an einige Schriften zu erinnern, die durch ihren Inhalt wie auch durch die Tatsache, daß sie vor den ersten sprachgeographischen Arbeiten G I L L I É R O N S erschienen sind, ernsthaft die junggrammatische Lehre zerstört und irgendwie den Boden für die Sprachgeographie vorbereitet haben, von der die junggrammatische Richtung den schwersten Schlag erhalten sollte.2 Die „Lautgesetze". Gegenwärtiger Stand dieses Problems Um den rückschauenden Teil dieses Kapitels zu beenden, halte ich es für erforderlich, in einer kurzen Zusammenfassung aufzuzeigen, in welchem Stadium sich das Problem der Lautgesetze befindet. Wie wir sahen, war mit dem Erscheinen der junggrammatischen Schule fast die gesamte Diskussion dieser Frage gewidmet worden. Sie hat in der Tat eine außerordentliche Bedeutung nicht nur für die Romanistik, sondern für alle sprachwissenschaftlichen Fächer. Als letztes Ziel der wissenschaftlichen Untersuchungen steht die Entdeckung von Grundregeln, nach denen die entsprechenden Erscheinungen erzeugt werden. Die Frage, ob es Lautgesetze gibt, entscheidet mit darüber, inwieweit das Studium der menschlichen Sprache den Namen einer wirklichen Wissenschaft verdient. (Was nämlich über die Lautgesetze gesagt wird, das kann im allgemeinen auch auf andere sprach1

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Ich habe versäumt zu bemerken, daß GATJCHAT zum Unterschied von ROTTSSELOT das sprachliche Material, das er in diesen beiden Arbeiten erörtert, mit Hilfe eines Questionnaire gesammelt hat. Er ist also in gleicher Weise wie die Verfasser der Sprachatlanten vorgegangen (vgl. Kap. III dieses Buches). Obgleich sie relativ spät (erst ab 1909) erschienen, halte ich es doch für angezeigt, in diesem Zusammenhang zwei wertvolle Zeitschriften anzuführen: Revue de dialectologie romane und Bulletin de dialectologie romane. Beide waren Publikationsorgane einer internationalen Gesellschaft für romanische Dialektologie mit dem Sitz in Brüssel. (Der 1. Weltkrieg setzte dieser Zeitschrift und dieser Gesellschaft ein Ende. Seit dem Jahre 1925 haben wir eine ähnliche Vereinigung in der Société de linguistique romane, deren Publikationsorgan die Revue de linguistique romane ist, von der ich später noch sprechen werde.) Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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liehe Gesetze angewandt werden.) So erklärt es sich auch, weshalb in den letzten siebzig bis achtzig Jahren unzählige Arbeiten mit unterschiedlichem Umfang und Wert über dieses Problem geschrieben worden sind. Trotzdem wurde nicht die gewünschte Lösung gefunden, um alle Linguisten oder wenigstens eine große Zahl von ihnen auszusöhnen. Ich habe keinesfalls die Absicht, die über diesen neuralgischen Punkt der allgemeinen Sprachwissenschaft und folglich auch unseres Faches geführte Diskussion bis ins einzelne genau darzulegen. Sie gehört ja nicht zum eigentlichen Gegenstand vorliegender Arbeit. Vor allem ist es unmöglich, alle im Verlauf eines halben Jahrhunderts vorgebrachten Ansichten aufzuzählen, und ich muß aufrichtig bekennen, daß es auch unnütz wäre, denn je mehr man über eine so komplizierte Frage wie die der Lautgesetze spricht, um so weniger scheinen die Dinge geklärt zu sein. Ich werde mich darauf beschränken, sehr kurz die Ideen derjenigen Gelehrten zu umreißen, die nach meiner Meinung einen richtigen Gesichtspunkt vertreten. Wie bisher werde ich keinen Unterschied machen zwischen Romanisten und Indogermanisten, weil zwischen beiden keine trennende Mauer errichtet werden kann. Das gilt besonders jetzt, da wahrhafte Linguisten, die dieses Namens würdig sind, hoffen, dem Wunsche S C H U C H A B D T S zu entsprechen, der verlangte, man solle nicht mehr von Romanistik und Indogermanistik sprechen, sondern einfach nur von Linguistik.

Maurice Grammont (1866-1947) Die der Wirklichkeit am nächsten kommende Einstellung in der Frage der Lautgesetze finden wir, wenn ich mich nicht täusche, bei den französischen Gelehrten der Schule von F. D E SATJSSTJEE (vgl. das IV. Kapitel dieses Buches), bei M. G B A M M O N T , A. M E I L L E T , J . V E N D B Y E S . Von diesen hat sich der erstgenannte auf das Studium der Phonetik spezialisiert. Aber er beschäftigte sich nicht mit den Lauten einer bestimmten Sprache oder Sprachfamilie, er untersuchte sie nicht nach der historisch-vergleichenden Methode und trieb auch keine eigentliche Experimentalphonetik. Indem er sich auf sehr reiche und vielfältige Kenntnisse stützte, die zur experimentellen und zur historischen Phonetik gehören, interessierte sich G B A M M O N T für die Laute der menschlichen Sprache im allgemeinen und für die Veränderungen, denen sie in den verschiedenen Sprachen der Erde unterworfen sind oder sein können. Vorzugsweise verfolgte er jene Veränderungen, die sich überall und immer unter ähnlichen Bedingungen vollziehen, ganz gleich, wann und wo sie stattfinden. So gelang es G B A M M O N T , eine wirklich allgemeine Phonetik mit auf jede menschliche Sprache anwendbaren Prinzipien zu schaffen. 1 1

Seine Überzeugung, die sich der SCHUCHABDTS nähert, ja, die ihr nahezu gleicht, ist treffend in den folgenden Zeilen ausgedrückt (RLR X L I I [1911], S. 323): „On oublie peut-être que le langage est un phénomène humain, que tous les hommes qui vivent à la surface de la terre sont des organismes sensiblement pareils, et que sous l'influence de causes semblables ils peuvent imprimer à leur langage, qui est une de leurs functions, exactement les mêmes modifications en n'importe quel lieu, fût-ce aux antipodes, et d'une manière absolument indépendante."

Maurice Grammont

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Nachdem er diese Prinzipien bei der Untersuchung zahlreicher phonetischer Probleme in verschiedenen Studien angewandt h a t t e (vgl. Notes de phonétique générale in MSL X I X [1914-1916], S. 245ff., und X X [1916-1918], S. 213ff.; BSL X X I V [1923/24], S. l f f . ; ferner in Festschriften veröffentlichte Aufsätze, gesondert gedruckte Arbeiten, Rezensionen, Polemiken usw. 1 ), brachte er den wichtigen Traité de Phonétique, Paris 1933 (4. Auflage 1950), heraus, der für die Probleme der allgemeinen Phonetik einen sehr wertvollen Leitfaden darstellt. F ü r die hier erörterte Frage interessiert besonders das Kapitel Les lois phonétiques (S. 166ff.) und dessen logische Fortsetzung Les causes des changements phonétiques (S. 175 ff.). G R A M M O N T unterscheidet Lautgesetze und Lautformeln. Erstere sind allgemeine Tendenzen, die in jeder Sprache existieren, wie Dissimilation, Assimilation, Metathesis u . a . ; letztere sind die Anwendung der allgemeinen Tendenzen in einer bestimmten Sprache oder in einem bestimmten Fall. Wenn wir uns der Terminologie F . D E SATJSSTTEES, des ehemaligen Lehrers von G R A M M O N T , bedienen, wo „Sprache" ( = langue) von „Sprechen" ( = parole) unterschieden wird, kann man sagen, daß die Lautgesetze zur Sprache gehören oder, genauer gesagt, zur menschlichen Sprache als solcher. Mit anderen Worten : Sie existieren im latenten Zustand und warten auf die Gelegenheit, sich zu manifestieren. Die Lautformeln gehören zum „Sprechen", d. h. zur konkreten realisierten Sprache, und im Gegensatz zu den Lautgesetzen, die überall die gleichen sind, variieren sie von einer Sprache zur anderen, manchmal sogar von einem Sprecher zum anderen. Die marxistischen Sprachwissenschaftler würden von allgemeinen inneren Entwicklungsgesetzen sprechen, die f ü r alle Sprachen gelten, und von besonderen inneren Entwicklungsgesetzen, die für eine Gruppe verwandter Sprachen, für eine einzige Sprache, für einen Dialekt, für eine Mundart usw. gültig sind. 1

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Eine ähnliche Präzisierung wie die im Text finden wir bei A. S O M M E B F E L T , NTS I X (1937), S. 243—244: «De même que les lois phonologiques sont des précisions des tendances phonologiques panchroniques, les formules sont la manifestation des tendances spécifiques de l'évolution phonologique d'une langue donnée. On sait que c'est M. Grammont qui, le premier, a posé ce principe d'une façon précise à propos de l'évolution du groupe oriental des langues indo-européennes (MSL X I X , p. 245 et suiv.).» Es scheint, daß der erste Gelehrte, der von Lauttendenzen im Sinne G B A M M O N T S gesprochen hat, P. P A S S Y gewesen ist in seiner Arbeit Étude sur les changements phonétiques et leurs caractères généraux, Paris 1890. Hier hebt er nachdrücklich innere Antriebe des Menschen als Quelle der lautlichen Veränderungen hervor: Jeder Lautveränderung liegt ein solcher psychischer Aufschwung zugrunde. Ebenso haben H. P A U L in Prinzipien der Sprachgeschichte und noch andere Junggrammatiker das Vorhandensein eines inneren Faktors als Ursache der Lautveränderungen gelten lassen, allerdings nur in solchen Fällen, wo es sich beim Lautwandel um Ausnahmen handelte. Die „inneren Antriebe" P A S S Y S und der „innere Faktor" P A U L S bedeuten nach marxistischer Terminologie die natürliche spontane Bewegung der Elemente, die die Laute der menschlichen Rede bilden und sich im Widerspruch zueinander befinden, was unweigerlich zu Lautveränderungen jeder Art führt.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Joseph Vendryes Den Ideen GRAMMONTS steht sehr nahe J . V E N D R Y E S mit seinem Beitrag Réflexions sur lois phonétiques (in : Mélanges linguistiques offerts à M. Antoine Meillet, Paris 1902, S. 115ff.). Er vermutet die Möglichkeit, daß eine Lautveränderung individuellen Ursprung haben kann und danach verallgemeinert wird, sofern sie natürlich mit den Prinzipien übereinstimmt, die das Artikulationssystem der Sprache im entsprechenden Moment beherrschen. In diesem Zusammenhang spricht er von Lauttendenzen. Das sogenannte Lautgesetz bedeutet also nichts anderes als den Ausdruck einer LautVeränderung, die eine besondere Gegebenheit in der Entwicklung einer Lauttendenz in einem gegebenen Moment ist. ,,On voit par les exemples qui viennent d'être donnés combien la notion de tendance phonétique est plus exacte théoriquement et pratiquement plus féconde que celle de loi phonétique." (S. 122) Es folgt eine Klassifizierung der Lauttendenzen in a) allgemeine und äußere, die nicht auf eine Sprache allein beschränkt sind, sondern sich überall finden und sich aus der menschlichen Natur selbst zu ergeben scheinen, z. B. die onomatopoetischen Bildungen, Dissimilation, Metathesis usw. ; alle haben ihren Ursprung in der Individualität des Sprechers — b) partikuläre und innere, die einer bestimmten Sprache eigen sind und nichts Psychologisches an sich haben, so daß sie nur auf dem physiologischen Charakter der Stimmorgane beruhen. Letztere Tendenzen sind ebenso zahlreich wie die Mitglieder der entsprechenden sprachlichen Gemeinschaft; doch in Wirklichkeit werden die Unterschiede von Individuum zu Individuum auf Grund der gegenseitigen Beeinflussung ausgeglichen, so daß jede gesellschaftliche Gruppe ihre speziellen Tendenzen hat. Den Linguisten müßten in erster Linie die Resultate dieser Art von Tendenzen interessieren, d. h. die von diesen Tendenzen hervorgerufenen Lautveränderungen : Hat er deren physiologische Natur analysiert, dann wird er versuchen, die Tendenz festzustellen, die diese Lautveränderungen hervorgerufen hat.1 Antoine Meillet (1866-1936) Zurückhaltender als viele andere Forscher und der Wahrheit näher zu sein scheint in der Frage der „Lautgesetze" A. M E I L L E T . Er sieht in den sogenannten Lautgesetzen den Ausdruck einer einfachen Entsprechung. Wenn z. B. gesagt 1

Vgl. auch das, was VENDRYES in seinem Werk Le langage, Paris 1921, S. 50ff., schreibt. In ihm, das den Untertitel Introduction linguistique à l'histoire trägt, herrscht der historische Gesichtspunkt vor. Außerdem merkt man hier den Einfluß MEILLETS, der von Entsprechungen und nicht von Lautgesetzen spricht. Auch G. MILLARDET, Linguistique et dialectologie romanes, Montpellier-Paris 1923, S. 270ff., gebraucht die Termini von VENDRYES im gleichen Sinne: Die phonetische Tendenz ist eine verborgene Kraft, die jedem Lautgesetz zugrunde liegt, und das Lautgesetz ist ein Ausdruck der Lauttendenz. Diese kann physiologische und psychologische Gründe haben, die aufeinander einwirken. Nicht jeder Tendenz gelingt es, sich in der Form eines Gesetzes zu äußern ; dafür sind günstige Umstände nötig, die oft äußerst kompliziert sind.

Antoine Meillet

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wird, das betonte lateinische ë erscheint in den romanischen Sprachen als ié, so dürfen wir das weder so auslegen, daß ë die Ursache wäre und ié die Wirkung, noch daß dem ë ein ié folgt, sondern nur so, daß dem lateinischen ë ein romanisches ié entspricht. Somit drückt das Lautgesetz kein Kausalitätsverhältnis aus wie ein Naturgesetz und auch keine Beziehung einer Aufeinanderfolge wie ein geschichtliches Gesetz, sondern nur eine Entsprechung: Es setzt nämlich eine sprachliche Gegebenheit in der Ausgangssprache mit einer anderen sprachlichen Gegebenheit in den abgeleiteten Sprachen in Beziehung. M E I L L E T meint, dies sei die einzig mögliche vernünftige Einstellung gegenüber dem zur Erörterung stehenden Problem. Andernfalls wird in der Argumentation der Fehler begangen, der petitio principii heißt. Wir beobachten, daß häufig aus lateinischem ë ein romanisches ié entsteht. Danach betrachten wir diese Tatsache als eine sichere Angelegenheit, die keines Beweises mehr bedarf, und kehren die Termini des Lehrsatzes um, so daß wir schließlich postulieren, indem wir uns auf eine nicht bewiesene Wahrheit stützen : Jedes betonte lateinische ë wird in den romanischen Sprachen zu ié. Das hier Angeführte zeigt deutlich, daß M E I L L E T in den Lautgesetzen praktische Realitäten sieht, die absolut notwendig sind für die historische und vergleichende Erforschung der Laute einer oder mehrerer Sprachen gegenüber den Lauten der Ursprache.1 So viel und nicht mehr. In diesem Sinn erweist er sich als ein Verteidiger der Lautgesetze, sobald er dazu Gelegenheit hat. Hierzu floch ein Beispiel, das ich gerade zur Hand habe. Es ist seiner Rezension entnommen, die er in BSL XXVI (1925), Fasz. 3, S. 25, zu einer Arbeit von G . P. GOIDÀNICH schrieb. M E I L L E T lobt diesen italienischen Linguisten, weil er die Lautgesetze verteidigt, und fügt sogleich hinzu, daß das Prinzip der Regelmäßigkeit der phonetischen Entsprechungen in der Sprachwissenschaft grundlegend bleibt. Und an anderer Stelle, wo er auf den Kampf zwischen den Gegnern und den Verfechtern der Lautgesetze zu sprechen kommt, sagt M E I L L E T : Sowohl die einen wie auch die anderen haben recht oder, wenn man will, weder die einen noch die anderen haben recht. Erstere betrachten nur das „Sprechen", letztere nur die „Sprache".2 Die hier erwähnten Gedanken der französischen Linguisten sind ohne eigentliche Veränderungen von zahlreichen Fachgelehrten übernommen worden. Ein besonderes Intersse besitzt nach meiner Meinung dank der klaren und präzisen Formulierungen die folgende Stelle aus einem Aufsatz von A. W. DE GEOOT, der in Actes du premier Congrès international de linguistes, La Haye 1928, veröffentlicht wurde: „Les tendances d'interrelation des variations acoustiques, dont je n'ai 1

2

Nicht nur das Studium der Laute, sondern auch das der grammatischen Formen und das der Wörter (vom Gesichtspunkt ihres Ursprungs aus betrachtet) findet in den sogenannten Lautgesetzen einen sicheren Wegweiser, den kein wirklicher Linguist entbehren kann. «La querelle ne s'apaisera jamais : les partisans de la constance des lois phonétiques envisagent la 'langue', et leurs adversaires, 'la parole'. Ils ne parlent pas de la même chose.» (BSL X X X [1929], Fasz. 2, S. 1 6 ) . Hinsichtlich der hier von M E I L L E T gebrauchten Terminologie vgl. das Kapitel IV im vorliegenden Buch über die Schule F. DE SAUSSUBES.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

essayé de formuler et de préciser que les plus évidentes, offrent un exemple instructif des lois. Elles permettent de mieux préciser les mots formule et loi. Tandis que les formules générales de changement sont relatives, les lois fondamentales sont absolues. J e citerai deux exemples. D'après une formule générale le- k- intervocalique est sujet à devenir -x- ou -g- ; l'alternative d'une formule est donc ou bien a ou b. Cela dépend des circonstances. D'après une loi de la phonétique évolutive une syllabe haute devient forte ou elle ne le devient pas; l'alternative d'une loi est donc le oui ou le non. Cela aussi dépend des circonstances." (S. 103/104.) Sextil Puscariu (1877-1948) Den Auffassungen der französischen Sprachwissenschaftler in gewissem Sinne verwandt sind die des bekannten rumänischen Linguisten P U S C A R I U , der in seinem Aufsatz Despre legile fonologice in Dacor I I (1921/22), S. 19ff., zwischen Lautgesetzen und phonologischen Gesetzen unterscheidet. Als Lautgesetze bezeichnet er Lautveränderungen, die mehr oder weniger unbewußt sind und die bei einem oder mehreren Individuen einmal oefer mehrmals auftreten. Unter phonologischen Gesetzen versteht er gewöhnliche und allgemeine Veränderungen, die regelmäßig und konstant auftauchen und alle gleichen Fälle umfassen, sei es in der Rede eines einzigen Individuums, sei es vor allem in der Rede einer geographisch oder sozial zusammengehörenden Gruppe. Die phonologischen Gesetze haben ihren Ursprung in den Lautgesetzen: Werden die Abweichungen von der traditionellen Aussprache von bestimmten psychologischen Gesetzen unterstützt — denn der Mensch ist ein Wesen, das seine eigene Redeweise mit der der anderen Sprecher vergleicht und sie durch Festlegung einer konstanten Beziehung an diese anzugleichen sucht —, so werden sie verallgemeinert. Dabei verwandeln sich die Lautgesetze in phonologische Gesetze. 1 Alle Lautveränderungen haben individuellen Ursprung und kommen im allgemeinen von Menschen mit sehr entwickeltem Sprachgefühl ( P U S C A R I U sagt: „mit Talent für die Sprache"). Aber nur einige dieser Veränderungen werden dank der „psychologischen Gesetze" verbreitet, während die meisten spurlos untergehen. In der Schlußfolgerung unterstreicht P U S C A R I U „das 1

Auf den Seiten 28—30 erklärt PU.'JCAKIU diese Terminologie, die sich von der üblichen unterscheidet. Die Phonetik oder Physiologie der Laute beschäftigt sich mit der Beschreibung der artikulierten Laute im allgemeinen, folglich mit denen in jeder Sprache; die Phonologie (zu der wir im gewissen Sinn auch historische Phonetik sagen können) studiert die Veränderungen der Laute einer gegebenen Sprache. Die Lautgesetze finden sich infolgedessen in mehreren Sprachen (theoretisch gesehen in allen) und haben eine rein physiologische Ursache; die phonologischen Gesetze gehören gewöhnlich zu einer einzelnen Sprache und sind physiologischer, psychologischer und soziologischer Natur. Vgl. auch den Aufsatz des gleichen Autors Phonetisch und Phonologisch in V K R I I I (1930), S. 16FF. Die von PUSCARIU gebrauchten Termini können nicht akzeptiert werden. Der Ausdruck Phonologie bezeichnet heute eine bedeutende sprachwissenschaftliche Richtung, d i e v o n TRTTBETZKOY b e g r ü n d e t w u r d e u n d auf d e n I d e e n v o n BAUDOUIN DE COTJB-

TENAY über das „Phonem" fußt.

Ramón Menéndez Pidal

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Vertrauen in die phonologischen Gesetze". Diese sind nicht „nur ein Mittel, uns vor etymologischen Irrtümern zu bewahren und Präzision und Sicherheit unseren Forschungsmethoden zu verleihen. Sie sind weder Abstraktionen noch Erfindungen der Grammatiker: Sie sind sprachliche Realitäten, Formeln, die im Geist des Sprechers vorhanden sind, genauso wie der Plural, der Konditional oder die consecutio temporum grammatische Formeln sind, die einer konstanten Beziehung entsprechen, die in einem gegebenen Moment besteht oder bestanden h a t . " (S. 8 2 - 8 3 . ) 1

Mehr oder weniger ähnliche Ansichten wie die oben erwähnten können auch gefunden werden in: Schuchardt-Brevier, S. 417; FB. SCHÜBE, Sprachwissenschaft und Zeitgeist, Marburg a. L. 1922, S. 39ff.; M. BABTOLX, Introduzione alla Neolinguistica,

Genf 1925, S. 54FF. und 93ff.; R . MENÉNDEZ PIDAL, Orígenes del

Español I, Madrid 1929 (2. Auflage), S. 559FF.; u. a.2

Ramón Menéndez Pidal In Orígenes del Español, Madrid 1956 (4. Auflage), schreibt er z.B. (S.532—533) folgendes: „In der Entwicklung jedes Lautes gibt es offensichtlich Kollektivtendenzen, die des öfteren in allgemeine Normen, in regelmäßige Lautgesetze verwandelt werden. Es muß aber hinzugefügt werden, daß die Bildung eines dieser Gesetze nicht das Werk eines Augenblicks, sondern das eines sehr langen Zeitraumes ist. Die Beobachter einer lebenden Sprache irgendeines Ortes wissen, daß ein Lautwandel die Aufeinanderfolge mehrerer Generationen braucht, um sich zu entwickeln; ihre auf einen Augenblick beschränkte Beobachtung aber studiert nur die miteinander lebenden Generationen: die alte, die mittlere und die junge. Und dieser Zeitraum ist unbedeutend für die Entwicklung eines Lautwandels. Um vollständige Resultate geben zu können, wird die Dialektologie wiederholte Beobachtungen an dem gleichen Ort nötig haben, die in Abständen 1

2

Die Arbeit P I T § C A R I U S wurde von J. R O N J A T , R L R L X I (1921/22), S. 402ff., rezensiert. R O N J A T lobt den Autor, verteidigt aber zugleich die Junggrammatiker, indem er sich auf die Ergebnisse stützt, die in der Sprachwissenschaft gerade durch die Lautgesetze erzielt worden sind. Weiterhin rezensierten PTTSCARIUS Arbeit O. D E N S U S I A N U in GS I (1923/24), S. 157ff.; K . J A B E R G in L g r P X L V (1924), col. 97ÍT.; F R . S C H Ü R R in Z R P h X L Y I (1926), S . 291ff.; u. a. S C H Ü R R erörtert diese Frage ausführlich in dem Aufsatz: Lautgesetz oder Lautnorm? Er führt aus, daß niemand oder fast niemand mehr an der Gleichsetzung „Lautgesetze = mechanische Gesetze" festhalte. Er schlägt für „Lautgesetz" den Ausdruck „ L a u t n o r m " ( = „durchgeführter Lautwandel") vor, in dem er ein wissenschaftliches Kriterium sieht, aber nicht im naturwissenschaftlichen, sondern im historischen Sinne. Eigentlich müßte über diesen Gelehrten viel ausführlicher gesprochen und nicht nur seine Ansicht über die Lautgesetze wiedergegeben werden. Leider läßt dies das vorliegende Thema nicht zu. I m I I I . Kapitel (im Abschnitt „Volkskundliche Geographie") werden die notwendigsten Angaben über das außerordentlich umfangreiche Schaffen von R A M Ó N M E N É N D E Z P I D A L gemacht werden.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

von mehreren Jahren durchgeführt werden. Man hat das Prinzip der Sprachentwicklung bei jedem Generationswechsel gesucht. Die Generationen aber wechseln nicht alle zwanzig oder dreißig Jahre, sondern sie entstehen jeden Tag und erneuern sich unmerklich. Jedweder Wechsel in der kollektiven, traditionellen Betätigung sowohl hinsichtlich der Sprache wie auch hinsichtlich des Volksliedes, der Rechtsgewohnheit usw. gründet sich darauf, daß viele aufeinanderfolgende Generationen an der gleichen neuen Idee teilhaben und dabei sind, sie ständig zu realisieren, trotz kleiner Varianten in der Auffassungsweise; im Kampf mit einer anderen älteren Tradition bilden sie eine neue. In der dichterischen Erfindung, die so persönlich zu sein scheint und in der man weniger diese Kontinuität erwarten könnte, finden wir die Beständigkeit einer neuen Idee durch Jahrhunderte und Generationen hindurch bestätigt, die daran arbeiten, eine auf den Charakter einer dichterischen Gestalt sich beziehende Variante zu bewahren und zu entwickeln, oder eine Beschreibung oder die Kontamination von zwei Liedern, die wiederholt und in verschiedenartigen Formen ihre Verse vermischen. In der Sprache ist diese Kontinuität offensichtlicher, da ihre Veränderungen weniger der individuellen Initiative unterworfen s i n d . . . . Ein Lautwandel pflegt niemals das ausschließliche Werk von drei oder vier Generationen zu sein, in die willkürlich die zusammenlebende Bevölkerung geteilt betrachtet wird, sondern er ist das Produkt einer Idee oder eines traditionellen Geschmacks, der durch viele Generationen von Sprechern hindurch besteht. Die Dauer des Lautwandels pflegt deshalb außerordentlich lang, jahrhundertealt zu sein, weil die Tradition, die besiegt werden muß, als eine tief in der unaufhörlichen täglichen Wiederholung der kollektiven Tätigkeit der Sprache verwurzelte die stärkste von allen ist. Der von Sattssube aufgezeigte Zeitraum von dreihundert Jahren als bedeutsames Beispiel der Dauer für die Verbreitung eines Lautwandels ist in vielen Fällen noch zu kurz."1 1

„Hay, evidentemente, en el desarrollo de cada sonido tendencias colectivas que muchas veces llegan a convertirse en normas generales, en leyes fonéticas regulares. Pero debe añadirse que la constitución de una de esas leyes no es obra de un momento, sino de un lapso de tiempo muy prolongado. Los observadores de la lengua viva de una localidad comprenden que un cambio fonético necesita para desarrollarse el concurso de varias generaciones; pero su observación, limitada a un momento, estudia esas generaciones conviventes entre sí: la vieja, la madura, la joven; y ese espacio de tiempo es insignificante para el desarrollo de un cambio; la dialectología, para dar sus resultados completos necesitará observaciones reiteradas sobre una misma localidad hechas con bastantes años de intervalo. Se ha buscado el principio de la evolución del lenguaje en cada cambio de generación; pero las generaciones no cambian cada veinte o cada treinta años, sino que cada día nacen y se renuevan imperceptiblemente. Cualquier cambio en la actividad colectiva tradicional, lo mismo respecto al lenguaje, que a la canción popular, que a la costumbre jurídica, etc., se funda en el hecho de que muchas generaciones consecutivas participan de una misma idea innovadora y la van realizando persistentemente, a pesar de pequeñas variantes en el modo de concebirla; constituyen una tradición nueva, en pugna con otra tradición más antigua. Donde menos podría esperarse esta continuidad tradicional, en la invención poética, que tan personalísima parece, hallamos comprobada la persisten-

Ramón Menéndez Pidal

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Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zitat u. a. der richtige Gedanke, daß die Lautveränderungen (und nicht nur sie) nach und nach und ganz unmerklich stattfinden und im allgemeinen eine sehr große Zeitspanne verlangen, um realisiert zu werden. Es gibt einen wahrhaften Kampf zwischen der einmal aufgetretenen Neuerungstendenz und der entsprechenden Tradition, d. h. zwischen „neu" und „alt". Es ist ein Kampf, der schließlich mit dem Sieg des „Neuen" endet durch zweifache quantitative Anhäufung: In dem Maße, wie die Zeit vergeht, nehmen die Sprecher zu, die sich die Neuerung zu eigen machen, und ebenso wächst die Zahl der Wörter, die von der entsprechenden Lautveränderung betroffen werden. Interessant ist meines Erachtens auch, daß sich dieser Gelehrte auf die Generationen oder, besser, auf die natürliche Verbindung von einer Generation zur anderen im Prozeß der Sprachentwicklung beruft. In bezug auf die Beziehungen zwischen den nebeneinander bestehenden Generationen (nicht zwischen den aufeinanderfolgenden, von denen P I D A L spricht) finde ich es angebracht, auf die Ansicht des Sprachwissenschaftlers J O H N M A T T H E W M A N L Y hinzuweisen, die in dem Aufsatz From generación to generation (s. A Grammatical Miscellany offered to Otto Jespersen on his Seventieth Birthday, CopenhagenLondon 1930, S. 287 ff.) dargelegt wird. Der Autor sucht den Grund dafür, daß eine „Lauttendenz" in derselben Richtung wirkt und sich schließlich durchsetzt, in der Tatsache, daß sich die Kinder nicht von den Erwachsenen beeinflussen lassen, sondern von anderen, etwas älteren Kindern. Deshalb, so fügt er hinzu, müßten wir uns nicht auf die Generationen, sondern auf die Sprecher beziehen, die bereits das modernste sprachliche Stadium vertreten, d. h. die sich bereits die entsprechende Neuerung angeeignet haben. Ich glaube, diese Ansicht entspricht in großem Maße der Wirklichkeit, und das nicht nur hinsichtlich der Laute, sondern auch hinsichtlich anderer Aspekte der Sprache (besonders des lexikalischen oder des stilistischen Aspekts): Im allgemeinen beeinflussen einander die Menschen desselben Alters viel stärker und unterscheiden sich dadurch von der vorangehenden Generation (sowohl in ihrer Art zu sprechen als auch in anderen Aspekten des Kollektivlebens). Es gibt eine Art von „sprachlichem Konflikt" zwischen Eltern und Kindern. cia de una idea innovadora a través de siglos y generaciones que trabajan en conservar y desarrollar una variante referente al carácter de un personaje poético, o a una descripción, o a la contaminación de dos canciones que, reiteradamente y en formas varias, mezclan sus versos. E n el lenguaje resulta esta continuidad más evidente, por estar sus evoluciones menos sujetas a la pura iniciativa individual . . . Un cambio fonético no suele ser nunca obra exclusiva de las tres o cuatro generaciones en que de un modo arbitrario se considera dividida la población convivente, sino que es producto de una idea o un gusto tradicional que persiste a través de muchas generaciones de hablantes. L a duración del cambio fonético suele ser extraordinariamente larga, multisecular, por lo mismo que la tradición que hay que vencer es la más fuerte de todas, como arraigada en la inmensa repetición cotidiana del acto colectivo del lenguje. Los 300 años señalados por Saussure como caso notable de duración para la propagación de un cambio lingüístico, son todavía poca cosa en muchos casos."

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

demente Merlo (1879-1960) Diejenigen Forscher, die die Lautgesetze im Sinne der Junggrammatiker mit allem Nachdruck vertreten, sind vor allem unter den italienischen Sprachwissenschaftlern anzutreffen. C . M E R L O habe ich bereits erwähnt, als ich seinen gegen die Versuche der sogenannten Neolinguisten gerichteten Aufsatz anführte, A S C O L I als einen ihrer Vorläufer zu betrachten und ihn infolgedessen aus der Reihe der Junggrammatiker herauszunehmen, in der ihn M E R L O um jeden Preis als Begründer der italienischen Sprachwissenschaft und Dialektologie sehen möchte. Klarer noch zeigt sich M E R L O S Einstellung dieser Frage gegenüber, die uns hier beschäftigt, in seinen zahlreichen Studien über die verschiedenen italienischen Mundarten und vor allem in der Richtung, die er der Zeitschrift L'Italia dialettale (Pisa 1925ff.) gibt. Vgl. auch von ihm Saggi linguistici, Pisa 1959.

P.-G. Goidànich Wenn auch MERLO, wie er selbst am Anfang des erwähnten Aufsatzes erklärt, theoretische Probleme nicht aus den gleichen Gründen wie M E Y E R - L Ü B K E erörtert, so tut das aber sein Landsmann P . - G . G O I D À N I C H , der Professor an der Universität Bologna und Mitherausgeber des AGI war. Er hat dem Problem der Lautgesetze eine umfangreiche Studie gewidmet mit dem Titel Le alterazioni fonetiche del linguaggio e le loro cause. Delle leggi fonetiche (in AGI X X [1926] der von ihm herausgegebenen Reihe, S. lff.). G O I D À N I C H bejaht das Vorhandensein von Lautgesetzen, wie sie die Junggrammatiker sehen, d. h., er hält sie für unbewußt, mechanisch und blind wirkend, und er bringt sie in Verbindung mit dem Gehör, den Stimmorganen und den Gedächtnisfehlern. Ebenso, wie konnte es anders sein, bekämpft er die Ansicht vom individuellen Ursprung der Lautveränderungen. Schließlich rechnet er zu den unbewußten Ergebnissen sogar die durch Analogiebildung erfolgten Veränderungen, die bei den Junggrammatikern eine psychologische Ursache hatten und folglich in einem bestimmten Sinn bewußt waren.1 Die genannte Studie G O I D À N I C H S enthält im gleichen Band des AGI, S. 60ff., als Anhang eine Kritik an der Arbeit L. GATTCHATS L'unité phonétique . . ., in der G O I D À N I C H das Material dieses Forschers zugunsten seiner eigenen These, d. h. zugunsten des Vorhandenseins von Lautgesetzen interpretiert. Diese Einstellung überrascht um so mehr, da derselbe Linguist einst davon wesentlich abweichende Gedanken geäußert hatte. Unter den Titeln Le sintesi linguistiche und Ancora delle sintesi linguistiche veröffentlichte er in AGI XVII (1910-13), S. XXXVIff., und XVIII (1914—22), S. 362ff., zwei kleine Aufsätze, in denen er forderte, daß man alle sprachlichen Erscheinungen gleicher Art in sämtlichen Entwicklungsepochen einer Sprache als auch die entsprechenden Erscheinungen in anderen Sprachen studieren 1

V g l . d i e R e z e n s i o n v o n A . MBILLET i n B S L X X V I

( 1 9 2 5 ) , F a s z . 3, S . 2 5 F F . ; u n d

die von G. BEBTONI in ARo I X (1925), S. 492 (letztere Rezension ist in einem sehr scharfen Ton gehalten).

J . v a n Ginnecken

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solle. Nur so, meint er, können wir richtig das Wesen einer sprachlichen Gegebenheit verstehen, denn dann haben wir die Möglichkeit, die Tendenz zu erkennen, die sie hervorgebracht hat. 1 J. v a n Ginnecken (1877-1945) Schließlich will ich noch die Auffassung des holländischen Gelehrten J . VAN GINerwähnen. I n seinem Aufsatz Die Erblichkeit der Lautgesetze (in I F X L V [1927], S. 1 ff.) geht er v o n folgender Feststellung aus: E h e sich eine Lautveränderung endgültig durchsetzt, kennt die Sprache eine Periode des Ubergangs. Während dieser Zeit lebt neben der neuen Form die alte Form weiter fort. Wie aber ist es möglich, daß nicht alle, sondern nur einige Abweichungen vom traditionellen T y p verallgemeinert werden? Auf diese Frage kann seines Erachtens weder die Psychologie noch die Soziologie (die soziologische Auffassung der Sprache nämlich) eine Antwort geben. D a z u sei allein die Biologie oder die Erblichkeit in der Lage. Die meisten Kinder kämen mit bestimmten angeborenen Lauttendenzen zur Welt, die bei allen gleich seien und den Weg der Sprachneuerungen angeben würden. 2

NECKEN

1

2

Andere italienische Gelehrte, obgleich sie a n den Lautgesetzen festhalten, fassen sie m e h r oder weniger in U b e r e i n s t i m m u n g m i t den neuen Sprachtheorien auf, so z . B . G. E . P A R O D I , Questioni teoriche: le leggi fonetiche in der Zeitschrift N u o v i s t u d i medievali I (1923/24), S. 263ff. (das ist ein Vortrag, der bereits 1909 v o n ihm gehalten worden war, ohne d a ß P A R O D I damals d a r a n dachte, ihn zu veröffentlichen). N a c h d e m er einen historischen Überblick über die Frage der L a u t gesetze gegeben h a t , legt er seinen Gesichtspunkt dar, der sich in folgende W o r t e zusammenfassen l ä ß t (S. 279): „Unser Grundgedanke ist, d a ß es Lautgesetze gibt, aber d a ß sie keinesfalls mechanischer, sondern ausschließlich psychologischer N a t u r sind." („La nostra proposizione f o n d a m e n t a l e è che le leggi fonetiche esistono, m a che n o n sono a f f a t t o meccaniche, bensi esclusivamente psicologiche.") — Bei d e m hier erörterten Problem k o m m t C. B A T T I S T I , der Nachfolger P A R O D I S auf dem L e h r s t u h l f ü r romanische Sprachen a n der U n i v e r s i t ä t Florenz, der in der modernen Sprachwissenschaft üblichen Einstellung noch näher. I n seiner Antrittsvorlesung E r n e s t o Giacomo P a r o d i e la valutazione della legge fonetica (erschienen in der Zeitschrift La Parola, N o v e m b e r 1925) setzt er sich kritisch mit den im Aufsatz P A R O D I S dargelegten Ideen auseinander. Dabei stellt er fest (S. 8, col. 2 des Separatdruckes) : „ N a c h d e m einmal der individuelle U r s p r u n g jeder L a u t entwicklung oder L a u t v e r ä n d e r u n g als aus der organischen F u n k t i o n (der Sprache) heraus e n t s t a n d e n bestätigt ist, glauben wir, d a ß die Sprachgemeinschaft gerade jene Entwicklungen oder Veränderungen a n n i m m t , die als d e m eigentlichen Charakter der Sprache entsprechend e r f a ß t w e r d e n . " („Affermata l'origine individuale di ogni evoluzione o c a m b i a m e n t o fonetico promosso dalla funzione organica, noi crediamo che dalla comunità linguistica siano a c c e t t a t e a p p u n t o quelle evoluzioni o quei c a m b i a m e n t i che sono intuiti come corrispondenti al proprio carattere linguistico.") Weiter oben f ü h r t B A T T I S T I die Tatsache an, d a ß sich v o n mehreren lautlichen Neuerungen eine b e s t i m m t e durchsetzt. Das schreibt er den „lautlichen E m p f ä n g lichkeiten" zu, die dazwischentreten, ohne d a ß der Sprecher sie b e a c h t e t . N a c h G O I D I N I C H , A G I X X ( 1 9 2 6 ) , S. 3 7 F F . , wäre der Gedanke der Erblichkeit im Bereich der L a u t v e r ä n d e r u n g e n bereits v o n R O U S S E L O T in seinem schon e r w ä h n t e n B u c h vorgebracht worden. Auf der anderen Seite erinnert der Gesichtspunkt G I N N E C K È N S a n die ethnische Substrattheorie, die so eifrig von A S C O L I v e r t r e t e n worden ist.

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

J. VAN GINNECKEN hat seine Ansichten in bezüg auf die Lautveränderungen auch in anderen Arbeiten vorgebracht, so z. B. in La biologie de la base d'articulation (in: Psychologie du langage, Paris 1933, S. 266ff.) oder in Ras en taal, Amsterdam 1935. Überall besteht er auf dem biologischen und anthropologischen Faktor. Dabei stützt er sich im allgemeinen auf die Theorien Mendels, was ihn in beträchtliche Nähe der Rassenlehre bringt. (Vgl. auch den Titel der zweiten Arbeit, die mir nur indirekt und folglich ungenügend aus einer in BSL X X X I X , [1938], S. 13ff., veröffentlichten Rezension bekannt geworden ist. Dieser Rezension entnehme ich u. a. noch, daß die Artikulationsbasis nach dem Typus des Kopfes und dem des Gesichtes variiere: Es gäbe einen labialen Typus, einen gutturalen Typus usw.) Man vergleiche den von ihm für den Sprachwissenschaftlerkongreß in Rom (1933) ausgearbeiteten Bericht über das Problem „Die gegenseitige Beeinflussung der Sprachen als Ursache der Neuerungen" (in: Atti del III Congresso dei Linguisti, Firenze 1935, S. 29ff.). Hier setzt er die Biologie (d. h. die Erblichkeit) an die Stelle der Physiologie, wenn er sich auf die Phonetik bezieht (für die Grammatik und den Wortschatz beruft er sich auf die „Verwandtschaft", für die Stilistik und Kultur auf das „Prestige"). Er spricht von väterlicher und mütterlicher Erblichkeit, um dann Behauptungen aufzustellen wie diese, daß die römischen Kolonisten nur Männer gewesen seien, die sich mit den eingeborenen Frauen in den verschiedenen Provinzen des Imperiums verheiratet hätten! Zur Vervollständigung der Informationen über die Lautgesetze müssen u. a. noch folgende Arbeiten herangezogen werden: ED. WECHSSLER, Gibt es Lautgesetze'1. (in: Forschungen zur romanischen Philologie. Festgabe für Hermann Suchier, Halle a. S. 1900, S. 349 ff.). Hier werden kritisch und mit vielen Einzelheiten die über dieses Problem geführten Diskussionen von ihren Anfängen an bis zum Jahr 1900 dargelegt; E. HERZOG, Streitfragen der romanischen Philologie. Band I : Die Lautgesetzfrage. Zur französischen Lautgeschichte, Halle a. S. 1904; OTTO JESPEBSEN, Linguistica (Selected Paper» in English, French and German), Copenhagen 1933 (enthält drei Aufsätze über die Lautgesetze, die in den Jahren 1886, 1904 und 1933 verfaßt worden sind); und A. PHILIPPIDE, Originea Rominilor I, Ia?i 1925, S. 371 ff. (Er betrachtet die Sprachgesetze im allgemeinen und nicht nur die Lautgesetze, obgleich diese den wichtigsten Platz einnehmen.) Ferner sei erwähnt: K . ROGGEB, Vom Wesen des Lautwandels, Leipzig 1934. Keinen Zweifel gibt es über den systematischen Charakter der Lautgesetze unter dem Blickpunkt der Regelmäßigkeit. Er ist für jeden offensichtlich, auch wenn die einzelnen Sprachwissenschaftler unterschiedlicher Meinung sind in bezug auf die Art und Weise, wie sie sich den Prozeß selbst beim Entstehen und bei der Verbreitung der Veränderungen, die die Laute der einzelnen Sprachen erfahren, vorstellen. Aber sowohl die Junggrammatiker wie auch ihre Gegner haben sich darin getäuscht, wenn sie die Regelmäßigkeiten dieser Veränderungen als Gesetze betrachten. Nach der marxistischen Definition wird unter Gesetz verstanden: „die notwendige Verbindung, die objektiv zwischen den Erscheinungen

Die romanische Sprachwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts

67

besteht, die innere wesenhafte Verbindung zwischen Ursache und W i r k u n g " . 1 Man erkennt sofort, daß nicht eines der sogenannten Lautgesetze dieser Definition entspricht. W e n n wir sagen, das offene betonte e im Spätlateinischen ist in zahlreichen romanischen Sprachen zu ie geworden oder das intervokalische lateinische l hat i m Rumänischen r ergeben, so ist damit kein Gesetz formuliert, weil e nicht die Ursache des ie ist, noch l die des r. Richtige Einschätzungen in bezug auf dieses Problem t r i f f t PÄTSCH, op. cit., S. 1 5 0 f f . Sie zeigt u. a. auf, daß die lautliche Seite der Sprache keine selbständige Existenz besitzt und folglich die Lautveränderungen nicht für sich allein studiert werden dürfen, denn oftmals sind die lautlichen Varianten eines Wortes tatsächlich lexikalische Varianten. Das rechtf e r t i g t die Auffassung einiger Sprachwissenschaftler, nach der jedes der entsprechenden W ö r t e r gemäß seiner Bedeutung seine eigene Geschichte hat, und daß auch die Phonologie, nicht nur die Phonetik, betrachtet werden muß usw. Die hier gegebenen

Informationen bezüglich der Lautgesetze zeigen,

daß

dieses Problem irgendwie nicht mehr aktuell ist, so daß auch prinzipielle theoretische Erörterungen darüber in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr erfolgt sind (vgl. die Erscheinungsjahre der letzten Arbeiten). I m allgemeinen

wird

mit „ L a u t g e s e t z e n " gearbeitet, selbst von ihren Gegnern, sobald dies notwendig ist, um die Stellung der Laute in irgendeiner Sprache im Vergleich zu ent sprechenden Lauten in der Ausgangssprache oder in einer genealogisch verwandten Sprache zu erklären. (Dies geschieht gewöhnlich in den Arbeiten der historischen Phonetik.) Ebenfalls wird sich auf sie berufen in den etymologischen Forschungen oder in denen anderer Natur, um irgendeine Etymologie zu bestätigen oder vorzuschlagen. Somit haben wir es mit einem Tatbestand zu tun, der weder vermieden noch bekämpft, sondern einfach nur als eine Notwendigkeit anerkannt zu werden braucht, die v o m streng praktischen Standpunkt aus erforderlich ist.

Die romanische Sprachwissenschaft

gegen Ende des 19.

Jahrhunderts

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die wissenschaftliche Betätigung auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft gegen Ende des vergangenen und zu Beginn unseres Jahrhunderts v o n dem K a m p f beherrscht wurde, der sich um die Schule der Junggrammatiker entsponnen hatte: Überzeugten

Anhängern

dieser Lehre standen, wie wir sahen, ebenso hartnäckige Gegner gegenüber, die die Junggrammatiker j e nach Temperament und Fähigkeit eines jeden auf verschiedene A r t bekämpft haben. Hauptziel der A n g r i f f e waren die „ L a u t g e s e t z e " , die von ihren Verfechtern an die Naturgesetze, an mechanische und blind wirkende Gesetze, angeglichen wurden. I n enger Beziehung zu diesem Problem — weil beide eine gemeinsame Herkunft hatten (die indogermanische Sprachwissenschaft) — stand die Methode der Junggrammatiker, die v o r allem historisch und vergleichend 1

„OöieKTHBHO cymecTByiomaH HeoÖxoflHMaH CBH3B Mewjiy HBJIBHHHMM, BHYTPEHHHH cymeCTBeHHaH CBH3b MejKfly HpilHHHOÖ H CJieSCTBHeM." (AKafleMHH Hayn CCCP. HHCTHTyT H3HK03H&HHH. OiOBapt pyccKoro H3bIIta, TOM I, MocKBa 1957, S. 727).

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

war. Auch gegen diese Methode hatten sich Stimmen der Unzufriedenheit und des Protestes erhoben, wenn sie auch nicht so zahlreich und gewichtig waren. Denn von dem Augenblick an, da wir die Entwicklung einer Sprache innerhalb eines bestimmten Zeitraumes studieren, macht sich das historische Herangehen von selbst erforderlich. Unter denselben Bedingungen kann ebenso nicht auf den Vergleich zwischen sprachlichen Gegebenheiten einer Sprache und denen anderer Sprachen verzichtet werden, selbst wenn eine einzige Sprache den Forschungsgegenstand bilden würde. Das ist natürlich um so weniger möglich, wenn sich der Linguist für mehrere Sprachen oder gar für eine gesamte Sprachgruppe interessiert. Der Verzicht auf die historisch-vergleichende Methode aber wird dann möglich, wenn der Linguist seinen Gesichtspunkt ändert und sich statt mit den historischen Phasen einer Sprache mit den gegenwärtigen Sprachgegebenheiten beschäftigt. Auf diese Weise nimmt die Zahl ausschließlich historisch orientierter Arbeiten ab, jedoch ohne daß sie ganz aufhören, da ja die Sprache eine historische Kategorie ist, das Produkt des ständig in Veränderung befindlichen gesellschaftlichen Lebens. Wissenschaftliches Verständnis für die gegenwärtigen sprachlichen Pakten kann es nur geben, wenn die vorangehenden Phasen der entsprechenden Sprache bekannt sind. Was das vergleichende Verfahren betrifft, so kann es, ja, so muß es auch in solchen Fällen angewandt werden, aber weder mit dem Ziel, die gemeinsame Ausgangssprache zu rekonstruieren, noch dem, mehrere historische Verbindungen zwischen den verwandten Sprachen zu entdecken. Es soll dadurch nur das Beobachtungsfeld erweitert und das tiefere Verständnis für die lebende menschliche Sprache, die im Grunde überall dieselbe ist, ermöglicht werden. Daher greift man oft auch zu Sprachen, die zu anderen Sprachfamilien gehören: Die Ähnlichkeiten sind um so interessanter, je mehr sich die Sprachen, die sie bieten, historisch voneinander unterscheiden. Das Vergleichen von Sprachen, die zu verschiedenen Sprachfamilien gehören, kann zur Entdeckung allgemeiner sprachlicher Entwicklungsgesetze führen, die zumindest theoretisch für alle Sprachen gültig sind. Die Gegner der Junggrammatiker eigneten sich eines dieser Postulate an und begannen, die Volksmundarten zu untersuchen, wobei sie zu Resultaten gelangten, die ich summarisch auf den vorangehenden Seiten dargelegt habe. So ist in unserem Fach allmählich eine andere Atmosphäre geschaffen worden, die es auch gegenwärtig noch zu einem guten Teil beherrscht. Ehe ich den gegenwärtigen Stand der Romanistik behandele, möchte ich noch über die Tätigkeit einiger Gelehrter sprechen, die das Terrain für das Aufkommen der neuen Strömungen, besser gesagt, des neuen Geistes vorbereitet haben. Ebenso soll der Einfluß kurz erwähnt werden, den bestimmte philosophische Strömungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf die Sprachwissenschaft im allgemeinen ausgeübt haben. Hugo Schuchardt Unter den Gelehrten, die wesentlich zum Fortschritt der Sprachwissenschaft beigetragen haben, befindet sich einer, der hoher Verehrung und unbegrenzter

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Hugo Schuchardt

Bewunderung würdig ist. Ich habe bereits von ihm gesprochen, als ich mich mit der Opposition gegen die Junggrammatiker beschäftigt habe. Wenn wir all das, was er im Verlauf seines ungewöhnlich langen und fruchtbaren Lebens für eine neue Einstellung zur Sprachwissenschaft getan hat, ernsthaft und aufmerksam betrachten, wäre es angebracht, ihn an jeder Stelle zu zitieren. Dieser Gelehrte ist HUGO SCHUCHABDT. 1 Seine gesamte Tätigkeit an dieser Stelle zu verfolgen, wo die wichtigsten Phasen in der bisherigen Geschichte unseres Faches vor unseren Augen vorüberziehen sollen, ist vor allem stofflich eine Unmöglichkeit: Einmal überschreitet die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Studien SCHUCHABDTS alle Grenzen, die wir auf diesem Gebiet gewöhnt sind, und zum anderen ist der größte Teil von ihnen in oftmals schwer erreichbaren periodischen Publikationen erschienen. Denn die Arbeit dieses Sprachwissenschaftlers unterscheidet sich von der anderer in erster Linie durch eine völlige Kontinuität und durch ihren fragmentarischen Charakter. Seine Auffassung von der Sprache als einer ununterbrochenen Einheit, die sich in ständiger Umbildung und Veränderung befindet2, hat SCHTJCHABDT in seiner eigenen Tätigkeit angewandt. Niemals sprach er in irgendeiner Frage sein letztes Wort. E r hatte erkannt, daß die sprachlichen Erscheinungen zu umfassend und zu vielförmig sind, um auf endgültige Formeln festgelegt zu werden. Daher kam er ständig mit neuem Material und neuen Gesichtspunkten 1

Er hat u. a. in Bonn studiert, wo als Professor für romanische Philologie FB. DIEZ wirkte. (Über die Verbindungen SCHUCHABDTS mit dem Begründer der romanischen Philologie s. L. KABL, Briefe von Fr. Diez an H. Schuchardt [1866—1871], ARo XVII

[1933],

S . 312FF.) H . SCHUCHABDT

war Privatdozent

in

Leipzig

(1870),

Professor in Halle a. S. (1873) und in Graz (1876), wo er bis 1900 im Amt war. Anläßlich seines Todes sind zahlreiche Artikel geschrieben worden, denen man interessante biographische Einzelheiten und vieles über seine wissenschaftliche Tätigkeit entnehmen kann. Folgende Artikel sind mir bekannt geworden: A . ZAUNES i n : Grazer Tagespost v o m 27. 4. 1 9 2 7 ; K . v . ETTMAYEB i n : G R M X V ( 1 9 2 7 ) , S . 2 4 1 F F . ; E . HEBZOG i n : R F i L

I

(1927),

S . 339FF.;

IOBGU

IOBDAST i n :

Arhiva X X X I V (1927), S. 209ff.; B . MIGLIOBINI in: La Cultura, V I (1926/27), S . 3 0 5 F F . ; R . R I E G L E B i n : A R o X I ( 1 9 2 7 ) , S . 2 7 0 F F . ; S . PU?CARIU i n : D a c o r V ( 1 9 2 7 / 2 8 ) , S . 2 4 1 Í F . ; A . G B I E B A i n : B D C X V I ( 1 9 2 8 ) , S . 76FF.; W . M E Y E B - L Ü B K E

in: Almanach der Wiener Akademie, Wien 1927, S. 247ÍF.; ELISE RICHTEB in: NS X X X V I

( 1 9 2 8 ) , S . 35FF., i n : A S N S C L I V (1928), S . 224FF„ und i n :

Neue

österreichische Biographie, I.Abteilung, Band VI, Wien 1929, S. 122FF. (Der zweite dieser Aufsätze ist sehr reich an biographischen Daten und mit viel Feingefühl und großem Verständnis für die menschliche Persönlichkeit SCHUCHABDTS

geschrieben);

M. ROQUES i n :

R o L I V ( 1 9 2 8 ) , S. 606FF.

Man

konsultiere

auch

die Vorreden L. SPITZEBS ZU Hugo-Schuchardt-Brevier 1922 (2. Auflage 1928); L. SPITZEB, Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I , München 1929, S. 357ff.; R . RIEGLEB, Hugo Schuchardt als Lehrer in: NS X X X (1922), S. 45ff.; H. STEINEB, ZU Hugo Schuchardts 80. Geburtstag in: ZRPh X L I I (1922), S. l f f . ; AMÉBICO CASTBO, Lengua enseñanza y literatura, Madrid 1924, S. 155FF. Vgl. auch M. VASMEB, Hugo Schuchardt. Zu seinem 100. Geburtstag in: AvPh V I (1942), S. 27fT. * „Die Sprache bildet eine Einheit, ein Kontinuum." (Brevier, S. 318) ,,. . . die Gesamtheit der Sprachen ist unerschöpflich, sie bildet, ganz abgesehen von einheitlichem oder mehrfachem Ursprung, ein Kontinuum" (S. 323).

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Kapitel I. Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

auf eine Sache zurück, indem er sie nicht nur im Widerspruch zu denjenigen erörterte, die er nicht überzeugt hatte, sondern auch — so könnte man sagen — im Widerspruch zu sich selbst. SCHUCHARDT hat nur ein einziges umfangreiches Werk geschrieben: Der Vokalismus des Vulgärlateins (3 Bände), Leipzig 1866—1868. Obgleich es ein Jugendwerk ist, wird es auch heute noch mit Nutzen konsultiert. Alle 770 Nummern seines Schriftenverzeichnisses sind Studien, Aufsätze, Rezensionen, Polemiken u. a., keine Bücher und natürlich auch keine Grammatiken, Wörterbücher oder Handbücher. So ist der Dienst, den L E O SPITZER der Wissenschaft erwiesen hat, als er anläßlich des 80. Geburtstages dieses Meisters eine Sammlung von dessen Arbeiten unter dem Titel Hugo-Schuchardt-Brevier. Ein Vademekum, der allgemeinen Sprachwissenschaft, Halle a. S. 1922 1 , veröffentlichte, ganz bedeutend. Bei der Einteilung, die SPITZER trifft, stützt er sich auf den Inhalt der Studien SCHUCHARDTS. Dadurch können der Reichtum und die Verschiedenartigkeit der behandelten Probleme ermessen werden. Die einzelnen Kapitel lauten: Der Lautwandel (über die Lautgesetze); Etymologie und Wortforschung (mit dem Unterkapitel „Sachen und Wörter"); Sprachmischung; Sprachverwandtschaft (Die Wellentheorie, Über die Klassifikation der romanischen Mundarten); Urverwandtschaft, Ursprung (Geschichtlich verwandt oder elementar verwandt?); Sprachursprung; Über allgemeine Sprachwissenschaft; Sprache und Denken; Sprachgeschichte und Sprachbeschreibung; Sprachwissenschaft im Verhältnis zu Ethnographie, Anthropologie und Kulturgeschichte; Sprache und Nationalität; Sprachpolitik und -pädagogik; Sprachtherapie; Über Wissenschaft im allgemeinen (Der Individualismus in der Sprachforschung).2 Betrachten wir nun einige Ideen SCHUCHARDTS. Ich habe bereits darauf hingewiesen, was er von den Lautgesetzen hielt, und brauche es nicht noch einmal zu wiederholen. Nur die Tatsache muß noch besonders hervorgehoben werden, daß er unzählige Male auf diese Frage zurückgekommen ist und immer wieder neue Argumente oder neue Gesichtspunkte anführte. So sagt er in seiner Arbeit Das Baskische und die Sprachwissenschaft3 (Brevier, S. 204ff.), daß die sogenannten 1

2

3

I m J a h r e 1928 erschien davon die erweiterte zweite Auflage ebendort (auch Vademekum ist in Vademecum verbessert worden). Man vgl. die Rezensionen von J . R O N J A T in: R L R L X I (1921/22), S . 4 0 9 f f . ; A. W A L L E N S K Ö L D in: NM X X I I I (1922), S. 150ff.; S. PUSJCARIU in: Dacor I I (1921/22), S. 702ff.; E . L E R C H in: ASNS C X L V (1923), S. 134ff.; E D . H B R M A O T in: Z R P h X L I V (1924), S. 122ff.; und X L I X (1929), S. 118; A. M E I L L E T in: R C H L X C V I (1929), S. 306, und in: B S L X X X (1930), S. 8 / 9 ; sowie I O R G U I O R D A N in: A r h i v a X X X V I (1929), S. 289ff. (andere Rezensionen zählt S P I T Z E R in der Vorrede zur 2. Auflage, S . 11, auf). Anläßlich seines 80. Geburtstages wurde er durch eine Festschrift geehrt, die den Titel trägt Miscellanea linguistica dedicata a Hugo Schuchardt per il suo 80° anniversario, Firenze-Ginevra 1922. F ü r das Verständnis der menschlichen und wissenschaftlichen Persönlichkeit SCHUCHARDTS verdienen die ebenfalls von SPITZER in R I E B X X I (1930) (der Separatdruck umfaßt 29 Seiten) veröffentlichten Briefe gelesen zu werden und dann der Aufsatz Der Individualismus in der Sprachforschung (Brevier, S. 416ff.) von SCHUCHARDT selbst. Die Arbeit ist 1925 geschrieben worden!

H u g o Schuchardt

71

Lautgesetze sehr bequem seien, weil sie die sprachlichen Untersuchungen (vor allem die etymologischen) erleichtern; deshalb verzichten die Gelehrten so schwer auf sie.1 Aber das bedeutet nicht, daß sich die Sprache nach Naturgesetzen richtet, die durch sich selbst bestehen, oder nach physiologischen Gesetzen, wenn auch die Sprache ein Vorgang ist und nicht eine „Sache" oder ein „Wesen". Sie richtet sich einzig und allein nach soziologischen Gesetzen, genauer gesagt, nach den Wirkungen, die diese auf die sprechenden Individuen haben. In jeder Sprache haben wir zu Beginn Individualstile, die sich mit der Zeit verbreiten und durch Nachahmung verallgemeinert werden. Die sprachlichen Neuerungen sind das Produkt eines sprechenden „Subjekts" und daher in höchstem Grade von diesem abhängig: Nicht nur die Umstände des äußeren Lebens, sondern auch die psychophysiologischen Besonderheiten des sprechenden Individuums, wie Temperament, Bildung, Alter, Geschlecht u. a., beeinflussen sie. Der Linguist indessen kann nur den momentanen Sprachenstand kennen, Wo sich also die Individualstile bereits verallgemeinert haben. S C H T T C H A B D T hat mehr als irgendein anderer versucht, den wechselhaften und zufälligen Charakter der Lautveränderungen darzulegen: die Ausspracheschwankung bei ein und demselben Individuum, die Verbreitung der sprachlichen Neuerungen in Form von Strahlen, das ununterbrochene „Werden" der Sprache, besonders der konkreten Rede, die die materielle Realisierung der Sprache ist, usw. Gerade hier läßt sich u. a. das Fehlen von Gesetzen (im Sinne der Junggrammatiker) beweisen, die, falls es sie gäbe, all diese Besonderheiten der menschlichen Rede beseitigen würden. Ebenso habe ich gezeigt, daß S C H U C H A E D T auf Grund seiner Sprachauffassung das Bestehen von Sprachgrenzen im strengen Sinne des Wortes leugnet. Von dem Augenblick an, da sich die Sprache in einer ständigen Bewegung befindet, können keine wirklich einheitlichen Sprachgemeinschaften gebildet werden: „Untermundart, Mundart, Dialekt, Sprache sind relative Begriffe", hatte er bereits im Jahre 1866 gesagt. (Brevier, S. 164.) Die Übergänge von der einen zur anderen sind auf Grund der unter den Menschen bestehenden Verbindungen langsam und fast unmerklich. S C H T J C H A R D T vergleicht sie mit den Wellen eines Gewässers, in das ein Stein geworfen wird: „Denken wir uns die Sprache in ihrer Einheit als ein Gewässer mit glattem Spiegel; in Bewegung gesetzt wird dasselbe dadurch, daß an verschiedenen Stellen desselben sich Wellencentra bilden, deren Systeme, je nach der Intensität der treibenden Kraft von größerem oder geringerem Umfange, sich durchkreuzen." (Brevier, S. 165.)2 1

2

6

„ N u n hat m a n da zwar mehr und mehr abgebaut, aber doch nur im Nebensächlichen und allzu behutsam; das alte Gerüst ist stehen geblieben, schon der Bequemlichkeit halber." (op. cit., S. 205) Oder weiter u n t e n : „ D a ß ihm das Lautgesetzbuch so unentbehrlich ist, wie dem Mathematiker die Logarithmentafeln, versteht sich v o n selbst; aber die Bequemlichkeit des Rechnens darf ihn zu keiner Verkennung der wahren Werte verleiten" (ebenda, S. 243); ferner auf S. 135: ,,. . . die Lautlehre ist nur eine Beigabe, die 'Lautgesetze' sind Wegmarken, uns durch den dichten Wald zu geleiten." Dieses Bild, an das S C H U C H A R D T im 3. B a n d des Vokalismus . . . (1868) gedacht hat, findet sich bei der Grundlage der sogenannten Wellentheorie, die v o n J O H A N N E S Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

72

K a p i t e l I . Die romanische Sprachwissenschaft bis 1900

Die Ansicht S C H U C H A R D T S (und die J. S C H M I D T S ) über den allmählichen, fast unmerklichen Übergang (gerade wie bei den Wellen eines Gewässers) v o n einer Mundart zur anderen usw. entspricht der Realität nur insofern, als es sich um die Differenzierungen i m Innern ein u n d derselben Sprache handelt. I m Fall der Übergänge v o n einer Sprache zur anderen, selbst zu einer verwandten, erscheinen klare Unterschiede, u n d die Wellentheorie m u ß der Stammbaumtheorie S C H L E I CHERS Platz machen, der die Ähnlichkeit zwischen zur selben Sprachfamilie gehörenden Sprachen mittels ihres gemeinsamen Ursprungs erklärt. Aus demselben Grund, d. h. auf Grund der Verbindungen jeder Art unter den Menschen, die, u m ihre materiellen u n d kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht auf politische Grenzen achten, werden die Sprachen unaufhörlich vermischt, d. h., sie beeinflussen sich gegenseitig. Diese Erkenntnis ist für S C H U C H A R D T SO wichtig, daß sie in seinem Werk auf Schritt und Tritt erscheint und ihn zu der Feststellung veranlaßte: ,,Es gibt keine völlig ungemischte Sprache." 1 (Brevier, S. 153.) Er

1

S C H M I D T entwickelt wurde in: Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen, W e i m a r 1872. — Bei dieser Gelegenheit m ö c h t e ich eine Feststellung M E Y E R - L Ü B K E S in R L i R I (1925), S. 11 ff., e n t k r ä f t e n . I n : S t a n d u n d Aufgaben der Sprachwissenschaft. F e s t s c h r i f t f ü r W . Streitberg, Heidelberg 1924, S . 588, h a t t e ich geschrieben, d a ß S C H U C H A R D T vor S C H M I D T die sogenannte Wellentheorie vorausgesehen h a t . Obgleich die Tatsache als solche u n b e s t r i t t e n ist, interpretiert M E Y E R - L Ü B K E meine Feststellung in dem Sinne, d a ß ich S C H M I D T gegenüber eine große Ungerechtigkeit begangen h ä t t e , durch den diese zur E r örterung stehende Theorie b e k a n n t geworden sei. I c h k a n n mich nicht besser verteidigen, als die E r k l ä r u n g e n a n z u f ü h r e n , die S C H U C H A R D T selbst ü b e r diesen P u n k t abgibt (Brevier, S. 431 ff.): „1868 (Vok. des Vulgärlat. I I I , 32 . . .) h a b e ich meine Theorie von der geographischen A b ä n d e r u n g zwar n u r angedeutet, aber deutlich, u n d sie 1870 z u m Gegenstand meiner Leipziger Probevorlesung (Über die Klassifikation der romanischen Mundarten) gemacht, der e —é durch Assimilation wurde (wie im muntenischen Dialekt, wo indessen die Erscheinung bei beiden Wörtern eintrat). W a r u m bewahrt párete, d a s sich u n t e r den absolut gleichen Bedingungen befindet, bis heute ät Die P h o n e t i k vermag dies nicht zu erklären, da es sich hierbei nicht u m eine Lauterscheinung handelt. Tatsächlich ist pereche in dieser F o r m in Tecuci ein W o r t , das aus der Schriftsprache durch die Kaufleute eingeführt worden war, die größtenteils aus anderen Ortschaften k a m e n u n d folglich nicht die Mundart jener Gegend sprachen: Die Bewohner der Vorstädte, d a n n die Bauern der b e n a c h b a r t e n Dörfer, die sich Kleider, Stiefel, Schuhe usw. k a u f t e n (sagt m a n doch in der volkstümlichen Redeweise o pereche de haine usw.), n a h m e n das zur Diskussion stehende W o r t in seiner F o r m aus der Schriftsprache auf, indem sie es d a n n a u c h auf andere Fälle (die weniger zahlreich als die hier erwähnten sind) verallgemeinerten. Die geographische Lage von Tecuci in der N ä h e des muntenischen Unterdialektes, der vom lautlichen Gesichtspunkt a u s so o f t m i t der Schriftsprache übereinstimmt, h a t die E i n f ü h r u n g der Variante mit -e begünstigt, was in der Volkssprache im Z e n t r u m u n d im Norden der Moldau nicht erfolgen konnte. B e i m zweiten Wort párete ist ä b e w a h r t geblieben, weil der Einfluß der Gemeinsprache sich nicht durchsetzen k o n n t e : Der durch diese Bezeichnung ausgedrückte Begriff ist echt volkst ü m l i c h u n d d a h e r weniger geeignet, einem Druck seitens der Gebildeten zu weichen. Wie ich o b e n gesagt habe, ist das hier erörterte pereche ein anderes W o r t als d a s alte päreche in d e m Sinn, d a ß es dies einfach ersetzt h a t . Die von mir schon in der ersten Ausgabe dieses Buches gegebene E r k l ä r u n g wird j e t z t indirekt, aber nicht weniger s t a r k b e k r ä f t i g t v o n G. P Ä T S C H , op. cit., S. 151, die, indem sie von einem Gedanken des Germanisten T H . F R I N G S ausgeht, feststellt: „ E i n Sonderfall entsteht d a n n , wenn die dialektale Entwicklung sich über ein gewisses Maß hinaus unterschieden h a t . I m Niederdeutschen wurde hs zu s, im Oberdeutschen dagegen zu les. I n diesen Fällen werden F o r m e n wie ses/selcs usw. nicht m e h r als phonetische Varianten, sondern als lexikalische D u b l e t t e n a u f g e f a ß t , u n d d a n n ist es allerdings möglich, daß jedes dieser Wörter seiner B e d e u t u n g g e m ä ß seine eigene Geschichte h a t u n d seine eigene Verbreitungssphäre e r l a n g t . "

14»

202

Kapitel III. Sprachgeographie

Diese Ursachen sind die Kontamination und die Volksetymologie. Hier einige Beispiele zur Illustrierung der Wirkung der Kontamination. In einigen Mundarten Frankreichs wurde lat. apis zu op, das seinerseits von einem älteren ap kommt. G I L L I É R O N meint und beweist nach meiner Ansicht in überzeugender Weise, daß p in diesen Wörtern durch eine Kontamination des Nachfolgers von lat. apis mit *wespa „Wespe" zustande gekommen ist. 1 Ich habe bereits das Dialektwort maisseau erwähnt, das aus vaisseau -f- mouche entstanden ist. Ebenso ist mouchette „Biene" in einzelnen Gebieten kein Diminutiv von mouche, sagt G I L L I É K O N , weil die Biene nicht kleiner als die Fliege ist (wenn wir vom ursprünglichen Sinn des Substantivs mouche ausgehen) und sich auch nicht zu diminutiven Benennungen hergibt (wenn wir annehmen, was nicht geleugnet werden kann, daß mouchette von mouche = mouche à miel „Biene" herzuleiten ist.) 2 Dieses Wort entstand aus mit ep < lat. apis kontaminiertem mouche : Zuerst hatten wir ein *mouchep, das umgebildet wurde in mouchette durch den Einfluß der Substantive auf -ette. Wie G I L L I É R O N feststellt, müssen wir ebenso in essaim „Schwärm" nicht einen Nachfolger des lat. examen sehen, dem es lautlich wie semantisch so gut ähnelt, sondern eine Ableitung von e.s< apis, genauer gesagt, der Anfangsteil dieses Wortes ist identisch mit es. In einigen dieser Fälle sind die von G I L L I É R O N gegebenen Erklärungen nur vom Gesichtspunkt des Gefühls der Sprecher aus richtig, nicht aber objektiv gesprochen: Dort, wo man noch es zur Biene sagt, ist es sehr wahrscheinlich, daß die Sprecher essaim als eine Ableitung von es fühlen. Eine sehr wichtige Rolle im Sprachleben und besonders in dem der lokalen Mundarten spielt die Volksetymologie, die eng mit der Kontamination verwandt ist. 3 Wenn G I L L I É R O N Z. B. sagt, daß der erste Teil von essaim mundartlich 1

2

3

Lat. vespa ist von *wespa beeinflußt worden, seinem Synonym in der Sprache der Franken, anders kann frz. guêpe nicht erklärt werden, dessen gu- ein E t y m o n mit w- voraussetzt. Daher läßt man als Ausgangspunkt weder das lateinische noch das fränkische Wort gelten, sondern ein nicht bezeugtes *wespa. Es ist notwendig und interessant, hier zu erwähnen, daß auch im Rumänischen muscâ „Fliege" für „Biene "gesagt wird. Soviel ich weiß (H. TIKTIN, Rumänischdeutsches Wörterbuch, S. 1024, col. 1, sagt nur, daß speziell die Imker diesen Ausdruck benützen), erscheint das Substantiv muscä „Biene" ausschließlich in der Form des Singulars und hat eine kollektive Bedeutung. Wenn im Frühjahr festgestellt wird, daß die Bienenkörbe gut mit Bienen bevölkert sind, sagen die Imker este musca multa anul acesta („dieses Jahr gibt es viel Bienen"). Über Volksetymologie s. z. B. LAZÄR ÇAINEANU, Cîteva specimene de etimologie poporanä romînà, Bucureçti 1883; A. PHILIPPIDE, Principii de istoria limbii, S. 106ff. ; IORGU I O R D A N , VRom (Juli 1923), S. 119ff.; W A L T E R V . W A R T B U R G , Zur Frage der Volksetymologie in: Homenaje ofrecido a Ramön Menéndez Pidal, Madrid 1925, Band I, S. 17 ff.; MARIE-ELISABETH HOUTZAGER, On conscions Sound and Sense-Assimilation, Amsterdam 1935 (mit Beispielen aus der englischen, deutschen, holländischen und schwedischen Sprache) ; J. ORR, L'étymologie populaire in: RLiR X V I I I (1954), S. 129ff. W.V.WARTBURG definiert sie so: „Die Volksetymologie ist die Gruppierung der Wörter nach Familien, wie sie vom Sprachgefühl des Volkes in einem gewissen Zeitpunkt vorgenommen wird." (loc. cit., S. 26.)

Die sprachgeographischen Arbeiten Jules Gilliérons

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es < apis lautet, kann die Erscheinung sowohl als Kontamination (des Nachfolgers von lat. examen mit es) wie auch als Volksetymologie interpretiert werden (wie ich weiter oben gezeigt habe, wo ich mich auf das Gefühl der Sprecher bezog). So geschieht es, daß in den Arbeiten G I L L I É R O N S , vor allem in L'Abeille, sich immer wieder auf diese Erscheinung berufen wird, um entweder bestimmte Veränderungen zu erklären, die bei alten Wörtern erfolgten, oder Neubildungen, die alle das Ziel hatten, Klarheit zu schaffen und die Konfusionen in den Volksmundarten zu vermeiden. Im Gegensatz zu zahlreichen Linguisten meint Grtx.iÉ K O N , daß die Volksetymologie nicht nur die seltenen, technischen oder fremden Wörter berührt, die, weil sie beim Sprecher keine Anhaltspunkte haben, allen möglichen Veränderungen unterworfen sind. Infolgedessen sieht er in der VolksA. D A U Z A T , La géographie linguistique, Paris 1922, S. 72ff., erörtert ebenfalls diese Erscheinung, für die er eine neue Bezeichnung vorschlägt: „homonymische Attrakt i o n " . Denn, so begründet er, es handelt sich in Wirklichkeit nicht u m „Etymologie", obgleich das Volk das besitzt, was C H . B A L L Y irgendwo „etymologischen I n s t i n k t " nennt, sondern nur um Attraktion, die ein Wort auf ein anderes ausübt, das mehr oder weniger lautlich ähnlich ist. Ebenso denkt D A U Z A T in seiner Arbeit Les patois, Paris 1927, S. 109, an einen anderen Ausdruck f ü r Volksetymologie, nämlich an „paronymische A t t r a k t i o n " . Dies ist auch passender, weil beide Wörter, die sich gegenseitig anziehen, keine Homonyme sind, d. h. völlig identisch, sondern Paronyme, nämlich in der Aussprache sehr ähnlich. K a u m ist die Volksetymologie vollzogen, werden sie zu Homonymen. Dennoch wird die alte Bezeichnung weiterhin fast ausschließlich gebraucht. E s muß präzisiert werden, daß D A U Z A T die Volksetymologie mit der Kontamination identifiziert, indem er in beiden ein einziges Phänomen sieht, aber mit verschiedenen N a m e n (er verwirft den letzten Ausdruck, weil er den Gedanken der K r a n k h e i t hervorruft, was ihm nicht richtig erscheint, da das Wort, das den Einfluß a u s ü b t , gesünder ist als das beeinflußte). Gegen die üblichen Bezeichnungen wandten sich auch andere Fachgelehrte, z. B. W. W Ü N D T (Die Sprache I , Leipzig 1911/12 [3. Auflage], S. 474/75), der es ersetzte durch „phonetisch-semantische Assimilation"; M . R U N E S , Actes du I L - e Congrès international de linguistes, Genève, 25—29 août 1931, S. 208 (in der Trennung der „gelehrten" von der ,,Volks"etymologie sieht dieser einen durch nichts gerechtfertigten Einfluß der Logik auf die Sprachwissenschaft und schlägt für „Volksetymologie", deren Ursache das B e d ü r f n i s nach Klarheit ist, den Namen „lexikalische Analogie" vor. W. v. W A R T B U R G , loc. cit., unterscheidet dagegen streng zwischen Kontamination und Volksetymologie. Zu den fünf Arten der Volksetymologie zählt er auch die synonymische Derivation, von der später in dem Abschnitt über das Argot die Rede sein wird. A. D A U Z A T h a t sich vom Gesichtsp u n k t der französischen Sprache aus speziell mit dieser Erscheinung befaßt in ARo X X I (1937), S. 201ff. Dieser Aufsatz t r ä g t den Titel L'attraction paronymique dans le français populaire contemporain. Bei der Hervorbringung der Volksetymologie wirkt, gerade wie im Falle der Assimilation, der Dissimilation usw., das Gesetz des Kräfteverhältnisses in dem Sinn, daß das bekanntere Wort mit der reicheren Familie das Wort anzieht, das sich in der Sprache isoliert befindet, und es verändert. Die Erscheinung vollzieht sich somit im Gedächtnis, aber es k o m m t auch die vage oder unvollständige Wahrnehmung des Wortes hinzu, das der Veränderung unterliegt. Nach E . B O I S A C Q , R B P h H V (1926), S. 535, ist der Ausdruck „Volksetymologie" erstmals von E . F Ö R S T E M A N N in einem Aufsatz in K U H N S Zeitschrift f ü r vergleichende Sprachforschung, Band I (1852), S. 1 ff., gebraucht worden.

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Kapitel I I I .

Sprachgeographie

etymologie keine „pathologische" Erscheinung. 1 Diese falsche Auffassung schreibt G I L L I É R O N ebenfalls den „Lautschiebern" zu, „qui ne voient guère dans la constitution de la langue que l'élément mécanique et ne se sont pas suffisamment préoccupés de l'autre élément, de l'élément psychologique" {L'Abeille, S. 224). Hier liegt die Quelle der zahlreichen von den Junggrammatikern begangenen Fehler, von denen die Trennung in „mots populaires" und in „mots savants" als der schwerste angesehen werden muß. 2 Die Unterscheidung dieser beiden Wortgruppen hat nur einen relativen Wert : Jeder sogenannte gelehrte Ausdruck muß gesondert erforscht werden. Die Volksetymologie hat in allen Entwicklungsphasen der menschlichen Sprachen gewirkt, indem sie vor der zerstörenden Wirkung der „Lautgesetze" eine große Zahl v o n Wörtern rettete. Sie will alles das klären, was in der Sprache dunkel ist, denn sie stellt Verbindungen zwischen den Wörtern her, die nur v o m semantischen, nicht jedoch v o m etymologischen Gesichtspunkt her verwandt sind (genauer gesagt, zu sein scheinen). „L'étymologie populaire est, si l'on veut, un parasite de l'étymologie phonétique d'un mot, mais un parasite qui peut supprimer en entier la vie de celle-ci (Ex. fermer), ou vivre collatéralement (Ex. dégoûter) et, alors, nous venons de voir quelle conséquence il peut résulter de cette intime association, de cet attelage sous le même joug (Ex. dégoûtant ébranlé, caduc)." 3 1

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Man vergleiche z. B. F . D E S A U S S U R E , Cours de linguistique générale, Paris 1916, S. 247: «L'étymologie populaire est u n phénomène pathologique; elle n'agit que dans des conditions particulières et n ' a t t e i n t que les m o t s rares, techniques ou étrangers, que les sujets s'assimilent imparfaitement.» I n der zweiten Auflage (ebenda 1923), S. 214, ist der erste Satz dieser Stelle weggelassen worden. Dennoch ergibt sich klar aus d e m Vergleich, den der A u t o r zwischen der Volksetymologie u n d der Analogie zieht, d a ß die hier erörterte Erscheinung weiterhin als etwas Unnormales b e t r a c h t e t wird, d e n n sie wird der Analogie gegenübergestellt «qui a p p a r t i e n t au fonctionnement normal de la langue». Diese Feststellung erinnert sehr an den Gedanken V Ö S S L E R S , d a ß die Unterscheidung zwischen «mots savants» u n d «mots populaires» q u a n t i t a t i v , nicht qualitativ ist. Pathologie et t h é r a p e u t i q u e verbales, I I I , S. 26. I n derselben Arbeit, S. 20ff., erklärt G I L L I É R O N fermer als eine semantische Ableitung von fer < lat. ferrum, nicht als Nachfolger des lateinischen firmare (gerade wie er essaim von es „ B i e n e " ableitet, nicht von lat. examen). Der Sprecher f ü h l t in der ersten Silbe von fermer das Substantiv fer nicht so sehr, weil es gleichlautend ist, sondern vor allem, weil das Schließen der Türen einst (oftmals auch h e u t e noch) mittels eines Eisennagels erfolgte (vgl. r u m . încuia < în + cui „Nagel"). Wir lesen in dieser Arbeit ferner, d a ß dégoûtant, das die „ L a u t s c h i e b e r " vom lat. gv^tum abgeleitet erachten (nämlich von dégoûter, dessen Grundwort gustum ist), in Wirklichkeit m i t dégouttant < goutte „ T r o p f e n " identisch sei (es existiert das Verb dégoutter „ t r o p f e n " ) . Die Sprecher sähen darin eine Ableitung von letzterem, nicht von goût (vgl. frz. deborder „über den R a n d h i n a u s t r e t e n " , das in einem gewissen Sinn a n r u m . dezgustätor erinnert), denn bei ihnen werde die Vorstellung eines Glases, Gefäßes usw. erweckt, von dem die Flüssigkeit tropfenweise h e r a b l ä u f t . Auch andere W ö r t e r erklärt G I L L I É R O N in der hier gezeigten Weise, so z. B. wird in Pathologie et t h é r a p e u t i q u e verbales IV, S. 124ff., maison, das in den M u n d a r t e n „ K ü c h e " bedeutet, von maie „ B a c k t r o g " abgeleitet (folglich maison = pièce où est la maie). Diese Etymologie n e n n t er eine französische u n d setzt ihr die lateinische entgegen. U n d in der Vorlesung, die ich im J a h r e 1925 besuchte, b e t r a c h t e t e G I L L I É R O N adorer vom semantischen Ge-

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Hier einige Beispiele: Lat. cubare „liegen" wurde nach GILLIÉBON ZU frz. couver „brüten", weil es in die Familie v o n ovum „ E i " eingereiht worden wäre, und zwar in dem Augenblick, als intervokalisches b zu v verändert wurde. D e n Beweis würden wir in der Tatsache haben, daß ovare in allen Gegenden fehlt, wo cubare bewahrt blieb (vgl. jedoch W . MEYER-LÜBKE, Romanisches Etymologisches Wörterbuch, Nr.2351 und 6128, wonach im Provenzalischen coar neben ovar zu finden ist). Von den alten Bezeichnungen der Wochentage, Komposita mit di-, blieb in einigen Gegenden Frankreichs nur dimyèk(— dimercre), alle anderen sind verlorengegangen, da sie durch die entsprechenden Formen aus der Gemeinsprache ersetzt wurden mit am Ende hinzugefügtem di. Der Grund, weshalb bis heute dimyèk allein lebt, ist nach GILLIÉKON die Volksetymologie : Dieses Wort ist mit demi in Verbindung gebracht worden, dem es sehr ähnlich ist, auch v o n der Bedeutung her, weil Mittwoch die „Mitte" der Woche ist. Das literarische absinthe lautet in einigen Mundarten herbe sainte, was die Gegner der Sprachgeographie geleugnet haben (sie lachten auf Kosten von GILLIÉKON und EDMONT, die an alle Witze glauben würden). W e n n man die mundartlichen Varianten des frz. herbe verfolgt, so stellt m a n fest, daß die Volksetymologie herbe sainte — absinthe nur dort existiert, wo herbe wie arb gesprochen wird und wo durch falsche Regression, wie sich GILLIÉRON ausdrückt, oder durch Überentäußerung 1 , wie andere sagen, ab als arb interpretiert werden kann (vgl. arbre, das zu abr wurde).

1

sichtspunkt aus als Gegensatz zu abhorrer (nämlich ad -f orer neben ab + orer-. Die Aussprache von orer ist völlig identisch mit der von horrer), d e n n sonst, so sagte er, könne m a n nicht verstehen, wie m a n zu Konstruktionen wie «j'adore les huîtres» u. a. gelangte. I n der gleichen Vorlesung erklärte er die so geläufige Bed e u t u n g des A d j e k t i v s fruste „abgerieben", „abgescheuert" ( < ital. frusto „geb r a u c h t " ) mit Hilfe von rustre „ L ü m m e l " : F ü r die Sprecher ist fruste eine semantische Ableitung von rustre. (Auch J . VENDRYES, Le langage, Paris 1 9 2 1 , S. 2 3 2 , h a t sich mit diesem W o r t beschäftigt, über das er folgende kluge Bemerkungen m a c h t e : «L'adjectif fruste ne se disait à l'origine que d'une monnaie d o n t l'effigie était effacée ; monnaie fruste a été compris comme désignant une monnaie grossièrement frappée, dépourvue d ' a r t et de fini. P a r extension le m o t s'est dit d ' u n h o m m e grossier, sans culture, rude. C'est u n f a u x sens qui a prévalu, favorisé peut-être par une vague similitude de sons avec les m o t s rustre et rustaud. » Dieses W o r t ist auch ins Rumänische gelangt, wo es in d e m gleichen Sinne gebraucht wird wie in d e m von VENDBYES in der F u ß n o t e zu S. 2 3 2 zitierten S a t z : „L'ensemble (es handelt sich u m das P o r t r ä t eines Helden des 1. Weltkrieges) est solide, dominateur et f r u s t e . " Manchmal werden solche Volksetymologien schriftlich fixiert. GILLIÉBON zitiert aus einem Zeitungsartikel, dessen Verfasser ein in der T a t gebildeter Mensch war, den Satz les maisons se sèment sur la pleine, wo se sèment (von semer „säen") f ü r s'essaiment (von essaimer „schwärmen") steht. D a ß der Begründer der Sprachgeographie theoretisch recht h a t , beweist das Vorhandensein einiger ähnlicher Erscheinungen in jeder Sprache. W a s jedoch die vorgeschlagenen konkreten Erklärungen f ü r die bis jetzt aufgezählten W ö r t e r betrifft, so können sie bezweifelt u n d demzufolge b e k ä m p f t werden (vgl. das, was im T e x t über die Areale von lat. ovare u n d cubare gesagt wird). So wird gewöhnlich zu dieser Erscheinung gesagt: W e n n einem L a u t der Schriftsprache im Dialekt ein anderer entspricht, der als „nicht k o r r e k t " b e t r a c h t e t wird, so sind die Sprecher versucht, die falsche Aussprache a u c h dort zu berichti-

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Kapitel III. Sprachgeographie

Der etymologische Sinn arbeitet bei den Sprechern mit solcher K r a f t , daß es ihm gelingt, eine Anzahl von Wörtern unter dem Einfluß der Volksetymologie nach einer bestimmten Richtung hin zu verändern, damit sie andere nach sich ziehen, die sich unter gleichen Bedingungen befinden. 1 So wurden durch ihre Annäherung an fumée und deren Wortfamilie die Wörter femer ( < lat. *fimare) und femier ( < lat. *fimarium)2 zu fumer „düngen" bzw. furnier „Düngerhaufen". Von hier aus hat sich die Umbildung des e in M auch auf andere Wörter verbreitet, die den vorangehenden nur dadurch ähneln, daß sie ein e haben, dem ein / vorausgeht und ein m folgt. So erklärt sich z. B. das Dialektwort fumelle3 statt femelle. GILLIÉRON charakterisiert die Volksetymologie und ihre Einwirkung auf die menschliche Sprache wie folgt : „L'étymologie populaire épie les mots, les épluche, son visa est nécessaire pour qu'un mot parvienne jusqu'à nous, et souvent elle en modifie la destination." (L'Abeille, S. 230.) 4 Was ich bis jetzt über die Dialekte gesagt habe, ist auch f ü r die Schriftsprache gültig. Die Unterscheidung, die gewöhnlich zwischen der volkstümlichen Rede und der Schriftsprache getroffen wird, stützt sich überhaupt nicht auf die Wirklichkeit, ebenso wie es zwecklos ist, die „mots savants" von den „mots populaires" zu unterscheiden. In dem Augenblick, in dem ein Wort in den Wortschatz einer Sprache eingetreten ist, unterliegt es denselben Veränderungen wie alle anderen Wörter, ohne Rücksicht auf sein Alter. Außerdem kommt es sehr oft vor, daß irgendeine Erscheinung sowohl zur „gelehrten" als auch zur „erbwörtlichen" Phonetik gehört. In einem solchen Fall würde uns die hier erwähnte Unterscheidung in große Bedrängnis bringen. Daher h a t GILLIÉRON recht, wenn er in L'Abeille, S. 289, fordert: „Cessons de considérer la langue littéraire comme d'une essence supérieure et comme étant en dehors des atteintes de la loi commune aux parlers populaires." Auch die Schriftsprache strebt nach Klarheit, sogar in einem größeren Maße als die Dialekte ; deshalb k ä m p f t sie auch mit aller K r a f t gegen die

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gen, wo es nicht nötig ist. Man vergleiche z. B. rum. chijtea < türk. kjufté, in Muntenien verbessert zu piftea, weil chi als mundartliche Variante zu pi betrachtet wird. Vgl. E . L E R C H , Hyperkorrekte Sprachformen in: AGPs CV ( 1 9 4 0 ) , S. 4 3 2 F F . Im Deutschen wird diese Erscheinung gewöhnlich mit „Hyperkorrektheit" (ins Französische übersetzt von E D . P I C H O N mit „surcorrection"), seltener mit „Überentäußerung" bezeichnet. Ich glaube, daß wir uns hier einem wirklichen Gesetz gegenüber befinden, das an die von G I L L I É R O N bekämpften Gesetze der Junggrammatiker erinnert. Von fimum „Mist" Andere Sprachwissenschaftler meinen, daß es sich hier um eine rein lautliche Erscheinung handele (Assimilation) : f und m sind labiale Konsonanten und haben daher dàs e in einen labialen Vok^l (an der Aussprache des ü sind auch die Lippen beteiligt) verwandelt. Eine in vieler Hinsicht ähnliche Veränderung wie diese weist rum. (mundartlich) fomeie auf, das von fämeie (< lat. familia) herkommt und ebenso durch Assimilation geformt wurde (die Konsonanten f und m bewirkten, daß ä auch mit den Lippen artikuliert wurde, was zur Entstehung eines labialen Vokals führte, nämlich zu ö). Zahlreiche rumänische Beispiele hinsichtlich der Volksetymologie erörtern und erklären V . B O G R E A in: Dacor II (1921/22), S.437ff., und IV (1924-1926), S.892ff„ und I O R G U I O R D A N , Etimologii populäre in: Arhiva X X X I X (1932), S. 34ff.

Die sprachgeographischen Arbeiten Jules Gilliérons

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lautlichen und semantischen Kollisionen an. Tatsächlich erweist sie sich der Homonymie gegenüber weniger empfindlich, oder besser ausgedrückt, sie scheint den v o n der Homonymie auferlegten therapeutischen Operationen weniger ausgesetzt zu sein, weil sie über zahlreichere Mittel zu deren Bekämpfung verfügt. 1 Dagegen leidet sie auf Grund des großen Reichtums an Begriffen, mit denen ein Gebildeter arbeitet, mehr als die Mundarten an semantischer Hypertrophie. Diesen „drohenden Feinden" gegenüber griff die französische Schriftsprache in erster Linie auf die Hilfe der lateinischen Sprache zurück. Ihr K o n t a k t mit dieser war immer lebendig gewesen, vor allem aber seit der Renaissance. 2 Die lateinische Sprache hat der französischen nicht nur die notwendigen Elemente zur 1

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«La langue littéraire possède, à côté de la langue parlée, une langue écrite pleine de traditions étymologiques — légitimes ou illégitimes — qui constitue en quelque sorte u n e a u t r e vie linguistique, tolérant des phonèmes proscrits par la phonétique de la langue parlée, en même t e m p s q u ' u n réservoir où celle-ci peut se régénérer et se prémunir des accidents qui la menacent.» (Pathologie et t h é r a p e u t i q u e verbales I I , S. 16.) Die Schriftsprache ist konservativer, was die G r a m m a t i k u h d die Phonetik betrifft, nicht jedoch hinsichtlich des Wortschatzes, der sich im Gegenteil deswegen freier bewegt, weil der erreichte F o r t s c h r i t t auf allen Gebieten der materiellen u n d geistigen K u l t u r neue Bezeichnungen f ü r Gegenstände u n d Begriffe verlangt, die im Leben des Menschen als logisches R e s u l t a t dieses Fortschritts aufgetaucht sind. Vgl. f ü r verschiedene Aspekte der Schriftsprache u. a. T r a v I, S. 15ff. E s ist wohl eine von keinem Forscher bestrittene Tatsache, daß zwischen dem Französischen u n d dem Lateinischen im Verlauf der Geschichte der französischen Sprache ständig ein lebendiger K o n t a k t bestand, dessen I n t e n s i t ä t jedoch in den einzelnen J a h r h u n d e r t e n gemäß den gesellschaftlich-geschichtlichen Gegebenheiten verschieden war. I m Précis de grammaire historique de la langue française, Paris 1956 (4. Auflage), von F.BBUNOT u n d CH.BBUNEAU heißt es: «Dès le début de notre histoire, la langue française a e m p r u n t é au latin des m o t s de civilisation, et nous n ' a v o n s jamais cessé de faire appel à notre langue-mère, soit pour des m o t s nouveaux, soit pour des acceptions nouvelles» (§ 198, S. 151). Seit der karolingischen Renaissance sind diese E n t l e h n u n g e n sichtbar vollzogen worden. Gerade weil n u n die Bemühungen einsetzten, zu den F o r m e n des klassischen Lateins zurückzukehren u n d das verwilderte Latein zu vermeiden, wurden sich die Sprecher der Volkssprache in der Galloromania des Eigencharakters des Französischen gegenüber dem Latein besonders b e w u ß t . Vgl. H . BERGER, Die Lehnwörter in der französischen Sprache ältester Zeit, Leipzig 1899. Besonders viele Latinismen wurden vor dem Zeitalter der Renaissance im 14. u n d 15. J a h r h u n d e r t ins Französische ü b e r n o m m e n . Die Übersetzung gelehrter lateinischer Werke ins Französische förderte diese Ü b e r n a h m e sehr. Zahlreiche lateinische Wörter, die in jener Zeit ins Französische eindrangen, setzten sich allmählich auf K o s t e n der ererbten lateinischen Wörter durch u n d sprengten teilweise im Französischen bes t i m m t e Wortfamilien, da auf Grund der einschneidenden L a u t Veränderungen, die das Französische im Laufe der J a h r h u n d e r t e erfahren h a t t e , das ursprünglich gelehrte Lehnwort sich oftmals lautlich weitgehend von den W ö r t e r n unterschied, die etymologisch den gleichen Ausgangspunkt besaßen, sich allerdings „erbwörtlich" entwickelt h a t t e n . So steht père lautlich nicht mehr in einem unmittelbaren Zus a m m e n h a n g m i t dem A d j e k t i v paternel, oder maudire läßt k a u m m e h r an malédiction erinnern. D a s begrifflich Zusammengehörige wurde in diesen u n d vielen anderen Fällen nicht mehr durch ähnliche L a u t u n g gestützt. Vgl. W . v. WARTBURG, E i n f ü h r u n g in Problematik u n d Methodik der Sprachwissenschaft, Halle 1943, S. 173ff., u n d Évolution et s t r u c t u r e de la langue française, Berne 1950

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Kapitel III. Sprachgeographie

Bereicherung des Wortschatzes zur Verfügung gestellt, sondern auch die Waffen, mit denen sie jene von der gesamten Welt bewunderte Klarheit erreichen konnte. Außer der lateinischen Sprache hat sich die französische Schriftsprache in ihrem Kampf gegen lautliche und semantische Konfusionen auch der Mundarten bedient. In bezug auf diese Frage unterscheidet sich die Auffassung G i l l i é b o n s wiederum von der traditionellen. Es ist bekannt, daß das Vorhandensein der dialektalen Wörter oder Formen in der Schriftsprache gewöhnlich mit Hilfe der Methode „Wörter und Sachen" erklärt wird 1 . Zugleich mit den verschiedenen Gegenständen, die die Hauptstadt aus der Provinz einführt, kommen die Namen der Gegenstände mit. Eine solche Erklärung wurde den Wörtern avoine und foin gegeben. Das erste leitet sich ab von lat. avêna, das andere von lat. fënum. Nach den „Lautgesetzen" der französischen Gemeinsprache müßten diese Substantive aveine lauten (so finden wir es auch in den alten Texten), bzw. fein (vgl. plein < •plénum, pleine < plena u. a.). Die Ersetzung der „regelmäßigen" Entwicklung ei durch oi wäre das Produkt des Einflusses der Dialekte jener Gebiete, wo e unter den aufgezeigten Bedingungen zu oi wurde. Darunter befinden sich auch die Mundarten Burgunds. Da diese Provinz Paris ständig mit Hafer und Heu belieferte, meint W. Meyee-Lübke (Grammatik der romanischen Sprachen I, S. 104, § 89), hätten sich deswegen die speziell burgundischen Benennungen dieser zwei Handelsartikel mit der Zeit in der Sprache von Paris durchgesetzt, indem sie endgültig die alten Formen mit ei verschwinden ließen. G i l l i é r o n wollte diese Erklärung, über die er sich lustig machte 2 , nicht gelten lassen und schlug in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Sprachgeographie, wie ich sie auf den vorangehenden Seiten dargelegt habe, eine andere vor. Die Ursache für die Ersetzung des ei durch oi in avoine und foin sowie in moins < minus, das Meyer-Lübke unerklärt läßt, sei die Homonymie. Das alte aveine wurde mit veine verwechselt (l'aveine, s'aveine, d. h. sa aveine statt des schriftsprachlichen son av- wurden genau wie la veine, sa veine ausgesprochen), fein mit fin, meins mit main, maint usw. 3 Diese Veränderung erfolgte gerade in der Zeit, als auf dem französischen Sprachgebiet bei den Wörtern von der Art der hier erörterten, Varianten mit ei

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3

(4. Auflage), S. 141 ff. ; S. U l l m a n n , Précis de sémantique française, Berne 1952, S. 128ff. ; V. BR0NDAL, Le français, langue abstraite, Copenhague 1936. Vgl. Kap. I dieses Buches, S. 84ff. «Quelle raison pouvait avoir la langue de Paris d'abandonner sa tradition phonétique, sa tradition légale (pour foin et pour avoine, parce que Paris tirait son 'foin' et son 'avoine' de la Bourgogne!), elle, qui, à l'époque où se seraient produits ces emprunts, était consciente de sa supériorité et de l'infériorité des patois congénères? Troquer l'habit pour la blouse quand on va se présenter à la cour?» (L'Abeille, S. 2 0 2 / 2 3 . ) A. Dauzat (Histoire de la langue française, Paris 1 9 3 0 , S. 1 0 2 , Fußnote 1) sagt, daß sich die Erklärung Meyeb-Lübkes auf keine Tatsache stütze und zugleich unwahrscheinlich sei. Dagegen wisse man jetzt sicher, daß sich Paris mit Heu aus den Gegenden Poissy, Pontoise, l'Ile Adam u. a., nicht aus Burgund versorgte. C. B. Lewis (RBPhH I X [ 1 9 3 0 ] , S. 8 0 1 ff.) vertritt die Ansicht, daß oi, nicht ei regelmäßig sei. Aber er hat nicht recht (s. ZRPh LVI [1936], S. 188). G i l l i é b o n sagt nicht, mit welchem Wort meins homonym geworden wäre, aber er gibt als Beispiel einen Satz, der so gebaut ist, daß er zeigt, welche Verwechslungen

Die sprachgeographischen Arbeiten Jules Gilliérons

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und mit oi nebeneinander bestanden hatten (vgl. die gegenwärtigen français, japonais usw. neben danois, suédois usw., die alle als Endung das Suffix -iscus haben, dann François und français, denen ein und dasselbe Wort zugrunde liegt). Deshalb verwirft G I L L I É R O N auch die rein phonetische Erklärung, die andere vorgeschlagen haben, nämlich daß ei > oi auf Grund der labialen Laute (v, f, m) vor ei verändert worden sei : Die Assimilation an diese hätte ergeben, daß ei zu oi wurde (o wird unter Teilnahme der Lippen gesprochen wie labiale Konsonanten). Wenn dem so wäre, warum haben dann bis heute so viele Wörter das alte ei bewahrt, bei denen diesem Diphthong Labiale vorausgehen ? 1 Somit bedurfte in dem Fall, der uns hier beschäftigt, die Schriftsprache nicht der Hilfe der Dialekte, denn sie fand in sich selbst die Möglichkeit, aus der Verlegenheit herauszukommen. Daraus folgt indessen nicht, daß G I L L I É R O N den Beitrag der Mundarten in dem Kampf leugnet, den die Schriftsprache der Klarheit und Ordnung wegen führt. Im Gegenteil, er gewährt den „patois" auch von diesem Gesichtspunkt aus die gebührende Aufmerksamkeit. Was der Begründer der Sprachgeographie bekämpft, ist die Übertreibung des Faktors „Sache" bei der Erklärung solcher Erscheinungen, wie sie hier gezeigt wurden: Die Schriftsprache nimmt von den Dialekten jedes Element auf, das ihr in ihrem Bestreben nützen kann, so verständlich wie nur möglich zu sein. Dabei ist es gleichgültig, ob die volkstümlichen Wörter mit den entsprechenden Gegenständen zusammen kommen oder nicht. G I L L I É R O N neigt eher zu der Meinung, daß die „realen" Motive in Verbindung mit den „Sachen" bei solchen Fragen keine allzu große Rolle spielen.

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bei der Aufrechterhaltung des ei in den aufgezeigten Fällen entstanden wären: le cheval mange s'aveine et aussi du fein fin mais meins (d. h. le cheval mange son avoine et aussi du foin fin, mais moins). L E O J O B D A N , Altfranzösisches Elementarbuch, Bielefeld-Leipzig 1923, S. 74/75, n i m m t dieses Problem wieder auf und versucht dafür eine rein lautliche Lösung zu geben. E r meint, daß m avoine, foin u n d moins ei durch oi wegen der vorangehenden Labial^ ersetzt worden sei. Wir wissen indessen, daß es noch Wörter gibt, bei denen ei sich bewahrt hat, obgleich es sich genau unter den gleichen Bedingungen befand. Diese sind mène (afrz. meinet) < lat. minât, peine < poena und veine < vena. Das erste erscheint häufig in altfranzösischen Texten unter der F o r m moine, folglich unterlag es auch den erörterten Veränderungen. Wenn aber die Schriftsprache mène bevorzugt hat, so wegen des Infinitivs mener und wegen anderer endungsbetonter Formen. Ebenso verhält es sich mit peine, das als Variante poine h a t : hier hat zugunsten von ei das lat. poena eingewirkt, denn es handelt sich u m einen religiösen Ausdruck (die Strafen, die dem durch Sünde Schuldigen auferlegt werden), und die offizielle Sprache der katholischen Kirche war immer das Latein. Was veine betrifft, das von Anfang an bis heute keine Variante mit oi aufweist, so meint J O R D A N , daß wir es hier mit einem technischen Ausdruck aus der Ärztesprache, also mit einer gelehrten Bezeichnung zu t u n haben, die in dieser Eigenschaft von den üblichen „Lautgesetzen" abweicht. G . R O H L F S stimmt dieser Erklärung in seiner Rezension in L g r P X LV I (1925), col. 297, mit gewissen Verbesserungen zu. Auch W. v. W A R T B U R G (Französisches Etymologisches Wörterbuch I, S. 187, col. 2) bezweifelt, daß G I L L I É R O N recht h a t , indem er sich auf die Lage in den anderen romanischen Sprachen u n d sogar in einigen französischen Dialekten beruft, die diese Homonymie geduldet haben und noch dulden (über den Wert dieses Arguments s. die etwas später geführte Diskussion).

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Kapitel I I I .

Sprachgeographie

Kritik der Theorien Gilliérons Nachdem ich die Prinzipien der Sprachgeographie und die Methoden dargelegt habe, die G I L L I É R O N bei der Interpretation des A L F anwandte, soll nun gezeigt werden, wie die Fachleute die Arbeiten dieses Gelehrten aufgenommen haben. E s i s t bereits gesagt worden, daß ihm die meisten französischen Linguisten von Anfang an feindlich gesonnen waren. An ihrer Spitze stand A. T H O M A S , der in J S 1904, S. 89ÎT.1, eine scharfe Rezension zu dem französischen Sprachatlas veröffentlichte. Danach kommen M. G R A M M O N T , I F X V I (1904), Anzeiger, S. 12ff. (vgl. auch R L R X L V I I I [1905], S. 377ff.), E. B O U R C I E Z , J . R O N J A T u n d G. M I L L A R D E T . Letzterer verfaßte u. a. ein sehr umfangreiches Buch mit dem Titel Linguistique et dialectologie romanes. Problèmes et Méthodes, MontpellierParis 1923, in dem er, obgleich er sich ganz allgemein mit den in unserem Fach angewandten Methoden in bezug auf alle Teile der Grammatik (Phonetik, Morphologie, S y n t a x usw.) beschäftigt, als Hauptziel die Bekämpfung der Sprachgeographie verfolgt, wie sie v o n G I L L I É R O N und seinen französischen Schülern 0 . B L O C H , C H . B R T J N E A U , A. T E R R A C H E R vertreten wird. 2 Einzelne Einschätzungen 1 2

Wieder abgedruckt in d e m Sammelband dieses A u t o r s N o u v e a u x essais de philologie française, Paris 1904, S. 346ff. Das Buch von M I L L A R D E T wurde rezensiert von S. P U S C A R I T J in Dacor I I I (1923), S. 827ff. ; E . B O U R C I E Z in R C H L X C (1923), S. 1 4 5 F F L ; O . D E N S U S I A N U in GS I (1923/24), S. 150ff.; J . R O N J A T in R L R L X I I I (1925), S. 152ff.; O . J . T A L L G R E N in N M X X V I (1925), S. 185ff., u. a. Vgl. auch N . M A C C A R R O N E in R L i R V I (1930), S. 20ff., sowie den des Lobes vollen Aufsatz, den J . F E L L E R in R B P h H V (1926), S. 759ff., veröffentlicht h a t . (Unter dem allgemein gehaltenen Titel Quelques aspects récents de la philologie r o m a n e en F r a n c e erörtert der Autor mehrere Werke, d a r u n t e r a u c h dieses.) Seitens der Angegriffenen a n t w o r t e t e A. TERR A C H E R , Géographie linguistique, histoire et philologie i n : B S L X X I V (1923/24), S. 259ff. Darauf erwiderte M I L L A R D E T in R L R L X I I (1923/24), S. 1 ff. (des Sonderdrucks). Diese Diskussion besitzt besonderes Interesse, weil sie, wenn wir die persönlichen u n d rein polemischen F r a g e n beiseite lassen, die der objektivste Wissenschaftler anscheinend nicht vermeiden k a n n , vieles betreffs der Sprachgeographie klärt. E s m u ß herausgestellt werden, d a ß M I L L A R D E T mit sprachgeographischen Arbeiten begann, somit irgendwie als Schüler G I L L I É R O N S . Daher möge es uns nicht überraschen, d a ß die besten Teile seines Buches diejenigen sind, in denen er als Anhänger (oder ehemaliger Anhänger) dieser Disziplin spricht. E r b e k ä m p f t die Sprachgeographie G I L L I É R O N S mit seiner eigenen, die in großem Maße auch die G I L L I É R O N S selbst ist. Wegen seiner Auffassung von der Phonetik, die er sehr stark überbewertet, wegen der Verteidigung, die er d e r vergleichenden Methode angedeihen läßt, wie sie E . B O U R C I E Z u n d W . M E Y E R - L Ü B K E v e r t r a t e n , sowie auch wegen anderer Gesichtspunkte gehört M I L L A R D E T eher zur Schule der J u n g g r a m matiker. I c h halte es f ü r notwendig, kurz die nicht nur k o m p e t e n t e n , sondern auch sehr objektiven Einschätzungen A. M E I L L E T S in B S L X X I V (1923/24), S. 80ff., hinsichtlich dieses hier erörterten Buches zu umreißen. E r charakterisiert es als „eine A r t P a m p h l e t gegen die Ansprüche der Sprachgeographie". M I L L A R D E T bringt, so m e i n t M E I L L E T , genügend neue u n d somit interessante Beobachtungen, aber er läßt sich zu s t a r k von einem polemischen Geist leiten. B e s t i m m t e Verdienste G I L L I É R O N S werden in diesem Buch zwar a n e r k a n n t , aber n u r mit Vor-

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Kritik der Theorien Gilliérons

durch die Gegner Gilliérons sind von einer Schärfe, die Verdacht erwecken, besonders wenn wir der Tatsache Rechnung tragen, daß zwischen den Gegnern und dem Begründer der Sprachgeographie persönliche Reibungen bestanden. So schreibt z. B. M. G R A M M O N T in RLR X L V I I I (1905), S. 377, folgendes : „Or, si nous avons fait voir (Indogermanische Forschungen XVI, Anzeiger, S. 12ff. (sic!)) quels services peut rendre cet atlas et quelle est l'étendue de ses services, nous n'avons pas moins nettement montré que pour ce qui est des mots et de la forme des mots tout doit être considéré a priori comme faux. Rien ne saurait être accepté qu'après une minutieuse vérification." Ein anderes Mal sagt er in der gleichen Zeitschrift, LIV (1911), S. 323: „Quant à la géographie linguistique, dont on fait grand tapage, ce n'est pas une discipline nouvelle : ce qui est nouveau, c'est l'abus qu'on en fait aujourd'hui." Ebenso äußert G. M I L L A R D E T in RLR L X I I (1923-24), S. 168: „II (Bourciez) s'est donc gardé d'accepter sans réserves la théorie brutale de l'homonymie et du polysémantisme qui fait le fond de la doctrine de M. Gilliéron et de son école, doctrine des exagérations de laquelle M. Bourciez a fait justice ailleurs (RCHL 1923, p. 145 ff.), et dont il déclare une fois pour toutes dans sa préface 1 qu'il la connaît, mais ne s'embarrassera pas." An einige der hier erwähnten Kritiker dachte wahrscheinlich A. M E I L L E T , als er sich in BSL X X (1916), S. 65ff., mit Pathologie et thérapeutique verbales I und I I beschäftigte und es für nötig erachtete, sie gegenüber G I L L I É R O N zu verteidigen, der sie der Unaufrichtigkeit bezichtigte. Auch M E I L L E T erkennt einige Fehler G I L L I É R O N S an, über die ich noch sprechen werde, aber er fügt am Ende der Diskussion hinzu (S. 67): , , . . . M. Gilliéron a fait progresser d'une manière importante la théorie générale du vocabulaire." Andererseits hatte M E I L L E T von Anfang an und zu jeder Zeit gegenüber der Sprachgeographie und den Arbeiten ihres Begründers eine so objektiv wie mögliche Einstellung.

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behalt. Die französischen Schüler des Verfassers des ALF werden in ihm sehr streng behandelt. Nach der Ansicht MEILLETS enthält das Buch viel Gutes, selbst hinsichtlich der Sprachgeographie. Im Vorwort seines Buches Éléments de linguistique,. Paris 1923 (2. Auflage), S. V I I I / I X , heißt es: «. . . j'ai à dessein laissé de côté certains articles de revues ou certains livres parus soit à l'étranger, soit chez nous, et qui concernent notamment la syntaxe ou la répartition géographique des mots; les uns, en dépit d'une terminologie nouvelle, n'ajoutent pas grand' chose aux résultats depuis longtemps acquis; les autres m'ont paru procéder d'une méthode trouble et vraiment trop aventureuse. Je les connais, j'ai jugé inutile de les signaler ici où je ne pouvais même pas mentionner tout ce qui en eût valu la peine.» Dieses Werk ist ein ausgezeichnetes Handbuch der romanischen Sprachwissenschaft, das nicht nur Anfänger, sondern auch bereits ausgebildete Fachleute bei ihren Studien benützen können, ja sogar müssen. So erklärt es sich auch, daß bereits die 5. Auflage davon erschienen ist (die 1. Auflage 1910, die 4. 1946, die 5. 1956; die beiden letzteren nach dem Tode des Verfassers) und daß es ins Russische übersetzt wurde unter d e m T i t e l OCHOBH poMaHCKoro H3BIKO3H aoüt, aut > ou und ubi > oü ? Auch in einem weiteren Sinne sind die anderen romanischen Sprachen noch als Argument gegen GILLIJSRON angeführt worden. Man hat ihm vorgeworfen, daß er nur das Französische betrachte und das Italienische, das Spanische usw. völlig vernachlässige. Dieser Einwand wäre nur bei der Annahme begründet, wenn wir die Ergebnisse der Sprachgeographie, die mit Hilfe des französischen Sprachatlasses erzielt worden sind, für allgemein romanische Schlußfolgerungen benützen wollten. Wäre das der Fall, dann könnten diese Prinzipien nicht auch auf andere außerhalb Frankreichs liegende Sprachgebiete angewandt werden, oder genauer: ihr Wert und ihre Überzeugungskraft würden dann merklich abnehmen. Soviel ich weiß, hatte GILLIJDRON nicht den Ehrgeiz, seine Lehre außerhalb der Grenzen des Atlasses durchzusetzen: In keiner seiner Arbeiten kann, soweit ich mich erinnere, irgendeine Feststellung gefunden werden, die so interpretiert werden könnte. Im Gegenteil! Bei jeder Gelegenheit hielt er es für nötig zu erklären, daß sein Tätigkeitsbereich die galloromanische Dialektologie umfasse und ihn deshalb die anderen romanischen Sprachen und Dialekte nicht interessieren: „Dans mes 15*

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Kapitel III. Sprachgeographie

dernières études, je crois m'être soigneusement abstenu d'aborder tout problème dont la solution aurait pu être conditionnée par son existence au delà du territoire que comprend l'Atlas linguistique de la France — lequel n'est qu'une ébauche d'un travail restant à faire — j'ai écarté tout problème dont la solution exigerait la connaissance personnelle d'autres langues romanes que le français. J e crois ainsi m'être préservé des erreurs inévitables qui découleraient d'une documentation très incomplète sur les parlers romans qui me sont inconnus." (Pathologie et thérapeutique verbales I I I , S. 27.) Einige Kritiker könnten sagen, daß G I L L I É R O N mit dieser kategorischen Erklärung nichts anderes beabsichtigt habe, als um die Verpflichtung herumzukommen, in bestimmten Fällen auch die sprachlichen Gegebenheiten in anderen Bereichen der Romania zu studieren. Denn es ist sicher, daß wenigstens einige Probleme mehreren romanischen Sprachen gemein sind, so daß auch ihre Lösung gemeinsam sein muß. War aber ein solches Verfahren möglich ? Ich habe gezeigt, d a ß es nur f ü r das Galloromanische einen Sprachatlas gab, der dieses Namens würdig war. Für die anderen Gebiete der romanischen Sprachen wäre es notwendig gewesen, zu den üblichen Mitteln der Dokumentation zurückzugreifen, was jedoch vom Standpunkt der Methode aus nicht zulässig gewesen wäre. In den Worten G I L L I É R O N S , die oben wiedergegeben worden sind, erblicke ich einen Vorwurf, der an die Adresse jener Romanisten gerichtet ist, die glauben, sie hätten das Recht, Arbeiten über einige mehr oder weniger von ihnen gekannte Sprachen zu veröffentlichen. Es ist nicht notwendig, hier die Namen berühmter Autoren zu zitieren, über deren Bücher Fachleute sich geäußert und es schwarz auf weiß bewiesen haben, wie diese viele und oftmals elementare Fehler enthalten. Ich bin davon überzeugt, daß G I L L I É R O N über einige romanische Sprachen besser als manche andere Gelehrten verfügte, die sich dennoch nicht scheuten, schwierigste Probleme dieser Sprachen zu erörtern. Er aber verstand es, den Bereich, den er untersuchen mußte, so zu beherrschen wie seine Muttersprache. Ebenfalls erkannte er die Notwendigkeit, die Volksmundarten einer ehemaligen römischen Provinz ebenso gründlich zu kennen wie die Frankreichs. Nur so, meinte er, könnte etwas Ernsthaftes und Tiefgründiges ausgesagt werden, das es verdient, beachtet und eventuell beim Studium anderer Sprachen angewandt zu werden. Wer auch nur ein Buch G I L L I É R O N S gelesen hat, weiß, was bei ihm die Kenntnis des bearbeiteten Materials bedeutet. Es zeugt von seiner tiefgehenden Kenntnis des Sprachlebens, von seinem genialen Blick f ü r sprachliche Zusammenhänge. Ebenso warf man G I L L I É R O N vor, er würde nicht immer die sprachlichen Gegebenheiten vergangener Jahrhunderte betrachten. Auch hier äußert er selbst, daß die historischen Phasen der Mundarten nicht zu seinem Tätigkeitsbereich gehören: „L'étude de cette question (es handelt sich um die Alternierung von we 1 mit e) doit reposer avant tout sur une exploration des textes et, pour cette raison, n'est pas de notre ressort. Mais le fait qui constitue la question, sa nature de flottement, la marge chronologique dans laquelle s'est mû le flottement sont 1

Das Zeichen w stellt ein konsonantisches u dar.

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certains, et ce sont là précisément les points qui intéressent l'histoire des mots désignant l'abeille." (L'Abeille, S. 196.) Wenn diesmal die Kritik gerechtfertigt scheint, dann aber nicht aus dem Grund, auf den einige Gegner hingewiesen haben, die den Schöpfer der Sprachgeographie beschuldigen, es gehe ihm das historische Verständnis ab. Denn es muß betont werden, daß sowohl diese Beschuldigung wie auch die bereits erörterte von den extremsteri Vertretern der historisch-vergleichenden Methode kommen, die sich einbilden, eine Sprache könne nur mit den Schwestersprachen zusammen und vom Ursprung ausgehend, d. h. von der gemeinsamen Ursprache, erforscht werden. Was die vergleichende Methode betrifft, so wendet sie G I L L I É R O N in allen seinen Arbeiten an, nur versteht er sie anders, als das gewöhnlich der Fall ist. Seine Gegner verlangen, daß er die französische Sprache und ihre Dialekte im Vergleich zu den Sprachen anderer romanischer Gebiete studieren solle, während er die galloromanischen Volksmundarten untersucht und sie miteinander sowie zugleich mit der Schriftsprache vergleicht, oder besser gesagt, indem er die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen aufzeigt (wie ein Dialekt einen anderen beeinflußt, wie alle Dialekte den Einfluß der Schriftsprache erfahren, wie die Schriftsprache mundartliche Elemente aufnimmt usw.). Es ist auch offensichtlich, daß G I L L I É R O N das Recht hat, so vorzugehen, wenn wir nicht eines der bedeutendsten Ergebnisse der Sprachgeographie aus dem Auge verlieren: Keine gegenwärtige galloromanische Mundart kann direkt von der lateinischen Sprache ihres Gebietes hergeleitet werden, wie es gewöhnlich angenommen wurde. Hat es dann Zweck, diese Dialekte mit anderen romanischen Dialekten, die sich wahrscheinlich auch im Laufe der Zeit so grundlegend verändert haben, daß sie die unmittelbare Verbindung mit der Ausgangssprache verloren haben, zu vergleichen ? Ebenso unlogisch wäre ein solcher Vergleich auch in dem Fall, wenn wir annehmen würden, daß in anderen romanischen Gebieten die Dialekte von der Literatursprache weniger beeinflußt worden sind und folglich noch zahlreiche Besonderheiten bewahrt haben, die wir als Fortsetzung der entsprechenden Erscheinungen des Vulgärlateins betrachten könnten. Dieses Argument kann allerdings nicht auch gegen den Einwand angeführt werden, daß G I L L I É R O N fast prinzipiell den Vergleich heutiger Sprachzustände mit denen vergangener Epochen ausschließt. Es ist richtig, daß die von ihm begründete Methode als eigentlichen Gegenstand die Untersuchung der gegenwärtigen Volksmundarten hat, und sicherlich hat G I L L I É R O N daran gedacht, als er die oben wiedergegebene Feststellung traf. Die Sprachgeographie aber beschränkt sich nicht auf das deskriptive Studium der Dialekte, sondern verwandelt sich in Sprachgeologie, wie wir gesehen haben, denn indem sie sich des kartographischen Materials bedient, deckt sie auch die sprachlichen Schichten auf, die sich unterhalb der Oberfläche befinden. Diese Vertiefung des Terrains bedeutet das Aufspüren einiger immer älterer Zustände. Sie ist folglich identisch mit der Arbeit des Sprachwissenschaftlers, der, wenn er eine bestimmte Sprache historisch studiert, alle Phasen eines Lautes, einer Form, einer syntaktischen Konstruktion usw. bis tief in die Vergangenheit hinein verfolgt. Damit das Bild der unteren Sprachschichten, das G I L L I É R O N fast nur mit Hilfe des Atlasses rekonstruiert, auch der Wirklichkeit

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Kapitel III. Sprachgeographie

besser entspricht, ist es indessen nicht nur empfehlenswert, sondern sogar notwendig, die vorangehenden sprachlichen Epochen auf der Grundage der Texte zu kennen. Anders ist es nicht möglich. Auf diese Weise könnte zwar nicht immer, aber oftmals genau festgelegt werden, welche Perioden in der Entwicklung der französischen Sprache dieser oder jener auf den einzelnen Karten niedergelegten Sprachschicht entsprechen. Eine enge Verbindung zwischen Sprachgeographie und Sprachgeschichte würde sicherlich beiden Disziplinen von Nutzen sein. 1 Wir werden später sehen, zu welch beeindruckenden Resultaten J. JUD gelangte, indem er so vorging. Von den übrigen Kritiken, die an G I L L I É R O N geübt worden sind, will ich hier noch zwei erwähnen. Ihr Verfasser ist L E O S P I T Z E R , der selbst sprachgeographische Arbeiten veröffentlicht h a t und ein großer Bewunderer G I L L I É B O N S war. Ausgehend von seiner Sprachauffassung — siehe den entsprechenden Abschnitt im II. Kapitel dieses Buches —, beschuldigt S P I T Z E R G I L L I É R O N , daß er dann, wenn er die Sprachentwicklung betrachte, den schöpferischen Faktor vernachlässige, der immer individueller Natur sei. I n ARo V I I I (1924), S . 383 2, erörtert S P I T Z E R den folgenden Fall: Der bearnesische Dialekt (im Südwesten Frankreichs) hat das lateinische gallus „ H a h n " aus dem Grunde verloren, weil die „Lautgesetze" bewirkten, daß dieses Wort mit gat „ K a t z e " verwechselt wurde. An Stelle von gat < gallus gebrauchte man die entsprechenden mundartlichen Formen der schriftsprachlichen Wörter faisan „ F a s a n " und vicaire „Vikar". G I L L I É R O N stellte dies fest und erklärte es natürlich mit Hilfe der Homonymie : Das Bestreben der Sprecher, sich klar auszudrücken gemäß dem Werkzeugcharakter der Sprache, habe die Konfusion zwischen zwei so üblichen Begriffen beseitigt, die zugleich auch zum gleichen Bereich gehören (es handelt sich um Haustiere). Wie aber kam es den Bearnesern in den Sinn, zu dem Hahn „Fasan", und „Vikar" zu sagen? Diese Frage hat sich G I L L I É R O N nicht gestellt. Es ist sicher, daß vor der Konfusion dieser beiden Bezeichnungen die Ausdrücke f ü r „ F a s a n " und „Vikar" dann und wann im Scherz für den Hahn gebraucht wurden, und in dem Augenblick, als die Notwendigkeit gefühlt wurde, ein Mißverständnis zu vermeiden, griffen die Sprecher zu ihnen, indem sie sie f ü r lange Zeit als gewöhnliche Namen dieses Haustieres festlegten, ohne die einst in ihnen enthaltene Spur von Ironie. In der Zusammenfassung verlangt S P I T Z E R , daß wir in der Sprache das schöpfe1

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Auf dem 1. Internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß, der im April 1928 in Den Haag abgehalten wurde, diskutierte man auch dieses Problem, wie es sich aus den Titeln der folgenden zwei Artikel ergibt, die G. N E C K E L veröffentlicht hat in Actes du premier Congrès international de Linguistes à la Haye du 10—15 avril 1928, Leiden 1930: Dialektgeographie und Sprachgeschichte müssen enger zusammenwirken als bisher ; Sprachgeschichte und Sprachgeographie. H. G Ü N T E B T forderte in WS X I I (1929), S. 390, die Schaffung einer „historischen Lautgeographie": Die Laute der alten Sprachen sollen vom historischen und geographischen Gesichtspunkt aus studiert werden, denn es ist sicher, daß einst auch sprachliche Areale bestanden haben. Vgl. auch Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I, S . 368, wo S P I T Z E R den Einwand wiederholt, daß G I L L I É B O N von der Sprache eine ökonomische Auffassung habe: Er sieht in ihr nur das Mittel, dem Bedürfnis Genüge zu tun, uns die Gedanken gegenseitig mitzuteilen, mehr aber nicht.

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rische Moment, das Produkt der Phantasie, von dem „festlegenden" Moment 1 , dem Produkt der Notwendigkeit, unterscheiden. Derselbe Sprachwissenschaftler macht Vorbehalte (loc. cit., S. 350) gegenüber GILLIÉRONS Theorie von der durch Polysemie verursachten „pathologie verbale". Nicht immer „erkrankt" ein Wort auf Grund von zu vielen Bedeutungen, die es besitzt, und folglich ist ein solches Wort nicht immer dazu verurteilt, unterzugehen. SPITZER zitiert als Beispiel das Verb facere, das, obgleich es in verschiedenen romanischen Sprachen unzählige Bedeutungen aufweist, dazu gelangte, unter bestimmten Umständen für dicere gebraucht zu werden, das bei weitem nicht so reich an Bedeutungen ist wie facere. Es ist somit notwendig, eine Revidierung oder zumindest eine Einschränkung der Theorie von der „pathologie verbale" vorzunehmen. 2 1

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Diesen Ausdruck entlehnte S P I T Z E R von H. S P E R B E R (S. Kap. I, S . 98). E r erinnert sehr an das, was V O S S L E R „Sprache als Schöpfung" und „Sprache als Entwicklung" nannte (s. Kap. I I , S. 110). Verschiedenen Sprachwissenschaftlern gefiel dieser Ausdruck, der in der Lehre G I L L I É R O N S einen festen Platz einnimmt, ebenfalls nicht. Wir sahen, daß für G I L L I É R O N der Lautwandel mit allen seinen Folgen, dann die Homonymie, die Polysemie u . a . Ursachen für die „Erkrankung" der Wörter sind. Auf Grund dieser Erscheinungen unterliegt das sprachliche Material einer langsamen, aber sicheren Zerstörung, die der Wirkung ähnlich ist, die Krankheiten auf den menschlichen Körper ausüben. Auch hier haben wir einen der fruchtbarsten Gedanken G I L L I É R O N S : Neben den lebenden Wörtern, die alle Linguisten studieren, beschäftigt er sich auch mit den toten oder todkranken. Auf diese Weise treibt er wirkliche Sprachbiologie, denn er stellt uns die gesamte Entwicklung vor Augen: Das eigentliche Leben setzt auch den Tod voraus. Ebenso entdeckt G I L L I É R O N , wenn er die Wörter untersucht, die mit der Zeit untergehen, die Ursachen für ihren Untergang. Interessant ist die Antwort, die er auf die Anschuldigung hin gibt, daß er zu sehr einem Arzt gegenüber einem Kranken gleiche: »On m'a reproché (à propos de ma brochure Pathologie et thérapeutique verbales) de conduire de jeunes linguistes dans une salle d'hôpital. Qui dit mort, dit maladie; qui dit transformation, dit guérison; qui dit vie, dit nécessité de vivre! Où devais-je donc les conduire? Au bal masqué, où tourbillonnent les mots, et où des maîtres de danse, à chaque entrée et à chaque départ enregistrent des noms sans autre formalité d'enquête sur les causes de départ et d'arrivée, pas plus d'ailleurs que sur celle qui font changer de masque aux premiers participants?» (Pathologie et thérapeutique verbales I I I , S. 34). E s muß hier darauf hingewiesen werden, daß der Ausdruck „pathologie" bereits bei E . L I T T R É , dem Verfasser des berühmten Dictionnaire de la langue française (4 Bände und Supplementband) anzutreffen ist. L I T T R É schrieb eine Studie mit dem Titel Pathologie verbale ou lésions de certains mots dans le cours de l'usage, die enthalten ist in seinem Buch Études et glanures pour faire suite à l'histoire de la langue française, Paris 1880, S. 1—68. L I T T R É definiert wie folgt die „pathologie verbale" : «Sous ce titre, je comprends les malformations (la c o u r au lieu d e l a c o u r t , é p e l l a t i o n a u lieu d ' é p e l a t i o n ) ; les confusions ( é c o n d u i r e et l'ancien verbe e s c o n d i r ) , les abrogations de signification, les pertes de rang (par exemple, quand un mot attaché aux usages nobles tombe aux usages vulgaires ou vils), enfin les mutations de significations.« (op. cit., S. 1.) Wenn wir bedenken, daß L I T T R É Arzt war und danach Linguist wurde, dann überrascht der Gebrauch der Ärztesprache bei ihm überhaupt nicht. Diesen Ausdruck finden wir ebenfalls bei G. I . A S C O L I , Corsi di glottologia, Torino 1870, S. 28, wo von „etymologischen Fortsetzern", nämlich „geregelten" Sprach Veränderungen

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Welcher Art auch immer die an der Lehre GILLIÉRONS geübten Kritiken gewesen sein mögen, unbestreitbar ist, daß die Sprachgeographie in den Studien wie auch in unserer Sprachauffassung eine große und wohltuende Umwälzung zur Folge gehabt hat. Das Postulat der Junggrammatiker, in erster Linie die lebende Sprache der Menschen zu untersuchen, wurde erst durch GILLIÉRON in dem nötigen Maße realisiert, so daß sich unsere Vorstellungen über die Sprache änderten und der Wirklichkeit näherten. Dank des französischen Sprachatlasses und der Arbeiten, die auf seiner Grundlage geschaffen wurden, gelangten wir tatsächlich dazu, die Dynamik des Sprachlebens zu verstehen. Die Ansicht SCHTTCHARDTS, wonach die Sprache ein .Kontinuum" ist, wurde für jedermann erst greifbare Wirklichkeit, nachdem die Sprachgeographie geschaffen worden war. Ebenso hat eine andere Idee des großen Gelehrten, der in so vieler Hinsicht ein Vorläufer GILLIÉRONS war, durch diese Disziplin eine glänzende Bestätigung erlangt : Es bestehen keine isolierten Sprachen (genauer gesagt, keine unvermischten Sprechweisen). Die Art, wie die Volksmundarten einander beeinflussen, dann ihr Einfluß auf die Schriftsprache und deren Einfluß wiederum auf die Volksmundarten konnte nicht überzeugender illustriert werden als durch die Arbeiten GILLIÉRONS. Indem die Sprachgeographie das Überschneiden der Tendenzen, die auf die menschliche Sprache einwirken, in allen Richtungen verfolgt, zeigt sie uns den Anteil politischer, religiöser und kultureller Momente bei der Entwicklung der Sprache. Da die Ursachen für die Veränderung der Wörter in der Psyche der Sprecher gesucht werden, d. h. in deren Leben, in den historischen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung und nicht in dem äußeren, mehr oder weniger mechanischen Element, hat die Sprachgeographie die Sprache „humanisiert", hat sie diese wieder zu ihrer einzigen und wirklichen Quelle zurückgeführt. Schließlich fanden dank der Sprachgeographie eine ganze Reihe von Problemen, die vorher unlösbar schienen, auf eine ganz natürliche Weise ihre Lösung. Deshalb glaube ich, daß GILLIÉBON recht hat, selbst wenn er übertreibt, wenn er in Pathologie et thérapeutique verbales II, S. 10, schreibt: „En voulant soustraire la linguistique à l'examen de la géographie on la diminue d'un facteur puissant — le plus puissant peut-être qui peut lui donner le droit d'être considérée comme une véritable science." Zu den sprachwissenschaftlichen Richtungen, die im vorliegenden Buch dargelegt werden, hat die Lehre GILLIÉRONS bald hier, bald da Berührungspunkte. und von „pathologischen Erscheinungen" gesprochen wird, die von der „Regel" abweichen (nach Informationen, die ich von B R U N O MIGLIOEINI erhielt). An GILLIÉBON erinnert auch das Buch von D A R M E S T E T E R La vie des mots, dessen erste Auflage 1887 in Paris erschienen ist. Das 3. Kapitel trägt den Titel Comment meurent les mots. Es könnte also auch von einem größeren oder geringeren Einfluß von D A R M E S T E T E R , der einst als Professor an der Sorbonne wirkte, auf G I L LIÉBON die Rede sein. Von einer Krankheit der Laute sprachen schon die griechischen Grammatiker {nâêfj rrjç (pcuvfjç). Darauf weist V. B O G R E A hin in Dacor III (1923), S. 856. Zur hier erörterten Terminologie vgl. auch das, was in dem Abschnitt über C U R T I U S von der Analogie gesagt wird, der in ihr eine „kranke" Äußerung sieht. Vgl. ebenfalls W . D. W H I T N E Y , The Life and Growth of Language, 1875 (die deutsche Übersetzung von A. L E S K I E N erschien 1876 unter dem Titel Leben und Wachstum der Sprache). Der Titel erinnert an A. SCHLEICHEB.

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Im zweiten Kapitel wies ich nachdrücklich auf Ähnlichkeiten hin zwischen ihr und dem „Idealismus" K. VOSSLERS hinsichtlich der Bedeutung, die bei der Sprachschöpfung und -entwicklung dem geistigen Faktor gewährt wird. Eine weitere Annäherung zwischen GILLI^RON und den „Idealisten" ist die Betrachtung des Sprechens ( = parole) und nicht die der Sprache ( = langue) oder, mit anderen Worten, das Studium der menschlichen Sprache, so wie sie sich in einem gegebenen Moment zeigt, also unter bestimmten Bedingungen. V O S S L E E stützt sich auf die Sprache der Schriftsteller, weil ihn das ästhetische Moment interessiert, GILLI^RON jedoch auf die Volksmundart, die durch die dafür ausgewählten Sujets repräsentiert wird, weil die Enquete an Ort und Stelle nicht anders durchgeführt werden kann. L. SPITZER (Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I , S. 368) findet noch eine Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Sprachwissenschaftlern. Indem er von der Feststellung ausgeht, daß die „Kolumbusfahrt Gülierons . . . das Ziel hatte, das .wahre Sprachleben' in den Dialekten zu entdecken und bei der Schriftsprache landete, die in Wirklichkeit in die Dialekte hineinflutet", fügt SPITZER hinzu: „Der Dialektologe Gillieron hat (und damit ist die der Heimatkunst parallele Dialektforschung eigentlich theoretisch überwunden) uns die Hochsprache entdecken gelehrt — und letztlich biegt seine Forschung in die stilistische Vosslers ein (allerdings fehlte ihm dessen künstlerisches Sensorium)." SPITZER will sagen, daß GILLIÄRON durch die Dialekte zur Schriftsprache gelangte, so daß seine Studien in einer Hinsicht identisch wurden mit denen VOSSLERS, der von Anfang an und prinzipiell die Schriftsprache zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat. Auch die Lehre von F. D E SAUSSURE (vgl. das folgende Kapitel) gleicht der Sprachgeographie in einzelnen Punkten. Wie SAUSSURE interessiert sich auch GILLIERON vor allem für den statischen Aspekt der menschlichen Sprache, d. h., er betreibt, um mit SAUSSURE zu sprechen, deskriptive Sprachwissenschaft; er studiert nicht die Sprache in ihren vorangehenden Phasen, noch sieht er sie in ihrer historischen Entwicklung. Wenn er oft auch ältere Zustände betrachtet, so ist das der Notwendigkeit zu verdanken, einzelne Sprach schichten voneinander zu unterscheiden. Ebenso besteht Ähnlichkeit zwischen der Sprachauffassung G I M I I R O N S und der F. D E SAUSSURES in dem Sinne, daß beide die menschliche Sprache als ein einfaches Verständigungsmittel zwischen den Menschen betrachten, ohne daß sie auch an das künstlerische Element denken, das unbestreitbar in der Sprache vorhanden ist. Dadurch nähern sich beide den Junggrammatikern. Ebenso erweisen sie sich als reine Rationalisten, die in der menschlichen Sprache ein ausschließliches Produkt der Vernunft sehen. Vielleicht müßte auch darin mit der Grund gesehen werden, daß im System GILLIISRONS die Homonymie einen so bedeutenden Platz einnimmt. Seiner Ausbildung nach Rationalist 1 , entdeckt GILLIERON die Einmischung 1

So erklärt sich auch sein großes Vertrauen in die Postulate der Disziplin, die er geschaffen hat, in die fast absolute Sicherheit, mit der er die Ergebnisse seiner Forschungen darstellt: Für GILLIERON waren die sprachgeographischen Konstruktionen hinsichtlich ihrer logischen Unfehlbarkeit mit mathematischen Deduktionen vergleichbar.

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Kapitel I I I . Sprachgeographie

des Verstandes in das Sprachleben gerade dort, wo andere nicht geneigt sind, sie anzunehmen. Nach N. MACCARRONE (RLiR VI [1930], S. 5 - 6 ) wäre GILLIÉRON von der Auffassung SCHUCHARDTS und von der ASCOLIS inspiriert worden : Von ersterem hätte er den Gedanken der „Nachahmung der Sprachen" (oder, wie ich selbst bereits gezeigt habe, der Sprachmischung) übernommen, von dem anderen indirekt die Idee des „Substrats". Letztere Feststellung von MACCARRONE überrascht mich, weil GILLIÉRON sich nicht auf ältere Sprachzustände bezieht (nicht einmal auf lateinische, um so weniger auf präromanische) und sich deshalb nicht auf das Substrat zu berufen brauchte, um sie zu erklären. Auf den vorangehenden Seiten sahen wir ja, daß er sich nur für die gegenseitigen Einflüsse zwischen den Dialekten einerseits und zwischen den Dialekten und der Hochsprache andererseits interessierte. Um die Diskussion über GILLIÉRON abzuschließen, werde ich die Einschätzung einiger Fachleute wiedergeben. A. TERRACHER zeigte u. a., als er sich in BSL X X I (1918—19), S. 147ff., mit L'Abeille beschäftigte, daß niemand den französischen Sprachatlas so kennt wie GILLIÉRON, und fügte dann hinzu: „Voilà sans doute pourquoi les travaux de M. Gilliéron sont si riches et les études similaires (der anderen, die sich auch mit Sprachgeographie beschäftigt haben) si pauvres, par comparaison." . . . „Voilà aussi pourquoi les raisonnements de M. Gilliéron apparaissent souv.ent touffus : des rapprochements qui déconcertent à première vue ne sont que le signe d'un commerce intime, prolongé et unique avec l'Atlas." (loc. cit., S. 148.) Dann spricht er von den Kritiken der Gegner, die darauf fußen, daß GILLIÉRON Schlüsse über die Mundart einer gesamten Ortschaft aus den Antworten von nur einem oder zwei Sprechern zog und er die Geschichte der Wörter nicht in einem bestimmten Dialekt, sondern im gesamten französischen Sprachgebiet aufzeigte. „En réalité, ce sont deux conceptions fondamentalement opposées qui se heurtent: l'une, celle de M. Gilliéron, affirme que les détails ne s'éclairent que par l'ensemble (cf. p. 118—119 etc); l'autre, la conception courante, espère inconsciemment construire l'ensemble avec les détails.". . . „Les romanistes, dialectologues ou non, seraient en tout cas particulièrement mal venus à protester contre le point de vue de M. Gilliéron, car presque toutes leurs études de détail ne font que mettre en œuvre une conception d'ensemble . . . qu'ils n'ont pas inventée, qu'ils n'ont, pour la plupart, jamais examinée ni discutée, dont trop souvent ils n'ont pas même conscience. Si M. Gilliéron se trompait entièrement, il rendrait encore aux études romanes un service immense en apportant de la romanisation, de la vie des parlers populaires et des langues littéraires, et même de la phonétique, une idée générale très différente de celle qu'on accepte d'ordinaire et qui, depuis Diez, s'est beaucoup moins heureusement modifiée, qu'on ne pourrait croire ou souhaiter." 1 (loc. cit., S. 151.) 1

Tatsächlich gehören sich, selbst wenn wir falsch wären, gerade Ideen als fruchtbarer

die Arbeiten GILLIÉRONS ZU der Gruppe v o n Studien, die die Unmöglichkeit annähmen, daß sie v o n Anfang bis Ende wegen der Neuheit und Originalität der darin enthaltenen und nützlicher als so viele andere Arbeiten erweisen. Weitere

Kritik der Theorien Gilliérons

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Über L'Abeille hat auch K. JABEEG eine sehr wichtige Rezension geschrieben in Ho XLVI (1920), S. 121 ff. Ich werde ihren Inhalt hier zusammenfassen und dabei charakteristische Stellen wiedergeben : „D'ailleurs l'importance extrême qu'il faut attribuer au livre de M. G. me paraît résider moins dans les solutions qu'il donne à des problèmes particuliers, quelque passionnante qu'en soit la discussion, que •dans la méthode qu'il emploie pour y parvenir et dans les idées générales que suggère l'étude de ces problèmes." (S. 121.) Das Buch GILLIÉRONS realisiert in der umfassendsten Weise das von SCHUCHABDT ausgedrückte Ideal etymologischer Forschung: ,,. . . wir etymologisieren ja nicht mehr in dem Sinne, wie wir die Lösung eines Rätsels, einer Charade suchen, es schwebt uns als letztes Ziel immer eine kontinuierliche Wortgeschichte vor." (ZRPh XXV [1901], S.615.) „Chercher le noyau des idées de M. G. dans Diez (Meyer-Lübke, LgrP 1919, p. 372), c'est attribuer à Leonard de Vinci le mérite d'avoir inventé l'aéroplane. Ni Léonard ni Diez n'ont besoin d'être grandis par l'amoindrissement de leurs successeurs." (S. 123, Fußnote 1.) Zu den Prinzipien, die wir auf den vorangehenden Seiten ziemlich ausführlich erörtert haben, gelangte GILLIÉBON mit Hilfe der im ALF niedergelegten Methode, die auf zwei wesentliche Gedanken zurückgeführt werden kann : das Zusammenfallen der Areale zweier sprachlicher Erscheinungen und die geographische Solidarität. So verschwanden im Südwesten Frankreichs épi und épine : das Areal ihres Untergangs fällt zusammen mit dem Ausfall des intervokalischen n. Letzteres Phänomen ist die Ursache für den Untergang dieser beiden Wörter, denn épine interessante Einschätzungen v o n T E R R A C H E R sind folgende: «Parceque Diez a constitué — et était t e n u de constituer — la linguistique romane, sur le p a t r o n de la linguistique indoeuropéenne de son temps, les romanistes préfèrent encore reconstruire le latin a u lieu de l'étudier et semblent v r a i m e n t refuser u n peu trop a u x langues romanes t o u t e puissance vitale, alors qu'elles vivent p o u r t a n t depuis u n nombre respectable de siècles.» (loc. cit., S. 152/53.) «Au t o t a l il ne s'agit de rien moins que d ' u n renversement des méthodes reçues : M. Gilliéron en arrive à p e u près à m e t t r e a u premier r a n g des lois qui président a u x t r a n s f o r m a t i o n s lexicologiques et phonétiques l'étymologie populaire, les m o t s dits savants, la conscience linguistique etc., que les ouvrages faits 'selon la bonne m é t h o d e ' mentionn e n t ordinairement comme des exceptions a u x lois; et ces lois traditionnelles de correspondance phonétique lui apparaissent — d u moins sous la forme courante qu'elles revêtent — comme u n leurre qui, d a n s le cas du français littéraire, s'expliqueraient principalement par la 'reprise de c o n t a c t ' avec le latin, surtout à l'époque de la Renaissance (p. 14, 59sqq., 200 etc.).» (loc. cit., S. 153/54.) «Depuis le t r i o m p h e universel, légitime et nécessaire des idées et des méthodes de Diez (ou de J . Grimm?), il ne s'est t r o u v é que de t r o p rares romanistes pour faire des réserves sur ce que le développement de la linguistique y a encore a j o u t é de mécanisme: si la p l u p a r t des dissidents (notamment Ascoli et Schuchardt, dont les idées offrent plus d ' u n e analogie avec celles de M. Gilliéron) ont été surtout préoccupés des influences ethnographiques qui ont p u agir sur le développement phonétique des langues romanes, c'est bien à eux, a u fond, que se r a t t a c h e le créateur de la 'géologie linguistique', quoiqu'il élève sa protestation sur u n t o u t a u t r e terrain et q u ' i l la fasse a u nom de principes moins fugitifs s'appliquant à d e s faits plus tangibles. Opportet haereses esse.» (loc. cit., S. 156.)

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Kapitel III. Sprachgeographie

wurde mit épi homonym, nachdem das -n- ausgefallen war. Um die geographische Solidarität zu beweisen, kann folgender Fall angeführt werden : An den Punkten 184 und 191 des ALF sagt man für „Biene" mouche statt abeille (in Frankreich wird diese Bedeutung von mouche nirgends mehr angetroffen); dazwischen befindet sich der Punkt 190, bei dem mouche für moucheron steht (wiederum sagt man in keiner anderen französischen Ortschaft so). Es ergibt sich daraus, daß zwischen den ersten zwei Punkten und dem dritten Punkt Verbindung besteht (geographische Solidarität), mouche „Biene" ist nämlich eine Auflösung der Diminutivbildung mouchette, die dann die Auflösung der Diminutivbildung von mouchette „Mücke" hervorrief: ,,. . . personne n'a jamais eu une intuition aussi profonde de la vie intime de la langue, intuition basée sur une expérience de quarante ans passés à pénétrer les secrets des parlers populaires de la France.". . . „L'isolement scientifique dans lequel vit le maître a ses dangers; mais puisque c'est cet isolement qui lui a permis d'ouvrir de nouveaux horizons à la science, qui oserait lui en faire un grief?" (S. 130.) A. M E I L L E T , von dem ich bei anderer Gelegenheit gesagt habe, daß er von Anfang an die Bedeutung des Werkes von G I L L I É B O N begriffen hatte und es daher mit allen Mitteln vertrat, widmet in seinem Buch La méthode comparative en linguistique historique, Oslo 1925, der Sprachgeographie einige Seiten (60—71). Als Indogermanist kann M E I L L E T nur historisch-vergleichender Sprachwissenschaftler sein. Anders ist es ihm nicht möglich, die indogermanischen Sprachen zu studieren, von denen so viele seit langer Zeit untergegangen sind. Dies hinderte ihn indessen nicht daran, wie es bei einigen Romanisten der Fall war, den großen Wert dieses neuen Zweiges der Sprachwissenschaft vom Gesichtspunkt der Methode und der erzielten Ergebnisse aus nicht nur für die allgemeine Sprachwissenschaft anzuerkennen, sondern auch für die indogermanistische, die sich offensichtlich in einer besonderen Lage gegenüber der romanistischen Sprachwissenschaft befindet. So besitzen die Einschätzungen M E I L L E T S außerordentliche Bedeutung, vor allem weil es sich um die Beziehungen zwischen der Sprachgeographie und dem historisch-vergleichenden Studium der indogermanischen Sprachen handelt. Hier einige dieser Einschätzungen: „C'est que la comparaison a trouvé, dans ces enquêtes (für die Materialsammlung an Ort und Stelle), un instrument de travail supérieur à tout ce qu'elle possédait et précisément adapté à ses besoins. Pour la première fois, on avait, clairement présenté, un ensemble de données immédiatement comparables entre elles, et réparties sur tout le domaine étudié. Quiconque a fait des travaux de grammaire comparée sait combien on souffre de ce que les faits rapprochés offrent des différences de niveau dont il faut faire abstraction : le comparatiste qui travaille sur les langues indo-européennes se sert de données dont les dates s' étendent sur un espace de quelque trois mille ans, qui abondent à certains moments et manquent tout à fait à d'autres, qui existent pour une région alors que, pour tel autre domaine, toute indication manque. Avant de faire un rapprochement, il en faut critiquer en détail tous les éléments. Dans la grammaire comparée des langues indo-européennes, il y a peu de rapprochements qui ne boitent pas de quelque côté." (op. cit., S. 65.) „Partout

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où l'on a pu appliquer la méthode géographique, elle a donné lieu à des progrès décisifs. Elle exige des enquêtes aussi étendues qu'il est possible et l'utilisation de toutes les données qu'on possède sur l'ensemble d'un domaine linguistique. La méthode comparative gagne par là une précision, une étendue et une aisance jusqu'alors imprévues." (ebenda, S. 70.) 1 LEO SPITZEB fügt in Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I, S. 368, folgendes hinzu, nachdem er prinzipielle Einwände gegen die Sprachatlanten gemacht und gezeigt hat, daß GILLIÉRONS Auffassung von der Sprache als eines einfachen Verständigungsmittels zwischen den Menschen einseitig ist: „Alle Versuche (wie etwa in Meyer-Lübkes Rom. Grammatik oder in Ascolis Dialektuntersuchungen), den Dialekt als bodenständige Weiterentwicklung eines Latein an dieses d i r e k t anzuknüpfen, sind damit gescheitert.2 GilHéron hat die theoretische Erkenntnis Schuchardts vom Wandern der Wörter und .Lautgesetze' praktisch erwiesen. Gilliéron hat die Frage ,warum gerade an d i e s e m Ort d i e s e sprachliche Erscheinung' angeschnitten: Ein Vergleich seines Buches über die Genealogie der ,Bienen'-Ausdrücke etwa mit Meyer-Lübkes an die Sprachkarte ,abeille' des Gilliéronischen Sprachatlas anknüpfenden Aufsatzes über prov. beko „Biene, Wespe" (Zeitschrift f. rom. Phil. 29, 402ff.), der mehr die auf dem Atlas erscheinenden Typen ,etymologisch durchsichtig' machen will, ist bezeichnend: dabei muß man eher annehmen, daß Gilliérons Sprachphilosophie die An1

2

Schon vorher (in Linguistique historique et linguistique générale, Paris 1921) hatte MEILLET viel Gutes und Richtiges über L'Abeille geäußert. Ich kann nicht umhin, einiges davon wiederzugeben. «Mais il n'y a pas d'homme qui, depuis qu'il enseigne, ait eu plus d'action sur tous ceux qui ont étudié l'histoire des parlers gallo-romans, l'histoire des langues romanes, et, finalement, toute la linguistique en général.» (op. cit., S. 305.) «En une certaine mesure — qu'il ne faut naturellement pas exagérer — chaque village de France a eu, depuis l'époque latine, son développement linguistique propre.» (Ebenda, S. 306.) «Dès lors, si, au lieu de comparer quinze ou vingt dialectes fortement distincts les uns des autres, mal localisés et dont les rapports mutuels sont mal connus ou inconnus, on peut comparer des centaines de parlers très voisins, ayant conservé d'une manière certaine leur ancienne répartition géographique, on dispose d'un moyen de recherche bien supérieur, et l'on a chance de déterminer avec une précision toute nouvelle l'histoire de l'ensemble des parlers étudiés.» «Jusqu'ici, on a fait la grammaire comparée des langues romanes avec la méthode qu'imposent les conditions de fait, assez fâcheuses, où se trouve la grammaire comparée des langues indo-européennes: aucune donnée sur la langue initiale; un petit nombre de groupes de langues très différentes entre elles ; ces quelques données permettent surtout de saisir certaines grandes lignes, le détail n'étant perceptible que dans quelques rares cas spécialement favorables» (ebenda, S. 308). Dieser Ansicht sind auch einige ältere Sprachwissenschaftler; so schreibt z. B. A. MEILLET in Revue du mois, Juli 1917, S. 119: «Les hommes empruntent la langue les uns aux autres, en tout ou en partie, et,beaucoup plus que l'histoire des innovations spontanées, le développement linguistique est une histoire de substitutions successives de langues centrales et de langues locales, histoire infiniment complexe, souvent impossible à débrouiller» (zitiert nach A. TERRACHEB, Les aires morphologiques dans les parlers populaires du nord-ouest de l'Angoumois (1800 bis 1900), Paris 1914, S. 223).

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läge seines Atlas bedingt hat, als daß umgekehrt erst aus dem — zufällig ? — geologisch komponierten Atlas seine Sprachphilosophie erwachsen wäre." Schließlich schreibt M. R O Q U E S : „Que ceux dont Gilliéron a parfois parlé avec rudesse fassent aujourd'hui effort pour imaginer cette lutte intime de son esprit contre les vieilles idoles linguistiques, son éblouissement devant la vérité entrevue, . . .il restera de lui deux magnifiques dons qu'il a faits à la France et à la science : l ' A t l a s , la plus vaste et la plus sûre enquête qui ait jamais été faite sur le langage, base nécessaire de toute autre enquête sur les parlers de France, de toute étude future sur l'évolution de ces parlers, et premier modèle de toute enquête ultérieure sur quelques parlers que ce soit; et ce principe, dont il est un peu vain de se demander s'il fonde une science ou une méthode nouvelle, mais auquel la linguistique ne pourra plus désormais faillir, que la répartition des faits du langage est elle-même un fait qu'il faut expliquer et par elle-même est génératrice d* explications." (Zitiert nach L. S P I T Z E R , op. cit., S . 367-368.) Über die Sprachgeographie wie auch über ihren Begründer werde ich in chronologischer Reihenfolge Studien und Aufsätze zitieren (oder wieder zitieren), die zusammen mit den Rezensionen zu dem A L F und zu den Arbeiten G I L L T É R O N S eine bescheidene Bibliographie der Sprachgeographie bilden könnten: E. T A P P O LET, Über die Bedeutung der Sprachgeographie, mit besonderer Berücksichtigung französischer Mundarten in: Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festgabe für Heinrich Morf, Halle a. S. 1905; K. JABERG, Sprachgeographie. Beitrag zum Verständnis des Atlas linguistique de la France, Aarau 1908 ; J . H U B E R , Sprachgeographie. Ein Rückblick und Ausblick i n : B D R I (1909), S. 89ff.;: A. B A Y O T , La géographie linguistique in: BDW VI (1911), S. 65ff. ; G. B E R T O N I , A proposito di geografia linguistica in : Atti e memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie Modenesi, serie V, voi. VII, Modena 1911 (Sonderdruck 10 Seiten); M . D E M O N T O L I U , La geografia lingüistica i n : Estudio I (1912), S. 24ff., und I I (1913), S. 76ff.; K. J A B E R G , Die neuere Forschung auf dem Gebiete der romanischen Sprachgeographie in : Die Geisteswissenschaften I (1913— 1914), col. 487 ff. ; L. S P I T Z E R , Die Sprachgeographie. Kritische Zusammenfassung (1909-1914) in: R D R VI (1914), S. 318ff.; G. B E R T O N I , Studi di geografia linguistica in: ARo I (1917), S. 258ff.; J . F E L L E R , L'évolution de la géographie linguistique in: B D W X I I (1917), S. 73ff.; L. GAUCHAT et J . J E A N J A Q U E T in: Bibliographie linguistique de la Suisse Romande I I , Neuchâtel 1920, S. 158 ff. ; K. J A B E R G in: Ro X L V I (1920), S. 121 ff.; A. M E I L L E T , Linguistique historique et linguistique générale I, Paris 1921, S. 305ff.; B. A. T E R R A C I N I , Questioni di metodo nella linguistica storica in : AeR nuova serie I I (1921), nr. 1—3.4—6 (Sonderdruck 38 Seiten) ; F. S C H Ü R R , Sprachwissenschaft und Zeitgeist, Marburg a. L. 1922, S. 72ff.; A. D A U Z A T , La géographie linguistique, Paris 1922; W. v. W A R T BURG in: F E W , Bonn 1922, S. I f f . ; J . F E L L E R , L'évolution de la géographie linguistique, Liège 1923 (Sonderdruck aus BDW); I.-A. C A N D R E A , Constatäri in domeniul dialectologiei in: GS I (1923-1924), S. 169ff.; G. B E R T O N I , La geografia linguistica i n : R S F F V (1924), S. 214ff. (die unveränderte Wiedergabe eines vorher in La Cultura I I I (1923-1924), S. 404 ff., veröffentlichten Aufsatzes) ;

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A. MEILLET, La méthode comparative en linguistique historique, Oslo 1925, S. 60FF. ; W . MEYER-LÜBKE, RLiR I (1925), S. 22 ff., A. PHILIPPIDE, Originea Romînilor I , Iasi 1925, S. 380ff.; FR. RIBEZZO, Metodo storico e metodo geografico allo stato présente délia scienza del linguaggio in: RIGI IX (1925), S. 277ff. (Dieser Sprachwissenschaftler will, daß die Sprachgeographie der historischen Methode untergeordnet sei: „Dennoch, wie groß auch ihr Wert für die Darstellung eines Sachverhaltes, eines gegebenen Momentes sei, die linguistische Kartographie wird nicht den wissenschaftlichen Wert in einer Sache haben, in der eine bewegliche Realität im Verlauf der Jahrhunderte existiert. . . Unter einer einzigen Bedingung könnte sie eine Wissenschaft werden, nämlich dann, wenn sie periodisch im Abstand von Jahren wiederholt würde. Wenn sie also zur Darstellung nacheinander folgender Tatsachen werden würde, denn dann würde sie historisch werden." Zitiert nach H . MIHÄESCU, Arhiva XL [1933], S. 4 2 ) ; J. BROENDUMNIELSEN, Dialekter og Dialekt for skning, Copenhaga 1927 (2. Auflage ebenda 1951); A. DAUZAT, Les patois, Paris 1927 (dieses Buch muß als eine Ergänzung zu seiner bereits zitierten Arbeit La géographie linguistique betrachtet werden); SEVER POP, Buts et méthodes des enquêtes dialectales, Paris 1927 (vgl. die Rezension von L . SPITZER in LgrP XLIX [1928], col. 189ff., und die von C. TAGLIAVINI in ARo XII [1929], S. 579 ff.) ; Actes du premier Congrès de linguistes tenu à la Haye du 10—15 avril 1928, S. 19 fï. ; G. BERTONI, Geografia linguistica in: ARo XII (1928), S. 333ff.; A. DAUZAT, Les atlas linguistiques et la cartographie in: MF 1928, S. 592ff. ; E. GAMILLSCHEG, Die Sprachgeographie und ihre Ergebnisse für die allgemeine Sprachwissenschaft, Bielefeld-Leipzig 1928; E. PLATZ, Géographie panlinguistique in : JLS 1928, S. 6 3ff.; W. I. DOROSZEWSKI, Betrachtungen über die Methoden der linguistischen Geographie in : PF XIV (1929), S. 154ff.; AL. ROSETTI, Jules Gilliéron si geografia lingvisticä in: VRom 1929, S. 20ff.; O.BLOCH, J. Gilliéron et l'Atlas linguistique de la France in: RP, 1. Februar 1929 (Sonderdruck 16 Seiten); P. N. SAVICKY, Les problèmes de la géographie linguistique du point de vue du géographe in: Trav I (1929), S. 145ff. (Der Verfasser, der Geograph ist, zeigt, daß die sprachgeographischen Feststellungen in bezug auf die Areale, die Ausstrahlungszentren usw., deren Grenzen nicht von einem Fakt zum anderen zusammenfallen, denen der eigentlichen Geographie [der klimatologischen, ökonomischen, botanischen, zoologischen usw.} ähnlich sind. Die sprachlichen Areale stimmen sogar überein oder können übereinstimmen mit den ökonomischen, botanischen usw., was der Autor mit Hilfe der Studien zu beweisen sucht, die er in den Gebieten von Tschisuralien in der Sowjetunion unternahm. Infolgedessen schlägt er vor, die verschiedenen Kategorien von Fakten — sprachliche, ökonomische, botanische u. a. — zu koordinieren.) ; A. TERRACHER, L'histoire des langues et la géographie linguistique (The Zaharoff Lecture), Oxford 1929 ; Ai. ROSETTI, Lingvisticä in cercetarea monograficä in: VRom, Juli-August 1930, S. 69ff.; TH. FRINGS, Sprachgeographie und Kulturgeographie in: ZD XLIV (1930), S. 546ff.; F . KARG, Mundartgeographie in: AK XX (1930), S. 222ff.; N . S. TRUBETZKOY, Phonologie und Sprachgeographie in: Trav IV (1931), S. 228ff.; G. BOTTIGLIONI>

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Le inchieste dialettali e gli atlanti linguistici in: Atti della X X riunione della Società italiana per il progresso delle scienze, Milano 1932; derselbe, Il valore unitario e quello obiettivo degli atlanti linguistici in: ASNSP, Serie I I , vol. I, Bologna 1932 ; U L R I C H L E O , Dialektgeographie und romanische Sprachwissenschaft in: ASNS C L X I I (1932), S. 203ff. (Von Interesse sind einige Peststellungen des Verfassers, wie z . B . : „Die Sprachgeographie ist ein Kind der naturalistischen und vor allem evolutionistischen Konzeption", was ihre Stärke, aber auch ihre Einseitigkeit erkläre, sowie die Tatsache, daß sie sowohl die Junggrammatiker befriedige, die in der Sprache ein naturhaftes, autonomes und absolutes Brodukt sehen, wie auch die soziologischen Sprachwissenschaftler, f ü r die die Sprache ein Mittel der Kommunikation unserer Gedanken sei.) ; W. P E S S L E R , Deutsche Wortgeographie in : WS XV (1932), S . 1 ff. ; J o s . S C H R I J N E N , Essai de bibliographie de géographie linguistique I-II, Nimègue 1933—1934; E. P A P P , Die Sprachatlasarbeiten der Welt in: Scientia, Juli—August 1934; N. L I N D Q V I S T . Sprâkgeografi i n : H. S. N Y B E R G , Orientenring i Sprakvetenskap, Stockholm 1943, S. 36ff.; A. K U H N , Sechzig Jahre Sprachgeographie in der Romania in : Ro J b I (1947—1948) S. 25 ff. Eine außerordentlich reiche Bibliographie, die sich nicht nur auf die Sprachgeographie bezieht, enthält das Werk von S E V E R P O P , La dialectologie. Aperçu historique et méthodes d'enquête linguistique, 2 Bände, Louvain 1950 (der erste Band behandelt nur die romanische Sprachgeographie); vgl. auch A L W I N K U H N , Romanische Philologie I. Die romanischen Sprachen, Bern 1951, S. 100ff.; G. B O T T I G L I O N I , Questioni di metodo nella preparazione degli atlanti linguistici (A proposito di una recente publicazione) in: CN X I I (1952), S. 144ff. ; M. S A N C H I S G U A R N E R , La cartografía lingüística en la actualidad y el Atlas de la Península Ibérica, Palma de Mallorca 1953; G. B O T T I G L I O N I , La geografia linguistica. Realizzazioni, metodi e orientamenti in: RLiR X V I I I (1954), S. 143 ff. (Dieser Aufsatz erschien auch in Word X (1954), S . 375ff.); C. S C H I C K , La geografia linguistica in: Paideia I X (1954), S. 241 ff. Eine kritische, gut informierende und klar dargebotene Darlegung gibt E U G E N I O C O S E R I U , La geografia lingüística, Montevideo 1955. Hinzuzufügen ist noch: P . M . A B A H E C O B , J I H H rBHCTHiecKaH Teorpa^HH in: V I I (1952), S. 25ff.; B. M. HíiipMyHCKiift, O HeKOToptix npoÖJieMax JiHHrBHCTHiecKoñ reorpaijjim, ebenda I I I (1954), Easz. 4, S. 3 ff., ein interessanter Aufsatz wegen der kritischen Einstellung des Verfassers, die in großen Linien auch die der gesamten sowjetischen Sprachwissenschaft ist. Vgl. auch die umfangreiche Arbeit von P . M . A B A H E C O B und C. B. EepHHiTefiH, JlHHrBHCTHiecKaH reorpaHH H CTpyKTypa H3HKa. 0 npHHijHnax oßmecjiaBHHCKoro jiHHrBHCTHiecKoro aTjiaca, MocKBa 1958. Anläßlich des Todes von G I L L I É R O N wurden zahlreiche Nekrologe geschrieben, die Interesse f ü r seine Lehre besitzen, aber auch für die Kenntnis seiner so originellen und sonderlichen als auch wissenschaftlichen Persönlichkeit: K. J A B E R G in der Zeitung Der Bund (Bern), 4. Mai 1926; J . U. H U B S C H M I E D , Neue Züricher Zeitung, 6. Mai 1926; E. T A P P O L E T , Basler Nachrichten (Der Verfasser hat mir den Sonderdruck zugeschickt, ohne das Datum anzugeben.); L. S P I T Z E R in ZFSL X L V I I I (1926), S. 506ff.; B. A. T E R R A C I N I in AGI, sezione neolatina X X (1926),

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S. 151 ff.; L. CLÉDAT in R P h F L X X X V I I I (1926), S. 87ff.; IOEGU IORDAN in Arhiva X X X I I I (1926), S . 223ff.; A. TERRACHER in RLiR I I (1926), S . 1; M . R O Q U E S in Ro L H (1926), S. 219ff.; derselbe, Jules Gilliéron, notes biographiques et bibliographie in: AEP (section des sciences historiques et philologiques) 1926-1927, S . 3 ff. (vgl. die Rezension von L. SPITZER in LgrP XLVIII (1927), col. 111 ff.; S . P O P , Dacor IV (1924-1926), S . 1531 ff.; A. GRIERA, BDC XVI (1928), S. 72 ff. Schließlich vergleiche man noch die Rezensionen zu den sprachgeographischen Arbeiten und den Sprachatlanten, von denen später die Rede sein wird. 1 Weitere sprachgeographische

Arbeiten

in

Frankreich

Der von GILLIÉRONS Sprachgeographie ausgeübte Einfluß erscheint in all seinem Glanz, wenn wir die Tätigkeit betrachten, die zahlreiche Fachleute nach dem Vorbild des Begründers dieser Disziplin in allen Ländern entfalteten und noch entfalten. Zunächst sollen wesentliche sprachgeographische Arbeiten im Bereich der romanischen Sprachwissenschaft betrachtet werden, dann die Sprachatlanten, die veröffentlicht worden sind, und diejenigen, die gerade veröffentlicht oder vorbereitet werden, und schließlich die Versuche, die Lehre GILLIÉRONS auf andere Bereiche anzuwenden. Es versteht sich, daß ich nicht die Absicht habe, vollständige Informationen über all diese Arbeiten zu geben, denn allein eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung dieser angezeigten Fragen ist sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Ich möchte nur den in der Tat außerordentlich großen Einfluß der Sprachgeographie auf die Sprachwissenschaft aufzeigen und so die Ansicht rechtfertigen, daß seit D I E Z in unserem Fach keine tiefgehendere Umwälzung erfolgt war. Zum anderen möchte ich aber die Neuerungen herausstellen, die die Schüler und Nachfolger GILLIÉRONS in sein Werk eingeführt haben, indem es ihnen gelang, gemäß den Forderungen der Zeit es zu vervollkommnen und weiter zu entwickeln. Ich beginne mit seinen französischen Schülern, die sich in vieler Hinsicht als treue Nachfolger des Meisters erwiesen. Georges Millardet Der älteste dieser Schüler ist GEORGES MILLARDET, der später zum Gegner der Sprachgeographie wurde. Er hatte bei E. BOURCIEZ 2 studiert, dem er auch eine seiner später noch zu erwähnenden Arbeiten widmete. Das erklärt auch MILLAR1

2

In den letzten Jahren sind GILLIÉBON zwei Studien gewidmet worden, die alle Seiten seiner Persönlichkeit betrachten und ein sehr reiches Material bringen: Mélanges Jules Gilliéron in: Orbis. Bulletin International de Documentation Linguistique VI (1957), S. 7ff. (mehr Erinnerung für diejenigen, die ihn gekannt haben), und SEVEB P O P und RODICA DOINA POP, Jules Gilliéron, Vie, enseignement, élèves, œuvres, souvenirs, Louvain 1959 (200 Seiten). Somit ist er nur indirekt ein Schüler GILLIÉRONS. Aber er legte auch das Doktorat an der Sorbonne nicht bei BOURCIEZ ab, sondern bei anderen Professoren.

16 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel III. Sprachgeographie

Bewunderung für die Phonetik und für die historische Methode, die bereits mit der Schaffung unseres Faches begründet wurde. Deshalb konnte er auch mit der Zeit so zurückhaltend, ja sogar feindlich gegenüber G I L L I É K O N und der Sprachgeographie werden.1 Zugleich verstehen wir, weshalb er in seinen Arbeiten die traditionellen Verfahren mit den neuen verbindet. Innerhalb eines Jahres veröffentlichte M I L L A B D E T drei Bücher, die so eng miteinander verbunden sind, daß sie ein einziges Werk darstellen. Die Titel lauten : Petit Atlas linguistique d'une région des Landes. Contribution à la dialectologie gasconne, Toulouse-Paris 1910; Études de dialectologie landaise. Le développement des phonèmes additionnels, Toulouse 1910; Recueil de textes des anciens dialectes landais, Paris 1910. Der Sprachatlas enthält 573 Karten des Gebietes von Landes, wo Volksmundarten gesprochen werden, die zum gascognischen Dialekt gehören. Mit Absicht hat der Autor diese ziemlich ausgedehnte und der politischen, geographischen und ökonomischen Einheit entbehrende Gegend ausgesucht. Er hoffte, so leichter die Lösung des viel diskutierten Problems, ob es Dialekte gibt, zu finden. Das Questionnaire wies 800 Fragen auf, und zwar 400 Einzelwörter und 400 Sätze. Die große Anzahl der Sätze erklärt sich durch die besondere Aufmerksamkeit, die M I L L A B DET der Syntax und der Semantik widmete. Alle Aufnahmen dazu wurden im Verlauf von 4 Jahren (mit Unterbrechungen) an Ort und Stelle durchgeführt. 68000 Antworten wurden gesammelt. Seinen Untersuchungen hatte er hauptsächlich die Gemeinden (insgesamt waren es 85) als Kern zugrunde gelegt, die Marktflecken waren. Auch die Weiler wurden nicht vernachlässigt, obgleich sie in dieser Gegend weniger zahlreich sind. Außer den Karten enthält dieser Atlas auch Lauttafeln. Der Autor hat sich, wie er selbst sagt, der naturwissenschaftlichen Methoden bedient, das sind Beobachtung und Experiment. Aus der Beobachtung ergaben sich die Sprachkarten, aus dem Experiment mit Hilfe des künstlichen Gaumens und der Schreibkapsel die Lauttafeln (er ging genauso vor wie der Abbé K O U S S E L O T in Les modifications du langage . . . und Principes de phonétique expérimentale). Die Einführung zu diesem Band (über 70 Seiten) informiert über das explorierte Gebiet, über die Menschen und die von ihnen gesprochene Sprache, über die Methode, über die Sujets, die Umschrift u. a. Das gesammelte Material wird vom lautlichen Gesichtspunkt her im zweiten Buch bearbeitet. M I L L A B D E T studiert jedoch nur bestimmte Laut Veränderungen, und zwar die Insertion, die Epenthese, die Prothese und die Transition oder Stütze („soutien"). Alle diese Erscheinungen haben, wenn sie nicht einer außerlautlichen Ursache zu verdanken sind, ihre Quelle in einer der großen Mehrheit DETS

1

In den ersten Büchern M I L L A R D E T S finden sich außerordentlich günstige Urteile über den ALF (den er 'magnifique' nennt), über die für die Materialsammlung angewandte Methode („es dürfen die Nachteile dieser nicht übertrieben werden") und über das benützte Questionnaire (nach dessen Vorbild er auch sein eigenes aufgestellt hat). Hinsichtlich der Beziehungen M I L L A R D E T S zu G I L L I É R O N und der Sprachgeographie vergleiche auch das, was N. MACCARRONE sagt in RLiR V I (1930), S. 20ff.

Georges Millardet

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der Laute inhärenten Tendenz, die M I L L A K D E T als die Tendenz zur Segmentation bezeichnet. Der einfachste Laut setzt verschiedene Sprechorgane in Bewegung. Wenn diese nicht in völliger Übereinstimmung funktionieren — was meistens geschieht — lassen sie mit der Zeit neue Laute entstehen, die vorher nicht vorhanden waren. Ebenso kann auch der folgende Fall eintreten : Die Sprechorgane werden nicht rechtzeitig angehalten und erzeugen dann einige Lautanfänge, die, unterstützt von den benachbarten Lauten, allmählich eine eigene Existenz erlangen. Um die erörterten Phänomene zu bestimmen, wurden die gesammelten Texte in der dritten Arbeit herausgebracht. So wandte der Autor nach seinen eigenen Worten in Études de dialectologie landaise alle Methoden der sprachwissenschaftlichen Forschung an, um zu sehen, zu welchen Ergebnissen er gelangen wird: a) Das kritische Studium der historischen oder literarischen Dokumente (,,la plus ancienne des trois méthodes, celle à qui la science doit la plupart de ses certitudes actuelles") ; b) Die neue und unerläßliche experimentelle Methode ; c) Die geographische Methode („rajeunie aujourd'hui par une école qui lui a communiqué une impulsion et une portée nouvelle" 1 , op. cit., S. 12—13). Die erste Methode diente ihm zur Festlegung der Chronologie der Erscheinungen, die zweite half ihm, den Mechanismus der Bildung neuer Laute zu verstehen, und die letzte zeigte ihm die Ausdehnung der sprachlichen Fakten im Räume. Interessant sind die Schlußfolgerungen (ebenda, S. 215 ff.). M I L L A R D E T stellt überall eine unendliche Verschiedenartigkeit der studierten Erscheinungen fest, obgleich es sich nicht um ein weit ausgedehntes Gebiet handelt. Ferner wird eine Unordnung und ein fast völliges Fehlen von Regelmäßigkeit beobachtet. Die Gründe für die Verschiedenartigkeit sind seiner Ansicht nach folgende: Bald hörte ein altes „Gesetz" auf weiter zu wirken, bald tauchte eine neue Tendenz auf, der es noch nicht gelungen ist, sich durchzusetzen. Trotz der Unordnung und der Verschiedenartigkeit können dennoch allgemeine „Gesetze" bei der Verbreitung der organischen Erscheinungen 2 festgelegt werden, wie es die auf den Karten aufgezeichneten Isoglossen 3 beweisen. M I L L A R D E T erklärt das Vorhandensein dieser „Gesetze" wie folgt : Die physiologischen Veränderungen der Laute werden unbewußt erzeugt, aber sie entwickeln sich und werden mit der Zeit bewußt. Von 1

2

3

Diese Worte beweisen, daß M I L L A R D E T einen anderen und nicht G I L L I É R O N für den Begründer der Sprachgeographie hält. Vgl. M E I L L E T (bereits zitiert auf S. 180, Fußnote 3 ) , der in R O U S S E L O T den Begründer der Sprachgeographie, in G I L L I É R O N aber den der Sprachgeologie sieht. D. h. der eigentlichen lautlichen oder physiologischen (zum Unterschied von den „intellektuellen", wie der Autor die Kontamination, die Analogie, die Lautübergänge von einem Wort zum anderen auf Grund der Nichtauf merksamkeit oder der Unfähigkeit, die Elemente des Satzes zu unterscheiden, nennt, usw.). Die geographische Verbreitung der sprachlichen Fakten wird mittels einiger Linien graphisch ausgedrückt. Wenn zwei oder mehrere Erscheinungen ungefähr dieselbe Ausdehnung haben, so folgt, daß die entsprechenden Linien mehr oder weniger zusammenfallen. In solchen Fällen wird von Isoglossen gesprochen. Einige Linguisten wollen diese Erscheinungen genauer unterscheiden und sprechen daher von Isophonen bei lautlichen Phänomenen, von Isomorphen bei morphologischen, von Isolexen bei lexikalischen usw. (vgl. auch Isotone, Isosyntagmen).

16*

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Kapitel I I I .

Sprachgeographie

diesem Moment an streben sie danach, festgelegt und verallgemeinert zu werden, indem sie einige Normen oder „Gesetze" entstehen lassen. Aus der auf den vorangehenden Seiten gegebenen Darstellung ist nicht schwer zu erkennen, daß MILLARDET die alten Methoden mit den von GILLIÉRON angewandten zu verbinden sucht und zugleich die traditionalistische Konzeption mit der des Begründers der Sprachgeographie (vgl. auch die Einschätzung, die N , MACCARRONE in RLiR V I [ 1 9 3 0 ] , S. 2 0 , gibt). Ob und in welchem Maße ihm dies gelingt, kann hier nicht gezeigt werden. Wie dem auch sei, MILLARDET bevorzugt ohne Zweifel mehr die alte Schule. Genauer gesagt : Die neuen Methoden dienten ihm nur dazu, mit noch nicht von anderen Gelehrten benützten Argumenten die Zuverlässigkeit der Theorien zu bestätigen, für die er eintrat. So erklärt sich die Einstellung, die er später in Linguistique et dialectologie romanes gegenüber GILLIÉRON und der Sprachgeographie bezieht.1

Charles Bruneau BRUNEATT2 ähnelt MILLARDET darin, daß er sich speziell für die Laute interessiert und zugleich mit den gegenwärtigen Sprachzuständen auch die vorangehenden Phasen der aufgenommenen Mundarten studiert. Der Lehre GILLIÉRONS dagegen zollt er wesentlich mehr Anerkennung. Außerdem bringt er die Darbietung des mundartlichen Materials nicht kartographisch, sondern in der traditionellen Form des Glossars. Die von ihm angewandte Methode ist jedoch die eigene Enquete an Ort und Stelle gewesen, die auf einem Questionnaire fußte. Sie wurde durch das experimentelle Verfahren, wie wir es bei MILLARDET sahen, noch vervollständigt. Das Material dazu veröffentlichte BRUNEAU nach den theoretischen Studien, denen es als Ausgangspunkt gedient hatte, unter dem Titel Enquête linguistique sur les patois d'Ardenne ; Band I, der die Wörter von a—l umfaßt, erschien 1914 in Paris, der II. und letzte Band (mit den Buchstaben m—y) im Jahre 1926 ebenda. Der Autor suchte 93 Dörfer im französischen Departement Ardennes und in den belgischen Provinzen Namur und Luxemburg auf. Dabei benutzte er das von GILLIÉRON für den französischen Sprachatlas aufgestellte Questionnaire und veränderte es nach den speziellen Gegebenheiten des untersuchten Gebietes. Im Gegensatz zu dem von GILLEÊRON festgelegten Prinzip preßte BRUNEAU die 1

2

Die Arbeiten MILLAKDETS wurden u. a. von A . MEILLET rezensiert in B S L X V I ( 1 9 0 9 / 1 0 ) , S. C C C X X V I I f f . , der die Reichhaltigkeit des Atlasses lobt, und das um so mehr, weil das explorierte Gebiet relativ wenig ausgedehnt ist : K e i n Land, keine Sprache besaß damals etwas Entsprechendes. E r bedauert nur, daß der Autor den Informationen hinsichtlich der „ S a c h e n " nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Daher kommt es z. B., daß wir nicht verstehen können, weshalb „Weizen" „ R o g g e n " genannt wird. E s ist offensichtlich, daß eine solche Konfusion „sachliche", nicht sprachliche Gründe hat. A u c h M. GBAMMONT sprach sich günstig aus über die Bücher MILLABDETS in R L R X L V I ( 1 9 1 3 ) , S. 4 8 1 ff. Vgl. ferner E . BOUBCIEZ in A M X X I I I ( 1 9 1 1 ) , S. 79FF. Vgl. auch Mélanges de linguistique française offerts à M. Charles Bruneau, Paris 1954.

Charles Bruneau

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Antworten heraus, d. h., er bestand nachdrücklich darauf, Antworten auf alle gestellten Fragen zu erhalten. Wenn er es für nötig und interessant erachtete, bediente er sich auch des in den Gedenkschriften enthaltenen Materials, die von den Volksschullehrern des Departements Ardennes anläßlich der pädagogischen Konferenz vom Jahre 1910 verfaßt worden waren. So verband B R U N E A U die eigene Enquete mit derjenigen durch Korrespondenten. Die Antworten auf die Fragen sind alphabetisch geordnet wie in einem Wörterbuch : An der Spitze jedes Artikels steht das Wort der Hochsprache, dann folgen die mundartlichen Äquivalente mit der Ordnungszahl des Dorfes, in dem sie gesammelt sind. Viele Artikel sind sehr reichhaltig, weil der Autor nicht nur die eigentlichen Wörter wiedergibt, sondern auch jede Art von sprachlichen Informationen über sie. Auf diese Weise hat ein Artikel denselben Wert wie eine Karte eines Sprachatlasses, von dem er sich nur vom graphischen Standpunkt aus unterscheidet. Aber dann und wann werden uns auch Karten gegeben (insgesamt 89) mit dem Ziel, die geographische Verbreitung einiger lautlicher und lexikalischer Erscheinungen aufzuzeigen — ganz nach der Art MILLARDETS. Die Bearbeitung des in Enquête . . . niedergelegten Materials nimmt BRTXNEAU vor in Étude phonétique des patois d'Ardenne, Paris 1913. Zu dem Gegenstand dieser Studie sagt er uns auf Seite 3: „ J ' a i donc étudié successivement les différents phonèmes que présentent, à l'époque actuelle, les patois d'Ardenne, et, après une description aussi précise que possible de ces phonèmes, j'ai indiqué les principaux cas dans lesquels on les recontre." Häufig genug indessen beschäftigt sich der Autor auch mit der Entwicklung der Volksmundarten, die er studiert. Zu diesem Zweck wertet er eine Anzahl alter sprachlicher Dokumente aus, die zu demselben Gebiet gehören und teilweise unter dem Titel Chartes de Mézières en langue vulgaire am Ende des Bandes veröffentlicht worden sind. „L'Étude phonétique des patois d'Ardenne présente donc un tableau complet des principaux caractères dialectaux de la région ardennaise à l'époque ancienne et à l'époque moderne. J'essaierai, après avoir étudié successivement chaque fait, de faire la synthèse des conclusions de détail que j'aurai établies et de dégager les tendances phonétiques générales qui ont dominé toutes les évolutions particulières." (ebenda, S. 7.) Diese allgemeinen Tendenzen werden dargelegt im Schlußteil dieses Buches (S. 5 3 4 ff.). Die dritte Arbeit B R U N E A U S , die eng mit der vorhergehenden verbunden ist, heißt La limite des dialectes wallon, champenois et lorrain en Ardenne, Paris 1913. Für die Probleme, die die Sprachgeographie stellt, besitzt diese Studie beträchtliches Interesse. Die Mundarten in den Ardennen sind das Produkt von drei verschiedenen Ursachen: die eine ist sprachlicher Natur (nur die Phonetik und die Morphologie sind ursprünglich, die anderen Elemente nicht; besonders der Wortschatz bildet den am wenigsten stabilen Teil wegen der fehlenden Festlegung, wegen des Einflusses der Hochsprache usw.), die andere gesellschaftlicher Art (eine Sprachgruppe steht in Berührung mit anderen benachbarten, die sie beeinflussen), und die dritte ist historischer Natur (in der Vergangenheit erfolgten Bevölkerungsverschiebungen und andere Ereignisse, die zur Bildung der Dialekte,

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Kapitel III. Sprachgeographie

so wie sie gegenwärtig existieren, beigetragen haben). Auf Grund ihrer geographischen Lage gehören die von BBTTNEAU untersuchten Volksmundarten zu drei verschiedenen Sprachgruppen: der wallonischen, champagnischen und lothringischen. Die Grenzen dieser Dialektgebiete waren einst genau festgelegt, heute aber sind sie schwankend. „La limite dialectale d'un caractère phonétique n'est pas nette. Les villages voisins de la frontière phonétique mélangent, ou échangent, les formes: les différences d'articulation s'atténuent; des voyelles intermédiaires créent entre deux voyelles extrêmes une sorte de transition. La limite d'un caractère phonétique dépend aussi de la vitalité du mot étudié : elle varie sensiblement avec chaque mot." (op. cit., S. 179.) Gemäß oben erwähnter Feststellungen studiert der Autor auch die Morphologie, die sich wie die Laute als mehr oder weniger einheimisch erweist. Er gelangt zu folgendem Resultat: ,,. . . la confusion des formes dans l'intérieur de chaque dialecte et entre les différents dialectes. Cette confusion provient de trois causes principales : l'invasion des formes françaises ; les évolutions phonétiques, qui ont multiplié, par exemple, les évolutions d'une voyelle unique (-5 désinence de Ill-e personne du pluriel de l'indicatif présent); et surtout les créations analogiques." (ebenda, S. 230.) Die Schlußfolgerungen in bezug auf die Dialektgrenzen und das Vorhandensein von Dialekten finden wir gleich am Anfang seines Buches: „II n'y a donc pas de dialectes; et, s'il y en avait, nos cartes seraient impuissantes à les reproduire dans leur réalité. L'unité apparente, purement abstraite, de dialecte, se résout à l'analyse en une multitude de groupes linguistiques." (ebenda, S. 9—10.) „II peut donc y avoir des limites de dialectes, et il est nécessaire de les déterminer: mais ces limites n'ont qu'une existence scientifique et abstraite; elles ne correspondent à rien de réel dans la conscience du sujet parlant." (ebenda, S. 19.) Dasselbe sagt B B U N E A U mit anderen Worten auch auf Seite 231 ff. unter dem Titel „conclusion". 1 1

Vgl. die Rezension von O. BLOCH in BSL X V I I I (1912/13), S. CCLXXIIIff., und d i e v o n J . RONJAT i n R L R L X ( 1 9 1 8 / 2 0 ) , S . 191FF. RONJAT l o b t B R U N E A U , w e i l

er viel Neues nicht nur in bezug auf lokale, sondern auch auf allgemeine sprachwissenschaftliche Probleme sagt. Wenn er nicht endgültig Klarheit bringt, so ist das auf die Komplexität der Fakten zurückzuführen und nicht auf die angewandte Methode. Aus diesen Arbeiten ist klar ersichtlich, daß Dialektgrenzen in streng linearem Sinne nicht existieren. Das illustrieren erneut die Feststellungen GAUCHATS in der Arbeit Gibt es Mundartgrenzen? Die Dialektgrenzen bilden ein 'faisceau de traits' und fallen nicht mit den natürlichen Grenzen und teilweise auch nicht mit denen MORÍS in bezug auf die kirchlichen Gebietseinteilungen zusammen (vgl. den entsprechenden Abschnitt in diesem Kapitel). Die Einschätzungen RONJATS sind um so interessanter, da sie von einem Gegner der Sprachgeographie kommen. Die Studien zu einer kritischen Bibliographie, die BRUNBAU hinsichtlich der Dialekte in Lothringen und in der Champagne in RLiR I (1925), S. 348FF., und VI (1930), S. 71 ff., veröffentlicht hat, müssen an dieser Stelle noch erwähnt werden. Eine Vervollständigung der Arbeiten dieses Sprachwissenschaftlers über die Mundarten in den Ardennen stellt in gewissem Sinne dar : Tous les Ardennes. Vieux langages et vieilles choses, Gespunsart 1940, von A. VAUCHELET (mit einem V o r w o r t v o n CH. BRUNEAU).

A . Terracher

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A . Terracher (1881-1955) Wenn MILLARDET und BEUNEAU trotz ihrer positiven Einstellung zur Sprachgeographie Konzessionen an die traditionelle Richtung gemacht haben, indem sie die lautliche Seite der Volksmundarten studierten, so bricht A. TERRACHER völlig mit dieser Tradition. Er wählt sich die Morphologie als Grundlage seiner wissenschaftlichen Untersuchungen aus. Außerdem führt er noch einen neuen Gesichtspunkt ein, der seinen Ursprung in der Lehre der französischen sprachwissenschaftlichen Schule hat (vgl. Kap. I V des vorliegenden Buches). Es handelt sich um die soziologische Sprachauffassung: Die menschliche Sprache ist eine gesellschaftliche Tatsache und entwickelt sich als solche abhängig von anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten. TERRACHER studiert die Art, wie bestimmte französische Dialekte ihre Morphologie durch den Einfluß verändert haben, den die anderen Dialekte auf sie ausübten, die durch Verheiratungen Einheimischer mit Auswärtigen in die jeweiligen Ortschaften gebracht wurden. Diese Auffassung führte noch zu einem anderen Prinzip, das dieser Sprachwissenschaftler ebenfalls in seinen Arbeiten anwendet: Stehen sich zwei Mundarten gegenüber, so übt diejenige besonders starken Einfluß aus, die dank günstiger Umstände mehr Ansehen genießt. Mit anderen Worten: Was seine Lehre betrifft, so gehört TERRACHER zur französischen sprachwissenschaftlichen Schule (wie sie besonders MEILLET vertrat), die sich übrigens hinsichtlich der Sprachauffassung auch nicht wesentlich von der GILLXÄRONS unterscheidet. Und was die Methode anbelangt, steht TERRACHER auf der Seite der Sprachgeographie. Wenn wir außerdem den überaus scharfen kritischen Geist betrachten, der in dem Werk des ehemaligen Rektors der Universitäten Dijon und Bordeaux zum Ausdruck kommt, so können wir sagen, daß von allen französischen Schülern GILLI^RONS TERRACHER der originellste ist. Mit der Arbeit Les aires morphologiques dans les parlers populaires du nordouest de l'Angoumois (1800—1900), vol. I , Paris 1914, vol. I I (mit dem Untertitel Appendices), Paris 1912, v o l . ' I I I (mit dem Untertitel Atlas), Paris 1914, gab er in der romanischen Sprachwissenschaft sein Debüt. Außer dem sprachlichen Material enthält der Atlas noch reichhaltige und verschiedenartige Mitteilungen über das explorierte Gebiet, die auch in Kartenform dargeboten werden. Hier einige Kapitelüberschriften: Die prähistorische Epoche, die galloromanische Periode, Toponymie, Landwirtschaft, Handel und Industrie, Verbindungswege, Jahrmärkte und Messen, der Plural des bestimmten Artikels, der Plural der weiblichen Substantive und Adjektive, das Pronomen ego, Personalendungen, das Perfekt des Indikativs, das Imperfekt des Konjunktivs, einige Lautgrenzen und lautliche Besonderheiten, die morphologischen Areale, das Verhältnis der Verheiratungen, Dichte der Ehen, Heiraten zwischen Einheimischen und Fremden, ansässige Bevölkerung u. a. Der zweite Band bietet statistisches Material. Um zu sehen, welchen speziellen Einfluß die Verheiratungen auf die Morphologie der studierten Dialekte haben, untersuchte TERRACHER die Archive der entsprechenden Ortschaften für die Zeit von 1800—1900. Die Ergebnisse dieser Nachforschungen sind in diesem zweiten Band niedergelegt: Die Listen der Verheiratungen zwi-

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sehen Ortsansässigen, Verheiratungen zwischen Einheimischen und Fremden, die Ehebewegung der einheimischen und die der fremden Bevölkerung, Rechnungen für die Ausstellung von Trauscheinen usw. Daher ist es angebracht, vor allem den ersten Band eingehender zu betrachten, denn er enthält die Ergebnisse und Ideen des Verfassers. In der Einführung erörtert T E R R A C H E R allgemeine Fragen der Sprachgeographie und der Sprachgeologie, wobei er sich in seinen Einschätzungen sehr unabhängig zeigt, besonders dann, wenn er über die Homonymie schreibt, über die positiven und negativen Ergebnisse der geographischen Methode usw. Das kartographische Studium der Volksmundarten, so wie es die Vorgänger durchgeführt haben, hat den Fehler, daß es die Erscheinungen nicht erklärt, sondern sie nur feststellt. Um eine wirklich wissenschaftliche Disziplin zu werden, müßte die Sprachgeographie (im engeren Sinn des Wortes, s. Fußnote) 1 die Ursachen für die topographische Verteilung der sprachlichen Fakten aufdecken. Das versucht der Autor in der vorliegenden Arbeit. Es ist bekannt, daß das Bestehen der Dialektgrenzen von einigen Forschern mit den Volksstämmen in Verbindung gebracht wurde, die vor der Romanisierung in den Provinzen des ehemaligen Römischen Imperiums gelebt haben, von anderen mit bestimmten geographischen und historischen Gegebenheiten. Obgleich zahlreiche Übereinstimmungen besonders zwischen den Sprachgrenzen und den geographischen oder politischen Grenzen beobachtet worden sind, überzeugen die gegebenen Erklärungen nicht, weil sie keine wirkliche Beziehung zwischen der Sprache und den Sprechern herzustellen vermögen. Um aber diese Beziehung herzustellen, ist es notwendig, „les intermédiaires humains constants entre la répartition du langage et l'histoire locale" (Band I, S. XI) zu betrachten. Ein solches beständiges menschliches Zwischenglied bilden die Verheiratungen, bei denen einer der Ehegatten aus einem fremden Ort stammt. 2 Deshalb 1

Auch bei dem Gebrauch dieser Ausdrücke sehen wir den Einfluß M E I L L E T S . stellt genau den semantischen Wert heraus: die Sprachgeographie bedeutet Darstellung des Sprachmaterials in Kartenform mit dem Ziel, die topographische Verteilung der lautlichen Erscheinungen zu verfolgen; die Sprachgeologie, die G I L L I É R O N geschaffen hat, benützt die lexikalischen (statt der lautlichen) Karten und interessiert sich auch für die lexikalischen Schichtungen, d. h., sie treibt Sprachstratigraphie, indem sie zeigt, wie verschiedene Wortschichten im Verlauf der Zeit aufeinander zu liegen kamen. T E R R A C H E R führt eine Tatsache an, die das Ziel hat, die Zuverlässigkeit dieser Darlegung zu beweisen. In einer Gegend Schwedens gibt es eine Volksmundart, die von der der angrenzenden Gebiete verschieden ist. Als man eine Erklärung dafür suchte, stellte man fest, daß sich die Bewohner jener Gegend nur unter sich verheirateten, weil das zu bearbeitende Land zu gleichen Teilen an alle Kinder verteilt wurde. U m die ungünstige Auswirkung dieser sehr alten Gewohnheit zu vermeiden, nämlich die Zerstückelung des Eigentums, erfolgten die Verheiratungen fast immer so, daß zwei benachbarte Familien ihre Kinder mit dem Ziel verheirateten, dadurch ihren Besitz an Grund und Boden zu erhalten oder eventuell zu vergrößern. So erfuhr die Sprache dieser Gegend keine Einflüsse von außen her und entfernte sich damit immer mehr von der Sprache der benachbarten Gebiete, die auf Grund der anders gearteten gesellschaftlichen Bedingungen ständig auf mannigfaltige Art miteinander Verbindungen unterhielten. TERRACHEE

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entschloß sich T E R R A C H E R , die Dialekte eines französischen Gebietes unter dem Gesichtspunkt des Einflusses dieser gesellschaftlichen Tatsache auf die menschliche Sprache zu studieren. Weshalb sich der Autor dafür die Morphologie und nicht die Syntax ausgewählt hat, das sagt er auf Seite 35 ff. Die morphologischen Elemente sind für eine Sprache charakteristischer, sie weisen eine große Festigkeit auf (besonders dann, wenn sie zu einem strengen System gehören), sie sind unbewußte sprachliche Mittel und folglich den fremden Einflüssen weniger unterlegen, und sie können schneller und sicherer beobachtet werden. Mit Vorliebe verfolgte T E R R A C H E R nicht die eigentlichen Formen, sondern die morphologischen Typen 1 , besonders wenn ein solcher Typ mit einem morphologischen Areal 2 übereinstimmte. Das Ergebnis der Enquete war die Feststellung, daß die Verheiratungen zwischen Einheimischen und Fremden Veränderungen selbst im Aussehen der Formen hervorrufen, natürlich derjenigen Formen, die kein strenges System bilden, wie das beim bestimmten Artikel, beim Infinitiv und beim Partizip der Fall ist. Diese Veränderungen haben den Charakter einer Sprachmischung: Die durch Verheiratung in den Ort gekommenen Personen passen ihr morphologisches System dem der neuen Mundart an, wenn auch aus verschiedenen Ursachen nur in unvollkommener Weise (z. B. hilft das Buchwissen bei der Veränderung der Sprache, weil der Sprecher sich über die Besonderheiten zwischen dem einen und dem anderen Dialekt Rechenschaft gibt; ebenso spielt das Bewußtsein, daß ein Dialekt ,moins patois' oder ,plus patois' ist, eine bedeutende Rolle in dem Sinne, daß der zweite unvermeidlich dem Einfluß des ersten unterliegt). Aber auch die Sprache der Einheimischen erfährt Veränderungen durch die Eingewanderten: Die Redeweise der Kinder dieser „Mischehen" entfernt sich schneller und mehr als die Redeweise der Kinder einheimischer Eltern von der traditionellen Redeweise, die mit der Zeit durch eine neue ersetzt wird. Zur Illustrierung dieser Ansichten erwähnt der Autor den Fall des kleinen Dorfes Blancheteaux, das nur 46 Einwohner zählt. Er hat es absichtlich ausgewählt, weil es sich um eine Sprachgemeinschaft handelt, die in der Mitte liegt zwischen der Familie, deren Sprache R O U S S E L O T aufnahm, und der Gemeinde, die G A U C H A T 3 erforschte. T E R R A C H E R macht folgende Feststellungen : Die Volksmundart in dieser Ortschaft zeigt eine allgemeine Tendenz, die alten Formen durch neue zu ersetzen, die aber nicht aus der französischen Hochsprache kommen, sondern aus benachbarten (westlichen) Dialekten. Dieser Vorgang ist bei einzelnen Formen weiter fortgeschritten als bei anderen. Die 1

D. h. morphologische Systeme, z. B. wie die 2. Person Singularis der Verben lautet, wie der Plural gebildet wird, u. a. 2 Das Gebiet, dessen Mundart überall einen gleichen morphologischen Typ bietet, im Gegensatz zu den entsprechenden Typen der angrenzenden Gebiete, heißt morphologisches Areal. 3 TEBBACHEK erörtert prinzipielle Fragen im Widerspruch zu diesen beiden Sprachwissenschaftlern, die mit Hilfe der Enquete an Ort und Stelle erwiesen haben, daß es eine vollständige sprachliche Einheit in keiner Gemeinschaft von Sprechern gibt, wie klein sie auch sein mag.

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Kapitel III. Sprachgeographie

Ursachen für den Zerfall des morphologischen Typus scheinen vor allem auf die Einwanderung zurückzugehen, die durch die Heiraten mit Ortsfremden erfolgte. Denn diese 46 Einwohner des Dorfes Blancheteaux teilen sich nach ihrer örtlichen Herkunft wie folgt auf: 20 sind von außerhalb gekommen, 18 wurden in Familien geboren, wo nur einer der Ehegatten einheimisch war, und nur 8, d. h. weniger als 20%, entstammten Familien, in denen beide Elternteile einheimisch waren. Dagegen wird in den Dörfern, wo die einheimische Bevölkerung zahlreich ist, kein Zerfall des morphologischen Typus beobachtet. Somit gibt es durch Eheschließung bestimmte Zonen, die mit den morphologischen Arealen zusammentreffen. „Donc, il est aisé de mettre en rapport avec les faits de résistance ou de désagrégation morphologiques des faits démographiques et matrimoniaux strictement parallèles. Par contre, je n'ai pu relever, pour aucune des rares communautés dont il n'a pas été fait mention dans les notes qui précèdent, un manque de coïncidence entre cette double série de faits." (op. cit., S. 220.) T E R R A C H E R jedoch überschätzt die Ergebnisse seiner Untersuchungen nicht. Er gibt sich Rechenschaft über die Unvollkommenheit des angewandten Systems und zeigt sich daher zurückhaltend und vorsichtig, d. h. objektiv wie ein wirklicher Wissenschaftler. Vor allem vergißt er nicht, daß sich das von ihm erforschte Gebiet an der Grenze zwischen den nordfranzösischen und den provenzalischen Dialekten befindet, was die große sprachliche Verschiedenartigkeit jenes Gebietes teilweise erklärt. Diese Tatsachen können nicht übersehen werden. Doch ist wohl kaum anzunehmen, daß die Übereinstimmungen in der Gesamtheit und im einzelnen zwischen der Ehebewegung und der Widerstandsfähigkeit bzw. dem Zerfall der Morphologie einem einfachen Zufall zu verdanken wären. Die Art, wie sich die Wandlungen in dem von T E R R A C H E R erforschten Gebiet vollzogen haben, kann uns über die Vergangenheit Auskunft geben, in der ebenfalls Sprachersetzungen erfolgten (das Latein der römischen Kolonisten verdrängte die Sprache der einheimischen Kelten). Das geschah durch die gleiche psychologische Ursache (die das Produkt objektiver Bedingungen ist), nämlich durch die allgemeine und bewußte Tendenz, welche die Sprecher dann äußern, wenn zwei Sprachen miteinander in Berührung kommen: Sie geben die Sprache auf, die als niedriger erachtet wird, und nehmen diejenige an, die als überlegen gilt oder die das größere Ansehen besitzt. Diese Tendenz aber erfordert besondere Gegebenheiten, um zu praktischen Resultaten zu gelangen. Wie würde sich sonst der zuweilen sehr starke Widerstand so vieler Mundarten erklären, die, obgleich dem Druck anderer, ihnen von verschiedenen Gesichtspunkten aus überlegener Mundarten ausgesetzt, mehr oder weniger ihr traditionelles Aussehen bewahren ? Zu den tatsächlichen Bedingungen, die die sprachlichen Ersetzungen unterstützen oder verhindern, muß, das hat T E R R A C H E R überzeugend bewiesen, auch die Heirat gezählt werden. Was hindert uns daran anzunehmen, daß diese gesellschaftliche Gegebenheit auch in der Vergangenheit die gleichen Wirkungen auf die Sprachentwicklung gehabt haben wird ? Eine solche Annahme scheint um so begründeter, da der Autor Untersuchungen über die Ehebewegungen in der von ihm erforschten Gegend auch für die Zeit vor 1800 durchgeführt hat. Dabei

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stellte er fest, daß entgegen den Ansichten v o n R o u s s E L O T und D A U Z A T 1 die Heiraten zwischen Einheimischen und Fremden auch in jener Zeit sehr häufig vorkamen. Die Einschränkung jedoch gab es, die die alten Feudalgesetze vorgesehen h a t t e n : Verheiratungen von einem Dorf zum anderen waren nur erlaubt im Bereich desselben Feudalgebietes, nicht auch über dessen Grenzen hinaus. Die geographische Verbreitung der gegenwärtigen morphologischen Typen bestätigt die mit Hilfe der Statistiken und der Geschichte erhaltenen Daten, so daß TERRACHER eine Beziehung zwischen den Sprachgrenzen und den Feudalgrenzen von einst herstellt: Die morphologischen Areale der v o n i h m studierten Gegend entsprechen nicht den alten administrativen oder kirchlichen Einteilungen, wie sie E. BOEHMER bzw. H. M O B F bei anderen romanischen Sprachgebieten vert r e t e n hatten, sondern sie stimmten oftmals mit der Einteilung der ehemaligen Feudalgebiete überein. (Die letzte Karte des Atlasses von T E B B A C H E B trägt den Titel „Limites des fiefs [XlI-e—XIII-e siècles]".) 2 Diese Feststellung besitzt eine große theoretische Bedeutung, weil sie sich auf eine wohlbekannte historische Tatsache stützt, die für die Lebensbedingungen in der Feudalepoche charakteristisch ist, nämlich auf die feudale Zersplitterung.

1 2

Ersterer in seinem bereits zitierten B u c h Les modifications phonétiques . . ., der andere in sprachgeographischen Studien über die M u n d a r t e n der Basse-Auvergne. Die Arbeiten von TEBBACHEB wurden von der F a c h w e l t sehr günstig aufgenommen. A. MEILLET, B S L I X (1914/15), S. 28FF., lobt ohne Einschränkungen nicht n u r das Material u n d die Ideen des Autors, sondern a u c h den kritischen Geist sowohl gegen andere als a u c h gegen sich selbst, v o n d e m seine Arbeiten Zeugnis ablegen. Einige Einschätzungen MEILLETS betreffen die Sprachgeographie im allgemeinen. Daher halte ich es f ü r angebracht, sie hier wiederzugeben. «C'est que, depuis le livre de M. Rousselot (s. vorangehende F u ß n o t e ) la géographie linguistique est devenue une force.» — «La n o u v e a u t é d u m o t et de l'aspect sous lequel se présentent les choses a t r o p dissimulé le fait que la géographie linguistique représente simplement la perfection de la m é t h o d e comparative.» — «Mais il n ' y a rien d'essentiellement nouveau d a n s la m é t h o d e ; il ne s'agit que d ' a p p l i q u e r à des masses de faits beaucoup plus grandes la vieille m é t h o d e c o m p a r a t i v e , la seule avec laquelle on puisse faire l'histoire des langues.» (loc. cit., S. 30.) Ebenso voiler Lob ist auch die Rezension von J . RONJAT in R L R L X (1918—1920), S. 194FF., der u. a. schreibt: «Les t r a v a u x de M. Terracher complètent ou modifient beaucoup d'idées admises et a p p o r t e n t des vues nouvelles e x t r ê m e m e n t précieuses. Leur intérêt dépasse le cadre d u romanisme, et c'est à b o n droit que d a n s la IV e édition de son I n t r o d u c t i o n à l'étude comparative des langues indoeuropéennes M. Meillet indique Les aires morphologiques . . . comme u n 'livre c a p i t a l ' pour une bonne orientation en linguistique générale.» (loc. cit., S. 194.) V g l . a u c h J . ANGLADE in A M X X I X - X X X ( 1 9 1 7 / 1 8 ) , S. 99FF. V o n d e n a n d e r e n

Arbeiten TERBACHEBS verdienen hier e r w ä h n t zu werden: Aveille < apicula à Paris? in: Mélanges Antoine Thomas, Paris 1927 (Sonderdruck 14 Seiten); La rencontre des langues entre Loire et Dordogne (Sonderdruck aus Centre-Ouest, Paris 1926, 7 Seiten) u n d L'histoire des langues et la géographie linguistique, Oxford 1929. I c h m u ß d a n n noch hinzufügen, d a ß die R e v u e de linguistique romane, die seit dem J a h r e 1925 erscheint, durch ihren Charakter auch als Publikationsorgan der Sprachgeographie b e t r a c h t e t werden k a n n . Sie wurde lange Zeit g e m e i n s a m v o n A . TEBBACHEB u n d O. BLOCH h e r a u s g e g e b e n .

242

Kapitel III. Sprachgeographie

Oscar Bloch (1877-1937) Der letzte von den französischen Schülern GILLIÉRONS in der chronologischen Reihenfolge der Arbeiten ist 0 . BLOCH, der ehemalige Nachfolger des Meisters auf dem Lehrstuhl für galloromanische Dialektologie an der École des Hautes-Études. Er studierte die Volksmundarten eines Vogesengebietes, das in sprachlicher Beziehung zu den lothringischen Dialekten gehört. Neu ist bei diesem Anhänger der Sprachgeographie, daß er sich für alle Aspekte der untersuchten Mundarten (für die lautlichen, die morphologischen, die syntaktischen und die lexikalischen) interessiert und sehr aufmerksam den Einfluß verfolgt, den die Hochsprache auf diese ausübt. Das bearbeitete Material findet sich im Atlas linguistique des Vosges méridionales, Paris 1917, dann im Lexique patois-français des Vosges méridionales, Paris 1917. Es wurde in 22 Ortschaften mit Hilfe eines Questionnaire gesammelt, das nach dem Vorbild desjenigen gebildet wurde, das EDMONT für den französischen Sprachatlas benützt hatte. Die erste dieser beiden Arbeiten enthält 810 Karten im Kleinformat (wegen der geringen Ausdehnung des explorierten Gebietes) : je 8 Karten auf einer 4° Seite. Für das Verständnis einiger Fragen, die in enger Verbindung mit der unternommenen Enquete stehen, und für die Interpretation des Atlasses gibt der Autor ausführliche, der Erklärung dienende Informationen. Interessant ist vor allem, daß unter den von BLOCH aufgesuchten Ortschaften sich zwei befinden, die auch im ALF (die Punkte 66 und 67) verzeichnet sind. In Anbetracht der Diskussion, die sich um den französischen Sprachatlas erhob, überrascht es uns nicht, daß BLOCH seine eigenen Daten mit denen EDMONTS zu überprüfen suchte. Zufällig konnte eines der beiden Sujets, die sich einst E D M O N T ausgesucht hatte, auch von BLOCH befragt werden. BLOCH gelangte zu folgenden Ergebnissen: „. . .il résulte de l'examen précédent que, si les graphies des consonnes de M. Edmont et les miennes sont divergentes dans un certain nombre de mots, ce désaccord, dans la plupart des cas, s'explique de différentes façons, sans, qu'on puisse l'attribuer à une erreur de l'audition de M. Edmont." (Atlas, S. XXI.) Und weiter heißt es : ,,En somme, que ressort-il de cet examen minutieux des données de l'AL? Quelques formes, en petit nombre, proviennent des méprises que les témoins 1 ont commises sur le sens de la question ; quelques autres sont des formes individuelles, ou sont d'origine étrangère, ces dernières plus nombreuses à Val-d'Ajol qu'à Ramonchamp, pour des raisons propres aux parlers de cette localité. Tous ces faits sont inhérents à la méthode de l'enquête, dont j'ai parlé plus haut. Quelle est à son tour la part des erreurs de l'audition de M. Edmont ? En vérité, on l'a vu, peu considérable. Les différences de nos graphies sont sans doute assez nombreuses, concernant surtout les voyelles. Mais beaucoup sont menues, beaucoup attribuables à une insuffisance de système graphique, pour plusieurs l'erreur peut être de mon côté aussi bien que de celui de M. Edmont; il reste au compte de M. Edmont une insuffisance dans l'audition des voyelles nasales brèves de Ramonchamp, un nombre très réduit d'erreurs sur les consonnes, plus important sur le timbre des voyelles dans des mots qui ont été obtenus en I BLOCH

nennt die Gewährsmänner „témoins", nicht wie üblich „sujets".

Oscar Bloch

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groupe. En conclusion finale, les données de l'AL méritent, dans l'ensemble, toute notre confiance." (ebenda, S. XXIV.) Die sprachlichen Materialien, die nicht in den Atlas aufgenommen werden konnten, weil die Antworten zu einfach waren, so daß sich keine besonderen Karten dafür notwendig machten, oder weil sie zu kompliziert waren, so daß sie nicht auf einer einzigen Karte Platz gefunden hätten, wurden vom Autor veröffentlicht in Lexique . . ., wo wir außerdem eine alphabetische Namensliste der Ortschaften der explorierten Gegend finden (S. 145 ff.) und 40 Mundarttexte, denen eine Übertragung in französischer Hochsprache beigegeben ist (S. 155 ff.). So hat BLOCH diese zwei Darstellungsmittel des mundartlichen Materials verbunden: in der Form von Karten, wie es die Sprachgeographie verlangt, und in der Form von Glossaren, wie es die traditionelle Methode wollte. Die Auswertung des Materials, das in den oben erwähnten Arbeiten niedergelegt ist, führt der Autor durch in Les parlera des Vosges méridionales (Arrondissement de Remiremont, Département des Vosges). Étude de dialectologie, Paris 1917. Der Gegenstand dieser Arbeit ist folgender: „On se propose de montrer comment les systèmes phonétique et morphologique de nos parlers se sont formés, et d'où procède l'étonnante variété de ces systèmes; en outre une troisième partie, consacrée au lexique, montre que l'activité lexicale n'est pas moindre. Dans cette étude on a pris pour base l'état actuel des parlers." (S. XVII.) Die Arbeit ist „essentiellement linguistique" (S. XVII), aber ,,la géographie a aussi sa part dans ce travail: étant donné la configuration de notre domaine et l'existence du centre prépondérant que Remiremont a été à toute époque, il convenait d'examiner quelle action le parler de cette ville a exercée sur ceux des autres localités" (S. XVII). Fast die Hälfte des Buches ist der Phonetik gewidmet (S. 1—150), danach folgen die Morphologie und die Syntax (S. 151—243) und schließlich der Wortschatz (S. 244—319). Hinsichtlich des letzteren verdient das Vorhandensein einer bedeutenden Anzahl von modernen alemannischen Elementen hervorgehoben zu werden, die der Autor nicht geographisch, d. h. durch die Nachbarschaft der deutschen Mundarten des Elsaß erklärt, sondern mit Hilfe der ethnischen Einwanderungen (elsässische Bevölkerung ließ sich in dem vom Autor untersuchten Gebiet nieder) und der ökonomischen Entwicklung (aus deutschen Gegenden kam in die französischen die technische Terminologie zusammen mit den Produktionsmitteln der Industrie). Interessant sind vor allem die Schlußfolgerungen (S. 320ff.), in denen der Verfasser auf der Grundlage der im einzelnen dargelegten Feststellungen allgemeine Fragen erörtert. Keine Volksmundart ähnelt sehr der benachbarten, ja oftmals werden in ein und derselben Mundart für eine einzige sprachliche Tatsache zwei oder mehrere verschiedene Entwicklungen beobachtet. Daher kann keine genaue Grenze zwischen den Mundarten gezogen werden, obgleich sie eng miteinander verbunden sind. Nur Vald'Ajol bietet einige deutliche Besonderheiten, und dies, weil es den anderen gegenüber exzentrisch gelagert ist. Dennoch gibt es einzelne Übereinstimmungen, die herausgestellt werden müssen. Ein Streifen von mehreren Isophonen und Isomorphen zieht sich gerade dort durch den Ort, wo sich die beiden Täler des

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Kapitel III. Sprachgeographie

untersuchten Gebietes vereinigen. Ebenso scheint es, daß die Verteilung der sprachlichen Erscheinungen in der Vergangenheit nicht nach Pfarrbezirken erfolgte, wie R O U S S E L O T und D A U Z A T es vertraten, und in der Gegenwart auch nicht nach Gemeinden geschieht. Folglich liegt hier eine Bestätigung der Beobachtungen T E R R A C H E R S vor. Bei aller zwischen ihnen bestehenden Verwandtschaft bezeugen die von B L O C H untersuchten Mundarten eine starke Zerfallstendenz, und zwar aus mehreren Gründen wie : gegenseitige Einflüsse (speziell die Sprache von Remiremont, die in gesellschaftlicher Beziehung als höher erachtet wird, weil sie von der Stadt kommt, erfreut sich eines besonderen Ansehens und beeinflußt die anderen), die immer weiter fortschreitende Ausbreitung der französischen Hochsprache (was bewirkt, daß die Volksmundarten im eigentlichen Sinne des Wortes lokal werden, d.h., sie bleiben auf die entsprechende Ortschaft beschränkt) u . a . Diese letztgenannte Erscheinung erörtert B L O C H in einer gesonderten Arbeit, die betitelt ist La pénétration du français dans les parier s des Vosges méridionales, Paris 1921. In ihr wird festgestellt, daß die Volksmundarten ständig vor der französischen Hochsprache zurückweichen. B L O C H untersucht dabei die Art ihres Eindringens. Die Einwirkung der französischen Sprache zeigt sich insofern, als die Volksmundarten Entlehnungen aus ihr vornehmen oder die Hochsprache einfach an deren Stelle gesetzt wird. Die erstgenannte Einwirkung wird direkte oder innere Einwirkung genannt. Sie besitzt vom sprachlichen Gesichtspunkt aus ein viel größeres Interesse als die andere. Deshalb studiert der Verfasser nur diese. Hier einige bezeichnende Tatsachen sachlicher Art. Die Stadtbewohner bedienen sich der Mundart nur in ihren Beziehungen mit den Bauern und unter sich, wenn sie scherzen. Die Landbevölkerung wendet gewöhnlich ihre Mundart an, aber es ist leicht erkennbar, daß sie mit unüberwindlicher K r a f t von der französischen Hochsprache angezogen wird. So erklärt es sich, warum nur sehr wenige von ihnen die Hochsprache nicht verstehen. I n den meisten Familien sprechen die Eltern zu den Kindern französisch. Die Ausbreitung der französischen Hochsprache erfolgt durch die Schule, den Militärdienst, die wirtschaftlichen und beruflichen Verbindungen mit der Stadt (die Baumwollindustrie vor allem spielt hier eine bedeutende Rolle) u. a. Die fast 150 Seiten des Buches beschäftigen sich indessen mit rein sprachlichen Erscheinungen, die dieser Prozeß des Eindringens der französischen Hochsprache in die Mundarten hervorruft: wie sich die Mundarten den Formen, den Lauten, dem Wortschatz usw. der Hochsprache anpassen. Wie gewöhnlich in solchen Fällen wird auch hier festgestellt, daß die eigentliche Grammatik (die Morphologie und die Syntax) einen viel geringeren Einfluß erfährt als die Phonetik und besonders der Wortschatz. 1 1

Die Arbeiten B L O C H S wurden u. a. rezensiert von A . M E I L L E T in BSL X X (1916), S. 182; A. T E K E A O H B B in BSL X X I (1918/19), S. 88ff. ; M . G B A M M O N T in RLR L X (1918/20), S. 121ff.; A. H O B N I N G in Ro LI (1925), S. 581ff. Andere Studien B L O C H S sind z . B . Se taire en gallo-roman, d'après la carte 1277 de l'ALF in: Études de dialectologie romane dédiées à la mémoire de Charles Grandgagnage, Liège 1932, S. 39ff., und Une frontière linguistique entre les Vosges et la HauteSaône in: Festschrift für Ernst Tappolet, Basel 1935, S. 42ff. B L O C H ist auch der

Albert Dauzat

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Albert Dauzat (1877-1955) Um die Informationen über die französischen Vertreter der Sprachgeographie zu vervollständigen, muß ich auch A. D A U Z A T , den ehemaligen Direktor der École des Hautes-Études, erwähnen. Er war kein eigentlicher Schüler G I L L I É B O N S auf dem Gebiet der Sprachgeographie 1 , aber er lernte viel von ihm, wie man u. a. auch aus einigen seiner Rezensionen zu den Werken des Begründers der Sprachgeographie erkennen kann. 2 Das erklärt, weshalb D A U Z A T sich einerseits, besonders am Anfang, als begeisterter Anhänger dieses Zweiges unseres Faches zeigte, andererseits aber G I L L I É R O N bekämpfte, z. B. in seinen Besprechungen zu folgenden Studien G I L L I É R O N S : Les étymologies des étymologistes et celles du peuple (s. L R L L X I I [1923-1924], S. 184 ff.) und Thaumaturgie linguistique (s. ebenda, S. 193-fiF.). Die Diskussion kam indessen durch die Interpretation einiger spezieller Fälle auf, so daß nicht von einer feindlichen Haltung DAUZATS gegenüber G I L L I É R O N und noch weniger gegenüber der Sprachgeographie die Rede sein kann. Dennoch ist aus den erwähnten Rezensionen leicht ersichtlich, daß D A U Z A T , der sich auch über einige allgemeine Probleme zu äußern hatte, f ü r die neue Methode weniger begeistert war als früher. Seine sprachgeographischen Arbeiten sind u. a. : Géographie phonétique d'une région de la basse Auvergne, Paris 1906; Essai de géographie linguistique. Noms d'animaux, Paris 1921 ; La géographie linguistique, Paris 1922 (2. Auflage ebenda, 1944); Les Patois, Paris 1927 3 ; Essais de géographie linguistique. Deuxième série: Problèmes phonétiques, Paris 1929; Essais de géographie linguistique. Nouvelle série I. Pièges phonétiques in: R L R L X V I (1929—1932), S. 45ff., und I I . Aires phonétiques, ebenda, L X V I I (1933), S. lfF.; Essais de géographie linguistique. Nouvelle série I I I , Montpellier 1938. Ahnliche Fragen erörtert D A U Z A T auch in seiner Doktorarbeit Essai de méthodologie linguistique dans le domaine des langues et des patois romans, Paris 1906, und zwar im 2. Teil, wo er sich mit dem Studium der Dialekte beschäftigt. Seine Erfahrung im Bereich der Sprachgeographie brachte ihn zu der Überzeugung, daß das kartographische Studium der Volksmundarten gründlich mit Hilfe von regional begrenzten Atlanten durchgeführt werden kann, d. h. bei wenig ausgedehnten Gebieten. So erklärt sich seine Initiative, die auch von zahlreichen französischen Linguisten aufgenommen wurde, regionale Sprachatlanten zu

1

2 3

Verfasser eines etymologischen Wörterbuches der französischen Sprache (Dictionnaire étymologique de la langue française, avec la collaboration de W. v. Wartburg, Paris 1932, 3. Auflage Paris 1960). In einem Brief vom 13. Januar 1933, den er im Zusammenhang mit dieser Einzelheit an mich gerichtet hatte, schrieb DAUZAT: «J'ai bien été l'élève de Gilliéron, mais en 1897—1900, c'est-à-dire à une époque où il ne songeait pas encore à la géographie linguistique.» Im Vorwort zu seinem Buch Histoire de la langue française, Paris 1930, rechnet DAUZAT G I L L I É B O N ZU seinen Lehrern. Es ist keine eigentliche sprachgeographische Arbeit, aber sie stützt sich beständig auf die Sprachgeographie. Wie La géographie linguistique wendet sich Les Patois in erster Linie an ein breites Publikum, weniger an Fachleute. Bis zum Jahre 1946 erschienen davon 3 Auflagen.

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Kapitel III. Sprachgeographie

schaffen. Vgl. seine Aufsätze, die in Le français moderne (einer von ihm begründeten Zeitschrift) veröffentlicht worden sind (Band VII [1939], S. 97ff. und S. 289ff., Band X, S. lff. und 168). Die Sprachgeographie in der Schweiz

Ich habe bei anderer Gelegenheit schon geäußert, daß die Sprachgeographie zahlreiche und begeisterte Anhänger in der Schweiz fand. Dies erklärt sich durch das sehr ausgeprägte Gefühl der Linguisten dieses Landes für die Sprache im allgemeinen und für den Dialekt im besonderen. Aber dies allein hätte nicht genügt. Es war auch eine für diese Disziplin günstige wissenschaftliche Atmosphäre notwendig: Das empirische oder spontane Verständnis mußte von einer fachlichen Unterweisung her gestützt werden, um zu wirklich bemerkenswerten Ergebnissen gelangen zu können. Die Schweiz hatte auch an dieser wissenschaftlichen Vorbereitung Anteil durch die von mehreren Sprachwissenschaftlern geleistete Arbeit. Dabei sind vor allem H . MOKF und L. GAUCHAT ZU erwähnen. Alle älteren Schweizer Linguisten waren deren Schüler. Es ist richtig, daß strenggenommen weder der eine noch der andere die Sprachgeographie gepflegt hat. Beide veröffentlichten keine Arbeiten wie die bisher in diesem Kapitel erörterten. Auch sprachen sie nicht allzu häufig und eingehend über diese neue Methode. Sie betrieben nur Dialektologie. Es ist aber nicht schwierig nachzuweisen, daß zwischen der Sprachgeographie und der Dialektologie sehr enge Beziehungen bestehen, denn beide haben das Studium der Volksmundarten zum Gegenstand. Diese zwei Disziplinen unterscheiden sich nur durch die Verfahren (nicht einmal bei diesem Punkt gibt es einen wesentlichen Unterschied, weil auch ein Mundartforscher im alten Sinne des Wortes sich der direkten Enquete an Ort und Stelle bedient) und vor allem durch die Art, wie sie das sprachliche Material darbieten (auf der einen Seite sind es Karten, auf der anderen Glossare und Texte). Deshalb fand, ja mußte die Tätigkeit GILLXÉRONS bei den Schweizer Vertretern der Dialektologie eine begeisterte Aufnahme und ein tiefes Verständnis finden.2 1

2

Hier seien auch andere Werke dieses ungewöhnlich aktiven Linguisten angeführt : Les noms de personnes, Paris 1925 (2. Auflage — bisher insgesamt 6 Auflagen); Les noms de famille en France, Paris 1945; Les noms de lieux, Paris 1926 (bisher 6 Auflagen); L a toponymie française, Paris 1946; Études de linguistique française, Paris (2. Auflage) 1946; Phonétique et grammaire historique de la langue française, Paris 1950; Dictionnaire étymologique des noms de familles et prénoms de France, Paris 1951. Über verschiedene Aspekte seiner Tätigkeit s. Mélanges linguistiques offerts à Albert Dauzat, Paris 1951. Einen Überblick über die Mundartforschungen im galloromanischen Bereich bis zum Jahre 1935 hat O. BLOCH in FM I I I (1935), S. 109ff., gegeben. In diesem Zusammenhang möge auch der Name von J . COBNTJ genannt sein, Landsmann (aus der französischen Schweiz) und Professor GILLIÉRONS. Vor allem zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit pflegte dieser Sprachwissenschaftler mit Erfolg die Dialektologie (vgl. z. B. Phonologie du Bagnard in: Ro VI [1877], S. 369 ff.) und nahm so Einfluß auf den späteren Begründer der Sprachgeographie.

Heinrich Morf

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Heinrieh Morf (1854-1921) H. M O R F 1 untersuchte nicht die Volksmundarten wie ein wirklicher Explorator. Er benützte das von anderen gesammelte Material, um auf dessen Grundlage allgemeine Probleme wie die Bildung und Ausdehnung der Dialekte zu erörtern. Dadurch aber näherte er sich sehr der Sprachgeographie, deren Ziel u. a. auch darin besteht festzustellen, ob es in Wirklichkeit Dialekte gibt und welches im Falle eines positiven Ergebnisses ihre Ausbreitungsareale sind. Die Arbeiten, in denen M O R F Fragen der Dialektologie behandelt, sind: Ein Sprachenstreit in der rätischen Schweiz2 ; Deutsche und Romanen in der Schweiz3; Die romanische Schweiz und die Mundartenforschung4; Mundartenforschung und Geschichte auf romanischem Gebiet6 ; Zur sprachlichen Gliederung FrankreichsDer neue Gesichtspunkt, den er in die Forschungen über die Bildung der Dialekte hineinträgt, ist die große Bedeutung, die er der einstigen Teilung der ehemaligen römischen Provinzen in Diözesen eingeräumt hat. 7 M O R F beschäftigte sich besonders mit den Fällen, die immer das Interesse der Sprachwissenschaftler geweckt haben, nämlich mit den Grenzen zwischen den galloromanischen Sprachen und Dialekten, der Lage der frankoprovenzalischen Mundarten und derjenigen der katalanischen Sprache. Hier einige Beispiele, aus denen die Einstellung dieses Gelehrten gegenüber den zur Betrachtung stehenden Problemen ersichtlich ist. Als er die Veränderung des c vor a, e und i verfolgte sowie deren geographische Verbreitung, stellte M O R F eine alte sprachliche Einheit fest, welche die Normandie, die Pikardie 1

2 B 4 6 6

7

MORF war Professor in Bern, Zürich, F r a n k f u r t a. M. und Berlin, wo er noch vor seiner Emeritierung in den ersten Tagen des Jahres 1921 verstarb. E r pflegte mit dem gleichen Eifer und mit großem Erfolg auch die Literaturgeschichte. Vgl. z. B. Geschichte der französischen Literatur im Zeitalter der Renaissance, Straßburg 1898, 2. Auflage 1914; Die romanischen Literaturen in der Sammlung: Die K u l t u r der Gegenwart, Teil I, Abteilung X I , 1, Berlin 1909, 2. Auflage 1925; und seine bewundernswerten Essais, die mit verschiedenen sprachwissenschaftlichen Aufsätzen zusammen drei Bände füllen, betitelt Aus Dichtung und Sprache der Romanen, I. Straßburg 1903, I I . ebenda 1911, I I I . Berlin-Leipzig 1922. Aus Dichtung und Sprache der R o m a n e n I , S. 418ff. E b e n d a I I , S. 220ff. E b e n d a I I , S. 288ff. E b e n d a I I I , S. 295ff. APAWB, 1911 (als Sonderdruck 37 Seiten und 7 Karten). (Eine Arbeit mit demselben Titel veröffentlichte E . GAMILLSCHEG in H a u p t f r a g e n der Romanistik. Festschrift f ü r P h . Aug. Becker, Heidelberg 1922, S. 50£f.). Ferner müssen erw ä h n t werden ein Vortrag, den er auf der Berliner Gesellschaft f ü r das Studium der neueren Sprachen über den A L F hielt u n d den wir als Zusammenfassung in A S N S C X X V I I I (1912), S. 212ff„ finden, sowie eine auf J . GILLIÉBON und M. ROQUES bezügliche Notiz, Études de géographie linguistique in derselben Zeitschrift, Band C X X X I (1913), S. 268. Über den A L F spricht er auch mit großer Bewunderung (Aus Dichtung und Sprache der Romanen I I , S. 314ff.). I n der R F E I I I (1916), S. 82 (Fußnote), wird gesagt, daß der Gedanke des Zusammenfalls der Dialektgrenzen mit Bistumsgrenzen auch bei C. SALVIONI (im J a h r e 1901), d a n n bei R . MENÉNDEZ PIDAL (1906 und 1908) erscheint. Dieser Gedanke wurde u. a. von J. JUD vertreten in R L i R X (1934), S. l f f .

17 Iordan, Rom. Sprach Wissenschaft

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Kapitel III. Sprachgeographie

und Wallonien umfaßt. Ebenso beobachtete er, daß die pikardischen und wallonischen Dialekte das aus dem Lateinischen kommende nasale e bewahren, das im Französischen und dann im Normannischen zu nasalem a wurde. Die Ausdehnung dieser Erscheinungen zeigt, wie zwischen den pikardischen Mundarten einerseits und denen der Ile-de-France und der Champagne andererseits eine scharfe Grenze von ungefähr 200 km besteht, die fast genau mit den alten Grenzen der Diözesen Beauvais, Noyon und Cambrai bzw. Rouen, Paris und Laon zusammenfällt. Diese Grenzen der Diözesen aber decken sich im allgemeinen mit den Grenzen der ehemaligen galloromanischen Stämme der Bellovaci, Viromandui und Nervii. Wir haben es daher mit Gebietseinteilungen zu tun, die ungefähr 2000 Jahre bestanden. Ebenso steht es auch mit der Ausdehnung der frankoprovenzalischen Dialekte : Als M O B F das Schicksal des lateinischen a in diesem Sprachbereich untersuchte, stellte er fest, daß die Sprachgrenzen im Süden und Westen der entsprechenden Gebiete mit den Grenzen der Bistümer von Vienne und Lyon zusammengehen. Die letzteren wiederum beruhen auf der administrativen Einteilung seit der Zeit der Römer. Aus diesen Gründen suchte M O R F die alten galloromanischen Civitates um die Hauptverbindungswege Galliens herum als große Einheiten zu fassen, die ungefähr mit den drei Gallien Cäsars übereinstimmen. 1 1

J . RONJAT, aus dessen Rezension zu MORES Abhandlung Zur sprachlichen Gliederung Frankreichs (in R L R X L V [1912], S. 418FF.) ich die Angaben von weiter oben entnahm, meint, daß die Diözesen eine bedeutende Rolle bei der Bildung der Dialekte nur in den ebenen Gegenden gespielt haben. In den höher gelegenen Gebieten finden sich als Grundlage für die Sprachgrenzen der römische Gau (pagus), Täler und Teile von Tälern. Hinsichtlich des Zusammenfalls der Sprachgrenzen mit den Verwaltungs- und den Kirchenbezirksgrenzen vgl. auch, was R. MENÉNDEZ PIDAL (Orígenes del español I, Madrid 1929 [2. Auflage], S. 572) sagt. Nachdem er gezeigt hat, wie territoriale Einteilungen im weiten Sinne des Wortes nicht immer die Beziehungen zwischen den Menschen verhindern können, die oftmals sehr stark sind, gerade weil sie aus dauerhafteren als politischen oder religiösen Interessen hervorgehen, fügt der Autor hinzu (S. 574): ,,Die politischen römischen Einteilungen, die durch die kirchlichen Diözesen fortgesetzt worden sind, können Auskunft über eine Sprachgrenze geben, niemals aber werden sie die Gesamtheit der Dialektverteilung in der Romanía erklären können. Dasselbe kann mit noch mehr Grund gesagt werden von den mittelalterlichen politischen Einteilungen, in denen viele die Ursachen für die moderne mundartliche Aussprache zu finden suchen. Schließlich muß auch bedacht werden, daß die Stabilität einer Sprachgrenze, die wir manchmal beweisen oder vermuten konnten, schwerlich absolut ist. Das Wahrscheinlichste ist, daß eine Grenze, wie feststehend sie auch sei, etwas geändert und verändert worden ist durch Strömungen, die derjenigen folgten, die die erste Ausdehnung der begrenzten Erscheinung bestimmt hat." („Las divisiones políticas romanas, continuadas por las diócesis eclesiásticas, pueden dar razón de algún límite lingüístico, pero nunca podrán explicar el conjunto de la repartición dialectal de la Romanía. Y lo mismo se puede decir con más razón, de las divisiones políticas medievales, en que muchos pretendieron buscar las causas de la articulación dialectal moderna. Por último, hay que considerar también que la estabilidad de un límite lingüístico, que alguna vez hemos podido comprobar o sospechar, no es fácil que sea absoluta. La más

Louis G a u c h a t

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U m die wissenschaftliche Persönlichkeit MORFS ZU charakterisieren, halte ich es für notwendig darauf hinzuweisen, daß dieser Sprachwissenschaftler seit d e m B e g i n n seiner Tätigkeit eine Einstellung hatte, die übereinstimmte m i t d e m Geist, der h e u t e i m allgemeinen unser F a c h beherrscht. So w a n d t e sich M O R F in d e m Eröffnungsvortrag zu seiner Vorlesung über romanische Philologie an der Universität Zürich (im Jahre 1889!) gegen die übertriebene Aufmerksamkeit, die R o m a n i s t e n seiner Zeit d e m S t u d i u m der altfranzösischen Sprache gewährten. E b e n s o vertrat er die Meinung, wonach die Sprachveränderungen in ihrem Ursprung individuell sind u n d geistige Ursachen h a b e n (s. Aus Dichtung und Sprache der Romanen I I , S. 331 ff.).

Louis Gauchat ( 1 8 6 6 - 1 9 4 2 ) D e r N a m e L . GAUCHAT ist i n a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g b e r e i t s g e n a n n t w o r d e n . I c h h a b e d o r t gezeigt, wie einige seiner S t u d i e n i n g r o ß e m M a ß e z u r V e r ä n d e r u n g d e r A u f f a s s u n g ü b e r D i a l e k t u n d D i a l e k t g r e n z e n b e i g e t r a g e n h a b e n . I c h wiederhole nicht m e h r das bereits Gesagte, sondern verweise den Leser auf den entp r o b a b l e es q u e u n límite, por estacionario q u e p e r m a n e z c a , h a y a sido a l t e r a d o y r e f o r m a d o en algo p o r corrientes posteriores a la que d e t e r m i n ó la p r i m e r a exp a n s i ó n del f e n ó m e n o delimitado.") — D a s P r o b l e m der sprachlichen Gliederung eines anscheinend einheitlichen Gebietes wird n i c h t n u r v o m G e s i c h t s p u n k t der Dialekte ein u n d derselben Sprache a u s gestellt, sondern a u c h v o n d e m d e r Sprachen aus, die in d e m e n t s p r e c h e n d e n Gebiet e n t s t a n d e n . E i n e besonders interessante Lage b i e t e t in dieser Hinsicht die Iberische Halbinsel, wo sich drei romanische Sprachen herausgebildet h a b e n (und sich bis h e u t e n o c h eine der vorrömischen Sprachen erhalten h a t : d a s Baskische). H i e r einige wichtige Arbeiten ü b e r dieses P r o b l e m : R. MENÉNDEZ PIDAL, Orígenes del español, Madrid 1926 (4. Auflage e b e n d a 1956); HARM MEIER, Beiträge z u r sprachlichen Glieder u n g der P y r e n ä e n h a l b i n s e l u n d ihrer historischen B e g r ü n d u n g , H a m b u r g 1930; P. . IIIHUIMAPEB, OiepKH no H C T o p m i H3HKOB McnaiiHH, MocKBa-JIeHHHrpa^ 1 9 4 1 ; W . J . ENTWISTLE, T h e Spanish language t o g e t h e r w i t h P o r t u g u e s e , C a t a l a n a n d B a s q u e , L o n d o n 1936 (3. A u f l a g e e b e n d a 1951); K . BALDINGER, Die H e r a u s bildung der S p r a c h r ä u m e auf der Pyrenäenhalbinsel, Berlin 1958. Dieses B u c h v e r m i t t e l t einen g u t e n Überblick ü b e r die neueste F o r s c h u n g . — Von den m o d e r n e n Linguisten ist d e r K a t a l a n e A. GRIERA derjenige, der k o n s e q u e n t die Theorie MORFS betreffs des Z u s a m m e n f a l l e n s der Sprachgrenzen m i t d e n B i s t u m s g r e n z e n a n w e n d e t . F ü r die Lage in F r a n k r e i c h hinsichtlich des Ü b e r e i n s t i m m e n s der a d m i n i s t r a t i v e n u n d sprachlichen U n t e r t e i l u n g e n vgl. A. ROSENQVIST, Limites a d m i n i s t r a t i v e s et división dialectale de la F r a n c e i n : NM X X (1919), S. 8 7 f f . D a s P r o b l e m d e r Dialektgrenzen w u r d e v o n vielen Sprachgelehrten a u s f ü h r l i c h diskutiert. H i e r einige S t u d i e n : A. HORNING, Ü b e r Dialektgrenzen im R o m a n i schen i n : Z R P h X V I I (1893), S. 160FF.; KARL HAAG, M u n d a r t g r e n z e n i n : A S N S (1905),

S . 182FF.; K . BOHNENBERGER, Ü b e r M u n d a r t g r e n z e n

in:

Verhandlungen

der 49ten P h i l o l o g e n v e r s a m m l u n g in Basel, 1907; KARL HAAG, S p r a c h w a n d e l im L i c h t e der M u n d a r t g r e n z e n i n : T h e u t o n i s t a V I (1929), S. LFF.; W. v . WARTBURG, Die E n t s t e h u n g der Sprachgrenzen im I n n e r n der R o m a n í a i n : B G D S L L V I I I (1934), S. 209FF.; H . MOSER, Sprachgrenzen u n d ihre U r s a c h e n i n : Z e i t s c h r i f t f ü r M u n d a r t f o r s c h u n g X X I I (1954), S. 87ff: 17*

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Kapitel III. Sprachgeographie

sprechenden Abschnitt. Hier habe ich über ein großes mundartliches Werk Aufklärung zu geben, dessen Initiator und hauptsächlicher Leiter er war, der ehemalige Professor der Universität Zürich. Indem er als Vorbild das Wörterbuch der deutschen Dialekte in der Schweiz nahm, das unter dem Titel Schweizerisches Idiotikon seit 1 8 8 1 zu erscheinen begonnen hatte, beschloß GAUCHAT, eine ähnliche Arbeit für die Mundarten der romanischen Schweiz 1 in Angriff zu nehmen. Dieser Gedanke kam ihm im Jahre 1890, als er seine Doktorarbeit mit einer Studie über die Sprache von Dompierre (Kanton Fribourg 2 ) verteidigte. Fünf Jahre später erhielt er die Unterstützung seitens der Amtsstellen, so daß an die Organisation dieses Unternehmens herangegangen werden konnte. Die Sammlung des Materials begann im Jahre 1 8 9 9 und dauerte 1 2 Jahre. Da GAUCHAT erkannte, wie sehr dieses Werk die Kräfte eines einzelnen Menschen übersteigt, und er zugleich wünschte, diesem Werk einen irgendwie nationalen Charakter zu geben, nahm er sich als Mitarbeiter die Romanisten E. TAPPOLET und J . JEANJAQUET, die in derselben Schule wie er selbst ausgebildet worden waren. Für das Sammeln des Materials bedienten sie sich beider Methoden: Sie schickten Fragebücher an Korrespondenten und sammelten gleichzeitig selbst Wörter, Formen usw. an Ort und Stelle (dies vor allem, um die Antworten der Korrespondenten zu überprüfen und um bestimmte lautliche Besonderheiten der studierten Mundarten festzuhalten). Außerdem benützten sie die bis dahin veröffentlichten regionalen Glossare, die (gedruckten oder noch nicht herausgebrachten) Dokumente sowie alte und moderne Texte. So wurden l 1 / 2 Millionen Zettel zusammengetragen. Damit nichts unverwertet bliebe, entschlossen sich die drei Redakteure, in ihr Werk auch die Eigennamen von Ortschaften und Familien aufzunehmen, besonders weil sehr viele von ihnen ursprünglich Wörter in der üblichen Sprache gewesen sind. Zu diesem Zwecke versicherten sie sich der Mitarbeit von E. MUHET, der Professor in Genf war und ein Spezialist in der Toponomastik und Anthroponomastik. 3 Im Jahre 1924 erschien das erste Faszikel dieses wirklich monumentalen Werkes, das betitelt ist Olossaire des patois de la Suisse romande, elaboré avec le concours de nombreux auxiliaires et rédigé par L. Gauchat, J. Jeanjaquet, E. Tappolet, avec la collaboration de E. Muret. Im Vorwort und in der Einführung finden wir sehr viele interessante Angaben über die Vorläufer dieses Unternehmens, über die Abfassungsart und den Inhalt der Artikel usw. 4 Damit ersichtlich wird, wie die 1

2 3

4

Sie gehört zur frankoprovenzalischen Gruppe. Frankoprovenzalisch wird gesprochen in den Kantonen Genf, Vaud, Valais, Fribourg, im gesamten Kanton Neuchätel und im Kanton Bern (in den westlichen Gebieten). Es sei darauf hingewiesen, daß G A U C H A T ein Schüler M O B F S war. So werden mit einem Fachausdruck die Untersuchungen über die Personennamen genannt (damit er der „Toponomastik" entspricht, die das Studium der Ortsnamen bedeutet). Dieser Ausdruck ist erstmals von dem portugiesischen Linguisten J. L E I T E D E V A S C O N C E L O S gebraucht worden (s. R L I [1887], S. 45). Man vergleiche auch die den Glossaire unterstützenden Publikationen, nämlich Bibliographie linguistique de la Suisse romande, Band I, Neuchätel 1912, Band II, ebenda 1920; Bulletin du Glossaire des patois de la Suisse romande, ebenda 1902 bis 1915, und Tableaux phonétiques des patois suisses romands, ebenda 1925.

Louis Gauchat

251

Autoren es verstanden haben, allen gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Anforderungen zu entsprechen, muß gesagt werden, daß uns bei jedem Wort gegeben werden a) die Form und die Herkunft, b) die grammatische Definition und die Bedeutung, mit Beispielen, c) Bemerkungen über seine Geschichte und Informationen allgemeiner Art. Ebenso wird die Photographie oder die Skizze der Gegenstände hinzugefügt, die von irgendeinem Gesichtspunkt aus wichtig ist, die geographische Verbreitung einer Form oder eines Wortes (mit Hilfe einiger kleiner Karten) und jedwede andere Aufklärungen, die das Ziel haben, zum vollen Verständnis der behandelten Probleme beizutragen. So bietet die von den Autoren des Glossaire angewandte Methode alle hauptsächlichen Richtungen in unserem Fach: die historische, die geographische, „Wörter und Sachen" usw. Der Glossaire wurde deshalb mit Begeisterung von den außerordentlich zahlreichen Rezensenten (zum ersten Faszikel habe ich mir 20 Rezensionen notiert) 1 aufgenommen. Einen einzigen Mangel weist dieses tatsächlich außergewöhnliche Werk auf : E s erscheint sehr langsam (jährlich 64 Seiten) 2 .

1

2

Die zweite dieser Arbeiten h a t t e als hauptsächlichstes Ziel, enge Verbindungen zwischen den Korrespondenten u n d den Herausgebern des Glossaire aufrechtzuerhalten. Die zuletzt genannte Publikation e n t h ä l t die phonetische Umschrift von ungefähr 500 Wörtern, die zu 62 Volksmundarten gehören. I c h zitiere hier einige der b e d e u t e n d s t e n : R L R L X I I (1923/24), S. 492ff. (G. MILL A B D E T ) ; Z R P h X L I V (1924), S. 610ff. (E. G A M I L L S C H B G ) ; R o L I (1925), S. 571ff. ( K . J A B E B G ) u n d L g r P X L V I (1925), col. 159ff. ( W . M E Y E R - L Ü B K E ) . Letzterer veröffentlichte in derselben Zeitschrift (LV [1934], col. 398ff.) eine Rezension zu den ersten zehn Faszikeln des Glossaire. Vgl. auch den interessanten Aufsatz v o n E . T A P P O L E T : Neuere Aufgaben der Wortforschung i n : GRM X I I I (1925), S. 130ff. (er erörtert auch prinzipielle Fragen, wobei er von diesem Werk ausgeht). I m Rumänischen kenne ich n u r die Rezension von O . D E N S T T S I A N U in GS I I (1925/26), S. 179ff. Dieser Nachteil ist u m so größer, d a die ersten a c h t zwischen 1924 u n d 1931 veröffentlichten Faszikel erst bis zum W o r t apothicaire gehen. I m J a h r e 1958 erschienen die Faszikel X X X u n d X X X I b i s einschließlich chapeau. Das Beispiel G A U C H A T S u n d seiner Mitarbeiter wurde befolgt in bezug auf die anderen romanischen Idiome der Schweiz. R . V O N P L A N T A legte die Grundlage zu einem ähnlichen W e r k f ü r die rätoromanischen M u n d a r t e n (Rätisches Idiotikon); es erschien vollständig in den J a h r e n 1881—1958. Dasselbe t a t C. S A L V I O N I (gestorben 1920) m i t Hilfe von P . E . G U A B N E B I O (gestorben 1919) u n d C . M E B L O f ü r die italienischen M u n d a r t e n im K a n t o n Tessin (Vocabolario della Svizzera italiana). I m J a h r e 1938 erschien das erste Faszikel des Dicziunari R u m ä n i s c h Grischun (publichä d a la Società R e t o r u m a n t s c h a , cui agüd d a la Confederaziuni dal c h a n t u n Grischun e da la Lia R u m a n t s c h a ) , f u n d à d a R O B E B T D E P L A N T A e F L O B I A N M E L C H E B , R e d a c z i u n : C H A S P E B P U L T ed A N D B E A S C H O B T A , Cuoira. E s ist ein in jeder H i n s i c h t dem Glossaire analoges W e r k . I m J a h r e 1959 erschien das X X X I I I . Faszikel. Als ein Supplement zu diesem W ö r t e r b u c h m u ß b e t r a c h t e t werden der B a n d Rätisches N a m e n b u c h . B a n d I : Materialien, Paris-Zürich 1939, veröffentlicht von R . v. P L A N T A u n d A. S C H O B T A (es enthält zirka 70 000 Ortsbezeichn u n g e n , die im K a n t o n G r a u b ü n d e n [ = Grischun, Grison, Grigioni] gesammelt worden sind, wo rätoromanische M u n d a r t e n der westlichen Gruppe gesprochen werden). Eine andere Arbeit, die eng mit dem besprochenen Wörterbuch verb u n d e n ist u n d diesem irgendwie als E i n f ü h r u n g dient, ist Bibliographie reto-

252

Kapitel I I I . Sprachgeographie

Karl Jaberg (1877-1958) Unter solchen Bedingungen überrascht es nicht, daß die Sprachgeographie zahlreiche und befähigte Anhänger gerade in der Schweiz erwarb. Um die Darlegungen nicht übermäßig in die Länge zu ziehen, werde ich nur einige der hervorragendsten Vertreter zusammen mit ihren bedeutendsten Arbeiten erwähnen. Dabei halte ich mich an die chronologische Reihenfolge. K. JABERG, der Professor an der Universität Bern war, nahm frühzeitig die Lehre GILLTÉRONS auf. Wie GILIXÉRON, aber im Unterschied zu den auf den vorangehenden Seiten erwähnten französischen Gelehrten, stützte J A B E R G seine sprachgeographischen Forschungen auf das Material, das der ALP und der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz boten. E r sucht sich einen Begriff, d. h. eine Karte aus und studiert in jeder Beziehung die Wörter, die zur Benennung dieses Begriffes dienen. Es muß herausgestellt werden, daß J A B E R G einige Elemente betrachtete, die GILLIÉRON vernachlässigt oder in der Diskussion völlig beiseite gelassen hatte, so besonders das historische und das vergleichende Element, die gewöhnlich beide Hand in Hand gehen. Auf die alten Phasen eines Wortes und die Gegebenheiten in andern romanischen Sprachen wird Bezug genommen, sobald die Notwendigkeit dazu empfunden wird. Ebenso gewährt J A B E R G der Kulturgeschichte in dem Sinne der Methode „Wörter und Sachen" gebührende Aufmerksamkeit. 1 Das ist mehr oder weniger in allen seinen Arbeiten erkennbar, vor allem aber in Kultur und Sprache in Romanisch Bünden, Bern 1921, Dreschmethoden und Dreschgeräte in Romanisch Bünden (in der Zeitschrift Bündnerisches Monatsblatt 1922) und Zur Sach- und Bezeichnungsgeschichte der Beinkleidung in der Zentralromania in: W S I X (1924 romantscha (Bibliographie des gedruckten bündnerromanischen Schrifttums von den Anfängen bis 1930, herausgegeben von der Ligia Romantscha), Band I, Chur 1938; Band I I von 1931 bis 1952 erschien 1956 in Samedan. Hinsichtlich des Vocabolario della Svizzera italiana erschienen in der Zeitschrift ItD, die C. MERLO herausgibt, verschiedene sehr kurze Berichte über die von der entsprechenden Kommission entfaltete Tätigkeit (s. z. B. Band IV [1928], S. 306FF. ; V I [1930], S. 275FF.; V I I

1

[ 1 9 3 1 ] , S . 303FF.; V I I I

[ 1 9 3 2 ] , S . 257FF.; v g l . a u c h V R o I

[1936],

S. 199. Das erste Faszikel davon A-Agüese erschien 1952 in Lugano. Einige Einzelheiten über die Wörterbücher, mit denen wir uns hier beschäftigen, finden wir bei R . HOTZENKÖCHEKLE, Die schweizerischen Wörterbücher, Sprachund Volkskunde-Atlanten, Zürich 1947. — Von anderen Studien GAUCHATS erwähne ich hier die folgenden: Über die Bedeutung der Wortzonen, Basel 1907; Sprachgeschichte eines Alpenübergangs (Furka-Oberalp) in: ASNS C X V I I (1907), S. 345FF.; Les noms gallo-romans de l'écureuil in: Mélanges de philologie romane et d'histoire littéraire offerts à M. Maurice Wilmotte, Paris 1910, S. 174fF. ; Régression linguistique in: Festschrift zum X I V . allgemeinen deutschen Neuphilologentage in Zürich, 1910, S. 335ff., und Sprachforschung im Terrain in: B D R I I , S. 93 ff. Anläßlich seines 60. Geburtstages widmeten ihm seine Schüler und Freunde eine Festschrift, die wegen ihrer zahlreichen und wertvollen Beiträge wichtig ist: Festschrift Louis Gauchat, Aarau 1926. Später wird noch gezeigt werden, daß die Prinzipien dieser Methode benützt wurden bei der Konzipierung und Realisierung des Sprachatlasses von Italien und der Südschweiz.

Karl Jaberg

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bis 1926), S. 137fr. 1 Schließlich interessierte sich J A B E R G auch für den psychologischen Faktor, d. h. dafür, in welchem Maße die affektiven seelischen Zustände an den sprachlichen Veränderungen teilhaben. 2 Seine Studie Sprache als Äußerung und Sprache als Mitteilung. Grundfragen der Onomasiologie in: ASNS CXXXVI (1917), S. 84 ff., kann als ein sehr glücklicher Versuch betrachtet werden, die psychologische Methode und die Sprachgeographie zu verbinden. Dennoch verlangt J A B E R G von den Linguisten, daß sie sich in erster Linie mit rein sprachlichen Problemen beschäftigen sollen, weil nur so die Verbindung der Methoden zu gültigen Ergebnissen sowohl im Bereich der Sprachwissenschaft als auch in dem der Psychologie und dem der Kulturgeschichte führen könne. Hierher gehört auch sein Aufsatz Spiel und Scherz in der Sprache, veröffentlicht in: Festgabe für Samuel Singer, Tübingen 1930, S. 67 ff. Selbst die relativ nicht so umfangreichen Studien, z. B. Escalier in: RLiR VI ( 1 9 3 0 ) , S. 9 1 ff., zeigen klar, wie es J A B E R G gelingt, alle Gesichtspunkte zu beachten und alle Methoden, die sich aus der Natur der behandelten Sache ergeben, anzuwenden: Er benützt Texte, um das Alter der studierten Erscheinungen festzulegen, verfolgt deren geographische Verbreitung, erforscht gleichzeitig die „Sachen" und die „Wörter", nimmt auf die Ortsnamen Bezug usw. Ich gebe eine bedeutsame Feststellung von ihm in diesem Sinne wieder (loc. cit., S. 100): „Sprache als Kulturausdruck und Sprache als Verkehrsmittel reichen sich versöhnlich die Hand." Bereits aus diesen summarischen Informationen ist ersichtlich, wie verschiedenartig und vielseitig die wissenschaftlichen Beschäftigungen J A B E R G S sind. Wenn wir indessen noch andere Schriften des Berner Linguisten beachten, wie z. B. Idealistische Neuphilologie3 und zahlreiche Rezensionen zu jeder Art von Arbeiten auf dem Gebiet unseres Faches, sind wir berechtigt zu sagen, daß es nicht viele Romanisten gibt, die ein lebhafteres Interesse und ein umfassenderes Verständnis für die sprachwissenschaftlichen Probleme bewiesen haben als JABERG. Hier noch ein Teil seiner älteren und neueren Studien: Pejorative Bedeutungsentwicklung im Französischen mit Berücksichtigung allgemeiner Fragen der Semasiologie in: ZRPh XXV (1901), S. 561 ff., X X V I I (1903), S. 25ff., und X X I X (1905), S. 57ff.; Sprachgeographie4, Aarau 1908; Sprachgeographische Untersuchungen in: 1

2

4

Wie der Titel es ausdrückt, umfaßt diese Arbeit nicht nur Frankreich, sondern die gesamte Zentralromania. Dieselbe Frage hatte J A B E R G v o m galloromanischen Gesichtspunkt aus kurz behandelt in Sprachgeographie, S. 13 ff. Kultur und Sprache . . . und Dreschmethoden . . . wurden eingehend rezensiert von S. PusC A B I U in Dacor I I (1921/22), S. 714ff., wo auch noch von einer anderen Arbeit J A B E R G S die Rede ist. Welch tiefgehendes Verständnis J A B E R G für solche Fragen hat, beweist z. B. seine Rezension zu L. S P I T Z E R S Puxi, eine kleine Studie zur Sprache einer Mutter 3 in: LgrP X L V I I I (1927), col. 329ff. Vgl. das II. Kap. dieses Buches, S. 44ff. Es muß beachtet werden, daß beim Erscheinen dieser Broschüre der ALF noch nicht völlig veröffentlicht worden war und G I L L I Ä R O N nur die Studie über scier (in Zusammenarbeit mit J . M O N G I N ) hatte drucken lassen. Dennoch finden wir darin auch viele der Prinzipien der Sprachgeographie und -geologie mit großem Verständnis angewandt.

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Kapitel I I I . Sprachgeographie

ASNS CXX (1908), S. 96ff. (über frz. arocher, garocher, garoter, rocher, rucher „werfen"), CXXXVI (1911), S. 371 ff. (über frz. s'asseoir); Sprachgeographisches. „Soif" und die sprachliche Expansion in Nordfrankreich in: ZFSL XXXVIII (1911), S . 231 ff. (vgl. E . HEBZOG, Aus dem Atlas linguistique in derselben Zeitschrift XXXVII [1911], S. 125 ff., wo er S. 134 über soif schreibt, sowie von demselben Autor Noch einmal „soif", ebenda XL [1912—13], S. 213ff.); Der Sach- und Sprachatlas Italiens und der Südschweiz und die Bezeichnungsgeschichte des Begriffes „anfangen" in: RLiR I (1925), S. 118ff.; Una pera mezza1 in: Festschrift Louis Gauchat, Aarau 1926, S. 52ff.; Sprache und Leben2 in: RLiR II (1926), S. 3ff.; Sprachtradition und Sprachwandel, Bern 1932; Considérations sur quelques caractères généraux du romanche in: Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally, Genève 1939, S. 283ff.; Der rumänische Sprachatlas und die Struktur des dakorumänischen Sprachgebietes in: VRoV (1940), S. 49ff.; Mittelfranzösische Wortstudien in : Sache, Ort und Wort. Jakob Jud zum sechzigsten Geburtstag, Genève-Ziirich 1943, S. 281ff.; Géographie linguistique et expressivisme phonétique: Les noms de la balançoire en portugais in: RPF I (1947), S. lff. ; Krankheitsnamen, Metaphern und Dämonie in: SAV XLVII (1951), S. 77ff.; Großräumige und kleinräumige Sprachatlanten in: VRo XIV (1954), S. lff.; The Birthmark in Folk Belief, Language, Literature and Fashion in: RPh X (1957), S. 307ff.; u. a. 3

Jakob Jud (1882-1952) Wenn der Name JABEKG mit demjenigen J A K O B J U D S , des ehemaligen Professors an der Universität Zürich, eng verbunden ist, dann nicht nur deswegen, weil beide Schweizer und die maßgeblichsten Vertreter der Sprachgeographie waren, sondern auch aus einem tieferen Grund. Lange Zeit arbeiteten diese Gelehrten in bestem Einvernehmen zusammen für den Fortschritt unseres Faches, das ihnen viele und große Erfolge verdankt. Die bedeutendste Frucht ihrer Zusammenarbeit bildet der monumentale Sprachatlas Italiens und der Südschweiz, den ich noch in diesem Kapitel erörtern werde. Was über die sprachwissenschaftliche Tätigkeit JABERGS gesagt worden ist, trifft im wesentlichen auch auf J U D zu. Die Unterschiede zwischen beiden sind lediglich im folgenden zu suchen: 1 2

3

Diese sprachgeographische Arbeit wie auch die unmittelbar vorangehende fußte auf dem Material des A I S , der noch nicht zu erscheinen begonnen hatte. In Verbindung mit dem Buch v o n C H . B A L L Y Le langage et la vie, von dem im IV. Kapitel dieses Buches die Rede sein wird. E t w a s später wird auch auf andere Arbeiten J A B E R G S hingewiesen werden, die er in Zusammenarbeit mit JUD verfaßt hat, sowie auf den A I S , den ebenfalls beide geschaffen und publiziert haben. I m Jahre 1 9 3 7 , als J A B E B G sein 60. Lebensjahr und das 60. Semester als Hochschullehrer vollendet hatte, wurden ihm die Faszikel 2—4 der Z R P h und der Band D o n u m natalicium Carlo Jaberg, messori indefesso sexagenario, Zürich-Leipzig 1 9 3 7 (mit Aufsätzen v o n P. S C H E U E R M E I E R , G . R O H L F S und M . L. W A G N E R , den Exploratoren des A I S , und von J. J U D ) gewidmet. E i n vollständiges Verzeichnis der Veröffentlichungen dieses großen Romanisten gibt S. H E I N I M A N N in seinem in V R o X V I I ( 1 9 5 8 ) , S. l f f . publizierten Nekrolog.

Jakob J u d

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Während JABERG mehr in die Breite geht und in seine Forschungen ein größeres Gebiet einbezieht, untersucht und vertieft JUD die gestellten Probleme bis zum letzten. Ich glaube, daß keiner der gegenwärtigen Romanisten mit JUD verglichen werden kann hinsichtlich des Reichtums und der Sicherheit des gewonnenen Sprachmaterials (besonders des lexikalischen). Dies ist sowohl aus seinen eigenen Arbeiten ersichtlich als auch aus denen so vieler anderer Linguisten, die bei jeder Gelegenheit ihre Anerkennung JUD gegenüber zum Ausdruck bringen, weil er ihnen seinen unerschöpflichen Zettelkasten zur Verfügung stellte. Deshalb wäre JUD meiner Ansicht nach sehr berufen gewesen, ein etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen und Dialekte zu schreiben, das viel reichhaltiger und der Realität entsprechender gewesen wäre, als es die bis jetzt vorliegenden Wörterbücher sind. Wenn wir zu all diesen Feststellungen noch die für die Entwicklung unseres Faches sehr wichtige Einzelheit hinzufügen, daß das Romanische Seminar der Universität Zürich eine wirkliche Ausbildungsstätte von gelehrten und arbeitsamen Linguisten war, so habe ich all das gesagt, was f ü r die Charakterisierung des mehr Äußerlichen in der Tätigkeit J U D S notwendig war. Gehen wir nun zu der Betrachtung der Gesichtspunkte über, unter denen sich seine wissenschaftliche Arbeit vollzog. Dabei müssen wir feststellen, daß er dem historischen Faktor einen ebenso wichtigen Platz einräumte wie dem geographischen. Die Lücke, die oftmals die Anhänger der rein historischen Betrachtung den Forschungen GILLIJSRONS mit gutem Recht vorwarfen, füllt J U D völlig aus. E r verstand es, in seinen Studien die Tradition der alten Sprachdenkmäler mit dem Material der Sprachatlanten harmonisch zu verbinden, und gelangte dadurch zu wirklich außergewöhnlichen Ergebnissen. JUD bewies überzeugend, wie das historische und geographische Studium der sprachwissenschaftlichen Erscheinungen sich gegenseitig ergänzen, was vorher die fanatischen Anhänger sowohl der historischen Schule wie auch der Lehre GILLIIIEONS leugneten. Dadurch besitzen seine Arbeiten einen großen allgemein theoretischen Wert. Die Vorliebe J U D S f ü r die historische Methode, die ich eher dem Temperament als seiner sprachwissenschaftlichen Ausbildung zuschreiben würde, geht noch weiter, als es aus dem bis jetzt Gesagten scheinen könnte. Auf der einen Seite sucht er alte Sprachzustände aus der Zeit, da die romanischen Sprachen sich noch nicht differenziert hatten, zu studieren, wobei er zu diesem Zweck die Ergebnisse der Sprachgeographie benützt (so geht er beispielsweise vor in seiner Arbeit Probleme der altromanischen Wortgeographie in: Z R P h X X X V I I I [1914—1915], S. 1 ff.), auf der anderen Seite rekonstruiert er ebenso wie die echtesten Vertreter der historischen Richtung vorromanische Wörter. Dabei handelt es sich speziell u m gallische Wörter, von denen angenommen wird, daß sie einst in den entsprechenden Sprachen vorhanden waren, weil sie den gegenwärtigen romanischen Mundarten übermittelt worden sind. In dieser Hinsicht kann J U D neben M E Y E R - L Ü B K E stehen, dem unbestrittenen Meister der Rekonstruktionsmethode, dem er fast gleichkommt durch den historischen Sinn und die scharfsinnigen etymologischen Kombinationen. Man vergleiche vor allem die Mots d'origine gauloise? betitelte Artikelserie, die er in der Ro veröffentlichte: 1) Band X L V I (1920), S. 465ff.;

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Kapitel III. Sprachgeographie

2) Band XLVII (1921), S.481ff.; 3) Band X L I X (1923), S.389ÉF.; 4) Band L I I (1926), S. 328ff. Um die Charakterisierung der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit J U D S ZU vervollständigen, gebe ich einige der Einschätzungen L. S P I T Z E K S (Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I , S. 3 6 9 ) wieder: J A K O B J U D „hat Gilliérons Lehre mit den bisherigen Resultaten der romanischen Philologie in Einklang gebracht und bietet in seinen lexikologischen Arbeiten, vor allem in unserem Aufsatz, eine Synthese der bisherigen Methoden der Rekonstruktion von Etyma, der Sprachvergleichung, der Wörter- und Sachenrichtung, der Erforschung des stilistischen Gehalts, der sprachgeographischen Richtung — alles im Dienste einer kulturgeschichtlichen Haltung, die zum Unterschied von Vossler weniger die phänomenologische Spiegelung von Kultur in Sprache als kausale Verflochtenheit von Sprachlichem und Kulturellem herauszuheben trachtet." Nachdem ihm S P I T Z E R das zu große Vertrauen den rekonstruierten etymologischen Typen gegenüber zum Vorwurf gemacht hat, vergleicht er J U D mit S C H U C H A R D T , wobei er damit schließt, daß der Reichtum des von ersterem bearbeiteten Materials oftmals* den des letzteren übertrifft. Ebenso gelingt es JUD, überzeugender zu erscheinen, weil er, wenn er alte und moderne Beispiele geographisch anordnet, die Arbeiten so darbietet, daß der Leser sie vorüberziehen lassen und mit großer Leichtigkeit behalten kann. 1 Außer den bereits zitierten Arbeiten verdienen hier die folgenden erwähnt zu werden: Sprachgeographische Untersuchungen in: ASNS CXX (1908), S. 72fF. (über frz.poutre); CXXI (1908), S. 76 ff. (über frz. aune „Erle", norditalienisch barba „Onkel"); CXXIV (1910), S. 83ff. (über frz. aune „Erle", II. Teil); CXXVI (1911), S. 109fF. (über frz. son „Kleie"); Zur Geschichte der bünder-romanischen Kirchensprache (Auszug aus X L I X . Jahresbericht der historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, Chur 19192) ; Zur Geschichte zweier französischer Rechtsausdrücke in: ZSG I I (1922), S. 412 (beschäftigt sich mit frz. corvée und 1

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Vgl. auch die Einschätzungen W. v. W A R T B U R G S in ZRPh X L (1920), S. 508: „ J U D sah frühzeitig, daß die Sprachgeographie kein neuer Zweig, sondern eine neue Methode der romanischen Sprachwissenschaft ist, die uns einerseits wertvolle Informationen über die Sprachentwicklung gibt, andererseits neues und unerwartetes Licht auf historische Verhältnisse wirft. Das große Verdienst J U D S ist, daß er diese neue Methode zu den bereits bestehenden hinzugefügt und sie alle zu einer Übereinstimmung gebracht hat, die reich an Konsequenzen ist. Ohne JUD wäre die Sprachgeschichte noch in Verzug gewesen, sich nach Gebühr dieses ausgezeichneten Instruments zu bedienen, das die Sprachgeographie darstellt." Trotz des Titels beschäftigt sich der Autor hier auch mit anderen romanischen Sprachen. Es könnte gesagt werden, daß diese Studie eine Skizzierung der Geschichte der christlichen romanischen Terminologie enthält. Vgl. die Rezension in Dacor I ( 1 9 2 0 / 2 1 ) , S. 434FF., von P U S C A R I U , der vor allem für das Rumänische interessante Fakten herausstellt. In den in RLiR publizierten Aufsätzen werden mehrere romanische Sprachen, vor allem die westlichen, zusammen betrachtet, so daß wir berechtigt sind, darin den Beginn einer allgemeinen romanischen Sprachgeographie zu sehen. Das ist wiederum eine bedeutende Neuheit in der Tätigkeit J U D S .

J. U . Hubschmied

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dem mundartlichen südfrz. verchère) ; Zur Geschichte und Herkunft von franz. dru in: ARo VI (1922), S.313ff.; Problèmes de géographie linguistique romane: I. Introduction: Problèmes lexicologiques de l'hispano-roman. II. Éteindre dans les langues romanes in: RLiR I (1925), S. 181 ff.; Zum schriftitalienischen Wortschatz in seinem Verhältnis zum Toskanischen und zur Wortgeographie der Toskana in: Festschrift Louis Gauchat, Aarau 1926, S. 298ff. ; Problèmes de géographie linguistique romane: III. S'éveiller dans les langues romanes in: RLiR I I (1926), S. 163 fF. ; La valeur documentaire de l'Atlas linguistique de l'Italie et de la Suisse méridionale, ebenda IV (1928), S. 251 ff.; Sur l'histoire de la terminologie ecclésiastique de la France et de l'Italie, ebenda X (1934), S. l f f . ; Methodische Anleitung zur sachgemäßen Interpretation von Karten der romanischen Sprachatlanten in: VRo X I I I (1954), S. 219ff. Dann dürfen die Rezensionen nicht vergessen werden, die er in Zeitschriften wie ASNS, Ro, ARo usw. veröffentlichte und die oftmals eine besondere Bedeutung besitzen sowohl durch die erörterten Fragen als auch durch das angeführte Material, das zur Verbesserung der Mängel in den rezensierten Büchern dient. 1 Schließlich soll noch hinzugefügt werden, daß JtTD im Jahre 1936 die wichtige Zeitschrift Vox Romanica begründet hat, die er bis zu seinem Tode herausgab und in der er zahlreiche Beiträge jeder Art (Studien, Bemerkungen, Rezensionen) veröffentlichte. Im Jahre 1942 widmeten ihm anläßlich seines 60. Geburtstages seine Schüler, Freunde und Bewunderer eine umfangreiche Festschrift, die bezeichnenderweise wegen der verschiedenartigen Tätigkeit des Gefeierten betitelt ist Sache, Ort und Wort. Jakob Jud zum sechzigsten Geburtstag (12. Januar 1942), Zürich-Genève 1943 (XIX + 839 Seiten mit 35 Karten und 48 Illustrationen). 2 J . U. Hubschmied Ein anderer Schweizer Schüler GILLIÉRONS ist J . U. H U B S C H M I E D . Er veröffentlichte wenig, teils auf Grund seines außerordentlich selbstkritischen Sinnes, teils aber auch deshalb, weil sein Beruf den größten Teil seiner Zeit in Anspruch nahm (er war lange Zeit als Oberschullehrer in Zürich tätig). Dennoch schätzte ihn sein Lehrer außerordentlich günstig ein, und ähnliche Ansichten haben im allgemeinen auch die Rezensenten der Arbeiten dieses bescheidenen, aber tiefgründigen Erforschers der romanischen Sprachen ausgedrückt. Von den bisher behandelten Sprachwissenschaftlern nähert sich H U B S C H M I E D am meisten J U D durch die Bedeutung, die er dem historischen Faktor gewährt, und durch die Vorliebe für das Studium der keltischen Elemente in den westromanischen Sprachen. Diese sucht er vor allem in der Toponymie, wo immer eine größere Anzahl präromanischer Sprachreste gefunden wird als im gewöhnlichen Wortschatz. Aber H U B S C H M I E D studiert die Ortsnamen nicht nur wegen der keltischen 1

2

Ü b e r d i e A r b e i t s m e t h o d e J U D S s c h r i e b L . SPITZER i n R D R

V I ( 1 9 1 4 ) , S . 332FF.

Die ersten Seiten dieses Bandes enthalten die vollständige Bibliographie der Publikationen JUDS bis einschließlich 1941.

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Kapitel III. Sprachgeographie

Relikte, sondern auch wegen so vieler anderer Probleme, die die Toponymie stellt. Was hier in Verbindung mit der Diskussion über die Sprachgeographie interessiert, ist die Tatsache, daß H U B S C H M I E D die Rätsel der vorromanischen Ortsnamen zu lösen sucht, indem er die Prinzipien und Verfahren G I L L I É R O N S anwendet, die er mit den Ergebnissen der historischen Methode verbindet. Eine umfangreichere Arbeit von ihm ist betitelt Zur Bildung des Imperfekts im Frankoprovenzalischen. Die v-losen Formen, mit Untersuchung über die Bedeutung der Satzphonetik für die Entwicklung der Verbalformen, Halle a. d. S. 1914.1 Das Hauptziel des Autors ist, bestimmte morphologische Veränderungen nicht mit Hilfe der Analogie zu erklären, die man für solche Fälle benützt und manchmal mißbraucht hat, sondern mit Hilfe der Satzphonetik : Der Einfluß der Wörter desselben Satzes wirkt sich auch auf die Verbalformen aus, die auf diese Weise jede Art von Veränderungen erfahren. A. M E I L L E T (BSL X I X [1914-15], S. 33ff.)rezensierte dieses Buch günstig und schreibt u. a. folgendes: ,,M. Hubschmied n'est pas l'ennemi des 'lois phonétiques' : en proposant de leur donner la souplesse et la précision qui leur manquent trop souvent, il leur souffle une nouvelle vie, et il les rend vraiment propres à expliquer le développement du langage." (loc. cit., S. 36.) Ähnlich äußert sich J . R O N J A T in RLR LVIII (1915), S. 333 ff., der ein Gegner der Sprachgeographie und ihres Begründers ist. 2 Von den anderen Studien H U B S C H M I E D S erwähne ich die folgenden : Drei Ortsnamen gallischen Ursprungs: Ogo, Château d'Oex, Üechtland in: ZDM X I X (1924), S. 169ff.; Gallische Nomina auf -pi-, -pä- in: Festschrift Louis Gauchat, Aarau 1926, S. 435ff.; Ausdrücke der Milchwirtschaft gallischen Ursprungs in: VRo I (1936), S. 88ff.; Sprachliche Zeugen für das späte Aussterben des Gallischen, ebenda I I I (1938), S. 48ff. Walther v. Wartburg Die wichtigste Besonderheit der Schweizer Sprachgeographie, die wir bei J U D und H U B S C H M I E D feststellten, nämlich die Berücksichtigung des historischen Elements, finden wir auch bei W . v. W A R T B U R G , der in Zürich Schüler JABERG,

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Erschien als 58. Beiheft zur ZRPh. «Ce livre est dédié à M. Gilliéron, mais il procède plutôt de la doctrine que représente M. Gauchat, et ce n'est pas moi qui m'en plaindrai», sagt R O N J A T loc. cit., S. 333. Diese Einschätzung und besonders die oben wiedergegebene Feststellung M E I L L E T S überraschen, wenn wir sie mit der außerordentlich günstigen Meinung G I L L I É R O N S über H U B S C M I E D in Verbindung bringen (und es ist bekannt, daß der Verfasser des ALF überhaupt nicht freigebig mit Lobesworten war). Was aber an der gesamten Diskussion interessiert, ist indessen die irgendwie prinzipielle Frage, ob zwischen der Sprachgeographie und den in der Art der von G A U C H A T begründeten Dialektforschung durchgeführten Untersuchungen eine engere Beziehung besteht, als das beim ersten Blick scheinen könnte. Dabei sollte noch beachtet werden, daß die Lehre G I L L I É R O N S zuweilen selbst mit der Schule der Junggrammatiker versöhnt werden kann, wie es verschiedene Linguisten vertraten, z . B . F R . SCHURR in: Sprachwissenschaft und Zeitgeist, Marburg a. L. 1922, und H. G Ü N T E R T in: W S X I I (1929), S. 390.

Walther v. W a r t b u r g

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von GAUCHAT und J U D und danach in Paris Schüler von GILLIÉRON war. Es kann sogar gesagt werden, daß dieser Linguist den mit dem vergangenen Leben der Sprache verbundenen Problemen in so starkem Maße seine Aufmerksamkeit schenkt, daß er dem historischen Faktor gegenüber dem geographischen den Vorzug zu geben scheint. Natürlich ergibt sich diese Einstellung auch aus der Natur seines Hauptwerkes: Französisches Etymologisches Wörterbuch, Bonn 1922ff. 1 Denn ein solches Wörterbuch kann nur historisch sein, und zwar insofern, als der Wortschatz der französischen Sprache von den ältesten Epochen bis heute registriert werden muß. Weil außerdem die vergangenen Phasen im Leben einer Sprache unvermeidlich zahlreicher sind als die gegenwärtigen, erscheint das Vorherrschen des geographischen Gesichtspunktes über den historischen tatsächlich als unmöglich. Daß aber v. WARTBURG in großem Maße nicht nur den ALF und alle sprachgeographischen Arbeiten in bezug auf die französische Sprache benutzt hat, sondern auch selbst die Lehre GILLIÉRONS, ist von den ersten Seiten des Wörterbuchs an leicht ersichtlich. Dieses monumentale Werk hätte in seiner bestehenden Form nicht geschaffen werden können ohne die linguistischen Methoden, die auf den vorangehenden Seiten skizziert worden sind. Für die sprachwissenschaftliche Konzeption WARTBURGS besitzt die Vorbemerkung Interesse, die dem Vorwort zum ersten Band vorausgeht. Da dieses Werk GILLIÉRON und auch MEYER-LÜBKE gewidmet ist, sucht der Autor die Vereinigung dieser zwei Namen, d. h. Schulen, zu erklären, die gewöhnlich nicht zu1

Dieses wahrhaft monumentale und einzigartige Werk in der Geschichte der romanischen Lexikographie h a t t e viele Wechselfälle zu bestehen, ehe sein ständiges und regelmäßiges Erscheinen gesichert war. Bis Ende des J a h r e s 1960 erschienen davon Band I (die Buchstaben A, B), I I (in zwei Bänden, C, K , Q), I I I (D—F), I V (G, H , I), V (J, L), VI (M-malus, malvar-Martinus), V I I ( N - p a s t u r a ) , V I I I (Patavia—pix), I X (Placabilis—pyxis), Faszikel des X I V . Bandes (Uber—viridis) und 5 Faszikel des X V I . Bandes (die germanischen Elemente von gaan—ryf). Hierzu sind einige Aufklärungen notwendig. Die Wörter germanischer H e r k u n f t von a bis einschließlich / wurden zusammen mit den lateinischen, keltischen Wörtern usw. an der entsprechenden Stelle aufgenommen. Später erachtete es der Autor f ü r geeigneter, die germanischen Elemente gesondert zu erörtern, was in einem speziellen Band (XV) erfolgen soll, der auch die bereits in Band I bis I I I behandelten Wörter germanischer H e r k u n f t mit umfassen wird. Zur Erleichterung der Arbeit u n d vor allem in Rücksicht auf wissenschaftliche Gründlichkeit wandte sich W. v. W A R T B U R G als Romanist von F o r m a t an den bedeutenden Germanisten T H E O D O R F R I N G S in Leipzig um dessen Mitwirkung, mit dem er bereits zusammengearbeitet h a t , als v. W A R T B U H G noch Professor an der Universität der gleichen S t a d t war. Ferner erschienen drei Ergänzungsbände mit den Angaben der Abkürzungen, der benützten Bibliographie und der im Wörterbuch erwähnten Ortschaften. Vom 21. Faszikel an wurde dieses Werk eine Zeitlang in Leipzig und danach in Basel p u b l i z i e r t , wo es auch gegenwärtig noch erscheint. Vgl. hierzu auch folgende Aufsätze von W. v. W A R T B U R G : Sinn und Aufgaben des Französischen Etymologischen Wörterbuches in: Von Sprache und Mensch, Bern 1956, S. 166ff., und Le Französisches Etymologisches Wörterbuch : Evolution et problèmes actuels, ebenda, S. 184ff. {Dieser Aufsatz erschien zuerst in Linguistics Today, New York 1954, hrsg. von A. M A R T I N E T u n d U . W E I N R E I C H , S. 168ff.).

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Kapitel III. Sprachgeographie

sammengehen. Nachdem v. W A R T B U R G G I L L I I D K O N als Romantiker und M E Y E R L Ü B K E als Realisten charakterisiert hat, fügt er hinzu: „So verkörpern die beiden Männer in seltener Reinheit innerhalb der romanischen Sprachwissenschaft die zwei Grundkräfte, aus deren Zusammenwirken und Wechselwirkung die Wissenschaft sich aufbaut. Ohne die reiche Ernte dieser beiden langen Gelehrtenleben voll edler Einfachheit wäre der Stand unserer Erkenntnis ein ganz anderer. Ihnen ist es in einem höheren Sinne zu verdanken, daß für das Französische Etymologische Wörterbuch die Zeit gekommen war. Für das Werk wie für mich selber war der persönliche Kontakt mit den beiden Männern von größter Bedeutsamkeit. Und als besonderes Glück weiß ich es zu schätzen, daß ich dem einen mehr in der noch unsicher tastenden Jugendzeit, dem anderen im reifern Alter nahe sein durfte. Aus diesen Gründen widme ich ihnen beiden dieses Buch. Meyer-Lübke möchte es dienend zur Seite stehen bei seinen unermüdlichen Bemühungen, das Dunkel romanischer Sprachentwicklung zu erhellen. Und wenn auch Gillieron nicht mehr unter uns weilt, so soll es doch eines der vielen Zeichen für die Unvergänglichkeit des Geistes sein, der in ihm lebte." 1 Das etymologische Wörterbuch von W A R T B U R G erfreute sich und erfreut sich weiterhin einer sehr günstigen Aufnahme. Die zahlreichen Rezensionen suchen, nachdem sie im allgemeinen die hervorragenden Qualitäten dieses Werkes aufgezeigt haben, einige Mängel zu beheben und vor allem Etymologien zu berichtigen, die, wie bekannt, den subjektivsten und folglich den der Diskussion am meisten unterworfenen Teil darstellen. Von den bedeutendsten Rezensionen verdienen die folgenden erwähnt zu werden: L. S P I T Z E R in N S X X X (1922), S . 264ff. (mit Fortsetzung in den folgenden Bänden, in dem Abstand, wie die verschiedenen Faszikel des F E W erschienen); S . P U S C A R I U in Dacor I I I (1923), S . 824ff.; E. G A M I L L S C H E G in ZRPh X L I I I (1923), S . 513ff. 2 ; W. M E Y E R - L Ü B K E in DLZ XLV (1924), col. 1957ff.; H . P E D E R S E N in Litteris I I (1925), S . 77ff. (hier trifft dasselbe zu wie bei der Rezension S P I T Z E R S ) ; C H . B R U N E A U in Ro LII (1926), S . 174 ff. Die Rezension M E Y E R - L Ü B K E S erörtert vor allem prinzipielle Fragen, die anderen bringen speziell Zusätze und einzelne Ergänzungen (die Rezension P E D E R S E N S beschäftigt sich nur mit den keltischen Elementen). Obgleich v. W A R T B U R G ein Schüler G I L L I I S R O N S war und auch Schüler von Schweizer Professoren, die ebenfalls G I L L I E R O N als Lehrer hatten, hinderte ihn dies nicht daran, bestimmte Schwächen der Sprachgeographie zu sehen. Sehr interessant scheint mir von diesem Gesichtspunkt aus der Aufsatz Betrachtungen 1

2

Ich habe diese Stelle nicht in erster Linie deshalb wiedergegeben, weil sie uns deutlich die Stellung anzeigt, die v. W A R T B U R G in der romanischen Sprachwissenschaft vom Gesichtspunkt der Schulen aus einnimmt, sondern vielmehr aus einem anderen Grund: Die Einschätzungen zu den zwei Polen unseres Faches erscheinen mir richtig und völlig objektiv, so daß sie zur Vervollständigung des Bildes beitragen, das die Leser des vorliegenden Buches über M E Y E R - L Ü B K E und GILLIISBON haben möchten. GAMILLSCHEG, obgleich er im allgemeinen richtige Beobachtungen trifft, gebraucht dabei einen polemischen Ton, der doch nur dadurch zu erklären ist, daß er selbst der Verfasser eines etymologischen Wörterbuches der französischen Sprache ist.

Walther v. Wartburg

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über die Gliederung des Wortschatzes und die Gestaltung des Wörterbuches in: ZRPh LVII (1937), S. 296ff., in dem gezeigt wird, wie durch die mit Hilfe eines Questionnaire durchgeführte Enquete nur allgemeine objektive Bezeichnungen erhalten werden, nicht auch affektive, und nur der grundlegende Ausdruck f ü r den entsprechenden Begriff, nicht auch die sekundären Ausdrücke. Daraus erklären sich verschiedene Interpretationsfehler, die G T T . T J É B O N beging, sowie auch besonders die lexikalische Armut der Atlanten im Vergleich zum großen wirklichen Reichtum der Sprache. So gibt beispielsweise die Karte 79 des ALF 30 Wörter für den Begriff „geizig" gegenüber 200, die v. W A R T U B R G in Glossaren gefunden hatte. Ebenso entsprechen den 5 Ausdrücken für „arm" (Karte 981) 90 in den Glossaren; der „Reiche" wird im Atlas nur auf 2 Arten bezeichnet (Karte 1156), während die Glossare 80 Benennungen für denselben Begriff kennen. Ähnliche Feststellungen trifft der Verfasser dieses Artikels auch in bezug auf den AIS, obgleich dieses Werk dem ALF sehr überlegen ist. Im Fall der rein verstandesmäßigen Begriffe existiert fast kein quantitativer Unterschied zwischen den Angaben der Atlanten und denen der Glossare. AV. v. W A R T B U R G hat sich in einigen Studien auch mit dem bedeutsamen Problem der Sprachgrenzen im Innern der Romanía beschäftigt: Die Entstehung der Sprachgrenzen im Innern der Romanía in: BGDSL LVIII (1934), S. 209ff.; Die Entstehung der romanischen Sprachräume in: SM XVI (1936), S. lff.; Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume in: ZRPh LVI (1936), S. lff. (eine zweite erweiterte Ausgabe erschien unter demselben Titel als Einzelband 1950 in Bern). Von den verschiedenen geschichtlichen Tatsachen, die zur räumlichen Differenzierung der lateinischen Sprache und damit folglich auch zu ihrer Umbildung in die gegenwärtigen romanischen Sprachen beigetragen haben, mißt v. W A R T B U R G dem Einfall der germanischen Stämme eine meines Erachtens ziemlich übertriebene Bedeutung bei. Eng verbunden mit diesen Studien ist durch die behandelten Fragen sein Buch Die Entstehung der romanischen Völker, Halle a. d. S. 1939 (2. Auflage, Tübingen 1951; die französische Übersetzung Les origines des peuples romans erschien 1941 in Paris). 1 Von den noch nicht genannten Arbeiten W A R T B T J R G S gehören einige zur Dialektologie und Sprachgeographie, wie: Die Ausdrücke für die Fehler des Gesichtsorgans in den romanischen Sprachen und Dialekten. Eine semasiologische Untersuchung in: RDR I I I (1911), S. 402ff., und IV (1912), S. 16ff.; Zur Benennung des Schafes in den romanischen Sprachen. Ein Beitrag zur Frage der provinziellen Differenzierung des spätem Lateins in: APAWB (1918); Zur Stellung der Bergeller Mundart zwischen dem Rätischen und dem Lombardischen (wiederabgedruckt bei L. S P I T Z E R , Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I I , 1

Eine ähnliche Arbeit ist Die Entstehung der romanischen Sprachen und Nationen, Frankfurt a. M . 1941, von H A R R I M E I E R , der oftmals gegen v. W A R T B U R G polemisiert. M E I E R S Arbeit unterscheidet sich von derjenigen v. WARTBTJRGS durch ihren mehr theoretischen Charakter. Vgl. auch M.-L. W A G N E R , Z U Harri Meiers 'Die Entstehung der romanischen Sprachen und Nationen'. Methodologische Erwägungen in: R F L X I (1948), S. l f f .

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Kapitel III. Sprachgeographie

S. 190ff.); usw. Andere Arbeiten von ihm behandeln Fragen verschiedener Natur, z. B. Das Schriftfranzösische im FEW in: Festschrift für Dietrich Behrens, JenaLeipzig 1929, S. 48ff. ; Der Einfluß der germanischen Sprachen auf den französischen Wortschatz in: AK XX (1930), S. 309ff. Schließlich müssen noch erwähnt werden das mehr theoretische Werk Einführung in die Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, Halle a. d. S. 1943 (ins Französische übersetzt unter dem Titel Problèmes et méthodes de la linguistique, Paris 1946, und ins Spanische unter dem Titel Problemas y métodos de la lingüistica, Madrid 1951); Von Sprache und Mensch, Bern 1956 (eine Sammlung von Aufsätzen, die vorher in Zeitschriften veröffentlicht worden waren; S. 234—279 finden wir eine Bibliographie der Publikationen von W. v. W A R T B U R G , die bis einschließlich 1955 reicht) ; Evolution et structure de la langue française, Leipzig-Berlin 1934 (5. Auflage, Bern 1958); Précis de syntaxe du français contemporain, Bern 1947 (2. vollständig umgearbeitete Auflage, ebenda 1958) in Zusammenarbeit mit P. ZUMTHOR. Eine Charakterisierung der wissenschaftlichen Tätigkeit v. W A R T B U R G S , die zugleich auch die Erklärung dafür enthält, weshalb in der Schweizer Sprachwissenschaft der dialektologische Gesichtspunkt' vorherrscht, finden wir bei L . SPITZER, op. cit., S. 3 4 3 . Vgl. auch K . BALDINGER, Walther von Wartburg zum 70. Geburtstag in: FF XXXII (1958) Nr. 5 und die Festschrift Etymologica. Walther von Wartburg zum siebzigsten Geburtstag (18. Mai 1958), Tübingen 1958. Weitere sprachgeographische Arbeiten anderer Schweizer Forscher werden später noch genannt. Über P. SCHEUERMEIER aber, den Hauptexplorator des AIS, werde ich dann sprechen, wenn ich mich mit diesem Werk beschäftige. Die Sprachgeographie

in Deutschland

und

Österreich

Nach der Schweiz ist Deutschland 1 das Land, in dem die Sprachgeographie begeistert aufgenommen wurde. Ich finde nichts Überraschendes in dieser Feststellung. Die kulturellen Lebensbedingungen, mit denen ich die Bewunderung der Schweizer für die Lehre GILLIÉRONS in Verbindung gebracht habe, treffen wir wenigstens teilweise auch in Deutschland an. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß die ersten Anfänge der Sprachatlanten ihren Ursprung in Deutschland hatten. 2 Es scheint mir daher die Erklärung nicht der Wirklichkeit zu entsprechen, 1

2

Das gilt auch für Österreich, das in vieler Hinsicht neben Deutschland gestellt werden muß. Bei den folgenden allgemeinen Betrachtungen denke ich zugleich an beide Länder. Über die deutsche Sprachgeographie, wie sie beim Studium der deutschen Mundarten angewandt wird, finden sich interessante Einzelheiten in dem Buch von KÜBT WAGNEB, D e u t s c h e S p r a c h l a n d s c h a f t e n , M a r b u r g a . d . L . 1 9 2 7 (es e r s c h i e n

in der Sammlung Deutsche Dialektgeographie, hrsg. von FERD.WREDE, Heft 23), d a s K . JABEBG i n Z R P h L ( 1 9 3 0 ) , S . 2 4 1 , r e z e n s i e r t . JABEBG b e t o n t a l s R o m a n i s t

besonders die Verbindungen zwischen der deutschen und der romanischen Sprachgeographie: Die letztere, obgleich sie in mancher Hinsicht viel fortgeschrittener ist, hat noch von ihrer kleineren Schwester zu lernen, speziell vom Gesichtspunkt des historischen Faktors aus, der von den Romanisten wegen GIL-

Die Sprachgeographie in Deutschland u n d Österreich

263

die hierzu A. D A U Z A T in La géographie linguistique, S. 23—24, gibt: „Chez les Allemands, au contraire, ce fut dès le début un véritable engoument: avec l'esprit d'imitation qui les caratérise — et aussi avec l'intuition qui leur fait reconnaître la valeur des découvertes d'autrui — ils se sont attelés, dès avant la vernachlässigt wurde. (Ebenso wie F . D E S A U S S U R E eliminierte G I L L I É R O N in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit alles, was nicht reine Sprachwissenschaft war.) I n Deutschland wurden d u r c h die Forschungen von T H . F R I N G S , Professor a n der Universität Leipzig, in dieser R i c h t u n g große F o r t s c h r i t t e erzielt, i n d e m m i t ziemlicher Genauigkeit die Beziehungen zwischen den sprachlichen Arealen u n d ihren historischen Grundlagen festgelegt wurden, vor allem die Übereinstimmungen zwischen der gegenwärtigen Verteilung der Dialekte u n d den menschlichen Siedlungen der Vergangenheit. J A B E B G n ü t z t diese Gelegenheit, u m auf einen sprachwissenschaftlichen Ausdruck einzugehen, der häufig in sprachgeographischen Arbeiten erscheint. E s handelt sich u m den Ausdruck , , S p r a c h l a n d s c h a f t " (oder, wie J A B E R G selbst, unabhängig von W A G N E R , dazu sagte „sprachliche Lands c h a f t " , was er in einem Vortrag, den er a m 2. Dezember 1929 in J a s s y hielt, französisch wiedergab durch „ t y p e linguistique régional"). J A B E R G definiert diesen Ausd r u c k : ,,. . . ein Gebiet, das sich nicht in erster Linie durch die Verbreitung gewisser lautlicher, morphologischer, lexikologischer u n d syntaktischer Einzelzüge auszeichnet, sondern das durch seinen sprachsoziologischen H a b i t u s charakterisiert ist, durch seine m e h r oder weniger große K o n s e r v a t i v i t ä t , durch Einheitlichkeit oder Vielgestaltigkeit, durch R i c h t u n g u n d Tragweite der sprachlichen Ström u n g e n usf." (loc. cit., S. 242/43.) Vgl. auch L. J U T Z (Grundzüge der Mundartforschung in: ZD X L V I [1932], S. 465 ff.), der ebenfalls den Ausdruck „Sprachl a n d s c h a f t " gebraucht u n d ihn folgendermaßen definiert: „ . . . e i n Gebiet, das durch ein verhältnismäßig stärkeres Grenzbündel von den b e n a c h b a r t e n geschieden ist u n d sich d a d u r c h als eine relative Einheit kennzeichnet." Folglich ist sie etwas anderes als das Dialektareal, von dem G I L L I É K O N spricht. E s m u ß b e t o n t werden, d a ß diese zwei Begriffe W A G N E R S u n d J A B E R G S nicht völlig gleich sind, weil der erste a n individuelle Fälle d e n k t , der zweite a n typische Erscheinungen. — Neben F E R D . W R E D E , den Begründer der deutschen Sprachgeographie (s. dieses Kapitel, S. 173), m u ß sein Schüler T H . F R I N G S gestellt werden, der allein oder in Zusammenarbeit mit seinen Schülern zahlreiche sprachgeographische Untersuchungen (besonders über die Dialekte des Rheinlandes) veröffentlicht h a t . Prinzipielle F r a g e n diskutiert F R I N G S vor allem in seiner Leipziger Antrittsvorlesung Sprachgeographie u n d Kulturgeographie (s. ZD 1930, S. 546ff.). Besonders wichtig f ü r R o m a n i s t e n ist das B u c h Germania r o m a n a , Halle a. S. 1932, v o n F R I N G S u. a. deshalb, weil er, sich auf die sprachgeographischen Studien der Romanistik stützend (von J U D , W A R T B U R G U . a.), in logischer Weise eine enge Verbindung zwischen der Germanistik u n d der Romanistik herstellt. — I n Marburg, wo W R E D E als Professor tätig war, wurden u n t e r dem allgemeinen Titel Deutsche Dialektgeographie eine Reihe von Arbeiten auf diesem Gebiet veröffentlicht. Mit der Arbeit v o n W . W E N Z E L , W o r t a t l a s des Kreises Wetzlar u n d der umliegenden Gebiete (1930), war diese Reihe bis zur N u m m e r 28 gelangt. Von anderen deutschen sprachgeographischen Arbeiten können hier a n g e f ü h r t werden die des b e k a n n t e n österreichischen Indogermanisten P A U L K R E T S C H M E R , Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache, Göttingen 1918, u n d die von W . P E S S L E R , Deutsche Wortgeographie. Wesen u n d Werden, Wollen u n d W e g (in: W S X V [1933], S. lff.). L e t z t g e n a n n t e Arbeit h a t besonders theoretischen W e r t , da sie die Lehre, die Grundlagen u n d die Methode der Wortgeographie erörtert (in Verbindung mit der Sprachgeographie im allgemeinen, mit der Phonetik, der Methode „ W ö r t e r u n d Sachen" usw.). LIÉRON

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Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel III. Sprachgeographie

guerre, à des travaux de géographie linguistique." Die anderen Feststellungen DATJZATS, die zu klären suchen, weshalb die deutschen Sprachwissenschaftler keine bedeutenden Werke in diesem Zweig der romanischen Sprachwissenschaft geschaffen haben, lasse ich beiseite, weil sie hier nicht interessieren, obgleich auch sie einige Korrekturen erfahren müßten. Tatsache ist, daß weder Deutschland noch Österreich den Gelehrten, die wir bis jetzt kennengelernt haben, auf diesem Gebiet Namen von gleichem Wert gegenüberstellen können. Die Ursachen dafür sind meiner Ansicht nach folgende : Soviel ich weiß, hat kein deutscher oder österreichischer Romanist seine gesamte oder fast gesamte Tätigkeit nur der Sprachgeographie gewidmet, wie das einige der oben genannten Gelehrten getan haben. Unter den Linguisten, mit denen wir uns jetzt beschäftigen wollen, werden wir Gelehrte finden, die wir schon in den vorangehenden Abschnitten erwähnten, weil sie auch auf anderen Gebieten arbeiteten und noch arbeiten. Dasselbe gilt für die, deren Namen hier zum ersten Male erscheinen. Aber noch etwas ist zu beachten. Deutschland begann das wissenschaftliche Studium der romanischen Sprachen vor allen anderen Ländern. Deshalb war es ihnen lange Zeit überlegen, was die Anzahl und die Qualität der Studien auf dem Gebiet der romanischen Philologie betraf. Da Deutschland eine alte und ständig gut vertretene Tradition besaß, fiel es schwerer, die im Verlauf von einhundert Jahren betretenen Wege zu verlassen. Schließlich hatten die Deutschen als nicht romanisches Volk keine Gründe, eine romanische Sprache den anderen gegenüber zu bevorzugen. So erforschten sie alle zugleich. Außerdem ist ihr Sprachgefühl unvermeidlich weniger entwickelt für einige Sprachen, die für sie fremd sind und bleiben, selbst wenn sie diese auch gut kennen würden. Für die sprachgeographischen Studien — ich denke vor allem an G I L L I É R O N , J A B E R G und J U D — ist es indessen absolut notwendig, als Gegenstand die Muttersprache auszuwählen oder eine Sprache, mit der der Linguist von Kindheit an vertraut ist, wie es bei den Schweizer Romanisten deutschsprachiger Herkunft der Fall ist. Die Stellung der deutschen Romanisten der Sprachgeographie gegenüber muß nach meiner Meinung so verstanden werden: Diejenigen, die diese Disziplin pflegten oder noch pflegen, betrachten sie nur als einen mehr oder weniger sekundären Zweig ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Deshalb schufen sie keine Werke von großem Wert und brachten keine bemerkenswerten Neuerungen in die Methoden oder in die Lehre G I L L I É R O N S und die seiner Schüler. Dagegen stellen wir als allgemeine Geisteshaltung in der deutschen Romanistik eine günstigere Einstellung gegenüber der Sprachgeographie fest als anderswo (mit Ausnahme der Schweiz). Ich muß darauf hinweisen, daß es in Deutschland (und Österreich) keinen Romanisten gab oder gibt, der sich grundsätzlich gegen die Sprachatlanten und die auf deren Grundlage durchgeführten Studien gestellt hat oder stellt, wie es die Franzosen A. THOMAS, E. B O U R C I E Z U. a. getan haben. Der geographische Gesichtspunkt ist mehr oder weniger in den meisten Arbeiten der deutschen Romanisten anzutreffen. Diese Tatsache ist meines Erachtens für unser Fach ein ebenso großer Gewinn wie so viele wertvolle sprachgeographische Arbeiten.

Ernst Gamillscheg und Leo Spitzer

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Ernst Gamillscheg und Leo Spitzer Die Bezeichnungen der „Klette" im öalloromanischen, Halle a. d. S. 1915, von E. GAMILLSCHEG und L. SPITZER : Diese Arbeit widmeten die Verfasser, die vorher Schüler M E Y E R - L Ü B K E S in Wien waren, ihrem ehemaligen Lehrer GILLIÉRON, dem Begründer der Sprachgeographie, anläßlich seines 60. Geburtstages. 1 Bedeutungsvoll und zugleich lobenswert ist, daß sie sich nicht damit zufrieden geben, die verschiedenen Bezeichnungen der „Klette" in den galloromanischen Dialekten zu verfolgen und zu erklären. Sie versuchen auch, aus den beobachteten Tatsachen allgemeine Schlüsse zu ziehen, so z. B. hinsichtlich der Sprachgeographie oder weshalb Pflanzenbezeichnungen sich ändern und so leicht verwechselt werden u. a. (s. S. 73 ff.). Deshalb nahmen zahlreiche Rezensenten 2 diese Studie günstig auf. GAMILLSCHEG hat in ARo V I (1922), S. IFF., unter dem Titel Wetzstein und Kumpf im Öalloromanischen eine außerordentlich minuziöse Untersuchung veröffentlicht, in der er, so glaube ich, das Prinzip der Homonymie bei der Erklärung des Untergangs einiger Wörter und deren Ersetzung durch andere mißbraucht hat. Dennoch muß die Beharrlichkeit hervorgehoben werden, mit der der Verfasser bis in die kleinsten Einzelheiten das Leben der Sprache zu vertiefen weiß und den ständigen Kampf der Sprache in ihrem Bestreben, so klar und verständlich wie möglich zu sein, herausstellt. Ebenso zeigt er den großen Reichtum der Mittel auf, über die die menschliche Sprache verfügt, um aus schwierigen Situationen herauszukommen. 3 Derselbe Linguist schrieb eine Broschüre über die Sprachgeographie im allgemeinen, betitelt Die Sprachgeographie und ihre Ergebnisse für die allgemeine Sprachwissenschaft, Bielefeld-Leipzig 1928. Auf seiner eigenen Erfahrung fußend wie auch auf den Arbeiten anderer, erörtert GAMILLSCHEG summarisch zahlreiche allgemein sprachwissenschaftliche Probleme, z. B. die Bildung der Dialekte, den Lautwandel, das Wandern der Wörter, die Schichtung der Wörter und Formen, die Homonymie und den Untergang der Wörter, die Gründe für diesen Untergang und die Ersetzung der untergegangenen Wörter, die Volksetymologie u. a., um 1

2

3

Diese Schrift gehört zur Sammlung Sprachgeographische Arbeiten, in der (bis 1930) nur noch erschien: H . SCHUKTEB, Die Ausdrücke für den „Löwenzahn" im Galloromanischen, Halle a. d. S. 1921. A.THOMAS in R o X L I V (1915-1917), S. 2 7 4 f f . ; W. v . WARTBURG in LgrP X X X V I I (1916), col. 120ff. '„die Autoren haben die Methoden der sprachwissenschaftlichen Enquete vervollkommnet"); K . JABERG in A S N S C X X X I X (1919), S. llOff. („die Sprachgeographie half den Autoren, historische und sprachbiologische Tatsachen festzustellen"); G. ROHLFS in Z R P h X L I (1921), S. 453ff. V g l . d i e R e z e n s i o n e n v o n IORGU IORDAN i n A r h i v a X X X ( 1 9 2 3 ) , S . 1 1 9 f f . ; G . GIXJGLEA i n D a c o r I I I ( 1 9 2 3 ) , S . 9 7 1 f f . ; A . MEILLET i n B S L X X I V ( 1 9 2 4 ) , S . 9 9 ;

J. JUD in Z F S L X L V I I I (1926), S. 158FF. N o c h eine andere sprachgeographische Studie GAMILLSCHEGS ist hier zu erwähnen: Essai de géographie linguistique. Provençal l a v a i r e lavoir in: Omagiu Profesorului Ilie Bärbulescu, I a | i 1931, S. 77FF. 13*

Kapitel I I I . Sprachgeographie

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zu zeigen, wie die Sprachgeographie zu ihrer Lösung beitrug. Die Einstellung des Verfassers dieser Richtung gegenüber ist sehr günstig, auch wenn er in mancher Hinsicht Vorbehalte macht, wie es bei einem so kritischen Geist wie GAMILLSCHEG nicht anders sein kann. Gerade deshalb verlangt er von allen, die die Sprachgeographie pflegen, eine ernsthafte und gründliche Ausbildung.1 L E O SPITZER widmete sich der Sprachgeographie besonders zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, doch nicht allzu intensiv. Außer der Broschüre, die er in Zusammenarbeit mit GAMXLLSCHEG veröffentlicht hat, publizierte er noch Die Namensgebung bei neuen Kulturpflanzen im Französischen. Mit 3 Karten: 1. Mais und Buchweizen. 2. Kartoffel und topinambour in: W S IV (1912), S. 122ff., und V (1913), S. 124ff., in denen er die Ergebnisse der Sprachgeographie mit denen der Methode „Worter und Sachen" verbindet, wie wir das gewöhnlich bei den Schweizer Linguisten gesehen haben. Ferner verfaßte S P I T Z E S damals Die Sprachgeographie (1909—1914). Kritische, Zusammenfassung in: R D R VI (1914), S. 318ff., eine ins einzelne gehende kritische Sichtung der sprachgeographischen Arbeiten, 1

Diese Broschüre wurde rezensiert von O. BLOCH in RCHL L X I I I (1929), S. 463ff.; E.ÖHMANN

in N M

X X X

(1929),

S . 45FF.; W . SCHBOEDER

in V K R

II

(1929),

S. 88ff.; EVA SEIFERT in ZRPh L (1930), S. 244FF.; u. a. Der Autor zitiert auch rumänische Beispiele. Es ist nur schade, daß er sie manchmal falsch interpretiert. So spricht er auf S. 18 von der Homonymie, die sich in der oltenischen Mundart zwischen dem Femininum von beat und dem von biet ergeben würde. Weil biet vor das Substantiv gesetzt wird, da es affektiven Wert hat, beat aber dem Substantiv folgt, könne ohne weiteres gesagt werden o beatä femeie „eine arme Frau" neben o femeie beatä „eine betrunkene F r a u " : die Homonymie sei 'erträglich', wie sich GILLIEBON ausgedrückt hätte. Wenn wir aber das Femininum biet prädikativ gebrauchen, dann sei die Gefahr der Verwechslung dieser Adjektive unmittelbar gegeben und deshalb würde gesagt femeia este beatä „die Frau ist betrunken", jedoch: femeia este särmanä „die Frau ist arm". Diese Erklärung GAMILLSCHEGS kann vor allem deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie sich auf ungenaue Fakten stützt: beatä und biatä (dies ist die korrekte feminine Form von biet) sind nur Paronyme, keine Homonyme. Ferner sind särman und biet nur unter ganz besonderen Bedingungen Synonyme (und zwar dann, wenn sie als Attribute fungieren und vor dem Substantiv stehen: särmana femeie — biata femeie); andererseits kann biet als Attribut nicht nach dem Substantiv gesetzt werden und kann gleichfalls nicht prädikativ gebraucht werden. Wer sagt femeie biatä oder aceastä femeie este biatä? Wir haben es mit einer Erscheinung stilistischer Natur zu tun. Das beweisen dessen Stellung vor dem Substantiv und die anderer mit ihm synonymer Adjektive, z. B . s&rae, das auch, gerade wie biet und särman, im übertragenen Sinn gebraucht wird (es handelt sich um die moralische Armut von jemandem). In den moldauischen Mundarten, wo sich diese zwei Wörter genau voneinander unterscheiden (das Femininum von biet lautet ghiatä und das von beat batä), wird immer nur gesagt: o ghiatä femeie und o femeie batä. Dieses ist die syntaktische Reihenfolge, die feststehend geworden ist, weil das erste Adjektiv ausschließlich affektiven, d. h. stilistischen Wert hat, während das andere rein intellektuellen, d. h. grammatischen Wert besitzt. Infolgedessen mischt sich die Homonymie in solchen Fällen nicht ein. Ebenso muß beachtet werden, daß beatä das Femininum von beat, nicht von baut ist, wie GAMILLSCHEG meint.

Ernst Gamillscheg und Leo Spitzer

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die zu unserem Fach gehören und in der Zeit von 1909—1914 erschienen sind. Ebenso müssen die zahlreichen Rezensionen S P I T Z E R S ZU sprachgeographischen Arbeiten, besonders zu denen G I L L I Ä E O N S , erwähnt werden, von denen einige bereits am entsprechenden Ort zitiert worden sind. Von Anfang an hatte S P I T Z E R dieser Richtung in der romanischen Sprachwissenschaft gegenüber Vorbehalte. Er bekämpfte deren Exklusivität und deren Charakter mathematischer Genauigkeit, die vor allem in den Werken GELLIJSRONS zu beobachten sind, da dies auf einem so unbeständigen Gebiet, wie es das Leben der Sprache ist, gezwungen und künstlich wirkt. Nach dem 1. Weltkrieg nahm die Begeisterug S P I T Z E R S f ü r die Sprachgeographie, die niemals außerordentlich groß war, allmählich ab, bis sie sich sogar in eine Gegnerschaft verwandelte. Er war nicht so sehr gegen die Lehre G R M I S R O N S an sich, sondern vor allem gegen die Sprachatlanten. Wir werden später sehen, daß die Vorbereitung solcher Werke etwas Übliches und irgendwie Verpflichtendes für alle Sprachen geworden ist, was in den Augen eines skeptischen Geistes als ein Mißbrauch erscheinen kann, den es einzudämmen gilt. Auf der anderen Seite widmete sich S P I T Z E R in den letzten Jahrzehnten einem neuen sprachwissenschaftlichen Zweig, der Stilistik (s. Kap. I I des vorliegenden Buches), die fast keine Verbindung zur geographischen Methode aufweist. Dagegen findet der Stilforscher in den Glossaren und Wörterbüchern wie auch in den volkstümlichen Texten, d. h. in der alten Methode, die lokalen Mundarten zu studieren, ein außerordentlich reiches Material f ü r seine Untersuchungen. Daher sprach sich S P I T Z E R mehrmals gegen die Sprachatlanten und die Questionnaires von der Art GILLÜSRONS mit der Enquete an Ort und Stelle aus und t r a t f ü r die Glossare ein mit ihren Anhängen, Texten und grammatischen Studien. Bereits in der Rezension, die er zu dem Sprachatlas von Katalonien schrieb (ZRPh X L V [1925], S. 614), plädierte S P I T Z E R f ü r die Wörterbücher. Dann t a t er das eingehender in: Atlas linguistiques ou grammaires-dictionnaires-textes ?, einem Vortrag, den er auf dem internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß hielt, der in Den Haag im April 1928 stattfand. Veröffentlicht wurde er in R I E B X X (1929), S. ^ f f . 1 Die Gründe, aus denen S P I T Z E R die Wörterbücher den Atlanten vorzog, sind kurz folgende: Das Bild der Sprache, so wie es die Wörterbücher zusammen mit den Texten bringen, ist natürlich, historisch und viel vollständiger als das, was uns die Atlanten wiedergeben. Ebenso kann in einem Wörterbuch das schöpferische Element der Sprache gesehen werden, das im Atlas vollständig verlorengeht. Die Atlanten grammatikalisieren oder standardisieren die Sprache. Sie stellen sie uns mehr oder weniger künstlich dar, so wie sie zu einem gegebenen Zeitpunkt besteht, der nicht immer den vorangehenden Momenten und den folgenden gleicht. Das Sprachmaterial eines Atlasses erinnert an das Repräsentativsystem im politischen Leben: Wie Millionen Bürger zur Führung des Landes eine relativ geringe Anzahl von Delegierten schicken, ebenso ist die große sprachliche Masse der 1

Vgl. auch N S X X X V I (1928), S. 440. Der Vortrag SPITZERS wurde veranlaßt durch den Vorschlag A . M E I L L E T S , der in einer Sitzung des Kongresses verlangte, einen Sprachatlas des gesamten Erdballs abzufassen, damit auf der Grundlage derselben Kriterien alle Sprachen untereinander verglichen werden könnten.

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Kapitel III. Sprachgeographie

Volkssprache nur teilweise im Atlas vertreten, wo ich einige hunderte Wörter und Formen habe, die nach S P I T Z E R nicht immer die charakteristischsten sind. Was die Sammlung des Materials f ü r die Aufstellung der Wörterbücher betrifft, so t r i t t S P I T Z E R für die Enquete durch Korrespondenten ein, weil ihm diese weniger künstlich erscheint als die an Ort und Stelle, und offensichtlich auch, weil ihn nicht die lautlichen Tatsachen interessieren, die wenigstens dem Anschein nach des stilistischen Wertes entbehren. 1 Die hier von mir gegebene Einstellung S P I T Z E R S den Sprachatlanten gegenüber wird in einem bestimmten Gesichtspunkt noch ergänzt in einem Brief, den mir JUD am 10. März 1933 zusandte. Da es sich um eine prinzipielle Frage handelt, halte ich es für angebracht, an dieser Stelle kurz zusammenzufassen, was dieser bedeutende Schweizer Linguist schrieb. S P I T Z E R , SO meint J U D , wurde in der Großstadt Wien geboren und wuchs dort in einem Milieu von feingebildeten Intellektuellen auf, also weit ab von der bäuerlichen Sphäre. Daher stammen sein mangelndes Verständnis und die fehlende Sympathie f ü r die Volkssprache sowie auch das oft bewiesene Unvermögen, Probleme zu lösen, die mit „Sachen" (vgl. die Methode „Wörter und Sachen") verbunden sind. Darin liegt aber auch seine große Fähigkeit begründet, die Schriftsprache, die Sprache der Großstadt und die Ausdrucksformen des städtischen Künstlers, des Hof- und Theaterdichters, feinsinnig zu interpretieren. G I L L I É R O N und andere Schweizer Sprachforscher dagegen schienen f ü r die Sprachgeographie und die Methode „Wörter und Sachen" geboren zu sein wegen ihrer engen Verbindung zur Volkssprache, die sie selbst im Alltag anwandten, und auf Grund ihrer innigen Beziehungen zum „Land", zu dem Gebiet, wo sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Deshalb können sie auf dem Gebiet der Literatursprache von Linguisten wie S P I T Z E R lernen. S P I T Z E R ähnlich sind die Schweizer Linguisten aus der französischen sprachwissenschaftlichen Schule: F. D E S A U S S U R E , C H . B A L L Y , A. S E C H E H A Y E (S. Kap. IV), die alle aus Genf stammen und somit auch „Produkte" eines städtischen Lebens sind. Daher kommt die Vorliebe dieser Genfer Linguisten für die gebildete Literatursprache, wenn auch keiner von ihnen den Individualstil studierte, sondern (wie beispielsweise B A L L Y ) die stilistischen Besonderheiten der Sprache einer gesellschaftlichen Gruppe. 1

Über die Sprachatlanten und Wörterbücher im allgemeinen sprach sich W. aus in der Rezension, die er zum FEW von W. v. W A R T B U R G schrieb (s. DLZ XLV [1924], col. 1957ff.): Beide Arten, die Sprache zu studieren, bieten Vorteile und Nachteile; deshalb sind beide notwendig, weil sie sich gegenseitig ergänzen. Dennoch bevorzugt M E Y E R - L Ü B K E das Wörterbuch, aber aus anderen Gründen als S P I T Z E R . Dieselbe Frage erörtert auch K . J A B E R G in Ro L (1924), S. 278ff., wo er A. G R I E R A S Atlas lingüístic de Catalunya rezensiert: Das Wörterbuch enthält ein unendlich viel reicheres Material, der Atlas dagegen gibt genau das Leben der Sprache in einem bestimmten Augenblick wieder und benützt ein einziges Verfahren für die Sammlung des Materials. Das Wörterbuch hält die Sprache ( = langue) fest, der Sprachatlas das Sprechen ( = parole). Das Problem der Atlanten und Glossare behandelt u. a. auch V. B E R T O L D I , Vocabolari e atlanti linguistici in: R S F F (1924). MEYER-LÜBKE

Karl v. Ettmayer

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Karl von Ettmayer (1874-1938) Von den anderen deutschen Sprachwissenschaftlern, die sich mit der Sprachgeographie beschäftigten, sei hier nur K. v. ETTMAYEB 1 genannt mit seiner Arbeit Über das Wesen der Dialektbildung, erläutert an den Dialekten Frankreichs in: Denkschriften der Akademie der Wissenschaften in Wien, philologisch-historische Klasse, 66. Band, 3. Abhandlung, Wien-Leipzig 1924. Der Autor beginnt mit einem historischen Überblick über die Mundartenforschung, in dem er eine romantische Auffassung (vor GILLIÉRON) und eine antiromantische ( G I L L I É B O N mit seiner Schule) beim Studium der Volksmundarten feststellt. Obgleich er die Überlegenheit der letzteren anerkennt, meint er, daß auch sie mit vielen Fehlern behaftet sei, und er bemüht sich, sie aufzuzeigen und zu analysieren. Ein großer Fehler in erkenntnistheoretischer Hinsicht bei der Lehre GILLIÉRONS besteht nach K. v. E T T M A Y E B in der Vernachlässigung der Tatsache, daß ein Wort neben Lauten und Bedeutung noch ein Element besitzt, das er Sinn, Wert oder Geltung nennt: Frz. jurer comme un païen, comme un charretier (voiturier, bourguignon, démon usw.) sind völlig synonymische Ausdrücke hinsichtlich des affektiven Wertes, obgleich der intellektuelle Wert der Wörter païen, charretier usw. verschieden ist. Die Folge dieses Fehlers ist im ALF zu beobachten, dessen Karten uns meistens nicht die eigentlichen Wortgrenzen, sondern die Wortgeltungsgrenzen zeigen, wie es vor allem die Karten garçon, beau, profond u. a. beweisen. Was die Ursache der Dialektbildung betrifft, so meint v. ETTMAYEB, daß wir sie nicht in den Veränderungen der Ausdrucksweise suchen müssen, sondern in der sprachlichen Anpassung, nach der alle Sprecher streben. Schon H. P A U L verlangte, daß nicht die Unterschiede, sondern die Ähnlichkeiten innerhalb eines Dialektes erklärt werden sollten, d. h. auf welche Weise die Glieder einer Sprachgemeinschaft ihre Sprache einander anpassen. Bei dem Vorhandensein eines Dialektes stellt v. ETTMAYEB drei Momente fest : die Mundarten oder die örtlichen Beziehungen zwischen den Menschen, den Jargon oder die intellektuellen Beziehungen und die idiomatische Rede. Alle analysiert er so eingehend wie möglich, indem er zeigt, wie jedes Moment zur Bildung des Dialektes beiträgt. Interessantes sagt er über die Handels- und Verkehrswege, die als Vehikel für die Verbreitung des sprachlichen Einflusses der Hauptstadt dienten 2 , und über die Gebiete mit sprachlichen Neuerungen, bei denen nicht genau festgestellt werden kann, auf welchem Wege sie kamen. Bei der Verfolgung des Prozesses der Anpassung muß die Aufmerksamkeit vor allem auf die Morphologie gerichtet werden, 1

2

Andere werden nur dann erwähnt, wenn von den verschiedenen Sprachatlanten auf dem Gebiete der romanischen Sprachen die Rede ist, und im entsprechenden Abschnitt über die Onomasiologie (wo die Namen und Schriften ohne Einschätzung oder Erörterung aneinandergereiht werden). Vgl. K . J A B E R G (Sprachgeographie), der in Anbetracht des Charakters dieser Studie sich nur darauf beschränkte, das Problem zu umreißen.

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Kapitel III. Sprachgeographie

weil diese eine viel größere Rolle als der Wortschatz spielt.1 Ebenso wird beobachtet, daß die morphologischen Grenzen, wenn sie oftmals bei großen Entfernungen mit den lexikalischen zusammenfallen, dennoch auch sehr charakteristische Abweichungen diesen gegenüber zeigen. Was die Lautgrenzen betrifft, so stimmt v. ETTMAYER im allgemeinen SCHUCHARDT und GILLIISRON zu, nach deren Meinung es solche Grenzen nicht gibt. Indessen gibt es nach v. ETTMAYERS Ansicht einzelne Fälle, die mit größter Beweiskraft einer solchen Feststellung zuwiderlaufen, z. B. die geographische Verbreitung der Lautgruppen ca-öa, ga-ga u. a. in Frankreich. Nachdem er sich im einzelnen mit dieser Frage beschäftigt hat, kommt der Autor zu folgendem Schluß: „Dennoch glaube ich bei den zuerst besprochenen Phänomenen bezüglich der Entwicklung von k vor a, g vor e, i und lat. j in Südfrankreich erwiesen zu haben, daß eine gewisse Konstanz in der Verbreitung bestimmter Lauterscheinungen in anderen Fällen so klar aus den Atlasblättern herausgelesen werden kann, daß man sich dieser Tatsache nicht verschließen kann." „Wenn man nun die Gesamtheit der Lautveränderungen auf französischem Boden ins Auge faßt, so muß man sagen, daß diese bestimmte Abgrenzbarkeit von Lauterscheinungen der häufigere Fall ist und daß wir in ganz bestimmter Weise den Schwund der Auslautvokale, den Schwund des intervokalischen d, das aus t hervorging, den Wandel von et > tS (ts) oder > it, die Bewahrung des vorkonsonantischen l, sei es vor Labial, sei es vor Dental, usw. im Atlas mit ziemlich präzisen Linien umreißen können." „Ein Axiom von der Unabgrenzbarkeit der Lauter scheinungen aus dem Atlas herauslesen zu wollen, hieße die Tatsachen auf den Kopf stellen." (op. cit., S. 54, col. 2.) „Nur das lehrt uns der Atlas, daß 1. eine tatsächlich vorhandene Lautgrenze infolge der Wortwanderung häufig gestört wird und 2. in der Tat einzelne Lautphänomene keine bestimmte Abgrenzungslinien ergeben." (ebenda, S. 54, col. 2, und 55, col. 1.) „Es erhellt daraus, daß die sogenannten .Lautgesetze' in der Regel tatsächlich ein einheitliches Produkt und kein Zufallsergebnis der Wortwanderung sein müssen und daß zumindest, wenn auch vereinzelt, gegenseitige Fälle bestehen mögen, wie wir sie in der Behandlung von -aticum und der,palatalisierten' Labialen in Südfrankreich konstatieren konnten, die einheitliche Lautgebung, die in einer Mundart für bestimmte Lautgruppen auf Grund derartiger zahlreicher Einwanderungen von Fremdwörtern durchgeführt wird, ein Prinzip darstellt, das auch solchen Lautregeln einen einheitlichen Charakter aufprägt." (ebenda, S. 55, col. I.) 2 1

2

So ist der limousinische Dialekt (in Südfrankreich) in lautlicher Hinsicht und im Wortschatz der eigentlichen französischen Sprache ziemlich ähnlich, aber er unterscheidet sich von dieser durch die Morphologie, die zahlreiche Besonderheiten aus dem Altprovenzalischen bewahrt hat. Vgl. auch die Arbeit von A. TERRACHER, Les aires morphologiques . . ., wo ebenfalls, obgleich von einem anderen Gesichtspunkt aus, auf die Bedeutung der Morphologie im Sprachleben hingewiesen wird. Man vgl. auch eine andere Studie v. ETTMAYERS, Lateinisch-Romanisches zur Lautgesetzfrage (in der Zeitschrift Glotta X X V [1936], S. 79ff.), wo der Gesichtspunkt vertreten wird, daß die Lautgesetze der Junggrammatiker sprachliche Realitäten seien, die aus den natürlichen Tendenzen der Sprache hervorgehen, d. h. aus ihrem Geist.

Die Sprachgeographie in Katalonien und Italien

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Wie wir sehen, sucht v. ETTMAYER die Sprachgeographie und die alte Schule der Junggrammatiker zu versöhnen, oder genauer gesagt: Er bemüht sich, aus dem A L F Argumente zugunsten der „Lautgesetze" zu finden, wobei er der traditionellen Konzeption darüber nur einige bedeutungslose Veränderungen hinzufügt. 1 Ob er bei seinem Unternehmen Erfolg hat oder nicht, das ist eine andere Frage. Ich erinnere mich nicht, eine Rezension zu diesem Werk gelesen zu haben, das fast unbeachtet vorüberging. Auch die anderen Werke des Nachfolgers von MEYER-LÜBKE an der Universität Wien hatten mehr oder weniger ein ähnliches Schicksal. Die Art, wie v. ETTMAYER die verschiedenen sprachwissenschaftlichen Probleme auffaßt, beweist in der Tat Unabhängigkeit und Originalität im Denken. Indessen übertreibt er häufig diese Eigenschaften und wirkt dadurch oft seltsam und sonderbar. Die Sprachgeographie in Katalonien und Italien Um die Informationen darüber zu vervollständigen, welche Aufnahme die Sprachgeographie außerhalb Frankreichs, ihres Ursprungslandes, fand, muß ich noch kurz auf die hierbei in zwei romanischen Ländern, in Katalonien und Italien, entwickelte Tätigkeit hinweisen. Das Katalanische ist eine selbständige Sprache, die lange Zeit in literarischen und wissenschaftlichen Werken angewandt wurde und noch wird. A u f Grund der Tatsache aber, daß das Gebiet, wo sie gesprochen wird, keine politische Unabhängigkeit besitzt, wurde sie von den Führern des spanischen Staates, zu dem Katalonien gehört, wie ein Dialekt, wie eine niedrigere Sprache betrachtet und behandelt. Die Folge dieses Zustandes war eine ungewöhnliche Entwicklung der philologischen (und historischen) Studien: Das Bewußtsein der Ungerechtigkeit, die man den Katalanen zufügte, vergrößerte ihre Liebe und ihr Interesse für all das, was spezifisch für ihren nationalen Charakter ist. So entstand ein wahrer politischer und kultureller Regionalismus, der, was unser Fach betrifft, zu den bemerkenswertesten Ergebnissen führte. Es kann gesagt werden, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt im Verhältnis zur Größe und Zahl der Einwohner kein romanisches Gebiet gab, in dem in sprachwissenschaftlicher Hinsicht intensiver als in Katalonien gearbeitet wurde. Und wiederum darf die Feststellung nicht überraschen, daß von den verschiedenen Zweigen der Sprachwissenschaft gerade die Dialektologie mit Leidenschaft gepflegt wurde und noch wird. Das Publikationsorgan dieser Bewegung war lange Zeit Butlleti de 1

I n diesem Gesichtspunkt nähert er sich E . GAMILLSCHEG. Dieser verteidigt in seiner Broschüre Die Sprachgeographie . . ., S. lOff., u. a. die Lautgesetze und verschießt Pfeile auf deren anonyme Gegner. Dennoch muß anerkannt werden, daß GAMILLSCHEG klar das ausdrückt, was er denkt, und bei dem hier zur Erörterung stehenden Problem bringt er eine wissenswerte Präzisierung: Die Lautgesetze sind gültig für Reihenerscheinungen, d. h. für eine Gruppe v o n Wörtern oder Formen, die aus verschiedenen Gründen zusammengehen. Die isolierten Elemente, die aus der Reihe heraustraten oder noch nicht in sie eintreten konnten, entgingen dem E i n f l u ß der Lautgesetze, da sie der W i r k u n g anderer Ursachen der Sprachveränderung unterlagen, besonders der Volksetymologie.

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Kapitel III. Sprachgeographie

dialectologia catalana, begründet im Jahre 1 9 1 3 und herausgegeben von A . G B I E B A , M . D E MONTOLIU und P . B A R N I L S . Alle drei hatten ihr Fachstudium an fremden Universitäten durchgeführt, und zwar in Deutschland und in der Schweiz.

Antoni Griera Der aktivste von allen auf dem hier behandelten Gebiet ist A. GHIERA. Bei seiner Mundartenforschung beschäftigt er sich, wie auch andere Katalanen, in erster Linie mit der Frage der Dialektgrenzen. 1 Dabei ist der Einfluß von GATTCHAT, besonders aber der von M O B F ersichtlich, denn G B I E B A versucht, die Dialektbildung mit Hilfe der alten kirchlichen und politischen Einteilungen zu erklären. Ferner behandelt er dieses Problem auch vom Gesichtspunkt des gesamten katalanischen Sprachgebietes aus : wie sich das Katalanische gebildet hat, wodurch es charakterisiert wird und welchen Platz es in der Romania einnimmt. Die Diskussion wurde, wie es oftmals in solchen Fällen vorkommt, durch eine Frage mit politischem Hintergrund veranlaßt. E s ist bekannt, daß die politische Führung und gewisse Intellektuelle in Spanien in der katalanischen Sprache keine selbständige Sprache sehen wollen, die sich von den anderen romanischen Sprachen der Iberischen Halbinsel abhebt. Um das Gegenteil zu beweisen, schrieb G B I E B A den Aufsatz Afro-romànic o ibero-romànic? (in: BDC X [1922], S. 34ff.), wo er die Meinung vertritt, daß die romanischen Sprachen in zwei Gruppen eingeteilt werden müssen. Zur ersten Gruppe gehörten das Spanische, das Portugiesische, das Süditalienische und das Rumänische, die durch einen mächtigen afrikanischen Einfluß (im weiten Sinne des Wortes, d. h. durch arabischen, berberischen, türkischen usw.) charakterisiert würden, während bei der anderen Gruppe, zu der die übrigen romanischen 1

A. GBIEBA, La frontera catalano-aragonesa. Estudi geogràfico-lingûistic, Barcelona 1914 (vgl. die Rezension von R. MENÉNDEZ PJDAL in R F E III (1916), S. 73ff., der sich gegen die Versuche Grieras wendet, in exklusiver Weise Sprachgrenzen mit Hilfe des auf der Grundlage eines Questionnaire gesammelten Materials festzulegen. MENÉNDEZ PIDAL bekämpft die Ansicht, wonach die katalanisch-aragonesische Grenze von der Ausdehnung bedingt gewesen wäre, die zu Beginn des 11. Jahrhunderts das Bistum von Roda und der Verwaltungsbezirk von Ribagorza gehabt hatten); La frontera del català occidental in: BDC VI (1918), S. 17ff., und VII (1919), S. 69ff.; El català oriental, ebenda VIII (1920), S. l f f . ; El català Occidental, ebenda VIII, S. 35ff., und I X (1921), S. l f f . ; El valencià, ebenda IX, S. 4fT. ; El rossellonès, ebenda I X , S. 33ff. ; Études de géographie linguistique. Première série in: AORLL I (1932), S. 73; P. BARNILS, Die Mundart von Alacant, Barcelona 1913, und Dialectes catalans in: BDC VII (1919), S. l f f . — M. DE MONTOLIU veröffentlichte u. a. La geografia lingüistica in der Zeitschrift Estudio I (1912), S. 24ff., und II (1913), S. 76ff. Der erste Teil resümiert die Ansichten von MOBF, GAUCHAT und JUD; der andere enthält eine Synthese der Theorien GILLIÉBONS und zeigt mit Hilfe des ALF, was die Ausbreitung der Wörter und die Homonymie bedeuten. Vgl. auch B. SCHÄDEL, Mundartliches aus Mallorca, Halle a. S. 1905; Die katalanischen Pyrenäendialekte in: RDR I (1909); La frontière entre le gascon et le catalan in: Ro X X X V I I (1911), S. 140ff.

Antoni Griera

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Sprachen gehörten, dieser Einfluß nicht beobachtet werden könnte. Das Katalanische stehe somit neben dem Französischen, Provenzalischen usw., es sei mit anderen Worten iberoromanisch, nicht afroromanisch, wie es das Spanische, Portugiesische u. a. seien.1 Die Diskussion über die Stellung der katalanischen Sprache wurde wieder aufgenommen, als das Buch von MEYEB-LÜBKE Das Katalanische, Heidelberg 1925, erschien. GEIEEA widmete diesem Buch eine Rezension (in der Form einer Studie) von ungefähr 60 Seiten (s. ZRPh XLV [1925J, S. 198ff.), die betitelt ist CastellàGatalà-Provençal. Observations sobre el llïbre de W. Meyer-Lübke, Das Katalanische. Entgegen der Ansicht in seiner Einfuhrung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft, 3. Auflage, S. 24, wo MEYEB-LÜBKE das Katalanische unter die provenzalischen Dialekte gesetzt hatte, betrachtete er es diesmal als gesonderte Spracheinheit, die sowohl dem Spanischen als auch (mehr) dem Provenzalischen ähnele. GBIEEA betont besonders, daß die katalanische Sprache eine Sprache für sich sei, die sich sowohl zum Westen hin von den spanischen Dialekten als auch zum Norden hin von den provenzalischen unterscheide. Wer zu Fuß geht, nicht mit dem Zug fährt, so fügt der katalanische Philologe hinzu, stellt ohne Schwierigkeiten das Vorhandensein einiger genauer Sprachgrenzen zwischen Katalonien und Aragonien auf der einen Seite, zwischen Katalonien und Südwestfrankreich auf der anderen Seite fest. In diese Diskussion griff auch AMADO ALONSO ein mit der Studie La subagrupación románica del catalán (s. R F E X I I I [1926], S. 1 ff. und S. 225£f.). Im ersten Teil bekämpft er MEYEB-LÜBKE, indem er ihm vorwirft, daß er die Annäherungen zwischen dem Katalanischen und dem Provenzalischen übertreibe, im zweiten Teil aber polemisiert er gegen GBIEBA, der das Katalanische zur „iberoromanischen" Gruppe rechne, das Spanische aber zur , ,afroromanisohen" ? 1

3

Diese Studie G R I E R A S wurde rezensiert von W . v. W A R T B U R G in ARo VIII (1924), S. 487 ff. ; J . J U D in Ro LI (1925), S. 291ff„ und W. M E Y E B - L Ü B K E in ZRPh X LVI (1926), S. 116ff. Alle bekämpfen mehr oder weniger die Ansichten G R I E R A S , indem sie ihm vorwerfen, daß er sich nur auf lexikalische Elemente stütze, die im vorliegenden Fall nicht entscheidend sein können (weil der Wortschatz bekanntlich in ständiger Bewegung ist und den Einflüssen von außen unterliegt), daß er keine Unterscheidung treffe zwischen den alten und den relativ neuen Wörtern, daß er nicht auch die Dinge betrachte, die die entsprechenden Wörter bezeichnen usw. M E Y E B - L Ü B K E antwortete (loc. cit., S. 125ff.) auch auf die Kritik, die G R I E R A an seinem Buch Das Katalanische geübt hatte. Vgl. die Rezension G R I E R A S in RLiR V (1929), S. 256ff., und in ZRPh L (1930), S. 246ff. A M A D O A L O N S O vertritt den Gesichtspunkt seines Lehrers R. M E N É N D E Z P I D A L , der (s. u. a. Discursos leídos ante la Real Academia Española en la recepción pública del Excelentísimo Señor Don Francesco Codera, Madrid 1910, S. 73ff.) davon überzeugt ist, daß die katalanische Sprache nicht von den anderen Sprachen der Iberischen Halbinsel getrennt werden darf. In bezug auf die Spracheinteilung dieser ehemaligen römischen Provinzen s. H A R R I M E I E R , Beiträge zur sprachlichen Gliederung der Pyrenäenhalbinsel und ihrer historischen Begründung, Hamburg 1930; und K. B A L D I N G E R , Die Herausbildung der Sprachräume auf der Pyrenäenhalbinsel, Berlin 1958.

274

Kapitel III. Sprachgeographie

Damit eng verbundene Fragen behandelt G R I E R A auch in RLiR V ( 1 9 2 9 ) , . S. 192ff., unter dem Titel Sur Vorigine, des langues afro-romanes ou ibéro-romanes> Ebenso muß hier die rückschauende Chronik über die Studien der katalanischen Philologie erwähnt werden, die dieser Gelehrte in derselben Zeitschrift veröffentlicht hat, Band I ( 1 9 2 5 ) , S. 35ff. (von Interesse dabei ist vor allem das Kapitel V , Études de dialectes, S. 70ff., weil es die dialektologischen Arbeiten behandelt). G R I E R A S bedeutendstes Werk aber, das gleichfalls eng mit der eigentlichen Sprachgeographie verbunden ist, stellt der Atlas lingüistic de Catalunya dar. Mit ihm werde ich mich noch in diesem Kapitel beschäftigen. Die Italiener bewiesen im allgemeinen Zurückhaltung gegenüber der Lehre G I L L I É R O N S . Diese Feststellung könnte überraschen, wenn wir daran denken, daß in Italien durch G. I. A S C O L I die wissenschaftliche Dialektologie begründet wurde. Gerade hier, glaube ich indessen, muß die Erklärung für die Einstellung der italienischen Linguisten gesucht werden: Die Erinnerung an ihren großen Lehrer beherrscht sie auch heute noch in solchem Maße, daß sie sich einbilden, die Volksmundarten könnten nur nach den von A S C O L I begründeten Methoden studiert werden. Die berühmtesten Mundartforscher, wie C. S A L V I O N I , C. M E R L O , C. B A T T I S T I , waren oder sind Gegner der Sprachgeographie. Gelehrte aber, die Proben des Verständnisses für die Theorien G I L L I É R O N S gaben, veröffentlichten nur gelegentlich sprachgeographische Studien, indem sie sich darauf beschränkten, in anders gearteten Arbeiten die Errungenschaften dieses Zweiges mit heranzuziehen. (Die Ausnahmen in bezug auf die Atlanten sollen später noch betrachtet werden.)

Giulio Bertoni

(1878-1942)

Von Anfang an als überzeugter Anhänger GILLIISRONS erwies sich G . B E R T O N I . Er arbeitete indessen wenig auf unserem Gebiet, weil er sich für andere Probleme,, nicht allein für linguistische, sondern auch für literarhistorische, interessierte. In erster Linie verdient hier erwähnt zu werden Le denominazioni dell'imbuto nelV Italia del Nord. Ricerca di geografia linguistica con una tavola a cobri fuori testo, Bologna-Modena 1909. Der Autor stellt zunächst Betrachtungen theoretischer Art an. Hierbei wendet er sich gegen die Tendenz, die Bedeutung der Laute in den etymologischen Untersuchungen zu übertreiben, und bekämpft die „Lautgesetze", so wie sie die Junggrammatiker verstehen, indem er die Meinung vertritt, daß deren Annahme hinsichtlich der Gleichheit der Bedingungen für alle Wörter 1 , d. h., daß sie alle derselben lautlichen Behandlung unterworfen sein müßten, niemals realisiert werden kann. Die Sprachgeographie hat bewiesen, wie sich jedes Wort unter speziellen Bedingungen befindet. Auf diese theoretische Einführung folgt die eigentliche Studie. B E R T O N I hatte durch Korrespondenten die Bezeichnungen für imbuto „Trichter" in 47 Ortschaften Norditaliens gesammelt. 1

Vgl. auch das, was er in seinem Buch Italia dialettale, Milano 1916, S. 27ff., sagt-

B. A. Terracini

275

Nachdem er ihre gegenwärtige geographische Verbreitung zeigt, sucht er die Geschichte der entsprechenden Benennungen zu rekonstruieren. Diese kleine Studie rief eine für unsere Erörterung interessante Polemik hervor. C. SALVIONI sprach sich ungünstig über sie aus (in : RIL, serie II, vol.XLIV [1910], S.793-794) 1 . B E R T O N I aber antwortete unter dem Titel A proposito di geografia linguistica (in : Atti e memorie della Reale Deputazione di storia patria per le provincie modenesi, serie V, voi. VII, Modena 1911; Sonderdruck 10 Seiten), indem er die neue Lehre verteidigt und zu beweisen sucht, wie veraltet der Gesichtspunkt SALVIONIS auf dem Gebiet der Etymologie (und der Sprachwissenschaft im allgemeinen) sei. Andere sprachgeographische Arbeiten (in der Regel verbunden mit der eigentlichen Dialektologie) sind Geografia linguistica in: Fanfano di Domenica, Nr. 28, 14. Juli 1907; Denominazioni del „ramarro" (Lacerta viridis) in Italia in: Ro X L I I (1913), S. 161 ff. ; Intorno ad alcune denominazioni del „mirtillo" nei dialetti alpini in: ARo I (1917), S. 73ff.; Intorno alle denominazioni della „gerla" in alcuni dialetti alpini, ebenda, S. 153ff.; Denominazioni del „lombrico" nei dialetti italiani, ebenda, S. 411 ff.; La geografia linguistica in: La Cultura I I I (1923), S. 404ff. Wie ich bereits gesagt habe, hat B E B T O N I in seinem Buch Programma di filologia romanza come scienza idealistica auch der Sprachgeographie einen Platz gewährt. Später werden wir sehen, daß er eine Zeitlang zusammen mit M. BARTOLI und U. P E L L I S an den vorbereitenden Arbeiten für den italienischen Sprachatlas teilnahm. Außerdem wird kurz über B E R T O N I als Anhänger der Lehre GILLIÉRONS im letzten Abschnitt dieses Kapitels die Rede sein, wo ich mich mit den Neolinguisten beschäftigen werde. Da ich folglich auf die italienische Sprachgeographie zurückkommen muß, werde ich dort auch über die Tätigkeit M. BABTOLIS, des Führers der Neolinguisten und des ersten Redaktors des italienischen Sprachatlasses, berichten.

B. A. Terracini Obgleich klassischer Philologe, schrieb dieser Gelehrte einige sehr gute Arbeiten über die Sprachgeographie oder in Verbindung mit ihr, und zwar: Il parlare d'Usseglio in: AGI XVII (1910-1913), S. 198ff., 289ff. (dieser erste Teil enthält die eigentliche Untersuchung des explorierten Dialektes) ; und XVIII (1914—1922) S. 105 ff. (allgemeine Betrachtungen auf der Grundlage der im vorangehenden Band festgestellten Tatsachen); Questioni di metodo nella linguistica storica in: AeR, nuova serie, I I (1921 ; Sonderdruck von 38 Seiten) ; In morte di Jules Gilliéron in: AGI, sezione neolatina X X (1926), S. 151 ff.; Minima. Saggio di ricostruzioni di un focolare linguistico (Susa) in: ZRPh LVII (1937), S. 673 ff.2 Die erstgenannte 1 2

Vgl. auch die Rezension von J. JUD in LgrP X X X (1909), col. 294FF. Vgl. auch folgende Bücher von TERRACINI, Guida allo studio della linguistica storica, Roma 1949; Pagine e appunti di linguistica storica, Firenze 1957.

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Kapitel III. Sprachgeographie

Studie ist eine Mundartstudie, bei der man sieht, wie TERRACTNI den Spuren folgt, wobei er eigene und neue Erkenntnisse anführt, besonders was die Sprachunterschiede nach Geschlecht und Alter betrifft. In der zweiten Studie beschäftigt sich der Autor, nachdem er das Positive in der junggrammatischen Schule dargelegt hat (in der historischen Grammatik, der Etymologie und Semantik), mit den neuen Methoden, speziell mit der Sprachgeographie. Dabei vertritt er die Meinung, wonach zwischen der Sprachgeographie und den Junggrammatikern der Gegensatz nicht so tief sei, daß sie einander ausschließen; im Gegenteil, sie können sich sehr gut miteinander verbinden1, d. h., TERRACINI versucht, die einigenden Merkmale zwischen der Indogermanistik und der Lehre GrmiiRONS herauszustellen. Der dritte Aufsatz enthält eine wunderbare Zusammenfassung der Theorien und der Methode des Begründers der Sprachgeographie. In der letzten Arbeit wird mit Hilfe des pronominalen Systems die Vitalität eines Zentrums sprachlicher Neuerungen verfolgt, der Ort, wo eie auftauchten, und die Art, wie sie sich ausbreiteten. ROUSSELOTS

Mundartforschungen Im letzten Teil des vorliegenden Kapitels sprach ich über einige Arbeiten der romanischen Dialektologie (H. MORF, L. GATJCHAT U. a.), als ob sie zur Sprachgeographie gehören würden. Ich habe sie zusammen mit den Studien erörtert, die GILLIIDRON eröffnete und die seine direkten Schüler fortgesetzt haben, ohne irgendwelche Unterscheidungen zwischen ihnen zu treffen. Dieser Gesichtspunkt ist genügend gerechtfertigt, ja, er ergibt sich oftmals als unvermeidlich. Habe ich doch festgestellt, daß die eigentliche Dialektologie wie auch die Sprachgeographie denselben Forschungsgegenstand haben: die Volksmundarten. Außerdem unterscheiden sich die Methode des Sammeins und die Darlegung des sprachlichen Materials seit einiger Zeit auch nicht wesentlich von einer Disziplin zur anderen. Wie die Sprachgeographie einige Dinge von der Dialektologie lernte, so entlehnte diese wieder von der Sprachgeographie zahlreiche Verfahren (z. B. die Materialsammlung durch Enquete an Ort und Stelle, die Anfertigung von Karten — zwar nicht im Hinblick auf die Bildung von Sprachatlanten, sondern nur, um die territoriale Ausdehnung bestimmter Spracherscbeinungen zu zeigen, was sich indessen nicht zu sehr von der kartographischen Darbietung der Wörter unterscheidet, u. a.). Ebenso nähern sie sich dadurch, indem sie beide oft auf die Methode „Wörter und Sachen" zurückgreifen, und zwar sobald die Notwendigkeit der Dokumentation dies erforderlich macht. FRITZ KRÜGER, einer der berufensten Vertreter der Methode „Wörter und Sachen", verlangte, daß die Sprachgeographie und die 1

Ich habe bereits im Verlauf des vorliegenden Kapitels darauf hingewiesen, daß diese Ansicht genügend verbreitet ist, vor allem unter den Indogermanisten. Aber es gibt auch Romanisten (vgl. das, was weiter oben über G A M I L L S C H E G und v. E T T M A Y E R gesagt wurde), die, in der Schule der Junggrammatiker aufgewachsen, einen diesem ähnlichen Standpunkt vertreten.

Mundartforschungen

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Sachgeographie noch enger als bisher zusammenarbeiten sollten, damit jede Disziplin Fortschritte erzielen kann durch die Hilfe, die sie von der anderen erhält. 1 In gleicher Weise werde auch ich im vorliegenden Abschnitt vorgehen, indem ich eine Anzahl von Arbeiten aneinanderreihe, die zu dem erörterten Bereich gehören, also zur Dialektologie und zur Sprachgeographie. Ich werde sie nicht einschätzen, denn das einzige Ziel, das ich dabei verfolge, ist zu zeigen, daß die Tätigkeit in dieser Richtung viel umfassender ist, als man es nach den bis jetzt erörterten Werken ahnen könnte. Zugleich sei auch darauf hingewiesen, daß ich überhaupt nicht daran denke, eine auch nur annähernd vollständige Bibliographie dieser Studien zu geben. Ich habe zahlreiche Werke unberücksichtigt gelassen, mit und wohl häufiger ohne Wissen, von denen sicherlich einige bedeutender sind als die hier genannten. Doch ich hatte nicht die Absicht, in diesem Kapitel eine Bibliographie der romanischen Dialektologie zu bieten. Die Mängel, die von vornherein im Plan des vorliegenden Buches eintraten, scheinen mir um so weniger schwerwiegend, da sich der Leser durch das bisher Gesagte und durch das, was noch folgen wird, über alle bedeutenden Fragen orientieren kann, die mit dem Studium der romanischen Volksmundarten in Verbindung stehen. Noch ein weiterer vorläufiger Hinweis! Einige der bereits oben erwähnten Werke tragen einen fast gleichen Titel, den wir auch bei den vielen der folgenden finden werden. Dieser Titel lautet ungefähr so: „Die Bezeichnungen für den oder jenen Begriff in den romanischen Mundarten dieses oder jenes Gebietes". Schon GILLIJSRON beschäftigte sich mit den Wörtern, die in der Volkssprache Frankreichs für „sägen", „Biene" usw. gebraucht werden, und sein Beispiel fand zahlreiche Nachahmer. Solche Arbeiten ergaben sich durch den Charakter der Sprachatlanten von selbst. Eine Karte enthält je nach den Umständen doch nichts anderes als mehr oder weniger mundartliche Namen für einen Gegenstand oder einen Begriff. Studiert man eine Karte, studiert man in der Tat die Terminologie, die sich auf irgendeinen Gegenstand bezieht. Solche Untersuchungen werden onomasiologische Untersuchungen genannt. Der entsprechende Zweig der Sprachwissenschaft heißt Onomasiologie. Glauben wir indessen nicht, daß die Sprachgeographie diese Art von Arbeiten veranlaßt hätte. Sie hat nur zu deren Vermehrung durch die Sprachatlanten, dieses bequeme Mittel, das die Sprachgeographie den Fachgelehrten zur Verfügung stellt, beigetragen. Die Anfänge der Onomasiologie liegen etwas weiter zurück als die der Sprachgeographie, sie stehen aber auch mit der Entwicklung der Dialektstudien in Verbindung. 2 Die Werke, die die 1

2

Reiche Informationen, begleitet von einer entsprechenden Bibliographie in bezug auf das Studium der Volksmundarten, finden wir bei S E V E R P O P , La dialectologie, 2 Bände, Louvain 1950. Man vergleiche auch ähnliche Werke, die der deutschen Mundartforschung gewidmet sind: A D O L F B A C H , Deutsche Mundartforschung, ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben, Heidelberg 1934 (2. Auflage 1950),

und B. M. JKiipMyHCKHä, HeMei^an HHajieKTOJionifl, MocKBa-JIeHHHrpaß 1956.

J. JXTD (ARo I X [1925], S. 105) legt das Ziel der Onomasiologie wie folgt dar: Das Wort als Ausdruck einiger bestimmter Begriffsgruppen innerhalb einer größeren oder kleineren Sprachgemeinschaft zu erforschen, um irgendwie ein Inventar der Mittel zu bilden, deren sich die Sprache bedient, um einen bestimmten Begriff auszudrücken.

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Kapitel I I I . Sprachgeographie

Grundlage für diese Disziplin gelegt haben, sind in der Reihenfolge des Alters, und man könnte sogar sagen der Wichtigkeit, folgende: E . T A P P O L E T , Die romanischen Verwandtschaftsnamen, Straßburg 1 8 9 5 1 ; A. Z A U N E E , Die romanischen Namen der Eine neuere umfassende Arbeit ist Aufgaben und Methoden der onomasiologischen Forschung. Eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung, Bern 1952, von BRUNO QUADRI. Nach L. GAUCHAT (VRO I [1936], S. V) finden sich die Keime der Onomasiologie in der Schrift Romanische Wortschöpfung, Bonn 1875, von FR. DIEZ. Den Ausdruck „Onomasiologie" selbst für derartige Forschungen prägte A. ZAUNER, R F X I V (1903), S. 3 3 9 - 3 4 1 (s. V R o V [1940], S. 332, F u ß n o t e 2). Große B e d e u t u n g

1

für die onomasiologische Betrachtungsweise besitzt der Aufsatz von K . JABERQ Sprache als Äußerung und Sprache als Mitteilung, weil hier prinzipielle Fragen aufgeworfen und geklärt werden. JABERG wendet sich gegen allzu schnelle psychologische Schlüsse bei sprachlichen Erklärungen, liegt doch dabei oftmals ein Gesichtspunkt vor, der nur auf das Individuelle ausgerichtet ist. Das Entscheidende für die Sprachwissenschaft ist aber der Mitteilungscharakter der Sprache. Daher folgert K . JABERG: „Die Onomasiologie liefert nicht psychologisches Material zur Wissenschaft der Begriffe, sondern sie liefert Material zu der Frage, wie die Sprache es fertigbringt, Begriffe zu bezeichnen, zu der Frage, welche Begriffe sie bezeichnet, und warum sie an der einmal geschaffenen Bezeichnung nicht immer festhält. Und damit muß sie sich bescheiden, wenn sie eine sprachwissenschaftliche Disziplin bleiben will" (S. 93). Besonders geht JABERG in diesem Zusammenhang den Ursachen des Wortreichtums bzw. der Wortarmut nach und zeigt, wie TAPPOLETS psychologische Erklärungen für bestimmte Haustiernamen völlig abwegig sind. Nicht die Wertschätzung einzelner Tiere durch die Bauern oder das Verhältnis der Landbevölkerung zu diesen Tieren entscheidet darüber, daß für die Ziege oder den Stier z. B. eine oder mehrere Bezeichnungen existieren, sondern die sprachlichen Gegebenheiten der entsprechenden Mundart. Nicht genug kann daher folgende Feststellung JABERGS wiederholt werden: „Die Bezeichnungsgeschichte hängt nicht nur von den Eigenschaften der bezeichneten Begriffe, sondern auch von den Bedürfnissen und Bedingungen des sprachlichen Verkehrs ab." (S. 208) — Die Onomasiologie ist heute gegenüber den älteren Studien von ZAUNER, TAPPOLET U. a. wesentlich verfeinert und bereichert worden. Sie ging immer engere Verbindungen mit den Nachbardisziplinen ein, ohne ihren streng sprachwissenschaftlichen Charakter zu verlieren. Zu bedauern ist nur, daß die onomasiologischen Methoden in der Romanistik noch nicht genügend bei der Untersuchung geistiger Begriffe angewandt worden sind. Auch die theoretischen Grundlagen dürften hierbei eine Vertiefung erfahren. QUADRI definiert die Onomasiologie wie folgt: „Die Onomasiologie erscheint auf Grund des heutigen Forschungsstandes als jene sprachwissenschaftliche Disziplin, welche — ausgehend von einer mehr oder weniger deutlich abgegrenzten, im Bewußtsein einer Sprachgemeinschaft lebendigen Einzelvorstellung oder von einer Gruppe verwandter Begriffe — das Ziel verfolgt, deren verschiedenartige lexikologische, stilistische, metaphorische und allfällige extragrammatikalische Ausdrucksmöglichkeiten in Schriftsprache und Mundart für ein bestimmtes Sprachgebiet zu sammeln und unter eingehender Berücksichtigung aller begrifflichen, sachgeschichtlichen, geographischen und psychologischen Faktoren diachronisch und synchronisch zu deuten. Sie soll damit einen Beitrag leisten an die Lösung des allgemeinen Problems von Sprachtradition und Sprachwandel." (op. cit., S. 175/76) Die wissenschaftliche Tätigkeit dieses Linguisten, der Professor an der Universität Basel war, verdient, wenn auch nur für kurze Zeit, unsere Aufmerksamkeit, besonders weil er immer Verständnis für neue Strömungen in unserem Fach zeigte. So verlangt er in dem Aufsatz Phonetik und Semantik in der etymologi-

Mundartforschungen

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Körperteile in RF: XIV (1903), S . 3 3 9 - 5 3 0 ; C. M E R L O , I nomi romanzi delle stagioni e dei mesi, Torino 1904. Wie es uns die Titel selbst sagen, werden in diesen Arbeiten die Bezeichnungen für die Verwandtschaftsbeziehungen, die Körperteile, die Jahreszeiten und die Monate' in allen romanischen Sprachen und Dialekten betrachtet. In dem Maße, in dem das sprachliche Material der Volksmundarten in seinem Reichtum zunimmt, besonders durch die Atlanten und durch andere Sammlungen, wird für die Forschungen dieser Art die Fläche des erforschten Bereiches eingeschränkt, um in der Tiefe zu gewinnen. So geschieht es, daß von allen folgenden Arbeiten fast keine mehr die gesamte Romania umfaßt. Ich zähle sie in chronologischer Reihenfolge und gemäß den oben gegebenen Hinweisen auf, ohne die eigentlich sprachgeographischen Arbeiten von den anderen zu unterscheiden : K. K E M N A , Der Begriff „Schiff" im Französischen, Marburg 1901 ; GrADE, Ursprung und Bedeutung der üblicheren Handwerkzeugnamen im Französischen, Kiel 1902; H. D A V I D S E N , Die Benennungen des Hauses und seiner Teile im Französischen, Kiel 1903; J. J E A N J A Q U E T , Le fléau et ses parties dans la Suisse romande in: BGPSR I V (1905), S.33ff; W. O. STBENG, Haus und Hof im Französischen mit besonderer Berücksichtigung der Mundarten, Helsingfors 1907 ; E . T A P P O L E T , Les termes de fenaison, le regain et la pâture d'automne in : BGPSR VIII (1909), S. 26ff., und X (1911), S. 17ff.; J. CALLAIS, Die Mundart von Hattigny und die Mundart von Ommeray, nebst lautgeographischer Darstellung der Dialektgrenze zwischen Vosgien und Saunois (Lothringen), Metz 1909; sehen F o r s c h u n g i n : A S N S C X V (1905), S. 101 ff., d a ß d a s s e m a n t i s c h e E l e m e n t d a n n in d e m gleichen M a ß e wie d a s lautliche zu b e t r a c h t e n sei, w e n n wir die E t y m o l o g i e eines W o r t e s finden wollen. E r s u c h t folglich die L e h r e SCHUCHABDTS m i t der v o n A. THOMAS ZU v e r b i n d e n . TAPPOLET interessierte sich s e h r s t a r k f ü r die B e d e u t u n g der W ö r t e r . D a s bewies er selbst d a d u r c h , d a ß er m i t L e i d e n s c h a f t die Onomasiologie pflegte. E b e n s o n ä h e r t er sich m o d e r n e n L i n g u i s t e n d u r c h die F e s t s t e l l u n g , w o n a c h f ü r etymologische F o r s c h u n g e n , g e r a d e wie bei j e d e r K u n s t , n i c h t n u r K e n n t n i s s e , s o n d e r n a u c h Scharfsinn u n d E i n f ü h l u n g s g a b e n ö t i g sind. E i n a n d e r e r A u f s a t z , Die U r s a c h e n des W o r t r e i c h t u m s b e i d e n H a u s t i e r n a m e n der f r a n z ö s i s c h e n Schweiz i n : A S N S C X X X I (1913), S. 81£f., zeigt, d a ß TAPPOLET die B e d e u t u n g des a f f è k t i v e n E l e m e n t s im L e b e n der S p r a c h e hoch e i n s c h ä t z t . D e r A f f e k t , d a s I n t e r e s s e , die E i n d r ü c k e , die B e d ü r f n i s s e u . a . spielen i m seelischen L e b e n des Menschen u n d infolgedessen in der S p r a c h e eine a u ß e r o r d e n t l i c h e Rolle u n d h a b e n n i c h t s m i t der Logik, d e m Willen usw. zu t u n , die in d e n A u g e n so vieler L i n g u i s t e n e n t s c h e i d e n d e E l e m e n t e f ü r die E n t w i c k l u n g der m e n s c h l i c h e n S p r a c h e schienen oder noch scheinen. Ü b e r die wissenschaftliche T ä t i g k e i t v o n TAPPOLET S. J . J U D in V R o (1940), S. 332ff., u n d die B r o s c h ü r e , d e r e n Verfasser n i c h t g e n a n n t wird, Z u r E r i n n e r u n g a n H e r r n P r o f . E r n s t TAPPOLET, Basel 1939. M a n vgl. a u c h die F e s t s c h r i f t , die i h m anläßlich seines 60. G e b u r t s t a g e s g e w i d m e t w u r d e : F e s t s c h r i f t f ü r E r n s t T a p p o l e t , Basel 1935. 19 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel III. Sprachgeographie

Das Patois von Val d'Illiez (Unterwallis), 1911 (Sonderdruck aus RDR I I - I I I [1910-11]); J O S E P H J O B D A N , Die Bezeichnungen der Angriffswaffen im Französischen, Bonn 1911; C . M E B L O , Die romanischen Bezeichnungen des Faschings in: W S I I I ( 1 9 1 1 — 1 2 )

F B . FANKHAUSEB,

S. 88ff. ;

K. G Ö H B I , Die Ausdrücke für Blitz und Donner im Galloromanischen. Eine onomasiologische Studie in: RDR IV (1912), S. 45ff. und 140ff.; K. S A L O W , Sprachgeographische Untersuchungen über den östlichen Teil des katalanisch-languedokischen Grenzgebietes, Hamburg 1912; A . C H E . T H O R N , Quelques dénominations du „cordonnier" en français. Étude de géographie linguistique in: A S N S C X X I X (1912), S . 81 ff.; K . B A U E B , Gebäckbezeichnungen im Galloromanischen, Darmstadt 1 9 1 3 ; G. B E B T O N I , Denominazioni del „ramarro" (Lacerta viridis) in Italia in: Ro X L I I (1913), S. 161 ff.; F B . F L E I S C H E B , Studien zur Sprachgeographie der Gascogne, Halle a. d. S. 1 9 1 3 ; W. K A U F M A N N , Die galloromanischen Bezeichnungen für den Begriff „Wald". Wortgeschichtliche Studie auf Grund der Karten „forêt" und „bois" des Atlas linguistique de la France, Zürich 1913; F . K B Ü G E B , Sprachgeographische Untersuchungen in Languedoc und Roussillon, Hamburg 1913 (Sonderdruck aus R D R I I I - V [1911-13]); A. C H E . T H O B N , S a r t r e - T a i l l e u r . Étude de lexicologie et de géographie linguistique, Lund-Leipzig 1913; H. U B T E L , Prolegomena zu einer Studie über die romanischen Krankheitsnamen in: ASNS CXXX (1913), S. 81 ff.; C . V O L P A T I , Nomi romanzi del pianeta Venere in: RDR V (1913), S . 312ff ; P. G . G O I D À N I C H , Denominazioni del pane e di dolci caserecci in Italia, Bologna 1914 (in Memorie della R. Accademia delle scienze dell'Istituto di Bologna, classe di scienze morali, serie I, tomo V i l i , S. 23 ff.); A. G B I E E A , Eis noms dels vents en català in: BDC I I (1914), S. 74ff. ; F. K B Ü G E B , Studien zur Lautgeschichte westspanischer Mundarten auf Grund von Untersuchungen an Ort und Stelle, Hamburg 1914 (mit zwei Karten) ; S . M E B I A N , Die französischen Namen des Regenbogens, Halle a. S . 1 9 1 4 ; C. M E B L O , I nomi romanzi della Candelara (la feste della purificazione di Maria Vergine), Perugia 1915; H. R O T Z L E B , Die Benennungen der Milchstraße im Französischen in : R F X X X I I I (1915), S. 794ff. ; W. 0 . S T B E N G , Himmel und Wetter in Volksglaube und Sprache in Frankreich, Helsingfors 1915; 0 . S C H E O E F L , Die Ausdrücke für den Mohn im Galloromanischen, Graz 1915; P . H E B Z O G , Die Bezeichnungen der täglichen Mahlzeiten in den romanischen Sprachen und Dialekten, Zürich 1916; MABGOT H E N S C I I E L , Zur Sprachgeographie Südwestgalliens, Braunschweig-Berlin 1917;

Mundartforschungen

281

C. M E R L O , I nomi romanzi del dì feriale con una appendice sui nomi del dì festivo, Pisa 1918; G . B O T T I G L I O N I , L'ape e l'alveare nelle lingue romanze, Pisa 1 9 1 9 ; J . LAZZABI, I nomi di alcuni fenomeni atmosferici nei dialetti dell'alta Italia geografica, Pisa 1919; I . P A U L I , „ E n f a n t " , „garçon", „fille" dans les langues romanes, étudiés particulièrement dans les dialectes galloromans et italiens. Essai de lexicologie comparée, Lund 1919; W . GOTTSCHALK, Lat. a u d i r e im Französischen, Gießen 1 9 2 1 ; W . H E B B I S E N , Die Bezeichnungen f ü r Geschirr, Eimer, Krug im Französischen, Oberitalienischen und Rätoromanischen mit besonderer Berücksichtigung des Alpengebietes, Bern 1921 ; W. O C H S , Die Bezeichnungen der „Wilden Rose" im Galloromanischen, Gießen 1 9 2 1 ; H. S C H U B T E E , Die Ausdrücke f ü r den „Löwenzahn" im Galloromanischen, Halle a. S. 1921 ; G. S T E P H A N , Die Bezeichnungen der „Weide" im Galloromanischen, Gießen 1 9 2 1 ; F . U S I N G E R , Die französischen Bezeichnungen des Modehelden im 1 8 . und 19. Jahrhundert, Gießen 1921 ; A L I C E B R Ü G G E R , Les noms du roitelet en France, Zürich 1922 ; G. W A L T E R , Die Bezeichnungen der Buche im Galloromanischen, Gießen 1 9 2 2 ; E . W E I C K , Lat. cadere im Französischen, Gießen 1 9 2 2 ; V. B E R T O L D I , Un ribelle nel regno dei fiori. I nomi romanzi del Colchicum autumnale L. attraverso il tempo e lo spazio, Genève 1923 ; H. S C H M I D T , Die Bezeichnungen für Zaun und Hag in den romanischen Sprachen und Mundarten, speziell in der romanischen Schweiz. I . T e i l : Westschweiz, Diss. Zürich, Heidelberg 1923; E . T A P P O L E T , Les noms gallo-romans du moyeu in : Ro X L I X ( 1 9 2 3 ) , S . 4 8 1 ff. ; P. B E N O I T , Die Bezeichnungen f ü r Feuerbock und Feuerkette im Französischen, Italienischen und Rätoromanischen mit besonderer Berücksichtigung des Alpengebietes in : Z R P h X L I V (1924), S. 385ff.; V . B E R T O L D I , Genealogia dei nomi designanti il mirtillo in: I t D I ( 1 9 2 4 — 2 5 ) , S . 9 1 ff.; F R . A E P P L I , Die wichtigsten Ausdrücke f ü r das Tanzen in den romanischen Sprachen, Halle a. S. 1925; F R . H O B I , Die Benennungen von Sichel und Sense in den Mundarten der romanischen Schweiz, Heidelberg 1926; E. H O C H U L I , Einige Bezeichnungen f ü r den Begriff Straße, Weg und Kreuzweg im Romanischen, Aarau 1926; C . M E R L O , I nomi della Pentecoste nei dialetti italiani in: I t D I I ( 1 9 2 6 ) , S . 2 3 8 f f . ; N . MACCARRONE, Le denominazioni del „tacchino" e della „tacchina" nelle lingue romanze in: AGI X X (1926), sezione neolatina, S. l f f . ; G. B O T T I G L I O N I , I nomi del muflone in: AFLC I (1927); C . M E R L O , S p e g n e r e nei dialetti della Svizzera italiana i n : I t D I I I (1927), S. 298ff.; 19»

282

Kapitel III. Sprachgeographie

Ç T . PAÇCA, Terminologia calului: Parlile corpului in: Dacor V(1927-28), S.272ff.; S. POP, Cìteva capitole din terminologia calului, ebenda, S. 51FF.; K. G E R N A N D , Die Bezeichnungen des Sarges im Galloromanischen, Gießen 1928; M. S A N D M A N N , Die Bezeichnungen der Meise in den romanischen Sprachen, Bonn 1929; M A R I A M A R G A R E T E S T A N G I E R , Die Bezeichnungen des Schweines im Galloromanischen, Bonn 1929; H. RLÄUI, Die Bezeichnungen für „Nebel" im Galloromanischen, Zürich 1930; K . M J E T H L I C H , Bezeichnungen von Getreide- und Heuhaufen im Galloromanischen, Aarau 1930; G . F A H R H O L Z , Wohnen und Wirtschaft im Bergland der oberen Ariège. Sachund Wortkundliches aus den Pyrenäen, Hamburg 1931 ; L. F E I L E R , Die Bezeichnungen für den Waschtrog im Galloromanischen in : R F XLV (1931), S. 257ff.; D O R A A E B I , Der Maikäfer, seine französischen Namen und seine Bedeutung im Volksglauben und Kinderspruch, Zürich 1932 ; S T . B I N D E R , „Kind", „Knabe", „Mädchen" im Dakorumänischen. Ein Beitrag zur Onomasiologie. Teil I. Die nördlichen Dialekte, Abschnitt I : „Kind", ClujBucureçti 1932; C H . B R U N E A U , Les noms de la pomme de terre en Belgique in: Études de dialectologie dédiées à la mémoire de Charles Grandgagnage (publiées par la Société de littérature wallonne) 1932; B E R T H A B O S S H A R T , Die Benennungen der Omlette auf französischem Sprachgebiet, Zürich 1932; F . D I C K , Bezeichnungen für Saiten- und Schlaginstrumente in der altfranzösischen Literatur, Gießen 1932; H. K A E S E R , Die Kastanienkultur und ihre Terminologie in Oberitalien und in der Südschweiz, Zürich 1932; H. K A H A N E , Bezeichnungen der Kinnbacke im Galloromanischen, Weimar 1932; A . C H R . T H O R N , Les désignations françaises du Médecin et de ses concurrents aujourd'hui et autrefois, in: ZFSL LV(1932), S. 129ff. und 257ff.; CARLO V O L P A T I , I nomi romanzi degli astri Sirio, Orione, le Pleiadi e le Jadi in : ZRPh L I I (1932), S. 152ff. ; M. L. W A G N E R , Die Bezeichnungen für „Fuchs" im Sardischen in : ARo XV (1932), S. 501 ff.; R . H A L L I G , Die Benennungen der Bachstelze in den romanischen Sprachen und Mundarten, Leipzig 1933; R. S C H L A E P F E R , Die Ausdrucksformen für „man" im Italienischen, Zürich 1933; C . V O L P A T I , Nomi romanzi della via lattea in: RLiR I X ( 1 9 3 3 ) , S . lff.; C. V O L P A T I , Nomi romanzi delle Orse, Boote, Cigno e altre costellazioni in : ZRPh L U I (1933), S. 449ff. ; M. L. W A G N E R , Romanische und baskische Benennungen des Wirbelwindes und der Windrose nach Geistern in: ARo XVII (1933), S. 353ff.;

Mundartforschungen

283

S . SGANZINI, Le denominazioni del „ginepro" e del „mirtillo" nella Svizzera

italiana in: I t D I X - X (1933-34); W . ALBRECHT, Bezeichnungen von Kraftwagen und Kraftwagenbestandteilen im

Französischen, Hamburg 1934; M. ANKERSMIT, Die Namen des Leuchtkäfers im Italienischen, Zürich 1934 ;

Die Verba des „Essens", „Schickens", „Kaufens" und „Findens" in ihrer Geschichte vom Latein bis in die romanischen Sprachen, Leipzig 1934; F. CRAMER, Einige galloromanische Bezeichnungen für „das Nesthäkchen" i n : Z R P h LIV (1934), S. 221 ff.; F . CRAMER, Frz. I n s t i t u t e u r und seine Konkurrenzwörter in : Z R P h LIV (1934), CURT B E Y E R ,

S . 729FF. ; F . CRAMER, Der heilige Johannes im Spiegel der französischen Pflanzen- und Tier-

bezeichnungen, Gießen 1934; E . EGGENSCHWILER, Die Namen der Fledermaus auf dem französischen und ita-

lienischen Sprachgebiet, Leipzig 1934; HENGSTLER, Geistlicher, Mönch und Nonne im Spiegel der volkstümlichen romanischen Namengebung, Tübingen 1934 ; E. KLETT, Die romanischen Eidechsennamen unter besonderer Berücksichtigung von Frankreich und Italien, Tübingen 1934; ILSE S A B I N , Die Bezeichnungen f ü r Streu im Galloromanischen, Berlin 1 9 3 4 ; ALFONS T H . SCHMITT, La terminologie pastorale dans les Pyrénées Centrales, Paris 1934; S U S A N N E ASCHER, Die Bezeichnungen des Kürbis im Galloromanischen, Bottrop i. W. 1935; P. H . BÖHRINGER, Das Wiesel, seine italienischen und rätischen Namen und seine Bedeutung im Volksglauben, Zürich 1935; W. M E Y E R - L Ü B K E , Die Ausdrücke f ü r „Moos" in Italien und Frankreich in: ZFSL L V I I I (1935), S. 28ff.; E L S B E T SCHOTT, Das Wiesel in Sprache und Volksglauben der Romanen, Tübingen 1935; M A X STEFFEN, Die Ausdrücke f ü r „Regen" und „Schnee" im Französischen, Rätoromanischen und Italienischen, Zürich 1935; G. ALESSIO, Le denominazioni del ghiro e dello scoiattolo in Calabria in : ARo X X (1936), S. 141 ff. ; F. DORSCHNER, Das Brot und seine Herstellung in Graubünden und Tessin, ZürichLeipzig 1936; ANNELIESE CRONENBERG, Die Bezeichnung des Schlehdorns im Galloromanischen, Weimar 1937; MARGOT GRZYWACZ, „Eifersucht" in den romanischen Sprachen, Bochum 1 9 3 7 ; W. H E R I N G , Über den Zapfhahn und seine Namen in Frankreich in : Z R P h LVII (1937), S. 387ff.; K . KÖGLER, Die Bezeichnungen des Geißblattes in den romanischen Sprachen, Borna-Leipzig 1937; A.

284

Kapitel III.

Sprachgeographie

Louis REMACLE, Le parler de la Gleize i n : Mémoires de l'Académie Royale de langue et de littérature française de Belgique X I I (1937); LOTTE STEFFEN, Die Bezeichnungen des Henkels im Galloromanischen, J e n a 1 9 3 7 ; W . BRINKMANN, Bienenstock und Bienenstand in den romanischen Ländern, Hamburg 1938; OLAF DEUTSCHMANN, Untersuchungen zum volkstümlichen Ausdruck der Mengenvorstellung im Romanischen, Hamburg 1938; W. HÖRZ, Die Schnecke in Sprache und Volkstum der Romanen, BornaLeipzig 1938; A L W I N K U H N , Hundedachs und Schweinedachs in: W S ( 1 9 3 8 ) , S. 2 7 7 f f . ; W . SCHMOLKE, Transport und Transportgeräte in den französischen Zentralpyrenäen, Hamburg 1938; H . L . SPÄTH, Bezeichnungen f ü r Armut und Reichtum im Französischen, Gießen 1938; S . STURM, Die Begriffe „ S u m p f " und „ P f ü t z e " im Galloromanischen, Leipzig 1938; G. VIDOSSI, Appunti sulle denominazioni dei pani e dolci caserecci in Italia in : AGI X X X (1938), p. 69ff.; CRISTIANE B U D A H N - P E T Z E L , Die Bezeichnungen der Johannisbeere und der Stachelbeere im Galloromanischen, Weimar 1939 ; K . K N A U E R , Idee des Werdens im Sprachgebrauch der romanischen Völker in: Sprachkunde 1939, Nr. 1 - 2 ; CL. MANLY WOODARD, Words for Horse in French and Provençal, Baltimore 1 9 3 9 ; H. SCHMITZ, „Wundern" und „ S t a u n e n " im Französischen, Speyer a. Rh. 1939; A . BODMER, S p i n n e n u n d W e b e n im französischen und deutschen Wallis, Genève-Zûrich 1940; B . HASSELROT, L'abricot. Essai de monographie onomasiologique et sémantique in : SN X I I (1940) S. 45ff. u n d 226ff. ; IORGU IORDAN, Les dénominations du „crâne" d'après L'Atlas linguistique roumain (I, carte 7) i n : BL VIII (1940), S. 95ff.; W. MÖRGELI, Die Terminologie des Joches und seiner Teile. Beitrag zur Wort- und Sachkunde der deutschen und romanischen Ost- und Südschweiz sowie der Ostalpen. Paris-Zürich-Leipzig 1940; A. LISING B O Y S E N , Über den Begriff „preux" im Französischen, Langerich 1941; A. MAISSEN, Werkzeuge und Arbeitsmethoden des Holzhandwerks in romanisch Bünden, Genève-Erlenbach-Zûrich 1943; A . ZIPFEL, Die Bezeichnungen des Gartens im Galloromanischen, Borna-Leipzig 1943; K O N R A D H U B E R , Über die Histen- und Speichertypen des Zentralalpengebietes. Eine sach- und sprachgeschichtliche Untersuchung, Erlenbach-Zürich 1944; JON PULT, Die Bezeichnungen f ü r Gletscher und Lawine in den Alpen, SamedanSt. Moritz 1947; H. P . BRUPPACHER, Die Namen der Wochentage im Italienischen und Rätoromanischen, Bern 1948;

Sprachatlanten außerhalb Frankreichs

285

H. FEDEBLI, Die Bezeichnungen des Kreisels in den romanischen Sprachen, Zürich 1951 ; E . HAMBURGER, Über einige Ausdrücke der „Furche" im Galloromanischen, Zürich 1951 ; EMIL W. STÄHELI, Die Terminologie der Bauernmühle im Wallis und Savoyen. Eine Sach- und Wortstudie, Zürich 1951 ; A. THIERBACH, Untersuchungen zur Benennung der Kirchenfeste in den romanischen Sprachen, Berlin 1951; ALICE VOLLENWEIDER, Studien zu Aufbau und Geschichte der kulinarischen Terminologie des Französischen, Zürich 1951 ; R E N É CHATTON, Zur Geschichte der romanischen Verben für „sprechen", „sagen" und „reden", Bern 1953; P . F . FLÜCKIGER, Die Terminologie der Kornreinigung in den Mundarten Mittelund Süditaliens, Bern 1954; J . HUBSCHMID, Schläuche und Fässer. Wort- und sachgeschichtliche Untersuchungen, Bern 1955; FRITZ SCHALK, Somnium und verwandte Wörter in den romanischen Sprachen, Köln-Opladen 1955; ELIO GHIRLANDA, La terminologia viticola nei dialetti della Svizzera italiana, Berna 1956; PAUL SCHEUERMEIER, Bauernwerk in Italien, der italienischen und rätoromanischen Schweiz, Bern 1956; V. ARVINTE, Terminologia exploatärii lemnului çi a plutäritului, Iasi 1957 (Sond e r d r u c k a u s SCÇt V I I I [1957], n r . I, S. 1 - 1 7 5 ) .

Sprachatlanten

außerhalb

Frankreichs

Die Gunst, deren sich die Sprachgeographie in den Augen der Fachleute erfreute, geht auch noch aus anderen Äußerungen als den bisher dargelegten hervor. In erster Linie muß die große Anzahl von Sprachatlanten genannt werden, von denen einige gerade veröffentlicht werden, während andere nur geplant oder fast fertiggestellt sind. Es gibt kein romanisches Sprachgebiet, für das nicht ein Werk dieser Art vorbereitet wird. Man begann damit, das Beispiel der Romanisten auf verschiedenen anderen Gebieten zu befolgen, wie es noch aus einigen Hinweisen ersichtlich sein wird, die ich später geben werde. 1 Die Gegner der Sprachatlanten sind dadurch ziemlich alarmiert worden und finden in dieser „Epidemie" von Atlanten noch ein Argument für ihre Einstellung. Da ich bereits auf die Diskussion hingewiesen habe, die um diese Frage geführt worden ist, will ich nur noch das Folgende hinzufügen : Ich glaube, daß die Anhänger der Glossare sich auf einen 1

Auf dem in Den Haag im April 1928 abgehaltenen internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß wurde ausführlich dieses Problem erörtert. Vgl. Actes du premier Congrès international de linguistes à la Haye, Leiden 1929, S. 19ff. und S. 134ff.; und RFIC LVII (1929), S. 342ff.; und LVIII (1930), S. 27 und 32.

286

Kapitel III. Sprachgeographie

falschen Standpunkt stellen, wenn sie die Wörterbücher gegen die Atlanten verteidigen. Wir dürfen nicht fragen: Atlas oder Glossar?, um dann nach unserer persönlichen Einstellung eine einseitige Antwort zu geben, sondern wir müssen das Problem in der bejahenden Form aussprechen, indem wir diese zwei Ausdrücke durch „und" verbinden. Tatsächlich ist es notwendig, daß die lokalen Aspekte der verschiedenen Sprachen nach der alten Methode der Mundartforschung, aber auch nach der der Sprachgeographie studiert werden. Denn der Atlas schließt nicht das Glossar aus, wie dieses auch nicht jenen überflüssig macht. Beide ergänzen einander, statt daß sie sich als Konkurrenten bis zum äußersten bekämpfen, wie es die unverbesserlichen Gregner sowohl der einen als auch der anderen Forschungsmethode vertreten. Die große Anzahl von Atlanten darf die Anhänger der Glossare nicht erschrekken, weil keinesfalls die Menge der Glossare jemals übertroffen werden wird. Aber denken wir ernsthaft über dieses Problem nach: Wenn wir auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft einige Atlanten besitzen, folgt daraus, daß wir uns damit zufrieden geben müssen ? Können uns diese Werke auch über die verwandten Sprachen informieren, für die wir nur Glossare zur Verfügung haben ? Meint ein Gegner der Atlanten, daß, wenn das Mittel, die Ergebnisse einer Mundart-Enquete darzustellen, von einem Gebiet zum anderen dasselbe ist, dann auch die Probleme, die das gesammelte sprachliche Material stellt, überall gleich sein werden ? Jede Sprachgemeinschaft hat sich im Verlauf von Jahrhunderten unter mehr oder weniger spezifischen Bedingungen entwickelt und bietet deshalb zahlreiche charakteristische Züge, die sie von anderen unterscheiden lassen, selbst dann, wenn der Ausgangspunkt aller derselbe ist. Wie sehr auch in unserem Fall bestimmte Situationen von einer römischen Provinz zur anderen gleich wären, so gibt es zahlreiche unterscheidende Besonderheiten, die gerade die Individualität einer jeden Sprachgemeinschaft bilden und mit Hilfe eines Sprachatlasses besser herausgestellt werden können. Deshalb dürfen wir uns nicht gegen solch lobenswerte Bemühungen der berufenen Vertreter der Sprachwissenschaft in den verschiedenen Ländern wenden, Sprachatlanten für die entsprechenden Volksmundarten zu schaffen. Vielmehr sollten wir sie mit aller Kraft bei der Realisierung ihrer Ideen unterstützen. Denn sowohl die allgemeine Sprachwissenschaft als auch die Romanistik haben bei solchen Unternehmungen nur zu gewinnen. Und gleichzeitig soll natürlich auch mit der Veröffentlichung von Wörterbüchern, Glossaren usw. fortgefahren werden, weil wir oft indem einen finden, was im anderen nicht enthalten ist. 1 1

Zu den weiter oben zitierten Aufsätzen über Atlanten und Glossare ergänze V. BERTOLDI, Vocabolari e atlanti dialettali. A proposito del progetto dell'Atlante linguistico italiano in: R S F F V (1924), S. 112FF., der sich gegen die Glossare wendet, weil sie mangelhaft und von den Junggrammatikern vorgezogen worden sind. Danach bespricht er verschiedene Atlanten und schließt mit einem Abschnitt, der sich mit der Sprachgeographie und ihrer Kritik beschäftigt. Vgl. auch B. MIGLIORINI, Atlanti linguistici in: La Cultura VIII (1929), S. 219FF. Eine in dieser Hinsicht ideale Lage bietet uns Katalonien, wo neben dem Atlas von GRIERA ein außerordentlich reiches Wörterbuch der katalanischen Dialekte erschienen

Sprachatlanten außerhalb Frankreichs

287

Es sollen nun die einzelnen Sprachatlanten im Bereich der Romanistik kurz besprochen werden, die veröffentlicht wurden oder sich in Vorbereitung befinden. Der Atlas Korsikas Der Atlas linguistique de la Corse von J . G I L L I É R O N und E . E D M O N T , Paris 1914—15, ist die Fortsetzung des französischen Sprachatlasses, dem er in jeder Beziehung gleicht. 1 Das Material wurde von E D M O N T gesammelt, der zu diesem Zweck die italienische Sprache lernte, denn die in Korsika gesprochenen Mundarten der großen Mehrheit der Bevölkerung sind italienisch, nicht französisch. Das für die Enquete benützte Questionnaire ist doppelt so umfangreich wie das, welches für den ALF gebraucht wurde. Die Enquete umfaßte 45 Punkte und dauerte vom Frühjahr des Jahres 1911 bis zum Ende des Sommers des folgenden Jahres. Für jede untersuchte Ortschaft mußte wenigstens auch je ein mundartlicher Text von derselben Person, die auf die Fragen des Questionnaire geantwortet hat, gesammelt werden (vgl. M. R O Q U E S in Ro X L I [ 1 9 1 2 ] , S. 156). Es erschienen nur vier 2 von insgesamt zehn Bänden, die der Atlas umfassen sollte. Die Diskussion über diesen Atlas war in mancherlei Hinsicht sehr heftig. Man machte großes Aufhebens davon, daß der Explorator ein Fremder war und die Sprache nicht genügend beherrschte, die er bei der Enquete benützte. Außerdem fragte E D M O N T in der italienischen Hochsprache, so daß er die befragten Bewohner beeinflussen konnte. Auf diese Weise erkläre sich die ungewöhnliche Einheitlichkeit der Antworten. Für Einzelheiten vergleiche man P. E. G U A B N E E I O , Note etimologiche e lessicali corse in: R I L X L V I I I ( 1 9 1 5 ) , S. 517FF. ; C. S A L V I O N I , Note di dialettologia corsa, Pavia 1916 (Sonderdruck aus derselben Publikation, Band X L I X , S. 705ff.); A. D A U Z A T , La géographie linguistique, S. 149, Fußnote, und S. 1 5 2 ; S. POP, Buts et méthodes des enquêtes dialectales, S. 118FF., La Dialectologie, Band I, Louvain 1950; u. a. Der Atlas Kataloniens Ebenso muß als Fortsetzung des ALF der Atlas lingüistic de Catalunya, Barcelona (Institut d'Estudis Catalans, Palau de la Generalitat), 1923ÉF., betrachtet werden. Denn das katalanische Sprachgebiet ist tatsächlich eine geographische

1

2

ist : Diccionari català-valencià-balear, redigiert von M-a A . A L C O V E R , ab Band III von F R A N C E S C D E B. M O L L unter Mitarbeit von M . S A N C H I S G U A B N E E . Der I. Band erschien 1930 in Palma de Mallorca. Im Jahre 1959 wurde das 174. Faszikel publiziert : sobrevinent—somuntar. G B I E R A selbst ist der Autor eines katalanischen Wörterbuchs, das den Titel trägt Tresor de la Llengua de las Tradicions i de la Cultura populär de Catalunya, 14 Bände, Barcelona 1935—1947. Das beweist u. a. der Titel : Atlas linguistique de la France par J. G I L L I É R O N et E . E D M O N T . Corse. Somit ist die Bedeutung des Namens „Frankreich" politisch gemeint (Korsika gehört zur französischen Republik), nicht geographisch. Insgesamt sind es 799 Karten, wobei es mit une abeille beginnt und mit haïr quelqu'un endet.

288

Kapitel III. Sprachgeographie

Verlängerung des Galloromanischen, weil es von Frankreich selbst ausgeht und, indem es die politische Grenze zwischen Frankreich und Spanien überschreitet, eine große Fläche der Iberischen Halbinsel längs des Mittelmeeres in Form eines Dreiecks mit der Grundlinie in den Pyrenäen und mit der Spitze im Süden der Stadt Alicante umfaßt. Der Verfasser dieses Werkes ist A. G B I E R A , von dem bereits in diesem Kapitel die Rede war. Zum Unterschied von den Verfassern ähnlicher Unternehmungen hat G R I E R A von Anfang an bis zum Ende allein gearbeitet. Er traf die Vorbereitungen f ü r die Enquete, sammelte in den Ferien der Jahre 1912—1921 das Material an Ort und Stelle und leitete dann die Veröffentlichung des Atlasses. Es erschienen fünf B ä n d e 1 mit insgesamt 858 Karten. Die Anordnung des Materials gleicht der GILLIISRONS in dem Sinne, daß die Wörter und folglich auch die Karten alphabetisch aneinandergereiht sind (es beginnt mit abans d'ahir und endet, soweit es bis heute veröffentlicht wurde, mit fregar \la roba]). Wie E V A S E I F E R T in ARo V I I I (1924), S. 337ff., mitteilt, sollte der gesamte Atlas 3500 Karten haben, infolgedessen fast zweimal mehr als der ALF. Das Questionnaire wurde nach dem Vorbild desjenigen angefertigt, das E D M O N T f ü r den Atlas Korsikas benützte, und umfaßte 2886 Fragen, somit wiederum mehr als das Questionnaire GILLTÄRONS. Jedes katalanische Sprachgebiet wurde exploriert, d. h. die Gegend Roussillon (in Frankreich), Andorra, das eigentliche Katalonien (zusammen mit einigen angrenzenden Ortschaften in Aragonien, und zwar jenseits von Noguera Ribagorzana, das die Sprachgrenze zwischen Aragonien und Katalonien bildet), das Küstengebiet von Valencia (es handelt sich hier um die Provinz, nicht nur um die Stadt Valencia), die Balearischen Inseln und die Stadt Alghero in Sardinien, in der bekanntlich seit der Zeit der katalanischaragonesischen Herrschaft (14. Jahrhundert) weiterhin die katalanische Sprache gesprochen wird. Die Anzahl der untersuchten Orte beläuft sich auf 101; dies bedeutet, daß das Netz eine fast doppelte Dichte gegenüber dem A L F aufweist. Denn die Fläche des gesamten katalanischen Sprachgebietes ist fast ebenso groß wie die der Gaskogne, die im A L F nur durch 62 Punkte vertreten ist. Was die Verteilung der explorierten Ortschaften betrifft, so wurde das östliche Katalonien im Vergleich zum westlichen begünstigt. Man h ä t t e auch umgekehrt vorgehen können, sagt J A B E R G in seiner Rezension des ALCat in Ro L (1924), S. 278ff., weil im Osten die Spracheinheit größer ist, während der Westen, der an fremde Mundarten (spanische) angrenzt, eine unbestreitbare Mannigfaltigkeit bietet. Und die Übergangsgebiete sind vom sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus immer interessanter. Der ALCat wurde von seinen verschiedenen Rezensenten gut aufgenommen, so von G . M I L L A R D E T in R L R L X I I (1923-24), S . 177ff. und S . 500ff.; E V A S E I F E R T in ARo V I I I (1924), S . 337ff., und I X (1925), S . 113ff.; W . v. W A R T B U R G , ebenda I X (1925), S . 111 ff.; A. D A U Z A T in R P h F L X X X V I (1924), S . 163ff„ und X X X V I I (1925), S . 167ff.; K . J A B E R G in Ro L (1924), S . 278ff.; J . J U D in R R 1

Der letzte ( = der V.) Band wurde im Jahre 1939 veröffentlicht. Die Fortsetzung erschien nicht mehr, weil das entsprechende sprachliche Material während des Spanischen Bürgerkrieges verlorenging.

Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz

289

XVI (1925), S. 368ff.; L. SPITZEB in ZRPh XLV (1925), S. 612ff.; und A. T E B unter dem Titel Autour de L'Atlas lingüistic de Catalunya in: RLiR I (1925), S. 440ff. Eine besondere Bedeutung besitzt die Rezension JABERGS wegen der allgemeinen Fragen, die er stellt. Indem er die von E D M O N T in den Ortschaften katalanischer Zunge in Frankreich erhaltenen Antworten mit denen vergleicht, die G B I E B A im ALCat gibt, stellt er Unterschiede fest, und zwar: E D M O N T gibt eine nuanciertere Volkssprache wieder, GBIERA dagegen eine gleichförmigere. Eine gleiche Feststellung machte J A B E B G auch hinsichtlich der Antworten, die E D M O N T in der französischen Schweiz für den ALF aufgenommen hatte, und denen, die er selbst in seiner Enquete notierte. Der Mitarbeiter Gn.T,T^RONS gab vor allem die zufällige Aussprache des „Sprechens" ( = „parole" in der Terminologie F. DE SAUSSTTRES) wieder, J A B E B G dagegen näherte sich dem Lautideal der „Sprache" (— „langue" im Sinne SAUSSUBES). Gestützt auf diese Feststellung, gibt J A B E B G die folgende Erklärung: EDMONT war weder mit den katalanischen Dialekten in den Ostpyrenäen noch mit den frankoprovenzalischen in der Westschweiz gut vertraut. Deshalb wurde er von den spezifischen Besonderheiten •der explorierten Mundarten so beeindruckt, daß er wahrscheinlich deren unterscheidende Nuancen übertrieb. GRIEBA und J A B E B G dagegen kannten die studierten Dialekte bis in die kleinsten Einzelheiten, so daß sie in ihren Notierungen, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, versuchten, eine mittlere Linie in der Volkssprache wiederzugeben. Sie registrierten vor allem die Elemente, die von einer Gegend zur anderen gemeinsam waren. Für ein ausgedehntes Gebiet mit sehr verschiedenartigen Dialekten ergab sich das Verfahren EDMONTS von selbst; für ein begrenzteres Gebiet aber, in dem mehr oder weniger gleichförmige Mundarten gesprochen werden, muß das System 1 GBIEBAS vorgezogen werden. Dann erörtert J A B E B G das Problem der Mannigfaltigkeit der lexikologischen, phonetischen, morphologischen und syntaktischen Typen und das der Beziehungen zwischen diesen Typen und den benachbarten Sprachbereichen (den französischen und den spanischen). Katalonien diente als eine Art Aufmarschstraße für die Neuerungen, die in Gallien entstanden und sich nach der Iberischen Halbinsel ausbreiteten (ebenso wie Norditalien, speziell Piemont, eine gleiche Rolle für die Ausdehnung der galloromanischen sprachlichen Neuerungen auf der Apenninenhalbinsel spielte). Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, besitzt der ALCat eine ungewöhnliche Bedeutung, und sein Verfasser, A. G B I E R A , verdient die Anerkennung aller Fachleute, denn er hat der Wissenschaft neue Wege geöffnet. Mit dieser Feststellung schließt J A B E B G seine Rezension. BACHEB

Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz Trotz ihres großen und nicht zu leugnenden Wertes werden die bisher erörterten Atlanten von dem Sprach- und Bachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen (Schweiz), 1928—1940, weit übertroflen. Er ist das gemeinsame Werk von K. JABEBG 1

Vgl. auch die von A. GRIEBA gegebenen Informationen in BDC VI (1918), S. 57ff.

290

Kapitel III. Sprachgeographie

lind J. JUD. Die acht Bände des Atlasses enthalten insgesamt 1705 Karten. Um das Verständnis f ü r einige Aspekte des Werkes zu erleichtern und um die Forscher über die Methode, die angewendet worden ist, zu informieren, brachten die Autoren den Band Der Sprachatlas als Forschungsinstrument, Halle a. d. S 1928, heraus. Ebenso veröffentlichten sie vorher darüber mehrere Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften, z. B. Un Atlante linguistico-etnografico svizzeroitaliano in : Vie d'Italia (Rivista del Touring Club Italiano) in den Nummern von Mai und November 1923; A linguistic and ethnographical Atlas of the Raetian and Italian speechdomain of Switzerland and of Upper and Central Italy in : R R X I V (1923), S. 249ff.; E i n neuer S p r a c h a t l a s i n : I F I X (1922-23), S. l f f . ; D e r

Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz und die Bezeichnungsgeschichte des Begriffes „ a n f a n g e n " i n : R L i R I (1925), S. 114ff.; Ein Sprach- u n d Sachatlas Italiens u n d der Südschweiz in: W S I X (1924-1926), S. 126ff.; Transkriptionsverfahren, Aussprache- und Gehörschwankungen (Prolegomena zum „Sprach- u n d Sachatlas Italiens u n d der Südschweiz") i n : Z R P h X L V I I (1927), S. 171 ff. ; vgl. auch K. J A B E R G bei J o s . SCHRIJNEN, Essai de bibliographie de géographie linguistique générale, Nimègue 1933, S. 25FF. In allen diesen Studien finden wir viele und wertvolle Informationen über den bis jetzt bedeutendsten aller bisher vollständig erschienenen Sprachatlanten. Ich werde hier nur die wiedergeben, die mir absolut notwendig erscheinen, damit der Leser sich ein Bild von dem Werk J A B E R G S und J U D S verschaffen kann. Es wurden 405 Ortschaften in der Südschweiz und in Italien (die Halbinsel zusammen m i t den Inseln Sizilien und Sardinien) exploriert. Das Netz ist für Norditalien und die Schweiz dichter als das des ALF, aber dünner f ü r die übrigen Gebiete. Da entgegen dem anfänglichen Plan nicht nur die rätoromanischen und die norditalienischen Dialekte untersucht wurden, waren mit der Zeit drei Exploratoren notwendig geworden: P. SCHETJERMEIER 1 für die Schweiz und f ü r Nord- und L

Schüler von L . GATJCHAT und J . J U D in Zürich, bei denen er mit einer sehr guten Arbeit promovierte, die den Titel trägt: Einige Bezeichnungen für den Begriff Höhle in den romanischen Alpendialekten (Balma, Spelunca, Crypta, Tana, Cubulum). Ein wortgeschichtlicher Beitrag zum Studium der alpinen Geländeausdrücke, Halle a. S. 1920. Neben der allgemein theoretischen Ausbildung eignete sich S C H E T J E R M E I E R , ehe er mit der Exploration begann, auch ein speziell praktisches Wissen an. Wie kein anderer arbeitete er sich in alle Geheimnisse der sprachwissenschaftlichen Enquete und der damit eng verbundenen zahlreichen Probleme ein. Was die Kenntnis der rätoromanischen und italienischen Sprache betrifft, so versteht es sich von selbst, daß er sie völlig beherrschte. Als Schweizer und als Schüler der Züricher Schule war S C H E U E R M E I E B berufen, sich an die Aufnahme der sprachlichen Gebiete heranzumachen, die ihm von den Verfassern des Atlasses zugewiesen worden waren. Er verfügte auch über die nötige physische Widerstandskraft, war mit den langen und schwierigen Alpenwegen vertraut, mit dem mehr als kargen Leben der Bergbauern und mit anderen Unerquicklich keiten eines solchen Unternehmens. Interessant sind von vielen Gesichtspunkten aus die Informationen, die S C H E U E R M E I E R selbst gibt in dem Aufsatz Im Dienste des Sprach- und Sachatlasses Italiens und der Südschweiz in: Festschrift Louis Gauchat, Aarau 1926, S. 317ff. ; und in Observations et expériences personnelles faites au cours de mon enquête pour ,,l'Atlas linguistique et ethnographique de

Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz

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Mittelitalien (dieser wurde auch von Anfang an dafür ausgewählt), G. ROHLFS1

1

l'Italie et de la Suisse méridionale" in : BSL X X X I I I , S. 93ff. Ich halte es für angebracht, hier einige Arbeiten dieses Forschers zu erwähnen, der, indem er sich die Konzeption der Initiatoren des A I S aneignete, die Wörter immer zusammen mit den Sachen studiert oder, anders gesagt, zugleich Sprachgeschichte und Geschichte der materiellen Kultur treibt: Wasser- und Weingefäße im heutigen Italien, Bern 1934; Methoden der Sachforschung in: V R o I (1936), S. 334ff.; Sachkundliche Beiträge zur Gewinnung des Olivenöls in : Donum natalicium Carolo Jaberg, Zürich-Leipzig 1937, S. 3ff. ; Bauernvolk in Italien, der italienischen und rätoromanischen Schweiz. Eine sprach- und sachkundliche Darstellung landwirtschaftlicher Arbeiten und Geräte, Erlenbach-Zürich 1943; Bauernwerk in Italien, der italienischen und rätoromanischen Schweiz, Bern 1956. Honorarprofessor an der Universität Tübingen und der beste ausländische Kenner der süditalienischen Dialekte. Er beschäftigte und beschäftigt sich noch u. a. mit dem Problem des griechischen Elements in diesem Teil Italiens. Entgegen der früher allgemein angenommenen Ansicht, daß wir es hier mit Griechen aus der byzantinischen Herrschaft zu tun haben (aus den ersten Jahrhunderten des Mittelalters), vertritt R O H L F S die Ansicht und sucht sie auf jede Art und Weise zu beweisen, daß es sich hierbei um die letzten Reste von griechischen Kolonisten während und vor der römischen Herrschaft handele. Die große Mehrheit der Fachlaute stimmte der These R O H L F S ' ZU, italienische Forscher dagegen bekämpften sie erbittert (vgl. vor allem C. BATTISTI, Appunti sulla storia e sulla diffussione dell'ellenismo nell'Italia Meridionale in: R L i R I I I (1927), S. lff., und Nuove osservazioni sulla grecità nella provincia di Reggio Calabria in: I t D V (1930), S. 56ff.) Die bedeutendste Arbeit von R O H L F S über diese Frage ist Griechen und Romanen in Unteritalien. Ein Beitrag zur Geschichte der unteritalienischen Gräzität, Genf 1924 (mit ihrer italienisch geschriebenen Version Scavi linguistici nella Magna Grecia, Halle a. d. S. 1933), der zahlreiche Aufsätze und ergänzende Notizen hinzugefügt wurden. Von diesen verdient hier seine Antwort auf die bereits erwähnte erste Studie von B A T T I S T I angeführt zu werden: Autochthone Griechen oder byzantinische Gräzität? in: R L i R I V (1928), S. 118ff. Eng verbunden mit diesen Arbeiten ist sein Etymologisches Wörterbuch der unteritalienischen Gräzität, Halle a. d. S. 1930. Es enthält das gesamte griechische Sprachmaterial Süditaliens, welches entweder in den griechischen Dialekten, die dort noch gesprochen werden, vorhanden ist oder in den italienischen Mundarten der entsprechenden Gebiete. Dasselbe Problem unter dem Aspekt des altgriechischen Einflusses auf die süditalienischen Dialekte behandelt R O H L F S in der Studie Griechischer Sprachgeist in Süditalien, München 1947. Von den verschiedenen lokalen Varianten der italienischen Sprache im Süden der Halbinsel hat sich dieser Linguist besonders mit dem Kalabresischen beschäftigt. Er veröffentlichte ein sehr reiches Glossar (in 3 Bänden) unter dem Titel Dizionario dialettale delle tre Calabrie, Halle-Mailand 1932—1939. Vor einigen Jahren brachte er das stattliche Werk heraus Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten, Bern 1949—1954, die erste vollständige historische Grammatik (Phonetik, Morphologie, Syntax, Wortbildung) der italienischen Sprache (zusammen mit ihren Dialekten). Schließlich sollen einige Arbeiten von R O H L F S erwähnt werden, die er der sprachlichen Situation des Pyrenäengebietes widmete: Beiträge zur Kenntnis der Pyrenäenmundarten in: R L i R V I I (1931); La influencia latina en la lengua y cultura vasca in: R I E B X X I V (1933), S. 323ff. (das ist die spanische Übersetzung seiner im Jahre 1927 deutsch erschienenen Studie in: Festschrift für Voretzsch, Halle, S. 58ff., mit der er den Hugo-Schuchardt-Preis gewann), und Le gascon. Études de philologie pyrenéenne, Halle 1935.

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Kapitel III. Sprachgeographie

für Süditalien und M . L . W A G N E R 1 für Sardinien. Nach der Erfahrung, die die Fachleute auf diesem Gebiet gemacht haben, ist die Dreiteilung der Enquete unbestreitbar ein Nachteil. Die Autoren des Atlasses wußten das besser als alle anderen, aber es war unmöglich, anders vorzugehen, sowohl aus persönlichen Gründen — SCHETTERMEIER konnte die Enquete über Mittelitalien hinaus nicht fortsetzen — als auch wegen der objektiven Arbeitsbedingungen. Es war sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, eine Person zu finden, die vollendet drei Sprachen beherrschte (das Rätoromanische, das Italienische und das Sardische) und deren Dialekte, die oft sehr unterschiedlich voneinander sind. Der Atlas J A B E R G S und J U D S stellt im Vergleich zu ähnlichen bis jetzt veröffentlichten Werken einen großen Fortschritt dar, vor allem durch die Einführung von bestimmten Neuerungen, die es wert sind, hier aufgezählt zu werden. Seine Autoren stellten drei Questionnaires zusammen, aber offensichtlich nicht, weil sie mit Hilfe von drei Exploratoren das Material sammelten. Das „normale" Questionnaire, auf dessen Grundlage die Antworten in der Mehrheit der Fälle erhalten wurden, umfaßt 2000 Fragen (Wörter, Formen, Sätze) und hat als Grundlage das Questionnaire, das von GILLIÉRON für den ALF gebraucht wurde, nachdem es alle Änderungen erfahren hatte, die sich aus den sprachlichen und gesellschaftlichen Bedingungen notwendig machten, welche von einer Provinz zur anderen sehr verschieden sind. Das zweite Questionnaire stellt eine reduzierte Form des „normalen" dar und diente für die Enquete in großen Städten, wo es keine ländlichen Beschäftigungen, keine Landwirtschaft usw. gab, dagegen aber andere Erwerbszweige und Tätigkeiten, die dem bäuerlichen Leben unbekannt sind. Schließlich ist das dritte Questionnaire doppelt so umfangreich wie das „normale". Mit ihm sollte der Sprachschatz der bedeutendsten Dialektgruppen in ausgedehnteren Gebieten erfaßt werden. Gewöhnlich wurde dabei so vorgegangen, daß nach 20 Ortschaften, die mit Hilfe des üblichen Questionnaire exploriert wurden, eine Ortschaft eingeschoben wurde, für die die Exploratoren das erweiterte Questionnaire benützten. Bei der Auswahl der Ortschaften bedienten sich J A B E R G und J U D sowohl ihrer eigenen Erfahrung wie auch der der anderen, die sich bei der Abfassung von Sprachatlanten davon überzeugen konnten, daß die Realität manchmal völlig anders ist, als wir sie uns vorgestellt haben. Man stellte z. B. fest, daß nicht immer die Städte eine weiterentwickelte Sprache aufweisen, die Dörfer dagegen eine konservativere. Ebenso beobachtete man, daß die Volksmundarten in den Ortschaften, die in der Nachbarschaft der Verbindungswege gelegen sind, oftmals weniger von der Hochsprache beeinflußt werden als die Sprache anderer Ortschaften, die relativ weit von der Eisenbahn entfernt liegen. So erklärt sich auch, weshalb der Charakter und die geographische Lage der für den AIS untersuchten Punkte sich deutlich von denen des ALF unterscheiden. Aus dem gleichen Grund 1

Dieser Gelehrte, dessen Tätigkeit ich im I. Kapitel dieses Buches (S. 90ff.) beschrieb, kennt besser als jeder andere Linguist, ob Italiener oder Fremder, die sardischen Dialekte.

Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz

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setzten J A B E R G und J U D in die Liste der Ortschaften, die exploriert werden mußten, auch Großstädte wie Turin, Mailand, Venedig, Genua, Bologna, Florenz, Neapel u. a. ein. 1 Die wichtigste Neuerung, von der zahlreiche andere abzuleiten sind, ist das Vorherrschen des Wortschatzes über die Phonetik. Die Autoren interessierten sich in erster Linie für die Wörter der Volksmundarten in Italien und in der Südschweiz, d. h. für die übliche Terminologie auf verschiedenen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Denn die Kenntnis der verschiedensten Ausdrücke, mit denen der Bauer, der Handwerker u. a. die Gegenstände und Begriffe des täglichen Gebrauchs bezeichnen, bedeutet zugleich auch die Kenntnis der materiellen und geistigen Kultur der Bevölkerung. So wird das Studium der Sprache mit dem Studium der materiellen und geistigen Lebensbedingungen, verbunden, was völlig den gegenwärtigen Forderungen der Sprachwissenschaft entspricht. Als Folge dieser Beschäftigung führten J A B E R G und J U D eine andere Neuerung ein, die das Ziel hat, diese bereits angeführte zu ergänzen. Um nicht nur die Volksmundarten vor dem Untergang zu retten, sondern auch bestimmte „Sachen", die in Gefahr sind, durch moderne Fabrikate ersetzt zu werden, entschlossen sie sich, jede Art von selten werdenden primitiven Gegenständen, Anlagen usw. zu photographieren. Die Photographien, die zirka 4300 ausmachen, bilden ein Album, in dem noch die Terminologie und Beschreibung der wiedergegebenen „Sachen" enthalten ist. So wurden die geographische Methode und die Methode „Wörter und Sachen" in dem Werk der Schweizer Romanisten auf das glücklichste verbunden. Wenn wir uns daran erinnern, daß J A B E R G und vor allem auch J U D immer großen Wert auf die Forschungsrichtung „Wörter und Sachen" legten, so überrascht uns die hier getroffene Feststellung nicht. Gleichsam als Folge dieses Gesichtspunktes bietet der AIS auch eine technische Neuheit hinsichtlich der Anordnung der Karten. An Stelle der alphabetischen Ordnung in den vorangehenden Atlanten finden wir in ihm eine Gruppierung des Materials nach Begriffen. Hier der Inhalt der 8 Bände: Band I : Verwandtschaftsnamen, Altersstufen, Geburt, Ehe und Tod, Körperteile, körperliche Funktionen, Eigenschaften und Gebrechen. Band I I : Handwerker und Handwerke, Geld und Handel, Zahlen, Zeit und Zeiteinteilung, Ort und Ortsadverbien, Bodenbeschaffenheit, Mineralien, Metalle, Himmelskörper und atmosphärische Erscheinungen. Band I I I : Bäume und Büsche, Wald, Holzhauergeräte und Holzhauerarbeiten, Blumen, Wildlebende Tiere, Jagd und Fischfang. Band IV: Kleidung und Stoffe, Spinnerei und Weberei, Nähen, Waschen und Reinigen, Schlaf und Toilette, Krankheit und Heilung, Moralische Eigenschaften, Gefühle und Affekte, Soziales und religiöses Leben (Spiele und Unterhaltung), Musik, Schule, Kirche und Klerus, Glauben und Aberglauben. Band V: Dorf, Bauernhof und Hausrat, Licht und Feuer, Küche, Küchengeräte und Kochen, Speisen und Mahlzeiten, Wiesenbau, Bewässerung, Heuernte und Heugeräte, Gemüsebau, Bau und Verbreitung von 1

In dieser Hinsicht gleicht ihr Verfahren dem G E I E E A S , der für den katalanischen Sprachatlas ebenfalls die Zentren mit großer Bevölkerungszahl besuchte.

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Hanfund Flachs. Band VI: Getreidebau (Getreidearten, Acker und Ackergeräte, Anbau und Ernte, Düngen, Pflügen und Eggen, Dreschen und Kornreinigung), Weinbau (Winzergeräte, Keltern), Olivenbau und ölfabrikation, Fruchtbau (Kastanien, Nüsse, Kern- und Steinobst}. Band VII: Viehzucht (Haustiere, Rindviehzucht, Milch- und Alpenwirtschaft), Pferd und Wagen, Schafzucht, Schweinezucht, Hund und Katze, Geflügelzucht, Bienenzucht, Seidenraupenzucht. Band VIII: Verschiedenes. Morphologische und syntaktische Materialien. Auch bei der Herstellung der Karten führten die Verfasser dieses Atlasses wertvolle Neuerungen ein. Neben den Wörtern, die rechts von jedem explorierten Punkt notiert werden, enthalten sehr viele Blätter in Form von „legenda" ein reiches zusätzliches sprachliches Material, das die in den eigentlichen Karten niedergelegten Angaben vervollständigt oder erklärt. Weiterhin finden sich Skizzen für einige Gegenstände, deren Kenntnis vor der Veröffentlichung des Bandes mit Photographien nötig war. Zur Erleichterung eines evtl. Vergleiches zwischen der italienischen oder rätoromanisohen Terminologie und der französischen oder katalanischen werden Hinweise gegeben, wenn dies möglich ist, auf den ALF und auf den ALCat, ferner auf die sprachgeographischen Arbeiten von 0 . BLOCH, CH. BETJ1 NEATJ, G. MILLARDET u. a. sowie zu populären botanischen und zoologischen Arbeiten (E. R O L L A N D für Frankreich, 0 . PENZIG und A. G A R B I N I für Italien usw.2). Auf diese Weise gelang es J A B E K G und JUD, die Grundlagen einer wirklich vergleichenden Sprachgeographie zu legen. Wie wir sahen, war GILLÖSRON auch deshalb von seinen Gegnern kritisiert worden, weil er die anderen romanischen Sprachen vernachlässigt hatte und sich nur für das Französische interessierte. Seine Schweizer Schüler suchten diese Lücke in dem Maße auszufüllen, wie es der Atlas erlaubte. 3 1 2 3

Vgl. weiter oben S. 231 ff. Vgl. Kap. I, S. 93. Andere Arbeiten in Verbindung mit diesem Werk können in zahlreichen Rezensionen gefunden werden, die der einführenden Studie und den verschiedenen Bänden des Sprachatlasses gewidmet sind: A. GRIERA, Entorn de l'Atlas linguistique de l'Italie et de la Suisse Meridionale de K . Jaberg i J . Jud in: AORLL, Band I, Barcelona 1928, S. 21 ff. (vgl. auch GRIERAS Rezension in B D C X V I [1928],

S . 54FF.); CH. BRUNBAU i n : J S

( 1 9 2 9 ) , S . 389FF.; E . GAMILLSCHEG,

Zum

Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz in: Z R P h X L I X (1929), S . 3 3 2 f f . ; R . v . PLANTA i n : L i t t e r i s V I ( 1 9 2 9 ) , S . 135FF.; C . TAGLIAVINI i n : A R o X I I I ( 1 9 2 9 ) , S . 570FF.; A L . ROSETTI i n G S I V ( 1 9 2 9 / 3 0 ) , S . 175FF.; IORGU IORDAN i n : A r h i v a X X X V I I ( 1 9 3 0 ) , S . 72FF.; N . J O E L i n : I J X I V ( 1 9 3 0 ) , S . l l l f f . (er b e -

schäftigt sich nur mit der Ortschaft Acquaformosa, in der die albanische Sprache gesprochen wird — bekanntlich war JOEL ein großer Fachmann dieser Sprache); A . M E I L L E T I N B S L X X X ( 1 9 3 0 ) , S . 119FF.; F R . SCHURR i n A S N S C L V I I ( 1 9 3 0 ) , S . 1 2 6 f f . ; E . TAPPOLET i n : L g r P L I ( 1 9 3 0 ) , c o l . 4 5 f f . ; A . GRIERA i n B D C X I X ( 1 9 3 1 ) , S . 2 5 9

ff.;J. ORR in: MLR X X V I I I (1933), S. 271ff., und X X X (1935), S. 106ff. ; R. GIACOMELLI i n A R o X V I I I

( 1 9 3 4 ) , S . 1 5 5 f f . ; K . GLASER i n L g r P L V I ( 1 9 3 5 ) ,

col.

183ff.; H . KUEN in Z R P h L V I I (1937), S. 481fF.; H . LAUSBERG in LgrP L V I I I (1937), col. 340ff.; G. MALAGÖLI in I t D X I I I (1937), S. 57ff. (mit Fortsetzung in den folgenden Faszikeln); G. PICCITTO, ebenda X I V (1938), S. 149ff.; J. U . HUBSCMIED in V R o IV (1939), S. 218ff.

E i n speziell italienischer Sprachatlas

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Ein speziell italienischer Sprachatlas Über die anderen ähnlichen Unternehmen werde ich nur kurz sprechen, besonders deshalb, weil fast alle sich noch in Vorbereitung befinden. Für Italien arbeitet man an einem Atlas, der das Ziel haben soll, eine wirklich nationale Manifestation zu werden, so daß er mit dem eben erörterten Atlas in Konkurrenz treten soll, der von ausländischen Gelehrten verfaßt wurde. Der Plan zu diesem Werk weist ein Alter von fast 50 Jahren auf, aber erst nach dem 1. Weltkrieg und vor allem dann, als die Arbeiten des Atlasses von J A B E R G und J U D bis zur Vollendung gediehen waren, machte man sich ernsthaft an die Arbeit. Das Leitungskomitee wurde anfangs von den bekannten Linguisten M. B A R T O L I und G. B E R T O N I sowie von U G O P E L L I S , Professor an einem Lyzeum in Triest und Herausgeber der Rivista della Società filologica friulana G. I. Ascoli 1 , und V. B E R T O L D I 2 gebildet. Die ersten zwei sollten die hauptsächlichen Herausgeber sein und in ihrer Tätigkeit von B E R T O L D I unterstützt werden, der bei Bedarf auch Enqueten durchzuführen hatte, und zwar dann, wenn der Hauptexplorator P E L L I S aus verschiedenen Gründen verhindert wäre, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Aber die Zusammensetzung dieser Kommission erlitt sehr bald einschneidende Veränderungen: B E R T O L D I zog sich zurück, ehe er effektiv an diesem Unternehmen mitgearbeitet hatte, und im Jahre 1927 t a t B E R T O N I das gleiche. Es blieben folglich nur B A R T O L I als Redaktor und P E L L I S als Explorator, die aber inzwischen beide gestorben sind ( B A R T O L I 1946, P E L L I S 1943). Hier nun einige Angaben. Das Questionnaire setzt sich aus zwei Teilen zusammen : einem allgemeinen Teil mit Fragen über Individuum, Familie, Gesellschaft, Natur und einem besonderen Teil betreffs der Landwirtschaft, der Viehzucht, der Jagd, des Fischfangs, der Künste und des Handwerks. Für bestimmte Fälle wurde ein ergänzendes Questionnaire gebildet, das einzelne Dinge umfaßt in bezug auf die Technik, die lexikalischen Besonderheiten, die Gewohnheiten, den Glauben, die Wissenschaft und die Volksliteratur. Schließlich gibt es auch einen morphologischen Anhang mit Fragen, durch die die grammatischen Formen untersucht werden sollen. Das Questionnaire wird von einem Album mit Illustrationen und Photographien (2500 insgesamt) begleitet. Wenn die befragte Person nicht den entsprechenden Gegenstand zur Hand hat, wird ihr die Photographie gezeigt, und man bittet sie, dafür die Bezeichnung, den Gebrauch usw. zu sagen. Der allgemeine Teil des Questionnaire enthält 826 Photographien, 291 Fragen und 2513 Übersetzungen 3 ; der spezielle Teil 1841 Illustrationen, 739 Fragen und 744 Übersetzungen. Der morphologische Anhang umfaßt 1048 Formen, von denen 1

2 3

E s m u ß herausgestellt werden, d a ß die gesamte Arbeit dieser Società filologica friulana G. I . A s c o t i a n v e r t r a u t worden war, die d a n n die hier a u f g e f ü h r t e n Personen auswählte, u m das geplante W e r k zu realisieren. PELLIS war n a c h dem Beginn der vorbereitenden Arbeiten z u m Assistenten a m Lehrstuhl BARTOLIS (Universität Turin) e r n a n n t worden. Vgl. K a p . I, S. 94. E s handelt sich u m die Übersetzung der P a r a b e l vom verlorenen Sohn u n d anderer leichter Texte f ü r Ungebildete in den Dialekt.

20 lordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel III. Sprachgeographie

861 Verbalformen sind. Die Zahl der zu explorierenden Ortschaften wurde auf 730 festgelegt, später auf 1000 (s. BALIt I [1933], Nr. 1, S. 21, Fußnote 3). Die Dauer der Exploration sollte fünf bis sechs Jahre betragen. 1 Der Explorator besaß die Freiheit, die in der Liste vorgesehenen Ortschaften zu wechseln, wenn ihn die Umstände dazu zwangen. Das sprachliche Material sollte mit Hilfe derselben Questionnaires auch in den alloglottischen Gebieten (albanischer, rumänischer, slawischer, deutscher und zigeunerischer Sprache) gesammelt werden 2 (s. BALIt I [1933], S. 42). Das Unternehmen von BARTOLI und P E L L I S rief heftige Polemiken unter den italienischen Linguisten hervor. C. M E R L O bekämpfte es mehrfach mit Erbitterung (s. RANL, classe di scienze morali, storiche e filologiche, serie V-a, vol. X X X I I I , fasc. 4°—6°, Roma 1924, S. 149if., wo der Vortrag veröffentlicht wurde, der in der Sitzung vom 18. Mai 1924 von M E R L O gehalten worden war. In einer anderen Sitzung, am 18. Dezember 1927, nahm derselbe Gelehrte die Frage wieder auf. S. auch ItD IV [1928], S. 297ff.). Die Beobachtungen MERLOS sind interessant und verdienen es daher, in ihren Hauptgedanken wiedergegeben zu werden. Die Distanz zwischen den Orten, die exploriert werden sollen, darf weder 30 Kilometer überschreiten noch unter 15 Kilometern liegen. Ebenso ist es notwendig, daß die Ortschaften, die keine Eisenbahn- oder Uberlandbahnhaltestellen haben, von diesen Haltestellen mehr als 7 Kilometer entfernt sein müssen (denn die mittlere Entfernung zwischen einer italienischen Gemeinde und dem nächsten Bahnhof oder der nächsten Überlahdbahnstation beträgt ungefähr 7 Kilometer). Das Questionnaire soll einen allgemeinen Teil haben mit den bei den meisten Italienern üblichen Begriffen und einen speziellen Teil. Dieser hat sich in vier Unterabteilungen zu gliedern (und zwar mit Begriffen, die vertraut sind 1. der Mehrheit der Bauern, 2. der Mehrheit der Stadtbewohner, 3. der Mehrheit der Küstenbewohner und 4. der Mehrheit der Gebirgsbewohner; natürlich wendet der Explorator den speziellen Teil des Questionnaire nur für die Bauern bzw. die Stadtbewohner usw. an). Die Ortschaften sollen sich unterteilen in 1. die des Gebirges und der Hügellandschaft, 2. die der Ebene und der Meeresküste. Dabei wird als Ausgangspunkt die Höhe von 350 m genommen. Die Sujets sollen bevorzugt in ihrem eigenen 1

2

Informationen über den Gang der Arbeiten erschienen regelmäßig in BALIt, der im Jahre 1933 mit dem Ziel begründet worden war, die Interessenten über den Stand der wissenschaftlichen Tätigkeit im Hinblick auf die Realisierung dieses Werkes auf dem laufenden zu halten. Im August 1929 waren 183 Punkte exploriert. Am Ende des Jahre 1930 stieg deren Zahl auf 251, die der erhaltenen Antworten auf 650000 und die der Photographien auf 1263. Ende Juli 1932 waren 328 Ortschaften exploriert. Ende November 1936 waren es bereits 495 Ortschaften, und bis Juni 1937 kamen noch 23 weitere hinzu. Einige Probekarten wurden veröffentlicht in Atti del III Congresso nazionale di arti e tradizioni popolari und in einem Sonderfaszikel. Für die weiblichen Arbeiten (die eigentliche Hauswirtschaft in all ihren Einzelheiten) wurde PELLIS bei der Materialsammlung von seiner Gattin unterstützt. Andere Nachrichten über den Atlas und besonders über die Erörterung einiger vorgebrachter Einwände finden sich bei M. BAKTOLI in AGI X X I (1927), sezione neolatina, S. 149ff.

Rumänische Sprachatlanten

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Tätigkeitsbereich befragt werden (denen vom Gebirge sollen vor allem Fragen über das Leben der Bergbewohner, denjenigen der Ebene Fragen über das ländliche Leben usw. gestellt werden). Die Auswahl der Ortschaften soll nach streng wissenschaftlichen Kriterien erfolgen. Näher beieinander sollen sie in den Alpen, den Apenninen und in den sprachlichen Grenzgebieten liegen, dagegen weiter entfernt in Gebieten, wo die Literatursprache oder die Sprache eines großen Kulturzentrums mächtigen Einfluß ausübt. MERLO zeigte sich besonders unzufrieden über die Auswahl der Ortschaften und über deren Klassifizierung nach geographischen Grundlagen, außerdem über die Art, wie das Questionnaire gebildet wurde, und darüber, daß nur ein einziger Explorator vorgesehen ist. Er möchte f ü r jeden Dialekt einen haben, der, wenn möglich, von dem explorierten Ort selbst sein soll, wenigstens aber ein sehr guter Kenner der entsprechenden Mundart. Was PELLIS betrifft, so fürchtet MERLO, daß er auf Grund seiner friaulischen Herkunft nicht mit den so zahlreichen und verschiedenartigen Besonderheiten der italienischen Dialekte vertraut ist. 1

Rumänische Sprachatlanten Bei der wissenschaftlichen Aufstellung der Sprachatlanten nimmt Rumänien einen bedeutenden Platz ein. Ich habe zu Beginn des vorliegenden Kapitels bereits einiges über den dakorumänischen Atlas von W E I G A N D gesagt. Neben diesem Atlas muß noch erwähnt werden der Atlasul lingvistic al Banatului, das Werk von I.-A. CANDREA, ehemals Professor an der Universität Bukarest. Seiner Studie, betitelt Constatäri in domeniul dialectologiei und veröffentlicht in GS I (1923/24), S. 169ff., entnehmen wir, daß dieser Gelehrte im Verlauf von 20 Jahren über 250 Ortschaften im Banat explorierte, wobei er mehr als 700 Worttypen studierte. Das so gesammelte Sprachmaterial hat er in einem Atlas mit 130 Karten bearbeitet. Bis jetzt erschien von diesem Werk noch nichts. Eine Anzahl von Karten, davon einige farbige, bilden den Anhang des hier zitierten Aufsatzes. 1

Der Kritik MERLOS schloß sich V. CBESCINI an, der Professor für romanische Philologie an der Universität Padua war, indem er u. a. forderte, daß sich auch die Accademia dei Lincei über dieses in Vorbereitung befindliche Werk äußere, das ein nationales Problem geworden sei. Andere interessante Mitteilungen können wir finden bei M. BABTOLI, Piano generale dell'Atlante linguistico italiano, Sonderdruck aus RSFF, Udine 1924 (s. O. DENSUSIANU in: GS II [1925/26], S. 184); Il Consilio direttivo, Per l'Atlante linguistico italiano. Promemoria, Udine 1925; M. BARTOLI, Per l'Atlante linguistico italiano, Sonderdruck aus Atti del IX Congresso geografico italiano, vol. II, Genova 1926; S. POP, Buts et méthodes des enquètes dialectales, Paris 1927, S. 156ff. ; L'opera dell'Atlante linguistico italiano dei suoi inizi al settembre 1927, Udine 1927; M. BABTOLI, L'Atlante linguistico italiano in : Atti della Società italiana per il progresso delle scienze, vol. XVII (1928), S. 664ff. (s. LgrP L [1929], col. 446fF.); L'opera dell'Atlante linguistico italiano dell'ottobre 1927 al settembre 1928, Udine 1928; BALItl (1933) Nr. 1 u.a. Dieses Bulletin war auch von Anfang an das offizielle Informationsorgan der Herausgeber des Atlasses.

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Kapitel III. Sprachgeographie

Aber es ist schwierig, sich ein Urteil über diesen Atlas selbst zu bilden, vor allem weil nach dem Aussehen dieser Karten nur mit großen Anstrengungen die Ausbreitung der entsprechenden sprachlichen Erscheinungen verfolgt werden kann. Ein anderes Unternehmen im großen Stil plante S. P U S C A R I U , das er mit Hilfe der Sprachwissenschaftler von Klausenburg fast bis zum Abschluß brachte. Schon bei seiner Berufung an die Universität Klausenburg (1919) hatte er an einen rumänischen Sprachatlas gedacht. Durch außerordentlich reichhaltige Questionnaires über das „Haus", das „Pferd" usw., die er an Korrespondenten in ganz Rumänien schickte, suchte er die notwendige Atmosphäre für die Enquete an Ort und Stelle vorzubereiten. Einerseits sah er aus den erhaltenen Antworten, welche Volksmundarten besonderes Interesse verdienen, andererseits gewöhnte er die Bewohner der Provinz an den Gedanken einer sprachlichen Exploration, wobei er sich rechtzeitig auf die Namen der Personen konzentrierte, die bewiesen, gute „Sujets" zu sein. P U S C A R I U benutzte die gesamten Erfahrungen der Fachleute auf diesem Gebiet, vor allem diejenigen von J A B E R G , J U D und B A R T O L I , weil deren Werke die neuesten waren. So wurde besondere Aufmerksamkeit der Ethnographie gewidmet, d. h. den „Sachen", so wie die Schweizer Linguisten vorgingen, und der Folklore, so wie es die italienischen Forscher taten. 1 Außerdem wurden die Personen- und Ortsnamen gesammelt, was eine wirkliche Neuerung bedeutete. Für jeden Zweig des Atlasses bediente man sich eines besonderen Explorators. Der sprachliche Teil wurde S. POP übertragen, der speziell sprachgeographische Studien in Frankreich getrieben und an einigen Dialektaufnahmen im westlichen Rumänien teilgenommen hatte, und E. P E T R O V I C I , einem Phonetiker mit ausgezeichneter Ausbildung. Der Teil, der die Eigennamen umfaßt, wurde ÇT. P A S C A anvertraut, der sich an Universitäten außerhalb Rumäniens auf diesem Gebiet spezialisiert hatte. Hinsichtlich der Ethnographie und der Volkskunde wurde mit dem ethnographischen Museum in Klausenburg zusammengearbeitet. P U S C A R I U selbst bereitete sich in Anbetracht dieses Unternehmens durch wiederholte Besuche bei den Redaktoren des AIS und des ALI vor. Das Questionnaire wurde von POP auf der Grundlage der ähnlichen bereits existierenden Werke für andere romanische Sprachen aufgestellt und in mehreren Sitzungen des Museums der rumänischen Sprache in Klausenburg von den dortigen Linguisten diskutiert. Um seine praktische Verwendbarkeit zu bestätigen, wurden zuerst einige Versuche an Ort und Stelle durchgeführt. Es wurden zwei Questionnaires aufgestellt, ein kleineres mit 2200 Wörtern, das sich auch auf,, Grundbegriffe und charakteristische sprachliche Formen" bezog, und ein größeres mit 4800 Fragen, das „das gesamte Leben des rumänischen Bauern mit seinen in die Ethnographie und in die Folk1

Bereits O. DENSUSIANU (in: AAR, dezbateri X L [1919/20], S. 154FF., und X L I V [1923/24], S. 87) verlangte, daß für einen zukünftigen Atlas das ethnographische und volkskundliche Material neben dem sprachlichen studiert werden solle. Vgl. auch die Notiz desselben Gelehrten in GS VI (1929/30), S. 188ff., wo das Erscheinen der zwei Bände Instructions d'enquête linguistique; Questionnaire linguistique, Paris 1928, angekündigt wird, die v o m Institut d'ethnologie de l'Université de Paris veröffentlicht wurden.

Rumänische Sprachatlanten

299

lore reichenden Verzweigungen" umfaßte. Die Enquete mit dem weniger umfangreichen Questionnaire wurde von POP an 301 Punkten durchgeführt, von denen 292 dakorumänisch, 5 aromunisch, 2 megleno-rumänisch und 2 istro-rumänisch waren. Die Enquete mit dem erweiterten Questionnaire erfolgte durch PETROVICI an 73 dakorumänischen Punkten und je einem der übrigen drei Dialekte des Rumänischen sowie an 11 alloglottischen Punkten (2 ungarischen, 2 siebenbürgischsächsischen, 2 ukrainischen, 2 bulgarischen, 2 serbischen und einem zigeunerischen). PETROVICI explorierte hierbei andere Ortschaften als POP. Auch muß darauf hingewiesen werden, daß die von PETROVICI durchgeführte Enquete im allgemeinen dreimal länger gedauert hat als die von POP. Das erklärt sich durch den großen Umfang und die Mannigfaltigkeit des von PETROVICI benützten Questionnaire, das auch Fragen hinsichtlich der Ethnographie und Volkskunde enthielt. Eine andere wissenswerte Einzelheit ist folgende: Das von POP verwendete Questionnaire hatte einen einführenden Teil in bezug auf die Namen der Hügel, der Berge und der Müsse des explorierten Dorfes, auf die Namen der benachbarten Dörfer, auf die Pronomina (Maskulina und Feminina) und auf im Ort übliche Spitznamen. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß der ALR einige Neuerungen gegenüber ähnlichen früheren Werken bietet, die ihm in vieler Hinsicht als Vorbild gedient hatten. Außerdem wurden dem ALR eine Sammlung von mundartlichen Texten hinzugefügt, die gleichzeitig bei der Enquete mit aufgenommen worden sind, und ein kleiner bunter Sprachatlas (ALRM), der zusätzlich verfaßt worden ist und dem großen Atlas hinsichtlich des Inhalts (unterteilt nach Tätigkeitsbereichen) entspricht. Der kleine Atlas hat mehr Karten als der große, weil bei ihm auch nichtkartografiertes Material eingeführt wurde, denn viele Karten des großen Atlasses konnten nicht farbig angefertigt werden. Bis jetzt erschienen die folgenden Bände: Atlasul linguistic romän, partea I, vol. I, Cluj 1938, und vol. II, Sibiu-Leipzig 1942; und Micul atlas linguistic romän, partea I, vol. I, Cluj 1938; und vol. I I , Sibiu-Leipzig 1942, beide von POP bearbeitet. Atlasul linguistic romän, partea a Il-a, vol. I, mit einem Ergänzungsband, Sibiu-Leipzig 1940—1942; und Micul atlas linguistic romän, partea all-a, vol. I, Sibiu-Leipzig 1940, beide von E. PETROVICI geschaffen. Atlasul lingvistic romin, serie nouä, vol. I und vol. I I ; und Micul Atlas lingvistic romin, serie nouä, vol. I, beide Editura Academiei R. P. R. 1956 und verfaßt vom Linguistischen Institut in Klausenburg, das unter der Leitung von E. PETROVICI steht, und zwar von einem Kollektiv, dessen hauptsächlicher Redaktor IOAN PÄTEUF gewesen ist. Hier der Inhalt dieser Bände: ALR I, vol. I ; und ALRM I, vol. I: Die Teile des menschlichen Körpers und seine Krankheiten, mit 150 bzw. 208 Karten. ALR I, vol. I I ; und ALRM I, vol. I I : Familie, Geburt, Taufe, Kindheit, Hochzeit, Tod, mit 152 bzw. 216 Karten. ALR II, vol. I; und ALRM II, vol. I : A. Der menschliche Körper. Krankheiten (und verwandte Ausdrücke). B. Familie. Geburt. Kindheit. Hochzeit. Tod. Religiöses Leben. Feiertage. C. Haus. Gebäude. Hof. Feuer. Mobiliar. Gefäße. Gebinde, mit 296 bzw. 416 Karten (im großen Atlas wird bei jeder Karte ein außerordentlich reiches sprachliches Material gegeben, das nicht

300

Kapitel I I I .

Sprachgeographie

kartographiert werden konnte. Der Ergänzungsband enthält „Ausdrücke, die als obszön erachtet werden", und hat 20 Karten. A L R , Serie nouä, vol. I : Landwirtschaft, Mühle, Gärtnerei, Obstanbau, Weinanbau, Hanfanbau, Bienenzucht, mit 274 Karten und 7 Tafeln ; vol. I I : Viehzucht. Wagen. Handwagen. Schlitten. Hof. Geflügel. Schafzucht. Leinen, Spinnen, Weben. Gewerbe. Forstwirtschaft, mit 348 Karten und 7 Tafeln ; ALRM, serie nouä, vol. I : dieselben Kapitel wie in vol. I und vol. I I des A L R der neuen Reihe mit 424 buntsn Karten. Schließlich soll der Band Texte dialectale, gesammelt von EMIL PETROVICI, erwähnt werden, der eine Ergänzung zum A L R I I darstellt, Sibiu-Leipzig 1943. Über diesen rumänischen Sprachatlas wurden unter seinen verschiedenen Aspekten zahlreiche Aufsätze und Rezensionen veröffentlicht, deren nahezu vollständige Liste ich hier wiedergebe, damit der Leser sich noch umfassender informieren kann über die Konzeption, auf der der Atlas beruht, über die bei seiner Anfertigung gebrauchte Methode, über die Einschätzungen der Fachleute usw. : L. TAMÄS, Sur la méthode d'interprétation des cartes de l'Atlas Linguistique Roumain in: AECO I I I (1937), S. 228FF.; G . IVÂNESCU in B P h V (1938), S. 323FF.; T H . CAPIDAN in B y z a n t i o n X I V (1939), S. 539/40; IORGU IORDAN in Î I , F e b r u a r 1939, S. 308/09; J . JTTD in V R o I V

(1939), S. 228/29; E . - E . LANGE-KOWAL in A S N S

CLXXVI

(1939), S. 4 6 f f . ; D . ÇANDRU i n : R I R I X (1939), S. 477/78; K . JABERG, D e r rumä-

nische Sprachatlas . . . in: VRo V (1940), S. 40ff.; G. REICHENKRON, Die Bedeutung des rumänischen Sprachatlas für die ungarische und türkische Philologie in : U J X X (1940), S. 7ff.; derselbe, Die Bedeutung des rumänischen Sprachatlas für die slavische Philologie in : ZsPh X V I I (1940), S. 143ff.; F. SCHÜRR, Der Stand der rumänischen Sprachgeographie i n : R F L I V (1940), S. l f f . ; IORGTT IORDAN i n : B P h

V I I - V I I I (1940/41), S. 354-385; E. GAMILLSCHEG, Randbemerkungen zum rumänischen Sprachatlas in: A P A W B , Phil.-hist. Klasse, 1941, Nr. 7; G. GIUGLEA in: Dacor X (1941), S. 115FF.; R.TODORANIN: Transilvania L X X I I I (1942), S. 717ff.; IORGU IORDAN in: BPh (1942), S. 191 ff. Hinzuzufügen sind auch die unter verschiedenen Formen von den Verfassern des Atlasses gemachten Darstellungen: S. PÜ^CARIU bei Jos. SCHRIJNEN, Essai de bibliographie de géographie linguistique, Nimègue 1933, S.79FF.; derselbe, Härtile graiului in: TB 1933, Nr. 2; derselbe in Dacor I X (1936-1938), S. 403ff.; derselbe in AvPh (1938), S. 107ff.; derselbe in ZDM X V I , Faszikel I ; derselbe, Les enseignements de l'Atlas linguistique de Roumanie in: R T I I I , Faszikel I ; derselbe, Contributia Transilvaniei la formarea si evolufcia limbii romîne in: R F R , Mai 1937; derselbe, Le rôle de la Transylvanie dans la formation et l'évolution de la langue roumaine in dem Band La Transylvanie, Bucureçti 1938 (dieser Aufsatz ist, wie der Titel zeigt, die französische Übersetzung des vorher genannten); S. POP in Dacor V I I (1931/32), S. 55-61; derselbe in RLiR I X (1933), S. 86FF. ; derselbe, La dialectologie . . ., S. 709FÏ. ; E. PETROVICI in D a c o r X (1941), S. 120FF.

Aus den Titeln einiger der hier aufgezählten Aufsätze ergibt sich, daß der A L R auch für andere sprachwissenschaftliche Bereiche Bedeutnug besitzt (für das Ungarische, das Türkische, das Slawische) auf Grund der entsprechenden alloglottischen Elemente, die es im Rumänischen gibt. Auf das Problem wurde u. a.

Andere Sprachatlanten

301

auf dem 4. Internationalen Slawistenkongreß (Moskau 1958) in dem Vortrag der sowjetischen Mundartforscher R . I . AVANESOV und S . B . BERNSTEIN hingewiesen (s. Kongreßakten S. 23-24). Sprachgeographische Studien, die auf dem tatsächlichen im Atlas niedergelegten Material beruhen, liegen verhältnismäßig wenige vor. Hierzu seien die mir bekannten Titel genannt: S. POP in Dacor VII (1931/32), S. 61-95 (über den Untergang der alten Verwaltungsausdrücke und über a fàrîma „zerbröckeln" und seine Synonyme); S. P O P - E . PETROVICI, ebenda, S. 95—101 (minä „Hand" mit den Pluralformen); S. Popin RLiR I X (1933), S. 114ff. (über päresimi „Fasten"); derselbe, Sinonimele cuvîntului ,,tîrg" în lumina geografiei lingvistice in: RGR I (1938), S. 45ff. ; derselbe, Problèmes de géographie linguistique. Quelques termes de la vie pastorale d'après l'Atlas linguistique roumain in: R E I I (1938), S. 69ff. ; derselbe, Le più importanti feste presso i Romeni, ebenda, S. 481ff.; IOBGTT IORDAN, Les dénominations du „crâne" d'après l'Atlas linguistique roumain (I, Karte 7) in: B L VIII (1940), S. 95ff.; B. CAZACU, Les dénominations roumains du foie et des poumons d'après l'ALR, ebenda I X (1941), S. 83ff. ; MARIUS SALA, Termenii pentru „unchi" dupä Atlasul lingvistic romîn in: SCL VI (1955), S. 133ff. ; derselbe, Din terminologia pästoreascä romîneascâ: rom. vätui, cîrtan, noaten in: SCL V I I I (1957), S. 77ff., derselbe, Note semantice, ebenda, S. 239ff. ; derselbe, Asupra unei nota^ii din ALR, ebenda, S. 369ff.; derselbe, In legäturä eu raportul dintre evolufia apelativelor çi a toponimicelor, ebenda I X (1958), S. 337ff. (nochmals in veränderter Form veröffentlicht in Contributions onomastiques publiées à l'occasion du VT-e Congrès international des sciences onomastiques à Munich du 24 au 28 août 1958, Bucuresti 1958, S. 65ff.); derselbe, Autour de l'Atlas Linguistique Roumain, nouvelle série in: RLiR X X I I (1958), S. 32ff. ; derselbe, In legäturä eu denumirea porumbului în limba romînâ in : Foneticä çi dialectologie I, Bucuresti 1958, S. 181 ff. Ehe ich diesen Abschnitt abschließe, möchte ich noch erwähnen, daß gegenwärtig der Plan besteht, einen neuen rumänischen Sprachatlas mit einem dichteren Netz und einem besseren Questionnaire aufzustellen (s. M. SALA, Discutarea proiectului noului atlas lingvistic romînesc pe regiuni (NALR) in: LR VII (1958), Nr. 3, S. 92ff. ; und derselbe in SCL I X [1958], S. 284-285). Im Hinblick auf die Schaffung eines Phonogrammarchivs der rumänischen Sprache (d. h. einer systematischen Sammlung von Dialekttexten, die auf Tonbändern aufgenommen wurden) sind schon entsprechende Arbeiten unternommen worden (s. V. ÇUTETT, Arhiva fonogramicä a limbii romîne in: Foneticä çi dialectologie I (1958), S. 211 ff. ; und derselbe, Primele inregisträri de texte dialectale pentru arhiva fonogramicä a limbii romîne in: LR (1958), Nr. 3, S. 92ff. Andere Sprachatlanten Die durch die ersten Sprachatlanten erzielten Erfolge und die theoretischen Ergebnisse der Studien, die auf dem in den Atlanten niedergelegten Material beruhten, wirkten sich sehr anregend aus, so daß der Gedanke, ähnliche Werke

302

Kapitel III. Sprachgeographie

zu verfassen, von zahlreichen Fachleuten in all den Ländern der Welt aufgegriffen wurde, wo die Sprachwissenschaft ein so hohes Entwicklungsniveau erreicht hatte, daß den Anforderungen derartiger Arbeiten entsprochen werden konnte. Es gibt wohl kaum ein europäisches Land, in dem nicht Sprachatlanten geplant oder nach dem Vorbild der oben analysierten geschaffen wurden, natürlich mit den Veränderungen, die sich aus den spezifischen Bedingungen jeder untersuchten Sprache zwangsläufig ergeben. Ähnlich ist die Lage bei einigen Ländern in den anderen Erdteilen. Ich halte es nicht f ü r erforderlich, umfangreiche Informationen über fast schon fertiggestellte Atlanten zu geben. Auch verfüge ich bei den meisten von ihnen nicht über die notwendigen Angaben. Dennoch haben einige Einzelheiten dadurch Interesse, weil aus ihnen ersichtlich ist, wie verbreitet die Beschäftigung mit den Sprachatlanten und der Sprachgeographie im allgemeinen ist und welche Neuerungen vorgeschlagen oder auch realisiert wurden im Hinblick auf die Vervollkommnung der Methoden der Exploration und Forschung. Abgesehen von einigen weniger bedeutenden Atlanten, waren im Jahre 1933 13 Atlanten veröffentlicht oder gerade dabei, veröffentlicht zu werden, und 16 befanden sich in Vorbereitung (s. J o s . S C H E U N E N , Essai de bibliographie . . ., S. 18—19, und BALIt I [1933], S. 41). Jüngere Daten als diese finden wir in Actes du IV-e Congrès international de linguistes, Copenhague 1938, S. 177—178, S. 298ff. ; V-e Congrès international de linguistes. Résumés des communications, Bourges 1939; S. POP, La dialectologie . . ., Louvain 1950; A. KUHN, Romanische Philologie I. Die romanischen Sprachen, Bern 1951, S. lOOff. Die Notwendigkeit, die vergleichende Methode auch auf dem Gebiet der Sprachgeographie anzuwenden, führte zu der Idee, einige Atlanten anzufertigen, deren Ausdehnung das Territorium eines einzigen Landes überschreitet. Dies ist u. a. der Fall beim „Atlas der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Kanadas", von dem im Jahre 1939 der Einführungsband und der I. Band mit Karten (119 insgesamt) erschienen sind, bei dem allgemeinen slawischen Atlas (vgl. L. T E S N I È R E , bei J o s . SCHRIJNEN, op. cit., S. 83ff., und A. M E I L L E T - L . T E S N I È R E , Rapport sur l'activité de l'Atlas linguistique slave, vorgebracht auf dem Slawisten-Kongreß im Jahre 1934 in Warschau; R. I. AVANESOV-S. B. B E R N S T E I N , loc. cit.; G. MIHÄILÄ, Problemele atlasului comun al limbilor slave la IV-lea Congres al slavistilor [Moscova, 1 - 1 0 sept. 1958] in: SCL I X [1958], S. 537ff.) und bei einem Mittelmeeratlas (MIRKO DEANOVIÖ, Per un atlante e un dizionario delle voci mediterranee : s. ARo X X I [1937], S. 269ff.; und VRo I I I [1938], S. 315ff. ; derselbe, Intorno all'Atlante Linguistico Mediterraneo in: SRZ Nr. 3, 1957, S. 3ff.: Es handelt sich um alle Sprachen, die in den am Mittelmeer gelegenen Ländern Europas, Afrikas und Asiens gesprochen werden). Auch der Gedanke, einen ähnlichen Atlas für ganz Europa zu schaffen, wurde vorgebracht (vgl. W. P E S S L E R , Atlas der Wortgeographie von Europa — eine Notwendigkeit i n : Donum Natalicium Schrijnen, Nymwegen-Utrecht 1929, S. 69ff.), ja selbst f ü r den gesamten Erdball (dies auf dem ersten internationalen Sprachwissenschaftler-Kongreß in Den Haag 1928; vgl. A. M E I L L E T , Une enquête linguistique universelle in: BSL X X I X (1928/29),

Andere Sprachatlanten

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S. 77ff. In diesem Zusammenhang kann auch hier der Vorschlag von J. JUD erwähnt werden, einen toponomastischen Atlas der Romania zu schaffen, auf dessen Karten die toponomastischen Areale mit den für jeden charakteristischen toponomastischen Bezeichnungstypen angegeben wären (s. Donum Natalicium Carolo Jaberg . . ., Zürich 1937, S. 170). Schließlich soll noch der Sprachatlas der russischen Mundarten genannt werden, dem das phonologische Prinzip zugrunde liegt (s. d e n B a n d A r a a c

pyccKHX H a p o f l H u x r o B o p o B ijeHTpAJIBHUX oßjiacTefi K

BOCTOKy OT MOCKBH. BcTynHTejibHHe cTaTbH, cnpaBOiroie MaTepnajm H KOMMeHTapHH K KapTaM, NOFL p e f l a K i j n e ö P . H . A ß a H e c o B a , M o c K B a 1957.)

Von den romanischen Atlanten, die abgeschlossen wurden und in neuerer Zeit erschienen sind, verdient der von Korsika kurz erörtert zu werden, der von G. BOTTIGLIONI ausgearbeitet wurde: Atlante liriguistico-etnograföco italiano delle Corsica, 10 Bände (2000 Karten), Pisa 1933—1942, zuzüglich 2 Bände, von denen der eine betitelt ist Introduzione, Pisa 1935, der andere Disegni di G. Colucci, Pisa, 1935. Das Interessante an diesem Werk liegt in seinen sehr kühnen Neuerungen methodologischer Art, die von seinem Verfasser erdacht und angewandt wurden. Das Questionnaire wird in erster Linie nur aus Sätzen gebildet. Das bedeutet, daß auch die erhaltenen Antworten Sätze sein müssen. BOTTIGLIONI ging von dem offensichtlich richtigen Gedanken aus, daß die Menschen beim Sprechen Sätze gebrauchen, nicht isolierte Wörter. Indem er sich völlig der sprachlichen Realität anpaßte, griff er auch auf die freie Konversation (also ohne Questionnaire) mit den Gewährsmännern zurück. Auf diese Weise erhöhte sich dieEchtheit des registrierten Sprechens: Die Menschen teilen ihre Gedanken und Gefühle nicht auf der Grundlage einiger vorher verfaßter Fragen mit, sondern auf Grund der objektiven Realität, in der sie sich im Moment des Gespräches befinden. Eine andere Neuerung; ist das Zulassen einiger „korrigierter" Antworten, d. h. das Zurückkommen des Befragten auf die anfängliche Antwort, und zwar deshalb, weil BOTTIGLIONI das allgemeine Sprechen registrieren will, nicht das individuelle des „ S u j e t " . Obgleich das explorierte Gebiet verhältnismäßig klein ist, wurden mehrere Exploratoren eingesetzt, für jedes Gebiet mit charakteristischen Aspekten je ein „Spezialist". Was das gesammelte ethnographische Material betrifft, so stützte sich BOTTIGLIONI nicht auf den Photoapparat, sondern auf das Talent eines Malers (vgl. den weiter oben erwähnten Band mit Zeichnungen von G. Colucci). Schließlich wäre noch hinzuzufügen, daß die Karten nach Sachgebieten gruppiert sind (insgesamt 20 Kapitel für die 2000 Karten des Atlasses). Von den romanischen Sprachatlanten, die in letzter Zeit erschienen sind, mögen hier folgende aufgeführt sein: Atlas linguistique et ethnographique du Lyonnaisv o n P . GAEDETTE i n Z u s a m m e n a r b e i t m i t P . DTJBDILLY, S. ESCOFFIER, H . GIBODET, M . GONON, A . - M . VUBPAS-GAELLABD, L y o n v o l . 1 1 9 5 0 , v o l . I I 1 9 5 2 1 , v o l . I I I 1

Die ersten beiden Bände dieses Atlasses wurden ausführlieh besprochen von K . JABERG in V R o X I I I (1953), S. 380FF. JABERG f a ß t p r ä g n a n t den C h a r a k t e r

und die Bedeutung dieses Werkes für die romanische Sprachwissenschaft wie folgt zusammen: „Der A L L bezieht sich auf den westlichen Flügel des Frankoprovenzalischen, der im Norden an das Französische, im Westen und Süden an das Pro-

304

Kapitel I I I . Sprachgeographie

1956 ; vgl. auch P. GARDETTE, L'Atlas linguistique et ethnographique du Lyonnais in: FM X I X (1951), S. 13ff. 1 Der wallonische Sprachatlas, der von J E A N H A U S T begonnen und von seinen Schülern fortgeführt wurde: Atlas linguistique de la Wallonie I : Introduction générale. Aspects phonétiques (100 cartes et notices), rédigé par L o u i s REMACLE, Liège 1953 2 ; I I I : Les phénomènes atmosphériques et les divisions du temps (70 cartes, 208 notices), rédigé par E L I S É E LEGROS, Liège 1955 ; vgl. L. REMACLE, L'Atlas linguistique de la France et l'Atlas linguistique de la Wallonie in : D B R V I I I (1951), S. 157 ff. Der Atlas linguistique et ethnographique la Gascogne par J E A N SÉGTXY. Collaborateurs principaux : J . A L L I È R E S , H . B E R N É S ,

1

2

venzalische grenzt. Seine Bedeutung liegt in erster Linie darin, daß er die bisher mehr auf die alpinen Gebiete ausgerichtete Forschung zum alten Ausstrahlungszentrum der frankoprovenzalischen Mundarten, zu Lyon, zurückführt und ihr neue Ausblicke nach Westen eröffnet. Besonderes Interesse erregt aber auch die Auseinandersetzung dieser eigenständigen westfrankoprovenzalischen Dialektgruppe, von der wir auch mittelalterliche Zeugen besitzen, mit zwei in Gegenwart oder Vergangenheit literarisch bedeutsamen Kultursprachen. Wir wohnen hier der Zersetzung und dem Abbau eines sprachlichen Sondergebildes bei, das, geographisch eingekeilt, von zwei mächtigen Gegnern erdrückt wird. — Das Kerngebiet des Gardette'sehen Atlasses, das von den Departementen Rhône und Loire gebildet wird, ist identisch mit der alten Grafschaft Lyonnais-Forez und entspricht noch heute der Diözese Lyon. Bs ist mit 44 Untersuchungsorten vertreten. Dazu kommen die in willkommener Weise zum Vergleich herbeigezogenen angrenzenden Departemente mit 31 P u n k t e n . Das dünne, in den Departementen Rhône und Loire nur acht Ortschaften umfassende Netz des A L F ist also u m das Fünfeinhalbfache verdichtet worden, eine Tatsache, die a n und f ü r sich die Wiederholung der Enquete rechtfertigt." P . GARDETTE ist u. a. noch der Verfasser der Arbeiten Géographie phonétique du Forez und É t u d e s de géographie morphologique sur les patois du Forez, die beide im J a h r e 1941 in Mâcon erschienen sind. D i e s e n B a n d r e z e n s i e r t e u . a . K . JABERG i n V R o X I I I (1953), S. 3 8 7 f f . JABERG

weist auf das sehr dichte Untersuchungsnetz gegenüber dem A L F hin. Während der A L F 23 wallonische P u n k t e verzeichnet, sind es auf dem A L W 300. Das Questionnaire des A L W h a t 2100 Fragen, die sich auf r u n d 4200 Wörter u n d Formen beziehen. JABERG stellt gegen Schluß seiner Besprechung den großen Wert der Regionalatlanten f ü r die Erforschung der gallo-romanischen Mundarten heraus: „Die drei zum Teil schon wirklichen oder der Verwirklichung sich nähernden Regionalatlanten französisch sprechender Länder, der lyonnesische, der wallonische und der gascognische, bedeuten zweifellos eine weit über die schon vorhandenen Dialektuntersuchungen u n d Wörterbücher hinausgehende und auf ihren Spezialgebieten den A L F übertreffende Bereicherung unserer Kenntnis der galloromanischen Mundarten. Der lyonnesische Atlas stößt ins Herz Frankreichs vor. Der gascognische stellt die Verbindung mit dem pyrenäischen Gebiet her. Der wallonische gilt einer geschichtlich und kulturell besonders wichtigen Grenzlandschaft zwischen der Romania und der Germania. Die Grenzlage gibt ihm eine über die internen Probleme hinausreichende internationale Bedeutung. Diese wird dadurch erhöht, daß der wallonische nicht n u r im französischen Sprachatlas seine Fortsetzung findet, sondern daß sich im Norden und im Osten der flämische, der holländische u n d der deutsche Atlas anschließen. So ergibt sich eine einzigartige Gelegenheit, Beziehungen und Kontraste zwischen kultursprachlich getrennten, aber kulturell vielfach verbundenen Gebieten zu studieren."

Andere Sprachatlanten

305

J.

BOTJZET, M. COMPANYS, M. FOTTENIÉ, TH. LALANNE, L. LAY, B. PBAT; Paria vol. I 1954, vol. I I 1956, vol. I I I 1958; s. J . SÉGUY, L'Atlas linguistique et ethnographique de la Gascogne i n : F M X I X (1951) S. 241 ff. V o n d e m Atlas linguistique

et etnographique du Massif Central de PAUL NAUTON erschien bisher Band I : Nature inanimée. Flore. Faune (animaux sauvages, animaux domestiques), avec c o m p l é m e n t s a n n e x e s e t croquis, Paris 1957; vgl. P. NATTTON, Atlas linguistique et

ethnographique du Massif Central. Domaine, réseau, questionnaire, but in : RLiR X X (1956), S. 41 ff.1 Hingewiesen sei auch noch auf TOMÁS NAVABBO, El español en Puerto Rico. Contribución a la geografía lingüistica hispanoamericana, Puerto 1

Besonderes I n t e r e s s e b e a n s p r u c h t hinsichtlich des Verhältnisses des A L F zu d e n n e u e n t s t a n d e n e n regionalen S p r a c h a t l a n t e n des französischen Sprachgebietes der t i e f s c h ü r f e n d e u n d zugleich m e t h o d i s c h sehr wichtige A u f s a t z v o n K . J A B E R G , G r o ß r ä u m i g e u n d k l e i n r ä u m i g e S p r a c h a t l a n t e n i n : V R o X I V (1955), S. l f f . U n t e r g r o ß r ä u m i g e n A t l a n t e n v e r s t e h t der b e r ü h m t e Schweizer F o r s c h e r A t l a n t e n v o n der A r t des französischen, italienischen u n d r u m ä n i s c h e n Atlasses, w ä h r e n d er bei k l e i n r ä u m i g e n solche A t l a n t e n m e i n t wie d e n katalonischen, korsischen, lyonnesischen, gascognischen u n d wallonischen. J A B E R G s c h r e i b t : „ E i n G r o ß a t l a s (Nat i o n a l a t l a s ) ist die k a r t o g r a p h i s c h e P r o j e k t i o n der m u n d a r t l i c h e n E i g e n t ü m lichkeiten eines L a n d e s o d e r eines b e t r ä c h t l i c h e n Teiles eines solchen, welche normalerweise die zu d e r s e l b e n G e m e i n s p r a c h e g e h ö r e n d e n Gebiete u m f a ß t . " (S. 5) D e r R e g i o n a l a t l a s d a g e g e n ist „ d i e k a r t o g r a p h i s c h e D a r s t e l l u n g eines m e h r o d e r weniger geschlossenen M u n d a r t g e b i e t e s , d a s sich d u r c h die K o m b i n a t i o n t y p i s c h e r sprachlicher E i g e n h e i t e n v o n d e n N a c h b a r m u n d a r t e n a b h e b t " (S. 7). D e r e r s t e T y p u s soll die g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h ä n g e d e u t l i c h m a c h e n . E r ist also n i c h t auf Vollständigkeit, auf d a s E r f a s s e n aller N u a n c e n , besonders i m l a u t l i c h e n Bereich, a u s g e r i c h t e t . N u r d a s W e s e n t l i c h e u n d d a m i t T y p i s c h e wird e r f a ß t . Die s p r a c h l i c h e S t r u k t u r eines L a n d e s soll sich s i c h t b a r a b z e i c h n e n . D i e s e m „skizzenh a f t e n k a r t o g r a p h i s c h e n I n v e n t a r des G r o ß a t l a s s e s s t e h t die detaillierte Bes t a n d s a u f n a h m e des K l e i n a t l a s s e s gegenüber, die in e i n e m v e r d i c h t e t e n N e t z v o n B e o b a c h t u n g s p u n k t e n i h r e n ä u ß e r e n A u s d r u c k findet" (S. 7). Dieser l e t z t e r e T y p u s v e r s u c h t also die f e i n s t e n m u n d a r t l i c h e n T ö n u n g e n g e n a u festzustellen u n d zu lokalisieren. W ä h r e n d d e r G r o ß a t l a s d a s Allgemeine herausstellt u n d eine n a t i o n a l e K u l t u r v o r a u s s s t z t , ist f ü r d e n R e g i o n a l a t l a s d a s Besondere einer P r o v i n z die wesentliche V o r a u s s e t z u n g . K . J A B E R G w e n d e t sich m i t dieser C h a r a k t e r i s t i k v o r allem gegen d i e F o r s c h e r , welche die regionalen A t l a n t e n gegen d e n A L F ausspielen wollen u n d d a b e i d e n g r u n d s ä t z l i c h e n U n t e r s c h i e d zwischen diesen b e i d e n sich e r g ä n z e n d e n T y p e n u n b e r ü c k s i c h t i g t lassen. Zugleich kritisiert er D A U Z A T S P l a n , n a c h der A u f s t e l l u n g regionaler A t l a n t e n diese zu e i n e m einheitlichen nation a l e n A t l a s zu verschmelzen, weil dieser französische F o r s c h e r k e i n e n prinzipiellen U n t e r s c h i e d zwischen der Zielstellung der g r o ß r ä u m i g e n A t l a n t e n u n d der regionalen k l e i n r ä u m i g e n A l t a n t e n m a c h t . K . J A B E R G folgert d a h e r : „ D e r P l a n v o n D a u z a t leidet a n einer organisatorischen c o n t r a d i c t i o in a d j e c t o . W e i t g e h e n d e Dezentralis i e r u n g der M a t e r i a l s a m m l u n g u n d K o o r d i n a t i o n ihrer Ergebnisse in einem einheitlichen k a r t o g r a p h i s c h e n G e s a m t w e r k v e r t r a g e n sich n i c h t . E i n e einheitliche u n d lückenlose E r f a s s u n g u n d D a r s t e l l u n g w e i t a u s g e d e h n t e r u n d s t a r k differenz i e r t e r Gebiete ist n u r d e n G r o ß a t l a n t e n v o m Gilliéronschen T y p möglich, u n d d a r i n liegt t r o t z all ihren U n v o l l k o m m e n h e i t e n ihre B e r e c h t i g u n g . Soll d a r u m d e r P l a n v o n D a u z a t in B a u s c h u n d Bogen v e r w o r f e n w e r d e n ? Keineswegs. M a n beh a l t e , was d a r a n G u t e s ist. J e d e r n e u e R e g i o n a l a t l a s ist der F o r s c h u n g willkomm e n ; aber m a n versuche nicht, zusammenzuleimen, was nicht z u s a m m e n p a ß t . " (S. 50)

306

Kapitel III.

Sprachgeographie

Rico 1948, und auf die Darlegung v o n M A N U E L A L V A E , El atlas lingüístico-etnográfico de Andalucía in der Sammlung Publicaciones del Atlas lingüístico de Andalucía, t o m o I número 4, Granada 1959. 1 Gegenwärtig wird an einem Sprachatlas für K o l u m b i e n 2 gearbeitet (s. TOMÁS B U E S A OLIVER y L u i s FLÓREZ, EI Atlas Lingüístico-Etnográfíco de Columbia (ALEC), Cuestionario preliminar in: Thesaurus X [1954], S. 147ÍT.), an einem für die Iberische Halbinsel (s. MANUEL. SANCHIS G U A R N E E , LORENZO RODRÍGUEZ-CASTELLANO, A N Í B A L OTERO ÁLVAREZ,

L u í s F . L I N D L E Y CINTBA, El Atlas lingüístico de la Península Ibérica. Trabajos, problemas y métodos in: I X Congresso Internacional de Lingüística Románica, Lisboa 31 de Marcjo - 4 de Abril 1959. Programas, Lisboa 1959, S. 8 7 - 8 8 ) 3 und an einem neuen katalanischen Sprachatlas (s. A . M. BADÍA-MARGARIT, G . COLÓN, M A N U E L COMPANYS, J. V E N Y CLAR, Atlas linguístic del Domini Catalä, ebenda, S. 31). 4

Weitere Anwendungen der Sprachgeographie Die Prinzipien und die Verfahren der von GILLIÉRON geschaffenen Disziplin wurden auch in einigen Bereichen angewandt, an die ihr Autor niemals gedacht, hatte. Wir sahen, daß die Sprachgeographie sich mit den lebenden Volksmundarten beschäftigt, wie es auch nicht anders sein konnte, da die Materialsammlung durch die Enquete an Ort und Stelle erfolgte. Außerdem ist es u. a. das Ziel der Atlanten, uns den Zustand der in einem gegebenen Moment gesprochenen Sprache aufzuzeigen. Deshalb interessierte sich GILLIÉRON so wenig für die vorangehenden 1 2

3 4

Vgl. auch Las encuestas del „Atlas lingüístico de A n d a l u c í a " , G r a n a d a 1955, v o n demselben Autor. Mit einem außergewöhnlich reichen Questionnaire (8065 F r a g e n , von denen sich 7299 auf den Wortschatz beziehen u n d in 21 K a p i t e l gruppiert sind; 437 h a b e n Bezug auf spezielle lautliche Probleme; 154 stehen in V e r b i n d u n g mit verschiedenen morphologischen F r a g e n ; 78 beziehen sich auf syntaktische Probleme). Das Questionnaire h a t auch einen volkskundlichen A n h a n g . Die Gewährsleute werden dazu gebracht, d a ß sie b e k a n n t e r e R o m a n z e n rezitieren oder eventuell auch singen. Vgl. auch L. R O D R Í G U E Z CASTELLANO, E l Atlas lingüístico de la Península Ibérica (ALPI) i n : Archivum I I (1952), S. 288ff. Weil etwas weiter oben eine Anzahl von regionalen S p r a c h a t l a n t e n zitiert worden ist, scheint es mir in bezug auf die Aufstellung von Questionnaires f ü r die Explorierung der entsprechenden Dialekte nützlich, darauf hinzuweisen, d a ß ziemlich viel gegen diese A r t von Atlanten vorgebracht worden ist. A. DAUZAT z. B. ging von dem Questionnaire G I L L I É R O N S aus, indem er es wenig v e r ä n d e r t e (einige Fragen wurden ausgelassen, andere hinzugefügt). Die meisten Forscher h a b e n die Ansicht vertreten, daß andere Questionnaires aufzustellen seien. Doch a u c h u n t e r ihnen gibt es Unterschiede. E s erhebt sich die Frage, ob es g u t ist, ein einziges Questionnaire f ü r alle Gebiete derselben Sprache zu benützen (diese Lösung bietet den Vorteil, d a ß zwischen den explorierten Gebieten Vergleiche angestellt werden können) oder je ein spezielles Questionnaire f ü r jedes Gebiet oder schließlich ein Questionnaire, das den Besonderheiten des Lebens der entsprechenden Gebiete a n g e p a ß t ist. Vgl. den Aufsatz von P . G A R D E T T E in Bulletin de la Faculté d e s Lettres de Strasbourg X X X V (1957), S. 253ff.

Weitere Anwendungen der Sprachgeographie

307

Phasen der Sprachen und Dialekte in Frankreich. Der historische Gesichtspunkt t r a t nicht in seinen Gesichtskreis, weil er in GILLIÉRONS Tätigkeit keine Bedeutung hatte. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß bestimmte Linguisten daran dachten, auch die vergangenen Epochen einer Sprache sprachgeographisch zu erfassen mittels der Texte und der Angaben, die wir eventuell in grammatischen Abhandlungen und ähnlichen Werken hinsichtlich der geographischen Verbreitung einiger sprachlicher Erscheinungen finden. Dieser Gedanke entstand, wie zu erwarten war, im Kopfe von Gelehrten, die sich mit toten Sprachen beschäftigten (mit dem Altgriechischen, dem Lateinischen u. a.), aber er gewann auch einige von den anderen Sprachwissenschaftlern für sich. Es scheint (s. Dacor IV [1924—26], S. 1264), daß der erste klassische Philologe, der die sprachgeographischen Methoden auf das Studium der alten Sprachen anzuwenden versucht hat, Jos. S C H R I J N E N gewesen ist in seinem Aufsatz Italische Dialektgeographie in : Neophilologus VII (1921/22), S. 223ff. : Es handelt sich um die Herkunft und Verbreitung einiger lautlicher Erscheinungen des Lateinischen (und zwar p, dem qu entspricht, / — b, h — f und / — h). Dann haben wir noch einen anderen Holländer, R E I N VAN D E E V E L D E , in dessen Arbeit Thessalische Dialektgeographie, Nijmegen-Utrecht 1 9 2 4 , der Einfluß gezeigt wird, den der altgriechische Dialekt Thessaliens seitens der benachbarten Mundarten erfuhr. Ich kenne diese Schrift nur aus den Rezensionen von T H . C A P I D A N in Dacor IV, S. 1264ff.; und von A. MEILLET in BSL XXV ( 1 9 2 5 ) , S. 7 6 . Die Ansicht MEILLETS verdient, erwähnt zu werden. MEILLET ist nicht nur ein großer Indogermanist, sondern er beweist auch tiefes Verständnis für die Sprachgeographie: ,,Ce n'est pas la forme de l'exposition qui est l'essentiel en géographie linguistique, c'est l'enquête portant d'une manière égale sur toutes les parties du domaine et sur toutes les questions posées qui aboutit à fournir des données immédiatement comparables entre elles." Somit hätten wir es mit einem verfehlten Versuch zu tun, genauer gesagt, der Gedanke selbst, die alten Sprachen mit Hilfe der geographischen Methode zu studieren, muß als abwegig betrachtet werden. 1 Nicht alle Indogermanisten indessen scheinen der Meinung MEILLETS zu sein. So verlangt H. G Ü N T E B T in WS X I I ( 1 9 2 9 ) , S. 3 9 0 , daß eine „historische Lautgeographie" geschaffen werden solle, um auch die geographische Verbreitung der lautlichen Erscheinungen in der Vergangenheit zu verfolgen. In der Zeitschrift Glotta X V I I I ( 1 9 3 0 ) , S. 6 7 ff., veröffentlichte E R I K A KRETSCHMER eine Studie, die den Titel trägt Beiträge zur Wortgeographie der altgriechischen Dialekte. Vgl. auch H. SKÖLD, Beiträge zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft I. Sprachgeographie und Indogermanistik, Lund 1 9 3 1 , S. 4ff. ; V. P I S A N I , Geolinguistica e indoeuropeo in: MANL, Classe di scienze morali, storiche filologiche, anno CCCXXXVI, serie VI, vol. IX, fase. II, S. 113-379. Von den Romanisten, die verlangen, daß die Sprachgeographie sich auch mit den vorangehenden Phasen einer Sprache beschäftigen solle, können hier aufgeführt werden: 0 . D E N S U S I A N U , der in GS I I ( 1 9 2 5 / 2 6 ) , S. 1 8 4 , folgendes schreibt: „Es wäre gleichzeitig zu wünschen, daß auch Sprachatlanten für die Vergangenheit, 1

Vgl. auch M. BARTOLI, Introduzione alla Neolinguistica, Ginevra 1925, S. 91.

308

K a p i t e l I I I . Sprachgeographie

historische Atlanten also, veröffentlicht würden, welche die mundartlichen von heute auch in dem Maße ergänzen würden, in dem sie nach den Texten v o n einst gebildet werden könnten, die durch eine rigorose Kritik ausgewählt worden sind — aber diese Atlanten sind Desiderata, die noch Zeit brauchen, um erfüllt zu werden." 1 L. G A L D I (Problemi di geografia linguistxca nel rumeno del Settecento, R o m a 1938), der, indem er sich auf einige Ansichten v o n B. T E B B A C I N I stützt, die Meinung vertritt, daß jedes Entwicklungsstadium einer Sprache mit Hilfe der sprachgeographischen Methoden studiert werden könne.

Die volkskundliche Geographie Viel interessanter, wenigstens für unser Fach, ist der Versuch R. M E N É N D E Z 2 , die geographische Methode auf das Studium der Volkspoesie anzuwenden. Deshalb werde ich hier ziemlich ausführlich eine Zusammenfassung seiner Arbeit Sobre geografia folklórica. Ensayo de un método (mit 3 Karten) geben, die verPIDÁIS

1

a

E s ist leicht ersichtlich, d a ß D E N S U S I A N U a n etwas d e n k t , das völlig von dem verschieden ist, das J T J D in seiner Arbeit Probleme der altromanischen Wortgeographie (vgl. vorliegendes Kapitel, S. 255) erörtert. Dieser studiert vom geographischen Gesichtspunkt aus b e s t i m m t e lexikalische Probleme hinsichtlich der F r ü h epoche der romanischen Sprachen, während der rumänische Gelehrte fordert, d a ß ein Sprachatlas f ü r die vergangenen Zeiträume n a c h d e m Vorbild der Dialekt a t l a n t e n angefertigt werden soll, die auf den vorangehenden Seiten behandelt worden sind. Dieser spanische Gelehrte (geb. 1869) gehört zu den b e d e u t e n d s t e n Forschern auf dem Gebiet der Romanistik. D a v o n zeugen nicht n u r die ihm gewidmeten stattlichen Festschriften H o m e n a j e ofrecido a R a m ó n Menéndez Pidal, Madrid 1925 (3 Bände), u n d Estudios dedicados a R a m ó n Menéndez Pidal, Madrid 1950 (6 Bände), sondern vor allem sein äußerst umfangreiches u n d vielfältiges Gesamtwerk. E s gibt k a u m grundlegende F r a g e n der Hispanistik, zu denen M E N É N D E Z P I D A L nicht Stellung genommen oder die er nicht selbst in tiefdringender Weise behandelt u n d einer Lösung zugeführt h a t . W i e selten bei einem anderen Forscher verbinden sich bei ihm der Linguist, der Philologe, der Literaturwissenschaftler u n d der Historiker. Seine Orígenes del español bedeuten eine entscheidende W e n d e in der Erforschung der sprachgeschichtlichen Verhältnisse auf der P y r e n ä e n h a l b insel. Seine dreibändige Ausgabe des Cantar de Mio Cid. Texto, Gramática y Vocabulario, Madrid 1908—1911, sowie sein Manual de Gramática Histórica Española (1. Auflage Madrid 1904) sind f ü r das S t u d i u m des Altspanischen unentbehrlich. Auch zu den vorrömischen S u b s t r a t f r a g e n im Mittelmeerraum sprach er ein gewichtiges W o r t (vgl. u. a. Sobre el s u b s t r a t o mediterráneo occidental i n : Z R P h L I X (1939), S. 189ff.; Sufijos átonos en el Mediterráneo occidental i n : N R F H V I I (1953), S. 34ff., sowie den Sammelband Toponimia prerrománica, Madrid 1952). Entscheidende B e d e u t u n g k o m m t a u c h den Forschungen M E N É N D E Z P I D A L S über die mittelalterliche E p i k u n d über die spanische L i t e r a t u r des Mittelalters zu. Vgl. u. a. L a E s p a ñ a del Cid, Madrid 1929; Chanson de Roland, Madrid 1959, sowie L a primitiva poesía lírica española, Madrid 1919; Poesía á r a b e y poesía europea, H a b a n a 1937. A u ß e r d e m sei verwiesen auf das mehrbändige Sammelwerk E s p a ñ a y su historia, Madrid 1957ff.

Die volkskundliche Geographie

309

öffentlicht wurde in R F E VII (1920), S. 229ff. 1 Vor allem erscheint mir der praktische Teil dieses Unternehmens sehr gelungen und der Nachahmung wert. Nachdem P I D A L gezeigt hat, daß zwischen den verschiedenen geistigen Produkten einer menschlichen Gemeinschaft, speziell zwischen der Sprache und der traditionellen Dichtung 2 , eine enge Verbindung vorhanden ist, gibt er der Überzeugung Ausdruck, daß die bei den linguistischen Studien angewandten Methoden ebenso gut bei den volkskundlichen Forschungen gebraucht werden können. Die Sprachgeographie, die so glänzende Ergebnisse erzielt hat, muß auch dann denselben Erfolg haben, wenn ihre Methode in der volkskundlichen Geographie angewandt wird. Das von M E N ^ N D E Z P I D A L benutzte Verfahren, das einzig mögliche auf diesem Gebiet, ist folgendes: Er sammelte die einzelnen Varianten einer Romanze, betrachtete jede gesondert, unabhängig von den anderen, und dann verfolgte er sie nach dem Gesichtspunkt ihrer geographischen Verbreitung. Um die Richtigkeit seines Verfahrens so überzeugend wie nur möglich zu beweisen, sammelte M E N £ N D E Z P I D A L zwei Romanzen, die, wie wir später sehen werden, innig miteinander verbunden sind, und zwar Gerineldo und La boda estorbada. Für die erstere hatte er Varianten aus allen Gegenden der Iberischen Halbinsel zur Verfügung (nicht nur aus Asturien, Portugal, Andalusien, Estremadura und Katalonien wie M. MENJSNDEZ y PELAYO), dann Varianten aus Amerika (nur wenige) und von den Judenspaniern aus Marokko und dem Orient. Gegenüber zwei alten schriftlich fixierten Versionen (aus dem 16. Jahrhundert) stellte MENISNDEZ P I D A L 164 moderne mündliche Versionen fest, von denen einige unvollständig waren. Indem er sie bis in die kleinsten Einzelheiten untersuchte, gelangte er zu folgenden Ergebnissen: Zwischen der schriftlichen und der mündlichen Tradition dieser Romanze sind die Berührungspunkte kaum zu bemerken. Die zwei Varianten, die auffliegenden Blättern im 16. Jahrhundert gedruckt und natürlich vom Volk gelesen worden waren, nennen die Heldin der Romanze Enilda; 1

2

Diese Studie wurde wieder abgedruckt, zusammen mit der von DIBGO CATALA.IT und ÄLVABO GALMKS, die ein ähnliches T h e m a behandelt, in dem B a n d Como vive un romance. Dos ensayos sobre tradicionalidad, Madrid 1954. W a s PIDAL unter dieser Bezeichnung versteht, die der Volksdichtung gegenübergesetzt wird, sagt er uns selbst in R F E I I I (1916), S. 270ff. Hier kurz seine E r klärungen: Die Volksdichtung umfaßt alle dichterischen Produkte, die für das Volk oder eine Gemeinschaft im allgemeinen geschrieben worden sind und die, wenn sie im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren, u m von neuem dem Geschmack des Publikums angepaßt zu werden, nur schriftlich und von einer einzigen Person verändert werden. Solche Veränderungen, die die Volksdichtung erfährt, sind persönlicher A r t und wenig üblich. I n diesem Sinne können als Werke der Volksdichtung nicht nur die mittelalterlichen Heldenepen in der A r t des P o e m a del Cid betrachtet werden oder die von Spielleuten rezitierten Romanzen und die Kunstromanzen (d. h. von gebildeten Autoren verfaßt), sondern sogar ein Schauspiel L o p e de Vegas. Die „traditionelle D i c h t u n g " wird vor allem gerade durch die unaufhörliche Veränderung charakterisiert, der sie inmitten und seitens der Gemeinschaft unterliegt. Obgleich anfangs auch individuell, wird sie mit der Zeit ein kollektives Werk, so daß sie sich völlig der Volksseele anpaßt. Deshalb kann gesagt werden, daß die traditionelle Dichtung v o m Volk ausgearbeitet wird.

310

Kapitel III. Sprachgeographie

von den modernen enthält keine diesen Namen. Auch das Geschehen unterscheidet sich von einer Gruppe zur anderen. Ferner wird der „ S u l t a n " der schriftlich fixierten Romanzen zum „König" in den mündlich überlieferten (mit Ausnahme der 4. und 5. Version, wo auch der „ S u l t a n " erscheint). Enilda wird dem Sultan in den geschriebenen Versionen zur F r a u gegeben, während in den mündlichen die Heldin als Tochter des Königs dargestellt wird. Die schriftlichen Versionen gehören zu zwei verschiedenen Gegenden: Nordwesten (wobei der wahrscheinliche Ausgangspunkt die Stadt Burgos ist) und Südosten (wahrscheinlich aus Sevilla). Das nordwestliche Gebiet ist heute relativ wenig ausgedehnt u n d beweist das Eindringen von südöstlichen Varianten. Vor dem 16. Jahrhundert war anscheinend das Kräfteverhältnis umgekehrt, weil damals Nordspanien mächtig den Süden beeinflußte. Die andere Romanze La boda estorbada weist keine alten schriftlichen Versionen auf, ist aber ebenso reich an mündlichen Varianten wie die vorhergehende. Es sind 165, von denen eine sehr unvollständig ist. Obgleich ziemlich einheitlich, können sie in zwei größere Gruppen geteilt werden: in eine nordwestliche und in eine südöstliche. Wie bei der Romanze Gerineldo umfaßt die erste Gruppe nicht mit den Norden Estremaduras, die Provinzen Salamanca, Zamora und Valladolid und den Süden der Provinz Burgos. Die Grenze dieses Gebietes wird von einer diagonalen Linie gebildet mit dem Zentrum in Sierra de Guadarrama, die die Halbinsel vom Nordosten zum Südwesten scheidet. Das südöstliche Gebiet erstreckt sich über ganz Andalusien, die Provinz Badajoz, ganz Neukastilien, Aragonien und das gesamte Mittelmeerbecken. Nachdem er das Alter dieser Romanzen, ihre Verbreitung u. a. eingehend untersucht hat, kommt M E N É N D E Z P I D A L zu dem Schluß, daß die Romanze zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert entstanden sein dürfte, wahrscheinlich unter dem Einfluß eines Liedes aus Norditalien. Weiterhin stellt M E N É N D E Z P I D A L fest, daß das südöstliche Gebiet die Einzelheiten vereinfacht und als Ausstrahlungsherd f ü r den Norden gedient hat, was auch heute beobachtet wird, und schließlich, daß der ursprüngliche Text nicht mit Sicherheit wiederhergestellt werden kann. Diese zwei Romanzen verschmolzen miteinander und ergaben die Romance de Gerineldo y Boda estorbada. P I D A L konstatiert von dieser Verschmelzung 66 Varianten, die sehr zahlreich im Süden Spaniens (Murcia, Andalusien) und in Marokko vertreten sind, aber wenig verbreitet in den übrigen Gebieten der Iberischen Halbinsel (und zwar in den Bergen der Provinz León und denen von Asturien). Eine derartige räumliche Verteilung zeigt, daß die neue Romanze im Süden entstand, von wo aus sie sich dann weiter verbreitet hat. Auch hier analysiert der Autor die Lebensbedingungen der zur Erörterung stehenden Dichtung für beide Gebiete. Sehr interessant sind die allgemeinen Schlußfolgerungen (S. 311 ff.), bei denen sich M E N É N D E Z P I D A L a u f h ä l t . Ich werde sie zusammenfassen und dabei die wichtigsten Punkte herausstellen. Wir sahen, daß es in allen Fällen zwei Hauptgebiete f ü r die Volksdichtung gibt: den Südosten und den Nordwesten Spaniens. Das erste Gebiet wird durch die Expansionskraft der poetischen Schöpfungen

Die volkskundliche Geographie

311

gekennzeichnet: Ihre Varianten umfassen ausgedehnte Gebiete, doch sie sind im allgemeinen wenig zahlreich. Das zweite Gebiet weist mehr Varianten auf, dagegen dringen südöstliche Schöpfungen ein.1 Im Innern jedes großen Gebietes können andere kleinere Varianten festgestellt werden. Diese haben ein weniger solides Fundament als die Hauptvarianten, die auf historischen Ereignissen fußen. Auf das geographische Element beim Studium der Volksdichtung wurde von 2 C . NIGRA und besonders von dem Pinnen J . K R O H N hingewiesen, aber es wurde nicht nach Gebühr beachtet. Man verlor die wesentliche Tatsache aus dem Gesichtskreis, daß ein volkstümliches poetisches Produkt nur in einem benachbarten Gebiet Verbreitung finden kann. Wenn wir es folglich in mehreren Orten finden, müssen wir es überall vergleichend verfolgen, um die ursprüngliche Version wieder herzustellen. Wie jedes Wort seine eigene Geschichte hat, muß auch hier für jede Variante aufgezeigt werden, unter welchen Bedingungen sie entstand, sich veränderte und sich ausbreitete. Die Parallele zwischen den sprachlichen Erscheinungen und den dichterischen Erzeugnissen geht noch weiter. Obgleich der Ursprung dieser Erzeugnisse individuell ist, spielen die gesellschaftlichen Umstände ebenso wie im Leben der sprachlichen Neuerungen eine entscheidende Rolle. Um sich ausbreiten zu können, haben sie das gesellschaftliche Milieu nötig, d. h. einen direkten beständigen Kontakt zwischen zwei benachbarten Gemeinden.3 Wenn wir eine Volksdichtung in einem Gebiet haben, das von anderen getrennt ist, die wir als Wiege der zur Erörterung stehenden dichterischen Schöpfung erachten, dann ist es offensichtlich, daß aus verschiedenen Gründen eine Unterbrechung des ursprünglichen Areals erfolgte, gerade wie bei den sprachlichen Erscheinungen: Diese Dichtung existierte einst auch in dem dazwischenliegenden Gebiet, aus dem sie dann mit der Zeit verschwand. MENISNDEZ P I D A L gebraucht den Ausdruck „Verbreitungswellen", gleich den „sprachlichen Wellen". 1

Die Richtung der Verbreitung der Volksliteratur ist folglich dem Weg entgegengesetz t, dem die sprachlichen Tatsachen folgen. Bekanntlich ist der Ausgangspunkt der sprachlichen Neuerungen Nordspanien gewesen, von wo aus der Einfluß sich nach dem Zentrum und nach dem Süden erstreckte. Die Ursache für diesen Unterschied ist historischer Natur: Die sprachlichen Veränderungen setzten sich mit und durch die sogenannte Reconquista (die Zurückeroberung der von den Mauren besetzten Gebiete) durch, die Romanzen dagegen verbreiteten sich vornehmlich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, als die literarische Betätigung des Südens über die des Nordens dominierte.

2

N a c h G. VIDOSSI (FI V I I I [1933], S. 224FF.) wurde die geographische Methode in

3

die volkskundlichen Forschungen von diesem finnischen Gelehrten eingeführt (vgl. u. a. dessen Arbeit Die folkloristische Arbeitsmethode, Oslo 1926). VIDOSSI selbst benützt diese Methode in seinem Aufsatz, wobei er die neolinguistischen Normen von BARTOLI auf das Studium der Folklore anwendet. Nur äußerst selten kann eine sprachliche Neuerung oder eine Volksdichtung durch eine Person allein übermittelt werden, die sich in einer anderen Gegend niederläßt. Dann aber muß diese Person sich außerordentlich großen Ansehens erfreuen, damit ihre sprachlichen oder dichterischen Schöpfungen von der gesamten gesellschaftlichen Gruppe übernommen werden.

21 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

312

Kapitel I I I . Sprachgeographie

„Es versteht sich, daß das Studium der volkskundlichen Geographie, ebenso wie das der Sprachgeographie, durch so genau beobachtete Analogien zu wissenschaftlichen Folgerungen über die Verbreitung der traditionellen Poesie führen kann." (loe. cit., S. 322.) Die in die Volkspoesie eingeführten Veränderungen sind das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen dem Gedächtnis und der Vorstellungsgabe des Rezitators. Die meisten berühren nur die Form, d. h. die Sprache der Dichtung, und haben eine Grenze, die die gesellschaftliche Umgebung auferlegt: Die Zuhörer kennen auch in der Gesamtheit oder teilweise die entsprechende Dichtung, andere wollen sie so hören, wie sie durch die Tradition überliefert worden ist, usw. Wie es im Sprachleben manchmal vorkommt, daß sogar ein einzelner Laut seine eigene Geschichte hat, die von der Geschichte desselben Lautes in anderen Wörtern verschieden ist, ebenso wird beobachtet, daß jeder Gedanke in einer Romanze, jeder Vers oder jede Versgruppe, durch die dieser Gedanke ausgedrückt wird, eine eigene Geschichte, eine geographische und chronologische Verbreitung aufweist, die von der der anderen Gedanken, der anderen Verse oder Versgruppen verschieden ist. Wie erklärt sich ein solcher Sachverhalt ? Nach einem Gebiet, wo eine bestimmte Romanze vollständig unbekannt ist, kann sie sich ausbreiten und dann unversehrt so erhalten bleiben wie in ihrem Ursprungsort. Wenn aber die Romanze schon in dem entsprechenden Gebiet im Umlauf ist, dann wird sie nur teilweise entlehnt werden, d. h. Gedanken, Motive usw. Somit verbreitet sich eine Dichtung anders als ihre Varianten. Die Versionen1 der Romanzen, die im Manuskript vorliegen oder im 15. und 16. Jahrhundert veröffentlicht wurden, sind derselben Art wie die, welche im 19. und 20. Jahrhundert gesammelt worden sind. Diese Feststellung, so sagt M E N É N D E Z P I D A L , muß ständig wiederholt werden, weil man auch heute noch meint, daß zwischen dem Text der alten Romanzen und dem Text jedes literarischen Werkes, dessen Autor bekannt ist, völlige Gleichheit bestehen würde. Nachdem er gezeigt hat, wodurch sich diese zwei Arten von dichterischen Schöpfungen unterscheiden, hebt M E N É N D E Z P I D A L die Übereinstimmungen zwischen den Romanzen des 15. und 16. Jahrhunderts und den gegenwärtigen bei der Übermittlung hervor. Dann geht er zu der Unterscheidung zwischen traditioneller Poesie und reiner Volkspoesie über. Die für das 1

In der Terminologie M E N É N D E Z P I D A L S bedeutet „Version" etwas anderes als „Variante". Bisher war eine genaue Unterscheidung nicht nötig, deshalb habe ich beide Ausdrücke so gebraucht, als wären sie Synonyme. Die „Version" ist die „vollständige oder teilweise Fassung einer Romanze, in der Gesamtheit genommen und sofern sie sich von den übrigen vollständigen Fassungen derselben unterscheidet". ( „ L a redacción completa o fragmentaria de im romance tomada en conjunto y en cuanto difiere de las demás redacciones totales del mismo.") „Variante" bedeutet „jede der Einzelheiten, aus denen sich eine Version zusammensetzt, sofern diese Einzelheit sich von den analogen Inhalten in den übrigen Versionen unterscheidet". („Cada uno de los pormenores de que se componen una versión, en cuanto ese pormenor difiere de los análogos contenidos en las demás versiones.")

Die volkskundliche Geographie

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Volk geschriebenen Romanzen werden von diesem aufgenommen; es wiederholt sie wörtlich, ohne sie mit den mündlich überlieferten Romanzen zu vermischen oder zu verwechseln. Eine traditionelle Dichtung wird von dem Volk assimiliert, das sie umarbeitet und von neuem erzeugt. Dadurch erlangt die traditionelle Dichtung einen Kollektivcharakter und unterscheidet sich folglich von der literarisch übermittelten Dichtung, die ihren individuellen Charakter bewahrt. Die von den Rezitatoren eingeführten Veränderungen haben etwas vom Wesen der gesellschaftlichen Bewegungen, weil jede Variante sich verbreitet und auf eine menschliche Gruppe mit einer irgendwie beständigen und endgültigen Ausdehnung einwirkt. 1 Die volkskundliche Geographie wird besonders in Deutschland und in der deutschsprachigen Schweiz sehr gepflegt. Der tätigste deutsche Fachmann in diesem neuen Forschungszweig scheint W. PESSLER ZU sein (bereits erwähnt in Verbindung mit der Sprachgeographie, S. 263). Einige Arbeiten von ihm sind: Der deutsche Volkskunde-Atlas in: GL (Beilage der Rheinischen Heimatsblätter), Bonn 1929, S. 75ff. ; Volkstumsgeographisches aus Niedersachsen auf Grund der Erhebungen des Volkskunde-Atlasses in: NZV I X (1931), Heft 1/2; Deutsche Volkstumsgeographie, Braunschweig 1931 (geographisches Studium der materiellen und geistigen Volkserzeugnisse) ; Die geographische Methode in der Volkskunde in: Anthropos XXVII (1932); Der deutsche Volkskunde-Atlas, bei Jos. S C H E U N E N , Essai de bibliographie de géographie linguistique générale, Nimègue 1933, S. 31 ff. Über die Tätigkeit PESSLERS auf dem Gebiet der volkskundlichen Geographie s. A. B A C H , Deutsche Mundartforschung, ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben, Heidelberg 1936, S. 99 ff. und S. 130ff. Andere Arbeiten dieser Art sind : T H . FRINGS, Volkskunde und Sprachgeographie, Berlin 1928; F . M A U R E R , Der Atlas der deutschen Volkskunde in: NGH VIII (1931), S . 2ff.; H. SCHLENGER, Methodische und technische Grundlagen des Atlas der deutschen Volkskunde, Berlin 1934; K A R L K A I S E R , Atlas der pommerschen Volkskunde. Textband und Kartenmappe, Greifswald 1936 ; R. W E I S S , Die geographische Methode in der Volkskunde, ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben. Eine Einführung, mit 18 Kartenbeilagen, Leipzig 1937; derselbe, Plan und Rechtfertigung eines Kartenwerks der schweizerischen Volkskunde in: VRo I I (1937), S. 136ff.; Atlas der deutschen Volkskunde, herausgegeben mit Unterstützung der deutschen Forschungsgemeinschaft von H . HARMJANZ und E. R Ö H R , Leipzig 1937 ; R. W E I S S , Bericht über den Atlas schweizerischer Volkskunde in: VRo IV (1939), S. 320ff. ; 1

MENÉNDEZ PIDAL veröffentlichte in R F E X X (1933), S. lff., die Studie Supervivencia del poema de Kudrun, die auf einer ähnlichen Konzeption und Methode fußt. Es handelt sich um das bekannte mittelhochdeutsche Gudrunlied, das in verschiedenen Formen (besonders in Balladenform) auch in anderen Ländern, dafuhter in Spanien, existierte. Der Autor verfolgt geographisch das Vorhandensein und die Verbreitung von Resten dieses Epos auf spanischem Sprachgebiet, wobei er u. a. zu dem Schluß kommt, daß es hier viel getreuer als in Deutschland bewahrt wurde. Diese Feststellung ist sehr interessant in Verbindung mit dem Verhältnis zwischen den sprachlichen und folkloristischen Tatsachen, weil es an die lateralen oder peripheren sprachlichen Areale BARTOLIS erinnert.

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Kapitel III. Sprachgeographie

R. HOTZENKÖCHERLE, Die schweizerischen Wörterbücher, Sprach- und Volkskunde-Atlanten, Zürich 1947, S. 27 ff.1 Es wäre noch hinzuzufügen, daß auf dem dritten internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß (Florenz, September 1933) eines der zur Diskussion stehenden Probleme die Beziehungen zwischen der Sprachwissenschaft und der Volkskunde war („die methodologischen Analogien zwischen der Geschichte der Sprachen und der Geschichte der volkstümlichen Traditionen, der bildenden Kunst usw."), und einige der Kongreßteilnehmer (BARTOLI, VIDOSSI, SCHRIJNEN) glichen vom methodologischen Gesichtspunkt aus die Sprache und die Volkskunde fast vollständig einander an (Areale, Chronologie, Gründe für die Neuerungen). S. Atti del I I I Congresso internazionale dei Linguisti, Firenze 1935, S. 409ff. ; und M . BARTOLI, Analogie di metodo fra la storia dei linguaggi e quella delle tradizioni popolari in : BALIt I (1933), S. 95ff. Auch einige rumänische Forscher behandelten ähnliche Probleme. So verlangte 0 . DENSTTSIANTT schon im Jahre 1920 (und auch später), daß im Hinblick auf die Schaffung eines Atlasses neben den sprachlichen Tatsachen auch die volkskundlichen studiert werden sollen (zusammen mit den ethnographischen), wie es aus den in AAR, Dezbateri, XL (1919/20), S. 154ff.; und XLIV (1923/24), S. 87; und in GS IV (1929/30), S. 188, veröffentlichten Rezensionen ersichtlich ist. D E N S U S I A N U verfolgt in Viea^a pästoreascä in poezia noasträ popularä, vol. II, Bucuresti 1923, S. 102-3, die Verbreitung der „Miorita". S. PUSCABITT dachte an einen speziellen Atlas für die Ethnographie und die Volkskunde, als er sich entschloß, den rumänischen Sprachatlas zu schaffen. So erklärt sich die Gründung eines „Archivs für Volkskunde" in Klausenburg unter den Auspizien der Rumänischen Akademie (vgl. AAF 1932ff.). Auch andere Linguisten von Klausenburg betätigten sich in dieser Richtung, z. B. G . GIUGLEA, Dacor V (1927/28), S. 534/35; und E. PETROVICI, Geografie lingvisticä si geografie muzicalä in: Transilvania L X X I I I (1942), S. 636ff. Die Neolinguistik In diesem Abschnitt soll die sogenannte neolinguistische Schule behandelt werden, deren Prinzipien und Methoden dargelegt sind in Breviario di neolinguistica: I. Principi generali di G. B E R T O N I , II. Criteri tecnici di M. G. BARTOLI, Modena 1925, und in Introduzione alla Neolinguistica, Ginevra 1925, von MATTEO BARTOLI. 2 Ich hatte bereits Gelegenheit, die Ideen BERTONIS über die Sprache 1

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Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das sehr sachkundige Handbuch des ehemaligen Hamburger Romanisten F. KRÜGER, Géographie des Traditions Populaires en France. Avec un Album de 22 figures, Mendoza 1950. Volkskunde erscheint hier eng mit der Richtung „Wörter und Sachen" verbunden, wobei vor allem auf die geographische Verbreitung geachtet wird. Vgl. auch andere Arbeiten von BARTOLI wie : La norma neolinguistica dell'area maggiore in: RFIC LVII (1929), S. 333ff.; Le norme neolinguistiche e la loro utilità per la storia dei linguaggi e dei costumi in : Atti della Società italiana per il progresso delle scienze, Roma 1933, S. 157ff.; La norma delle aree laterali in:

Die Neolinguistik

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im II. Kapitel vorliegenden Buches zu erörtern (S. 167 ff.), wo ich mich speziell mit seiner Arbeit Programma di filologia romanza coma scienza idealistica, Ginevra 1923, beschäftigt habe. Dort habe ich bereits gesagt, und ich wiederhole es, daß zwischen den im Programma. . . von B E R T O N I ausgedrückten Ideen und denen im Breviario ... keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Als ich von neuem die in beiden Büchern gegebenen Darlegungen prüfte, stellte ich in der Tat fest, daß derselbe Eklektizismus in dem einen wie auch in dem anderen herrscht : der Lehre B E B T O N I S liegen die Ideen W . V . H U M B O L D T S - CROCES - V O S S L E R S 1 , SCHUCHARDTS, GILLIÉRONS zugrunde, in bestimmten Mengen kombiniert, die, es ist richtig, vom Programma . . . zum Breviario . . . verschieden sind. So meine ich, daß in letzterer Arbeit VOSSLER fast völlig vernachlässigt ist. Ebenso sind einige Dinge eingeführt worden, die im ersten Buch fehlen (z. B. die Frage der Areale, der Ausstrahlungszentren usw., die eine so herausragende Rolle im System der Neolinguisten spielen). 2 Aber diese Veränderungen gaben der Lehre B E R T O N I S kein anderes Gesicht. Deshalb ist im Grunde die „Neolinguistik" im Breviario . . . mit dem „Idealismus" im Programma . . . identisch, und folglich habe ich nach meiner Ansicht das Recht, als wirklichen Neolinguisten nur BARTOLI zu betrachten. Diese Einstellung scheint mir um so gerechtfertigter, da die Grundlagen der Neolinguistik sich schon vor 50 Jahren in dem Aufsatz BARTOLIS finden Alle fonti del neolatino3 in: Miscellanea di studi in onore di Attilio Hortis, Trieste 1910, vol. II,

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BALIt I (1933), S. 28ff.; Der italienische Sprachatlas und die Arealnormen in: ZV X (1939), S. 68; Figure similari e norme spaziali in BALIt I I I (1942), S. lff.; vgl. auch bestimmte Präzisierungen, die er gelegentlich machte in SIFC, nuova serie VIII (1930), S. 21, Fußnote 4, und S. 22, Fußnote 4; in AGI X X I (1927), sezione neolatina, S. 2; in RFIC LVII (1929), S. 344; und LVIII (1939), S. 39, usw. Eine Anzahl von Aufsätzen B A R T O L I S , von denen einer bisher unveröffentlicht war, sind zusammengefaßt in dem Band Saggi di linguistica spaziale, Torino 1945. Diese stellt der Verfasser (im Vorwort, S. IX) als eine Art wissenschaftliches Testament dar, und zwar in dem Sinne, daß sie sein gesamtes Erbe auf dem Gebiet der methodologischen Grundsätze enthalten, die das Ergebnis seiner 50jährigen Erfahrung als Dialektologe und Linguist sind. Ich nehme alle drei zusammen, weil, wie wir sahen, die Ähnlichkeit zwischen ihren Ideen groß ist. Ich glaube, daß BEBTONT einige Konzessionen machen mußte, um seine Ideen mit denen B A R T O L I S in Übereinstimmung zu bringen, besonders weil der von beiden verfaßte kleine Band sich in erster Linie an Studenten wandte. Die Zusammenarbeit dieser zwei Philologen war von kurzer Dauer. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der italienische Sprachatlas, der von beiden gemeinsam in Angriff genommen worden war, nur von B A R T O L I fortgesetzt wurde. Auch darin sehe ich einen Grund, B E B T O N I nicht als Neolinguisten im Sinne BARTOLIS zu betrachten. B A R T O L I bringt hier bereits Ansichten vor, die fast genauso in der Introduzione wiederkommen, selbst was die Formulierung betrifft. Übrigens scheint es, daß der Autor dieses Buch damals schon geplant hatte, denn auf S. 899 in Miscellanea . . . lesen wir: ,,. . . queste pagine sono estratte da una prossima pubblicazione", und in der Fußnote auf derselben Seite: „Uscirà in uno dei fascicoli supplementi alla rivista del Gröber" ( = Beihefte zur ZRPh). Soviel ich weiß, erschien diese angekündigte Arbeit weder in dieser Sammlung noch woanders, und deshalb glaube ich, daß es die Introduzione selbst ist.

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Kapitel III.

Sprachgeographie

S. 889ff.; und auch die Ausdrücke „Neolinguist" und „Neolinguistik" 1 von BARTOLI selbst geprägt worden sind. Auch BARTOLI gibt sich als Eklektiker aus. In Introduzione . . . , S . V , sagt er klar, daß die neolinguistische Schule auf den von dem Atlas GILLIJSRONS suggerierten Ideen basiert und auf denen einiger Linguisten und Philosophen in und außerhalb Italiens. Im Verlauf der Erörterung finden wir, daß es vor allem W. v. HTTM1

I n der I n t r o d u z i o n e , S. Y, e r k l ä r t er u n s diesen A u s d r u c k wie f o l g t : „ D i e N a m e n ,Neolinguisten' u n d , J u n g g r a m m a t i k e r ' e n t s p r e c h e n sehr g u t d e n c h a r a k t e r i s t i schen M e r k m a l e n , die diese b e i d e n Schulen v o n e i n a n d e r u n t e r s c h e i d e n . W i e n o c h auf S. 49, 95ff. u n d 100 zu sehen sein w i r d , m e i n e n die J u n g g r a m m a t i k e r , d a ß zwischen d e n g r a m m a t i s c h e n S c h ö p f u n g e n oder N e u e r u n g e n einerseits u n d d e n n i c h t g r a m m a t i s c h e n a n d e r e r s e i t s ein t a t s ä c h l i c h e r U n t e r s c h i e d vorläge, w ä h r e n d die Neolinguisten n i c h t a n diesen U n t e r s c h i e d zwischen d e n verschiedenen sprachlichen S c h ö p f u n g e n g l a u b e n , seien es g r a m m a t i s c h e oder lexikalische, regelmäßige oder u n r e g e l m ä ß i g e , seien sie v o l k s t ü m l i c h e r o d e r gelehrter H e r k u n f t . " O h n e d a ß ich a u c h n u r einen Augenblick d a r a n denke, B A B T O L I ZU w i d e r s p r e c h e n — eine solche E i n s t e l l u n g g e g e n ü b e r d e m S c h ö p f e r des zur E r ö r t e r u n g s t e h e n d e n Ausd r u c k s h ä t t e a u c h k e i n e n Sinn —, e r a c h t e ich es f ü r a n g e b r a c h t zu zeigen, wie ich selbst die A u s d r ü c k e „ J u n g g r a m m a t i k e r " u n d „ N e o l i n g u i s t " v e r s t e h e . B e k a n n t lich w u r d e d e r e r s t e A u s d r u c k a n f a n g s s c h e r z h a f t g e b r a u c h t (s. K a p . I , S. 30), wahrscheinlich weil die „ L a u t g e s e t z e " , v o n d e n e n die J u n g g r a m m a t i k e r soviel A u f h e b e n s m a c h t e n , a n die zahlreichen u n d s t r e n g e n R e g e l n der G r a m m a t i k e r v o n einst e r i n n e r t e n . E s ist offensichtlich, d a ß diese B e z e i c h n u n g v o n e i n e m Gegner oder wenigstens v o n einem S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r k a m , der die Ü b e r t r e i b u n g e n der J u n g g r a m m a t i k e r e m p f a n d u n d in i h n e n eine A r t N a c h f o l g e der G r a m m a t i k e r v e r g a n g e n e r J a h r h u n d e r t e s a h . D e s h a l b n a n n t e m a n O S T H O F F , B E U G M A N N U. a. ironisch „ J u n g g r a m m a t i k e r " . Schließlich w u r d e a u s d e m S p o t t n a m e n ein w i s s e n s c h a f t l i c h a n e r k a n n t e r N a m e . Die V e r t r e t e r der e r s t e n Sprachwissens c h a f t l e r g e n e r a t i o n d a g e g e n (W. v. H U M B O L D T , B O P P , D I E Z U. a.) h a t t e n der Sprache g e g e n ü b e r eine f a s t ä h n l i c h e E i n s t e l l u n g g e h a b t , wie die m e i s t e n u n s e r e r g e g e n w ä r t i g e n G e n e r a t i o n sie h a b e n , d. h., sie h a t t e n e n t w e d e r n i c h t v o n Gesetzen gesprochen, oder sie ließen b e i m L a u t w a n d e l A u s n a h m e n gelten. Sie h a t t e n sich folglich v o n d e n „ G r a m m a t i k e r n " u n t e r s c h i e d e n , so d a ß diese F o r s c h e r „ L i n g u i s t e n " g e n a n n t w u r d e n (oder g e n a n n t w e r d e n k o n n t e n ) . Die Gegner der J u n g g r a m m a t i k e r , die sich v o n diesen b e s o n d e r s d a d u r c h u n t e r s c h e i d e n , d a ß sie sich gegen die sprachlichen Gesetze w e n d e n u n d so d e n L i n g u i s t e n v o r d e m J a h r e 1870 ä h n l i c h sind, w u r d e n g e r a d e deswegen als „ N e o l i n g u i s t e n " b e z e i c h n e t . Die sprachwissenschaftlichen S t u d i e n d u r c h l i e f e n somit vier P h a s e n , w a s die A u f f a s s u n g ü b e r die Gesetze b e t r i f f t : 1. die E p o c h e der G r a m m a t i k e r , 2. die d e r L i n g u i s t e n , 3. die der J u n g g r a m m a t i k e r , 4. die der Neolinguisten. Vgl. a u c h I n t r o d u z i o n e . . ., S. V, Zeile 17. E i n e a n d e r e E r k l ä r u n g , d i e sich a u c h v o n m e i n e r u n d d e r BABT O L I S u n t e r s c h e i d e t , g a b diesen zwei A u s d r ü c k e n F B . D ' O V I D I O in e i n e m a n A S C O L I g e r i c h t e t e n Brief, der erst 1931 in I t D V I I (1931), S. 28, v e r ö f f e n t l i c h t w u r d e . D ' O V I D I O s e t z t d e n J u n g g r a m m a t i k e r n die „ a l t e n G r a m m a t i k e r " entgegen, zu d e n e n er z. B . CTTBTITTS u n d S C H T T C H A B D T r e c h n e t . Die „ a l t e n G r a m m a t i k e r " w ä r e n somit dasselbe wie die „ L i n g u i s t e n " in m e i n e r Ausdrucksweise. D a n n a b e r b l e i b t der N a m e „ N e o l i n g u i s t " u n v e r s t ä n d l i c h , dessen „ n e o " e i n e m „ a l t " ents p r e c h e n u n d zugleich g e g e n ü b e r s t e h e n m u ß (und n a t ü r l i c h n i c h t e i n e m „ a l t e n G r a m m a t i k e r " , d e n n diesem w u r d e d e r „ J u n g g r a m m a t i k e r " gegenübergesetzt). Allerdings g a b es d a m a l s , als D ' O V I D I O die o b e n gegebene E r k l ä r u n g f o r m u l i e r t e , n o c h keine Neolinguistik.

Die Neolinguistik

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BOLDT, B. CKOCE, G. GENTILE, G. I . ASCOLI, H . SCHUCHARDT u n d W . MEYERLÜBKE sind. Dennoch hinterließ die aufmerksame Lektüre der Bücher BARTOLIS

bei mir den Eindruck, daß es sich in Wirklichkeit, nicht so verhält. Zunächst wird VOSSLER, der fast immer von HUMBOLDT und CROCE ausgeht, nicht nur im posi-

tiven Teil des neolinguistischen Systems beiseite gelassen, sondern er wird auch noch sehr ungünstig dargestellt. Auf S. 64 z. B. erscheint der deutsche Romanist (mit seiner gesamten Schule) als ein „Sprachphilosoph", der keine Ahnung von Sprachwissenschaft habe, verbunden — was richtig ist — mit der Schule GILLIISRONS, also den Neolinguisten, demnach ein Verbündeter BARTOLIS, von dem er aber verschont bleiben möchte. Von der idealistischen Philosophie (so nannte er die philosophischen Strömungen von CROCE und GENTILE) entlehnte BARTOLI den Gedanken, daß es nicht Wortschatz und Grammatik gibt, d. h. keine Unterscheidungen zwischen der Natur der Wörter und den grammatischen Formen, den Lauten usw.: Alle Elemente der Sprache seien in ihrem Wesen identisch und müßten infolgedessen auf dieselbe Art erklärt werden (vgl.Kap.IIdesvorliegendenBuches, aus dem ersichtlich ist, daß auch VOSSLER diesen Gesichtspunkt vertritt). Außerdem entnahm BARTOLI von CROCE die Auffassung über die Nachahmung: Einen fremden Laut nachahmen, d.h.nicht, ihn in gleicher Form zu reproduzieren, sondern ihn mit eigenen Mitteln von neuem zu schaffen; ebenso verhalte es sich mit den fremden Formen und Wörtern. (Auch VOSSLER vertritt diese Anschauung, s. weiter oben, S. 110.) Aber das, was das Wesen der Lehre CROCES bildet, nämlich die Identität zwischen Intuition und Ausdruck, d. h. zwischen Ästhetik und Linguistik, fehlt im System BARTOLIS. Von MEILLET übernahm er den Gedanken, wonach die sprachlichen Einflüsse sich dann durchsetzen, wenn sie von einem Volk oder einer gesellschaftlichen Gruppe kommen, die sich in den Augen der Nachahmer eines besonderen Ansehens erfreut. Dennoch muß folgendes festgestellt werden: Fast alle bis jetzt aufgezeigten Ansichten wirken gewöhnlich nur als Ornament am System BARTOLIS mit. Damit will ich sagen, daß sie mehr oder weniger eine sekundäre Rolle bei der praktischen Anwendung der neolinguistischen Lehre spielen. Deren Fundament bilden vor allem die Sprachgeographie, dann einige Ideen ASCOLIS. Von GILLIÄRON nahm er indessen nicht den wirklich neuen und originellen Teil, d. h., daß das Leben eines Wortes in die Tiefe verfolgt werden muß (Stratigraphie oder Sprachgeologie), und die Erklärungen, die für den Untergang der Wörter und deren Ersetzung durch andere gegeben werden (Homonymie, Kontamination, Volksetymologie u. a.), sondern nur den äußerlichen Teil, nämlich das, was wir im strengen Sinne des Wortes Sprachgeographie nennen können: die Verbreitung der sprachlichen Phänomene auf größeren oder kleineren Gebieten und die Festlegung des Ausgangspunktes der Neuerungen. 1 ASCOLI lieferte ihm die Mittel, mit denen die 1

B A B T O L I beschäftigt sich in erster Linie mit dem Problem der sprachlichen Neuerungen, d. h. der Unterschiede, die mit der Zeit im Leben einer Sprache oder einer Sprachgruppe auftauchen, und zwar nach folgenden drei Gesichtspunkten: 1. des Alters (um festlegen zu können, welche sprachliche Phase in der Tat als Neuerung betrachtet werden muß); 2. der örtlichen Herkunft (von wo die zur Erörterung

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Kapitel I I I . Sprachgeographie

Erklärung der sprachlichen Neuerungen versucht wurde. Es handelt sich um die berühmte Theorie des ethnischen Substrats, also des Einflusses der eingeborenen Bevölkerung in den römischen Provinzen auf die lateinische Sprache. B A R T O L I macht einige Vorbehalte gegenüber den Ansichten A S C O L I S , indem er sie dem gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Stand anzupassen sucht. Einerseits schenkt er der Völkerwanderung größere Aufmerksamkeit, die die sogenannten Barbareneinfälle hervorrief (die Germanen im Westen, die Slawen im Osten usw.), andererseits dem Einfluß, der von den Griechen und Oskern-Umbrern auf die lateinische Sprache in Italien ausgeübt wurde. Ich glaube, hier fühlte sich B A R T O L I von den Ideen S C H U C H A R D T S in bezug auf die Sprachmischung angezogen. Auch die Art, wie B A R T O L I die fremden Einflüsse auffaßt, und vor allem welche Bedeutung er diesen Einflüssen zuerkennt, sprechen für meine Feststellung. Nachdem B A R T O L I die neolinguistische Methode dargelegt hat, vergleicht er sie mit der der Junggrammatiker (Introduzione.... S. 48ff. 1 ). Der wichtigste

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stehende Erscheinung ausgegangen ist); 3. der Gründe, die sie veranlaßt haben. Die Antworten auf diese Fragen sucht BABTOLI zu geben, indem er sich auf Texte stützt, was die Festlegung der Chronologie betrifft, auf die geographische Verbreitung u n d auf die ethno-sprachliche Vermischung, was die beiden anderen Fragen angeht. Die aus der P r ü f u n g dieser Probleme erlangten Ergebnisse werden nach einem System von „Gesetzen" gruppiert, die durch die Strenge und ihre augenscheinliche Sicherheit irgendwie an die „Lautgesetze" der Junggrammatiker erinnern (vgl. auch R L i R V I [1930], S. 25—26). Hier sind einige von diesen Norm e n : Von zwei sprachlichen Phasen ist gewöhnlich diejenige die ältere, die wir früher bezeugt finden. Die isolierten Areale (Inseln gegenüber dem Festland, Gebirge gegenüber der E b e n e usw.) sind konservativer, infolgedessen weisen die dort bestehenden Erscheinungen ein höheres Alter auf. Ebenso verhält es sich mit den seitlichen Arealen (z. B. Iberische Halbinsel und Dazien im Verhältnis zu Gallien u n d Italien, die zentrale Areale bilden), mit den ausgedehnteren Arealen (wenn drei oder vier römische Provinzen zusammengehen und sich von einer anderen unterscheiden, die allein dasteht, so ist die sprachliche Phase der ersteren älter als die der letzteren) und mit den jüngeren Arealen (die Iberische Halbinsel, Gallien usw. sind jünger als Italien, weil sie dem Römischen Imperium später als Italien einverleibt worden waren) u. a. Zu jeder der Normen seines Systems bringt BABTOLI zahlreiche Einschränkungen, die wiederum den „Ausnahmen" von den „Gesetzen" der J u n g g r a m m a t i k e r ähnlich sind. E s m u ß indessen a n e r k a n n t werden, daß die neolinguistischen „Gesetze" nicht den Eindruck von aphoristischen Konstruktionen machen, sondern sich mehr oder weniger natürlich aus der Beobachtung der faktischen Gegebenheiten herleiten, wodurch ihre Überzeugungsk r a f t größer ist. Aber auch sie leiden a n dem Fehler aller ähnlichen Versuche: Sie sind sehr relativ, u n d wenn wir deren Bedeutung übertreiben u n d sie vor allem als unfehlbar erklären, so wie es zuweilen BABTOLI t u t , d a n n verlieren sie ihren einzigen unbestreitbaren Wert, nämlich den praktischer Kriterien, mit deren Hilfe wir die Neuerungen unterscheiden u n d klassifizieren können. Wie m a n sieht, beziehe ich mich immer auf dieses Buch, nicht auf den Breviario . . . Der Grund ist, daß die Introduzione . . . etwas später erschien u n d reicher im I n h a l t ist. Sie bringt nicht n u r ein umfassendes dokumentarisches Material, das im Breviario . . . fehlt, sondern sie enthält auch zahlreiche neue theoretische Erörterungen (z. B . §§ 30—33 u n d vor allem die 40 Seiten „Anmerkungen", die sehr interessant sind).

Die Neolinguistik

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Unterschied zwischen diesen beiden Richtungen, von dem sich fast alle anderen ableiten lassen, besteht in der Einstellung der Neolinguisten zu den „Lautgesetzen". Ich erachte es nicht für notwendig, die Diskussion über diese Frage wiederzugeben, und beschränke mich deshalb auf die Feststellung, daß die Neolinguisten Gegner der „Lautgesetze" sind. Dennoch scheint sich meiner Ansicht nach B A K T O L I weniger von den Junggrammatikern zu unterscheiden, als er vorgibt. Wenn wir von den „Lautgesetzen" absehen, für die die Neolinguisten andere „Gesetze" einführten, stellen wir genügend Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Schulen fest. So erweist sich B A R T O L I wie die Junggrammatiker auf Schritt und Tritt als historisch-vergleichender Sprachwissenschaftler. Ja, irgendwo erklärte er sogar, daß wirkliche Sprachwissenschaft nur mit Hilfe der historisch-vergleichenden Methode durchgeführt werden könne. Aus diesem Grund nehmen die romanischen Dialekte, d. h. die Volksmundarten, in seinem System nicht den Platz ein, den sie bei einem erklärten Schüler der Sprachgeographie zu beanspruchen hätten. Dafür spricht auch die Einstellung B A R T O L I S gegenüber den zwei berühmten Linguisten ASCOLI und M E Y E R - L Ü B K E . Bei dem ersten sahen wir (S. 4 5 , Fußnote), daß der italienische Dialektologe C . M E K L O ganz andere Ansichten als B A R T O L I vertreten hat hinsichtlich der Schule, der A S C O L I angehöre. Er betrachtet ihn als Junggrammatiker (ebenso wie P . - G . GOIDÄNICH in AGI X X I I - X X I I I [ 1 9 2 8 / 2 9 ] , S. 6 1 2 ) , während B A R T O L I aus ihm einen Vorläufer der Neolinguisten macht (vgl. auch C . B A T T I S T I , Storia della „Questione ladina", Firenze 1 9 3 7 , S. 9 , wo ASCOLI als ein Vorläufer der sprachlichen Areale hingestellt wird). Noch kurioser bietet sich die Lage bei M E Y E R - L Ü B K E dar, der nach Meinung der meisten Sprachwissenschaftler zu den (gemäßigten, füge ich hinzu) Junggrammatikern gerechnet werden muß, aber im System B A B T O L I S als ein echter Neolinguist erscheint. Aus all diesen Erörterungen kann gefolgert werden, daß die neolinguistische Lehre tatsächlich zum großen Teil eine Fortsetzung der junggrammatischen Schule ist, die bestimmte Veränderungen im Geiste der gegenwärtigen Tendenzen in unserem Fach erhielt (mit dem Vorherrschen der Sprachgeographie). Übrigens scheint ihr Begründer selbst dies anzuerkennen, wenn er sagt: „Manche denken vielmehr, daß die Junggrammatiker einfach .Grammatiker und keine Linguisten' sind. Ich dagegen erkenne an, daß auch sie in bestimmten Fällen (S. 55 und 88) historische Forschungen betreiben und infolgedessen auch Linguisten sind. Aus demselben Grund bin ich überzeugt, daß ,die Versöhnung nicht schwer und jedenfalls zu erhoffen ist und daß sie an dem Tag erfolgen wird, an dem unsere liebenswürdigen Gegner das finden werden — und sicherlich werden sie es zu finden wissen — was sie bis jetzt nicht suchen wollten'. (S. Giornale storico della letteratura italiana L X I X , S. 383, Fußnote 5.)" Nach N. MACCARRONE (RLiR VI [1930], S. 23ff.), der eine sehr gute kritische Analyse der Neolinguistik durchführt, bildet deren Fundament die Sprachgeographie (vgl. besonders die Feststellung, nach der die Areale B A R T O L I S , was die Methode betrifft, mit der Übereinander- und Nebeneinandersetzung der Areale GELLIÄRONS 1 identisch sind). Wenn 1

Vgl. auch die Rezension von M. ROQUES in: Ro L"VII (1931), S. 286—287, über die Studie BABTOLIS, L a norma neolinguistica dell'area maggiore. Der französische

320

Kapitel I I I . Sprachgeographie

die neolinguistische Lehre aber dennoch der Auffassung der Junggrammatiker ähnlich ist, so ist das einerseits auf einige Ideen zurückzuführen, die beide gemeinsam haben, andererseits aber vor allem auf die Tendenz BAKTOLIS, die Resultate der Sprachgeographie festzulegen und zu systematisieren. Hier verdient auch die sehr kurze, aber um so prägnantere Charakterisierung erwähnt zu werden, die N. JOKL gab in I J X V I I I (1934), S. 141, Nr. 161 : Die Neolinguistik ist nach diesem Sprachforscher die Wissenschaft von dem chronologischen Verhältnis zwischen zwei sprachlichen Phasen und von dem Ausgangsort der sprachlichen Neuerungen. Der Begründer der Neolinguistik versuchte seine Konzeption und Arbeitsmethode auch auf die Erforschung der älteren indogermanischen Sprachen anzuwenden. Einige Arbeiten von ihm hierzu sind die folgenden: Le sonore aspirate e le sonore assordite dell'ario-europeo e l'accordo loro col ritmo in : A GL X X I I / X X I I I (1928/29), S. 63ff.; Studi sulla .stratificazione dei linguaggi ario-europei, ebenda X X V (1931—1933), S. l f f . ; Accordi antichi fra l'albanese e le lingue sorelle in: S A H (1932), S l f f . (auf S. 15-47 erörtert er im Widerspruch zu P.-G.GOIDANICH,

G. MAVER und A. MEELLET methodologische Fragen) ; Il carattere conservativo dei linguaggi baltici in: SB I I I (1933), S. l f f . Interessant ist es, daß nach der Ansicht BABTOLIS (die er in seiner Antwort auf die I X . Frage des Fragebogens vertrat, der von den Organisatoren des im September 1933 in Rom abgehaltenen internationalen Sprachwissenschaftlerkongresses aufgestellt worden war) die Arealnormen (hinsichtlich der seitlichen Areale, der größeren Areale usw.) mit größerem Nutzen in den Forschungen über die alten indogermanischen Sprachen1 gebraucht werden können, weil im Falle der romanischen Sprachen z. B. wir auch andere Mittel zur Verfügung haben (besonders die Chronologie der Texte, der wir den Vorzug geben). J. B. HOFMANN sagt in D L Z L U I (1932), col. 1022-23,

daß A. MEILLET in Esquisse d'une histoire de la langue latine die Theorie BABTOLIS von den isolierten Arealen beim Studium der indogermanischen Sprachen anwendet. Der französische Linguist griff in anderen Arbeiten auch auf die Theorie der seitlichen Areale zurück, um z. B. den konservativen Charakter des Lateinischen und der keltischen Sprachen zu erklären, die sich früher als die anderen vom gemeinsamen indogermanischen Stamm lösten und so peripherisch wurden im Vergleich zu denen, die sich später ablösten und näher ihrem Ausgangspunkt blieben (wie z. B. die slawischen Sprachen). Da sich das Keltische und das Lateinische von der indogermanischen Ursprache früh trennten, führten sie gewisse Besonderheiten mit sich und behielten sie auch bei. Diese Besonderheiten aber wurden in der Ausgangssprache und folglich in ihren später losgelösten Zweigen durch Neuerungen ersetzt, die das natürliche Produkt einer schnelleren Entwicklung im Mutterland der Ausgangssprache darstellen. Dieser Gedanke, der sehr an die Stammbaumtheorie SCHLEICHERS erinnert, erscheint auch bei dem tscheRomanist sagt, daß die Norm des seitlichen Areals von GILLIBRON besonders intuitiv erfaßt und angewandt wurde, was der Begründer der Neolinguistik anerkennt (s. Atti della Società italiana per il progresso delle scienze, Roma 1933, S. 157, Fußnote 2). 1

N . MACCABBONE ( R L i R V I [1930], S. 29—30) bekämpft mit Recht diese Ansicht.

Die Neolinguistik

321

chischen Gelehrten A. LUDWIG (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts). Über die Ähnlichkeiten zwischen den Ideen dieser drei hier erwähnten Linguisten s. B. HAVRÂNEK, Sur la formation des langues indo-européennes in: Charisteria Guilelmo Methesio Quinquegenario, Prague 1932, S. 14ff. Die Theorien BARTOLIS wurden in den Fachzeitschriften eingehend und ziemlich heftig erörtert. Zahlreicher scheinen die Rezensionen zum Breviario . . . zu sein: 0 . DENSUSIANU in GS 1 1 (1925/26), S. 405ff.; C.TAGLIAVINI in Dacor IV 1924-1926), S. 992ff. ; A. DAUZAT in R P h F L X X X V I I I (1926), S. 165ff. ; L E O J O R DAN in ZRPh X L VI (1926), S. 706 ff.; A. M E I L L E T in B S L X X V I I (1926/27), Fasz. 2, S. 7ff. ; und RCHL X C I I I (1926), S. 334ff. ; P.-G. GOIDÀNICH in AGI X X I (1927), sezione Goidànich, S. 59ff. ; u. a. 1 Die Introduzione . . . besprachen 0 . DENSUSIANU in GS I I I (1927/28), S. 253ff.; A. M E I L L E T in B S L X X V I I I (1927/28), S. 4ff. ; N. MACCARKONE in RLiR VI (1930), S. 23ff.; L E O JORDAN in ZRPh LV (1935), S. 205ff. Einige Rezensenten, wie DENSUSIANU und L. JORDAN, nahmen die neolinguistische Lehre mit Lobesworten an, andere, z. B. GOIDÀNICH, bekämpften sie. M E I L L E T sagt zur Introduzione . . . , daß sie nicht so neue Dinge enthalte, wie es der Autor vorgeben würde.2 Ebenso ungünstig im allgemeinen drückt sich über die Neolinguistik auch A. PHILIPPIDE in Originea Romînilor I, S. 367ff., aus, wo nur der bereits erwähnte Aufsatz BARTOLIS Alle fonti del neolatino erörtert wird.3 1

Es ist keine eigentliche Rezension, sondern ein langer Aufsatz mit dem Titel Neolinguistica o linguistica senza aggettivo?, auf den G. BEBTONI sehr scharf antw o r t e t e in A R o X I I

(1928),

S . 344FF. ( v g l . A . M E I L L E T i n : B S L

X X X

(1930),

S. 23/24). Die damals angekündigte Fortsetzung wurde gedruckt in I t D V I I

(1931), S. 146ff.

2

In R D R I I (1910), S. 489, Fußnote 4, erklärt BARTOLI selbst, daß er nichts anderes tat, als einen Namen für diese Lehre zu schaffen; im übrigen habe er sich darauf beschränkt, in der romanischen Sprachwissenschaft die Methode anzuwenden, die von GILLIÉRON beim Studium der französischen Dialekte gebraucht wurde.

Vgl. auch A G I X X I I / X X I I I (1928/29), S. 118; und X X V ( 1 9 3 1 - 1 9 3 3 ) , S. 3 9 - 4 0 .

3

Interessant ist zu beobachten, wie PHILIPPIDE in Originea Romînilor I I auch das Prinzip der Areale anwendet, indem er die rumänischen Dialekte vom Gesichtspunkt der Neuerungen aus beurteilt, natürlich auf anderen Grundlagen, wodurch er auch zu anderen Ergebnissen gelangte. Der aromunische Dialekt ist der konservativste. Im Dakorumänischen erweist sich die banatische Mundart als archaischer. Das kommt daher, so sagt PHILIPPIDE, weil beide näher an dem Gebiet liegen, in dem die rumänische Sprache gebildet worden ist. Die moldauische Mundart dagegen bietet die meisten und tiefgehendsten Neuerungen, da sie am weitesten von dem urrumänischen Gebiet entfernt ist. Vgl. auch RCr I (1927), S. 96FF., wo der Autor dieses Buches fast ebenso wie PHILIPPIDE die Lage der moldauischen Mundart zu erklären sucht, die er mit derjenigen der eigentlichen französischen Sprache im Bereich der Romania vergleicht. Der große Unterschied zwischen PHILIPPIDE und BARTOLI, der bis zum Gegensatz geht, wird erklärt und beseitigt, so wie V. BERTOLDI in AGI X X I I - X X I I I (1928/29), S. 484, zeigt, wo wir folgende außerordentlich interessante und richtige Bemerkung finden : „Wenn das peripherische Areal einerseits archaisch genannt werden kann, weil nicht immer bis zu ihm hin die vom Zentrum ausgehenden Neuerungen gelangen, bezeugt es andererseits eine eigene Neuerungstendenz, weil es in größerem Maße den alloglottischen Einflüssen

322

Kapitel I I I . Sprachgeographie

ausgesetzt i s t . " („Se la periferia p u ò dirsi, d a u n lato arcaica, in q u a n t o a d essa non sempre pervengono innovazioni m o v e n t i dal centro, rivela d ' a l t r o lato u n a tendenza innovatrice t u t t a propria, perchè più esposta a influssi alloglotti.") Dieser Gedanke findet meines E r a c h t e n s eine glänzende Anwendung im hier e r w ä h n t e n Falle der französischen Sprache u n d der moldauischen M u n d a r t . Zur Vervollständigung der bibliographischen Angaben vgl. a u c h G. BERTONI, Neolinguistica. Risposta al professore A . B a r a t o n o i n : L a Cultura V (1925/26), S. 366ff. H e u t e wird weniger als vor 15 bis 20 J a h r e n von der Neolinguistik gesprochen. W e n n wir nach der E i n s c h ä t z u n g von V. V. VINOGRADOV, V I I V (1955), Fasz. 1, S. 84, urteilen, die sich auf G. B O N F A N T E bezieht (The neolinguistic position, in der Zeitschrift Language X X I I I [1947], S. 344ff.), so k a n n gesagt werden, d a ß die gegenwärtigen Neolinguisten die extremsten Idealisten n o c h übertreffen. F ü r sie ist die Sprache nicht das P r o d u k t einer gesellschaftlichen Notwendigkeit u n d entwickelt sich nicht in enger Beziehung mit der Gesellschaft : Das A u f t a u c h e n u n d die Verbreitung der sprachlichen Neuerungen werden m i t der F r a u e n m o d e in dem Sinne verglichen, d a ß sie gerade wie diese auf d e m ästhetischen Geschmack bestimmter I n d i v i d u e n beruhen. Vgl. auch den Aufsatz von AL. GRAUR, ¡Jcoala neolingvisticä in : SOL I X (1958), S. 457ff. Der bereits genannte Aufsatz von B O N F A N T E stellt eine Antwort dar auf die v o n R . A . H A L L in Language X X I I (1946), S. 273ff., a n d e r Neolinguistik geübte Kritik (diese richtete sich besonders gegen B O N F A N T E als späten Vertreter der Lehre B A R T O L I S ) .

KAPITEL IV

Die französische

sprachwissenschaftliche

Schule

Während der Begründer der idealistischen Schule und der der Sprachgeographie Romanisten waren, war F E R D I N A N D DE SAUSSURE, der Begründer der französischen sprachwissenschaftlichen Schule, Indogermanist. Dennoch gilt es, auch seine Lehre in diesem Buch zu erörtern, das eine Einführung in die Methoden der romanischen Sprachwissenschaft gibt. Wie wir bereits sahen, kann eine Trennung der romanischen Sprachwissenschaft von den verwandten Disziplinen weder gebilligt noch durchgeführt werden. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Zweigen der Sprachwissenschaft sind so eng, daß die Methoden und Ergebnisse des einen Zweiges auf Grund der Gegebenheiten auch den anderen Zweigen unentbehrlich werden. Daher stoßen wir schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf Gelehrte, die, wie z. B. ASCOLI und SCHUCHARDT, mit gleichem Eifer sowohl die indogermanische als auch die romanische Sprachwissenschaft gepflegt haben, ja, die oftmals sogar noch über diese außerordentlich weitreichenden Gebiete hinausgegangen sind (besonders SCHUCHARDT). Hinzu kommt, daß zahlreiche Schüler SAUSSTTBES Romanisten waren oder sich zumindest auch mit romanischen Sprachen beschäftigten. Um die Auffassung dieser Gelehrten zu verstehen, ist es notwendig, sich vorher mit den Theorien ihres Lehrers vertraut zu machen.1 Schließlich sind heute, wie wir später noch sehen werden, manche Ideen SAUSSURES Gemeingut aller Romanisten geworden, gleich welcher Richtung sie angehören. Ehe wir zum Studium des sprachwissenschaftlichen Systems von SAUSSURE übergehen, muß noch folgendes geklärt werden: Haben wir es mit einem Neuerer in der Art GILLIISRONS oder VOSSLERS ZU tun oder mit einem Traditionalisten, nämlich mit einem Junggrammatiker ? Diese Frage kann dafür mit entscheidend sein, ob es angebracht ist, daß ich mich mit der französischen sprachwissenschaftlichen Schule in einem gesonderten Kapitel beschäftige, so wie ich das mit der „Idealistischen Schule" und der „Sprachgeographie" getan habe. Einzelheiten dazu werde ich später anführen, nachdem ich die Lehre SAUSSURES dargelegt habe. Jetzt beschränke ich mich nur auf folgendes: Ohne revolutionär zu scheinen, veränderte SAUSSTTRE die traditionellen sprachwissenschaftlichen Theorien in vielfacher Weise und manchmal so wesentlich, daß wir sie fast nicht mehr erkennen. 1

Eine ähnliche Feststellung, die zugunsten des Gesichtspunktes von SCHUCHARDT spricht (daß es nur eine e i n z i g e Sprachwissenschaft gibt), habe ich auch in den vorangehenden Kapiteln getroffen: Die Ideen der Romanisten VOSSLER und GILLUDRON sind insgesamt oder zum Teil von verschiedenen nichtromanistischen Gelehrten übernommen worden.

324

Kapitel III. Sprachgeographie

Zahlreiche Schüler von ihm haben sein Werk fortgesetzt und vervollständigt, indem sie neue Gesichtspunkte einführten oder zumindest die Ideen ihres Lehrers vertieften. Die von diesem Gelehrten geschaffene Schule trägt auch den Namen „Soziologische sprachwissenschaftliche Schule", weil sie auf der soziologischen Auffassung der Sprache basiert : Die menschliche Rede ist eine soziale Tatsache — außerhalb der Gesellschaft kann sich diese Fähigkeit des Menschen nicht äußern —, und deshalb muß sie als solche in Verbindung mit anderen sozialen Tatsachen studiert werden. Gegen Ende des vorliegenden Kapitels wird von mehreren Linguisten gesprochen werden, die mit der französischen Schule in theoretischer oder methodologischer Hinsicht nur einige Anschauungen gemein haben. Von ihnen beschäftigen sich die einen mit den sogenannten „Argots", mit den Sondersprachen, die Produkte bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten und Gruppen sind; die anderen studieren die menschliche Rede unter dem Gesichtspunkt der charakteristischen Züge, durch die sich eine Sprache von anderen Sprachen unterscheidet, selbst wenn sie mit ihnen in genealogischer Hinsicht verwandt ist. Die Gelehrten beider Gruppen gleichen sich darin, daß sie die menschliche Sprache so betrachten, wie sie sich in einem gegebenen Moment darbietet, ohne sich für ihre vorangehenden Phasen zu interessieren. Wir werden noch sehen, daß eine Besonderheit der französischen sprachwissenschaftlichen Schule gerade darin besteht, daß die meisten ihrer Vertreter theoretisch oder praktisch die von ihrem Lehrer als synchronisch (oder beschreibend) bezeichnete Sprachwissenschaft bevorzugen und nicht die diachronische (oder historische). Weiterhin haben die Erforscher der Argots Verbindungen zur Auffassung SATTSSTXRES auch insofern, als die von ihnen studierte Sprache eine glänzende Bestätigung des Prinzips darstellt, nach dem die menschliche Rede eine soziale Tatsache ist. Die Lehre Ferdinand de Saussures F E R D I N A N D D E S A U S S U B E ( 1 8 5 7 — 1 9 1 3 ) analysiert mit größter Sorgfalt die Grundelemente der Sprache. 1 Wir haben den Eindruck, daß wir einem wirklichen 1

Wir finden sie dargelegt in Cours de linguistique générale, Lausanne-Paris 1916, 2. Auflage Paris 1923, 3. Auflage Paris 1931, 4. Auflage Paris 1949, 5. Auflage Paris 1955. Dieses Buch erschien nach dem Tode seines Verfassers und wurde auf der Grundlage von Kollegheften von seinen Schülern C H . B A I A Y und A. S E C H E H A Y E zusammengestellt und herausgegeben. Ins Deutsche wurde dieses Werk übertragen von H. L O M M E L unter dem Titel Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin-Leipzig 1931, der dem Inhalt besser entspricht. Auch ins Russische (Kypc oömeft j n r a r B H c r a K H , M o c K B a 1933) und ins Spanische (Curso de lingüística general, publicado por Ch. Bally y A. Sechehaye, Traducción, prólogo y notas por A M A D O A L O N S O , Buenos Aires 1945) wurde es übersetzt. Die wissenschaftliche Laufbahn F. D E S A U S S U B E S ist in vieler Hinsicht kurios. Ehe er seine Studien in Deutschland, besonders in Leipzig, wo die junggrammatischen Koryphäen L E S K I E N , O S T H O F F und B R U G M A N N lehrten, beendet hatte und kaum

Die Lehre F e r d i n a n d de Saussures

325

Lehrer gegenüberstehen, der ruhig und überlegt das prüft, was er seinen Schülern zu sagen hat, und der dabei bemüht ist, sie ständig auf zu vermeidende Fehler aufmerksam zu machen und ihnen den Weg zu zeigen, den sie ohne Gefahr beschreiten können. S A U S S U R E ist ein außerordentlich tiefgründiger und objektiver Beobachter der sprachlichen Erscheinungen, und daher sind seine Erklärungen größtenteils sehr exakt, fast mathematisch genau und oft überzeugend. Mehr als alles andere interessierte ihn die Methode, und darauf scheint er seine ganze Kraft konzentriert zu haben. Betrachten wir nun seine Sprachauffassung! S A U S S U R B unterscheidet scharf zwischen „Sprache" ( = frz. langue) und „Sprechen" ( = frz. parole). Diese zwei Begriffe, obgleich sie sehr eng miteinander verbunden sind, werden klar voneinander getrennt. Die „Sprache" ist ein lexikologisches und grammatisches System, das virtuell im Bewußtsein der zur selben Sprachgemeinschaft gehörenden Individuen vorhanden ist. Ohne eine größere oder kleinere Gruppe von Sprechern kann man sich das Vorhandensein der „Sprache" nicht vorstellen. Als gesellschaftliches Produkt und als Verständigungsmittel zwischen den Menschen hängt die „Sprache" nicht von dem einzelnen ab, der sie spricht. Im Gegenteil, dieser muß sich bemühen, oft sogar sehr stark, ihr System völlig zu erlernen. Das Studium der „Sprache" kann daher nicht nur rein psychologisch sein. Das „Sprechen" bedeutet den Akt, durch den der einzelne sich der „Sprache" bedient, um seine Gedanken auszudrücken. Es ist somit individueller Natur und enthält in sich zugleich auch die Kundgabe der Laute. So muß das Studium des „Sprechens" psychophysiologisch sein. Im „Sprechen" haben alle Sprachveränderungen ihre Quelle, 21 J a h r e alt war, veröffentlichte er im J a h r e 1879 Mémoire s u r le système primitif des voyelles d a n s les langues indo-européennes. Von diesem W e r k sprechen die F a c h l e u t e auch h e u t e noch mit großer Bewunderung. I m J a h r e 1881 wurde S A U S S U B E zum „ m a î t r e de conférence" a n der „ É c o l e P r a t i q u e des H a u t e s É t u d e s " in P a r i s e r n a n n t . 1891 siedelte er n a c h Genf über, seinem Geburtsort, u m dort als außerordentlicher Professor f ü r indogermanische Sprachwissenschaft t ä t i g zu sein. 1896 erhielt er den Lehrstuhl f ü r Sanskrit u n d indogermanische Sprachen, u n d a b 1907 h a t t e er bis zu seinem Tode a u c h d e n L e h r s t u h l f ü r allgemeine Sprachwissenschaft inne (1913). E r schrieb sehr wenig: Alle v o n ihm selbst veröffentlichten Arbeiten umfassen einen B a n d von u n g e f ä h r 600 Seiten: Recueil des publications scientifiques de F e r d i n a n d de Saussure, Genève 1922,. dem der hier zu erörternde Cours de linguistique générale h i n z u z u f ü g e n ist. Dennoch ist sein Einfluß auf seine Schüler u n d auf die Sprachwissenschaftler im allgemeinen außerordentlich groß gewesen. Man k a n n sagen, d a ß alle n e u e n Ström u n g e n u n d R i c h t u n g e n der gegenwärtigen Sprachwissenschaft direkt oder indirekt von seiner Sprachauffassung ausgehen. S A U S S T J B B besaß außergewöhnliche didaktische Qualitäten. So erklärt sich a u c h die große Zahl v o n Schülern, u n t e r denen einige, wie z. B . A. M E I L L E T , M. G B A M M O N T , C H . B A L L Y , zu den Spitzen der Sprachwissenschaft in E u r o p a , j a in der ganzen Welt gehört haben. M E I L L E T , . ein Forscher von W e l t r u f , scheut sich nicht zu erklären, d a ß jede Seite seiner Arbeiten S A U S S U R E etwas verdanke (vgl. B S L X V I I I [1912/13], S. C L X X ) . Erw ä h n t sei hier auch die Zeitschrift Cahiers F e r d i n a n d de Saussure, herausgegeben von der Société genevoise de Linguistique. Bisher erschienen 16 B ä n d e ; der letzte B a n d 1959 in Genf.

326

Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

die indessen das S y s t e m der Sprache nur dann berühren, wenn ihnen günstige Bedingungen dabei helfen, sich zu verallgemeinern, v o n allen Mitgliedern der entsprechenden Gemeinschaft angenommen zu werden. Das ist nur bei Veränderungen der Fall, die allgemeinen Tendenzen entsprechen. Dieser Unterschied, den S A U S S U R E zwischen „Sprache" und „Sprechen" trifft, ist wesentlich für sein Sprachsystem. Er erklärt uns einerseits SATTSSUKES Einstellung zur menschlichen Rede und läßt uns andererseits bestimmte Gesichtspunkte in der Lehre G I L L I É R O N S und vor allem in der Lehre V O S S L E R S verstehen. 1 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Sprachwissenschaft ein Zweig der Semeologie 2 ist und die Sprache im Rahmen anderer sozialer Tatsachen, wie Sitten, Glauben, Höflichkeitsformen usw., studiert werden muß. Es ist jedoch erforderlich, daß die sprachlichen Erscheinungen v o n allen anderen sozialen Phänomenen getrennt und für sich allein untersucht werden. Die zwischen Sprache und 1

2

Hier soll gezeigt werden, d a ß der Parallelismus „ S p r a c h e " — „ S p r e c h e n " keine Neuerung S A U S S U R E S ist. W i r finden ihn a u c h bei den J u n g g r a m m a t i k e r n , z. B . bei H . P A U L , der in Prinzipien der Sprachgeschichte, S.Auflage, S. 3 1 ff. u n d S. 286ff., von (Sprach-)Usus ( = langue bei S A U S S U R E ) u n d (individueller) Sprechtätigkeit ( = parole) spricht. P A U L erörtert ebenfalls die Beziehungen zwischen diesen beiden Aspekten der menschlichen Rede, wobei er vor allem die T a t s a c h e hervorhebt, d a ß die Veränderungen des Sprachgebrauchs in der individuellen Sprechtätigkeit ihre Ursache h a b e n . Ebenso geht A. P H I L I P P I D E vor in Principii de istoria limbii, S. 5, wo die Termini P A U L S wiedergegeben werden durch uz u n d vorbire ocazionalä. N i e m a n d aber h a t vor S A U S S U R E dieser Unterscheidung eine so große B e d e u t u n g zuerkannt, d a ß er d a r a u s die Grundlage einer sprachwissenschaftlichen Lehre gebildet h a t . Dieser Dualismus war schon bei W . v . HUMB O L D T v o r h a n d e n (s. Dacor V I I [ 1 9 3 1 / 3 3 ] , S. 268), d a n n bei G . v . d. G A B E L E N T Z , der in seinem W e r k Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden u n d bisherigen Ergebnisse, Leipzig 1891, auf S. 3—4 v o n „ S p r a c h e als Erscheinung, als jeweiliges Ausdrucksmittel f ü r den jeweiligen G e d a n k e n " ( = Rede) spricht u n d von „ S p r a c h e als eine einheitliche Gesamtheit solcher Ausdrucksmittel f ü r jeden beliebigen G e d a n k e n " , ,,. . . als Gesamtheit derjenigen Fähigkeiten u n d Neigungen, welche die F o r m derjenigen sachlichen Vorstellungen, welche den Stoff der R e d e bestimmen . . . " ( = Sprache). Der dritte Begriff, eng mit diesem verbunden, ist das „Sprachvermögen", d. h. die allen Völkern innewohnende Gabe des Gedankenausdruckes durch Sprache ( = menschliche Rede). U m das Verständnis f ü r die zur E r ö r t e r u n g stehenden Termini noch m e h r zu erleichtern, h a l t e ich es f ü r angebracht, einige der Einschätzungen von J . V E N D R Y E S wiederzugeben (BSL X X V I I [1926/27], Fasz. 2, S. 6: „ L a parole ne peut être observée et étudiée que dans l'individu. Mais l'usage que fait chaque individu de la parole est réglé par des conventions sociales, celles d u groupe auquel il a p p a r t i e n t . . . considérer la langue comme une entité idéale, indépendante des individus qui la parlent et s'imposant à eux sans restriction." . . . „ L a parole a pour résultat de t r a n s f o r m e r à chaque m o m e n t la langue." Wie wir sehen, stellt V E N D R Y E S den sozialen Charakter der menschlichen Rede heraus. Auf Seite 5 schreibt er sogar, d a ß die von S A U S S U R E getroffene Unterscheidung der K r i t i k n u r s t a n d h ä l t , wenn wir diesen Begriffen eine soziologische Bedeutung geben. Semeologie heißt die Wissenschaft der Zeichen (im gesellschaftlichen Leben), d e n n die Sprache ist ein System von Zeichen, die Gedanken ausdrücken u n d somit in formaler Hinsicht mit den symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. vergleichbar sind.

Die Lehre Ferdinand de Saussures

327

Kultur, gesellschaftlichen Einrichtungen, Dialekten u.a.bestehenden Beziehungen bilden den Gegenstand der äußeren S p r a c h w i s s e n s c h a f t . Diese ist zwar sehr wichtig, da sie viele Sprachprobleme klärt, hat aber mit der i n n e r e n Sprachw i s s e n s c h a f t nichts gemein, da die Fakten, die sie studiert, nicht das Wesen, den inneren Kern der Sprache berühren. Die innere Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit allem, was das sprachliche System verändern kann. Gemäß dieser neuen Auffassung gebraucht SAUSSUBE auch eine Terminologie, die von der üblichen verschieden ist. Die Sprache besteht aus Zeichen, d. h. aus Einheiten, die sich auflösen in ein „Bezeichnetes" (frz. signifié) und in eine „Bezeichnung" (frz. signifiant). Diese beiden Elemente sind so eng miteinander verbunden, daß das eine immer das andere hervorruft. Das sprachliche Zeichen wird durch folgende Besonderheiten charakterisiert: es ist beliebig 1 in dem Sinne, daß zwischen einem Begriff und seinem Namen keine notwendige Beziehung besteht (nur der Zufall bewirkt, daß ein Gegenstand auf diese Art und nicht auf andere bezeichnet wird). Das beweisen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen, selbst wenn sie zur gleichen Gruppe oder Familie gehören : rumänisch casä, französisch maison, deutsch Haus, russisch flOM usw. sind unveränderlich, weil sie nicht durch den Willen der Sprecher verändert werden können, obgleich sie mit der Zeit und durch die Zeit verschiedenen Veränderungen ausgesetzt sind. Die innere Sprachwissenschaft ist statisch (synchronisch) oder evolutiv (diachronisch). Im ersten Fall beschreiben wir die Sprache, so wie sie uns in einem gegebenen Moment erscheint, ohne ihre vorangehenden Phasen zu betrachten; im zweiten Fall erforschen wir die Sprache im Verlauf einer Epoche oder mehrerer Epochen, indem wir die Etappen verfolgen, die sie in dieser Zeit zurückgelegt hat. Vom theoretischen und methodologischen Gesichtspunkt aus unterscheiden sich diese beiden Teile der inneren Sprachwissenschaft sehr stark voneinander. Daher dürfen wir sie in unseren Studien keinesfalls vermischen. Beide sind gleichberechtigt. Aber, so sagt SATJSSUEE, wir müssen der statischen Sprachwissenschaft den Vorzug geben, weil einerseits das statische Element in der Sprache die einzige Realität für die Sprechenden 2 ist und weil andererseits die Sprachveränderungen individuell sind, d. h. zuerst beim „Sprechen" erfolgen und danach, wenn sie auf günstige Umstände stoßen, von der „Sprache" übernommen werden (und die diachronische oder evolutive Sprachwissenschaft kann sich per definitionem nur mit der „Sprache" beschäftigen: nur sie verändert sich mit der Zeit). 3 1

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Ausgenommen die schallnachahmenden Wörter. Der Gedanke, wonach das sprachliche Zeichen beliebig ist, ist bereits von einigen Philosophen der Antike und von dem französischen Aufklärungsphilosophen CONDILLAC vorgebracht worden, der viele originelle Ansichten bringt, die in der Lehre eines SCHUCHARDT oder VOSSLER häufig wiederkehren (vgl. J. RONJAT, R L R [1921/22], S. 394). Das bedeutet, daß wir uns beim Sprechen nur der Art bewußt sind, wie die Wörter im entsprechenden Augenblick verbunden werden, und der Bedeutung, die das hat, was wir sagen. Wir denken nicht an die vorangehenden Phasen der Wörter, an ihren Ursprung usw., selbst dann nicht, wenn wir Sprachwissenschaftler sind. Andere Termini statt der von SAUSSURE gebrauchten sind d e s k r i p t i v e Sprachwissenschaft bzw. historische Sprachwissenschaft. Letztere Bezeichnung Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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K a p i t e l I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

war u n d ist noch in den romanistischen Studien vorherrschend, aber a u c h die erstere wurde nicht vernachlässigt, vor allem von einer gewissen Zeit an. So veröffentlichte K . v . E T T M A Y E R in Prinzipienfragen der romanischen Sprachwissens c h a f t I , Halle 1910, S. LFF., den Aufsatz Benötigen wir eine wissenschaftlich deskriptive G r a m m a t i k ? , in dem er die im Titel gestellte F r a g e b e j a h t . Ebenso können hier a n g e f ü h r t werden: E . H E R Z O G , Historische Sprachlehre des Neufranzösischen. Einleitung: I . Lautlehre, Heidelberg 1913, die den modernen Stand der französischen Sprache in lautlicher Hinsicht beschreibt; J . HAAS, Neufranzösische S y n t a x , Halle 1909, u n d Über sprachwissenschaftliche E r k l ä r u n g . E i n methodischer Beitrag, Halle 1922 (einen Auszug aus dieser Arbeit finden wir bei L. S P I T Z E R , Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I I , München 1 9 3 0 , S. 9 2 F F . ) . H A A S fordert, d a ß auch die syntaktische (nämlich statische) F u n k t i o n der W ö r t e r b e t r a c h t e t werden solle neben der Etymologie (d. h. der H e r k u n f t u n d Entwicklung) der syntaktischen Elemente der Sprache. E r w ä h n t sei ferner I O R G T J I O R D A N , L i m b a rominä actualä. O gramaticä a „greçelilor", Iaçi 1 9 4 3 ( 2 . Auflage Bucureçti 1 9 4 8 ) . Kein Linguist t r e n n t jedoch so scharf wie S A U S S U R E u n d einige seiner Schüler die deskriptive Methode von der historischen. Selbst die meisten der weiter oben e r w ä h n t e n Autoren vermischen beim Studium der Sprache weiterhin die zwei Verfahren, wobei sie natürlich das historische Verfahren bevorzugen, weil es alt u n d in unserem F a c h verwurzelt ist. H E R Z O G Z. B. betitelt seine hier genannte Arbeit m i t „historisch", weil, wie er im Vorwort sagt, die K e n n t n i s der Vergangenheit beim Verständnis des Gegenwärtigen hilft. H A A S aber verbindet in seiner Neufranzösischen S y n t a x die psychologische ( = deskriptive) Methode u n d die historische miteinander. E t w a s später veröffentlichte er eine Französische S y n t a x , Halle 1916, in der er sich a u c h m i t d e m Altfranzösischen beschäftigt. Besser vergleichbar mit S A U S S U R E ist E R N S T O T T O , Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft, Bielefeld-Leipzig 1919, dessen Unterscheidung Sprechkunde — Sprachkunde in großem Maße dem Parallelismus „statische Sprachwissenschaft" — „diachronische Sprachwissenschaft" entspricht. Dieses Problem wurde besonders von W . v. W A R T B U R G s t u d i e r t : D a s Ineinandergreifen von deskriptiver u n d historischer Sprachwissenschaft (in: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse, 8 3 . B a n d [ 1 9 3 1 ] , 1 . H e f t ) . Der Rezension, die L. S P I T Z E R dazu v e r f a ß t e (LgrP L I I [ 1 9 3 1 ] , col. 401ff.) e n t n e h m e n wir, d a ß W . v . W A R T B U R G folgenden Gesichtspunkt v e r t r i t t : Die historische u n d die deskriptive Sprachwissenschaft, die in der Lehre S A U S S U R E S so streng auseinandergehalten werden, wurden in den Forschungen G I L L I É R O N S miteinander v e r b u n d e n . „Die b e k a n n t e n unerträglichen Homonymien, die G I L L I É R O N nachwies, spielen sich im zuständigen System der Sprache ab, f ü h r e n aber zu Änderung des Sprachzustandes, zu Sprach w e r d e n . " (vgl. K a p . I I I des vorliegenden Buches, S. 189ff.) Das Vorhandensein u n d die Feststellung der H o m o n y m e in einem gegebenen Moment ist deskriptive Sprachwissenschaft, der Gebrauch eines neuen Wortes an Stelle des immöglich gewordenen gehört zur historischen Sprachwissenschaft. Die Verbindungsbrücke zwischen beiden ist n a c h S P I T Z E R , A R O V I I I (1924), S . 3 6 7 , oftmals die Phantasie. S P I T Z E R ist überrascht, d a ß W A R T B U R G bei dieser Gelegenheit neben F . D E S A U S S U R E u n d G I L L I É R O N nicht K . V O S S L E R zitiert, der gerade die P h a n t a s i e in der sprachlichen Schöpfung so s t a r k betonte. S. L g r P L I I I (1932), col. 142ff., die A n t w o r t W . v. W A R T B U R G S darauf. W . V . W A R T B U R G h a t mit Erfolg den Gedanken der Verbindung dieser beiden von S A U S S U R E getrennten Sprachwissenschaften in seinem B u c h Evolution et s t r u c t u r e de la langue française, Leipzig 1934 (5. Auflage B e r n 1958) angewandt. Dagegen ist Précis de syntaxe du français contemporain, B e r n 1947 (2. Auflage ebenda 1958) von demselben Autor (in Zusammenarbeit mit P . Z U M T H O R ) eine rein deskriptive Arbeit.

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Bei dieser Gelegenheit nimmt SAUSSURE das wichtige Problem der Sprachgesetze in Angriff. Wie jedes soziale Gesetz müßten auch diese befehlend und allgemein sein. A b e r die Gesetze der Sprache, seien sie synchronisch oder diachronisch, erfüllen nicht zugleich die beiden Bedingungen: die ersteren sind nur allgemein, die letzteren nur befehlend. 1 Nicht viel besser steht es auch mit den erörterten „ L a u t g e s e t z e n " (s. K a p . I des vorliegenden Buches), die keine allgemeine Gültigkeit haben, weil sie diachronisch sind. Außerdem wird ihre Bedeutung für die „ S p r a c h e " noch mehr eingeschränkt, da sie nicht das Wesen des sprachlichen Materials berühren. 2 Ich habe bereits gesagt, daß diese beiden Zweige der Sprachwissenschaft sich durch ihren Gegenstand und ihre Methode unterscheiden. Nachdem SAUSSUKE den Begriff „ S p r a c h e " analysiert hat, die nach ihm keine Substanz, sondern nur F o r m sei, beschäftigt er sich eingehend mit der statischen Sprachwissenschaft: und dann mit der evolutiven. Die Grundelemente der menschlichen Rede, die in einem bestimmten Augenblick betrachtet wird, ohne daß man ihre vorangehenden Phasen beachtet, werden durch syntagmatische und assoziative Beziehungen miteinander verknüpft. Die Wörter werden zu Syntagmen verbunden, zu Gruppen, die sich auf die Ausdehnung gründen und außerhalb von uns eine reale E x i stenz haben. 3 Dennoch gehören sie nicht immer, wie erwartet, nur zum „ S p r e c h e n " , wenn wir nach der gegebenen Definition urteilen. Sie gehören zur „ S p r a c h e " , und zwar dann, wenn wir es mit fertig geformten Wendungen zu tun haben, an denen wir nichts ändern dürfen ( z . B . allons donc!, ä force de, rompre une lance u . a . ) . Denn die Freiheit der Kombination von Wörtern ist u. a. ein Charakteristikum 1

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Die „Gesetze", d. h. die Regeln, die die Sprache in einem bestimmten Augenblick regieren, sind allgemeine Regeln, denn sie werden auf alle Tatsachen derselben A r t angewandt. Aber ihnen fehlt der befehlende Charakter in dem Sinne, daß die Sprache selbst über keine K r a f t verfügt, die ihr die Wirksamkeit sichert. Das zeigt die größere oder kleinere Zahl von Menschen, die Fehler machen, selbst wenn sie ihre Muttersprache sprechen. So erklärt sich auch die begrenzte Dauer der Wirkung der sprachlichen Gesetze, die mit der Zeit durch andere ersetzt werden. Die Regeln, nach denen sprachliche Erscheinungen im Verlauf der Zeit entstehen, sind befehlend. Das beweist die Tatsache, daß sie erzeugt worden sind, daß ihre Wirkungen bestimmte Elemente der Sprache berührt haben, die mit Hilfe der Texte der Epoche oder der entsprechenden Epochen festgestellt werden können. Doch sie besitzen keinen allgemeinen Charakter, weil sie trotz des Anscheins nicht auf alle Wörter, Formen usw. einwirken, die zur selben Kategorie gehören (man vergleiche z. B. die „Ausnahmen" zu den „Lautgesetzen", die die Junggrammatiker durch Analogie oder verschiedene andere Mittel erklären). Tatsächlich wird weder die Bedeutung eines Wortes noch die Funktion einer grammatischen Form durch die Lautveränderungen beeinträchtigt. Ein Syntagma setzt sich wenigstens aus zwei Einheiten zusammen: relire (= re + lire); contre tous; la vie humaine; le ciel est bleu; s'il fait beau temps, nous sortirons u. a. Wie wir sehen, gibt SAUSSUKE diesem Begriff einen äußerst weitreichenden Sinn. Daher macht er uns darauf aufmerksam, daß das Studium der Syntagmen nicht mit der Syntax verwechselt werden darf, die nur ein Zweig der Syntagmatik ist. Von den zitierten Beispielen gehört das erste nach der üblichen Terminologie zur Wortbildung, die keinesfalls der Syntax einverleibt werden kann.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

des „Sprechens" (natürlich innerhalb der von den Regeln der „Sprache" erlaubten Gesetze). Die Assoziationen oder die assoziativen Beziehungen bestehen darin, daß ein Wort in unserem Geist das Bild eines oder mehrerer von denen erweckt, mit denen es formal oder semantisch verwandt ist. So erinnert uns das Wort enseignement z. B., ohne daß wir es wollen, an enseigner, renseigner usw. oder an educaiion, apprentissage u. a. Es steht also jedes Wort im Zentrum einer „assoziativen Konstellation". Beide Arten von Beziehungen bedingen sich gegenseitig: Je enger die Bindung zwischen ihnen ist, desto weniger beliebig sind die sprachlichen Zeichen. Nicht alle Sprachen können von diesem Gesichtspunkt aus nebeneinandergestellt werden. Bei einigen tritt der beliebige Charakter der sprachlichen Zeichen mehr in Erscheinung, und diese nennt SATJSSUBE l e x i k o l o g i s c h e ; bei anderen treten sie weniger hervor, weil die Beziehungen gefestigter sind. Diese bezeichnet SAUSSUBE als g r a m m a t i k a l i s c h e . Die traditionelle Einteilung der Grammatik in Morphologie und Syntax ist falsch, d. h. unvollständig, da ja auch der Wortschatz zur Grammatik gehört. Es gibt bestimmte Wörter, die jede Art von syntaktischen Beziehungen ohne die Hilfe grammatischer Formen ausdrücken. Auf jeden Fall kann sich die Grammatik nur mit den statischen und koexistierenden Erscheinungen der Sprache beschäftigen, weil ihrem Studium immer die Sprache als ein System von Ausdrucksmitteln zugrunde liegt. Ein solches System dehnt seine Existenz nicht durch mehrere Epochen hindurch aus, sondern beschränkt sie auf eine einzige; eine historische Grammatik hat keinen Sinn, so sagt SAUSSUBE, da das bedeuten würde, daß wir das sprachliche System in seiner Entwicklung studieren: Indem es sich entwickelt, verändert sich das System, wird es ein anderes. Was gewöhnlich historische Grammatik genannt wird, ist nichts anderes als diachronische Sprachwissenschaft. Zum Tätigkeitsbereich der diachronischen Sprachwissenschaft gehört auch das schwierige Problem der L a u t v e r ä n d e r u n g e n . 1 SATJSSUBE unterzieht die Theo1

S A U S S U R E versuchte eine Neuerung in der üblichen Terminologie. Zu seiner Zeit wurde gewöhnlich von Phonetik gesprochen, wenn es sich um Lautphysiologie handelte (also wie Laute erzeugt werden, welcher Art die Laute der menschlichen Rede im allgemeinen sind), und ziemlich selten (vgl. z. B. P. E. G U A R N E R I O , Fonologia romanza, Milano 1 9 1 9 , oder S. P U ^ C A R I U , Despre legile fonologice in: Dacor II [ 1 9 2 1 / 2 2 ] , S. 1 9 F F . ) von Phonologie hinsichtlich der Geschichte der Laute (wie sich im Verlauf der Jahrhunderte die Laute einer Sprache oder einer Gruppe verwandter Sprachen verändert haben). S A U S S U R E wendet diese Termini im umgekehrten Sinn an, weil Phonetik anfangs das Studium der Entwicklung der Laute bedeutet hat und weiterhin bedeutet. Würden wir die Lautphysiologie auch Phonetik nennen, so fügt er hinzu, würde eine Verwechslung zwischen den zwei folgenden, sehr voneinander verschiedenen Disziplinen erfolgen. Das ist einmal die Phonologie, d. h. die Beschreibung der Laute. Sie ist eine Hilfswissenschaft der Linguistik und gehört folglich nicht zu ihr, da u. a. ihr Gegenstand das Sprechen ist. Die andere Disziplin ist die Phonetik, eine historische Wissenschaft und ein wesentlicher Bestandteil der Sprachwissenschaft. S A U S S U R E trennt diese beiden Disziplinen in seinen Definitionen mit Recht. Doch die Verwirrung, die er vermeiden wollte, erfolgt um so leichter, wenn wir uns seiner Termini bedienen. Die große Mehrheit der Linguisten und alle Phonetiker (SIEV E R S , J E S P E R S E N , R O U S S E L O T usw.) bezeichnen nämlich mit Phonetik das aku-

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rien, die in bezug auf die Ursachen dieser Veränderungen aufgestellt worden sind, einer minutiösen Analyse, wie R a s s e , Einfluß des physischen Milieus, Bequemlichkeit, lautliche Heranbildung der Kinder, soziale und politische Bedingungen, Substrat und Mode. Gegenüber allen oder f a s t allen diesen Theorien nimmt S A U S S U R E eine skeptische Haltung ein, weil es, obgleich theoretisch keine dieser Einwirkungen bestritten werden kann, tatsächlich unmöglich ist, den Anteil einer jeden zu bestimmen. E s muß jedoch unterstrichen werden, daß S A U S S U R E der Bequemlichkeit eine besondere Stellung einräumt, indem er ihr eine viel größere Bedeutung zuerkennt als andere neuere Sprachwissenschaftler. Eine Eigentümlichkeit der Lautveränderungen ist, daß sie weder zeitlich noch räumlich Grenzen kennen. Außerdem erzeugen sie große Störungen in der Grammatik. 1 Besondere Aufmerksamkeit schenkt S A U S S U R E der A n a l o g i e , in der er ebenso wie die Junggrammatiker eine Erscheinung sieht, die dem Lautwandel entgegengesetzt ist und infolgedessen diesem gegenüber eine Art sprachliches Gleichgewicht darstellt. Hinsichtlich des Endergebnisses gehört die Analogie zum „ S p r e c h e n " , denn die Analogiebildungen sind individuell. Aber vom Gesichtspunkt des psychischen Prozesses aus, der sie ins Leben setzt, ist sie ein Element der „ S p r a c h e " : Die Sprecher teilen die Wörter in ihre wirklichen oder in ihre angenommenen Komponenten, a u f deren Grundlage Neubildungen entstehen. Diese Analyse, die die Menschen beim Sprechen vornehmen, nennt S A U S S U R E subjektiv, und er unterscheidet sie von der objektiven Analyse der Linguisten, die sich auf die Geschichte, also auf Spezialkenntnisse, und nicht auf das Sprachgefühl stützen wie die Sprecher. In einem Wort wie lateinisch amabas „ f ü h l t e " ein Römer drei Elemente (ama-ba-s) oder vielleicht nur zwei (ama-bas), während die Linguisten vier feststellen (am-a-ba-s). Ebenso wird französisch enfant von einem Pariser als ein einziges Wort gefühlt. Der Linguist dagegen zerlegt es in en und -fant ( = lat. infans „der nicht spricht"). F ü r das Leben der Sprache besitzt natürlich nur die subjektive Analyse Interesse, weil nur sie analogische Neubildungen hervorbringt. Aber auch die objektive Analyse darf nicht außer acht gelassen werden, und zwar u. a. deshalb, weil sie von der subjektiven Analyse herkommt.

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stisch-physiologische Studium der Laute. Wenn andere dazu nicht immer Phonologie sagen, sondern eben Phonetik, dann werden die Möglichkeiten der Verwechslung auf ein Minimum eingeschränkt, weil letzterem Ausdruck das Attribut „historisch" beigegeben wird, sobald es sich um das evolutive Studium der Laute einer Sprache handelt. Außerdem wird häilfig für historische Phonetik die Bezeichnung Lautgeschichte gebraucht, was wiederum zur Beseitigung jeder möglichen Verwirrung beiträgt. Was die Phonologie in ihrem gegenwärtigen Sinn betrifft, vergleiche S. 340 und 451 ff. So entstanden dadurch zahlreiche romanische Flexionsformen, deren Grundformen nicht in den lateinischen Texten erscheinen, so daß sich die Kasus- und Konjugationsendungen usw. infolge des Ausfalls der Endkonsonanten nicht mehr voneinander unterschieden: Verschiedene lautliche Veränderungen erzeugen neue morphologische Gegebenheiten oder können sie erzeugen.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Mehrere Kapitel des Buches von SATTSSURE sind der geographischen Sprachwissenschaft 1 gewidmet, die nach ihm zur äußeren Sprachwissenschaft gehört. In jeder Beziehung interessant ist das Problem der Verschiedenheit der Sprachen. SAUSSTJEE sieht in dem Entstehen der Sprachen und Dialekte ein Werk der Zeit. Der Raum erklärt uns nur das gemeinsame Element, denn er verursacht es, daß die Unterschiede von einer Sprache zur anderen nicht so groß sind, wie sie sein müßten, wenn die Zeit in aller Freiheit arbeiten würde. Durch geographische Nachbarschaft können Besonderheiten einer Mundart verbreitet werden und auf diese Weise sogenannte isoglossematische Linien oder Grenzen der mundartlichen Erscheinungen entstehen, die SAUSSUEE mit Vorliebe Neuerungswellen nennt. Diesen Ausdruck hatte er aus der Wellentheorie von J . S C H M I D T 2 entlehnt. Die sprachlichen Neuerungen breiten sich unter der Herrschaft zweier Kräfte aus: Die eine Kraft ist zentripedal (,,la force d'intercourse" 3 oder „force unifiante"), die andere zentrifugal (,,1'esprit de clocher" 4 ). Beide kämpfen miteinander. N a t ü r l i c h e S p r a c h g r e n z e n g i b t es n i c h t ; wir haben soviele Dialekte, wieviele Ortschaften es gibt. Wenn wir einen Blick auf eine Sprachkarte werfen, so beobachten wir zuweilen, daß zwei oder drei Neuerungswellen fast zusammenfallen oder sich sogar auf irgendeinem Gebiet decken. Wenn solche Übereinstimmungen zahlreich genug sind, dann kann von Dialekten 5 gesprochen werden. Auf jeden Fall aber sind die Ursachen für die Differenzierung der Dialekte im Hinblick auf die menschliche Rede äußerer Natur. Es sind z. B. soziale, politische, religiöse Tatsachen usw. (somit die historischen Bedingungen, unter denen sich das Leben der Sprachgemeinschaft entfaltet). Ebenso gibt es keine natürlichen Grenzen zwischen den Sprachen. Hier sind die Unterschiede von der einen Sprache zur anderen natürlich viel offensichtlicher und oftmals scharf und schroff. Aber auch sie sollen einer der 1

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Diese ist nicht mit der Sprachgeographie zu verwechseln. Der Begründer der französischen Schule beschäftigt sich nur mit der Verbreitung der verschiedenen Sprachen auf dem Erdball, warum es so viele Sprachen gibt, ob Grenzen zwischen ihnen vorhanden sind, u. a. Er gibt infolgedessen dem Ausdruck Geographie die übliche Bedeutung, die sich von der unterscheidet, die wir im III. Kapitel des vorliegenden Büches betrachtet haben. Zwar erwähnt SAUSSUKE den Atlas linguistique de la France (S. 276/77 bzw. S. 242 in der deutschen Übersetzung) und dessen Verfasser, aber aus der Art, wie er über dieses Werk spricht, ist leicht ersichtlich, daß er nicht dessen außerordentlichen Wert, den es besonders für die allgemeine Sprachwissenschaft hat, würdigt. So schreibt er z . B . folgendes: „Einer der Vorteile der Sprachatlanten besteht darin, daß sie Material für Arbeiten auf dem Gebiet der Dialektologie liefern." Vorher hatte er betont, daß das kartographische Verfahren erforderlich ist, um die charakteristischen Besonderheiten der Dialekte zu studieren. Darauf wird also die Sprachgeographie be2 schränkt, so wie sie GILLIÄRON geschaffen hat? Vgl. Kap. I. Ein englisches Wort, das „soziale Beziehungen, Handel, Verkehr" bedeutet. Der lokale Konservatismus, der widerspenstige Geist gegenüber den von anderswo kommenden Neuerungen. SATJSSTTBE erörtert auch die Frage: Was ist Dialekt? Was ist Sprache? Aus dem, was er sagt, geht hervor, daß diese beiden Begriffe sehr relativ sind, was uns wiederum an SCHTTCHARDT erinnert (s. Kap. I des vorliegenden Buches, S. 71), wie so viele der weiter oben dargelegten Ansichten.

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Sprache fremden Ursache zugeschrieben werden: Vor allem handelt es sich, um Hin- und Herbewegungen von Völkern, die den Untergang von Sprachen, die eine Zwischenstellung aufwiesen und sich allzu wenig von den heute benachbarten Sprachen unterschieden, verursacht haben. Ebenso können zur Verwischung der sprachlichen Übergänge Ereignisse anderer Art beigetragen haben, wie z. B. die Ausbreitung der Gemeinsprache auf Kosten der Volksmundarten (wie das u. a. in Frankreich der Fall ist). Obgleich die Sprache ein rein psychisches Produkt ist, glaubt S A U S S U R E nicht, daß aus ihrem Studium Schlüsse über die geistige Eigenart derjenigen gezogen werden können, die sie sprechen. Zwei Argumente erhebt er gegen die V O S S L E B SO teueren Ideen (s. Kap. I I des vorliegenden Buches): 1. „ . . . das besondere Verfahren bei einer Ausdrucksweise ist nicht stets und unbedingt durch psychische Ursachen bestimmt." (S. 273 der deutschen Übersetzung.) 2. „. . . die psychische Eigenart einer Sprachgemeinschaft bedeutet wenig gegenüber solchen Tatsachen wie Ausfall eines Vokals oder Akzentwechsel und vielen anderen entsprechenden Erscheinungen, die jeden Augenblick die Beziehung zwischen Bezeichnung und Vorstellung in jeder beliebigen Sprachform umzugestalten vermögen." (S. 274.) Verschiedene gut ausgewählte Beispiele werden angeführt, um diese Ansicht zu stützen. Wenn es sich so verhält, ergibt sich daraus, daß eine Sprachfamilie nicht von Rechts wegen und ein für allemal einem bestimmten sprachlichen Typ angehört. Stärker noch wird dieser Gesichtspunkt in den Schlußworten seines Buches herausgestellt, die wir als Grundgedanken der Sprachauffassung S A U S S U R E S betrachten können: „. . . die Sprache an und für sich selbst betrachtet ist der einzige wirkliche Gegenstand der Sprachwissenschaft." (S. 279.)x 1

Nach neuesten Forschungen stammt dieser Satz jedoch nicht aus der Feder S A U S S U B E S . Ihn haben die Herausgeber des Cours de linguistique générale geprägt. Bekanntlich beruht ja dieses Buch von S A U S S U B E größtenteils auf Kollegnachschriften. Einen sehr interessanten Einblick in die Abfassung des Cours . . . gewährt die Dissertation Les sources manuscrites du Cours de linguistique générale de Ferdinand de Saussure, Genève-Paris 1957 (veröffentlicht als 61. Band der „Société de Publications Romanes et Françaises"), von R O B E B T G O D E L , einem Schüler von B A L L Y und S E C H E H A Y E . Auf einige sehr wesentliche Punkte dieser Arbeit G O D E L S weist S. H E I N I M A N N in ZRPh L X X V ( 1 9 5 9 ) , S. 1 3 2 F F . , hin. Er stellt fest: „Mit nicht geringem Staunen vernimmt man jetzt aus Godels Buch, daß der gewichtige Abschnitt über die linguistique sytichronique, der in der Ausgabe von Bally und Sechehaye rund 50 Seiten umfaßt, in Saussures ganzer Lehrtätigkeit nur wenige Stunden seiner letzten Vorlesung beanspruchte. In genialer Schau hat der Meister vor seinen Schülern die Grundzüge mit wenigen Strichen gezeichnet. Und wenn ihn die Frage einer neuen Fundierung der Grammatik und die Klärung der geläufigen sprachwisssnschaftlichen Terminologie — darum ging es ihm hier ja in erster Linie — lange vorher beschäftigt hatte, so nur deshalb, weil er bei seinen historischen Arbeiten immer wieder das Ungenügen der herkömmlichen Klassifikationen und begrifflichen Abgrenzungen empfand: Godels Arbeit zeigt, welch großes Interesse Saussure für die Vielfalt der Sprachen und deren Geschichte besaß, und wie vorsichtig er bei der Anwendung neuer Termini war. Zugleich wird in Godels Darlegungen deutlich sichtbar, daß Saussure weniger dogmatisch war, als es verschiedene Linguisten vorgeben."

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Kritik der Lehre Saussures Ein Vergleich SAUSSURES mit einigen Gelehrten, die wir bereits kennen, macht sich besonders deshalb erforderlich, weil wiederholt erörtert worden ist, welchen Platz SAUSSUBE in der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt. Als A. W A L LENSKÖLD in NM X X V (1924), S. 230ff., meinen Aufsatz Der heutige Stand der romanischen Sprachwissenschaft in: Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Festschrift für Wilhelm Streitberg, Heidelberg 1924, S. 585ff., rezensierte, warf er mir vor, daß ich die Vertreter der französischen sprachwissenschaftlichen Schule mit ihrem Begründer an der Spitze als Gegner der Junggrammatiker 1 betrachte, während sie tatsächlich nur Fortsetzer dieser Richtung seien. Und F. SCHÜBR vertritt in seiner Arbeit Das Wesen der Sprache und der Sinn der Sprachwissenschaft (in: DVGL I [1923], S. 485/486) die Auffassung, daß SATTSSUBE in vieler Hinsicht ein „Positivist" sei (über den Sinn dieses Ausdruckes s. Kap. I des vorliegenden Buches), da er vom „Mechanismus" der Sprache spreche und eine zu rationalistische Sprachauffassung habe. Auch andere Gelehrte, unter ihnen sein ehemaliger Schüler A. SECHEHAYE (vgl. VRo V [1940], S. 1 ff.), stellen ihn in die Reihe der Junggrammatiker. Es ist richtig, daß uns SAUSSURE sehr oft an diese erinnert. Die große Bedeutung, die er der Bequemlichkeit als Faktor der Lautveränderungen zuerkennt, die Tatsache, daß er die Analogie neben und in Gegensatz zum Lautwandel setzt, die Ignorierung der Sprachgeographie, das Zurückweisen der VossLEBschen Auffassung vom „Sprachgeist" u. a.: das sind einige „alte" Auffassungen in der Lehre SAUSSURES. Aber viele andere und wichtigere Anschauungen trennen ihn von der traditionalistischen Schule; so z. B. der individuelle Ursprung der sprachlichen Neuerungen, die Negierung der Gesetze jeder Art und der natürlichen Grenzen zwischen den Sprachen, die psychische Wesensart der menschlichen Sprache (selbst bei der Erzeugung der Laute tritt die Psyche der Sprecher dazwischen), die Bevorzugung der statischen Sprachwissenschaft, d. h. die zumindest im Prinzip feindliche Einstellung dem Historismus gegenüber, der den Junggrammatikern so sympathisch war, usw. Daraus leiten sich wieder andere charakteristische Züge der Lehre SAUSSURES ab, so z. B. die große Bedeutung, die die Syntax 2 erlangt, 1

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Ich weiß nicht, daß ich das irgendwo behauptet hätte. Die Tatsache, daß ich die französische sprachwissenschaftliche Schule ebenso eingehend wie den „Idealismus" VOSSLEBS oder die Sprachgeographie GILLIÄSONS studiert habe, könnte höchstens in dem Sinn interpretiert werden, daß SAUSSUBE und dann seine Schüler in unserem Faoh einige neue Ideen und Gesichtspunkte aufgebracht haben, was meines Erachtens niemand leugnet. Außerdem nimmt dieser Gelehrte sowohl selbst als auch durch seine Schüler in der Entwicklung der Sprachwissenschaft einen der bedeutendsten Plätze ein. Das erkennt wiederum jedermann an. Aber daß ich aus ihm einen Revolutionär gemacht habe, ergibt sich aus keiner Stelle meines Aufsatzes. Im Gegenteil, auf S. 608 sage ich klar: ,,. . . er tritt n i c h t als Revolutionär auf." Zwar haben auch die Junggrammatiker auf diesem Gebiet gearbeitet, aber die meisten von ihnen beschäftigten sich mit den Lauten und den grammatischen Formen. Vergleiche auch die Vielzahl von Handbüchern und Grammatiken, die nur die Phonetik und Morphologie enthalten!

Kritik der Lehre Saussures

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und die Schaffung eines neuen Zweiges der Sprachwissenschaft, der Stilistik. 1 In dieser Hinsicht nähert sich die französische Schule VOSSLER und seinen Schülern, von denen sie sich jedoch vor allem dadurch grundlegend unterscheidet, daß sie im allgemeinen das ästhetische Element in der Sprache nicht berücksichtigt, dem die „Idealisten" in ihren Werken einen vorherrschenden Platz einräumen. Wir sahen, wie auch die Vertreter der idealistischen Schule mit Vorliebe die Syntax im weiten Sinne des Wortes pflegten, wobei sie natürlich von einem anderen Gesichtspunkt ausgingen, nämlich davon, daß der „Sprachgeist" leichter entdeckt werden könne, wenn wir die syntaktischen Fakten studieren. Schließlich hat sogar die soziologische Auffassung der menschlichen Sprache, ohne völlig neu zu sein, durch ihre konsequente Anwendung auch zu neuen Resultaten geführt: Zahlreiche sprachliche Erscheinungen wurden in anderer und viel überzeugenderer Weise als vorher von dem Blickpunkt aus studiert, daß die menschliche Sprache eine soziale Tatsache ist. 2 Von VOSSLER entfernt sich SAUSSURE nicht nur durch eine Einstellung, die dem Problem des „Sprachgeistes" diametral entgegengesetzt ist, und durch die völlige Vernachlässigung des ästhetischen Faktors. Wie wir gesehen haben, spricht SAUSSURE vom „Erlernen" der Sprache: Der Mensch kennt das sprachliche System nicht von Anfang an, sondern er muß es mit der Zeit erfassen, und diesem Ziel gelten je nach den Umständen seine größeren oder kleineren Anstrengungen. VOSSLER dagegen betrachtet den einzelnen Sprecher als Schöpfer, gerade wie einen Dichter, d. h. als originell, unfähig, andere und sogar sich selbst nachzuahmen. Die Ursache für diesen Unterschied muß darin gesucht werden, daß SATTSSURE die „Sprache" betrachtet, VOSSLER aber das „Sprechen". Daher hat jeder auf seine Art recht. Denken wir nur an die Schwierigkeiten, mit denen die Kinder, oftmals auch die Erwachsenen, zu kämpfen haben, bis es ihnen gelingt, das System der Muttersprache völlig zu beherrschen (in erster Linie die grammatischen Formen). Was das „Sprechen" betrifft, die Art, wie jedes Individuum dieses System in dem Augenblick anwendet, in dem es etwas sagen will, so ist ebenfalls offensichtlich, daß das „Erlernen" oder das „Nachahmen" eine Unmöglichkeit scheint. Wie könnten wir uns nach der Redeweise des anderen3 in dem Moment richten, da die Gedanken und Gefühle, die wir ausdrücken wollen, unsere und nur die unsrigen sind? Der Dualismus „Sprache" und „Sprechen" erklärt uns auch noch einen Unterschied zwischen SAUSSURE und VOSSLER: Der erste studiert die menschliche Sprache in ihren gemeinsamen allgemeinen Elementen, der andere interessiert sich für die individuellen sprachlichen Besonderheiten. 1 2

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Nicht von SAUSSUBE selbst, sondern von seinem Schüler CHARLES BALLY. Einzelheiten in bezug auf diesen Punkt werden später erörtert werden, wenn ich mich mit der Tätigkeit A. MEILLETS beschäftige, des autorisiertesten Vertreters der soziologischen Sprachauffassung. Wenn dies dennoch oftmals vorkommt, hat die Nachahmung, wie es nicht anders sein kann, nur die fertigen Formeln und Konstruktionen zum Gegenstand, die indessen zur „Sprache", nicht zum „Sprechen" gehören.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Die Gemeinsamkeiten mit G I L L I E R O N sind tiefgehender, weil sie nicht dem Zufall zu verdanken sind, sondern einer verwandten Geisteshaltung, die in einem gewissen Grad durch eine ähnliche wissenschaftliche Ausbildung erklärt werden könnte. 1 So ist auch S A U S S U B E Rationalist, wenn auch offensichtlich in geringerem Maße als der Begründer der Sprachgeographie. Auch er sieht in der Sprache nur ein Yerständigungsmittel zwischen den Menschen, folglich ein Produkt des Verstandes, ohne jede Mitwirkung der Phantasie und des Affekts. Den gleichen Schluß können wir mit Recht aus der Art ziehen, wie SAUSSTTBE über das „System" der Sprache spricht. Hiernach scheint es ein Mechanismus zu sein, eine Maschine, die aus zahlreichen Teilen konstruiert ist, die eng und in komplizierter Weise miteinander verbunden sind. Daher ist es notwendig, daß wir sie kennen, d. h. ihre wesentlichen Elemente, und daß wir es lernen, mit dieser Maschine umzugehen, weshalb wir auch versucht sind, sie zu „demontieren". (So muß die subjektive Analyse begriffen werden, die weiter oben erwähnt wurde.) Die natürliche Folge dieser rationalistischen Konzeption ist die große Rolle, die das Bewußtsein in den sprachwissenschaftlichen Lehren von S A U S S U B E und G I L L I E R O N spielt: GELLIÄRON beruft sich ständig auf die Homonymie, die Volksetymologie und andere rein intellektuelle Faktoren der menschlichen Sprachentwicklung, S A U S S U B E macht aus der Analogie wiederum ein ausschließlich rationalistisches und bewußtes Verfahren, ein Sprachprinzip von außerordentlicher Wichtigkeit 2 . Hinzuzufügen wäre noch, daß beide sichtbar die synchronische Linguistik bevorzugen, was sich übrigens, wenn auch indirekt, aus den bisher gezeigten Entwicklungen ergibt. Von den gegensätzlichen Ansichten, die zwischen S A U S S U B E und G I L L I E R O N bestehen, ist bereits erwähnt worden, daß S A U S S U B E die Bedeutung der Sprachgeographie für die allgemeine Theorie der menschlichen Sprache überhaupt nicht schätzt. Hier sei noch ein wiederum sehr wichtiger Unterschied herausgestellt: G I L L I Ä R O N beschäftigte sich, als er die Dialekte studierte, natürlich mit dem „Sprechen", obgleich er auch die „Sprache" betrachtete, nämlich dann, wenn er die lexikalischen Überschichtungen in die Tiefe verfolgte und sprachwissenschaftliche Prinzipien erörterte. Außerdem untersuchte er auf Grund des Wesens und der Ziele der Disziplin, die er geschaffen hat, vor allem den Wortschatz der Volks1

2

Zehn Jahre lang (1881—1891) lebten und arbeiteten die beiden Sprachwissenschaftler gleichzeitig in Paris. Hier einige Zitate aus den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (vgl. deutsche Übersetzung von H. L O M M E L ) : „Die gegebenen Einzelheiten werden in der Sprache immerfort zerlegt und ausgelegt." (S. 202) „Aber sogar bei diesem Tasten übt die Analogie einen Einfluß auf die Sprache aus. So spiegelt sie, obwohl sie selbst keine Entwicklungstatsache ist, von Augenblick zu Augenblick die Veränderungen wider, die in der Ökonomie der Sprache auftreten, und rechtfertigt sie durch neue Kombinationen. Sie arbeitet in wirksamer Weise zusammen mit allen den Kräften, die ohne Unterlaß die innere Architektur eines Idioms verändern, und insofern ist sie ein mächtiger Faktor der Entwicklung." (S. 205) ,,. . . und als Ganzes genommen, spielen diese fortwährenden Ummodelungen in der Sprache eine beträchtliche Rolle, beträchtlicher noch sogar als die Lautveränderungen." (S. 205)

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mundarten und als unmittelbare und logische Folge die Phonetik. SAUSSUBE dagegen bevorzugte theoretisch die Syntax, weil er aus den bereits aufgezeigten Gründen meinte, daß die wirkliche Sprachwissenschaft die synchronische oder statische sei. Die Ideen SAUSSUEES finden wir auch bei einigen anderen französischen Linguisten, wie M. B B É A L , V. H E N K Y und A. DAEMESTETER, die alle älter sind als er, so daß die Ansicht naheliegen könnte, SAUSSURE wäre diesen französischen Forschern verpflichtet. Doch es darf wohl gesagt werden, daß es sich hierbei oftmals um Ideen handelte, die „in der Luft lagen" und am Ende des vergangenen Jahrhunderts eine Art Gemeingut der Sprachwissenschaft waren. Unabhängig davon bleibt das große Verdienst SAUSSUEES, ein sehr gut geformtes sprachliches System konstruiert zu haben, vollständig bestehen, gleichgültig, woher er das Material genommen hat. Seiner originellen Leistung ist es durchaus nicht abträglich, wenn ich etwas von diesen Übereinstimmungen anführe. A. DAUZAT (Essai de méthodologie linguistique dans le domaine des langues et des patois romans, Paris 1906, S. 100) gibt die folgende, ziemlich seltsame Feststellung von V. H E N K Y (Antinomies linguistiques, Paris 1896, S. 58) wieder, die an die von SAUSSURE dem Begriff der „Sprache" gegebene Definition erinnert: „Notre langue maternelle, nous la savions virtuellement avant que de naître: je veux dire que les tours de phrase, l'ordre des mots et conséquemment l'agencement des idées constituent un fonds linguistique et logique qui par un vague atavisme doit se transmettre du cerveau de l'ancêtre à celui de ses descendants." Einige Seiten weiter stellt DAUZAT fest : M. B E É A L , als er sich in seinem berühmten Buch Essai de sémantique, Paris 1897 (3. Auflage ebenda 1904), mit den Ursachen der semantischen Veränderungen beschäftigt, beruft sich u. a. auch auf die N ü t z l i c h k e i t . Weil die Sprache ein Kommunikationsmittel unserer Gedanken ist, verändern die Wörter den Sinn, um besser dieser Bestimmung der menschlichen Rede zu entsprechen. Auch SAUSSURE vertritt die Ansicht, nach der die Sprache durch das Bedürfnis der Menschen entstanden ist, sich untereinander zu verständigen, und daß sie keine andere Existenzberechtigung als diese besitzt. Über B R É A L und sein hier zitiertes Buch schreibt A. M E I L L E T in B S L X X (1916), S. 1 6 - 1 7 , folgendes: „Présentant le langage comme le résultat de l'activité humaine et des efforts faits par les hommes pour s'exprimer clairement et commodément, l'auteur échappe au danger de considérer le langage en lui-même, comme une sorte d'objet; tout dans ce livre est raisonnable et intelligible; l'espèce de mysticisme latent qui subsiste du fait que la linguistique historique s'est développée au milieu de l'époque romantique en est entièrement banni." Siehe auch A. M E I L L E T , Linguistique historique et linguistique générale II, S. 212ÎF., wo wir u. a. lesen, daß B R É A L vor SAUSSURE den sozialen Charakter der Sprache anerkannt hat und aus diesem Gedanken den richtigen Schluß zog, daß sich viele sprachliche Veränderungen durch Tatsachen der Zivilisation, d. h. durch gesellschaftliche Gegebenheiten erklären. Was A. DABMESTETEB betrifft, so bezieht sich DAUZAT in seinem oben genannten Werk (Kap. III) auf dessen Cours de grammaire historique de la langue française. Hier vertritt DAUZAT die Ansicht, daß das Prinzip der Katachrese (der

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Sinn der Wörter wird verändert, weil der Sprecher einen Ausdruck vergißt und n u r den zweiten behält, z. B. frz. noire „Viertelnote", das Ergebnis aus note noire, oder lat. hibernum für hibernum tempus, wie es rum. iarnä, ital. inverno, frz. hiver usw. beweisen), so wie es DABMESTETEB auffaßt, im Keim die Theorie der psychologischen Interferenzen von A. M E I L L E T enthält, dem bedeutendsten Schüler SAUSSURES. Über die Katachrese spricht DABMESTETEB auch in La vie des mots, S. 67 (17. Auflage Paris 1928; 1. Auflage ebenda 1887), einem Buch, in dem wir ebenfalls einige Gedanken SAUSSUEES finden, z. B. den des individuellen Ursprungs der lautlichen Veränderungen (S. 7—8; auf S. 46 und S. 89 wird dasselbe über die semantischen Veränderungen und die Sprachveränderungen im allgemeinen gesagt), außerdem den, wonach die Sprache geschaifen worden ist, damit sich die Menschen untereinander verständigen, u. a. Betrachten wir nun kritisch einige Ideen, die das Wesen der Sprachauffassung SAUSSUBES bilden. Seine strikte Trennung der „Sprache" vom „Sprechen" entspricht nicht der Wirklichkeit. Diese beiden Aspekte der menschlichen Rede bilden in jedem speziellen Fall (ich beziehe mich auf alle Sprachen, die es heute gibt oder je gegeben hat) eine unauflösliche, ich möchte sagen, dialektische Einheit: Das eine kann man sich nicht außerhalb oder unabhängig von dem anderen vorstellen, sondern beide bedingen einander gegenseitig, weil die „Sprache" das Allgemeine darstellt, das „Sprechen" aber das Besondere. Selbst M E I L L E T zeigt (BSL X X [1916], S. 32ff.), daß die „Sprache" nicht gut bekannt sein kann, wenn wir nicht zunächst einmal das „Sprechen" studieren. Das bedeutet: Die Existenz der „Sprache" hängt vom „Sprechen" ab, das im Grunde ihr Ausgangspunkt ist. Ernste Folgen scheint mir der Fehler gehabt zu haben, die „Sprache" als eine Abstraktion zu betrachten, als eine Art Spiel unseres Verstandes, so wie es beim Schachspiel der Fall ist. (Übrigens bringt SAUSSTJBE selbst diesen Vergleich mit dem Schachspiel im Verlauf einer Diskussion über das Wesen der Sprache.) Auch andere Sprachwissenschaftler, unter ihnen O . J E S P E R S E N (S. J P N P X X V I I [ 1 9 2 7 ] , S. 585), wandten sich gegen die radikale Trennung dieser Aspekte der menschlichen Rede. Dagegen sind die Sprachwissenschaftler zahlreicher, die sich diesen Gedanken SAUSSURES 1 angeeignet haben, indem sie oftmals mit dem Bruch zwischen „Sprache" und „Sprechen" sogar weiter als er gegangen sind und die „Sprache" als eine einfache Abstraktion, als ein System von reinen Beziehungen betrachten (z. B. L. H J E L M S L E V , der Schöpfer der „Glossematik"; vgl. die in VI I I [1953], Fasz. 3, S. 25, veröffentlichte kritische Studie der sowjetischen Sprachwissenschaftlerin 0 . S. ACHMANOVA). Eine ins einzelne gehende und subtile Analyse der Begriffe „Sprache" und „Sprechen", so wie sie in der Konzeption SAUSSURES erscheinen, nimmt E. COSERIU (Sistema, normo, y habla in: RFHC, Montevideo ^ 1

Vgl. z. B. A. H. GABDINEB, The theory of speech and language, Oxford 1932, und The distinction of „Speech" and „Language" in: Atti del III Congresso internazionale dei Linguisti, Firenze 1935, S. 345 ff. Seit April 1958 erscheint eine Language and Speech betitelte Zeitschrift, herausgegeben von D. B. FRY (London), deren hauptsächliche Beschäftigung dem Studium der menschlichen Rede unter den hier erörterten Aspekten gilt.

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VI [1952], S. 113ff.) vor. Er zeigt gründlich den Konventionalismus dieser Dualität auf, indem er sich auf verschiedene Feststellungen in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft stützt und vorschlägt, daß das Verbindungselement zwischen der „Sprache" (er sagt dazu „System", Abstraktion zweiten Grades) und dem (individuellen) „Sprechen" die „Norm" darstelle (Abstraktion ersten Grades; das, was wir den allgemeinen Sprachgebrauch nennen können: diesem und nicht dem System passen sich die Sprecher an). Von diesem Grundgedanken S A U S S U R E S leitet sich einerseits die Einteilung der Sprachwissenschaft in eine innere und eine äußere ab mit der unmittelbaren und unvermeidlichen Folgerung, daß allein die erstere wirkliche Sprachwissenschaft sei (denn sie allein kann und muß die „Sprache" studieren), andererseits die Unterscheidung zwischen synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft, wobei ausschließlich die synchronische bevorzugt wird (weil nur diese sich mit dem System der „Sprache" beschäftigt). Beide Ideen sind zumindest teilweise falsch, weil das Ziel der Sprachwissenschaft u. a. ist, die Sprache in Verbindung mit anderen sozialen Tatsachen zu studieren, genauer gesagt, in Verbindung mit der Gesellschaft, die sie geschaffen und unaufhörlich entwickelt hat. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die äußere Sprachwissenschaft authentischer als die innere. Und die Sprache in Verbindung mit der Gesellschaft zu studieren, bedeutet, ihre Entwicklung historisch zu verfolgen. Daher der Schluß, daß die diachronische Sprachwissenschaft größeres Interesse besitzt als die synchronische, selbst wenn diese nicht auf eine einfache Algebra reduziert wird. (Abgesehen davon, daß die erstere kraft der Gegebenheiten auch äußere, nicht nur innere Sprachwissenschaft ist. Wenn wir es richtig verstehen, verbindet sie harmonisch diese beiden Sprachwissenschaften S A U S S U R E S miteinander, die von ihm als einander ausschließend dargelegt werden.) 1 Die umstrittenste Idee in der Konzeption Saussures, der auch die Unterscheidung zwischen „Sprache" und „Sprechen" zugrunde liegt und die sicherlich nicht zufällig am Ende des Buches steht, ist, daß der einzige wirkliche Forschungsgegenstand der Sprachwissenschaft die Sprache an und für sich selbst betrachtet sei. Somit wird sie völlig von denjenigen abstrahiert, die sie sprechen, von dem Ort, der Zeit und anderen Bedingungen, unter denen diese Sprecher leben, usw. Der schwerwiegende Fehler in dieser Feststellung ist so offensichtlich, daß es mir überflüssig scheint, ihn zu erörtern. Noch schwerwiegender aber waren 1

Über die diachronische und synchronische Sprachwissenschaft s. u. a. ALF S O M M E R F E L T , Points de vue diachronique, synchronique et panchronique en linguistique générale in: NTS I X (1937), S. 240ff. (er bezieht sich besonders auf L . H J E L M S L E V , Principes de grammaire générale, Copenhague (1928); C H . B A L L Y , Synchronie et Diachronie in: VRo II (1937), S. 345ff.; er geht hier von dem weiter oben (S. 328) zitierten Aufsatz von W. v. W A B T B U R G aus, worauf W A R T B U R G wiederum antwortet in Mélanges linguistiques offerts à Charles Bally, Genève 1939, S. 3ff.); A L W I N K U H N , Synchronie und Diachronie in: R P L U I (1939), S. 306ff. (in Verbindung mit dem Aufsatz von B A L L Y in Festschrift für Ernst Tappolet, Basel 1935, S. 9ff., und einer Studie von E. L E R C H , Hauptprobleme der französischen Sprache I, Braunschweig 1933, S. 235ff.).

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Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

die praktischen Folgerungen aus diesem Gedanken. Ich beziehe mich vor allem auf einige Aspekte des gegenwärtigen Strukturalismus, der auf dieser abstrakten Sprachauffassung basiert, die von einigen Vertretern der verschiedenen strukturalistischen Schulen in Europa und Amerika so weit getrieben wird, daß jede vorstellbare Grenze für das normale menschliche Fassungsvermögen aufhört. Es muß indessen herausgestellt werden, daß zahlreiche Vertreter des Strukturalismus, unter ihnen Mitglieder des ehemaligen Prager Kreises (mit N. S. TKUBETZKOY 1 und R . JAKOBSON an der Spitze), A. MARTINET (Paris) u.a., durch ihre Arbeiten zum Fortschritt der allgemeinen Sprachwissenschaft beigetragen haben und noch beitragen, und selbst von den prinzipiellen Gegnern des Strukturalismus geschätzt werden. Auf Grund der verschiedenen Ansichten und Einstellungen zum Strukturalismus hat die sowjetische Zeitschrift VI hierüber eine breite Diskussion eröffnet (mit Beginn des 5. Bandes [1956], Nr. 5), an der zahlreiche Linguisten nicht nur aus der Sowjetunion, sondern auch aus anderen Ländern teilgenommen haben. Einige haben sich mit oder ohne Vorbehalt für diese Lehre ausgesprochen, andere dagegen. Wenige Zeit vorher veröffentlichte 0 . S. ACHMANOVA (bereits weiter oben erwähnt) die Broschüre OcHOBHue HanpaBJieHHH JiHHrBHCTHiecKoro CTpyKTypaJiH3Ma, MocKBa 1955, in der eine Gesamtdarstellung

des Strukturalismus in Verbindung mit bestimmten gegenwärtigen idealistischen philosophischen Strömungen gegeben wird. Zum Schluß erachte ich es für notwendig, daß ich mich noch bei einem von erörterten Problem aufhalte. Es handelt sich um die Natur des sprachlichen Zeichens. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß nach der Ansicht des SATTSSUBE

1

I m allgemeinen wird er als Begründer der Phonologie betrachtet, die das Studium der Phoneme bedeutet, d. h., die L a u t e werden vom funktionellen Gesichtspunkt aus betrachtet, von der Funktion aus, die sie erfüllen und die in der Unterscheidung der einen Wörter von den anderen auf der Grundlage der zwischen den Phonemen vorhandenen Oppositionen besteht. Die Phonologie ist nicht in ihrer Gesamtheit die Schöpfung von T B U B E T Z K O Y . Zu ihrer Bildung trugen direkt oder indirekt nicht nur die Mitglieder (oder ein Teil der Mitglieder) des Prager sprachwissenschaftlichen Kreises bei ( V . M A T H E S I T J S , R . J A K O B S O N , B . T B N K A U. a.), sondern auch andere Sprachwissenschaftler und P h o n e t i k e r v o r und n a c h ihnen. T B U B E T Z K O Y ist der erste gewesen, der die Prinzipien und Methoden der Phonologie in einer zusammenfassenden Arbeit festzulegen versuchte. Dieses Werk erschien nach seinem Tod (und daher ohne den Schlußteil, der ungefähr 20 Seiten betragen hätte) unter dem Titel Grundzüge der Phonologie, Prag 1939 (268 Seiten). Dieses B u c h , das große Wirkung ausüben sollte, erschien auch in französischer Übersetzung (Principes de phonologie, Paris 1949, mit autobiographischen Notizen, die von R . J A K O B S O N mitgeteilt wurden, und mit der Bibliographie der hauptsächlichsten phonologischen Arbeiten T B T J B E T Z K O Y S ; 2. Auflage ebenda 1956). E r wähnt sei in diesem Zusammenhang auch, daß das Publikationsorgan M3BecTHH AKa«eMHH Hayn CCCP, OT^e-neime -iHTepaTypti h fiatina eine Diskussion über die Phonologie vom Gesichtspunkt der materialistischen Sprachwissenschaft aus mit sehr großer Beteiligung organisiert hat (die entsprechenden Aufsätze erschienen in den Bänden X I [1952] und X I I [1953]). Vgl. auch O. C. A X M A H O B A , $ 0 H 0 . N 0 R H H , MocKBa 1954. Eine ausführliche Darlegung der Prinzipien der Phonologie wird auf S. 451 ff. des vorliegenden Buches gegeben.

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Begründers der französischen Schule das sprachliche Zeichen beliebig ist 1 : Irgendein Gegenstand trägt einen bestimmten Namen und nicht einen anderen, obgleich zwischen den verschiedenen Eigenschaften des Gegenstandes und dem Lautkomplex, der den Namen bildet, keine logische Verbindung besteht. Zahlreiche Sprachwissenschaftler (und Philosophen) haben zu dieser Ansicht SAUSSURES Stellung genommen, wobei sie sich, ausgehend von einer Analyse des Problems, dagegen oder dafür aussprachen. Hier einige dieser Studien : S. KARCEVSEXJ, D U dualisme asymétrique du signe linguistique in : Trav I (1929), S. 88ff.; CH. BALLY, Qu'est-ce qu'un signe? in: IPNP XXXVI (1939), S. 161 ff.; E. BENVENISTE, Nature du signe linguistique in: AL I (1939), S. 23ff.; J. M. KORENEK, Laut und Wortbedeutung in: Trav VIII (1939), S. 57ff.; E. LERCH, Vom Wesen des sprachlichen Zeichens in: AL I (1939), S. 145ff. ; CH. BALLY, Sur la motivation des signes linguistiques in : BSL XLI (1940), S. 75ff.; derselbe, L'arbitraire du signe linguistique in: FM VIII (1940), S. 193ff.; E. PICHON, Sur le signe linguistique, ebenda, S. 51-52; E. BUYSSENS, La nature du signe linguistique in: AL II (1940/41), S. 83 ff.; A. SECHEHAYE, CH. BALLY, H. FREI, Pour l'arbitraire du signe, ebenda, S. 165ff. ; P. NAERT, Arbitraire et nécessité en linguistique in: SL I (1947), S. 5ff. Der richtige Gesichtspunkt in bezug auf diese Frage scheint mir der BENVENISTES zu sein, der den falschen Gedanken SAUSSURES dadurch erklärt, daß dieser die Vorstellung des Gegenstandes (die im Bewußtsein der Sprecher vorhanden ist) mit dem Gegenstand selbst verwechselt, der in der materiellen Wirklichkeit existiert : Letzterem gegenüber ist sein Name tatsächlich beliebig, aber sobald er aufgekommen ist, setzt sich der Name durch und hört auf, noch beliebig zu sein (das beweist die Tatsache, daß alle Glieder der Sprachgemeinschaft ihn gebrauchen und niemand ihn absichtlich ändern kann). Dies bedeutet, daß der Name jedoch ursprünglich beliebig war, d. h. das Produkt eines reinen Zufalls.2 Das sprachliche Zeichen kann, wenn auch selten, motiviert sein, wie BALLY sagt (BSL cit.), und 1

2

Die Definition des sprachlichen Zeichens, wie sie im Cours . . . zu finden ist, war Anlaß zu heftigen und weitreichenden Diskussionen. I n der bereits zitierten Arbeit v o n G O D E L wird nun deutlich sichtbar, daß S A U S S U B E selbst diese Definition anders gefaßt hatte. Aus den G O D E L vorliegenden Quellen „geht eindeutig hervor, daß für S A U S S U B E der differenzielle Charakter des signifiant wie des signifié eine logische Folge der Willkürlichkeit des Zeichens ist (GODEL, p. 242f.): 'Mais les valeurs restent relatives parce que le lieu est parfaitement arbitraire', heißt es im Manuskript Dégallier. I m Cours ist daraus geworden: 'Mais en fait les valeurs restent entièrement relatives, et voilà pourquoi le lieu de l'idée et du son est radicalement arbitraire' (4. Aufl. p. 157). Daß diese Darstellung der Grundauffassung S A U S S U R E S zuwiderläuft, hat schon R . S . W E L L S erkannt (vgl. seine penetrante Kritik des Cours in Word 3 , 1 9 4 7 , p. 1 — 3 1 , § 2 8 ) . " (Vgl. S . H E I N I M A N N , Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale in neuer Sicht in: Z R P h LXXV [1959], S. 135/36.) Vergleiche auch die Feststellung v o n K A R L M A R X (Das Kapital, Berlin 1947, B a n d I, S. 106): „Der N a m e einer Sache ist ihrer Natur ganz äußerlich. Ich weiß nichts v o m Menschen, wenn ich weiß, daß ein Mensch Jacobus heißt. Ebenso verschwindet in den Geldnamen Pfund, Taler, Frank, Dukat usw. jede Spur des Wertverhältnisses. ' '

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

zwar dann, wenn das bestimmende Element (das Lautskelett) eine oder mehrere akustische, zuweilen auch visuelle Wahrnehmungen hervorruft : Zwischen colibri, einem beliebigen Namen, und oiseau-mouche, einem motivierten Namen, sind unzählige Übergänge möglich. Die Lehre SAUSSUKES ist von den Fachleuten viel erörtert worden, sei es bei seinem Tod, sei es beim Erscheinen des Werkes, das ich auf den vorangehenden Seiten resümiert habe, sei es bei anderen Gelegenheiten. Ich gebe hier eine Liste der Rezensionen und Aufsätze, die mir direkt oder indirekt bekannt sind: A. MEBLLET, Ferdinand de Saussure (Nekrolog) in: BSL XVIII (1912/13), S. CLXVff.; CH. BATJ.Y, Ferdinand de Saussure et l'état actuel des études linguistiques, Genève 1913 ; W. STBEITBEBG, Ferdinand de Saussure in : IF X X X I (1913), Anzeiger, S. 16; A. MEILLET, Ferdinand de Saussure in: AEP (1913/14), Paris; W. STBEITBEKG, Ferdinand de Saussure in: I J II (1914), S. 203ff.; A. MEILLET in BSL X X (1916), S. 32ff.; M . GBAMMONT in RLR LIX (1916/17), S.402ff.; B . BOUBDON in RPhFE XLII (1917), S. 90ff.; A. MEILLET in RCHL L X X X I V (1917), S. 49ff.; H. ScHtrcHABDT in LgrP X X X V I I I (1917), col. 1ff.; A. SECHEHAYE, Les problèmes de la langue à la lumière d'une théorie nouvelle in : RPhFE XLII (1917), Sonderdruck 30 Seiten; A. DATJZAT, L'orientation sociologique actuelle dans la science du langage in: R I S I (1920), S. 7ff.; H. LOMMEL in GGA CLXXXIII (1921), S. 232ff.; J. VENDBYES, Le caractère social du langage et la doctrine de F. de Saussure in : J P N P XVIII (1921), S. 617ff. ; V. BOGBEA in Dacor II (1921/22), S. 777ff.; H. LOMMEL in DLZ XLV (1924), col. 2040ff.; T H . ABSIL, Sprache und Rede. Zu de Saussures „Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft" in: Neophilologus X (1925), S. LOOFF. und S. 186ff.; M . BABTOLI, Introduzione alla Neolinguistica, Ginevra 1925, S. 102ff.; A. PHILIPPIDE, Originea Romînilor I, Iasi 1925, S. 377ff. ; J. FELLEB, Quelques aspects récents de la philologie romane en France in: RBPhH V (1926), S. 744ff. (er beschäftigt sich mit Cours de linguistique générale und mit dem bereits behandelten Werk von G. MILLABDET, Linguistique et dialectologie romanes); A. SECHEHAYE, L'école genevoise de linguistique générale in: IF XLIV (1926), S. 217 ff. (kritische Darlegung der Theorien von SATTSSTTBE und der Tätigkeit seiner beiden Schüler aus der Schweiz, CH. BALLY und A. SECHEHAYE) ; G. DEVOTO, Una scuola di linguistica generale in : La Cultura VII (1928), S. 241 ff.; H . DELACBOIX, Le langage et la pensée, Paris 1930 (2. Auflage), S. 53ff. (eine kurze, aber sehr gute Darstellung des sprachlichen Systems von SAUSSUBE) und S . 63ff. (das Kapitel „Sprache und Gesellschaft"); Actes du Il-e Congrès international de linguistes, Genève, 25—29 août 1931, S. 146ff.; H. AMMANN, Kritische Würdigung einiger Hauptgedanken von F. de Saussures „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft" in: I F LH (1934), S. 261 ff.; ED. PICHON, La linguistique en France in: JPNP X X X I I I (1937), S. 25ff. (vgl. die Antwort von BALLY in F M [Juli 1940]); K. JIMBO, On the Linguistic Theory of F. de Saussure in: JLSJ I (1939), S. 18ff.; L. MICHEL, Les ensembles sémiologiques dans la linguistique française in: RLV (Tijschrift voor Levende Talen) VI (1940), S . 162ff.; A. SECHEHAYE, Les trois linguistiques saussuriennes in: VRo V (1940), S. 1ff.; K. ROGGEB, Kritischer Versuch über Saussure's Cours général in:

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ZRPh L X I ( 1 9 4 1 ) , S . 1 6 1 ff. (mit einem „Anhang über Phonetik und Phonologie", S. 218FF.); E. B U Y S S E N S , Les six linguistiques de F. Saussure in: LV VII ( 1 9 4 2 ) (vgl. B L X I [ 1 9 4 3 ] , S. 1 2 1 , Fußnote); derselbe, Le langage et le discours. Essai de linguistique fonctionelle dans le cadre de la sémiologie, Bruxelles 1 9 4 3 (s. E. S E I D E L in B L X I [ 1 9 4 3 ] , S. 114FF.); P. A. E y ^ a r o B , H3 HCTOPHH H3UK03HaHHH (Coccrop H cocciopnaHCTBo), MocKBa 1 9 5 4 ; G E R T R U D PÄTSCH, Grundfragen der Sprachtheorie, Halle (Saale) 1 9 5 5 , S. 8 5 - 9 4 , 9 7 , 1 3 4 * ; EUGENIO COSERIU, Sincronía, diacronía e historia. El problema del cambio lingüístico, Montevideo 1958 (164 Seiten). Ich erachte es für das Verständnis mancher Darlegungen dieses Kapitels für notwendig, einige Ansichten der oben erwähnten Autoren hier wiederzugeben. A. M E I L L E T hebt in seinem Nekrolog für Saussure in B S L XVIII u. a. den großen Einfluß dieses Gelehrten auf seine Schüler hervor. Über sich selbst sagt M E I L L E T , ihn belaste das Bewußtsein, daß seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Buchumschlag nicht auch den Namen von S A U S S U R E tragen, der in einem bestimmten Sinn an jeder Seite mitgearbeitet hat. Aber in seiner Rezension der Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (BSL X X ) bringt M E I L L E T gegen seinen Lehrer die folgenden prinzipiellen Einwände vor: 1. Er beschäftigt sich nur mit der „Sprache", die, was richtig ist, größere Bedeutung als das „Sprechen" besitzt, weil sie nicht von dem Sprecher abhängt und eine soziale Tatsache ist. Aber sie kann nicht gut gekannt werden, wenn wir nicht vorher das „Sprechen" studieren. 2. Er trennt die sprachlichen Veränderungen von den äußeren Umständen, die sie bedingen. Das ergibt, daß die Entwicklung der menschlichen Sprache des realen Lebens entbehrt, gleich einer Art Abstraktion, die unabänderlich, unerklärlich bleibt. M . GBAMMONT (RLR LXX), nachdem er geäußert hat, daß nicht alle Ideen in dem Buch SAUSSURES in bezug auf die über die Dialekte geführte Diskussion neu sind, fügt dennoch hinzu:,,. . . personne ne l'avait jamais présentée avec autant de netteté et de précision." (loc. cit., S. 404.) Dieselbe Einschätzung gibt er in Verbindung mit den Fragen, die vom Autor gestellt und allen Linguisten bekannt sind , , . . . aucun ne les avait résolues avec la même sûreté et beaucoup mêlaient ce qu'il a si judicieusement distingué." (ebenda, S. 404.) Diese Ansichten gleichen im Grunde dem, was im vorliegenden Buch über die Sprachtheorie SAUSSURES gesagt worden ist. Interessant ist auch die Art, wie GRAMMONT die gesamte Tätigkeit der französischen sprachwissenschaftlichen Schule charakterisiert, als er sich mit dem Buch M E I L L E T S Caractères généraux des langues germaniques, Paris 1917, beschäftigt (ebenda, S. 415) : „L'école de Ferdinand de Saussure, ou école française, a fait de la grammaire comparée, et avec maîtrise, quand elle l'a jugé à propos; mais sa spécialité est plutôt la linguistique, c'est-à-dire essentiellement l'étude des caractères généraux soit d'une langue soit d'un groupe ou d'une famille de langues, des tendances qui sont propres à chacune et des phéno1

Die Arbeiten von BUDAGOV und PÄTSCH besitzen dadurch besondere Bedeutung, weil die Autoren die Lehre (oder einige der Ideen) SAUSSUBES vom Gesichtspunkt der marxistischen Sprachwissenschaft aus betrachten.

23 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

mènes qui dominent l'évolution de l'ensemble des langues humaines. M. Meillet en offre un bel exemple avec ses Caractères généraux des langues germaniques." Eine gründliche und sehr kritische Analyse der Sprachauffassung SAUSSURE s und seiner Schule gibt E U G E N I O COSERIU in der bereits genannten Studie Sincronia, diacronia e historia, Montevideo 1958. Dieser Sprachwissenschaftler weist überzeugend nach, daß die synchronische und diachronische Erforschung der menschlichen Rede nicht getrennt werden können, wie es auch nicht möglich ist, die „Sprache" vom „Sprechen" zu trennen. Diese zwei Aspekte der Rede bilden eine unauflösliche Einheit. Daraus folgt,, daß auch diese beiden Arten des Studiums verbunden werden müssen in dem Sinne, daß sie sich gegenseitig stützen. Ebenso hat die Praxis gezeigt, daß diese Verbindung nicht nur realisierbar ist, sondern auch unvermeidlich. Die großen Linguisten des vergangenen Jahrhunderts gebrauchten sie, oline sich in theoretischer Hinsicht dieses Problem zu stellen. In unserer Zeit untersuchen zahlreiche Vertreter des Strukturalismus gleichzeitig diese beiden Aspekte der menschlichen Rede. So ist u. a. die historische Phonologie entstanden im Gegensatz zu der Ansicht, nach der das Studium der Laute vom funktionellen Gesichtspunkt aus nur statisch durchgeführt werden könne. COSERIU erkennt die Verdienste der sprachwissenschaftlichen Schule von Prag (die heute vor allem von R. JAKOBSON repräsentiert wird) und diejenigen von A. MARTINET an, der, so scheint es, von den gegenwärtigen „nichtidealistischen" Sprachwissenschaftlern (im Sinne VOSSLERS) sich am meisten der Anschauung nähert, die die Sprache als evegyeia auffaßt (op. cit., S. 153). Ich gebe einige meiner Ansicht nach sehr richtige Feststellungen wieder, die sich in der Arbeit von COSEBIUfinden: , ,Die Sprache funktioniert synchronisch und bildet sich diachronisch. Aber diese Ausdrücke sind keine Antinomien, noch Widersprüche, weil die Konstituierung sich im Hinblick auf das Funktionelle realisiert."1 „Die reine Synchronie hat keinen Sinn und muß zur Sprachgeschichte werden. Tatsächlich beseitigt die Sprachgeschichte die Antinomie zwischen Synchronie und Diachronie, weil sie die Negation der atomistischen Diachronie ist und zu gleicher Zeit sich nicht im Widerspruch mit der Synchronie befindet."2 „Die Sprache bildet sich durch die Veränderung und ,stirbt' als solche, wenn sie aufhört, sich zu verändern . . . Das, was ohne Unterbrechung verändert wird, ist ihre Realisierung und infolgedessen ihr Gleichgewicht... Die Sprache entwickelt sich, aber sie entwickelt sich historisch, nicht täglich."3 1

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„La lengua funciona sincrónicamente y se constituye diacrònicamente. Pero estos términos no son antinómicos ni contradictorios, porque el hacerse se realiza en vista del funcionar." (S. 154/551) „La diacronia pura no tiene sentido y debe volverse historia de la lengua. En efecto, la historia de la lengua supera la antinomia entre sincronía y diacronia porque es negación de la diacronia atomista y al mismo tiempo, no se halla en contradicción con la sincronia." (S. 160.) „La lengua se hace mediante el cambio y 'muere' como tal cuando deja de cambiar . . . Lo que se modifica continuamente es su realización y, por lo tanto, su equilibrio . . . La lengua se hace, pero su hacerse es un hacerse histórico, no cotidiano." (S. 160/61.)

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Der von SAUSSURE ausgeübte Einfluß war vor allem zwischen den beiden Weltkriegen und nach der Beendigung des zweiten Weltkrieges außerordentlich stark.1 Es kann behauptet werden, daß alle neuen sprachwissenschaftlichen Schulen und Richtungen direkt oder indirekt von der Lehre SAUSSURES herkommen. Einige seiner Ideen wurden bewußt oder unbewußt, offen oder heimlich selbst von seinen Gegnern angenommen. Tatsache ist, daß, wie auch die über die Gültigkeit der Konzeption SAUSSURES ausgesprochenen Einschätzungen sein mögen, alle Forscher, die in der einen oder anderen Weise allgemeine Sprachwissenschaft betreiben, in die Lage versetzt sind, die Ideen des Begründers der französischen sprachwissenschaftlichen Schule zu erörtern.

A n t o i n e Meillet ( 1 8 6 6 - 1 9 3 6 )

Der bedeutendste Schüler SAUSSURES war ANTOINE MEILLET.2 Die Größe dieses Linguisten von Weltruf gründet sich auf eine Reihe von Tatsachen, die es verdienen, hier kurz aufgezeigt zu werden. 3 MEILLET hat eine erstaunliche wissenschaftliche Tätigkeit entwickelt. Obgleich Indogermanist, darf festgestellt werden, daß es fast keinen Zweig der Sprachwissenschaft gibt, zu dem er nicht Stellung genommen hat. Von den indogermanischen Sprachen pflegte er traditionsgemäß in erster Linie die klassischen Sprachen in Werken wie De quelques innovations de la déclinaison latine, Paris 1906; Aperçu d'une histoire de la langue grecque, Paris 1913 (in mehreren Auflagen erschienen); Traité de grammaire comparée des langues classiques, Paris 1924 (in Zusammenarbeit mit J . VENDRYES) ; Esquisse d'une histoire de la langue latine, Paris 1928 (mehrere Auflagen folgten danach); Dictionnaire étymologique de la langue latine, Paris 1939 (in Zusammenarbeit mit A. ERNOUT; die dritte Auflage erschien ebenda 1951). Aber zugleich hat er auch andere Sprachen oder Sprachgruppen studiert, die mit diesen verwandt sind, z . B . das Armenische (Altarmenisches Elementarbuch, Heidelberg 1913), die germanischen Sprachen (Caractères généraux des langues germaniques, Paris 1917), die slawischen Sprachen {Le slave commun, Paris 1924), schließlich alle indogermanischen Sprachen zugleich in den zusammenfassenden Arbeiten Les dialectes indo-européens, Paris 1908 (in mehreren Auflagen erschienen), Introduction à l'étude comparative des langues indo-euro1 2

3

Vgl. a u c h die E i n s c h ä t z u n g e n BUDAGOVS, op. cit., S. 31/32. E h e m a l s D i r e k t o r a n d e r École P r a t i q u e des H a u t e s - É t u d e s als Nachfolger seines Lehrers, der n a c h Genf übergesiedelt w a r , u n d Professor a m Collège de F r a n c e a n Stelle v o n M. BRÉAL, der a u c h zu seinen L e h r e r n gehörte. E r v e r f ü g t e a u c h ü b e r großes Organisationstalent. E r w a r die Seele der b e r ü h m t e n Société de linguistique de Paris, schuf ein I n s t i t u t d ' é t u d e s slaves, d a s als Publik a t i o n s o r g a n d i e R e v u e des é t u d e s slaves h a t t e . E r n a h m a k t i v a n zahlreichen i n t e r n a t i o n a l e n Kongressen teil, hielt V o r t r ä g e i m Ausland, wobei er überall als a u t o r i s i e r t e r V e r t r e t e r d e r französischen sprachwissenschaftlichen Schule erschien, usw.

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péennes, Paris 1903 (zahlreiche Ausgaben erschienen davon, im Jahre 1924 die 6. Auflage), u. a. Außerdem veröffentlichte er selbst Werke oder gab sie heraus, die die Sprachen Europas betrafen (Les langues de l'Europe nouvelle, Paris 1918, 2. Auflage ebenda 1 9 2 8 mit einem statistischen Anhang, der von L. T E S N I È B E verfaßt wurde) oder die des gesamten Erdballes (Les langues du monde, veröffentlicht durch eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern unter der Leitung von A. MEILLET und M . COHEN, Paris 1 9 2 4 ; eine Neuauflage erschien ebenda im Jahre 1 9 5 2 ) . Zu diesen Arbeiten, die in Buchform erschienen sind und die nicht die Bibliographie MEILLETS erschöpfen, müssen unzählige Studien und Aufsätze in französischen und anderen Zeitschriften hinzugefügt werden und schließlich Rezensionen, die nach Tausenden gezählt werden könnten, in BSL und anderen Zeitschriften. Die von MEILLET in diesem Bulletin publizierten Rezensionen beziehen sich nicht nur auf sprachwissenschaftliche Werke, sondern umfassen auch verwandte Gebiete wie Geschichte, Ethnographie und Soziologie. MEILLET war sehr lange Zeit Redaktor dieses Bulletins. Durch eine so reiche und verschiedenartige Tätigkeit mußte dieser Pariser Professor zu einer unbestreitbaren Autorität auf unserem Fachgebiet werden. Aus dieser weitreichenden Erfahrung gehen die Kompetenz und die Sicherheit hervor, mit denen er jedes Problem in Angriff nahm, das die menschliche Sprache betraf. Daher war MEILLET wie kein anderer berufen, p r i n z i p i e l l e und m e t h o d o l o g i s c h e F r a g e n zu erörtern. Man kann sagen, daß in all dem, was er geschrieben hat, allgemeine Ideen zu finden sind, wie es nicht anders möglich ist bei einem Gelehrten, der sich außerdem durch seine außergewöhnliche Lage 1 verpflichtet fühlte, seine Meinung auf allen Gebieten der Sprachwissenschaft zu sagen. Aber er hat auch spezielle Werke geschrieben, die theoretischen Erörterungen gewidmet sind, z. B. La méthode comparative en linguistique historique, Oslo 1925, und Linguistique historique et linguistique générale, Band I, Paris 1921 (2. Auflage ebenda 1 9 2 6 ) , Band II, Paris 1 9 3 6 . Beide Bände bestehen aus einer Reihe von Aufsätzen, von denen jetzt die Rede sein wird. Diese Arbeiten besitzen unmittelbares Interesse für die Romanistik, weil die darin dargelegten Prinzipien auch auf das Studium der romanischen Sprachen Anwendung finden. Ferner war der Einfluß dieses Gelehrten so stark, besonders in Frankreich, daß fast alle französischen Romanisten in der einen oder anderen Art als seine Schüler betrachtet werden müssen (vgl. z. B. den Abschnitt über A. TEBBACHER im vorliegenden Buch, S. 237). Und auf Grund seiner zahlreichen Rezensionen zu Werken der romanischen Sprachwissenschaft sowie einiger Aufsätze, die ebenfalls Fragen unseres Fachgebietes zum Gegenstand haben, kann MEILLET in einem gewissen Sinn auch zu 1

L. SPITZER (Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft, München 1930, Band II, S. 336) charakterisiert ihn sehr richtig, wenn er ihn „pater patriae der französischen Linguistik" nennt. MEILLET, schreibt SPITZER weiter, ist „der einzige heutige Linguist, der die Entwicklung dieser Wissenschaft in allen ihren Einzelzweigen (Indogermanistik, Semitistik, Ägyptblogie usw., Romanistik, Germanistik, Slawistik) übersehen kann, der einzige, der zum 'Ohr Europas' über linguistische Dinge reden darf . . . "

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den Romanisten gezählt werden. So ergab es sich, daß ich ihn in den Kapiteln über die idealistische Schule und die Sprachgeographie ständig zitiert habe : Die große Mehrheit der dort erwähnten Arbeiten wurde von ihm erörtert, vor allem vom Gesichtspunkt ihres theoretischen Wertes aus. Ein anderes charakteristisches Merkmal MEILLETS, größtenteils eine Folge seiner vielseitigen Tätigkeit, bilden seine Objektivität und Unparteilichkeit, das Fehlen von Vorurteilen, der weite Horizont und das tiefe Verständnis, von dem er Beweis ablegt bei seinen Einschätzungen der Sprachwissenschaftler, die Ansichten vertreten, die von den seinen verschieden sind. (Daher nennt ihn N. MACCABBONE in RLiR VI [1930], S. 6, mit Recht den größten Eklektiker.) Wir sahen bereits, wie viele anerkennende Worte er über V O S S L E E geschrieben hat, und ebenso konnten wir uns Rechenschaft davon geben, daß das Werk GILLIÉBONS, das viele Franzosen mit ungewöhnlicher Heftigkeit kritisiert hatten, in seinen nutzbringenden wissenschaftlichen Wirkungen ernsthaft gefährdet gewesen wäre, wenn nicht MEILLET mit aller Wärme und seiner Autorität sich zu dessen Gunsten eingesetzt hätte. Diese Haltung überrascht um so angenehmer, da das Gebiet, das MEILLET bevorzugt pflegte, die indogermanische Sprachwissenschaft war, die ihn nötigte, historisch-vergleichender Sprachwissenschaftler zu sein. Wenn man tote Sprachen studiert und sich in erster Linie für ihre Verwandtschaft untereinander interessiert, kann man nicht anders vorgehen, als daß man sich auf sehr alte Sprachzustände stützt, die man vergleicht, um ihre Ähnlichkeiten und ihre gemeinsame Herkunft festzustellen. Und dennoch verstand MEILLET die Intentionen der nicht historischvergleichenden Sprachwissenschaftler GILLIÉRON und VOSSLER, was beispielsweise dem Romanisten M E Y E B - L Ü B K E nicht immer gelang, um nur denjenigen zu zitieren, der vom Gesichtspunkt seiner privilegierten Stellung aus sich MEILLET näherte. Noch eine Besonderheit, die diesen Indogermanisten vorteilhaft von einigen Romanisten unterscheidet, ist sein Interesse für die lebendige Sprache, für die Volkssprache. Wenn er mit voller Überzeugung die Tätigkeit GILLIÉBONS unterstützte, wenn er nach Gebühr die Dialektstudien schätzte und auf dem Sprachwissenschaftlerkongreß im April 1928 in den Haag verlangte, daß jedes Land Werke von der Art des ALF subventionieren solle, so kommen alle diese Einstellungen gerade aus der Überzeugung, daß die lebendige Sprache es verdient, mit der größten Aufmerksamkeit studiert zu werden, weil u. a. viele theoretische Fragen nur mit Hilfe der Studien über die Volksmundarten gelöst werden können. Dank dieser hervorragenden Qualitäten mußte dieser Gelehrte eine Schule schaffen. Und in der Tat wird von einer sprachwissenschaftlichen Schule MEILLETS gesprochen, die, ohne sich wesentlich von der SAUSSUBES zu unterscheiden, dennoch bestimmte charakteristische Züge bietet. Das wichtigste und kennzeichnende Merkmal ist die Anwendung des Prinzips, daß die Sprache eine soziale Tatsache ist. Wir kennen es bereits aus den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Dieses Prinzip wird von ihm bis zu seinen letzten Konsequenzen ausgeschöpft. 1 1

Diesen Gedanken vertritt „mit Genauigkeit und Überzeugung" W H I T N E Y in La vie du langage, Paris 1880, S. 124, so sagt DELACBOIX in Le langage et la pensée, 2. Auflage, S. 63, Füßnote 2 (in dem Kapitel, das die Beziehungen zwi-

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Daher müssen wir, wenn in den sprachwissenschaftlichen Studien von einer soziologischen Schule gesprochen wird 1 , an M E I L L E T und seine Schüler denken, die sich in erster Linie in Frankreich und in den skandinavischen Ländern, besonders in Norwegen 2 , finden. Ich habe bereits festgestellt, daß prinzipielle Fragen von M E I L L E T vor allem in seinen Büchern Linguistique historique et linguistique générale und La méthode comparative en linguistique historique erörtert werden. Das letztgenannte Werk hat spezielle Bedeutung für die Indogermanisten, während das erste die Lehre des Verfassers im Hinblick auf die allgemeine Sprachwissenschaft enthält und so

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sehen Sprache und Gesellschaft behandelt). Über F . D E S A U S S U R E haben einige Sprachwissenschaftler die Meinung vertreten, daß er in dieser Hinsicht von dem französischen Soziologen D U R K H E I M beeinflußt worden wäre. S. z. B . W. D O R O S Z E W S K I in Actes du I I e Congrès international de linguistes, Genève 25—29 août 1931, S. 146ff., und in Psychologie du langage, Paris 1933, S. 82ff., der eine Parallele zieht zwischen der „Sprache", so wie sie S A U S S U R E auffaßt, als ein dem Individuum Äußeres, weil sie außerhalb von ihm, von der Sprachgemeinschaft kommt, und der „sozialen Tatsache" D Ü R K H E I M S , die dem Individuum auch etwas Äußeres und daher diesem auferlegt ist. M E I L L E T sagt, daß, was die Grundlage betrifft, die Lehre S A U S S U R E S unabhängig von D U R K H E I M gebildet worden sei. Vgl. auch V. B B 0 N D A L in AL I (1939), S. 138ff., der, da er das Vorhandensein einiger Ähnlichkeiten zwischen S A U S S U R E und dem französischen Soziologen L . L É V Y - B R U H L (einem Schüler D Ü R K H E I M S ) kennt, ebenfalls wie M E I L L E T die Unabhängigkeit der französischen sprachwissenschaftlichen Schule gegenüber dieser Soziologie vom historischen Gesichtspunkt aus vertritt. Über die Beziehungen zwischen Soziologie und Sprachwissenschaft vergleiche u. a. die Einschätzungen G. M I L L A B D E T S in Linguistique et dialectologie romanes, S. 488ff. Auf dem IV. Internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß (Kopenhagen 1936) war diesem Problem ein spezieller Bericht (von L. L É V Y - B R U H L ; vgl. Actes du IV-e Congrès . . ., S. 140/41) gewidmet worden. Die norwegischen Sprachwissenschaftler griffen auch in diese Diskussion ein. H . F A L K kritisierte die soziologische Schule, die er die französische Sprachphilosophie nennt, vor allem, weil sie dem sozialen Charakter der Sprache zu große Aufmerksamkeit gewähre. Ein Schüler M E I L L E T S , A L E S O M M E R F E L T , verteidigte die französische Schule in: B S L X X V (1924/25), S. 22ff., unter dem Titel La philosophie linguistique française. Réponse à M . Hjalmar Falk. Auch M E I L L E T griff in die durch F A L K hervorgerufene Diskussion ein (vgl. B S L X X V [1924/25], Fasz. 2, S. 15fF.), indem er zeigte, daß von den vier Gelehrten, die in diese Erörterung hineingezogen worden sind, nämlich G R A M M O N T , M I L L A R D E T , V E N D R Y E S und M E I L LET, nur er den sozialen Bedingungen einen vorherrschenden Einfluß auf die Sprache zuschreibt. Kein französischer Linguist hat den Wert der Psychologie (wir sagen heute „logisches Denken" statt „Psychologie") für die Sprachstudien geleugnet, aber die Sprachwissenschaft muß von sprachlichen Formeln Gebrauch machen, wenn sie den psychischen Prozeß untersucht. Außerdem, wenn einerseits die psychischen Bedingungen überall gleich sind, andererseits die Sprachen sich voneinander unterscheiden, können die Gründe für deren Differenzierung nur soziale Bedingungen sein, die von einem Volk zum anderen und von einer Epoche zur anderen verschieden sind. Infolgedessen sind die gemeinsamen Charaktere der Sprachen dem „logischen Denken" zu verdanken, das mehr oder weniger überall und immer dasselbe ist, während die besonderen Züge einer jeden Sprache ihre Quelle im sozialen Milieu haben.

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direktes Interesse für unser Fach besitzt. Daher werde ich kurz seine wesentlichen Ideen darlegen. Die historische Methode in den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die fast ausschließlich von den Gelehrten des vergangenen Jahrhunderts benutzt worden ist, aber auch noch von vielen unserer zeitgenössischen Sprachforscher angewendet wird, hat sich als ungenügend erwiesen. Freilich kann mit dieser Methode vieles erklärt werden, und oftmals sind die vorgeschlagenen Erklärungen, jede für sich genommen, richtig, doch dürfen wir diese Methode nicht als ein Ziel betrachten, sondern nur als ein Mittel. Die Beobachtung der gegenwärtigen Sprachzustände ist vorzuziehen, weil sie uns über die Gegenwart informiert und uns zugleich das Verständnis der sprachwissenschaftlichen Probleme in der Vergangenheit erleichtert. Dagegen hilft uns das Studium der alten Phasen einer Sprache nicht immer, wie es erforderlich ist, die gegenwärtig vorliegenden Fakten zu verstehen.1 Außerdem können wir die Sprache als System nur kennen, wenn wir sie so erforschen, wie sie sich in einem gegebenen Augenblick darbietet. Um die sprachlichen Erscheinungen zu erklären, operierten die historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftler gewöhnlich mit dem Lautwandel und der Analogie, also mit „historischen Gesetzen", und vernachlässigten die Entlehnung, die, wie die Sprachgeographie so überzeugend bewiesen hat, eine ungewöhnlich große Rolle in der Sprachentwicklung spielt.2 Der Lautwandel und die Analogie können uns die Erscheinungen einer bestimmten Sprache erklären, jedoch nicht die der Sprache im allgemeinen. Deren Gesetze sind weder physiologisch noch psychologisch, sondern nur sprachlich, d. h. sozial. Um sie zu entdecken, müssen wir die zwei charakteristischen Züge der Sprache in Betracht ziehen, daß sie a) ein System von Ausdrucksmitteln und b) eine soziale Tatsache ist. Aus dem ersten Merkmal ergibt sich, daß die individuellen sprachlichen Veränderungen, deren Bedeutung sehr übertrieben worden ist, sich nur dann durchsetzen, wenn sie dem System entsprechen. Daher ist es in solchen Fällen angebrachter, von allgemeinen 1

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Vgl. auch das, was im I. Kapitel des vorliegenden Buches, S. 24 und 42, Fußnote 1 gesagt wird, wo ich Ascolis Ansichten wiedergegeben habe, die diesen ähnlich sind. Z. B . frz. loi, d a s im Altfranzösischen loi gesprochen wurde, ist mit der Zeit zu Iwa geworden, über die Zwischenphase Iwe (w = konsonantisches u) : Wir haben es hier mit einer Lauterscheinung zu tun, die erstmals in Paris auftrat. D a s Vorhandensein dieser Aussprache im Munde aller heutigen Franzosen kann weder durch Lautwandel noch durch Analogie erklärt werden, d. h. durch „historische Gesetze", sondern durch Entlehnung, die ein „soziales G e s e t z " ist: Die Bewohner der anderen Gebiete Frankreichs ahmten diese Aussprache der Pariser nach. ,,. . . en réalité, l'emprunt est un fait normal, et dont l'importance dans le développement linguistique éclate chaque jour d a v a n t a g e . " (Linguistique historique et linguistique générale I, S. 7; ich zitiere nach der zweiten Auflage, die sich von der ersten nur dadurch unterscheidet, daß zwei weitere Aufsätze a m E n d e hinzugefügt worden sind.) Vgl. auch im vorliegenden Buch die Feststellung Schuchabdts, daß keine völlig „ungemischte" Sprache existiere ( K a p . I, S. 73), und das, was G i l l i é r o n sagt über den Einfluß der Hochsprache auf die Volksmundarten und bestimmter Volksmundarten wieder auf andere Volksmundarten.

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und nicht von verallgemeinerten Neuerungen zu sprechen. Denn die Annahme dieser Neuerungen beweist, daß alle Glieder der Sprachgemeinschaft irgendwie die Notwendigkeit dafür gefühlt hatten. Andernfalls könnten wir nicht verstehen, wie sie sich auf die Gesamtheit der Sprecher ausbreiten, und das auch noch in relativ kurzer Zeit. Somit haben wir es mit einer allgemeinen sprachlichen Tendenz zu tun, die den geeigneten Moment abwartet, um sich zu realisieren, und nicht mit einer Nachahmung. Nur wenn ein Sprachwechsel erfolgt, wenn also eine Sprache durch eine andere ersetzt wird, ganz gleich aus welchem Grunde, nur dann ist es uns erlaubt, daß wir auf die Nachahmung zurückgreifen, um die Erscheinung zu erklären. So verzichteten die Gallier in den führenden Schichten freiwillig auf ihre Muttersprache, um die der Römer, der neuen Beherrscher des Landes, nachzuahmen. Aus dem anderen charakteristischen Zug der Sprache leitet sich die Tatsache ab, daß jede Veränderung der sozialen Struktur unvermeidlich sprachliche Veränderungen hervorruft. So geschieht es, daß die Sprachen sich ziemlich fühlbar voneinander unterscheiden, obgleich sie oftmals eine gemeinsame Herkunft haben und die physiologischen und psychologischen Bedingungen des menschlichen Lebens überall dieselben sind. Wie sehr die sprachlichen Erscheinungen von den sozialen Faktoren abhängen, wird vor allem im Fall der semantischen Veränderungen ersichtlich. Weil die Gruppen von Menschen, die eine Sprachgemeinschaft bilden, vom sozialen Gesichtspunkt aus getrennt sind, verändern die Wörter ihren Sinn, wenn sie von einer Gruppe zur anderen übergehen. Und zwar erfährt das Wort, das eine weniger zahlreiche Gruppe von einer anderen zahlreicheren übernommen hat, eine Bedeutungseinengung und umgekehrt. 1 Diesen Gedanken, den 1

Einige Beispiele werden diese Dinge verdeutlichen. Lat. paganus bedeutete anfangs „derjenige, der innerhalb eines pagus wohnt; Dorfbewohner, Bauer". Mit dem Aufkommen des Christentums veränderte das Wort seinen Sinn in Verbindung mit den sozialen Umständen, unter denen sich diese Religion ausbreitete. Es ist bekannt, daß anfangs die Anhänger des Christentums zahlreich in den Städten vertreten waren, auf dem Lande jedoch gab es fast keine. Für die Christen war folglich „Bauer" gleichbedeutend mit „Nichtchrist". So gelangte paganus dazu, „Heide" zu bedeuten, und mit dieser Bedeutung ist es den romanischen Sprachen überliefert worden. Das Wort hat seinen Bedeutungsbereich eingeengt, weil es aus der Sprache der gesamten römischen Sprachgemeinschaft in die Sprache einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe hinüberging. (Nach E. L Ö F S T E D T , Syntactica II, Lund 1933, S. 468/69, wurde paganus ein religiöser Ausdruck mit der zur Erörterung stehenden Bedeutung, da von der Bedeutung „zivil" ausgegangen worden sei, die aus der Soldatensprache übernommen worden war und in der lateinischen Gemeinsprache im 1./2. Jahrhundert aufkam und als Gegensatz zu miles, d. h. miles Christi „Christ" gebraucht wurde. Vgl. auch H. R H E I N F E L D E R , Kultsprache und Profansprache in den romanischen Ländern, Genève-Firenze 1934, S. 132. Andere Sprachwissenschaftler dachten an den Gegensatz zwischen pagus „Dorf" [Wurz'el von paganus] und civitas [Dei]: Die Christen waren folglich die Bewohner der Stadt Gottes, während die Heiden die Bewohner der Dörfer waren.) Häufiger sind die umgekehrten Fälle, weil gewöhnlich die Entlehnungen durch die zahlreicheren gesellschaftlichen Gruppen aus der Sprache der zahlenmäßig geringeren Gruppen vollzogen werden: Aus verschiedenen Gründen er-

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wir auch bei anderen Sprachwissenschaftlern finden, z. B . bei SCHTTCHARDT, USW., hebt M E I L L E T besonders hervor. Jede soziale Gruppe hat ihre geistige Eigenart und folglich auch ihre eigene Sprache. 1 Daher können bei den untereinander verschiedensten Sprachen große Ähnlichkeiten in der Sprechweise derselben sozialen Gruppe festgestellt werden 2 , wie es auch relativ bedeutende Unterschiede innerhalb einer einzigen Sprache v o n einer sozialen Gruppe zur anderen gibt. Aus diesem Grund erfolgen unvermeidlich tiefe semantische Veränderungen bei den Wörtern, die, da sie ihren Ursprung in einem bestimmten Milieu haben, m i t der Zeit in ein anderes „niederes" oder „höheres" Milieu übergehen. Interessant MERINGER

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freuen sich letztere in den Augen der anderen großen Ansehens. Von lat. nidus „ N e s t " ist abgeleitet worden das A d j e k t i v *nidiax, -eis, das bedeutete, „auf d a s Nest beziehend". D a r a u s sind hervorgegangen ital. nidiace u n d frz. niais, Fachausdrücke der Jägersprache, die im Mittelalter die B e d e u t u n g h a t t e n „Vogel, der im Nest gefangen worden w a r " . F ü r den J ä g e r aber unterschied sich ein solcher Vogel Von denen, die er zu H a u s e h a t t e , d. h. die abgerichtet worden waren, durch seine Ungeschicklichkeit oder D u m m h e i t . Dieser Begriff wurde mit der Zeit bei den Sprechern vorherrschend, u n d dann, als er in die Gemeinsprache eingetreten war, m u ß t e f r i . niais seine B e d e u t u n g in dieser R i c h t u n g v e r ä n d e r n u n d „linkisch, unbeholfen" bedeuten. Eine Bedeutungserweiterung aus d e m gleichen Grunde — d. h. durch den Übergang von einer weniger zahlreichen sozialen Gruppe zu einer zahlreicheren — e r f u h r auch r u m . jupîn-. Zuerst wurden die Bojaren so genannt, d a n n die K a u f l e u t e u n d die Handwerksmeister, bis das W o r t schließlich fast ein Schimpfwort wurde. Vgl. auch die Lage der rumänischen Neologismen dama u n d madamä. Hinsichtlich der pejorativen semantischen Veränderungen in der französischen Sprache schrieb K . J A B E R G eine umfassende Studie, die bereits bei anderer Gelegenheit g e n a n n t worden i s t : P e j o r a t i v e Bedeutungsentwicklung im Französischen. Mit Berücksichtigung allgemeiner F r a g e n der Semasiologie i n : Z R P h X X V (1901), S. 561 ff.; X X V I I (1903), S. 26ff.; X X I X (1905), S. 57ff. Bereits M. B R É A L stellte in Essai de sémantique (3. Auflage, S. 285ff.) f e s t : „ A mesure q u ' u n e civilisation gagne en variété et en richesse, les occupations, les actes, les intérêts dont se compose la vie de la société se p a r t a g e n t entre différents groupes d ' h o m m e s ; ni l'état d'esprit, ni la direction de l'activité ne sont les mêmes chez le prêtre, le soldat, l'homme politique, l'agriculteur. Bien qu'ils aient hérité de la même langue, les m o t s se colorent chez eux d ' u n e nuance distincte, laquelle s'y fixe et finit p a r y adhérer . . . Au m o t d ' o p é r a t i o n s'il est prononcé par u n chirurgien, nous voyons u n patient, u n e plaie, des instruments pour couper et tailler ; supposez u n militaire qui parle, nous pensons à des armées en campagne ; que ce soit u n financier, nous comprenons qu'il s'agit de capitaux en m o u v e m e n t ; u n m a î t r e de calcul, il est question d'additions et de soustractions. Chaque science, chaque a r t , chaque métier, en composant sa terminologie m a r q u e de son empreinte les m o t s de la langue c o m m u n e . " (Zitiert bei M E I L L E T , Linguistique historique et linguistique générale I, S. 244.) So vollzogen sich die Dinge mit den eigentlichen J a r g o n s (der herrschenden Klassen in der Klassengesellschaft) u n d in den Sondersprachen, d. h . in den Argots (darüber s. den speziellen Abschnitt a m E n d e dieses Kapitels). PÄTSCH, op. cit., S. 1 1 9 / 2 0 , b e t r a c h t e t die Feststellungen M E I L L E T S in bezug auf die sprachlichen Unterschiede von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen als übertrieben, weil sie an die Existenz einiger Klassensprachen erinnern würden (das beweist deren E r ö r t e r u n g in dem „Gegen die Theorie von den Klassensprachen" überschriebenen Abschnitt).

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und zahlreich sind vor allem in unserer Zeit, in der sich die Kultur außerordentlich rasch ausbreitet, die Entlehnungen, die aus der Sprache der Gelehrten und Gebildeten kommen. Wir stellen in solchen Fällen dieselben Bedeutungsveränderungen fest wie bei frz. niais (s. Fußnote zu S. 351), das von der Gemeinsprache aus einem benifssprachlichen Bereich entlehnt wurde. Denn für den ungebildeten oder wenig gebildeten Menschen hat die Sprechweise des Gelehrten, des Literaten, des Künstlers usw. ebenso viele Geheimnisse wie die eines Technikers (im weiten Sinne des Wortes) für die, die das betreffende technische Gebiet nicht kennen. 1 Ähnliches beobachten wir auch dann, wenn wir die Entlehnungen studieren, die von einer Sprache in die andere erfolgt sind, weil die Bedingungen sich fast gleichen. Gewöhnlich werden die Sprachen, aus denen entlehnt wird, von einem bestimmten Gesichtspunkt aus als „höherstehend" betrachtet, und daher dienen sie als lexikalisches Reservoir für die anderen. Es ist bekannt, wie der griechische Wortschatz zur Bereicherung der lateinischen Sprache beitrug und wie später die europäischen Völker für den gleichen Zweck auf die klassischen Sprachen zurückgriffen. M E I L L E T beschäftigte sich besonders mit den Lehnübersetzungen, den „calques linguistiques". 2 Einem einheimischen Wort wurde die Bedeutung des entsprechenden Wortes einer anderen Sprache gegeben. Das ist z. B. der Fall bei lat. causa „Sache, Gegenstand; Ursache" (philosophischer und theologischer Ausdruck) ; die letzte Bedeutung ist zurückzuführen auf griech. aixia, das ins Lateinische übersetzt wurde mit causa. Die romanischen Sprachen haben dieses Wort mit seinem ursprünglichen Sinn ererbt (frz. chose, ital. cosa usw.). Und später haben sie es mit seiner wissenschaftlichen Bedeutung entlehnt (frz. cause, ital. causa usw.). M E I L L E T erklärt ebenso die Bedeutungen einiger griechischer Ausdrücke der Bibel wie XVQIOÇ „Herr, Herrscher, Gott" (diesem entspricht das lateinische Dominus, frz. Seigneur, engl. Lord, dt. Herr usw.), àyyeXoç, öidßoXog u. a. : Als die Bibel übersetzt wurde, bestand die Notwendigkeit, die Bedeutungen der entsprechenden hebräischen Wörter wiederzugeben, und da keine neuen Ausdrücke geschaffen werden konnten, wurden einige der bereits im Griechischen existierenden gebraucht, deren Bedeutung je nach den Bedürfnissen verändert wurde. 3 1 2 3

Vgl. besonders den Aufsatz A propos de „qualitas" in dem erwähnten Werk (S. 335ff.). Op. cit., S. 343ff., unter dem Titel Les interférences entre vocabulaires. Ähnliche zahlreiche Beispiele finden sich in jeder Art von Sprachen. Vgl. z. B. rum. carte, das unter dem Einfluß von slaw. hniga dazu gelangte, neben „Brief" auch „geschriebene Sache, Band, Buch" zu bedeuten, weil das slawische Wort beide Bedeutungen besitzt. M E I L L E T hat recht, wenn er seinen Aufsatz Comment les mots changent de sens wie folgt schließt (op. cit., S. 271): „Ces exemples, où l'on a remarqué seulement les plus gros faits et les plus généraux, permettent de se faire une idée de la manière dont les faits linguistiques, les faits historiques et les faits sociaux s'unissent, agissent et réagissent pour transformer le sens des mots; on voit que, partout, le moment essentiel est le passage d'un mot de la langue générale à une langue particulière, ou le fait inverse, ou tous les deux, et que, par suite, les changements de sens doivent être considérés comme ayant pour condition principale la différenciation des éléments qui constituent les sociétés." MEILLETS

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Der aus allen diesen gegenseitigen Einwirkungen sozialer, kultureller und psychologischer Tatsachen gezogene Schluß, den MEIELET mit einem aus der Naturwissenschaft genommenen Begriff „Interferenzen" nennt, ist wenigstens ebenso interessant wie die Veränderungen, die sie verursachen. Dieser Schluß findet sich nicht in Linguistique historique et linguistique générale I. Ich habe ihn mir aber notiert, als ich MEILLETS Vorlesung „Allgemeine Theorie des Wortschatzes" besuchte, die der französische Linguist im Studienjahr 1924/25 am Collège de France hielt. Er könnte so formuliert werden: Die Wörter erfahren durch die schon erwähnten Ursachen so tiefe semantische Veränderungen, daß oftmals nichts oder fast nichts mehr von ihrer ursprünglichen Bedeutung übrigbleibt. Daher haben wir das Recht, in solchen Fällen vom Gesichtspunkt der Semantik aus von verschiedenen Wörtern zu sprechen, obgleich wir es doch mit denselben Wörtern zu tun haben. MEILLET fragte sich (Vorlesung vom 17. März 1925), was frz. bon, bel und bien noch mit der Bedeutung ihrer lateinischen Ausgangswörter bonus, bellus und bene zu tun haben. Die französischen Wörter sind, was ihre Bedeutung betrifft, andere als ihre lateinischen Entsprechungen. Somit wurde oftmals eine semantische Diskontinuität zwischen der französischen (oder irgendeiner anderen romanischen) und der lateinischen Sprache erzeugt. Dieser Schluß ist dem GILLIÉKONS fast gleich, der meinte, daß die französischen Volksmundarten in ihrer heutigen Gestalt nicht direkt das Volkslatein in den einzelnen Gebieten des alten Gallien fortsetzen. Der von der Gemeinsprache auf die Dialekte und von einem Dialekt auf den anderen ausgeübte Einfluß sowie die Neuerungen, die von den Dialekten selbst geschaffen wurden, um gegen die Homonymie und andere sprachstörende Faktoren zu kämpfen, formten die Volksmundarten so tief um, daß wir sie im Hinblick auf ihre Herkunft fast nicht mehr erkennen können. In den Arbeiten MEILLETS und denen seiner Schüler erscheint häufig folgender Gedanke, den ich bereits kurz erwähnt habe, weil er in sehr enger Verbindung mit der Diskussion über die semantischen Veränderungen steht: Wenn sich zwei Sprachen gegenüberstehen, finden Entlehnungen jeder Art statt. Dabei spielt die Sprache, die sich eines besonderen Ansehens dadurch erfreut, daß sie von irgendeinem Gesichtspunkt aus als hochwertiger betrachtet wird, die Rolle des Gläubigers, die andere aber die des Schuldners. Der Begriff „besonderes Ansehen" muß völlig relativ verstanden werden, denn es gibt keine Sprache, sei sie auch noch so primitiv, die sich nicht dann und wann einer anderen gegenüber in einer günstigen Lage befindet, sei jene auch noch so privilegiert. Deshalb sind alle Sprachen der Erde gleichzeitig Gläubiger und Schuldner. Die sprachliche Überlegenheit ist nicht nur relativ, folglich vorübergehend, sondern sie hat auch sehr verschiedenartige Ursachen. Die Römer entlehnten Wörter von den Griechen, weil diese ihnen kulturell überlegen gewesen waren. Die einheimische Bevölkerung der Iberischen Halbinsel, Galliens, Rätiens und anderer römischer Provinzen übernahmen die lateinische Sprache, da deren Sprecher ein hohes kulturelles, militärisches und politisches Ansehen besessen hatten. Die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer setzten ihre Sprache in England durch (nur in den herrschenden Schichten und nur für einige hundert Jahre) auf Grund ihrer militärischen Überlegenheit.

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Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliehe Schule

Die Gemeinsprache ersetzt die Dialekte durch ihre kulturelle Überlegenheit, die oftmals auch von politischer Macht unterstützt wird. Ein Dialektzentrum beeinflußt aus ähnlichen Gründen die lokalen Mundarten sehr stark. Schließlich werden die Fachwörter oder technischen Wörter ebenso durch eine Überlegenheit in der Gemeinsprache verbreitet: Die Nichteingeweihten tragen ihrer Ignoranz auf irgendeinem Tätigkeitsbereich dadurch Rechnung, daß sie ohne Diskussion die von den Spezialisten angewandten Ausdrücke annehmen.1 Ein anderer Gedanke, der wie der vorhergehende seinen Ursprung in der soziologischen Konzeption der menschlichen Sprache hat und in den Arbeiten M E L L L E T S und denen seiner Schüler anzutreffen ist, bezieht sich auf das, was er Wortverbote nennt. Es handelt sich dabei um folgendes: „ E n des points du monde très divers, et dans des langues très variées, on observe des ,tabous' de vocabulaire, . . . dans l'Afrique du Sud, dans le domaine des langues malayo-polynésiennes . . . en Extrême-Orient et aussi en Europe, notamment dans le Nord de l'Europe, il apparaît que certains mots sont interdits par l'usage, soit à un groupe d'hommes, soit à des individúes déterminés, soit durant certaines périodes, en certaines occasions; on ,taboue' par exemple le nom d'un mort, celui d'un chef, celui des membres de la famille où l'on prend femme etc., et le tabou ne touche pas seulement les noms propres en question, mais il s'étend aux noms communs, identiques ou non à ces noms, qui sonnent d'une manière identique ou analogue, ou même partiellement analogue." (op. cit., S. 281.) Der Begriff „ T a b u " kann eine viel umfassendere Bedeutung haben als in dieser Definition zum Ausdruck kommt, und M E I L L E T selbst erwähnt die Tatsache, daß in der Konversation der zivilisierten Menschen die Namen für einige bestimmte physiologische Punktionen systematisch unterdrückt werden, sowie auch den Fall der französischen Ausdrücke morbleu, •parbleu u. a., die mort Dieu, par Dieu usw. fortsetzen und ersetzen. Bei den Europäern sind Beispiele dieser Art wenig zahlreich, und im allgemeinen beziehen sie sich auf einige Wesen, die zu nennen sich manche Sprecher aus verschiedenen Gründen fürchten ; weil aber dennoch von ihnen gesprochen werden muß, ziehen sie sich aus der Verlegenheit, indem sie ihnen einen anderen Namen geben oder die üblichen Namen irgendwie verändern. 2 Interessanter als das Phänomen an sich, 1

2

Auf dieselbe Weise werden die Entlehnungen erklärt, die von den „zivilisierten" Europäern aus den Sprachen der Eingeborenen, die auf anderen Kontinenten leben, vorgenommen werden : Wie sollen die Gegenstände, die sich z.B. nur in bestimmten afrikanischen oder asiatischen Gegenden finden, anders als mit den einheimischen Ausdrücken benannt werden? (Vgl. den Abschnitt, der im vorliegenden Buch der Methode „Wörter und Sachen" gewidmet ist, S. 84ff.) Meistens liegen den Tatsachen, die hier erörtert werden, wirtschaftliche Ursachen zugrunde: Die Bedürfnisse des Alltags bringen die Menschen miteinander in Berührung, was vom linguistischen Gesichtspunkt aus zu Entlehnungen von einer Sprache zur anderen, von einem Dialekt zum anderen führt. Zu dieser gesamten Frage vgl. J . V E N D S Y E S , Le langage, Paris 1921, S. 330ff. Diese Erscheinung ist unter verschiedenen Rubriken in Arbeiten der allgemeinen Sprachwissenschaft viel beobachtet und besprochen worden. Vgl. A . P H I L I P P I D E , Principii de istoria limbii, S. 233. Besonders der Name des Teufels wird häufig gemieden, und der Grund hierfür ist leicht verständlich. Eine sehr reiche, aber

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das psychologisch und sozial erklärt werden kann, sind seine sprachlichen Folgen, und zwar der Untergang einiger Wörter unter ungewöhnlichen Umständen. M E I L L E T verfolgt näher die Bezeichnungen des Bären, der Schlange usw. in den slawischen, germanischen, baltischen und anderen Sprachen: Überall wird die Ersetzung des alten indogermanischen Wortes durch Euphemismus und Umschreibung festgestellt („Honigfresser", „Brauner" u. a. für „Bär"; „Kriechende", „Ekelhafte" usw. für „Schlange"), deren Vorhandensein nur mit Hilfe der hier zur Erörterung stehenden Ideen verstanden werden kann. 1 Die soziologische Konzeption M E I L L E T S ist auch aus den Erklärungen ersichtlich, die er zu allgemeinen sprachlichen Tendenzen gibt, wie es z. B. die Vereinfachung der Flexion in den verschiedenen indogermanischen Sprachen wäre. So verschwand das einfache Perfekt oder ist dabei, in zahlreichen Sprachen unterzugehen, wie in der französischen, der deutschen, der rumänischen, der serbokroatischen, der slowenischen usw. Ein so verbreitetes Phänomen müßte überall dieselbe Ursache sozialer Natur haben : Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation hätte nach M E I L L E T eine abstrakte Denkart entstehen lassen, die einerseits die konkreten grammatischen Kategorien eliminiert, andererseits diejenigen entwickelt, die sich mit den Abstraktionen des modernen Denkens in Übereinstimmung befinden. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre die englische Sprache weiterentwickelt als alle anderen, denn sie hat die Anzahl der Flexionsformen des Verbums fühlbar reduziert, indem sie dahin strebt, für das Verbum eine Situation zu schaffen, die der des Substantivs ähnlich ist. M E I L L E T pflichtet G I L L I É R O N bei, der, als er sich in La faillite de l'étymologie phonétique mit dem Untergang des passé simple beschäftigte, schrieb: „Avec elle, commence pour les verbes une nouvelle ère,

1

dennoch unvollständige Liste von semantischen Äquivalenten für „Teufel" im Rumänischen gibt G . P A S E U I N : VRom (1910), S. 298ff., und A R o V (1921), S. 244ff. (s. I O B G U I O R D A N , Arhiva X X X [ 1 9 2 3 ] , S. 117ff.). Hier einige Studien, die diesem Phänomen gewidmet sind: A. N I C E F O K O , Le génie de l'argot, Paris 1912, S. 216ff. ; I.-A. C A N D R E A , „Tabu" în limbä. Nume interzise in: Omagiu lui I. Bianu, Bucureçti 1927, S. 7 1 ff.; O. V O C A D L O , On lexical restriction in: Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenario, Praga 1932, S. 105ff. ; G. B O N F A N T E , Études sur le tabou dans les langues indo-européennes, in: Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally, Genève 1939, S. 195ff. ; W. H Ä V E R S , Neuere Literatur zum Sprachtabu, Wien 1946. Sicherlich ist es nicht auf einen einfachen Zufall zurückzuführen, wenn M E I L L E T zur Illustrierung seiner These gerade Tiernamen ausgesucht hat. Wer, wenn auch nur flüchtig, die Tierbezeichnungen in irgendeiner Sprache verfolgt hat, konnte gerade auf diesem Gebiet leicht beobachten, daß die primitive Mentalität der Menschen eine wichtige Rolle spielt. Vgl. z. B. rum. nevästuicä, neugriech. vvcpiraa (eigentlich „junge Frau"), ungar. hölgy (eigentlich „Herrin"), frz. belette („liebe kleine Schöne") usw. (wegen anderer Benennungen s. Ionou I O R D A N , Arhiva X X X I I I [ 1 9 2 6 ] , S. 1 4 1 ff.). Reiches und verschiedenartiges Material in bezug auf diese Frage finden wir in der Arbeit Das Tier im Spiegel der Sprache, DresdenLeipzig 1 9 0 7 , von R. R I E G L E R und in Aufsätzen desselben Autors in den Zeitschriften WS, ARo, N S u. a., dann in dem monumentalen Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin-Leipzig 1 9 2 7 — 1 9 4 2 , 1 0 Bände, von H. B Ä C H T O L D STÄUBLI.

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Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

c'est un acheminement vers l'état du verbe où il n'y aura plus comme voiles que des auxiliaires faisant manœuvrer une coque qui porte l'idée." 1 Ebenso erklärt MEILLET mit Hilfe der Bedingungen des gegenwärtigen sozialen Lebens die Ähnlichkeiten, die zwischen den europäischen Sprachen ständig größer und tiefgehender werden, ganz gleich, welches ihre historischen Verbindungen 1

Zitiert nach MEILLET, Linguistique historique et linguistique générale I, S. 156. Das Problem des „Passé simple" ist in dieser Beziehimg noch behandelt worden von A . J. ZIEGLSCHMID, Der Untergang des einfachen Präteritums in verschiedenen indogermanischen Sprachen in : Curme Volume of Linguistic Studies, Philadelphia 1930, S. 167ff., und Concerning the disappearance of the simple past in various indo-european languages in: PhQ I X [1930], S . 153ff. ; L E O S P I T Z E R , Über den Schwund des einfachen Perfektums in: Donum natalicium Schrijnen, Nijmegen-Utrecht 1929, S. 86ff. ; P H I L . K A I B L I N G E R , Ursachen des Präteritumsverfalls im Deutschen in: Teuthonista V I (1930), S. 269ff. ; CH. BALLY, Linguistique générale et linguistique française, Paris 1932, S. 7, 193—194; CH. DE BOER, Introduction à l'étude de la Syntaxe du français, Groningue-Paris 1933, S. 105—107; M. DE PAIVA BOLÉO, O Perfeito e o Preterito em portugués, Coimbra 1937; vgl. auch M. C O H E N in T I L I (1956), S. 43ff. Für das Rumänische kann in diesem Zusammenhang zitiert werden I . ÇIADBEI, Le sort du prétérit roumain in : R o L V I (1930), S. 331 ff., der sich in erster Linie mit der Morphologie des einfachen rumänischen Perfekts beschäftigt. Er berührt nur im Vorübergehen das Problem von dessen Untergang (der im Istrorumänischen vollständig, im Dakorumänischen größtenteils erfolgte). Ç I A D B E I vertritt die Ansicht, daß dem Untergang dieser Verbalform die zwei folgenden Erscheinungen vorangingen, folglich ihn in irgendeiner Weise auch verursachten: 1. die Ersetzung der „starken" Perfektformen (vom Typus feciu) durch „schwache" (vom Typus fäcui) und 2. die Ersetzung der ersten und zweiten Person des Plurals, die vorher bei vielen Verben mit ihren Entsprechungen vom Präsens des Indikativs verwechselt worden waren (s. rum. cintämu, das „wir singen" und „wir sangen" bedeutete) durch Analogiebildungen (mit -rä- in der Endung). Daraus würde folgen, daß der Untergang des Perfekts rein formale Gründe habe, keine psychologischen oder historisch-kulturellen. Auf jeden Fall billigt Ç I A D B E I keine fremden Einflüsse, und ich glaube, er hat recht. U m das hier erörterte Problem richtig zu verstehen, dürfen wir nicht nur seinen rein morphologischen Aspekt beachten, wie das Ç I A D B E I tut (ebenso geht K A I B L I N G E R vor, loc. cit., der sich auf die „Unregelmäßigkeit" der Formen des einfachen Perfekts, folglich auf die Schwierigkeit, sie zu handhaben, beruft), sondern auch den semantischen Aspekt: Das zusammengesetzte Perfekt bietet den Vorteil, daß es sieh der Handlung im Moment des Sprechens dadurch nähert, daß es mit dem Präsens des Hilfszeitwortes und dem Partizip der Vergangenheit (ursprünglich mit adjektivischem Wert) des konjugierten Verbums gebildet wird, d. h. mit anderen Worten, die Handlung erscheint nicht als ein Vorgang, der zur Vergangenheit gehört, sondern als ein irgendwie aktuelles Ergebnis (anfangs und lange Zeit danach als eine Eigenschaft des Gegenstandes, auf den die Handlung eingewirkt hat, die vom Verbum ausgedrückt wird). Etwas Ähnliches wird in R o L V I (1930), S. 609, gesagt, wo gezeigt wird, daß das einfache lateinische Perfekt (die einzige Perfektform des klassischen Lateins) zwei Zeitbeziehungen ausdrückt (die Gegenwart und die Vergangenheit), was Anlaß zu Verwechslungen gab. So entstand im Spätlatein ein zusammengesetztes Perfekt, um die Gegenwartsbeziehung auszudrücken (genauer: die „Handlung, die im Augenblick des Sprechens beendet ist", d. h. die „eben abgeschlossene" im etymologischen Sinne des Wortes), während das einfache Perfekt blieb, um die Vergangenheitsbeziehung auszudrücken („die in der Vergangenheit vollendete Handlung"), das ist der Aorist oder das Praeteritum.

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gewesen sind. Diese Angleichung schreibt er einer Geistesverfassung zu, die er „le s e n t i m e n t d ' u n e u n i t é d e c i v i l i s a t i o n " nennt. 1 Um die Informationen über die Sprachauffassung M E H M E T S auch nur annähernd zu vervollständigen, werde ich verschiedene Stellen aus einigen seiner noch nicht erwähnten Arbeiten anführen. Ich habe sie nur zufällig notiert, und dennoch treffen wir überall denselben Grundgedanken, demzufolge die Sprache eine soziale Tatsache ist und als solche studiert werden muß. „Depuis le début de l'époque historique, et sans doute dès longtemps avant, l'histoire du langage est commandée avant tout par des faits de civilisation. L'extension de grandes langues communes, telles que le latin, l'arabe, l'espagnol, l'anglais, est ce que l'on observe en fait." ( B S L X X I I [1920/21], S. 39.) „II lui a seulement échappé (es handelt sich um E . C A S S I R E B , Philosophie der symbolischen Formen I. Teil: Die Sprache, Berlin 1923) que, depuis Bréal et F. de Saussure, pour ne pas parier que des morts, le rôle des conditions sociales a été mis en évidence d'une manière qui renouvelle le problème et que la langue étant de tous les faits humains le plus manifestement social — car ni la langue n'est imaginable sans la société ni la société des hommes sans la langue — les conditions sociales dominent le langage." (ebenda XXV [1924/25], Fasz.2, S. 2.) „Mais l'unité de parler est nésessaire. Les changéments qui survivent sont ceux qui sont conformes aux tendances existant chez la plupart des sujets ou chez les plus influents d'entre eux, celles qui, répondant aux conditions générales du langage et aux conditions particulières où se trouve le parler considéré, satisfont le mieux aux besoins communs des sujets parlants. Comme beaucoup de lois naturelles, la ,loi phonétique' résulterait, non d'un changement universel, mais d'une moyenne." (ebenda, XXV, Fasz. 2, S. 5) 2 1

E i n anderer Schüler S A U S S U R E S , C H . B A L L Y , trifft eine gleiche Feststellung im besonderen Hinblick auf die Stilistik; daher spricht er irgendwo v o n einer „ e u r o p ä i s c h e n S t i l i s t i k " . Zugleich denken wir, ohne es zu wollen, an die Einstellung SCHTTCHARDTS, der in Fällen solcher Art auf die gemeinsame Psyche der Menschen (d. h. auf das logische Denken), die überall und zu allen Zeiten vorhanden ist, zurückgreift. M E I L L E T rechtfertigt seinen Gesichtspunkt wie folgt : „On est amené à éliminer toutes les causes qui seraient particulières à une langue, dès l'instant qu'il s'agit d'un fait constaté sur u n grand nombre de points: si une même évolution se produit sur deux domaines distincts, ce peut être dû à une rencontre fortuite, mais si on l'observe sur cinq ou six grands domaines, le hasard semble exclu et il faut découvrir des causes, qui aient pu agir sur tous les domaines considérés. La généralité même du fait est une donnée de premier ordre pour la recherche des causes." (op. cit., S. 156.) Über die Vereinfachung der Morphologie vgl. auch

2

Vgl. auch die Diskussion, die über das B u c h Linguistique historique et linguistique générale I geführt wurde v o n H . D E L A C R O I X in: J P N P X V I I I (1921), S. 765ff.; A. E R N O U T in: J S 1921, S. 205ff. und 258ff.; L. F O U L E T in: R o X L V I I (1921), S. 119ff.; S. P u s c ARITT in: D a c o r l l (1921-22), S . 6 8 6 f f . ; D . C . H E S S E L I N G in : Neophilologus V I I (1922—23), S. 76ff.; A. P H I L I P P I D E in: Originea Romînilor I, S. 387ff.; H . D E L A C R O I X in: op. cit., S. 48ff. Vgl. nooh folgende Aufsätze, die sich m i t der Methode M E I L L E T S im allgemeinen befassen: IORGU I O R D A N , U n lingvist sociolog: Antoine Meillet (1866—1936) in: MAR Sec^iunea literarä, seria I I I , tomul I X (1939), S. l f f . ; B . T E R R A C I N I in: A L I I (1941), S. 69ff.; I O R G U I O R D A N ,

H . DELACROIX, o p . cit., S. 2 5 9 .

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Joseph Vendryes (1875-1960) In diesem Abschnitt soll kurz der bekannteste Schüler MEILLETS, der ehemalige Honorarprofessor für Indogermanistik an der Sorbonne, J. VENDRYES, behandelt werden. Wie sein Lehrer widmete auch er sich vor allem den klassischen Sprachen, dann denen, die eng mit diesen verwandt sind, speziell den keltischen Sprachen. Auf diesem Gebiet kann er als große Autorität angesehen werden. Er erörtert indessen auch theoretische Fragen, obgleich nicht in dem gleichen Maße wie MEILLET, und dies nicht nur in Verbindung mit sprachhistorischen Problemen, die er in seinen Werken zu Fragen der indogermanischen Sprachen behandelt, sondern auch in Spezialarbeiten. Ich habe bereits im I. Kapitel eine Studie von VENDRYES über die „Lautgesetze" erwähnt. Hier werde ich mich mit seinem Buch Le langage. Introduction linguistique à l'histoire, Paris 1921 (wieder gedruckt mit einem neuen bibliographischen Anhang, ebenda 1950), beschäftigen, in dem fast alle Fragen der allgemeinen Sprachwissenschaft berührt werden. 1 Weil der Verfasser überhaupt nicht von der Konzeption der französischen sprachwissenschaftlichen Schule abweicht, ist Le langage als ein wirkliches Lehrbuch dieser Schule zu betrachten. Seine Prinzipien stützt VENDRYES immer durch sprachliche Beispiele, die mit Hilfe der historisch-vergleichenden Methode erarbeitet wurden, wie das bei allen französischen Gelehrten der Fall ist, über die im vorliegenden Kapitel gesprochen wurde. Eine Zusammenfassung dieses Buches kann nicht gegeben werden. Sie ist auch nicht notwendig, da VENDRYES nicht viel Neues dem gegenüber bringt, was wir bereits von der französischen Schule wissen. Die Ideen MEILLETS und indirekt die von F . DE SATTSSURE begegnen uns ständig 2 , so z. B. : Die menschliche Sprache ist

1

2

ConcepÇia sociologieä a limbajului in: VRom ( 1 9 4 8 ) , Nr. 3 / 4 , S. 232ff. Das Problem der ,,sprachlichen Interferenzen" als Produkt einiger Tatsachen der Zivilisation ist auf dem IV. Internationalen Sprachwissenschaftlerkongreß in einem besonderen Bericht von Kit. S A N D F E L D , dem Verfasser des bekannten Werkes Linguistique balkanique, Paris 1930, behandelt worden (s. Actes du Quatrième Congrès International de linguistes, Copenhague 1 9 3 8 , S. 5 9 F F . , 6 4 F F . ) . Die vergleichende Methode in der historischen Sprachwissenschaft M E I L L E T S erörtert vom Gesichtspunkt unseres Faches aus N. M A C C A R R O N E in: RLiR VI ( 1 9 3 0 ) , S. l l f f . Eine jüngere Arbeit (mit einer äußerst reichhaltigen Bibliographie), die diesem Problem gewidmet ist, Languages in Contact, New York 1 9 5 3 , hat U R I E L W E I N R E I C H zum Verfasser. Dieses Buch ist in der Bibliothèque de synthèse historique erschienen, und zwar in der Sektion L'évolution de l'humanité, die unter der Leitung von H E N R I B E R R steht, dem Herausgeber der Revue de synthèse historique. Die Werke dieser Sektion haben alle das Ziel, die Gebildeten in die verschiedenartigsten Bereiche der menschlichen Zivilisation einzuführen. V E N D R Y E S hat auch direkte Beziehungen zu unserem Fach. In dem bereits zitierten Les langues du monde ist er der Verfasser des Kapitels Langues indo-européennes (S. 19ff.), wo auch über die romanischen Sprachen gesprochen wird. Ich muß präzisieren, daß es sich hier um eine Feststellung und nicht um eine Einschätzung handelt. In einer Arbeit wie Le langage hatte der Verfasser nicht das Recht, eine zu persönliche Einstellung vorzubringen oder Ansichten darzulegen, die die Mehrheit der Fachleute nicht gelten läßt. Was das vom Herausgeber der

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eine soziale Tatsache. Ihre Existenz ist dem Bedürfnis der Menschen zu verdanken, sich zu verständigen. Ihre Festlegung erfolgte innerhalb der ersten Gruppen von Sprechern nach Gesetzen, wie sie sich als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft finden.1 Zwischen den Wörtern und den entsprechenden Begriffen besteht keine natürliche Verbindung, sondern nur eine zufällige (das sprachliche Zeichen ist beliebig, wie SATTSSUBE sagt). Die Verallgemeinerung der lautlichen Neuerungen findet nur statt, wenn sie einer natürlichen und spontanen Tendenz aller Glieder der Sprachgemeinschaft entsprechen. „Lautgesetze", so wie sie die Junggrammatiker aufgefaßt hatten 2 , gibt es nicht. Die Geistesart eines Volkes und die grammatischen Kategorien in seiner Sprache sind verschiedene Dinge, infolgedessen ist es abwegig, diese grammatischen Kategorien mit dem Ziel zu studieren, Schlüsse über den „Volkscharakter" 3 daraus zu ziehen. Die grammatischen Kategorien haben

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Sammlung Bibliothèque de synthèse historique verfolgte Ziel betrifft, so f ü g t sich das B u c h von V E N D R Y E S gut in diesen R a h m e n ein. Die Originalität des Autors zeigt sich in der objektiven, aber eindringlichen Kritik, die er a n den I d e e n verschiedener Linguisten ü b t . N a c h d e m er gesagt h a t , d a ß die Sprachwissenschaft fälschlich neben die N a t u r wissenschaften gestellt worden sei, zitiert V E N D R Y E S auf S. 2 0 M . B R É A L , der die indogermanische K o n j u g a t i o n vergleicht mit ,,. . . ces grandes institutions politiques ou judiciaires — les parlements ou le conseil d u roi — qui, nées d ' u n besoin primordial, ont v u peu à peu se diversifier, s'étendre leurs attributions, j u s q u ' à ce q u ' u n a u t r e âge, t r o u v a n t cet ensemble de rouages t r o p lourd, en ait retranché u n e p a r t , en ait divisé le fonctionnement e n t r e divers corps libres et indépendants, quoique p r e n a n t p a r t encore, d a n s u n e certaine mesure et avec la preuve visible de leur ancienne solidarité, à la conception initale". I c h h a b e diese Stelle wiedergegeben, u m einerseits die Verbindungen von V E N D R Y E S ZU anderen französischen Linguisten als den bis j e t z t behandelten zu zeigen u n d u m andererseits die soziologische Sprachauffassung darzulegen, die m a n c h m a l zu weit geht, wie es der meines E r a c h t e n s ziemlich kuriose Vergleich von B R É A L beweist. S A U S S U R E war nicht der Lehrer von V E N D R Y E S , u n d der Cours de linguistique générale, im J a h r e 1 9 1 6 erschienen, k o n n t e nicht in Le langage b e n ü t z t werden, weil dieses Buch, obgleich erst im J a h r e 1921 gedruckt, bereits 1914 endgültig abgeschlossen worden war. Dennoch ist durch die Vermittlung von M E I L L E T , der Schüler von S A U S S U R E u n d zugleich Lehrer von V E N D R Y E S war, die Verbindung zwischen diesen beiden so eng wie n u r möglich gewesen. Hier einige Feststellungen, die meiner Ansicht nach b e s t i m m t e Aspekte der endlosen Diskussion ü b e r die Lautgesetze klären : celles-ci sont des formules qui résument des procès, des règles de correspondances." (S. 51 ; vgl. auch den Abschnitt über M E I L L E T im I . Kapitel des vorliegenden Buches.) „ D ' u n e p a r t , la loi phonét i q u e ne renseigne q u ' i m p a r f a i t e m e n t sur la n a t u r e d u changement dont elle enregistre le r é s u l t a t ; et d ' a u t r e p a r t , elle n'est jamais q u ' u n e moyenne, en laquelle se résument divers procès compliqués." ( S. 53 ; vgl. auch den letzten Teil des Abschnittes über M E I L L E T . ) „Les exceptions a u x changements phonétiques son inévitables." (S. 5 7 — 5 8 . ) „Nous avons rencontré, d a n s l'exposé qui précède, des cas où les tendances phonétiques régulières se trouvaient en conflit avec des tendances de caractère différent. Ces cas ont d û se présenter souvent d a n s l'histoire des langues; c'est à eux qu'il f a u t a t t r i b u e r les irrégularités de t o u t e histoire p h o n é t i q u e . " (S. 66.) Zu diesem Gedanken, der mit einer kleinen unterschiedlichen Nuance in d e m S A U S S U R E gewidmeten Abschnitt erscheint, wo ich ihn als der Theorie V O S S L E R S über den „ S p r a c h g e i s t " entgegengesetzt interpretiert habe, sei n u n noch die Über-

24 Iordan, Eom. Sprachwissenschaft

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Kapitel IV. D i e französische sprachwissenschaftliche Schule

sozialen Ursprung und hängen daher vom Leben der Menschen in der Gesellschaft ab. Die Analogie trägt zum Untergang einiger Formen (der unregelmäßigen) bei und folglich zur Vereinfachung der Morphologie. Außerdem weist VENDRYES darauf hin, daß die konkreten Substantive leichter als die abstrakten verlorengehen. Diese beiden letzteren Feststellungen erinnern daran, daß nach MEILLET der Fortschritt der Zivilisation, indem er das Abstraktionsvermögen des menschlichen Denkens ermöglicht, bestimmte grammatische Formen untergehen läßt. 1 Für das Verständnis der Sprache ( = langue nach der Terminologie SAUSSURES) müssen wir die gegenwärtigen Sprachzustände betrachten. 2 Die Sprecher sind bestrebt, Mißverständnisse ( G H Ì I É E O N hätte gesagt: Homonymien) zu vermeiden. Die Bedeutung der Phonetik darf nicht übertrieben werden. Bei den semantischen Veränderungen ist auf die Wirkung des gesellschaftlichen Milieus zu achten. Die „Zivilisationswörter" werden leichter als die anderen entlehnt (vgl. die Feststellung MEILLETS, daß das „Gefühl einer Zivilisationseinheit" die Sprachen einander nähert). I n der Entwicklung der Sprache wird ein Kampf zwischen der Tendenz der Differenzierung und derjenigen der Vereinheitlichung beobachtet (die Terminologie wurde von MEILLET entlehnt, aber die Idee finden wir schon bei SAUSSURE). Bei den Beziehungen zwischen den Sprachen spielt das Ansehen der einzelnen Sprachen eine bedeutende Rolle. Ferner gilt es, die Sprachmischung zu beachten (diese faßt VENDRYES im weiten Sinne des Wortes, indessen mit dem auch bei MEILLET vorhandenen Zusatz, daß wir es immer nur mit einer einzigen Sprache zu tun haben, wieviel fremde Elemente auch in ihr vorhanden sein mögen : Das ist das Sprachgefühl der Sprecher). Aber VENDRYES erörtert auch Fragen, die wir weder bei SAUSSURE noch bei MEILLET finden, z. B . die affektive Rede ( S . 162£f.), die onomatopoetischen

1

2

zeugung v o n F . N . F I N C K angeführt, daß zwischen dem Charakter einer Sprache und dem Temperament des Volkes, das sie spricht, eine Verbindung bestehen würde. Diese Ansicht ist meines Erachtens zugleich m i t der verwandt, nach der das sprachliche Zeichen sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall beliebig sei : D e r Beitrag der Logik (als solcher !) wird bei dem Entstehen und der Entwicklung der Sprache geleugnet. Hier stellen wir indessen eine Annäherung an die idealistische Schule fest, denn auch V O S S L E E vertritt die Ansicht, daß die Sprache „unlogisch" sei. Vgl. V E N D B Y E S S. 277: „II est aussi arbitraire de faire sortir la langue de la mentalité que la mentalité de la langue. Toutes d e u x sont le produit des circonstances; ce sont des faits de civilisation." Die richtigere Erklärung dafür, die auf der marxistischen Sprachauffassung beruht, ist, daß der Wortschatz direkt mit der Produktion verbunden ist und infolgedessen die materiellen Gegenstände, die nicht mehr benützt werden, weil sie durch andere, immer vollkommenere ersetzt werden, aus dem Umlauf verschwinden und zugleich mit ihnen auch ihre N a m e n . ,,. . . l'étymologie donne une idée fausse de la nature d'un vocabulaire; elle n'a d'intérêt que pour montrer comment un vocabulaire s'est formé. Les m o t s ne sont pas employés dans l'usage d'après leur valeur historique. L'esprit oublie — à supposer qu'il l'ait jamais su — par quelles évolutions sémantiques ils ont passé. Les m o t s ont toujours une valeur a c t u e l l e c'est-à-dire limitée au m o m e n t où o n les emploie, et s i n g u l i è r e , c'est-à-dire relative à l'emploi momentané qui en est fait." (S. 206.)

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Schöpfungen (S. 214ff.), die Beziehungen zwischen Sprache und Denken (S. 77ff.) und anderes.1 Er erweist sich so auch mit den Vertretern der französischen Schule solidarisch, die aus dem Studium der affektiven Rede usw. eine wirkliche Fachwissenschaft gemacht haben (z. B. BALLY mit der Stilistik) und von denen auf den folgenden Seiten die Rede sein wird. Wenn wir zu diesen Problemen noch andere hinzufügen, seien sie mehr philosophischer Natur, wie der Ursprung oder der Fortschritt2 der menschlichen Sprache, seien sie „äußere Sprachwissenschaft" (ich 1

Es muß genauer gesagt werden, daß V E N D R Y E S sich zurückhaltend gegenüber einigen dieser Fragen zeigt. So trägt er zum Studium der affektiven Rede die Ansicht vor, daß es mehr zur Psychologie und Kunst als zur Sprachwissenschaft gehöre (S. 165). Ebenso drückt er sich hinsichtlich der Beziehungen zwischen Sprache und Denken aus, deren Erforschung eine Aufgabe der Psychologie sei (S. 7 7 ) . Diese Einstellung von V E N D R Y E S entspringt der unter den westlichen Linguisten sehr verbreiteten Idee, daß wir unter „Denken" die Art, wie das Gehirn des Menschen funktioniert, verstehen müssen, d. h. einen psychologischen, keinen logischen Prozeß der Erkenntnis der uns umgebenden Wirklichkeit. Auch in Einzelheiten geht V E N D B Y E S nicht immer mit den im vorliegenden Kapitel studierten Sprachwissenschaftlern konform. Ich werde hier bezüglich der Terminologie auf einen einzigen Unterschied hinweisen. Wir haben gesehen, daß der Titel seines Buches Le langage lautet und daß ferner dieser Ausdruck, der bei S A U S S U B E oder M E I L L E T nur beiläufig erscheint, von V E N D R Y E S außerordentlich häufig gebraucht wird. Auf Seite 275 finden wir eine Präzisierung, die es verdient, festgehalten zu werden: „ I I y a cette différence entre le langage et les langues, que le langage est l'ensemble des procédés physiologiques et psychiques dont l'être humain dispose pour parler, tandis que les langues représentent l'utilisation pratique de ces procédés. Pour arriver à la définition du mot l a n g u e , il faut donc sortir du cadre des chapitres précédents et étudier le rôle, que joue le langage dans les sociétés humaines organisées." Somit bedeutet „langage" nach V E N D R Y E S „langue" und „parole" zusammen im Sinne SAUSSURES, d. h. die Fähigkeit, die die Menschen, aber nicht die Tiere haben, durch artikulierte Laute das alles auszudrücken, was sie denken und fühlen. Wegen dieser weitreichenden Bedeutung wird der Ausdruck „langage" auch angewandt in bezug auf jedes andere Zeichen, mit dessen Hilfe wir Ideen und Gefühle übermitteln können (vgl. die Sprache der Taubstummen, die Gestensprache usw.). Die Sprache ist allen Menschen gemein, weil sie von deren physischer und psychischer Konstitution abhängt, die ständig und überall dieselbe ist. Die „Sprache" gehört einer einzigen bestimmten Sprachgemeinschaft an, weil sie das Produkt bestimmter historischer Bedingungen ist, die von der einen menschlichen Gemeinschaft zur anderen sich unterscheiden ; das „Sprechen" aber stellt die praktische Realisierung einer gegebenen Sprache dar, da es nach Individuen, nach Gruppen im Innern ein und derselben Sprachgemeinschaft variiert. D E L A C R O I X (op. cit., S. 2fF.) unterscheidet vier Aspekte dieser spezifisch menschlichen Fähigkeit : langage, langue, parler und parole.

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Das ist ein Begriff, der der Klärung bedarf. Wir haben ihn flüchtig auch im Abschnitt über M E I L L E T angetroffen. Einige Linguisten betrachten ihn als so wichtig, daß sie ihm auch Spezialstudien gewidmet haben. Der bekannteste und bedeutendste unter ihnen ist der Däne O T T O J E S P E R S E N (Progress in Language, London 1894, zweite Auflage ebenda 1909), dessen Namen ich im Verlauf der nur summarischen Erörterung des Problems einer internationalen Sprache erwähnt habe. I m 19. Jahrhundert hatten zahlreiche Linguisten behauptet, daß die Sprachentwicklung einen Verfall bedeute; das beweise, so hatten besonders die klassischen Philologen argumentiert, die Überlegenheit der griechischen und lateinischen Sprache

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

bediene mich eines Ausdrucks von SATJSSTJEE), nämlich die Bildung der Sprachen (Sprachen, Dialekte, Gemeinsprache, Schriftsprache, Literatursprache, Argots über die modernen. J E S P E B S E N vertritt einen völlig entgegengesetzten Standpunkt : Die Sprachveränderungen bewirken im Gegenteil, daß die Sprachen Fortschritte machen. Wenn wir ständig rückwärts gehen bis zu den Anfängen einer Sprache, konstatieren wir, wie ihre gesamte Struktur komplizierter wird. I m Verlauf der Zeit wird das grammatische System vereinfacht, verschiedene überflüssige Formen verschwinden, die Flexion strebt danach, durch eine bestimmte Wortstellung im Satz ersetzt zu werden. J E S P E B S E N denkt dabei vor allem an die englische Sprache, die bekanntlich aus ihrer Grammatik sehr viele Elemente ausgeschieden hat, ohne daß deren Fehlen auf irgendeine Weise fühlbar ist. J E S P E B S E N ist sogar der Ansicht, daß diese Sprache eine wirkliche Überlegenheit gegenüber anderen biete, weil diejenigen, die sie gebrauchen, sich leichter und klarer ausdrücken könnten. Auf jeden Fall — der dänische Gelehrte tadelt die Linguisten, die dieses Kriterium nicht beachten — stellt die Vereinfachung der Grammatik unbestreitbar einen Fortschritt dar. V E N D B Y E S leugnet nicht die Tatsachen, auf die sich dabei bezogen wird, aber er weist die Interpretation zurück, die J E S P E B S E N dazu gibt, indem er sagt, daß J E S P E B S E N die Frage falsch gestellt habe. Das historische Studium der Sprachen zeigt uns, daß viele Verluste (grammatische oder andere) durch Neubildungen ausgeglichen werden, so daß die allgemeine Bilanz nicht immer mit Defizit abgeschlossen wird. Ebenso dürfen wir nicht von einem sprachlichen „Ideal" in dem Sinne sprechen, wonach eine solche Sprache den anderen überlegen wäre. Das Ideal auf diesem Gebiet bedeutet die vollkommenste Anpassung der Sprache an die Bedürfnisse der Sprecher. In dieser Beziehung bietet jede Sprache Vorteile und Nachteile. Wenn wir um jeden Preis ein solches Problem diskutieren wollen, das nicht zur eigentlichen Linguistik gehört, so ist die klügste Einstellung, daß wir den „Fortschritt" als etwas Relatives und nicht als etwas Feststehendes betrachten. Was die Ursachen betrifft, durch die die Morphologie vereinfacht wird, so folgt V E N D B Y E S seinem Lehrer M E I L L E T : Die Sprache, die eine soziale Tatsache ist, hängt in ihrer Entwicklung vom Leben der Menschen in der Gesellschaft ab. Bei den „Wilden" und „Primitiven" ist das Denken konkret, mystisch und das Gedächtnis entwickelt; infolgedessen wird ihre Sprache durch einen großen Reichtum an grammatischen Formen charakterisiert, die leicht festgehalten werden können durch ein plastisches, unverbrauchtes Gedächtnis. Die zivilisierten Menschen dagegen denken abstrakter und haben ein träges Gedächtnis (weil sie auch über andere Mittel verfügen, die ihnen helfen, bestimmte Dinge zu behalten), was u. a. zur Vereinfachung der Morphologie führt, gerade weil dies besser ihrer Denkweise entspricht. Die Idee des Fortschritts in der Sprache, so wie sie J E S P E B S E N entwickelt, indem er sich auf die englische Sprache bezieht, ist von einigen Linguisten und besonders von zahlreichen reaktionären Politikern als ein Propagandamittel gegen die slawischen Völker benutzt worden, deren Sprachen eine sehr reiche Morphologie aufweisen. Sie zogen den absurden Schluß, daß diese Völker „zurückgeblieben" seien. Vgl. auch eine andere Arbeit des berühmten dänischen Gelehrten betreffs des hier zur Erörterung stehenden Problems, und zwar Efficiency in Language, Kobenhavn 1941, wo der Autor die Ansieht vertritt, daß der Fortschritt in der Sprache tatsächlich die Möglichkeit bedeute, mit den geringsten sprachlichen Mitteln so viele Bedeutungen und grammatische Beziehungen auszudrücken wie nur möglich. Vgl. ferner sein Buch Die Sprache, ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, Heidelberg 1925 (aus dem Englischen übersetzt), S. 304ff. und S. 322ff. Zur sprachwissenschaftlichen Tätigkeit von J E S P E B S E N im allgemeinen vgl. den Aufsatz von L. H J E L M S L E V in AL I I I (1942), S. ll'9ff.

Joseph Vendryes

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u. a., Fachsprachen, Sprachgeographie, Sprachmischung, Sprachverwandtschaft) oder der Ursprung der Schrift und Orthographie, so geben wir uns leicht darüber Rechenschaft, daß das Werk von VENDRYES eine umfassende Einführung in die Sprachwissenschaft darstellt. In erster Linie können die Studenten (aber nicht nur sie!) aus der Lektüre dieses Buches einen unbestreitbaren Nutzen ziehen, besonders weil der Autor im Verlauf der Erörterung über Fragen der Phonetik, Morphologie und des Wortschatzes, die die eigentliche Grundlage der Arbeit bilden, auch die reiche Terminologie erklärt, die er gebraucht. Schließlich muß noch ein großes Verdienst von VENDRYES hervorgehoben werden: Das Sprachmaterial, dessen er sich für die Illustration der theoretischen Diskussionen bedient, wird aus allen Sprachfamilien der Erde genommen, so daß der Leser sich auch über die spezifischen Besonderheiten einiger Sprachen informieren kann, die den meisten von uns schwer oder überhaupt nicht zugänglich sind. Le langage wurde von den Rezensenten günstig aufgenommen. Erwähnt seien hier: M. GRAMMONT in R L R L X I (1921/22), S. 369FF.; A. ERNOUT in J S 1922, S. 134ff. ; H. DELACROIX in J P N P X V I I I (1921), S. 772FF.; V. BOGREA in Dacor I I (1921/22), S. 765FF.; G. DOTTIN in A B X X X V (1921-1923), S. 496ff.; A. DEBRUNNER in DLZ X L V (1924), col. 1447ff. 1 Ich gehe nun kurz auf die Rezension von GRAMMONT ein. Auch er ist wie VENDRYES ein Vertreter der französischen

sprachwissenschaftlichen Schule. Seine Einwände betreffen nur Einzelheiten, denn insgesamt gesehen ist die Rezension voll des Lobes. GRAMMONT hebt hervor, daß der künstlerische Teil der menschlichen Rede nicht vernachlässigt werden darf, weil er eine besondere Bedeutung besitzt: Die Kunst ist eine höhere Äußerung der Intelligenz eines Volkes, sie bedeutet das ideale Ende oder Ziel seiner geistigen 1

Interessant ist auch das Vorwort, das der Herausgeber der „Bibliothèque de synthèse historique", H E N R I B E R R , ZU dem Buch von V E N D R Y E S verfaßt h a t . Darin finden wir, daß die soziologische Konzeption der Sprache, so wie sie von M E I L L E T u n d seinem Schüler vertreten wird, vor allem auf den Einfluß der französischen soziologischen Schule (von E . D Ü R K H E I M u n d L. L É V Y - B R T T H L ) zurückzuführen sei. Hier nun, welche Feststellungen B E R R in bezug auf einige wesentliche P u n k t e in der Lehre von V E N D R Y E S t r i f f t : ,,Le langage n'est vraiment social, selon nous, que s'il est u n e création de la société, u n e institution inhérente à la société." (S. XVI.) „Si donc, en soulignant l'action de la société, comme il le fait en beaucoup de passages, il voulait simplement montrer quelle ressource l'organisation sociale devait trouver dans ce moyen de communication entre les hommes, comm e n t l ' „ a d a p t i o n " des facultés humaines a u x besoins sociaux a fait progresser t o u t à la fois la société et le langage, on ne pourrait qu'être d'accord avec lui." (S. XVI—XVII.) „Dire que l'évolution d u langage est en rapports étroits avec la civilisation, ce n'est pas méconnaître l'effort logique, le rôle du facteur h u m a i n ; et c'est restreindre le rôle du facteur social. Le concept du civilisation est bien distinct de celui de société." (S .XXVI.) „De même que le linguiste a besoin de l'histoire, l'historien a besoin de la linguistique — s'il conçoit l'histoire, non comme le récit p u r et simple de ce qui a été, mais comme l'interprétation profonde de la vie infiniment complexe." (S. X X V I I I . ) Diese letzte Beobachtung, mit der B E R R seine Erörterung schließt, s t i m m t völlig mit den Ansichten von V E N D R Y E S überein, denn die Grundlage seines gesamten Buches ist historisch.

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K a p i t e l I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Entwicklung. 1 G B A M M O N T verteidigt gegenüber V E N D B Y E S auch d e n Begriff der Vollkommenheit der Sprachen : Unsere Gedanken können verschiedener Qualität sein, ebenso die Ausdrucksmittel. Dieselbe Einstellung hat der Rezensent hinsichtlich der Beziehungen zwischen dem Volkscharakter und der Sprache: Der Charakter und die Entwicklung einer Sprache sind nicht nur auf einige rein sprachliche Ursachen zurückzuführen, wie V E N D B Y E S meint, sondern hängen auch v o n der Geistesart des Volkes ab, das sie spricht. Auch die Feststellung, wonach bei zwei sprachlichen Verfahren, die sich gegenüberstehen, es genügt, daß das eine vorherrscht, um sich durchzusetzen, befriedigt G B A M M O N T nicht. Die Frage wird anders gestellt : Warum herrscht es vor, und warum siegt folglich das eine, aber nicht das andere? Schließlich ist G B A M M O N T als ausgezeichneter Phonetiker unzufrieden mit der geringen Bedeutung, die V E N D B Y E S der Phonetik zuerkennt. Von den 420 Seiten seines Buches sind 64 Seiten der Phonetik gewidmet, was nach Ansicht G B A M M O N T S Z U wenig ist. 2 1

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I n späterer Zeit h a t V E N D B Y E S Interesse f ü r den ästhetischen Aspekt der Sprache bezeugt, wie es z. B. sein Aufsatz La phonologie e t la langue poétique (in dem B a n d Conférences de l ' I n s t i t u t de Linguistique de l'Université de Paris I I , Paris 1935, S. 39ff.) beweist. V E N D B Y E S h a t sich über einige allgemein sprachwissenschaftliche F r a g e n a u c h in dem bei anderer Gelegenheit zitierten Aufsatz geäußert, den er in J P N P X V I I I (1921), S. 617ff., u n t e r dem Titel Le caractère social d u langage et la doctrine de F . Saussure veröffentlicht h a t . I c h gebe hier einige Stellen wieder, die verschiedene P u n k t e sowohl in der Auffassung von S A U S S U B E als auch in der von V E N D B Y E S selbst k l ä r e n : „ L ' a c t e linguistique est d a n s l'association d ' u n concept psychique et d ' u n e image acoustique, et l'objet de la linguistique est d'étudier le r a p p o r t qui unit les d e u x . " (S. 619.) „Les principes de la linguistique synchronique se dégagent de la valeur d u signe ; donc la linguistique synchronique ou s t a t i q u e est sociologique par définition." (S. 626.) „ L ' é t u d e de la langue n e p e u t être que synchronique ou plus exactement idiosynchronique . . . E n revanche, l'étude des faits de langue est nécessairement diachronique, puisque ces faits ne peuvent être considérés autrem e n t que dans le temps. Or, t o u t ce qui est diachronique dans la langue ne l'est que p a r la parole." (S. 626.) Dies k l ä r t auch die Einstellung V O S S L E B S u n d seiner Schüler zu den sprachlichen P r o b l e m e n : W e n n einige ihrer Ansichten Widerspruch hervorgerufen haben, d a n n u. a. deshalb, weil sie die „ S p r a c h e " mit dem „ S p r e c h e n " in dem Sinne verwechselt h a b e n , d a ß b e s t i m m t e richtige Fests t e l l u n g e n in bezug auf das Sprechen auch auf die Sprache ausgedehnt worden sind u n d so ihre Gültigkeit verloren haben. Gleichzeitig läßt sich d a d u r c h a u c h die Ansicht V O S S L E B S erklären, nach der die Sprachwissenschaft n u r historisch sein k a n n . D a er sich ausschließlich mit dem Sprechen beschäftigte, m u ß t e V O S S L E B eine solche Definition geben, die wir bei den französischen Linguisten wiederfinden, natürlich mit dem Hinweis, d a ß wir n u r die „sprachlichen F a k t e n " , nicht die „ S p r a c h e " selbst betrachten sollen (d. h., d a ß wir diachronische Sprachwissenschaft, nicht synchronische betreiben sollen). D a r a u s ergibt sich, weshalb V O S S L E B , die Meinung v e r t r i t t , daß in der Sprache alles individuell sei. Dieser Gedanke erscheint auch in der Lehre der Schule S A U S S U R E s, doch m i t der notwendigen K o r r e k t u r , daß beim „ S p r e c h e n " alles individuell sei. Daher scheint mir die Einstellung von V E N D B Y E S richtig, der, wahrscheinlich von M E I L L E T beeinflußt, von „innovations générales se m a n i f e s t a n t d a n s les individus isolés" spricht s t a t t von „innovations individuelles généralisées" (S. 623).

Charles Bally

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Gehen wir nun zu den Vertretern der französischen sprachwissenschaftlichen Schule über, die sich nicht mit allen Problemen der Sprache beschäftigen. Sie haben sich nur bestimmte Bereiche ausgesucht, die sie bevorzugt wie ein besonderes Fach pflegen. Ein anderes Merkmal dieser Gruppe besteht darin, daß sie direkte Verbindung mit unserem Fach hat. Wie wir sahen, waren SAUSSURE, M E I L L E T und VENDRYES Indogermanisten, so daß uns ihre Lehre vor allem wegen der allgemein sprachwissenschaftlichen Prinzipien interessiert, die bekanntlich in jedem Zweig des Sprachstudiums angewandt werden. Die Vertreter der französischen sprachwissenschaftlichen Schule dagegen, die nun behandelt werden sollen, sind Romanisten. Der Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung ist die französische Sprache. Nur wenn sie Theorien aufstellen, was aber selten geschieht, nehmen sie auch auf andere Sprachen Bezug. Sie realisieren im allgemeinen den praktischen Gesichtspunkt SAUSSURES, der verlangt, daß wir die gegenwärtigen sprachlichen Gegebenheiten studieren, während die bis jetzt besprochenen Forscher sich hierbei gewöhnlich mit theoretischen Feststellungen und Proklamierungen zufriedengeben mußten. Daher gelang es den romanistischen Vertretern der französischen sprachwissenschaftlichen Schule, in ihren Werken oftmals Wesentliches zu bringen, das bei den anderen Forschern ganz fehlt oder nur kurz erwähnt wird.

Charles Bally (1865-1947) Ich beginne mit CH. B A L L Y , dem ersten Nachfolger SATTSSTTRES an der Universität Genf. Seine Hauptwerke sind: Précis de stylistique, Genève 1905; Traité de stylistique française, 2 Bände, Heidelberg 1909 (2. Auflage ebenda 1919—1921 ; der 2. Band davon ebenda 1941 in einer neuen Ausgabe, aber das gesamte Werk in einer 3. Auflage Genève-Paris 1951); Le langage et la vie, Genève-Heidelberg 1913 (2. Auflage Paris 1926, 3. Auflage Paris 1935) ; Linguistique générale et linguistique française, Paris 1932 (2. und 3. Auflage Bern 1944 bzw. 1950; die russische Übersetzung erschien unter dem Titel Oônjafl J i H H r B H C T H K a H B o n p o c H $ p a H U , y 3 C K o r o n a u n a , M o c K B a 1955). Schon aus den Titeln der ersten zwei oben genannten Arbeiten ist zu erkennen, daß sich dieser Sprachwissenschaftler besonders mit der Stilistik beschäftigt hat. Sie ist in vieler Hinsicht ein neuer Zweig der Sprachwissenschaft, der hauptsächlich als Schöpfung besonders dieses Gelehrten betrachtet werden kann. Der Ausdruck „Stilistik" ist uns bereits bekannt aus dem II. Kapitel des vorliegenden Buches, in dem ich das Schaffen von L. SPITZER erörtert habe. Dort wird kurz gezeigt, was wir unter Stilistik zu verstehen haben. Weil der Name Stilistik bereits seit langer Zeit eingeführt ist und es leicht zu Mißverständnissen kommen könnte, halte ich es für nützlich, diesen Begriff näher zu definieren. Diesmal soll es im Sinne B A L L Y S geschehen, der sich in dieser Hinsicht wesentlich von SPITZER unterscheidet. Die S t i l i s t i k d a r f n i c h t mit dem S t u d i u m des S t i l s v e r w e c h s e l t werden. L e t z t e r e r g e h ö r t zur Ä s t h e t i k oder L i t e r a t u r k r i t i k , weil „Stil" die Art bedeutet, wie ein Schriftsteller die Sprache benützt, um bestimmte künstlerische Wirkungen zu erzielen. Daraus folgt,

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

daß der Stil von einem Schriftsteller zum anderen, ja, selbst von einem literarischen Werk zum anderen variiert. Er ist folglich im höchsten Grad individuell, selbst wenn Ausdrucksmittel angewandt werden, die auch andere Menschen benützen. Weiterhin handelt es sich bei dem Stil um einen bewußten Akt im Sinne des Willens: Er ist ein bewußtes Produkt insofern, als der Schriftsteller von den Mattein, die die Sprache ihm zur Verfügung stellt, diejenigen aussucht, die für seine Intentionen die geeignetsten sind. Daher kann der Stil eines Autors oder eines einzigen Werkes nur vom Gesichtspunkt der ästhetischen Wirkung aus betrachtet werden. So erklärt es sich, warum die Literaturkritiker sich fast ausschließlich für das interessieren, was gewöhnlich R e d e f i g u r e n genannt wird. Sie vernachlässigen die anderen stilistischen Verfahrensweisen, die bei mehreren Schriftstellern angetroffen werden können. Kurz, der Stil enthält eine bestimmte Dosis von Künstlichem (im etymologischen Sinne des Wortes), ebenso übrigens wie die Literatur und jede Kunst. Aber wenn diejenigen, die den Stil studieren, sich auf seinen rein formalen Aspekt beschränken, ohne zu versuchen, die psychologischen Ursachen aufzudecken, wird die Wissenschaft vom Stil selbst formalistisch und starr. Deshalb ist der Stil oftmals wie ein Handwerk betrachtet worden, das jeder lernen kann, gleich, welche Begabung er besitzt.1 Es fanden sich immer Menschen, die ausschließlich die irgendwie äußeren Elemente des Stils pflegten. Dies sind die Rhetoriker aller Zeiten, die wirklichen (oder nur vermuteten) Bewahrer der Geheimnisse der Kunst des Schreibens und Sprechens. Von diesen sind in den Erörterungen über den Stil viele unwichtige oder gar schädliche Elemente zurückgeblieben, die das Verständnis dieses Problems erschweren und verfalschen.2 Die S t i l i s t i k im Sinne BALLYS i s t eine s t r e n g s p r a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s z i p l i n und beschäftigt sich mit dem Studium der sprachlichen Ausdrucks mittel einer Sprachgemeinschaft, die vom Gesichtspunkt ihres affektiven Gehaltes aus betrachtet werden.3 Bekanntlich haben unter bestimmten Umständen zahl1

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Daß es einem begabten Schriftsteller gelingt, große Werke auch in stilistischer Hinsicht zu schaffen, wenn er sich unaufhörlich bemüht, seinen Stil zu vervollkommnen, leugnet niemand. Doch ist die Ansicht falsch, daß der Stil ausschließlich etwas Äußeres, Oberflächliches sei, das man sich nur durch Arbeit und guten Willen aneignen könne. Von diesem rhetorischen Ballast können sich vor allem die klassischen Philologen nicht befreien, vielleicht besonders deswegen, weil sie gewöhnlich alte Texte von heute toten Sprachen studieren. Eine ehrenvolle Erwähnung verdient die Arbeit von C. BALMTTÇ, Étude sur le style de Saint Augustin, Paris 1930, der versucht, und oftmals mit Erfolg, das Studium des Stils eines antiken Autors den gegenwärtigen wissenschaftlichen Anforderungen anzupassen. Hier die eigenen Worte des Autors: „La stylistique étudie donc les faits d'expression du langage au point de vue de leur contenu affectif, c'est-à-dire l'expression des faits de la sensibilité par le langage et l'action des faits de langage sur la sensibilité." (Traité de stylistique française I, 2. Auflage, S. 16.) Es muß darauf hingewiesen werden, daß BALLY, wahrscheinlich unter dem Einfluß von F. DB SATJSSTJRB, der die äußere Sprachwissenschaft von der inneren trennt, auch eine äußere oder vergleichende Stilistik und eine innere unterscheidet. „Ainsi il y a deux manières très différentes de dégager les caractères expressifs d'une langue: on

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reiche Wörter neben ihrem rein verstandesmäßigen Sinn auch einen affektiven Wert. Der Sprecher, indem er ein solches Wort anwendet, bezeichnet den entsprechenden Gegenstand und nimmt zugleich eine bestimmte subjektive Haltung emotioneller Art ihm gegenüber ein. J e mehr wir im Augenblick des Sprechens v o m Affekt (Bewunderung, Haß, Verachtung usw.) beherrscht werden, u m so leichter greifen wir zu solchen Wörtern oder syntaktischen Gruppen, die gewöhnlich e x p r e s s i v e Wörter genannt werden. Diese Eigenschaft variiert v o n einem Wort zum anderen und oftmals v o n einer Epoche zur anderen hinsichtlich ein und desselben Wortes. Die zu häufige Anwendung ruft die Schwächung der Expressivität hervor, so daß gerade die expressiven Wörter mehr der Abnutzung ausgesetzt sind als andere, die ständig in der gesprochenen Sprache erscheinen. Daher verlieren sehr viele Wörter dieser Art m i t der Zeit jede affektive N u a n c e und werden infolgedessen durch andere Wörter ersetzt, u m die Bedürfnisse des Sprechers zufriedenzustellen, der v o m Affekt beherrscht ist. Hier ein Beispiel: p e u t ou bien comparer ses moyens d'expression avec ceux d ' u n e a u t r e langue, ou bien comparer entre eux les principaux t y p e s expressifs de la même langue, en t e n a n t compte des milieus auxquels ils a p p a r t i e n n e n t , des circonstances où ils o n t leur emploi convenable, des intentions qui les font choisir d a n s chaque cas, et, enfin et surtout, des effets qu'ils produisent sur la sensibilité des sujets p a r l a n t s et e n t e n d a n t s . " (Le langage et la vie, 2. Auflage, Paris 1926, S . 105.) Wie S A U S S U R E in seinen wissenschaftlichen Arbeiten die äußere Sprachwissenschaft ausscheidet, so bevorzugt B A L L Y die innere Stilistik, deren Ziel er auf folgende Weise definiert : „ Q u a n t à la stylistique interne . . . elle cherche à fixer les r a p p o r t s qui s'établissent entre la parole et la pensée chez le sujet p a r l a n t ou e n t e n d a n t : elle étudie la langue d a n s ses r a p p o r t s avec la vie réelle; c'est-à-dire que la pensée qu'elle y t r o u v e exprimée est presque t o u j o u r s affective de quelque manière." (op. cit., S. 110 bis 111.) Der Verfasser gibt sich Rechenschaft darüber, daß, so wie er sie a u f f a ß t , die (innere) Stilistik sich mehr dem ästhetischen S t u d i u m des Stils n ä h e r t . U n d es k a n n auch nicht anders sein in d e m Augenblick, d a ein Schriftsteller sich derselben Sprache wie der gewöhnliche Sprecher bedient, gleichfalls mit d e m Ziel, b e s t i m m t e seelische Zustände auszudrücken. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden besteht darin, d a ß der Schriftsteller künstlerische Wirkungen verfolgt, die in der gewöhnlichen R e d e fehlen. Genauer weist B A L L Y auf S. 111 auf das Ziel der (inneren) Stilistik h i n : „ L a t â c h e de la stylistique interne est précisém e n t , t o u t en se confinant d a n s le langage de tous, de m e t t r e à nu les germes d u style, de m o n t r e r que les ressorts qui l'actionnent se t r o u v e n t cachés dans les formes les plus banales de la langue." Vgl. ferner S. 134ff., wo demonstriert wird, d a ß der historische Gesichtspunkt nichts in den stilistischen Forschungen zu suchen h a t . Aus zwei Stellen, die oben wiedergegeben sind, ist ersichtlich, wie neben dem Sprecher auch der H ö r e r eine Rolle spielt. Dies können wir unzählige Male in den Arbeiten B A L L Y S feststellen. D a s ist wiederum eine glückliche Neue r u n g b e i diesem Sprachwissenschaftler, der es verstanden h a t , die wissenschaftlichen Konsequenzen aus der Beobachtung der so banalen u n d wahrscheinlich gerade deshalb so vernachlässigten Tatsache zu ziehen, d a ß der Mensch normalerweise niemals allein spricht. Ü b e r den E i n f l u ß des Affekts auf die Sprache vgl. u. a. H . DELACROIX, op. cit., S. 391 ff.; M. REGULA, Über die Einwirkung des Affekts auf die Laut- u n d Sinnform gewisser W ö r t e r im Romanischen in: T r a v V I (1936), S. 164ff. (s. die Beobachtungen S P I T Z E R S in R o L X V I I I [1944/45], S. 484ff.). Vgl. ferner K a p . I dieses Buches, S. 100 ff.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Zu einem Menschen, der zuviel Geld ausgibt, wird gewöhnlich im Rumänischen gesagt risipitor. Dieses Wort enthält keine Einschätzung seitens des Sprechers, sondern drückt einfach nur eine Feststellung aus. 1 Wenn die Verschwendung uns jedoch aus irgendeinem Grund ärgert (es handelt sich vielleicht um unser Geld oder um eine Person, die uns nahesteht), dann können wir nicht mehr ruhig bleiben und greifen, ohne es zu wollen, zu einem stärkeren Ausdruck, der unserem seelischen Zustand gemäß ist, und wir sagen beispielsweise mtnä spartä. Zwischen diesem Ausdruck und dem Adjektiv risipitor gibt es keine vollständige Synonymie. Nur unter dem Gesichtspunkt ihres rein verstandesmäßigen Wertes sind diese zwei Ausdrücke identisch. In der expressiven Kraft unterscheiden sie sich sehr voneinander, weil der eine Ausdruck einen affektiven Wert besitzt, der dem anderen fehlt. Selbstverständlich gibt es n e u t r a l e B e g r i f f e , die in uns kein Gefühl erwecken. Sie werden durch „abgegriffene", nicht expressive Wörter wiedergegeben, so z. B. Stuhl, Tisch, Straße, Baum, Wasser, gehen, stehen, klar usw. Andere Begriffe dagegen sind gewöhnlich mit einer affektiven Nuance gefärbt, die uns zwingt, entsprechende Bezeichnungen anzuwenden. Man vergleiche z. B. den lexikalischen Reichtum so vieler Sprachen hinsichtlich der Begriffe „Kopf" 2 (als Sitz des Verstandes, aber auch der Dummheit), „faul" 3 , „dumm" 4 , „Mund" 5 (als Organ des Sprechens), „geizig", „arm" u. a. Was die Expressivität einiger Ausdrücke wie der in den vorangehenden Fußnoten erwähnten erhöht, ist die Tatsache, daß an 1

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Wenn wir jedoch an das Verbum a risipi denken, ist es nicht schwer zu sehen, daß risipitor anfangs einen affektiven oder, besser gesagt, plastischen Wert gehabt haben m u ß („ein Mensch, der rechts und links Geld ausstreut"). I m Rumänischen wird dazu gesagt: bostan, dovleac, cäpäfinä, capazon, glavä, gläväfinä, scäfirlie usw. (s. I O B G U I O R D A N , Les dénominations du „crâne" d'après l'Atlas linguistique roumain (I, carte 7) in: B L V I I I [1940], S. 95ff.). Frz. tête, ursprünglich selbst sehr affektiv ( < lat. testa) im Vergleich zum A b s t r a k t u m chef ( < lat. caput), wird in der familiären u n d volkstümlichen Rede durch verschiedene affektive Synonyme ersetzt wie citron, betterave, soupière, carafe, bbule, caillou u. a. (das französische Argot h a t ungefähr 50 Bezeichnungen dieser Art f ü r „ K o p f " ) . Vgl. im Rumänischen d a f ü r : tembel, tîrîie-brîu, pierde-varä, puturos (und das Substantiv putoare, stärker noch im Ausdruck als das Adjektiv) usw. Vgl. im Rumänischen: dobitoc, vitä, bou, vaca incältatä, oaie (prost ca oaia oder stärker ca oaia eu jug), giscä, nätaräu, natäfleatä, da in gropi (auf dem Weg, sich als Substantiv zu isolieren), calci în strachini, îi mänincä ciinii din traista u . a. F ü r das französische Sprachgebiet (im weiten Sinne) s. W . v. W A R T B U R G in : F E W I, S. V—VI, der 164 entsprechende Ausdrücke mit gesicherter Etymologie und über 20 mit noch dunkler H e r k u n f t gezählt h a t . R u m . gurä ist lat. gula „Gurgel, Kehlkopf". Es h a t also ursprünglich einen affektiven Wert gehabt. Zu dem Mund des Menschen, der viel spricht, wird im Rumänischen gesagt fleancä, leoarbä, fleoarfä, fleoarcä, plisc, bot, moarä hodorogitä, rîsnità, muzicä (häufiger muzicutä oder mozgä-, das letztere wird in der Moldau häufig f ü r Musik gehört und h a t sich ergeben aus mozgant = muzicant) usw. Besonders die Körperteile geben sich zu Benennungen dieser Art her. Nach statistischen und natürlich sehr annähernden Berechnungen gab es im Lateinischen 80 Wörter f ü r die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers, während es in den romanischen Sprachen einige hundert gibt !

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Charles B a l l y

i h r e r E n t s t e h u n g sich a u c h die P h a n t a s i e beteiligt h a t . W e i l sie gewöhnlich k o n k r e t e G e g e n s t ä n d e bezeichnen, erwecken f a s t alle zugleich m i t d e m e n t s p r e c h e n d e n B e g r i f f b e s t i m m t e Vorstellungen in uns. V o n diesem G e s i c h t s p u n k t aus sind die e x p r e s s i v e n W ö r t e r und W e n d u n g e n , die in der gesprochenen S p r a c h e eines j e d e n von uns so ü b l i c h sind, wohl m i t den Redefiguren gleich, obgleich sie sich v o n diesen u n t e r a n d e r e m wesentlich d a d u r c h u n t e r s c h e i d e n , d a ß sie n a t ü r l i c h u n d spont a n sind, w ä h r e n d die eigentlichen Redefiguren o f t m a l s das P r o d u k t einer Willensh a n d l u n g darstellen. I c h m u ß n o c h hinzufügen, d a ß d a n n , wenn die

Sprache

n i c h t ü b e r affektive A u s d r ü c k e f ü r einige Begriffe v e r f ü g t oder, was häufiger v o r k o m m t , sich der S p r e c h e r n i c h t schnell zurechtfindet, f a s t m i t derselben W i r k u n g g e w ö h n l i c h e W ö r t e r a n g e w a n d t werden, denen d a n n eine besondere B e t o n u n g 1 g e g e b e n wird. W e n n m a n beispielsweise a u s d r ü c k e n will, d a ß j e m a n d intelligent i s t , m a n a b e r unzufrieden ist m i t der A r t , wie er die Intelligenz n i m m t m a n i m R u m ä n i s c h e n d a s W o r t deçtept,

anwendet,

d a s einzig mögliche W o r t in

dieser S i t u a t i o n , indem m a n es m i t einem musikalischen A k z e n t a u f der zweiten S i l b e a u s s p r i c h t , die zugleich a u c h v e r l ä n g e r t wird, oder es wird der betreffende S a t z m i t b e s t i m m t e n expressiven F o r m e l n ergänzt, z. B . dacä-i faci!,

zi-i de§tept si pace!

deçtept,

ce

sä-i

usw. S o l c h e A u s d r ü c k e 2 sind in der gesprochenen S p r a c h e

1

V g l . für die französische Sprache den Aufsatz von J . M a r o t t z e a u , der bereits a m E n d e des I . K a p i t e l s dieses B u c h e s zitiert worden ist, Accent affectif et accent intellectuel (bei L e o S p i t z e r , Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I ,

2

D i e in der bisher geführten Diskussion benützten Beispiele sind vor allem aus dem W o r t s c h a t z genommen und in geringerem Maße aus der S y n t a x . Glauben wir indessen nicht, daß nur diese Bereiche der Sprache uns E l e m e n t e m i t stilistischem W e r t zur Verfügung stellen können. I n L e langage et la vie (2. Auflage, S . 113—114) sagt Bally k l a r : „. . . la stylistique embrasse le domaine entier du langage. Tous les phénomènes linguistiques, depuis les sons j u s q u ' a u x combinaisons syntaxiques les plus complexes, peuvent révéler quelque caractère fondam e n t a l de la langue étudiée; tous les faits linguistiques quels qu'ils soient, peuvent manifester quelque parcelle de la vie de l'esprit et quelque mouvement de la sensibilité." W e n n er jedoch nicht die L a u t e in stilistischer Hinsicht studiert, so ist das der T a t s a c h e zu danken, daß m a n nichts Sicheres über ihren expressiven W e r t weiß. Bally definiert den letzteren Begriff wie folgt: . ,1a faculté plus ou moins grande qu'ont certains sons de produire des effets, lorsque les valeurs phoniques concordent avec le mouvement de la sensibilité de celui qui e n t e n d et c o m p r e n d . " (ebenda, S. 110.) U n d auf Seite 117 sagt er, n a c h d e m er französische W ö r t e r wie goguenard, dégindandé, ratatouille u. a. zitiert h a t , indem er sich R e c h e n s c h a f t über den besonderen E i n d r u c k zu geben sucht, den sie a u f uns m a c h e n : ,,1) les sons, surtout les combinaisons de sons qui figurent dans ces m o t s , ont quelque chose de frappant, qu'on chercherait vainement dans d ' a u t r e s m o t s tels que table, chaise, monter etc., et ils sont frappants par eux-mêmes, indépendamment du sens que les mots peuvent a v o i r ; 2) ces effets phoniques sont dans un certain rapport avec les sentiments provoqués par le sens des m o t s . " Die Feststellung unter 1) erinnert an die I n t e r p r e t a t i o n , die gewöhnlich den onomatopoetischen W ö r t e r n gegeben wird, ohne indessen genau dasselbe zu sein. Die Auffassung B a l l y s ist viel umfassender, und infolgedessen k a n n sie eher neben das gestellt werden, was Schuchardt L a u t s y m b o l i k nennt.

S. 69ff.).

370

Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

der Gebildeten wie der Ungebildeten außerordentlich zahlreich. Die Ungebildeten übertreffen sogar die Gebildeten, weil sie freier sprechen und nahezu ohne Einschränkungen den Impulsen des Affekts gehorchen. Der Gebildete kontrolliert und beherrscht sich aus den verschiedensten Gründen. Daher wählt er unter den Wörtern, die ihm zur Verfügung stehen, diejenigen aus, die nicht gegen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten verstoßen.1 Wir sehen also, worin die Unterschiede zwischen dem Studium des Stils und der Stilistik bestehen: Die Stilistik untersucht die menschliche Rede unter dem Gesichtspunkt des Affekts, der Stil aber vom künstlerischen Gesichtspunkt aus. 2 Die Stilistik betrachtet die gesprochene Sprache, die Schriftsprache nur insoweit, als diese expressive Wendungen und Wörter aus der Alltagssprache enthält 3 ; das Studium des Stils dagegen wird auf die Schriftsprache beschränkt. 1

2

3

Diese Unterscheidung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen gründet sich auf die Beobachtung der Realität, hat aber bei B A L L Y auch eine theoretische Bedeutung, weil sie aus der soziologischen Konzeption der menschlichen Rede entspringt, die wir in seinen Arbeiten überall finden, u. a. dort, wo über den Einfluß der besonderen Redeweisen auf die Gemeinsprache gesprochen wird. Hier eine beliebig ausgewählte Feststellung : „ . . . les langues speciales répandent dans la langue commune une foule d'expressions qui jouent sensiblement le même rôle que les mots dialectaux, et peuvent, comme eux, retarder l'unification de l'idiome." (Le langage et la vie, 2. Auflage, S. 87.) Vergleiche besonders ebenda, S. 81 (L'évolution sociale et le langage) und S. 192ff. (über die gegenseitige sprachliche Einwirkung der gesellschaftlichen Gruppen). B A L L Y läßt mit Absicht das ästhetische Element in der Sprache beiseite, wobei er seine Einstellung folgendermaßen begründet: ,,. . . disons que le point de vue linguistique intéresse seul notre étude; on ne s'étonnera pas de voir négliger ici l'aspect esthétique du sujet, le côté style, poésie, art, et l'on nous pardonnera de prendre nos exemples dans les parties les plus diverses du trésor expressif, d'accoupler même, au nom de principes généraux, des faits qui n'ont pas l'habitude de voisiner. Notre excuse est que nous nous attachons aux p r o c é d é s , non aux e f f e t s qu'ils peuvent produire. Ce n'est pas tout : pour étudier ces procédés, il est nécessaire de recourir d'abord à des faits de langage non socialisés, dont le mécanisme est plus apparent, en même temps que leurs effets sont plus évidents." (op. cit., S. 1 5 4 . ) Aus diesem Unterschied, den B A L L Y zwischen den Verfahren und Wirkungen festlegt (die Hervorhebungen im Text sind von ihm selbst), ergibt sich das unterschiedliche Wesen seiner Stilistik gegenüber der S P I T Z E R S : S P I T Z E R studiert sowohl die sprachlichen Mittel als auch ihre Wirkung auf den Zuhörer (und Leser). Ebenso heißt es in Traité de stylistique française I, 2. Auflage, S. 181 (§ 190): ,,Le langage spontané est toujours 'en puissance de beauté', mais sa fonction naturelle et constante n'est pas d'exprimer la beauté; dès qu'il se met volontairement au service de l'expression du beau, il cesse d'être l'objet de la stylistique; il appartient à la littérature et à l'art d'écrire; car nous verrons que l'expression littéraire ne nous intéresse qu'à titre de fait d'évocation." B A L L Y betont beständig den Kontrast zwischen diesen beiden Aspekten der Sprache, der ein wahrhaftes L e i t m o t i v in seinem sprachlichen System darstellt. In Le langage et la vie z. B . trägt ein gesamtes Kapitel den Titel Langue écrite et langue parlée (S. 126ff.). Hier einige Zitate: „L'étude des expressions" figurées est la pierre de touche de la distinction entre l'écrit et le parler. Quiconque veut connaître la manière dont un peuple voit la vie doit écarter la langue écrite et étudier les images les plus banales du langage courant. Là, tout est fixé, et la base

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D i e unmittelbare Folge dieser. Unterscheidung ist, daß die Stilistik sich mit den gemeinsamen Elementen in der Sprache einer gesellschaftlichen Gruppe beschäftigt, während wir beim Stil nur die individuellen Besonderheiten im Auge haben ; oder, anders ausgedrückt, in d e m einen Fall studieren wir die Sprache ( = langue) und i m anderen Fall das Sprechen ( = parole), und zwar das individuelle Sprechen. Etwas weiter oben habe ich festgestellt, daß die Stilistik, so wie sie BALLY auffaßt, sich von der Stilistik SPITZEKS unterscheidet. Wenn wir uns an den Abschnitt über die wissenschaftliche Tätigkeit SPITZERS erinnern (s. Kap. II, S . 159ff.) und die unmittelbar vorhergehenden Darlegungen beachten, dann ist es nicht schwer zu sehen, welches die Unterschiede sind. Die Stilistik SPITZERS nimmt eine Mittelstellung ein zwischen der rein sprachwissenschaftlichen Stilistik BALLYS und den Studien über den Stil der literarischen Werke. SPITZER interessiert sich sowohl für die gesprochene als auch für die Schriftsprache im allgemeinen, häufiger aber für die Sprache bestimmter Schriftsteller. Er analysiert die Ausdrucksmittel v o m Gesichtspunkt des Affekts aus, vernachlässigt aber auch nicht das ästhetische Element, nicht einmal bei der gesprochenen Sprache (im Falle der Schriftsprache versteht sich dies v o n selbst). Die Methode SPITZERS ist individual-psychologisch, und ihr Autor wendet sie mit kleinen Variationen beim Studium aller stilistischen (allgemeinen oder individuellen) Besonderheiten an. BALLY bedient sich der soziald'observation est sûre; dès q u ' o n opère sur les textes littéraires, t o u t s'embrouille; . . ." „ E n s ' a t t a c h a n t a u x textes, on néglige aussi les ressources phonétiques de la l a n g u e . " (S. 131.) „ L a langue écrite ne p e u t donc faire découvrir les véritables caractères d ' u n e langue vivante, car par son essence m ê m e elle est en dehors des conditions de la vie réelle; . . ." (S. 132.) Auf derselben Seite f ü g t er weiter u n t e n hinzu : „II ne s'ensuit pas que la langue écrite doive rester en dehors de l'étude stylistique; elle y joue m ê m e u n rôle fort utile dès qu'elle est etudiée e n f o n c t i o n d e l a l a n g u e p a r l é e . " (Von B A L L Y hervorgehoben!) Eine andere Feststellung in bezug auf die Schriftsprache : „ D ' a b o r d ce caractère conscient et artificiel de la langue écrite explique pourquoi, en s ' é c a r t a n t de la langue populaire, elle obéit à u n r y t h m e capricieux, reculant volontiers vers des formes archaïques (cf. le latin de l'âge d'argent), influencée parfois par des langues étrangères (action du grec sur le latin), le plus souvent figée d a n s u n e immobilité relative." (S. 196.) Aus diesem Parallelismus ist ersichtlich, d a ß die Schriftsprache mit dem identisch sein k a n n , was B A L L Y verstandesmäßige Rede n e n n t oder einfach Stil; die gesprochene Sprache dagegen b e d e u t e t affektive Rede. Der Gegensatz zwischen verstandesmäßig u n d affektiv erscheint oftmals in der Lehre des Schweizer Linguisten. Ebenso ersehen wir leicht aus den hier wiedergegebenen Stellen, d a ß die Stilistik auch die Stilfiguren u n t e r s u c h t , doch n u r die in der gesprochenen Sprache. Diese h a b e n ihren individuellen Charakter verloren (denn ursprünglich sind auch sie das sprachliche P r o d u k t eines einzelnen gewesen), indem sie, wie B A L L Y selbst sagt, allgemein üblich u n d feststehend geworden sind. Sie sind eine Art s y n t a k t i s c h e Konstruktionen, aber mit dem einzigen Unterschied, d a ß sie noch ihren affektiven, folglich stilistischen W e r t bewahrt haben, während die eigentlich syntaktischen Konstruktionen grammatikalisiert u n d in Formeln oder starre Schemen verwandelt worden sind. Die Stilfiguren der Schriftsteller sind a n sich individuell u n d bleiben s t ä n d i g so. Aus diesem Grund k a n n ein u n d dieselbe F i g u r von einem A u t o r zum anderen verschiedene W e r t e haben, j a sogar bei einem Autor allein, was Konfusion u n d Unsicherheit erzeugt u n d m a n c h m a l Anlaß zu falschen I n t e r p r e t a t i o n e n gibt.

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Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

psychologischen Methode, indem er von dem Gedanken ausgeht, daß die Quelle der expressiven Wörter und Wendungen sich bei bestimmten Seelenzuständen findet, die den Menschen überall und immer gemeinsam sind.1 Dieser methodologische Unterschied ergibt sich daraus, daß B A L L Y die Besonderheiten stilistischer Natur betrachtet, die zur gesamten Sprachgemeinschaft gehören, während S P I T ZES, selbst wenn er allgemeine Stilistik treibt, wenn er also die gemeinsamen Ausdrucksmittel einer gesamten Gruppe von Sprechern studiert, auch die individuellmenschliche Psyche zu verstehen sucht. Er will sehen, wie ein Individuum das Material seiner Muttersprache gebraucht, um seine eigenen seelischen Zustände in einem bestimmten Augenblick auszudrücken. Einen Versuch, die Auffassung B A L L Y S mit der S P I T Z E E S zu vereinigen, wobei jedoch die B A L L Y S bevorzugt wird, weil der eigentlichen Linguistik näherstehend, H A T I O E G U I O E D A Î T in Stilistica limbii romine, Bucuresti 1944, unternommen. E s ist klar, daß der Gesichtspunkt B A L L Y S das Untersuchungsfeld der Stilistik einengt, weil er von Anfang an zahlreiche Tatsachen eliminiert, deren Studium ohne Zweifel zur Stilistik gehört. Stilforscher wie B A L L Y betrachten nur einen Teil des sprachlichen Materials, das zum Forschungsbereich der Stilistik zu rechnen ist. 2 Eine zuverlässige Orientierung in dieser Hinsicht finden wir in den Arbeiten der sowjetischen Sprachwissenschaftler, die eine sehr weitreichende Auffassung über den „Stil" haben. Sie unterscheiden Sprachstile und Individualstile. Die erstgenannten gehören zur Sprache des gesamten Volkes und werden bestimmt von 1

2

Andererseits gibt sich B A L L Y gewöhnlich damit zufrieden, die F a k t e n mit Hilfe der vorher festgelegten Formeln zu erklären (dem Affekt), ohne für jeden einzelnen Fall das Wesen des affektiven Elements zu verfolgen und ohne, wie S P I T Z E R , zu versuchen, den sprachlichen Akt in dem Augenblick, da ein gegebener Ausdruck entstanden ist, nachzuschaffen. In einem Mécanisme de l'expressivité linguistique betitelten Abschnitt in L e langage et, la vie (2. Auflage, S. 141 ff.) werden von B A L L Y die Verfahren dargelegt, die von den Sprechern benutzt werden, um affektive seelische Zustände auszudrücken, oder, mit anderen Worten, es werden die Beziehungen zwischen Denken und Sprechen vom Gesichtspunkt des Affekts aus untersucht. M. C B E S S O T (Le style et ses techniques, Paris 1956 [ 3 . Auflage]) wendet sich gegen den Ausschluß des literarischen Ausdrucks aus dem Bereich der Stilistik. E r hält B A L L Y entgegen: „Pour nous, l'œuvre littéraire n'est pas autre chose qu'une communication, et toute l'esthétique qu'y fait rentrer l'écrivain n'est en définitive qu'un moyen de gagner plus sûrement l'adhésion du lecteur. Ce souci y est peut- être plus systématique que dans la communication courante, mais il n'est pas d'une autre nature." (S. 3 ) Auch J . M A R O U Z E A T J (Précis de stylistique française, Paris 1946 [2. Auflage]) bezieht die literarische Sprache in das Gebiet der Stilistik ein, doch ebenfalls mit typisch BALLYscher Fragestellung. So meint er: „A des monographies d'auteurs il faut préférer des monographies de procédés, étudier par exemple, soit d'une façon générale, soit au moins dans une littérature, dans une époque, dans une école, tel aspect du style: rôle du concret ou de l'abstrait, recherche de l'intensité ou de l'atténuation, emploi de la notation directe ou de l'expression détournée, artifices de construction et procédés d'ordre dos mots, rythme et mouvement de la phrase, . . . " (S. 16.) Vgl. ferner von J . M A B O Ü Z E A D Notre langue. Enquêtes et récréations philologiques, Paris 1955, K a p . I X „Stylistique" (S. 187 ff.).

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der Natur des Inhalts der sprachlichen Mitteilung. Es gibt einen wissenschaftlichen Stil, einen Zeitungsstil, einen Stil der Unterhaltung usw. Die Unterschiede zwischen ihnen sind in erster Linie lexikalischer Art: Die Begriffe, mit denen ein Wissenschaftler operiert, unterscheiden sich in großem Maße von denen eines Publizisten oder eines gewöhnlichen Sprechers, was logischerweise zum Gebrauch eines Wortschatzes führt, der mehr oder weniger von dem des publizistischen oder des familiären Stils verschieden ist. Es versteht sich, daß auch andere Unterschiede, in erster Linie syntaktische, besser gesagt phraseologische, vorliegen, d. h. nicht Unterschiede in der grammatischen Konstruktion, sondern in der Verbindung von Wörtern zu Syntagmen auf der Grundlage des Inhalts. Was den Stil der belletristischen Werke betrifft, so leugnen einige sowjetische Sprachwissenschaftler dessen Existenz, indem sie von der realen Feststellung ausgehen, daß in einem literarischen Werk alle oder fast alle Stile erscheinen oder erscheinen können in Anbetracht seines meist reichen und verschiedenartigen Inhalts (denken wir z. B. an einen Roman). Der Individualstil ist streng persönlicher Natur, das Erzeugnis des Temperaments und der Ausbildung eines jeden Sprechers, gleichgültig, was dieser mitteilt, in dem Sinne beispielsweise, daß von zwei Wissenschaftlern, die dasselbe Problem behandeln, jeder eine eigene Ausdrucksweise besitzt. Die wissenschaftliche Erforschung der Sprachstile und des Individualstiis gehört zum Kompetenzbereich des Sprachwissenschaftlers. Im Fall der schöngeistigen Werke kann, ja, muß auch der Literaturkritiker dazukommen. Jeder geht von verschiedenen Gesichtspunkten aus an das Werk heran und gelangt wiederum zu verschiedenen Ergebnissen. Eine Annäherung zwischen der stilistischen Forschung auf sprachwissenschaftlichen Grundlagen und derjenigen auf ästhetischen Grundlagen versucht in Rumänien T U D O B VIANTJ (s. Problemele metaforei si alte studii de stilisticä, Bucuresti 1957, S. 121—150, den Aufsatz Stilisticä literarä lingvisticä). Außerordentlich interessant und lehrreich ist die in VI geführte Diskussion, die mit dem zweiten Band (1953) beginnt und mit dem vierten Band (1955) schließt und auf der meine hier dargelegten Beobachtungen und Einschätzungen teilweise beruhen. Es soll nun noch die Sprachauffassung B A L L Y S analysiert werden, damit wir verstehen, wie er dazu gelangte, die Stilistik in dem oben aufgezeigten Sinne zu entwickeln. Als getreuer Schüler SAUSSFB.ES widmet er alle Aufmerksamkeit den gegenwärtigen Sprachgegebenheiten. Er erforscht sie, ohne sich jemals zu fragen, aus welcher vorangehenden Phase sie kommen. Nach seiner Ansicht behindert die historische Methode mehr als sie zum Verständnis der Sprache beiträgt u. a. dadurch, weil wir uns mit ihrer Hilfe keine Klarheit über die Beziehung zwischen Denken und Sprechen verschaffen können. Dagegen ist diese Beziehung leichtfaßbar, wenn wir den gegenwärtigen Aspekt der Sprache betrachten: Der Synchronismus, d. h. die enge Verbindung zwischen den Wörtern, führt uns wie ein sehr zuverlässiger Führer auf dem Weg, den wir zu durchschreiten haben, weil es hierzu genügt, daß wir unseren eigenen geistigen Vorgang im Moment des Sprechens verfolgen. Dem Sprachwissenschaftler muß als Gegenstand seiner Forschungen nicht die literarische Sprache, sondern die familiäre oder Umgangs-

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K a p i t e l IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

spräche, d. h. die gesprochene Sprache dienen, und zwar deshalb, weil nur diese u n b e w u ß t 1 u n d kollektiv ist, gerade wie der Geist, der sie schafft. J e freier und spontaner wir sprechen, desto weniger denken wir an die Art, wie wir sprechen, u m so leichter werden wir von anderen verstanden. Auch dies ist der Zweck der menschlichen Rede. Aber der Sprecher befindet sich in dieser Beziehung nicht in derselben Lage wie derjenige, der zuhört. Unser Gesprächspartner ist bewußt. 2 Er verfolgt mit großer Aufmerksamkeit nicht nur das, was wir sprechen, sondern auch wie wir sprechen. Er beobachtet, ob wir m i t den Regeln der Sprache übereinstimmen. Werden Neuerungen hervorgebracht, n i m m t er sie an oder weist sie zurück. Der Zuhörer stellt sich auf den Standpunkt der „Sprache" und kann daher als ein Vertreter des sprachlichen S y s t e m s betrachtet werden, mit dessen Hilfe er das „Sprechen" interpretiert. Die Neuerungen, die dem S y s t e m entsprechen, breiten sich aus und werden als „Entlehnungen" bezeichnet. Wie m a n sieht, gibt B A L L Y diesem Ausdruck eine viel umfassendere Bedeutung als die Junggrammatiker, infolgedessen erkennt er ihm auch eine größere Bedeutung zu. Ebenso betont B A L L Y , daß diese Entlehnungen nur Erwachsene durchführen können, da sie die einzigen sind, die beurteilen können, ob diese mit dem sprachlichen System übereinstimmen. 1

2

I n d e m Sinne, d a ß nicht der Wille des Sprechers dazwischentritt, so wie es bei den Schriftstellern u n d R e d n e r n der Fall ist. Sonst k a n n die menschliche R e d e , wie jedes geistige P r o d u k t , n u r b e w u ß t sein. „ B e w u ß t " , „ B e w u ß t s e i n " u n d andere bedeutungsähnliche W ö r t e r k o m m e n häufig bei B A L L Y vor u n d scheinen seinen Feststellungen über die gesprochene Sprache zu widersprechen, die gerade durch ihren s p o n t a n e n u n d natürlichen Charakter sich grundlegend v o n der Schriftsprache unterscheidet, die doch im Hinblick auf einige b e s t i m m t e künstlerische Wirkungen geformt ist. Der Widerspruch indessen ist nicht vorhanden. Der Sprecher ist n u r in dem Sinne u n b e w u ß t , d a ß er nicht (absichtlich!) die Ausdrücke mit affektivem Gehalt auswählt. Sie k o m m e n ihm in natürlicher Weise v o n den Lippen, weil die starke E m o t i o n , von der er beherrscht wird, sie i h m ohne Anstrengung zur Verfügung stellt. W e n n sich aber der einfachste Sprecher einigen sprachlichen Neuerungen gegenüber befindet, „reflektiert" a u c h er darüber, greift sein Wille ein, ob er sie je n a c h den U m s t ä n d e n a n n i m m t oder nicht. Dies beweist B A L L Y , indem er sich auf die Arbeiten G I L L I Ä S O N S bezüglich der V o l k s m u n d a r t e n s t ü t z t . Wir erinnern uns, welche große Rolle das Bewußtsein bei den Erscheinungen spielt, die v o n der H o m o n y m i e , der Volksetymologie u. a. verursacht worden sind. Aber wir werden v o n dem Willen selbst im Moment des Sprechens beherrscht. Wie w ü r d e n sich anders die sprachlichen Neuerungen selbst erklären, die doch a u c h aus der Tendenz entspringen, den H ö r e r zu beeindrucken? Das Maß, in d e m das Bewußtsein auf die gesprochene Sprache Einfluß n i m m t , variiert sehr von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen u n d s t e h t im direkten Verhältnis zur Bildung. I n Le langage et la vie (2. Auflage) wird diesem Problem ein gesamtes Kapitel gewidmet u n t e r dem Titel Langage transmis e t langage acquis (S. 185ff.). E s h a n d e l t sich u m die „ e r e r b t e " oder traditionelle R e d e u n d u m die durch eigene E r f a h r u n g erlangte Rede. Letztere besteht aus „ E n t l e h n u n g e n " u n d k a n n deshalb als ein „ b e w u ß t e s " oder „gewolltes" P r o d u k t angesehen werden. Bei dieser Gelegenheit protestiert B A L L Y gegen die Auffassung der J u n g g r a m m a t i k e r , die in der Sprache ein „natürliches", d. h. völlig unbewußtes P h ä n o m e n sehen.

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Weil die Sprache als Verständigungsmittel zwischen den Menschen dient, übt auch auf sie das gesellschaftliche Milieu einen sehr großen Einfluß aus. Von den Lebensbedingungen in der Gesellschaft ist vor allem das affektive Element in der menschlichen Seele stark fühlbar. Wenn wir sprechen, werden wir im allgemeinen von dem Affekt beherrscht, der auf eine bestimmte Art das färbt, was wir sagen. Gerade wie MBETNGEB und SPEBBEB (S. Kap. I, S . 96ff.) trennt BALLY sehr streng die verstandesmäßige Rede von der affektiven und hält diese für so wichtig, daß er, wie ich gezeigt habe, aus ihr den Forschungsgegenstand einer neuen sprachwissenschaftlichen Disziplin macht: die Stilistik. 1 Wenn wir die Sprache unter diesem Blickpunkt erforschen, müssen wir nicht nur gegen die historische Betrachtungsweise kämpfen, die von uns verlangt, die gegenwärtigen Sprachzustände mit den vergangenen zu vergleichen, sondern auch gegen die Tendenz, die Wörter nach ihrer wirklichen oder angenommenen Verwandtschaft unter sich zu gruppieren. Diese Tendenz bezeichnet BALLY als etymologischen Instinkt 2 , gerade weil sie in uns stark verankert ist: Sowohl die historische Betrachtungsweise als auch die Tendenz zur Etymologisierung sind mit dem Studium des statischen oder synchronischen Faktors in der Sprache unvereinbar. Die soziologische Sprachauffassung erscheint auch in einer anderen Feststellung Wir sahen, daß MEILLET einen allgemeinen europäischen Geisteszustand feststellt, den er „das Gefühl einer Zivilisationseinheit" nennt und der veranlasse, daß die Sprachen unseres Kontinents trotz der zahlreichen historischen Unterschiede, die es zwischen ihnen gibt, sich mehr einander angleichen. Etwas Ähnliches vertritt auch BALLY. Die so engen kulturellen Beziehungen würden bei den Völkern Europas einen irgendwie gemeinsamen Charakter schaffen, der sich in der Sprache durch eine Art europäische Stilistik äußere: Die vom Gesichtspunkt ihrer Herkunft entferntesten Sprachen bieten überraschende stilistische Übereinstimmungen, die nur als Wirkung einiger mehr oder weniger gleichen sozialen Lebensbedingungen erklärt werden könnten. Die Feststellung erscheint mir sehr richtig, und es wäre interessant, eine sprachwissenschaftliche Enquete in diesem Sinne zu unternehmen, um ein so reiches und verschiedenartiges Material BALLYS.

1

Auch der Unterschied, den dieser Linguist zwischen „Sprache" und „Sprechen" trifft, gründet sich auf diese Unterscheidung. So sagt er in einem Aufsatz in der GRM VI (1914), S. 459ff., daß die „Sprache" die rein verstandesmäßige Rede sei, in die das affektive Element unserer Seele nicht einwirke, oder mit anderen Worten: die logische, unpersönliche, allgemein gültige, organisierte und normale Sprache. Das „Sprechen" aber sei die Sprache der Phantasie, des Gefühls und des Willens, die von Subjektivität getränkte und von der Persönlichkeit desjenigen gefärbte Sprache, der sie spricht. Der Verfasser fügt dann hinzu, daß es die „Sprache", ausschließlich aufgefaßt als Ausdruck des Verstandes, nicht gibt: Es ist unmöglich, daß das Gefühl überhaupt nicht das beeinflußt, was wir sagen. Eine lebendige Sprache enthält immer etwas von den affektiven seelischen Zuständen des Sprechers, weü die Sprache vor allem für das Leben geschaffen ist, nicht für das spekulative Denken. ' Er ist die Ursache der Volksetymologie, die, wie die Sprachgeographie bewiesen hat, eine wichtige Rolle im Sprachleben spielt. Auch GILLIBBON spricht von dieser Tendenz, nur daß er sie anders nennt.

25 Iordan, Bom. Sprachwissenschaft

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wie nur möglich zu sammeln, auf dessen Grundlage dann Studien einer allgemein europäischen Stilistik verfaßt werden könnten. Was die Laute betrifft, so hat BALLY wiederum eine Einstellung, die völlige Billigung verdient, da sie mit den gegenwärtigen Tendenzen in unserem Fach konform geht. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden die meisten lautlichen Untersuchungen fast ausschließlich auf das akustisch-physiologische Element der Laute beschränkt und das geistige (oder funktionelle) dabei vernachlässigt. Da die Sprache ein Produkt des menschlichen Geistes ist, folgt daraus, daß auch die sogenannten Lautgesetze 1 geistigen Ursprung haben. Die Werke, deren Inhalt ich auf den vorangehenden Seiten dargelegt habe, sind von zahlreichen Fachleuten diskutiert und eingeschätzt worden, bald mit Zurückhaltung, bald günstig oder sehr günstig, je nachdem, ob sich die Sprachauffassung der Rezensenten von der BALLTS unterschied oder sich ihr näherte. M. GRAMMONT trifft in RLR LIV ( 1 9 1 1 ) , wo er auf Seite 1 0 3 ff. Précis de stylistique analysiert, folgende lobende Feststellung: „M. Bally ouvre une voie nouvelle." (S. 104.) Ebenso sagt H. SPERBER, der sich auch mit der affektiven Redeweise beschäftigt hat, in seiner Arbeit Über den Affekt als Ursache der Sprachveränderung, Halle a. d. S. 1914, S. III, daß Le langage et la vie die erste sprachwissenschaftliche Arbeit sei, in der dem Affekt die ihm zustehende Bedeutung gewährt werde. JABERG, der in seinem Aufsatz Sprache und Leben in RLiR II (1926), S. 3 ff., über die zweite Auflage dieses Werkes spricht, bedauert, daß die Sprachwissenschaftler es nicht so beachtet haben, wie dies es verdient. Er wünschte, daß dieses „schöne und sehr wichtige Buch" möglichst bald neu aufgelegt werden möge.2 Von den Rezensenten, die mehr oder weniger ernsthafte Einwände gegen die sprachwissenschaftlichen Ideen B ATJ,YS vorbringen, muß in erster Linie A. MEILLET erwähnt werden, weil er zu derselben Schule gehört. In BSL XVIII (1912—13), S. CLXXIXff., bespricht er Le langage et la vie (1. Auflage), wobei er u. a. die Ansicht vertritt, daß die Sprache wie alle Erscheinungen der Natur und Gesell1

2

Den Lautwandel faßt B A L L Y wie G I L L I É R O N als eine zerstörende Wirkung auf und stellt ihn der Analogie gegenüber: ,,. . . action inconsciente et commune des sujets parlants, action qui tantôt conserve ce qui est en train de disparaître, tantôt recrée ce qui est déjà disparu." (Le langage et la vie, S. 40.) Somit liegt ein Parallelismus vor, der dem der Junggrammatiker ähnelt (der Lautwandel einerseits, die Analogie andererseits). Aber durch die große schöpferische Rolle, die er der Analogie zuschreibt, entfernt er sich sehr von den Junggrammatikern. Die Analogie arbeitet nach B A L L Y S Meinung mit soviel Macht, daß er von einem analogischen Instinkt spricht, der, so sagt er in Traité de stylistique française I, 2. Auflage, S. 38, nicht nur dem etymologischen ähnlich ist, denn beide entspringen demselben geistigen Zustand, sondern in Wirklichkeit dessen Übertreibung darstellt: Der eine bewirkt neue Bedeutungen, weil er etymologische Beziehungen zwischen sehr verschiedenen Wörtern errichtet, der andere schafft neue Formen. J A B E R G erwähnt (loc. cit., S. 3) kurz auch F. D E S A U S S U R E , den Lehrer B A X L Y S , in dem er, wenn auch mit einigen Vorbehalten, wie so viele andere Gelehrte einen Junggrammatiker sieht. Ihm scheint, daß besonders der diachronische Teil im Cours de linguistique générale noch unter dem starken Einfluß der junggrammatischen Schule steht.

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Schaft nur analytisch studiert werden könne und in Verbindung mit den Bedingungen der Zivilisation, der sie sich ständig anzupassen strebt. Über die Bedeutung, die von B A L L Y dem affektiven Element zuerkannt wird, schreibt M E I L L E T folgendes: „Tout en retenant l'idée fondamentale de M. Bally, on se demandera donc si l'ardeur de son prosélytisme ne l'a pas conduit à exagérer." (S. CLXXXII.) Derselbe Gelehrte lobt indessen in BSL XVI (1909/10), S. CXVIIIff., den Traité de stylistique française, den er höher einschätzt als die Arbeit Précis de stylistique. M E I L L E T zeigt sich hier darüber befriedigt, daß B A L L Y diesmal auch den soziologischen Aspekt des Problems beachtet hat. 1 Von den anderen Arbeiten dieses Gelehrten werde ich einige erwähnen, die mir vom theoretischen Standpunkt aus interessant erscheinen. In Mélanges d'histoire littéraire et de philologie offerts à M. Bernard Bouvier, Genève 1920, veröffentlichte B A L L Y eine Studie Impressionisme et grammaire, die einerseits von A. M E I L L E T in BSL X X I I (1920/21), S. 172ff., bekämpft wurde, andererseits aber E L I S E R I C H T E R Gelegenheit gab, unter dem Titel Impressionismus, Expressionismus und Grammatik in ZRPh XLVII, S. 349ff., ähnliche Fragen zu behandeln. Davon sind einige eng mit literarischen Problemen verbunden. E L I S E R I C H T E R untersucht eine Reihe von Ausdrücken, die aus der Alltagssprache wie auch aus der dichterischen Sprache genommen sind, indem sie diese wie folgt gruppiert: a) i m p r e s s i o n i s t i s c h e Ausdrücke: sie zeigen die Eindrücke, die uns von den äußeren 1

Andere Rezensionen über die Werke des Genfer Linguisten haben veröffentlicht : E . L E R C H in L g r P X X X I I I ( 1 9 1 2 ) , col. 2 8 3 F F . ; M. M O R G E N B O T H in Z F S L X L I I ( 1 9 1 4 ) , 2 . Teil, S. 1 ff.; J . R O N J A T in R L R L V I I ( 1 9 1 4 ) , S. 1 5 8 F F . ; K . V O S S L E R in GRM V I I ( 1 9 1 5 ) , S. 8 5 f f . (unter dem Titel D a s Leben u n d die Sprache; dieser Aufsatz ist auch in den Sammelband Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie, München 1 9 2 3 , S. 9 7 F F . , aufgenommen worden); E . L E R C H in L g r P X X X V I ( 1 9 1 5 ) , col. 1 2 1 ff.; H . S C H U C H A R D T , ebenda X X X V I I I ( 1 9 1 7 ) , col. 6ff. (eigentlich ist diese Rezension, die mit col. 1 beginnt, F . D E S A U S S U R E S Cours de linguistique générale gewidmet, aber S C H U C H A R D T beschäftigt sich gelegentlich auch mit B A L L Y ) ; A . F R A N Z in Z F S L X L V I ( 1 9 2 3 ) , S. 4 5 3 ; L E O J O R D A N in ARo I X ( 1 9 2 5 ) , S. 338ff.; E . B O I S A C Q in R B P h H V ( 1 9 2 6 ) , S. 973ff. ; A. M E I L L E T in B S L X X V I I (1926-27), S. 14ff.; O . D E N S U S I A N U in GS I I I ( 1 9 2 7 - 2 8 ) , S. 276ff.; W. P O R Z I G in I F X L V I (1928), S. 3 2 6 ff.; H . W E N G L E R in N S X X X V I ( 1 9 2 8 ) , S. 161ff. (unter dem Titel Ch. Bally s „Stylistique"); O . B L O C H in R C H L L X V I I ( 1 9 3 3 ) , S. 1 7 8 - 1 7 9 ; A. D A U Z A T in FM I ( 1 9 3 3 ) , S. 160ff.; A. M E I L L E T in B S L X X X I V ( 1 9 3 3 ) , S. 8 4 f f . ; A. Z A U N E R in ZFSL L V I I ( 1 9 3 3 ) , S. 4 8 7 F F . ; E . G A M I L L S C H E G in DLZ LV ( 1 9 3 4 ) , col. 253ff.; I O R G T J I O R D A N in B P h I ( 1 9 3 4 ) , S . 206ff.; L E O J O R D A N in L g r P L V I (1935), col. 31ff.; L E O S P I T Z E R in I F L U I (1935). S . 207ff.; W . v. W A R T B U R G in Z R P h LV (1935), S. 252ff.; A. D A U Z A T in FM I V (1936), S. 8 8 - 8 9 ; K . J A B E R G in I F L I V (1936), S. 149-150; O . D E N S U S I A N U in GS V I I (1937), S. 317ff.; E . G A M I L L S C H E G in ZFSL, Suppl. X V (1937), S. 174ff.; M. R E G U L A in L g r P L V I I I (1937), S. 647-48; H . F R E I in VRo I X (1944), S. 156ff.; E . B U Y S S E N S in Erasmus I (1947), S. 247ff.; G . G O U G E N H E I M in BSL X L I I I (1947), S. 72-73. Die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit B A L L Y S erörtert u n d schätzt ein A. S E C H E H A Y E in L'école genevoise de linguistique générale, I F X L I V (1926), S. 255ff. Vgl. auch die Charakterisierung, die S P I T Z E R gibt in Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft I I , S. 339ff. (in diesem Band werden drei Studien B A L L Y S wiedergegeben).

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Gegenständen vermittelt werden, b) e x p r e s s i o n i s t i s c h e Ausdrücke: sie geben die Vorstellungen oder Empfindungen wieder, die die äußeren Eindrücke in uns erregen, c) i m p r e s s i o n i s t i s c h - e x p r e s s i o n i s t i s c h e Ausdrücke: in ihnen vermischen sich, wie es häufig vorkommt, beide Gesichtspunkte. All diese sprachlichen Tatsachen bilden den Stil, der individuell und subjektiv ist und daher der Grammatik entgegensteht, die allen Menschen gehört, da sie kollektiv und objektiv ist. Dennoch kann der Stil nicht ohne Grammatik bestehen, wie diese ihrerseits dem Stil verpflichtet ist: Der Stil setzt sich aus Elementen zusammen, die ihm die Grammatik liefert, und gleichzeitig kann er allmählich Grammatik werden, nämlich dann, wenn er seine Expressivität verliert. Es verdienen hier u. a. erwähnt zu werden die Studien Les notions grammaticales d'absolu et de relatif in: Psychologie de langage, Paris 1933, S. 341 if., die, wie der Titel zeigt, ein wichtiges Problem der allgemeinen Sprachwissenschaft behandelt, und Synchronie et diaahronie in: VRo I I (1937), S. 345ff., wo der Autor mit W. v. WARTBURG polemisiert (es handelt sich um den Aufsatz W A R T BURGS, der bereits weiter oben zitiert worden ist [S. 327, Fußnote 3]). Die Unterscheidung, die B A L L Y in dieser Studie zwischen Diachronie und Synchronie vornimmt (S. 348), ist interessant und teilweise richtig: ,,. . . la linguistique des évolutions est l'affaire du linguiste à l'exclusion du sujet parlant ; l'étude synchronique celle du sujet parlant à l'exclusion du linguiste." Ein charakteristisches Merkmal der wissenschaftlichen Tätigkeit BALLYS bilden seine didaktischen Beschäftigungen. Überall sehen wir, daß er sich auf seine Erfahrungen als Lehrer beruft und die wissenschaftlichen Theorien den praktischen Bedürfnissen des Unterrichts anpaßt. Diese Feststellung ist vor allem hinsichtlich seines Traité de stylistique française berechtigt, der im 2. Band nur Übungsstücke enthält, die für Studenten, Oberschüler und deren Lehrer gedacht sind. H . SCHUCHARDT wirft ihm in LgrP X X X V I I I (1917), col. 6 - 7 , vor, daß er dadurch verschiedenes vermische. K. J A B E R G meint jedoch in RLiR I I (1926), S. 5, wenn die Forschungen BALLYS nicht immer so aufgenommen worden sind, wie sie es verdienen, so müsse die Ursache hierfür auch in ihrem didaktischen Charakter gesucht werden. Es ist offensichtlich, daß für den Unterricht die Anwendung der Prinzipien dieses Linguisten auf das Studium der französischen Sprache und mit entsprechenden Veränderungen auf das jeder modernen Sprache von großem Wert wäre, denn sie würden zur Entwicklung des Sprachgefühls und Sprachverständnisses beitragen. In diesem Zusammenhang muß auch das Buch erwähnt werden La crise du français. Notre langue maternelle à l'école, Paris 1930 (2. Auflage) 1 , in dem er dafür eintritt, daß die starren Normen einer klassischen Sprache im Sprachunterricht gesprengt werden müssen, da die Sprache eng mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist. Didaktische Anliegen fehlen auch nicht völlig in der wertvollsten Arbeit BALLYS : Linguistique générale et linguistique française, die von zahlreichen Rezensenten 1

R e z e n s i e r t u . a . v o n H . F R E I i n A S N S C L X ( 1 9 3 1 ) , S . 270FF.; u n d LEO SPITZER

in I F X L I X (1931), S. 165ff.

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außerordentlich günstig aufgenommen wurde und die sowjetische Linguisten für wertvoll genug befunden haben, ins Russische übersetzt zu werden. Dieses Buch enthält im Grunde eine Charakterisierung des modernen Französisch auf der Grundlage der sprachwissenschaftlichen Prinzipien SATTSSURES, die der Verfasser mit persönlichen Blickpunkten und Interpretationen darbietet, ehe er zur eigentlichen Beschreibung der Fakten übergeht. Nach W. v. W A B T B U R G (ZRPh LV [1935], S. 252ff.) ist es das bedeutendste sprachwissenschaftliche Werk im Sinne S A U S S U R E S , und sein Schlußteil (ungefähr 50 Seiten) stellt die beste Parallele dar, die jemals zwischen der französischen und der deutschen Sprache vom Gesichtspunkt der jeder Sprache eigenen Ausdrucksmittel getroffen worden ist. 1 Zum Schluß dieses Abschnittes will ich mich nur kurz mit zwei Werken von Schülern B A L L Y S beschäftigen. Das eine Buch heißt Le style indirect libre, Paris 1926. Es ist bereits im Verlauf unserer Erörterungen zitiert worden (s. Kap. II, S. 157) und hat M A R G U E R I T E L I P S zum Verfasser. Man vergleiche, was dort gesagt worden ist, und die Rezensionen von E L I S E R I C H T E R in ASNS CLIII (1928), S. 149ff. ; N. D R A G A N T I in Dacor V (1927/28), S. 714ff. 2 ; E. G A M I L L S C H E G in DLZ XLVIII (1927), col. 2391 ff.; A. W A X L E N S K Ö L D und G . W E Ö R E S in NM XXVIII, (1927), S. 239ff. bzw. 241 ff. Ein anderer Schüler B A L L Y S ist H E N R I F R E I , Professor an der Universität Genf, der u. a. geschrieben hat La grammaire des fautes. Introduction à la linguistique fonctionnelle. Assimilation et différenciation. Brièveté et invariabilité. Expressivité, Paris 1929.3 Rezensionen hierzu wurden u. a. verfaßt von J . B. H O F M A N N in DLZ L (1929), col. 2341ff.; A. M E I L L E T in Litteris VII (1930), S. 58ff.; und in BSL X X X (1930), S. 145ff.; E L I S E R I C H T E R in ASNSCLVII (1930), S. 303ff.; E . P E L K O N E N in NM (1933), S. 42ff. F R E I studiert systematisch die „Sprachfehler" der gegenwärtigen französischen Sprache, wobei er deren Ursachen aufzudecken sucht und zugleich die Verbindung dieser „Fehler" mit der Notwendigkeit des Sprechers, sich seinen seelischen Zuständen gemäßer auszudrücken. Es ist nicht das Ziel des Autors, uns ein Bild vom Umgangsfranzösisch unserer Tage zu geben, sondern die entsprechenden Erscheinungen vom Gesichtspunkt der allgemeinen Sprachwissenschaft aus zu klären. Etwas verdient dabei hervorgehoben zu werden, das viele 1

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Als B A L L Y seinen 75. Geburtstag feierte, wurde ihm der Band Mélanges de linguistique offerts à Charles B A L L Y , Genève 1939, gewidmet (er enthält auch die Bibliographie der hauptsächlichen Werke B A L L Y S , die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes erschienen waren). Vgl. auch H . F R E I , In memoriam Charles Bally in Lingua I (1947-48), S. 130ff. Der rumänische Rezensent gibt eine reiche Bibliographie zu der Frage, die die Information auf den vorangehenden Seiten ergänzt. Ebenso definiert er die zur Erörterung stehende Erscheinung, indem er sie mit entsprechenden Beispielen illustriert. „Linguistique fonctionnelle" ist bei F R E I gleichbedeutend mit „linguistique de la parole". Vgl. die Rezension von A. G R É G O I R E in R B P h H , Januar—Juni 1931 ; und den Aufsatz von E. L E R C H , Grammatische Fehler? in N S X X X I X (1931), S. 599ff. In vieler Hinsicht ist dieser Arbeit von F R E I folgendes Werk von I O R G U I O R D A N , dem Verfasser des vorliegenden Buches, ähnlich: Limba rominä actualä. O gramaticä a „greselilor", Iaçi 1943 (2. Auflage Bucureçti 1948).

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Linguisten, die zu stark in der Tradition des vergangenen Jahrhunderts verankert sind, nicht anerkennen werden, und zwar: Was wir heute als Fehler betrachten, kann morgen korrekte Form werden; die gegenwärtigen Fehler bereiten in einem gewissen Maße die zukünftige Sprache vor.

Albert Sechehaye (1870-1946) Zwischen der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit BALLYS und der von ALBERT der auch ein Schüler DE SATTSSURES und Universitätsprofessor in Genf war, besteht eine enge Verwandtschaft. Dabei handelt es sieh nicht um theoretische Ähnlichkeiten, die sich in gewisser Hinsicht von selbst verstehen und im allgemeinen allen Linguisten der französischen Schule gemein sind, sondern um viel Tiefgehenderes und Wesentlicheres. Wie wir sahen, widmete BALLY seine wissenschaftliche Tätigkeit vor allem der Untersuchung der Beziehungen zwischen Denken und Sprechen. Das gleiche kann in noch viel größerem Maße von SECHEHAYE gesagt werden. Das Denken ist zweifacher Art, nämlich verstandesmäßig und affektiv, je nachdem, ob bei unseren Aussagen der Verstand oder das Gefühl vorherrscht. BALLY richtete alle Aufmerksamkeit auf das affektive Element, das er in der gesprochenen Sprache als vorherrschend betrachtet.1 So schuf er die Stilistik, deren Prinzipien und Methoden eingehend auf den vorangehenden Seiten analysiert worden sind. SECHEHAYE dagegen interessierte sich in erster Linie für den intellektuellen Faktor des menschlichen Denkens, indem er dessen Verhältnis zum Sprechen verfolgt. Daher ist sein Spezialgebiet die Syntax. Er betrachtet besonders die Konstruktionen, die sowohl in der Form als auch in der Anwendung feststehend geworden sind, d. h. die grammatikalisierten Formen, bei denen nichts mehr an die einstige individuelle Herkunft und den ehemaligen subjektiven Wert erinnert. Aus diesem Grund erscheinen die Studien SECHEHAYES abstrakter und strenger als die BALLYS. Sicher wirkte dabei auch das Temperament eines jeden mit ein, genauer vielleicht die „Philosophie", die Auffassung über das Leben, die im Grunde die hauptsächlichste Quelle der Unterschiede zwischen diesen beiden Schülern SAUSSURES ist: Sie bestimmte den einen, die Stilistik zu bevorzugen, den anderen die Syntax. Eine natürliche Folge dieser Unterschiede ist auch das, was man den Psychologismus SECHEHAYES nennen könnte, nämlich den Gebrauch, zuweilen Mißbrauch der Psychologie, der uns in den Arbeiten dieses Linguisten auffällt. 2 SECHEHAYE,

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Es scheint, daß B A L L Y anfangs streng die verstandesmäßige Rede von der affektiven trennte, was ihm die Kritik von Rezensenten wie M E I L L E T zuzog. Als er in seinen späteren Jahren darauf zurückkommt, behauptet er, niemals das Vorhandensein einer r e i n a f f e k t i v e n menschlichen Rede vertreten zu haben, in die sich der Verstand überhaupt nicht einmische. In Essai sur la structure logique de la phrase sagt S E C H E H A Y E beiläufig, warum er genötigt ist, der Psychologie einen so bedeutenden Platz in seinen Arbeiten einzuräumen: „Incapable de s'adapter définitivement aux exigences de la vie

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Weil die Unterschiede zwischen BALLY und SECHEHAYE nach meiner Meinung eine große theoretische Bedeutung haben, werde ich mich etwas ausführlicher mit ihnen beschäftigen. In Essai sur la structure, logique de la phrase, Paris 19261, S. 211/12, versucht SECHEHAYE, nachdem er gesagt hat, daß er die syntaktischen

Konstruktionen und grammatischen Formen, die „die Bewegungen des Lebens ausdrücken", wie der Befehl, der Ausruf, die Frage u. a., unberücksichtigt läßt, seine Einstellung zu rechtfertigen. Die Gründe, auf die er sich beruft, bedeuten eine Einschränkung seines Tätigkeitsbereiches gegenüber dem BALLYS und verdienen daher, wörtlich wiedergegeben zu werden. „Mais notre programme était tout différent. Nous avons voulu mettre en lumière, s'il est permis de s'exprimer ainsi, l'ossature psychologique de la phrase considérée dans son expression grammaticale. Or, c'est la communication des idées, et non l'expression des sentiments, qui a fourni à la grammaire les éléments essentiels de ses constructions. Les bases de l'édifice syntagma tique ont été posées par l'intelligence qui pense, qui essaie de se faire comprendre et qui réagit par la logique devant les difficultés de l'entreprise. Elle crée ainsi la langue, dont la fin propre est, dans ce sens, l'expression de la pensée objective. Si, dans son contact permanent avec la parole et la vie, la langue, création de l'intelligence, est restée mêlée et comme toute pénétrée d'éléments affectifs, cela n'a pas influencé le développement général de ses institutions grammaticales, et c'est sur le canevas d'une grammaire faite pour exprimer une pensée logiquement déduite que l'on a brodé et surajouté sans système, un peu au hasard, les créations de la grammaire affective. Nous n'en voulons pour preuve que nos grammaires et le fait que, dans ces exposés systématiques, quel qu'en soit le plan, ce sont les données de la grammaire objective qui fornissent les têtes de chapitres et les principes de classement: distinction du sujet et du prédicat, distinction du substantif et du verbe, distinction de la proposition indépendante et de la subordonnée etc. Les chapitres qui traitent de la manière de poser une question, de donner un ordre, d'exprimer une émotion ne sont que des hors-d'œuvre; la grammaire affective se dissout dans multitude de faits particuliers, les uns assez larges, les autres très étroitement délimités, et qui tous empruntent la plupart de leurs éléments à la grammaire objective en leur faisant subir telle ou telle modification spécifique. Qu'on songe par exemple à nos constructions interrogatives en français ou aux ellipses de l'exclamation. Tous ces faits sont en eux-mêmes d'un haut intérêt, mais, dans le point de vue qui est le nôtre, ils s'effacent entièrement derrière ceux dont il a été parlé."

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qui évolue et se renouvelle sans cesse, elle reste toujours en conflit avec la psychologie spontanée de la parole et elle est toujours en voie de remaniement dans quelques unes ses parties." (S. 126.) „Sans confondre notre discipline avec la psychologie ou la logique, nous voyons par ces cadres et ces lois comment les principes de ces deux sciences s'appliquent dans un domaine spécial." (S. 217.) Andererseits ist der Verfasser von dem Augenblick an, da er die Beziehungen zwischen Denken und Ausdruck verfolgt, verpflichtet, ebenso ernsthaft auch den psychologischen (besser gesagt den logischen) Aspekt des Problems zu untersuchen. Eine neue Ausgabe, die wahrscheinlich unverändert ist, erschien ebenfalls in Paris im Jahre 1950.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Daß SECHEHAYE auch die Bedeutung der stilistischen Forschungen nach Gebühr schätzt, kann nicht nur aus dem Schlußteil des hier wiedergegebenen Zitats ersehen werden, sondern auch aus anderen Feststellungen, die er in diesem Buch gemacht hat. Ich gebe noch eine von ihnen wieder, die beweist, wie eng die Beziehungen in theoretischer Hinsicht zwischen den beiden Schweizer Linguisten sind, selbst wenn die von ihnen gepflegten Gebiete sie oftmals trennen: „A un certain point de vue tout ce qui dans la langue touche à la vie affective et aux mouvements de l'âme est d'un intérêt primordial et l'emporte sur tout le reste. S'il s'était agi de l'origine du langage ou des causes des évolutions linguistiques, si on avait voulu faire la psychologie de la parole et surprendre les secrets de l'expressivité et du style, ç'aurait été une grande erreur de négliger les divers modes du verbe et tout ce qui dans la grammaire est teinté de subjectivité." (op. cit., S. 211.) Andererseits hat sich SECHEHAYE sogar gelegentlich mit der Stilistik beschäftigt in den Aufsätzen La stylistique et la linguistique théorique (in: Mélanges linguistiques offerts à M. Ferdinand de Saussure, Paris 1908) und Les règles de la grammaire et la vie du langage (in: GRM VI [1914], S. 288ff. und S. 341 ff.). In dem ersten Aufsatz bestreitet er nach Angabe von L. H A V E T (BSL XVI [1909/10], S. 11) die Existenz der Stilistik als gesonderte sprachwissenschaftliche Disziplin. Der zweite Aufsatz ist u. a. dadurch wichtig, weil SECHEHAYE die Strenge der grammatischen Regeln, die gebieterisch aus dem sprachlichen System hervortreten, mit dem Spontaneitätsbedürfnis der Sprecher zu versöhnen sucht : Es gibt einen Bereich, wo sich die „Grammatik" im engeren Sinne des Wortes, das ist im verstandesmäßigen Sinne, mit der „Stilistik", dem Produkt des Affekts, berührt. Um diesen gemeinsamen Punkt zu kennen, müssen wir zuerst die logischen Elemente der Sprache klären, die mehr oder weniger festgelegt und für alle Glieder der Sprachgemeinschaft verbindlich sind, und dann zur Realität schreiten, nämlich zu dem, was von der individuellen Sensibilität abhängt. Mit anderen Worten: erst die Grammatik oder die „Sprache" und danach die Stilistik oder das „Sprechen". Dieses Vorgehen wird dem entgegengesetzt, das von VOSSL E E empfohlen worden ist (s. Kap. II, S. 108). SECHEHAYE gibt dennoch dem deutschen Linguisten recht, der historisch oder genetisch die Sprache studiert: Wenn man sich für den Ursprung einer grammatischen Form oder Konstruktion interessiert, folglich für die Entwicklung irgendeiner Sprache, kann man nur mit der Stilistik beginnen. Wenn man indessen das sprachliche System untersucht, d. h. die sprachlichen Gregebenheiten in einem bestimmten Augenblick, dann muß man die Grammatik bevorzugen. Darin besteht der Unterschied zwischen der diachronischen oder historischen und der synchronischen oder deskriptiven Sprachwissenschaft. Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich, daß die syntaktischen Forschungen 1 SECHEHAYES nicht historisch sind. Der Autor trieb gemäß den Empfehlungen 1

Dennoch hat er seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer sprachgeschichtlichen syntaktischen Studie begonnen: L'Imparfait du Subjonctif et ses Concurrents dans les hypothétiques normales en français (Dissertation, veröffentlicht in R F X I X [1905], S. 321 ff.).

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SAUSSUBES statische Sprachwissenschaft, nicht diachronische. Sein Material suchte er sich, wie es nicht anders möglich war, aus der „Sprache", nicht aus dem „Sprechen". Und da die gesprochene Sprache zu sehr dem Einfluß des Affekts ausgesetzt ist, untersuchte SECHEHAYE vorzugsweise die Schriftsprache, und zwar die gemeinsamen syntaktischen Erscheinungen (die Syntax ist, ja muß im allgemeinen dieselbe bei allen Schriftstellern sein). Eine weitere wichtige Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Linguisten besteht im didaktischen Charakter ihrer Werke. Auch SECHEHAYE studierte die französische Sprache, indem er sich oftmals auf den Sprachunterricht bezog. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die Syntax bereits seit langer Zeit einen Gegenstand im Unterricht der Universitäten und der höheren Schulen bildet, während die Stilistik im Sinne BALLYS eine Neuheit darstellt. Daher schien die Lage f ü r SECHEHAYE leichter zu sein, denn er brauchte nicht für die Einführung eines neuen Faches zu kämpfen. Doch gerade deshalb, weil er auf die Veränderung der Lehrmethoden auf einem auch vorher gepflegten Gebiet hinzielte, können die Schwierigkeiten seines Unternehmens tatsächlich viel größer gewesen sein, als wir es dem Anschein nach vermuten. Die Arbeiten SECHEHAYES sind ziemlich zahlreich. Außer den bereits zitierten nenne ich noch Programme et Méthodes de la linguistique théorique. Psychologie du langage, Paris-Leipzig-Genève 1908; La méthode constructive en syntaxe in: RLR L I X (1916/17), S. 44ff. ; Les problèmes de la langue à la lumière d'une théorie nouvelle in: R P h F E X L I I (1917), vol. LXXXIV, S. lff.; Les deux types de la phrase1 in: Mélanges d'histoire littéraire et de philologie offerts à M. Berr nard Bouvier, Genève 1920; Locutions et composés in: J P N P X V I I I (1921), S. 654ff.; L'école genevoise de linguistique générale in: I F XLIV (1927), S. 217ff.; Les mirages linguistiques in: J P N P X X V I I (1930), S. 337ff.; Essai de classement des espèces de phrases et quelques observations sur les trois cas de l'hypothèse en latin2 in: BSL X X X V (1934), S. 58if.; Evolution organique et évolution contingentielle in: Mélanges Bally, Genève 1939, S. 19ff.; Les trois linguistiques saussuriennes in: VRo V (1940), S. lff. 3 Eine Zusammenfassung der Ideen, die in diesen Aufsätzen vorgebracht werden, halte ich nicht für notwendig. Wir finden in ihnen zahlreiche theoretische Erörterungen, in denen er seine Einstellung gegenüber den sprachlichen Problemen rechtfertigt. Dabei greift der Autor auf die Lehre zurück, die, wie ich bereits 1

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Diese zwei Typen sind: a) d e r e i n f a c h e S a t z , der einen isolierten Gedanken ausdrückt, z. B. admirable, vains efforts u. a. Mit solchen Sätzen fangen die Kinder an zu sprechen, und wahrscheinlich werden einst auch die Menschen so begonnen haben; b) d a s S a t z - D e n k e n , was wir gewöhnlich Satz nennen: le soleil brûle, cet homme est bon usw. In BSL X X I (1920/21), S. 172, sagt A. MEILLET, daß diese Studie von SECHEHAYE grundlegend für die Theorie des Satzes sei. Der erste und umfangreichste Teil dieser Studie enthält eine theoretische Diskussion, die für jede Sprache gültig ist und daher allgemeine Bedeutung besitzt. Diese für die Kenntnis der Lehre des Genfer Linguisten sehr wichtige Studie erhielt ebenso kritische wie bedeutende Rezensionen (vgl. J. LOHMANN in DLZ L X I I I [1942], col. 812ff. ; und K. ROGGEB in ZRPh L X I I [1942], S. 98ff.).

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gezeigt habe, sich nicht wesentlich von der der anderen Vertreter der französischen sprachwissenschaftlichen Schule unterscheidet. 1 Da ferner SECHEHAYE gerade die Syntax studiert, ein Gebiet, auf dem seit geraumer Zeit in theoretischer Beziehung sehr viel veröffentlicht wurde, sagt er in seinen Abhandlungen nichts wesentlich Neues, was er selbst mit folgenden Worten zugibt: „Rien de tout cela n'est bien nouveau. Sans y avoir mis aucun parti pris, nous nous trouvons même être très conservateur. Mais nous avons essayé de sonder les bases de principes déjà reconnus et de leur donner une systématisation solide." (Essai sur la structure logique de la phrase, S. 216.) Neues bringt er nur in Einzelfragen und im Hinblick auf die Terminologie. Einiges davon soll kurz erwähnt werden : Programme et Méthodes ... enthält u. a. eine lange und interessante Erörterung des Werkes Völkerpsychologie I . Band : Die Sprache von W . WTJNDT. SECHEHAYE meint, daß W U N D T , , . . . a été plus préoccupé de faire de la psychologie à propos du langage que la psychologie du langage à proprement parler". (S. 43.) Die Psychologie und die Sprachwissenschaft müssen zugleich betrachtet werden, d. h. sowohl die Seele des Sprechers als auch die Gesetze, denen er beim Sprechen unterliegt. Die eigentliche menschliche Rede setzt sich aus grammatischen Elementen zusammen, deren Kenntnis zur kollektiven Psychologie gehört, und aus nichtgrammatischen Elementen, die zur individuellen Psychologie zu rechnen sind. Aber wie die kollektive Psychologie nicht von der individuellen, so kann auch das Studium der grammatischen Elemente nicht von dem der nichtgrammatischen getrennt werden. Unter diesen haben wir die Gestensprache (im weiten Sinne des Wortes), die SECHEHAYE vorgrammatisch 2 nennt. Die Grammatik ist „. . . comme une déformation particulière du langage prégrammatical". (S. 71.) Jede grammatische Erscheinung hat individuellen Ursprung, d. h., sie bildete sich aus einem 1

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Was die Ähnlichkeiten mit B A L L Y betrifft, so kann ich zu dem weiter oben Gesagten hinzufügen, daß in den Actes du I-er Congrès de linguistes (La Haye 1928) die Antwort auf die Frage „Quelles sont les méthodes les mieux appropriées à un exposé complet et pratique de la grammaire d'une langue quelconque?" (S. 36ff.) von B A L L Y und S E C H E H A Y E gemeinsam gegeben worden ist. Worin die Unterschiede gegenüber F. D E S A U S S U R E bestanden hätten, sagt er uns selbst: „Une différence essentielle entre la doctrine saussurienne et la nôtre, c'est que le Cours de Linguistique générale ne tire de ses distinctions aucun principe de classement rigoureux et met plutôt en evidence les relations de réciprocité qui s'établissent entre les divers aspects du fait linguistique. Ainsi pour Ferdinand de Saussure la langue existe pour la parole, mais elle naît aussi de la parole; elle en émane et elle la rend possible, et rien ne nous force à mettre l'uile devant l'autre ou au dessus de l'autre. C'est un complexe que seule l'abstraction analyse. Pour nous, au contraire, dans cette abstraction même nous apercevons un principe de subordination et de classement et nous mettons la parole, sous sa forme prégrammaticale, avant la langue." (Essai sur la structure logique de la phrase, S. 219.) In Essai sur la structure de la phrase, S . 219ff., kommt S E C H E H A Y E auf diese Frage zurück, wobei er den freien und spontanen Ausdruck, der jedem (sprachlichen) konventionellen Bau vorangeht", als das „Vorgrammatische" betrachtet. Er zeigt wie die sprachwissenschaftlichen Disziplinen klassifiziert werden sollen (indem nämlich vom Vorgrammatischen und Grammatischen ausgegangen wird, um zur organisierten Rede und dann zur Sprachentwicklung zu gelangen).

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vor- oder nichtgrammatischen Akt, der sich mit der Zeit in Grammatik verwandelte, so wie die träge Materie, von einem lebendigen Wesen verbraucht, selbst Leben wird. In der vorgrammatischen menschlichen Rede schafft das Individuum die Zeichen, mit denen es seelische Zustände ausdrücken will ; in der grammatischen reproduziert es Zeichen, die bei anderen beobachtet wurden oder in seinem gewöhnlichen Sprachmaterial vorhanden sind. Aber in diesem Fall haben wir es nicht mehr mit eigentlichen Zeichen zu tun, sondern mit Symbolen 1 ; der Verstand hat eine feststehende Beziehung zwischen Zeichen und Idee festgelegt. Daher bildet die oberste Regel jeder Grammatik die Logik. Bei den grammatischen Beziehungen gibt es nichts Konventionelles (wie bei den Wörtern, wo die Verbindung zwischen dem Begriff und seinem Namen beliebig ist). Wenn wir sprechen, müssen wir den Aufbau des grammatischen Systems respektieren, den wir wie alle anderen im Kopfe haben. 2 Wichtig vom methodologischen Gesichtspunkt aus ist der Aufsatz La méthode constructive en syntaxe3, in dem SECHEHAYE die beiden syntaktischen Forschungsarten zu versöhnen sucht, die offenbar konträr zueinander stehen: die eine geht von der Form aus, um zur Bedeutung zu gelangen, die andere schlägt den umgekehrten Weg ein. 4 ,,Le problème e s t . . . le suivant: comment peut-on étudier une langue et plus spécialement un système syntaxique sans jamais quitter, ne fût-ce qu'un instant, le fait linguistique qui réside dans l'union de ces deux facteurs hétérogènes?" (op. cit., S. 46.) Das Mittel, das der Autor im Hinblick auf dieses Ziel empfiehlt, wird im einzelnen mit Hilfe der Beispiele gezeigt: Jeder Hauptteil des Satzes bildet einen Kern, um den sich alle Determinanten gruppieren, die das Ziel haben, den Ausdruck des entwickelteren Gedankens zu vervollständigen. Der Vergleich mit der Uhr scheint mir sehr passend für das Verständnis der von SECHEHAYE vorgeschlagenen Methode zu sein. Die Bestandteile der Uhr haben einzeln genommen keinen Zweck. Erst wenn sie in einer bestimmten Weise an die richtige Stelle gesetzt worden sind, erhält der Mechanismus Leben: „II 1

2

3 4

L. HJELMSLEV, Prolegomena to a theory of Language (Supplement to International Journal of American Linguistes, vol. 19, No. 1, January 1953), S. 72—73, ist der Ansicht, daß der Ausdruck S y m b o l nur dann gebraucht werden sollte, wenn zwischen dem Begriff und dem Zeichen eine innerliche Ähnlichkeit, eine Beziehung von „Isomorphismus" besteht (z. B. Hammer und Sichel sind ein Symbol des Kommunismus, die Waage ein Symbol der Gerechtigkeit usw.). Im Falle der Sprache können nach der Ansicht dieses Gelehrten nur die onomatopoetischen Elemente S y m b o l e genannt werden. Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Grammatik und Logik s. u. a. LEO JOBDAN, Schule der Abstraktion und der Dialektik, München 1932, und La logique et la linguistique (in: Psychologie du langage, Paris 1933, S. 45ff. Es handelt sich hier um einen Vortrag, der auf dem II. Sprachwissenschaftlerkongreß in Genf 1931 von LEO JORDAN gehalten worden war und der gekürzt wiedergegeben wurde in Actes du Il-e Congrès de linguistes, S. 148—149). Vgl. die Bemerkungen von A. MEILLET zu dieser Studie in BSL X X (1916), S. 133ff., unter dem Titel Sur la méthode à employer en syntaxe. Die letztere Forschungsart wurde von einem gewissen Zeitpunkt ab angewandt (vgl. den folgenden Abschnitt, in dem ich mich mit F. BRUNOT beschäftigen werde).

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faut prendre chaque pièce l'une après l'autre avec sa forme et sa fonction, et la considérer à sa juste place dans l'ensemble entre le ressort qui donne le mouvement, le balancier qui le règle et les aiguilles qui marquent les heures. Or ceci ne peut pas se faire dans un ordre quelconque. Il y a des éléments essentiels, constitutifs, par lesquels il faut commencer ; il y en a d'autres, secondaires, qui n'existent que pour et par les premiers." (ebenda, S. 47—48.) Das Verfahren ist somit gleichzeitig analytisch und synthetisch. „Cette construction se compose en réalité d'une série de petites syntaxes particulières, quelquefois juxtaposées, le plus souvent superposées et se portant les unes les autres comme les pierres de taille dans un mur. Un type syntaxique initial ou nouveau étant posé, il faut énoncer toutes les règles auxquelles il donne lieu, tout ce qui dans le jeu possible de cet organe syntaxique est incontestablement fait de langue, norme de construction dans la parole." (ebenda, S. 73.) „L'esprit de la syntaxe, pour ainsi dire, doit être constructif et architectural. Ce que cette science demande, par sa nature même, ce n'est pas une énorme et savante compilation de faits superficiellement classés, mais un substantiel et lumineux raccourci de ces faits. Notre parole est faite, avec l'apport personnel que nous y ajoutons, d'un immense matériel d'unités significatives que la langue nous apporte rangées selon certains principes de construction et d'ordonnance qui sont comme le moule et la forme abstraite de toutes nos phrases. C'est de cette forme abstraite que la syntaxe doit nous rendre compte." (ebenda, S. 76.) J Die reifste syntaktische Arbeit S E C H E H A Y E S ist Essai sur la structure logique de la phrase, Paris 1926, woraus ich bereits weiter oben einige interessante Stellen für die Kenntnis der Lehre des Autors zitiert habe. Der Grundgedanke, den wir übrigens auch in anderen Studien von ihm treffen, ist, daß die grammatische Form des Satzes oftmals in Konflikt kommt mit unseren Denkvorgängen. So erklärt es sich, warum zwei absolut identische Sätze verschiedene Dinge ausdrücken können. Beim Sprechen kommen die Intonation und die Wortstellung hinzu, die zu diesem offensichtlich kuriosen Resultat führen. Mit anderen Worten: S E C H E H A Y E verfolgt auch hier, was sowohl bei ihm selbst wie auch bei B A L L Y eine wesentliche Beschäftigung bildete, die Beziehungen zwischen Denken und Ausdruck. So beschränkt sich S E C H E H A Y E nicht, obgleich das Buch Essai sur la structure . . . in Wirklichkeit eine Studie über die logische und grammatische Analyse des Satzes ist, auf die rein formale Seite des Problems, sondern er versucht auch, es psychologisch zu vertiefen. Dadurch will er erkennen, was in der Tätigkeit des menschlichen Geistes den bekannten grammatischen Kategorien (Substantiv, Verb, Objekt, Prädikat u . a.)2 entspricht. Gerade wie B R U N O T wendet sich der Genfer 1

2

Auf der Grundlage der in diesem Aufsatz dargelegten Ideen hat der Autor einen Abrégé de grammaire française sur un plan constructif, Zürich 1926, verfaßt, der für den Französischunterricht in den Schulen des Kantons Zürich bestimmt war. ,,. . . le fait grammatical a cependant une valeur psychologique: il a été créé et il existe pour fournir une forme à un élément de pensée, et c'est dans la parole vivante que ces normes grammaticales sont nées." (op. cit., S. 5.) Wenn wir überall die Ausdrücke „Psychologie" und „psychologisch" durch „Logik" und „logisch" ersetzen, sind die Feststellungen von S E C H E H A Y E gültiger, als sie beim ersten Blick erscheinen.

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Linguist gegen die strengen und oberflächlichen Regeln, die bis heute in allen Schulen herrschen, wenn es sich um das Erlernen der Grammatik handelt. Hier zeigen sich, die Beschäftigungen des Verfassers mit der Praxis.1 Andererseits gibt SECHEHAYE, wie auch SAUSSURE, dem Wort „Grammatik" eine sehr umfassende Bedeutung: „La grammaire est pour nous tout ce qui concerne l'organisation de la langue, sons, lexique, syntaxe." (Essai sur la structure ...,

S.4.)

Das Studium der Kombinationen der linguistischen Zeichen oder, wie gewöhnlich gesagt wird, der syntaktischen Konstruktionen nennt er syntagmatische Grammatik und unterscheidet es von dem Studium der isoliert genommenen Zeichen, zu dem er assoziative Grammatik sagt. Den Ausgangspunkt für diese Terminologie finden wir in Cours de linguistique générale, 2. Auflage, S. 170, wo

F. DE SAUSSURE über die Beziehungen spricht, die zwischen den Wörtern errichtet werden: Einige sind syntagmatische Beziehungen, andere assoziative. SECHEHAYE definiert wie folgt den Gegenstand und das Wesen dieser beiden Grammatiken. „En effet, le signe arbitraire et autonome est celui qui est significatif uniquement en vertu de différences de sens et de forme que l'on peut constater entre lui et les autres signes autonomes de la langue. Or, ses signes n'ayant aucun contact nécessaire entre eux dans la phrase, ces différences ne se constatent que par l'association des idées. La valeur de deux par exemple repose sur une sorte de comparaison implicite que nous faisons spontanément avec un, trois, quatre et les signes des autres idées étroitement associées à celle de deux. A cette grammaire associative vient s'en ajouter une autre, la grammaire s y n t a g m a t i q u e . Celle-ci a pour obj et tout ce que par opposition à s é m a n t è m e 2 o n appele desmorphèmes." (op. cit., S. 220-21.) 1

2

B e d e u t s a m scheint mir, d a ß S E C H E H A Y E das Interesse f ü r den praktischen Teil der sprachlichen Probleme als ein Charakteristikum der Schule S A U S S U H . E S bet r a c h t e t . „ E n conclusion, on p e u t dire que la caractéristique de l'école genevoise de linguistique, c'est l'union intime de deux tendances en apparence contradictoires. Celle qui considère la linguistique comme u n e science a u x principes abstraits dont l'intelligence d e m a n d e un effort considérable et une initiation particulière, et celle qui vise à m e t t r e cette science au service des fins les plus pratiques, d ' e n favoriser les applications à l'école et d a n s la vie journalière, de manière à en faire u n véritable i n s t r u m e n t de culture." ( I F X L I Y [1927], S. 239—240.) Das erinnert sehr a n den K a m p f , der von den Sprachwissenschaftlern vieler Länder, d a r u n t e r der Sowjetunion u n d der Rumänischen Volksrepublik, f ü r die S p r a c h p f l e g e g e f ü h r t wird (vgl. f ü r das R u m ä n i s c h e die Aufsätze, die seit Beginn des J a h r e s 1956 in der Zeitschrift Limba rominä erscheinen). Der Ausdruck Semantem, gebildet n a c h dem Vorbild P h o n e m , bezeichnet das W o r t oder den Teil im W o r t , der die eigentliche B e d e u t u n g ausdrückt. Morphem ist gleichbedeutend mit „grammatischer F o r m " , es d r ü c k t folglich die zwischen den Begriffen (und Gegenständen) jeder Art b e s t e h e n d e n Beziehungen aus (Kasus, Modus, Tempus, Person u. a.). Dem Morphem gibt S E C H E H A Y E einen viel umfassenderen Sinn, indem er es f ü r das Hilfszeitwort („sein" u. a.), f ü r Präpositionen, K o n j u n k t i o n e n , Suffixe, verschiedene E n d u n g e n , ebenso f ü r die Wortstellung u n d f ü r verschiedene syntaktische K o n s t r u k t i o n e n anwendet. Die sowjetischen Linguisten wie auch einige westliche Sprachwissenschaftler nennen Morpheme alle

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Zwischen der assoziativen und der syntagmatischen Grammatik sind die Verbindungen sehr eng. „Le procédé associatif se suffit à lui-même, et rien ne l'empêche, en théorie, de fonctionner seul. Le procédé syntagmatique, qui est une complication ajoutée au premier, présuppose toujours l'existence du procédé associatif, sans lequel il n'a pas de base dans la réalité." (ebenda, S. 222.) Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Sprache und Denken scheint mir der Artikel von S E C H E H A Y E La pensée et la langue ou Gomment concevoir le rapport organique de l'individuel et du social, veröffentlicht in Psychologie du langage, Paris 1933, S. 57ff., nicht nur interessant, sondern auch sehr wichtig wegen der entschlossenen Haltung gegenüber der deutschen neuromantischen Sprachwissenschaft. Daher fasse ich seinen Inhalt hier kurz zusammen. Die Abhängigkeit des Sprechers von der sozialen Gruppe wird nicht vom metaphysischen Gesichtspunkt aus betrachtet, so wie es der von S E C H E H A Y E bekämpfte ( S . 64FF.) L E O W E I S G E R B E R t u t (indem er im prorassistischen Geist W. v. H U M B O L D T folgt und ihn verändert) — vgl. Muttersprache und Geistesbildung, Göttingen 1929 —, sondern vom psychologischen und sozialen Gesichtspunkt aus: Das Individuum ist von der Sprachgemeinschaft abhängig, weil es in ihr geboren wird und sich in ihr entwickelt. Infolgedessen eignet es sich willentlich oder ohne seinen Willen deren Art zu denken an. Jedes Glied einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft ist gezwungen, mehr oder weniger ebenso wie die anderen zu denken und zu prechen. Aber dies ist nicht deshalb der Fall, weil seine geistige Konstitution ein für allemal von dem Charakter der ethnischen Gruppe, der es angehört, bestimmt wird, sondern weil es durch das Zusammenleben auf die gleiche Art denkt und die Dinge sieht wie die anderen Glieder der Gruppe. Das beweist die Tatsache, daß ein jeder unter bestimmten Umständen jede fremde Sprache lernen kann. Das Individuum erfreut sich indessen auch einer relativen Freiheit. Zunächst gibt es die affektive Sprache, welche die Sprecher als geeigneter für ihren seelischen Zustand im entsprechenden Moment benützen, ohne Vorbild und ohne Zwang. Doch selbst bei der verstandesmäßigen Rede, der einzigen, die es zu betrachten gilt, bewegt sich das Individuum mit ziemlicher Freiheit. Diese wird von seiner Bildung und persönlichen Fähigkeit bestimmt. Aber wie genial das Individuum auch wäre, es könnte sich vom sprachlichen Gesichtspunkt aus nicht von der Gemeinschaft isolieren: Auch die Genies sprechen, um anderen (seien es auch nur wenige) bestimmte Dinge mitzuteilen. Zu diesem Zweck müssen sie sich, wenn auch nur annähernd, der Gemeinschaft unterwerfen, d. h. ihrer Sprache. „Le problème de la langue n'est à tout prendre, qu'un des aspects de celui des rapports de die Elemente, die ein Wort bilden (somit die Wurzel, die Vor- und Nachsilben und die Endung). Neben und statt Semantem wird auch L e x e m gesagt (d. h. der konstitutive Teil des Wortes). Die Literaturhistoriker und Ästheten gebrauchen manchmal den Ausdruck Ä s t h e m mit dem Sinn von „sprachliches Element, das ästhetischen Wert besitzt". Auf dem VIII. Romanistenkongreß (Florenz 1956) schlug schließlich jemand die Bezeichnung S t i l e m vor für „die Wörter, Ausdrücke usw. mit stilistischem Wert" und als logische Folge die Ableitung S t i l e m a t i k für das Studium der Stileme (d. h. für „Stilistik").

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l'individu et de la société . . ." (loc. cit., S. 81.) Der einzelne schafft (die sprachlichen Neuerungen haben individuellen Ursprung), aber seine Schöpfungen müssen von den anderen Sprechern angenommen werden, die oftmals diese Schöpfungen verändern. „L'individu rend donc à la société avec intérêts ce qu'il a reçu d'elle, et celle-ci assure à son tour, et d'autant mieux, le progrès de l'individu." (S. 80.) Wir finden hier sehr klar die strenge Abhängigkeit zwischen Individuum und Gesellschaft ausgedrückt und indirekt auch die unlösliche Verbindung zwischen Denken (das von SECHEHAYE als individueller Akt betrachtet wird) und Sprache (ein kollektives Produkt). Ich kenne nicht viele Besprechungen der Arbeiten von SECHEHAYE. Programme et Méthodes . . . rezensierte A. MEILLET in BSL XV (1907/18), S . XXIIIif. MEILLET bringt einige Einwände vor, die um so interessanter sind, da sie von einem Vertreter derselben sprachwissenschaftlichen Richtung kommen. Er meint, daß die statische Sprachwissenschaft und die evolutive nicht in dem von SECHEHAYE gewünschten Maße getrennt werden können. Die Sprache, da sie gesprochen wird, entwickelt sich in jedem Augenblick: „En effet, on n'observe jamais une langue à l'état fixe; une linguistique statique ne peut donc résulter de l'observation." (loc. cit., S . XXIV.) Außerdem wirft er SECHEHAYE vor, daß er gleich allen Psychologen vor allem die individuelle Psychologie betrachte und dabei vergesse, daß die Sprache eine kollektive Erscheinung ist. 1 MEILLET erörtert in derselben Zeitschrift, Band XXVII (1926/27), Fasz.2, S . lff., auch SECHEHAYES Essai sur la structure . . . , dessen Ideen und Schlußfolgerungen er im allgemeinen zustimmt, weil sie „klug" seien und daher für jede Sprache als Grundlage bei der logischen Analyse des Satzes dienen könnten. Über dieses Buch haben auch geschrieben JULES BLOCH in RCHL XCIV (1927), S. 346ff.; G. IPSEN in IF (1928), S. 260; ELISE RICHTER in NS XXXVII (1929), S. 261ff.; N. DRAGAOT in Dacor V (1927/28), S. 706ff.; usw. Über seine eigene Tätigkeit spricht SECHEHAYE selbst in dem bereits zitierten Aufsatz L'école genevoise de linguistique générale in: IF XLIV (1926), S. 234ff. *

Hier sollen noch zwei Sprachwissenschaftler erwähnt werden, die sich wie auf das Gebiet der französischen Syntax spezialisiert haben. Einer von ihnen ist LUCIEN FOULET. Er hat u. a. eine ausgezeichnete Petite syntaxe de l'ancien français, Paris 1919 (2. Auflage 1923, 3. Auflage 1930), geschrieben, die die Kritik sehr günstig aufgenommen hat (vgl. K. SNEYDERS DE VOGEL in Neophilologus V [1920/21], S. 274ff.; O . B L O C H in BSL X X I I [1920/21], S. 74ff.; J. VENDRYES in RC XXXVIII [1920/21], S. 354ff.; A. MEILLET in BSL XXV [1924/25], S. 94ff.; A. DAUZAT in RLR LXVI [1929/30], S. 210ff.; A. LOMBARD in SN III [1930/31], S. 92ff. ; H . YVON in RPhFL XLIII [1931], S. 72ff. ; A. MEILSECHEHAYE

1

MEILLET weist dem kollektiven Charakter der Sprache so große Bedeutung zu, daß er folgende sehr interessante und in einem bestimmten Sinn sehr wichtige Feststellung trifft : „L'innovation spontanée semble bien être, dès son principe et non par imitation un fait collectif." (loc. cit., S. X X I V . )

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LET in BSL X X I [1931], S. 146ff.). Obgleich es sich um vergangene Sprachzustände handelt, hat uns FOTJLET eine deskriptive Syntax von der Art gegeben, wie sie F . D E SAUSSURE und viele seiner Schüler empfohlen haben: „Nous avons poussé très loin notre détachement à l'égard des secours que pouvait nous apporter l'histoire de la langue." „Au lieu de voir dans le vieux français un idiome instable e t provisoire dont la fonction propre est de relier deux langues complètes et définitives, le latin et le français moderne, on en vient ainsi à s'arrêter avec complaisance devant des phénomènes linguistiques, dont les contemporains n'ont nullement soupçonné le caractère transitoire . . ." (S. V" der 2. Auflage.) In diesem letzten Zitat wird mit einer leichten Ironie der Standpunkt der statischen Sprachwissenschaft gegenüber der evolutiven ausgedrückt. Dagegen vergleicht der Autor oftmals das Altfranzösische des 13. Jahrhunderts (denn vor allem die Werke der Schriftsteller dieses Jahrhunderts dienten ihm für das Sammeln des Materials als Grundlage) mit der gegenwärtigen französischen Sprache, sowohl um das Verständnis der Diskussion zu erleichtern als auch — wenigstens scheint es mir so — um zu beweisen, daß, wenn sprachliche Zustände aus verschiedenen Epochen verglichen werden sollen, wir von der Gegenwart mit ebenso gültigen Ergebnissen ausgehen können. In bezug auf eine sehr wichtige mittelalterliche syntaktische Erscheinung, auf die Zweikasusdeklination, die zahlreiche Erörterungen hervorgerufen hat (vgl. auch Kap. II, S. 106/7 des vorliegenden Buches), erachte ich es für notwendig und interessant, die Ansicht MEILLETS wiederzugeben (loc. cit., S. 94): „Peut-être faudrait-il insister sur la direction générale du développement : la langue tendait à marquer, par des moyens indépendants de la forme des noms, leur rôle dans la phrase. Le mouvement a commencé avant la période historique du latin; on le voit s'achever durant la période qu'étudie M. Foulet." „La preuve que la déclinaison tendait à se résorber et n'avait plus de place dans la langue, c'est que, transportée dans un milieu nouveau, elle a disparu plus tôt que sur sol français : la déclinaison a disparu en anglo-normand plus tôt que dans les textes écrits en France propre. Ce fait est intéressant pour la linguistique générale." Andere mir bekannte Arbeiten von F O U L E T sind La disparition du prétérit in: Ro X LVI (1920), S. 271 ff. (zu dieser Frage vgl. oben S. 355/6); Comment ont évolué les formes de l'interrogation, ebenda XLVII (1921), S. 243ff., und Le développement des formes surcomposées, ebenda LI (1925), S. 202ff. Dieser letztgenannte Aufsatz ist eng mit dem erstgenannten verbunden, denn das Auftauchen der Verbalformen von der Art j'ai eu dit, j'avais eu dit usw. 1 ist nur so zu erklären, daß das Perfekt ( = passé indéfini) mit der Zeit auch Präteritum ( = passé défini) vom Gesichtspunkt der Bedeutung aus geworden ist, was einerseits zum Untergang des letzteren geführt hat, andererseits zur Schaffung einiger neuer Formen, die die Funktion des eigentlichen Perfekts erfüllen. Diese Studie hat eine besondere Bedeutung für die rumänische Syntax, wo auch eine ähnliche Erscheinung zu verzeichnen ist: In der gesprochenen Sprache der meisten Rumänen gibt es das einfache Perfekt nicht mehr, so daß das zusammengesetzte Perfekt gleichzeitig als Präteritum (oder 1

Vgl. auch M. COBNXT, Les formes surcomposées en français, Berne 1953.

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Aorist) dient und auch als Perfekt. Aber diese Situation hatte Nachteile: Vielmals wurde die Notwendigkeit einer Form gefühlt, die den Sinn des reinen Perfekts ausdrücken soll. Doch sie gab es nicht. Daher ist in der Mundart der Nordmoldau, wo der Untergang des einfachen Perfekts früher als in anderen Mundarten erfolgt ist, das zusammengesetzte Plusquamperfekt (z. B. m-am fost-dus) in Umlauf, das einen Augenblick ausdrückt, der in gewisser Hinsicht zwischen dem Perfekt und dem Plusquamperfekt liegt (es scheint dem letzteren näher zu sein; daher könnte es besser „perfect anterior" heißen).1 Der andere Sprachwissenschaftler, den es noch zu erwähnen gilt, ist der Holländer C . DE B O E B . L E O SPITZEB (Meisterwerke der romanischen Sprachwissenschaft II, S. 340) betrachtet ihn als einen Anhänger der französischen sprachwissenschaftlichen Schule. Ich glaube, daß er sich auf das weiter oben (bei SECHEHAYE) erörterte Gebiet spezialisiert hat. Auf jeden Fall sind seine Studien über französische Syntax zahlreich, so daß er auch in dieser Beziehung neben den Genfer Linguisten gestellt werden kann. Hier einige Arbeiten von C. DE B O E K : Essais de syntaxe française moderne, Paris-Groningue 1923; Essai sur la syntaxe moderne de la préposition en français et en italien, Paris 1926; Études de syntaxe française in: RLiR I I I (1927), S. 283ff., und IV (1928), S.290ff.; L'évolution des formes de l'interrogation en français in: Ro L U (1926), S. 307ff.; Introduction à l'étude de la syntaxe du français. Principes et applications, Groningue-Paris 1933 (vgl. die Rezensionen von G . GOUGENHEIM in FM I I [1934], S. 171 ff.; O . BLOCH in B S L X X X V [1934/35], S. 86ff.; M. DELBOUILLE in RBPhH X I V [1935], S. 1365ff.; H. M E I E R in ZRPh LVII [1937], S. 599ff.); Syntaxe du français contemporain, Leiden 1954 (2. Auflage), usw. In der Studie L'évolution des formes de l'interrogation en français gibt der Verfasser eine sehr einleuchtende Erklärung dafür, warum die Fragesätze im Französischen das Prädikat am Schluß haben : Wir haben es mit der Wirkung der psychologischen Tendenz zu tun, an das Ende des Satzes sein wichtigstes Element zu setzen. Eine solche Inversion kennen auch andere Sprachen, in denen sie aber noch nicht feste Form geworden ist, d. h. nicht grammatikalisiert worden ist wie im Französischen, wo sie völlig dem steigenden Rhythmus des Wortes und des Satzes 1

Diese Verbalform zirkuliert heute auch in anderen dakorumänischen Mundarten. Vor langer Zeit war sie irgendwie allgemein verbreitet. Ihr Erscheinen muß als ein Ergebnis der Tatsache betrachtet werden, daß die Sprache (speziell die Morphologie) Systemcharakter hat: Das Vorhandensein eines einfachen Plusquamperfekts neben einem einfachen Perfekt erforderte die Schaffung eines zusammengesetzten Plusquamperfekts, das sich dem zusammengesetzten Perfekt gegenüber in ähnlicher Beziehung befand wie das einfache Plusquamperfekt zum einfachen Perfekt. Das zusammengesetzte Perfekt bezeichnet eine vergangene Handlung, die vom Gesichtspunkt ihres Ergebnisses aus als gegenwärtig betrachtet wird oder, anders gesagt, die berichtet wird im Augenblick des Sprechens (zum Unterschied vom einfachen Perfekt, das einfach die Vergangenheit ausdrückt, ohne eine Verbindung zum Präsens). Das zusammengesetzte Plusquamperfekt berichtet auch über die Handlung in einem Augenblick des Sprechens, natürlich in einem der Vergangenheit, d.h. von einem Moment, den ich, falls er nicht zu weit in der Vergangenheit läge, durch das zusammengesetzte Perfekt ausdrücken würde.

26 Iordan, Rom. Sprachwissenschaft

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entspricht (die Wörter werden auf der letzten Silbe betont, und ebenso liegt im Satz der Akzent auf dem letzten Wort). Interessant ist auch die Terminologie in Essais de syntaxe française moderne. Auf S. 12 spricht C. DE B O E R von einer „syntaxe vivante" und von einer „syntaxe figée ou locutionnelle" (vgl. auch Introduction..., S. 89if.). Die erste Syntax beschäftigt sich mit den Syntagmen, die analysiert werden können (vgl. die Ableitung, die Zusammensetzung und die Flexion), die andere mit den zur festen Verbindung gewordenen Syntagmen (wie frz. fils à papa, pour le coup, Le Havre u. a.). SECHEHAYE sagt in Programme et Méthodes... zu der einen „Syntax", zur anderen „Symbolik" und in Essai sur la structure... „syntagmatische" bzw. „assoziative" Grammatik, ohne hierunter indessen genau dasselbe wie C. DE B O E R unter seinen Ausdrücken zu verstehen. Das Buch Introduction... ist A. SECHEHAYE gewidmet. Das beweist, wenn es noch nötig gewesen wäre, daß C. DE B O E R hinsichtlich seiner Wissenschaftsauffassung zur französischen sprachwissenschaftlichen Schule gehört. Der synchronische oder statische Gesichtspunkt, von dem er bei der Erforschung der syntaktischen Gegebenheiten ausgeht, ist u. a. von E. LERCH in RLiR VI (1930), S. 134ff., verworfen worden. L E R C H bekämpft die „psychologische" (oder deskriptive) Methode von B O E R und vertritt die Meinung, daß die Syntax der französischen Sprache nicht studiert werden kann, ohne dabei von der lateinischen Syntax auszugehen, und dies selbst dann, wenn eine syntaktische französische Erscheinung offenbar eine Neuerung darstellt (vgl. hierzu die Antwort von DE B O E R in RLiR VII [1931], S.,265ff.). Der holländische Linguist ist auch von seinem Landsmann S. ERESTGA in RLiR V (1929), S. 274ff., kritisiert worden (BOERS Antwort darauf erschien ebenda, S. 283 ff.). ERLNGA hat der statischen Methode der gesamten Genfer Schule einen langen kritischen Artikel gewidmet unter dem Titel La méthode statique de l'école genevoise (in Neophilologus XVI [1930/31]). Da hier von der Syntax der französischen Sprache die Rede ist, die so eingehend (besonders im Gegensatz zu den anderen romanischen Sprachen) studiert wurde, sollen folgende wichtige Werke auf diesem Gebiet noch genannt sein: Syntaxe du français contemporain, 3 Bände, Paris 1928—1943 (I. Pronoms; II. Propositions subordonnées; III. L'infinitif) von K R . SANDFELD; Syntaxe du français moderne, 2 Bände, Paris 1935—1937, von GEORGES et R O B E R T L E B I D O I S ; Précis de syntaxe du français contemporain, Bern 1947 (2., vollständig umgearbeitete Auflage ebenda 1958) von W. v. WARTBURG und P A U L ZUMTHOR. Einen Forschungsbericht über die Studien zur französischen Syntax bis zum Jahre 1934 verfaßte G . GOUGENHEIM (FM II [1934], S. 33ff.).

Ferdinand Brunot (1860-1938) Für die Beziehungen zwischen Denken und Sprechen, die den hauptsächlichsten Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit von BALLY und SECHEHAYE bildeten, zeigte noch ein anderer Vertreter der französischen sprachwissenschaftlichen Schule großes Interesse. Es ist FERDINAND BRUNOT, der lange Zeit Dekan der Philosophischen Fakultät in Paris war. Er ist allen Romanisten durch sein bedeut-

Ferdinand Brunot sames Werk Histoire

bekannt. Obgleich 1

de la langue française

BRUNOT

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dès origines à 1900, Paris 1905 ff.1,

sich dadurch, daß er die Sprache vom diachronischen

Bisher sind die folgenden B ä n d e erschienen : 1. De l'époque latine à la Renaissance; 2. Le seizième siècle; 3. La formation de la langue classique (1600—1660), zwei Teile; 4. La langue classique (1660—1715), zwei Teile; 5. Le français en F r a n c e et hors d e F r a n c e a u X V I I - e siècle; 6. Le dix-huitième siècle, Première partie, Fascicule I : Le m o u v e m e n t des idées et les vocabulaires techniques. Philosophie. Economie politique. Agriculture. Commerce. I n d u s t r i e . Politique. Finances; Fascicule I I : La langue des sciences, la langue des a r t s ; Deuxième partie, Fascicule I : L a langue postclassique; Fascicule I I : Les formes, la s y n t a x e , la phrase; 7. La propagation d u français en F r a n c e j u s q u ' à la fin de l'ancien régime; 8. Le français hors de F r a n c e a u X V I I I - e siècle. Première partie : Le français dans les divers p a y s de l ' E u r o p e ; Deuxième et troisième p a r t i e s : L'universalité en Europe. Le français hors d ' E u r o p e ; 9. L a Révolution et l'Empire. Première p a r t i e : Le français, langue nationale; Deuxième p a r t i e : Les événements, les institutions et la langue; 10. La langue française d a n s la t o u r m e n t e . Première partie : Contact avec la langue populaire et la langue r u r a l e ; Deuxième p a r t i e : Le retour à l'ordre et à la discipline; 11. L a perte de l'hégémonie en E u r o p e ; 12. L'époque r o m a n t i q u e (1815—1852); 13. L'époque réaliste. Première p a r t i e : F i n d u r o m a n t i s m e et Parnasse. Vom 11. B a n d a n wurde dieses W e r k von C H . B R U N E A U herausgegeben. Dieser besorgte a u c h die Veröffentlichung des 10. Bandes, den B R U N O T ZU E n d e g e f ü h r t h a t t e , der aber erst n a c h seinem Tod erschien. Hinzuzufügen ist noch, d a ß a u c h La langue postclassique die Arbeit eines anderen ist, u n d zwar von A L E X I S F R A N Ç O I S . I m J a h r e 1953 erschien der 1. Teil des 13. Bandes (Fin du r o m a n t i s m e et Parnasse). I n diesem Werk, das in jeder Beziehung m o n u m e n t a l e n Charakter besitzt, verfolgt B R U N O T die Entwicklung der französischen Sprache von ihren Anfängen an u n d beschäftigt sich zugleich auch mit den U m s t ä n d e n , die diese Entwicklung hervorgerufen haben. E r verbindet somit innere u n d äußere Sprachwissenschaft (nach d e r Terminologie S A U S S U B E S ) u n d beweist so, d a ß diese zwei Aspekte des Studiums der Sprache einander nicht ausschließen. E i n ähnliches u n d sehr wertvolles Werk ist die b e r ü h m t e Grammaire historique de la langue française des D ä n e n K R . N Y R O P , der Professor a n der Universität Kopenhagen war. Sie u m f a ß t 6 B ä n d e (Phonetik, Morphologie, Wortbildung, Semantik, S y n t a x der N o m e n u n d P r o n o m e n , S y n t a x der Partikel u n d Verben) u n d erschien zwischen 1890 u n d 1930 in Kopenhagen. F ü r die Studenten u n d Gebildeten schrieb A. D A U Z A T eine sehr g u t e Histoire de la langue française, Paris 1930 (sie wurde ins Russische übersetzt u n d erschien u n t e r dem Titel MeropHH rom. o). 2. Die Kontraktion : Sie gleicht der Monophthongisierung, von der sie sich nur dadurch unterscheidet, daß sie auf zwei vollständigen Vokalen beruht, nicht auf zwei Vokalteilen wie der Monophthong (z. B. afrz. traître wurde nfrz. traître über die Zwischenphasen Hraëtre, mit i > e wegen der Assimilation zu a, und *treëtre, mit a > e wegen des assimilierenden Einflusses des folgenden betonten e). Auf gleiche Weise verfuhr G K A M M O N T auch mit anderen „Lautgesetzen", z. B. mit der Metathese, über die er die folgenden Aufsätze veröffentlichte : La métathèse dans le parler de Bagnères-de-Luchon in: MSL X I I I (1903-1905), S. 73ff.; La métathèse en arménien in : Mélanges linguistique offerts à M. Ferdinand de Saussure, Paris 1908, S. 231 ff.; Une loi phonétique générale in: Philologie et linguistique. Mélanges offerts à Louis Havet, Paris 1909, S. 179ff.; Sur la métathèse in : Miscelánea filológica dedicada a Don Antonio Ma. de Alcover con motivo de la publicación del Diccionari català-valencià-balear, Palma de Mallorca 1932. Ich gehe auf diese Schriften nicht näher ein, weil sich der Leser aus der vorangehenden Erörterung über die Art, wie G K A M M O N T es versteht, die lautlichen Erscheinungen zu studieren, ein Bild machen kann. Vor allem, so glaube ich, ist aus meinen Darlegungen ersichtlich, warum ich zu Beginn des vorliegenden Abschnittes gesagt habe, daß dieser Sprachwissenschaftler in demselben Sinn allgemeine Phonetik betreibt wie S C H T J C H A R D T oder S A T J S S Ü E E allgemeine Sprachwissenschaft. J a , G R A M M O N T muß als der Begründer der allgemeinen Phonetik betrachtet werden, die er ein halbes Jahrhundert hindurch als ein wahrer Meister gepflegt hat. Für solche Studien ist eine weitgespannte und vielseitige wissenschaftliche Ausbildung erforderlich: die Kenntnis der deskriptiven und experimentellen Phonetik, das Vertrautsein mit einer großen Anzahl von Sprachen und Dialekten 2 , die vom historischen Gesichtspunkt aus betrachtet entweder verlischen t, d, c, g ist keine Spur mehr bewahrt. Unter denselben Umständen wurden p und b zu v reduziert (durch die dazwischenliegende Phase von frikativem b oder bilabialem v). Das unmittelbar vorangehende Stadium finden wir z. B. im Spanischen, wo noch alle intervokalischen lateinischen Verschlußlaute als stimmhafte Reibelaute erscheinen. Die Anfangsphase schließlich begegnet uns im Provenzalischen, das die stimmlosen Verschlußlaute in stimmhafte verwandelt hat. 1

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Das heißt eine Konsonantengruppe, die zu verschiedenen Silben gehört. hat sich auch mit den Volksmundarten beschäftigt, die er an Ort und Stelle erforscht hat. Vgl. z. B. die Arbeit Le patois de la Franche-Montagne et en particulier de Damprichard (Franche-Comté), Paris 1901 (Sonderdruck aus MSL GKAMMONT

27*

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

wandt oder einander fremd sind (vor allem hinsichtlich der Laute: ihr gegenwärtiger Stand und ihre geschichtliche Entwicklung), und die Gewöhnung an die Beobachtung der lautlichen Erscheinungen, um den charakteristischen Zug einer jeden klar zu erkennen und sie dann nach ihren gemeinsamen Elementen zu ordnen. Alle diese Eigenschaften zeigt G R A M M O N T besonders stark in Traité de phonétique (2. Auflage Paris 1939, 4. Auflage ebenda 1950). Dieses Werk kann als eine der vollständigsten und originellsten Abhandlungen über allgemeine Phonetik betrachtet werden. In diesem Buch, das über 400 Seiten in Großformat umfaßt, beschäftigt sich der Autor mit der deskriptiven Phonetik, zu der er Phonologie sagt, mit der historischen Phonetik (oder der „eigentlichen Phonetik"), d. h. mit den Veränderungen, die die Laute in verschiedenen Sprachen erfahren (außer Dissimilation, Assimilation und Metathese werden erforscht die Differenzierung, die Ausdehnung und die Umkehrung, die eine Art Varianten zu den drei zuerst erwähnten Erscheinungen darstellen), und mit dem, was er „impressive Phonetik" nennt (schallnachahmende Wörter, ausdrucksstarke Wörter, Rhythmus, Intonation usw.). Dieses Buch wurde sehr günstig aufgenommen, wenn auch einige Rezensenten Vorbehalte äußerten in bezug auf bestimmte Ideen, die als zu originell (d. h. nicht übereinstimmend mit der Tradition im Bereich der Phonetik) erachtet wurden oder bestimmte Erklärungen nicht akzeptierten. Hier ein Teil der Rezensionen: P. T O U C H É in RLR LXVI (1932/33), S. 476ff., sowie in FM III (1935), S. 79-80; R. D E Si. NOGTTEIKA in BF I (1932/33); G. S. C O L I N in Hespéris XVI (1933), S. 162ff.; A. M E I L L E T in BSL XXXIV (1933), S. 2ff.; E. W. S E L M E R in Theutonista IX (1933), S. 160ff. (in Form eines Aufsatzes, betitelt Phonologie und Phonetik); O . DENSUSIANTT in GS VI (1933/34), S. 350ff.; IORGRTR I O B D A N in BPh I (1934), S. 182ff.; E. B O I S A C Q in RBPhH XVIII (1939), S. 108 ff. Interessant und zugleich sonderbar ist, daß ein Phonetiker mit einem so weiten Blick wie G R A M M O N T die Phonologie der Prager Schule bekämpfte (s. RLR LXVTI [1935/36], S. 574ff. Wir haben gesehen, daß er unter „Phonologie" die deskriptive oder physiologische Phonetik versteht und zur historischen Phonetik „Phonetik" sagt, somit existiert für ihn nicht die Phonologie im heute üblichen Sinne als „funktionelle Phonetik"). Von den übrigen phonetischen Schriften G R A M M O N T S mögen noch angeführt sein : Traité pratique de prononciation française, Paris 1914 (5. Auflage ebenda 1938; die letzte, ich kann leider nicht sagen welche Auflage, erschien ebenda 1954),1 und La psychologie et la phonétique, Paris 1930 (in JPNP XXVI [1929], S. 5ff.; und XXVII [1930], S. 31ff., S. 544ff.) 2 . Das erste Werk wendet sich an Fremde und Franzosen in der Provinz, denen der Autor die korrekte Aussprache

1

2

VII [1889-1892], S. 461ff.; V I I I [1892-1894], S. 53ff.; X [1897/98], S. 167ff., 290ff.; und X I [1899-1900], S. 52ff., 130ff., 198ff., 285ff., 362ff. und 402ff.). Vgl. auch u. a. die Rezensionen von J. R O N J A T in R L R L X (1918/19), S. 186ff.; u n d A . DATJZAT i n F M V I I ( 1 9 3 9 ) , S . 1 7 1 - 1 7 2 . R e z e n s i e r t v o n P . FOUCHB i n R L R L X V I ( 1 9 2 9 — 1 9 3 1 ) ,

S . 2 3 3 F F . ; A . DATJZAT

R P h F L X L I I I (1931), S. 225FF.; A . MEILLET i n B S L X X X I (1931), S. 3 - 4 .

in

Maurice Grammont

411

der französischen Sprache beibringen möchte, indem er ihnen einerseits ihre eigentlichen Fehler beim Französischsprechen zeigt, andererseits darlegt, wie ausgesprochen werden muß, um sich so weit wie möglich der Aussprache der Gebildeten in Frankreich zu nähern. (In dem Buch des sowjetischen Sprachwissenschaftlers SÖERBA, das weiter oben in dem Abschnitt über BETJNOT zitiert worden ist, werden oft die russische und die französische Aussprache verglichen.) Obgleich GRAMMONT praktische Zwecke verfolgt und sich nicht in erster Linie an die Fachwelt wendet, ist diese Arbeit nicht weniger wissenschaftlich als die bisher erörterten. Es überrascht u. a. die Kenntnis der spezifischen Aussprachefehler, die Angehörige zahlreicher fremder Völker machen. Der Autor beobachtete aufmerksam, wie die französische Sprache von diesen Menschen gesprochen wurde, mit denen er in Berührung kam. Die Lektüre dieses Buches ist von großem Nutzen; denn auf jeder Seite stößt man auf Besonderheiten und Nuancen der Aussprache, die auch ein gebildeter Franzose nicht immer wahrnimmt. Daher kann es nicht genug empfohlen werden, vor allem den gegenwärtigen und zukünftigen Lehrern der französischen Sprache. In La psychologie et la phonétique wird u. a. gezeigt, daß der psychische Zustand des Sprechers, gewöhnlich immer unbewußt, auf die Hervorbringung der bedingten Lautveränderungen einwirkt und zuweilen in einer Unaufmerksamkeit besteht. Der größte Teil dieser Arbeit ist den schallnachahmenden Wörtern, den expressiven Wörtern und dem Rhythmus gewidmet, so daß sich der Inhalt teilweise mit dem des dritten Teiles von Traité de phonétique deckt. Zu Beginn des vorliegenden Abschnittes wurde gesagt, daß GRAMMONT dem ä s t h e t i s c h e n F a k t o r in der Sprache große Aufmerksamkeit schenkte. Dadurch nimmt er einen besonderen Platz unter den Vertretern der französischen sprachwissenschaftlichen Schule ein, die theoretisch und praktisch in ihren wissenschaftlichen Arbeiten dieses Element ausschließen, weil sie in der Sprache nur ein Verständigungsmittel zwischen den Menschen sehen. Glauben wir indessen aber nicht, daß GRAMMONT damit in die Nähe von CROCE und VOSSLER rückt, die die Sprache mit der Kunst und die Sprachwissenschaft mit der Ästhetik gleichsetzen. Der französische Phonetiker ist nur der Ansicht, daß in der menschlichen Sprache auch ein künstlerisches Element vorhanden ist, das wir betrachten sollten. Seine Einstellung bezüglich dieser Frage können wir u. a. erkennen aus der Rezension, die er zu dem Buch von J. VENDRYES L e langage (in : R L R L X I [1921/22], S. 369ff.) verfaßt hat. GRAMMONT bekämpft den Gesichtspunkt von VENDRYES, der nicht nur das ästhetische Element der Sprache vernachlässigt, sondern auch prinzipiell dessen Vorhandensein bestreitet. VENDRYES vertritt die Meinung, daß die menschliche Sprache ihr Ziel dann erreicht hat, wenn diejenigen, die sie benutzen, sich ohne Schwierigkeit verstehen. In diesem Augenblick, so fügt VENDRYES hinzu, verschwinden die Unterschiede zwischen der einen und der anderen Sprache.1 GRAMMONT nähert sich auch hier SCHUCHARDT, der eine Mittelstellung 1

Interessant für die Sprachauffassung GRAMMONTS ist auch folgender Einwand: Nach dem Beispiel von F. DE SAUSSURE will V E N D R Y E S nicht gelten lassen, daß das Wesen und die Entwicklung einer Sprache in Verbindung mit dem Charakter

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Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

zwischen S A T J S S U B E und V O S S L E R einnimmt, w e n n er sagt: „ A u s der N o t geboren, gipfelt die Sprache in der K u n s t . " (Brevier, S. 265.) Es muß klargestellt werden, daß die künstlerische Seite der Sprache, so wie sie G R A M M O N T auffaßt, auf lautlichen Elementen beruht : Die Harmonie, die Ausdruckskraft und die Schönheit einer Sprache gehen aus den Lauten und ihrem R h y t h m u s hervor. Wir haben es infolgedessen mit einer rein auditiven Ästhetik zu tun. Es ist bekannt, daß verschiedene Laute unter bestimmten Bedingungen bestimmte Vorstellungen erwecken können, daß sie nämlich einen psychologischen Wert haben können und daher geeignet sind, bestimmte seelische Zustände wiederzugeben 1 . Ausgehend v o n solchen Feststellungen und v o n seinen phonetischen

1

des Volkes stehen, das sie spricht. G R A M M O N T b e k ä m p f t diese Ansicht u n d erinnert d a r a n , d a ß eine menschliche Gesellschaft sich allmählich die Sprache schafft, die a m besten mit ihrem Geist u n d mit ihrer Lebensart ü b e r e i n s t i m m t , u n d f ü h r t den Fall der englischen u n d deutschen Sprache a n : Obgleich derselben H e r k u n f t , wurde das Englische nach seiner Ansicht zu einer banalen, p l a t t e n u n d „terre à t e r r e " Sprache u n d das Deutsche zu einer Sprache mit reichem Wortschatz, der aber N u a n c e n fehlen u n d die voll v o n unnötigen Komplikationen ist. Vgl. das, was im I . Kapitel (S. 76) des vorliegenden Buches gesagt worden ist. G R A M M O N T selbst h a t sich mit ähnlichen F r a g e n beschäftigt in der Studie Onomatopées et m o t s expressifs i n : R L R X L I V (1901), S. 97—158, wo er zeigt, d a ß die Bereiche dieser zwei W o r t g r u p p e n ausgedehnter sind als gewöhnlich geglaubt wird, u n d d a ß sie zugleich ineinander übergreifen, so daß keine genauen Grenzen zwischen ihnen festgelegt werden können : E s gibt W ö r t e r , die wir je n a c h dem vorherrschenden Gedanken im Augenblick der R e d e bald als schallnachahmende, bald als expressive W ö r t e r betrachten können. Siehe auch den d r i t t e n Teil in Traité de phonétique, ferner F M I I (1934), S. 293-294. Das Problem der schallnachahmenden W ö r t e r in einem umfassenderen Sinn wurde vielmals u n d auf verschiedene Weise behandelt. (Einige Linguisten h a b e n es fälschlicherweise m i t dem U r s p r u n g der Sprache verbunden, indem sie in solchen W ö r t e r n die Anfänge der artikulierten R e d e sahen.) Hier einige zufällig ausgewählte S t u d i e n : S. P u ç C A R I U , Despre onomatopee in limba rominä i n : Dacor I (1920/21), S. 75ff. ; F . R A C H U T , P r o b l e m e der Onomatopöie in: V K R I (1928), S. 113ff.; A. D E B R U N NEB, L a u t n a c h a h m u n g i n : I F L I (1933), S. 229ff.; W . OEHL, Das Lallwort in der Sprachschöpfung, F r e i b u r g [Schweiz] 1933); J . M A B O U Z E A U , L'usure des onomatopées i n : F M I I I (1935), S. 289ff. D E B E D N K E B v e r t r i t t die Ansicht, d a ß die von ihm erörterte Erscheinung, die auch ein Mittel der Bereicherung der Sprache bildet, auf einem psychischen Prozeß b e r u h t . Sowohl die Geräusche als a u c h die Bewegungen, verschiedene äußere Aspekte der Gegenstände usw. werden nachg e a h m t . Dies b e d e u t e t , d a ß wir durch L a u t e nicht n u r akustische Eindrücke wiedergeben können, sondern auch andere Sinneseindrücke. Wichtig scheint mir die U n t e r s c h e i d u n g zu sein, die dieser Sprachwissenschaftler zwischen „ L a u t n a c h a h m u n g " u n d „ L a u t s y m b o l i k " m a c h t : Die L a u t n a c h a h m u n g ist ein Aspekt der streng individuellen sprachlichen Tätigkeit, die Lautsymbolik gehört zur Sprache, u n d zwar dadurch, daß die entsprechende Schöpfung, indem sie Symbol ( = sprachliches Zeichen) wird, einen Sinn erlangt, der f ü r alle Sprecher der gleiche ist. O E H L unterscheidet drei Kategorien von n a c h a h m e n d e n W ö r t e r n : „Schallw ö r t e r " , „ B i l d w ö r t e r " u n d „Lallwörter". E i n e n mißglückten Versuch, die expressiven E l e m e n t e lautlicher Art der rumänischen Sprache zu „ e n t d e c k e n " , h a t D. C A R A C O S T E A u n t e r n o m m e n in einem umfangreichen B u c h : E x p r e s i v i t a t e a limbii romîne, Bucureçti 1942. Vgl. A L . R O S E T T I in B L V I (1938), S. 268ff. (er setzt sich hier kritisch m i t einem K a p i t e l dieses Buches auseinander, das bereits 1937

Maurice Grammont

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Studien, schrieb GKAMMONT ein umfangreiches Buch über den französischen Vers, das eine wirkliche Revolution auf dem Gebiet der Metrik bedeutete: Le vers français. Ses moyens d'expression. Son harmonie, Paris 1904 (Neuauflagen in den Jahren 1913, 1923, 1937, diese mit zahlreichen und wichtigen Veränderungen; die letzte Auflage erschien im Jahre 1954).1 In der Einführung finden wir, welche Ziele der Autor verfolgt. Nachdem er die Unterschiede zwischen dem korrekten Vers und dem guten Vers herausgearbeitet hat, sagt er: „ L a correction c'est dans la forme du vers la partie mécanique, tandis que l'harmonie et l'expression représentent la partie artistique. C'est cette seconde partie que nous nous proposons d'étudier ici. Quels sont les moyens d'expressions dont dispose la poésie française, quelle est la valeur sémantique des différents rythmes et celle des différents sons, telles sont les questions auxquelles nous essayerons de répondre. Puis, passant à un autre ordre d'idées, nous rechercherons ce qui fait qu'un vers donné est ou n'est pas harmonieux, ou qu'il est plus ou moins harmonieux, quels que puissent être d'ailleurs ses défauts ou ses qualités à d'autres points de vue." (S. 2.) Und weiter weist er darauf hin, was in diesem Buch nicht zu finden ist: „Ce livre n'est donc pas un traité de versification française, quoiqu'on y trouve à l'occasion des précepts ou, comme on dit couramment, des règles de facture. Ce n'est pas non plus une histoire du vers français et de son développement, bien qu'à différents endroits certaines phases de son évolution y soient exposées ou au moins indiquées." (S. 2—3.) Charakteristisch für die Art dieser Arbeit ist, daß der Verfasser bei der Erörterung der expressiven Mittel niemals auf Verse zurückgreift, weil er befürchtet, daß er sich selbst oder die Leser suggerieren könnte : Die Verse dienen nur dazu, die Theorie zu illustrieren und zu bestätigen. Die Ausdrucksmittel des französischen Verses sind nach GRAMMONT der Rhythmus und die Laute (die Vokale, die Konsonanten, der Hiatus, der Reim). Alle analysiert er mit peinlicher Genauigkeit vom Gesichtspunkt der Expressivität aus : worin diese Qualität besteht, welche Laute ausdrucksvoller sind und warum sie es sind usw. Danach beschäftigt er sich mit der Harmonie des französischen Verses : was bedeutet sie und wie kann sie erreicht werden ? Die Ergebnisse seiner Forschungen unterscheiden sich sehr von denen seiner Vorgänger. 2 So meinte man

1

2

in R F R I V [1937], Nr. 4, S. 97 ff., erschienen war),und ebenda V I I I (1940), S. 166ff.; A . G R A U R in VRom, April 1940, S . 149ff.; E. S E I D E L in BL X (1942), S . 131ff. Dieses Buch ist in der „Collection linguistique, publiée par la Société de linguistique de Paris" erschienen, weil es zum Unterschied von allen ähnlichen Versuchen streng sprachwissenschaftliche Grundlagen besitzt. Von diesen ist zu nennen A. TOBLER, ehemals Professor für romanische Philologie an der Universität Berlin. Seine Arbeit Vom französischen Versbau alter und neuer Zeit, Leipzig 1880, hatte bis zum Jahre 1921 sechs Auflagen. Andere neuere Arbeiten über den französischen Vers, die mir bekannt sind: P A U L V E R R I E B , Le vers français, Band I : La formation du poème, Paris 1931, Band I I : Les mètres, Paris 1932; Band I I I : Adaptations germaniques, Paris 1932; P. MENZERATH, Die Polyrhythmie des französischen Verses in: A v P h V I (1941), S . l f f . ; W . S U C H I E R , Vortrag und Rhythmus des französischen Verses in: ZFSL LXIV(1941), S. l f f . und S. 399ff. ; vgl. auch A. DATJZAT, Questions de prosodie et de rythme in: FM I V (1936), S. 97ff. ; und M. GRAMMONT, Le vers français, son évolution, ebenda, S. 109ff.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

vorher, daß dem Rhythmus nur Elemente intensiver Natur oder der Intensitätsakzent zugrunde liegen: Die betonten Silben wechseln in einer bestimmten Weise mit den unbetonten. GBAMMONT beweist, daß bei der Erzeugung des Rhythmus die Intensität, die Dauer und die Tonhöhe einwirken, und zwar alle in gleicher Weise. Oftmals indessen hält eine dieser drei Lautqualitäten den Platz der anderen durch Kompensation. Die Intensität z. B. kann fehlen: Wir haben rhythmische Akzente, die nur durch Dauer oder nur durch Tonhöhe bestimmt werden. Obgleich das Wesen der rhythmischen Elemente — wie es ersichtlich ist — unterschiedlich ist, leidet dadurch das Versmaß, das die Grundlage des Verses bildet, überhaupt nicht (denn Versmaß = Symmetrie und Vers = ebenso Symmetrie): es besteht weiterhin. Wenn wir die Verse hören, empfinden wir nicht, daß das Versmaß einmal musikalischer, ein andermal davon verschiedener Natur ist. Weil GBAMMONT seine Forschungen auf ein überaus reiches poetisches Material stützt, das er aus den Werken zahlreicher Schriftsteller gesammelt hat, hält er es für notwendig — wiederum in der Absicht, bestimmte tief verwurzelte Ansichten zu korrigieren —, einige französische Dichter, darunter die größten, vom Gesichtspunkt der Harmonie der Verse aus zu klassifizieren. Ich gehe nicht auf Einzelheiten dieser Analyse ein, sondern gebe mich damit zufrieden, mehr um der Kuriosität willen, die Namen der Dichter in der von GBAMMONT aufgestellten Reihenfolge (s. S. 436 der 3. Auflage) anzuführen: Racine, Hugo, Musset, Leconte de Lisle, Boileau, Lamartine. 1

Argotstudien

Wie ich bereits zu Beginn des vorliegenden Kapitels vermerkt habe, beschäftige ich mich hier auch mit den sogenannten Argots, genauer gesagt, mit den Arbeiten, die darüber geschrieben worden sind. Trotz der großen Unterschiede in der Auffassung und Interpretation des Argots wird von allen Sprachwissenschaftlern anerkannt, daß das wesentlichste Merkmal des Argots in seinem sondersprachlichen Charakter besteht, d . h . , das Argot ist einer g a n z b e s t i m m t e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n G r u p p e eigen. So erklärt es sich auch, weshalb ich diesen Abschnitt über das Argot als Anhang zu dem Kapitel „Die französische sprachwissenschaftliche Schule" bringe, deren Lehre auf dem Gedanken beruht, daß die menschliche Sprache eine soziale Tatsache ist. Da die Sprache in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft besteht, entwickelt sie sich unter dem Einfluß der gemeinsamen Lebensart der Menschen. Das Argot entsteht und lebt gerade dank dieser Gregebenheiten: Würden sich nicht mitten in einer Gemeinschaft 1

V g l . J . ACHER i n R L R L V I I

(1914),

S . 374FF., w o e i n g e h e n d d i e 2 . A u f l a g e

des

hier erörterten Werkes rezensiert wird. Diese Ausgabe ist von A. MEILLET besprochen worden in B S L X X (1913/14), S. 80ff. Über die 3. Auflage hat sich A . M E I L L E T U . a . g e ä u ß e r t i n B S L X X V ( 1 9 2 4 / 2 5 ) , F a s z . 2 , S . 104FF.: „ M . GBAMMONT

est le seul linguiste qui étudie à fond, et avec des principes assurés, l'emploi esthétiq u e d e l a l a n g u e . " ( S . 1 0 7 ) V g l . a u c h J . RONJAT i n R L R L X I I I ( 1 9 2 5 ) , S . 144FF.

Argotstudien

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kleinere Gruppen bilden, die auf speziellen Interessen beruhen und die folglich einen besonderen Charakter haben, könnte man sich die Existenz des Argots gar nicht vorstellen. Wie wir sahen, bevorzugen die französischen Sprachwissenschaftler in ihren Sprachforschungen die deskriptive oder synchronische Methode. Ebenso gehen die Autoren der Werke vor, die den Argots gewidmet sind. Diese können auch in Anbetracht ihres Wesens nur statisch studiert werden. Das ist ein weiterer Grund, der mich veranlaßt hat, am Ende des vorliegenden Kapitels die wissenschaftlichen Arbeiten über die Sondersprachen zu behandeln. Dabei werden wir sehen, daß die meisten Studien dieser Art von Franzosen verfaßt worden sind oder sich auf das französische Argot beziehen. Schon jetzt sei hervorgehoben, daß die ersten ernsthaften Versuche auf diesem Gebiet der Sprachwissenschaft von den Gelehrten kommen, die mit der französischen Schule enge Beziehungen gehabt haben. Zahlreiche und längere Abhandlungen liegen über das Argot vor.1 Wer, wie ich, kein Spezialist ist, dem fällt gerade auf diesem Gebiet eine richtige Orientierung schwer. Daher scheint es mir unerläßlich, daß ich auf die Hinweise und Werke anderer Forscher zurückgreife, um so mehr, da die meisten Leser dieses Buches nicht mit diesem Gebiet vertraut sein werden. Zunächst aber : Was heißt Argot ? Dieser Ausdruck bedeutet je nach den Umständen : 1. die Sprache der Verbrecher, Vagabunden u. a. ähnlicher sozialer Gruppen, zu denen im Deutschen „Unterwelt" gesagt wird und im Französischen „les bas-fonds de la société"; 2. das, was auch noch „Jargon" genannt wird, d. h. die Sondersprache bestimmter gesell1

I c h erwähne hier einen Teil davon : A. V A N G E N N E P , Essai d ' u n e théorie des langues spéciales in dem B a n d Religion, m œ u r s et légendes, II-e série, P a r i s 1908; A.DAUZAT, Les e m p r u n t s d a n s l'argot in : R P h F L X X V (1911), S. 181 ff. u n d 286fï. ; A. N I C E F O R O , Le génie de l'argot, Paris 1912, 2. Auflage; G . E S N A U L T , Les lois de l'argot i n : R P h F L X X V I I (1913), S. 161ff. ; X X V I I I (1914), S. 210ff. ; X L I I I (1929), S. 118ff. ; M A X K U T T N E R , Von der Geltung des Argot in : Philologisch-philosophische Studien. Festschrift f ü r E d u a r d Wechssler zum 19. Oktober 1929, Jena-Leipzig 1929, S. 346ff.; L E O S P I T Z E R , Z u m Problem des französischen Argot i n : NMon I (1930), S . 205ff. ( S P I T Z E R polemisiert hier mit M. K U T T N E R ) ; M A X K U T T N E R , Noch einmal Argot, ebenda, S. 339ff. ( K U T T N E R a n t w o r t e t in diesem Aufsatz S P I T Z E R ) ; W . v. W A R T B U R G , Vom U r s p r u n g u n d Wesen des Argot i n : GRM X V I I I (1930), S. 376ff.; A. N I C E F O R O , De l'„individuel" et du „social" dans le langage; L a personnalité et le langage; Le langage d u bas-peuple et le „ m o i " inférieur des individus et des sociétés i n : R I S IX—XI (1929/31), Bruxelles; A . D A U Z A T , Les m o t s d ' e m p r u n t d a n s l'argot i n : R P h F L X L I V (1932), S. 41 ff.; A. N I C E F O R O , Essai d ' u n e théorie biosociologique sur la vie des langages spéciaux i n : Anthropologie X (1932), P r a g ; M. V A L K H O F F , Argot en Bargoens, Groningen-Den HaagB a t a v i a 1933; M. C O H E N , A u t o r d u vocabulaire. Société et langage, Paris 1949; derselbe, N o t e sur l'argot i n : L E (1950), Sonderdruck 16 Seiten. Vgl. ferner C H . B A L L Y , Traité de stylistique française I (2. Auflage), S. 242fif.; J . V E N D R Y E S , Le langage, S . 295ff.; F R . S C H Ü R R , Sprachwissenschaft u n d Zeitgeist, Marburg a. L. 1922, S. 61 ff. Andere Arbeiten werden s p ä t e r n o c h i m Verlauf dieser Darlegungen erwähnt. Dennoch soll j e t z t schon g e n a n n t werden das B u c h von A. D A U Z A T , Les argots. Caractères, évolution, influence, Paris 1929 (die letzte Ausgabe ist v o m J a h r e 1946), das f ü r ein breiteres Leserpublikum alle F r a g e n bezüglich der Argots behandelt.

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schaftlicher Gruppen, wie Soldaten, Arbeiter, Studenten, Künstler, Schüler u.a.; 3. all das, was aus der Volkssprache in die Hochsprache kommt und was charakterisiert wird durch Natürlichkeit, Spontaneität, Affektivität usw. Die verbreitetste Bedeutung des Wortes „Argot", die wir auch die eigentliche nennen könnten, ist die unter Punkt 1 genannte. Was den Ausdruck „Jargon" betrifft, so verstehen die marxistischen Sprachwissenschaftler darunter die zur Gemeinsprache gehörende Sprechweise der Spitzen der herrschenden Klassen (des Adels in der Feudalordnung, des Bürgertums in der kapitalistischen Ordnung), die charakterisiert wird durch „eine Anzahl gewisser spezifischer Wörter, die die spezifischen Geschmacksrichtungen der Aristokratie oder der Oberschichten der Bourgeoisie widerspiegeln, eine gewisse Anzahl von Ausdrücken und Redewendungen, die sich durch Gesuchtheit, Galanterie auszeichnen und frei sind von den „groben" Ausdrücken und Wendungen der Nationalsprache; sie (die Jargons) haben schließlich eine gewisse Anzahl von Fremdwörtern". ( J . Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1951, S. 15-16.) Betrachten wir nun die hauptsächlichen Züge des Argots, so wie sie W. v. WARTBURG in dem in der Fußnote zitierten Aufsatz versteht, der nach meiner Ansicht den richtigen Gesichtspunkt in bezug auf dieses Sprachproblem bietet. Das Argot der Gauner hat seinen Ursprung in dem „Milieu", das in der Geheimsprache der Gauner aller Kategorien bedeutet ,,. . . ensemble des individus qui n'exercent aucun metier avouable, vivent des subsides de filles soumises et des produits de vol de toutes catégories". Es ist keine konventionelle, künstlich geschaffene Sprache 1 , sondern unterscheidet sich von den künstlichen Sprachen durch fol1

M. K T J T T N E R (vgl. die vorangehende Fußnote) geht noch weiter, wenn er die Meinung vertritt, daß zum Unterschied von der Literatursprache, die mehr oder weniger künstlich sei, das Argot eine „Natursprache" wäre, d. h. fast dasselbe wie die eigentliche Volkssprache. L. S P I T Z E R bekämpft diese Ansicht, indem er sich auf die Feststellungen der französischen Schriftsteller stützt. Er sieht im Argot eine „Ziersprache", ein Produkt, das absichtlich gebildet worden ist und bestimmte Wirkungen verfolgt: Wer Argot spricht, gibt sich darüber Rechenschaft, daß er aus der üblichen Gemeinschaft heraustritt, daß er sich von den anderen Menschen unterscheidet und daß er es gerade deshalb benützt. Somit liegt in einem gewissen Maße seitens der Argotsprecher eine ähnliche Einstellung vor wie die der Schauspieler auf der Bühne. Deswegen „erfaßt" das Argot nicht jedermann: Im Mund der Kinder, der Bauern, der außergewöhnlich ernsthaften Menschen und besonders der Fremden scheint es unnatürlich, weil die spezielle Lage dieser Gruppen von Sprechern ihnen nicht das Recht gibt, sich gegenüber der Gemeinsprache, die eine Art gesetzliche Norm darstellt, auf so freie Weise zu verhalten. (Die Bauern gebrauchen das Argot nicht wegen seines Ursprungs und der streng städtischen Natur dieser Sondersprache, die vor allem für das vielschichtige Leben der großen städtischen Zentren charakteristisch ist.) S P I T Z E R denkt in erster Linie an Menschen, die das Argot gebrauchen, ohne daß sie zur entsprechenden sozialen Gruppe gehören. Aber das, was er sagt, paßt in einem gewissen Maße selbst für die Individuen, die das Argot geschaffen haben und es pflegen: Auch diese „stellen sich in Positur", wenn sie das Argot vor Nichteingeweihten gebrauchen, nur daß es ihnen gut steht. Die Interpretation, die von S P I T Z E R vorgeschlagen wird, verrät seine ästhetische Auffassung (im Sinne V O S S L E R S ) über die Sprache im allgemeinen.

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gende Besonderheiten: 1. Es ist ein Idiom, das einer bestimmten Schicht der Gesellschaft, einer mehr oder weniger geschlossenen Gruppe von Individuen angehört. Doch ist es nicht deren einzige Sprache, im Gegenteil, es lebt neben der Gemeinsprache im Bewußtsein der betreffenden Menschen. 2. Man kann sich seiner bedienen, um Mitteilungen und Äußerungen, die nur für Eingeweihte bestimmt sind, vor Nichteingeweihten geheim zu halten. Dies ist zwar der wichtigste, nicht aber der einzige Zweck des Argots. 1 Aber nicht nur die Gauner, sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen, z. B. verschiedene Berufe, haben ihre Sondersprache. In den meisten Fällen handelt es sich um Bezeichnungen und Ausdrücke, die sich auf ihren Tätigkeitsbereich beziehen. Hier fehlt gewöhnlich das bewußte Element, d. h. der Wunsch, nur von den Berufskollegen verstanden zu werden. Manchmal indessen liegt auch bei denjenigen, die über diesen technischen Wortschatz verfügen, die Absicht vor, sich vor nicht eingeweihten Personen zu schützen. Wenn zwei Ärzte gezwungen sind, über den bedenklichen Zustand des Kranken in dessen Gegenwart zu sprechen, greifen sie auf die medizinische Fachsprache zurück, weil sie von dem Kranken nicht verstanden werden wollen. Hierher gehören auch folgende Sondersprachen: die Soldatensprache, die leicht mit der Gemeinsprache vermischt wird, weil der Militärdienst meist obligatorisch ist und längere Zeit dauert; dann die 1

Das ist die Ansicht zahlreicher Sprachwissenschaftler, der auch ich mich anschließe. Andere Forscher vertreten die Auffassung, daß das Argot ausschließlich das Produkt derjenigen ist, die es mit der Absicht gebildet haben, nicht von „Uneingeweihten" verstanden zu werden. Wahrscheinlich kommt daher der Gedanke, daß wir es mit einer künstlichen Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes zu tun haben, die willentlich von der entsprechenden gesellschaftlichen Gruppe geschaffen worden ist. In diesem Zusammenhang gebe ich einige Ansichten über das Argot wieder, die mir sehr richtig erscheinen und dazu dienen können, die von mir im Text gegebenen Erklärungen zu vervollständigen. M A B C E L C O H E N , Note sur l'argot in: B S L X X I (1918/19), S. 132ff., schreibt u. a.: „De tout ce qui précède il résulte que la notion: argot = instrument de défense du groupe, est une mauvaise explication finaliste. Nous y opposerons l'observation positive: l'argot est, comme est le compartimentage social." (loc. cit., S. 140.) „C'est que la société était autrefois plus compartimentée que maintenant: la caste faisait les horscastes. Il suffit de rappeler que les comédiens étaient excommuniés en France, le catholicisme était religion d'État. Les ouvriers avaient, en face des castes privilégiées, leurs associations secrètes de compagnonnage. Sociétés secrètes, et rivales sans cause. N'était-il pas naturel que des compagnons du tour de France qui, ayant même profession et mêmes intérêts, engageaient un duel au bâton avec tout camarade rencontré qui n'était pas de la même secte compagnonne — ce qui est bien agir au rebours de l'utilité — aient aussi parlé entre eux, sans utilité, des jargons spéciaux? — Les argots de métiers ambulants qu'a réunis M. Dauzat sont sans doute liés à des compagnonnages restreints. Argots de petits gens 'en route', il n'est pas étonnant qu'ils aient de multiples contacts avec les anciens argots des 'gens de la route', mendiants, vagabonds et voleurs de grand chemin." (ebenda, S. 140—141). Wir haben hier die soziologische Erklärung aller eigentlichen Argots. C O H E N ergänzt sie, indem er hinzufügt, daß nach der Auflösung der Ständeordnung es natürlich war, daß das Sprachmaterial des Argots sich in der französischen Gemeinsprache ausbreitete, wie wir später noch sehen werden.

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Studenten- und Schülersprache 1 , die in Frankreich weniger entwickelt ist als in Deutschland, wo sich das Leben der Studenten mehr noch als in Frankreich von dem Leben der anderen gesellschaftlichen Gruppen unterschied. Für alle diese Sprachen ist der geeignetste Ausdruck „Jargon" oder Sondersprache, so daß wir unter Argot nur die Sprache der verschiedenen Arten von Gaunern (im weitesten Sinne des Wortes) verstehen. 2 Nach dieser mehr äußeren Charakterisierung des Argots wollen wir sehen, welches seine rein sprachlichen Besonderheiten sind. Vom lautlichen, morphologischen und syntaktischen Standpunkt aus unterscheidet es sich durch nichts von der Gemeinsprache. Hier ist es ein echtes Französisch. 3 Unterschiede gibt es im semantischen Bereich oder, genauer gesagt, im Wortschatz. Dadurch unterscheidet sich das Argot grundlegend vom Dialekt, der von der Gemeinsprache nicht nur in lexikalischer Hinsicht verschieden ist, sondern auch in lautlicher und oftmals sogar morphologischer Beziehung. Außerdem kann der Dialekt von jemandem ausschließlich gebraucht werden. (Wie viele Menschen gibt es, die ihr Leben lang nur Dialekt sprechen!) Das Argot dagegen dient nur zu Gesprächen mit „Berufskollegen". Um sich auch mit anderen Menschen zu verständigen — und jeder muß mit Menschen in Verbindung treten, die außerhalb seines engen Tätigkeitsbereiches stehen —, sind die Argotsprecher gezwungen, ob sie wollen oder nicht, auf die Gemeinsprache, evtl. auf den Dialekt zurückzugreifen. Die Quelle für die meisten Argotausdrücke ist der Affekt. 4 Die gewöhnlichen Wörter drücken nicht immer treffend das aus, was ein Argotsprecher sagen möchte, der, beherrscht von affektiven seelischen Regungen, das Bedürfnis nach einer unbeschränkten Handlungsfreiheit und implicite einer Sprechfreiheit hat. Aber dieses Bedürfnis wird niemals völlig befriedigt: Ständig vom Affekt beherrscht, sucht der Sprecher expressive Wörter. Dies ergibt, daß das Argot sich unaufhörlich erneuert. Der „stärkste" Ausdruck wird mit der Zeit abgenutzt, 1

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I m Falle der Studenten und Schüler lag in einem gewissen Grade die Absicht vor, von den Professoren, Pädagogen, Eltern usw. nicht verstanden zu werden: Zwischen ihnen bestanden ziemlich ähnliche Beziehungen wie zwischen den Verbrechern und den öffentlichen Polizeiorganen, weil die Studenten und Schüler v o n damals sich vor den Professoren usw. „fürchteten". Sie sahen in ihnen, wenn nicht eine Art Feinde, so doch zumindest Menschen, die ihren Interessen entgegenstanden. Die Schülersprache (in sehr weitem Sinne) ist in ihrem Wesen mit dem eigentlichen Argot verwandt durch das „Gezierte", auf das S p i t z e r hinweist, durch die Tendenz, sich in „Positur" zu stellen, die Nichteingeweihten zu verblüffen (dies gilt besonders für die Sprache der Studenten und älteren Schüler). Auch andere gesellschaftliche Gruppen haben ihre Sondersprache oder konnten sie haben. Vgl. E. S c h u l t z e , Sklaven- und Dienersprachen (sogenannte Handelssprachen) in: Sociologus I X , S. 377ff. Diesen Vorschlag macht L. S p i t z e k , loc. cit., S. 270, Fußnote 2, der ich entnehme, daß K. v. E t t m a y e r in dem bereits besprochenen Werk (s. Kap. III, S. 269ff.) Über das Wesen der Dialektbildung so vorgeht. Man darf nicht vergessen, daß ich bei dieser gesamten Diskussion in erster Linie an das französische Argot denke. Vgl., was über diesen Ausdruck in den Abschnitten gesagt wird, die die Ansichten M e b i n g e r s (Kap. I, S. 96ff.) und B a l l y s (Kap. IV, S. 366ff.) behandeln.

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und im vorliegenden Fall geschieht dies sehr schnell. Sein Platz muß von einem anderen eingenommen werden, der demselben Schicksal unterliegt. Die Wörter, die unbrauchbar geworden sind, gehen unter oder dringen in die Gemeinsprache ein, gewöhnlich in die der breiten Masse. So erklärt sich bei Ausdrücken für bestimmte Begriffe der außerordentliche Reichtum des Argots. W . v. W A B T B U K G , der Verfasser des hervorragenden Französischen Etymologischen Wörterbuches, hat 41 Wörter für „Kopf", 36 für „gehen", 81 für „schlecht" registriert. Das am meisten angewandte Mittel für die Bereicherung des Argotwortschatzes bildet die sogenannte synonymische Ableitung: Hat irgendein Wort einen metaphorischen Sinn erhalten, so gelangen mit der Zeit alle seine Synonyma wie auch viele andere Wörter, die nur verwandt mit ihm sind oder zum selben Tätigkeitsbereich gehören, dazu, daß auch sie die entsprechende übertragene Bedeutung erhalten. Frz. polir z. B. bedeutet „stehlen", und obgleich es in etymologischer Beziehung nichts zu tun hat mit polir „reinigen", wurde es als mit diesem identisch betrachtet. Von diesem Augenblick an begannen fourbir, nettoyer und andere bedeutungsähnliche Wörter mit polir (im zweiten Wortsinn) „stehlen" zu bedeuten. Ebenso hat man für „Kopf", gleichgültig aus welchen Gründen, poire gesagt. Sofort wurden andere Namen für Früchte wie pêche, pomme, citron usw. mit dem gleichen Inhalt gebraucht. 1 Ein anderes Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes bilden die Entlehnungen, die aus den Argots der benachbarten Länder vorgenommen wurden. Denn die hier betrachtete Erscheinung ist nicht ausschließlich französisch. Alle oder fast alle europäischen Länder besitzen Sondersprachen, die von Gaunern u. a. geschaffen wurden und Bezeichnungen aufweisen, die von einem Land zum anderen verschieden sind: deutsch „Rotwelsch", ital. „gergo" und „lingua furbesca" oder „furbesco", span. „germania" und „calö", portg. „caläo", engl, „cant" und „slang", holländ. „bargoens" usw. Da die Verbindungen zwischen den Gaunern der verschiedenen Gegenden sehr eng sind, gibt es auch Elemente, die den verschiedenen Argots gemein sind und sie einander nähern. Es kann von einer wirklichen internationalen Sprach- und Sachgemeinschaft auf diesem Tätigkeitsbereich gesprochen werden: Die so zahlreichen und schnellen Transportmittel tragen in außerordentlichem Maße bei zur Ausbreitung der „Operationen" über die politischen Grenzen hinaus und folglich zur Unterhaltung sehr reger „beruflicher" und sprachlicher Beziehungen. In bezug auf die Soldatensprache gibt es folgendes zu beobachten : Vor dem 1. Weltkrieg enthielt sie nur mundartliche Elemente. Die Rekruten, die zum großen Teil aus kleinen und unbedeutenden Ortschaften kamen, scheuten sich, Wörter ihres Heimatdialektes zu gebrauchen. Während des 1. Weltkrieges erhielt 1

Diese Beispiele habe ich aus A. DATJZAT, Les argots, S. 138, genommen, wo eingehend in der oben gezeigten Weise die synonymische Ableitung erörtert und definiert wird, die in der Gemeinsprache, besonders in der Volkssprache, ziemlich verbreitet ist. W. v. W A B T B U B G sagt in seinem Aufsatz über die Volksetymologie, daß über die „dérivation synonymique" zuerst M . S C H W Ö B und G . G U I E Y S S E in Étude sur l'argot français, MSL VII (1889—1892), S. 33ff., gesprochen haben.

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die Soldatensprache eine wichtige mundartliche Zufuhr. Die ungezwungene Atmosphäre und das Fehlen jeder Schüchternheit, die charakteristisch für das Leben in den Schützengräben waren, die Tatsache, daß viele Soldaten zwischen vierzig und fünfundfünfzig Jahre alt waren, folglich perfekte Kenner ihrer entsprechenden Mundart, und daß sie nicht wie die Rekruten von zwanzig Jahren leicht geneigt waren, auf ihre sprachlichen Besonderheiten zu verzichten, sowie auch andere günstige Umstände erleichterten die Einführung zahlreicher regionaler Elemente in die Soldatensprache. Vergessen wir ferner nicht, daß die Sondersprachen, ganz gleich welcher Art, sich nicht wesentlich von den Gemeinsprachen unterscheiden. Infolgedessen können die Mittel, die für die Bereicherung des Wortschatzes zur Verfügung stehen, auch von den Argots verwendet werden, und sie sind auch verwendet worden: die Ableitung und Zusammensetzung, die Abkürzung, die Metathese, das Anagramm 1 u. a. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß im Argot die beiden letztgenannten Mittel viel häufiger erscheinen als in der Gemeinsprache und sie zugleich einen mehr oder weniger bewußten Charakter besitzen. Sie werden nämlich mit der Absicht angewandt, bestimmte Wirkungen zu erzielen, was in der gewöhnlichen Rede nicht festgestellt wird. Weiter oben habe ich gesagt, daß die meisten Argotausdrücke untergehen, und zwar ziemlich schnell, weil sie nicht mehr den ständig lebendigen und affektiven Impulsen der Sprecher genügen. Einige von ihnen indessen werden in die Umgangssprache aufgenommen, wo sie sich mit der Zeit einbürgern und dazu gelangen, nicht mehr als solche erkannt zu werden. Natürlich ist die Aufnahme von Argotelementen von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen verschieden, aber nur in quantitativer Hinsicht, denn alle Gruppen zeigen sich geneigt, Argotausdrücke anzuwenden, wenn die Lage dies erfordert. Heute sind im gesprochenen Französisch Wörter üblich wie se balader „flâner", balancer „jeter", balle „franc", aubert „argent", dèche „misère" u. a.; sie alle haben ihren Ursprung im Argot. Einige bewahren noch etwas von ihrem anfänglichen Charakter und werden daher mit gewissem Vorbehalt angewandt. Aber die Gewohnheit bewirkt, daß die Erinnerung an ihre Herkunft allmählich bis zum völligen Verschwinden ausgelöscht wird. Auf diese Weise wird das Argot teilweise gerettet. Es ist seine einzige Möglichkeit, nicht spurlos unterzugehen. Die Tatsache, daß einige Argotausdrücke in die Gemeinsprache aufgenommen werden, andere aber nicht, erklärt sich durch die spezifischen Eigenschaften eines jeden dieser Ausdrücke. Die Argots haben ein viel höheres Alter als zu erwarten wäre. Daher verfügen sie auch über Sprachmaterial dieser Art, das noch aus dem Mittelalter stammt. 1

Das heißt die Umkehrung der natürlichen Ordnung der Laute eines Wortes; z. B . : Lorcefé < La Force (der N a m e eines Pariser Gefängnisses), linspré < le prince usw. Dieses Verfahren wurde systematisch im Argot der Fleischer v o n Vilette angewandt, das loucherbem oder largonji genannt wurde, weil das Substantiv boucher „Fleischer" als Anagramm loucherbem ergab (d. h. b-oucher mit 6- am Ende, dem ein -ein hinzugefügt wurde und einem an den Anfang des Wortes gestellten 1-. Jargon wurde ebenso verändert, indem an den Anfangsbuchstaben, der nun ans E n d e gelangte, ein -i statt -era angehängt wurde, daher jargon > largonji).

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So bemerkt W . v. WAETBTTRG in dem bereits analysierten Aufsatz, daß wir Argotelemente bereits in dem Jeu de St. Nicolas von Jean Bodel aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts finden, und zwar mehrere unverständliche Strophen, die in das Werk eingestreut sind. Dann haben wir noch den großen Dichter des 15. Jahrhunderts François Villon, der ungefähr zehn Balladen in einer Sondersprache1 geschrieben hat, die „jobelin" genannt wird. So hielt das Argot seinen Einzug in die Literatur, wo es weiterhin bis in unsere Tage erscheint.2 Es genügt, Jean Richepin mit seinen berühmten Chansons des gueux zu erwähnen. Aus dem 15. Jahrhundert ist uns ein außerordentlich wichtiges Dokument des Argots überliefert. Zwischen dem 3. Oktober und dem 5. Dezember 1455 fand eine Gerichtsuntersuchung gegen die „coquillards" oder „compagnons de la Coquille" statt, eine zahlenmäßig starke Bande von Verbrechern mit Verzweigungen in ganz Frankreich. Dank der Informationen, die einer von ihnen gab, konnte sogar beim Prozeß von dem Gerichtsschreiber (in Dijon) ein Glossar ihrer Geheimsprache aufgestellt werden. Es ist das erste eigentliche Denkmal des Argots. Villon hatte Verbindungen mit zwei „coquillards", wie es aus Dokumenten seiner Zeit ersichtlich ist. So ergibt es sich, daß der „Jargon", der in seinen Balladen gebraucht wird, dem der Coquillards ähnlich ist. Die folgenden Jahrhunderte bieten bald mehr, bald weniger Argot, sei es in speziellen Arbeiten, sei es in literarischen Werken, deren Verfasser das Leben und die Sprache von Gaunern aller Art kannten. Es hat keinen Zweck, sie hier aufzuzählen, da genügend allgemeine und summarische Angaben darüber bereits gemacht worden sind. Wer sich näher mit dieser Frage beschäftigen will, hole sich Rat bei L. SAINÉAN, Les sources de l'argot ancien, 2 Bände, Paris 1912. SAINÉAÏT untersucht alle Quellen des sogenannten alten französischen Argots (von den Anfängen bis 1850)3 und gibt sie teilweise wieder. Weiterhin veröffentlichte er im Jahre 1907, ebenfalls in Paris, einen Band, der als Einführung für diese zwei genannten Bände betrachtet werden kann und den Titel trägt L'Argot ancien (1455—1850). Ses éléments constitutifs, ses rapports avec les langues secrètes de l'Europe méridionale et l'argot moderne. Avec un appendice sur l'Argot jugé par Victor Hugo et Balzac. Für die anderen romanischen Argots verfügen wir über weniger und nicht so alte Informationen. In Italien haben wir Modo novo da intendere la lingua zerga cioè parlar furbesco, Venedig 1549; Vocabolario délia lengua zerga, Venedig 1556; 1

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Die Anfangsverse der ersten Ballade lauten: „A Parouart, la grand mathe gaudie Ou accoliez sont duppez et noirciz E t par anges suivant la paillardie Sont greffiz et prinz cinq ou six." Vgl. auch A. ZiwÈs en collaboration avec ANNE DE BEBCY, Le jargon de Maître François Villon, 2 Bände, Paris 1954. W. v. WARTBUBG, ZRPh L X I (1941), S. 388, sagt, daß in Splendeurs et misères des courtisanes und in anderen Romanen von BALZAC (die WABTBUBG nicht nennt) sich Argotausdrücke finden. Vgl. auch N. E . TAXJBE, Étude sur l'emploi de l'argot des malfaiteurs chez les auteurs romantiques, Uppsala 1917. Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben wir das Argot, das wir als modernes bezeichnen können.

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Kapitel IY. D i e französische sprachwissenschaftliche Schule

und Libro zergo da interpretare la lingua zerga, Venedig 1575 1 , von PIETRO und Giov. MAEIA SABIO LIBRO. Doch Spuren des italienischen Argots finden wir auch im 15. Jahrhundert: L. SAINJSAN (L'argot ancien, S. 12) sagt, daß die ersten „Gaunerausdrücke" in einem Brief vom Jahre 1472 erscheinen, der von dem Dichter Luigi Pulci an Lorenzo Magnifico gerichtet wurde und von einer Liste mit Argotwörtern begleitet war, die Pulci erklärt. In Spanien sind erst später Äußerungen auf diesem Gebiet anzutreffen. L. SAINILUST (op. cit., S. 13) gibt uns die notwendigen Informationen: 1609 wurde in Barcelona Romances de germania de varios autores . . . veröffentlicht. Es enthält mehrere Romanzen im Argot sowie ein Glossar mit der Erklärung der entsprechenden Ausdrücke. Außerdem sind im Don Quijote von Cervantes und in zahlreichen Schelmenromanen (von der Art des Lazarillo de Tormes, der erstmals 1554 erschien) spanische Argotausdrücke anzutreffen. Es gab auch ein rumänisches Argot, wie es nicht anders zu erwarten ist in Anbetracht der alten Lebensbedingungen in den großen Städten (in erster Linie und anfangs fast ausschließlich in der Hauptstadt des Landes), die ziemlich ähnlich mit denen der westeuropäischen Großstädte waren. Es war jedoch weniger entwickelt als das französische und selbst das italienische Argot, und zwar aus Gründen, die hier nicht näher aufgezeigt zu werden brauchen; denn es darf nicht übersehen werden, daß wir es mit einem ausgesprochen städtischen Produkt im modernen Sinne des Wortes zu tun haben. Das rumänische Argot trägt (genauer gesagt trug) den Namen „(limbä) päsäreascä" oder ,,limba ciriitorilor" (dieser Name erscheint erstmals bei G. BARONZI in Limba rominä §i tradifiunile ei, Bräila 1872). Die erste Bezeichnung war verbreiteter und hat sicherlich volkstümlichen Ursprung, wie es sich auch daraus ergibt, daß dem Adjektiv päsäreascä (oft und allein gebraucht mit substantivischem Wert) das Adverb päsäre§te (in der sehr häufigen Formel a vorbi päsäre§te „unverständlich sprechen") entspricht. Eine der möglichen Erklärungen wäre die, daß die Vögel nicht sprechen und daß folglich auf „Vogelweise" sprechen so viel bedeutet wie überhaupt nicht oder unverständlich sprechen, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft. Die Kinder von einst (ich beziehe mich auf die der armen oder bescheideneren sozialen Schichten) bemühten sich, unverständlich zu sprechen, wenn sie auf Unbekannte Eindruck machen wollten oder wenn sie etwas im Schilde führten, was die erwachsenen Familienmitglieder mißbilligen würden. Ihre „Vogelsprache" bestand, soweit ich mich erinnere, in der Veränderung der Wörter mit Hilfe des Anagramms nach einem System, das sie sich (oder ihre Vorgänger) sicherlich in der Schule angeeignet hatten. Vergleiche auch, was ION GHICA sagt in §coala acum cincizeci de ani (in: Scrisori cätre V. Alecsandri, Bucuresti 1905, S. 72). Der erste rumänische Autor, der Argotausdrücke (aus der Sprache der Gauner usw.) registrierte, war N. T. ORÄSANTJ in Intemnifärile mele politice, Bucuresti 1861 (siehe ihre vollständige Liste bei I. VERBUTA, D a c o r X I [1948], S. 1 4 3 - 1 4 4 ) . 1

Vgl. G. I. ASCOLI, Kritische Studien zur Sprachwissenschaft, Weimar 1878, S. 149. In allen weiter oben wiedergegebenen Titeln sind „zerga" und „zergo" mundartliche (venezianische) Varianten des ital. „gergo" („Argot").

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Ungefähr zur selben Zeit gebrauchte N. F I L I M O N in „Nenorocirile unui slujnicar" drei gleichbedeutende Argotausdrücke (bodîrlâu, hîrdau, pîrnaie) für „Gefängnis" und aus der Polizeisprache den Ausdruck a povä\ui pàrinteçte „sehr ohrfeigen". Es folgten G. B A B O N Z I , Limba romînà §i tradifiunile ei, Bräila 1872, S. 149—151 (dieser Autor wandte offensichtlich zum erstenmal die Bezeichnung „limba cîrîitorilor" für Argot an); V . S C Î N T E I E , Çimechereasca (in der Zeitung Diminea^a, 21. November 1906); B A B B U L I Z Ä B E A U U mit zahlreichen Aufsätzen, veröffentlicht in ALA (die Jahrgänge 1922 und 1923) und in Cuvîntul liber (25. November 1933) usw.; S A U L G O L D Ç T E I N B Î R L A D , Argot-ul çcolâresc in: Arhiva (Iasi) X X X I (1924), S. 279ff. ; Mm A TT, POP, Contribuai la studiul limhilor speciale din Cornova: Päsäreasca in AÇRS X (1932), S. 443ÉF.; M. N E G B U , Argot-ul in: ALA (5. Januar 1936); V. COTA, Argot-ul apaçilor. Dictionarul limbii çmecherilor, Bucuresti (o. J.) ; A L . V . D O B B E S C U , Argotul. Argotul pungaçilor. Argotul sportiv. Argotul modern, Bucuresti 1938 ; u. a. Die meisten Studien über das rumänische Argot unter seinen verschiedenen Aspekten erschienen in BPh I I (1935), IV (1937), V (1938), I X (1942), X (1943) und stammen alle von dem Autor des vorliegenden Buches und von seinen Schülern. Weiterhin sind zu nennen BL I I (1934), IV (1936), V (1937) mit den Beiträgen von A L . G B A U B , der solche Studien auch veröffentlichte in G S VI (1933/34) und VRom, Juli 1937; Dacor VII (1931-1933), X I (1948); GS VII (1937); Ro L H (1926); Minerva, Iasi (1928). Hinzuzufügen wäre noch I O B G U I O B D A N , Stilistica limbii romine, Bucuresti 1944, S. 339ff. Ein reiches Argotmaterial, künstlerisch bearbeitet, finden wir in dem Roman „Groapa", Bucuresti 1957, v o n EUGEN BABBU.

Es sei noch erwähnt, daß auch H A S D E U das Argot aus theoretischen Erwägungen betrachtet (s. B. P . H A S D E U , Cuvente den bäträni, ausgewählt und mit einer Einführung und mit Anmerkungen versehen von J . B Y C K , Bucuresti 1 9 3 7 , S. 2 0 0 F F . ) . Die Studien über das französische Argot sind sehr zahlreich. Zusammen mit den Arbeiten, die nur Sprachmaterial enthalten, hatte ein Bibliograph bis zum Jahre 1901 die bedeutsame Zahl von 365 Titeln registriert. Und dennoch sind bis zu jenem Jahr die einzigen Untersuchungen, die es verdienen, beachtet zu werden, die von F B . M I C H E L , Études de philologie comparée sur l'argot, Paris 1 8 5 6 , und M A B C E L S C H W Ö B et G E O B G E S G U I E Y S S E , Étude sur l'argot français in: M S L VII ( 1 8 8 9 - 1 8 9 2 ) , S . 33FR. 1 Über das zuerst genannte Buch schreibt L . S A I N É A N in L'Argot ancien, S. I I : Es ist „jusqu'ici le seul qui considère l'argot dans son ensemble et il reste le point de départ des études ultérieures", obgleich es nicht mehr den gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Forderungen entspricht. M I C H E L untersuchte das französische Argot im Vergleich zu denen in Spanien und in Italien. In der Studie von S C H W Ö B und G U I E Y S S E wurde erstmals die streng wissenschaftliche Methode angewandt, so wie sie von den Vertretern unseres Faches in den Arbeiten über die verschiedenen Sprachen des Erdballes festgelegt worden war. Für das italienische Argot zitiert G . I. A S C O L I , Kritische Studien . . ., S. 1 4 8 , 1

In demselben Band (S. 168ff. und S. 296ff.) zeichnet SCHWÖB allein als Autor der Studie Le jargon des Coquillards, von der er uns sagt, daß sie die Fortsetzung derjenigen sei, die er zusammen mit GUIEYSSE verfaßt hatte.

28 Iordan, Born. Sprachwissenschaft

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

B . B I O N D E L L I , Delle lingue furbesche in: B . E , Milano 1846, S. 81 ff., und Studii sulle lingue furbesche, Milano 1846, wieder abgedruckt in dem Band Studii linguistici, Milano 1856 (das Kapitel über „Ursprung, Ausdehnung und Bedeutung der Gaunersprache "). 1

Lazare Sainéan (1859—1934) Von den Argots des romanischen Sprachbereiches sind die von Frankreich am bekanntesten. Sie sind eingehend studiert worden. Ein unvergängliches Verdienst erwarb sich auf diesem Gebiet L A Z A R E S A I N É A N , der, nachdem er in Rumänien mehrere Werke über Probleme der rumänischen Sprache veröffentlicht hatte 2 , sich im Jahre 1900 in Paris niederließ und die Erforschung der französischen Argots zu einer wirklichen Fachwissenschaft, so könnte man sagen, erhoben hat. A. D A T T Z A T stellt in Les Argots, S. 25, fest: „L'impulsion décisive f u t donnée aux études argotiques par M. Lazare Sainéan, qui s'attacha d'abord à l'ancien argot des malfaiteurs français (antérieur à 1850). Il débrouilla la matière dans l'Argot ancien . . .". In L'Argot ancien3 beschäftigt sich S A I N É A N mit dem alten Argot, das er in die Zeit von 1455 bis 1850 setzt. Auf Seite I I I charakterisiert der Verfasser sein Werk wie folgt: „La présente étude est la première qui traite de l'argot dans son développement chronologique. Chez Fr. Michel le passé et le présent se confondent : les remarques faites par Schwöb s'appliquent exclusivement à la phase contemporaine de l'argot." Und etwas später sagt er: „Mon travail est purement linguistique; j'ai délibérément laissé de côté les considérations historiques et sociologiques." Daran schließt sich das eigentliche Studium mit den folgenden Kapiteln an : die Charakterisierung des Argots, seine ursprünglichen Elemente (die Verfahren bei der Bildung von Wörtern: lautliche, morphologische und semantische), entlehnte Elemente (aus den romanischen Sprachen und n u r daraus), der Einfluß des Argots. Als eine Fortsetzung dieses Buches muß Les sources de l'argot ancien betrachtet werden. Um dem Leser eine eigene Forschung zu erleichtern, stellt ihm S A I N É A N ein sehr reiches sprachliches Material von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1850 zur Verfügung. Fast die Hälfte des zweiten Bandes (über 200 Seiten) bietet ein etymologisches Glossar des alten Argots. Derselbe Autor veröffentlichte in Paris im Jahre 1920 ein Werk, betitelt Le langage parisien au XIX-e siècle, das in vieler Hinsicht als Fortsetzung der vorangehenden Werke betrachtet werden kann. Im ersten Band von Les sources de 1

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Eine neuere Studie über das italienische Argot (aus dem 16. und 17. Jahrhundert) ist die von R . R E N I E B , Cenno sull'antico gergo furbesco nella letteratura italiana in: Miscellanea di studi critici édita in onore di Arturo Graf, Bergamo 1903. Vgl. auch die wichtige moderne Bibliographie des italienischen Argots von B A C C E T T I P O L I R O S S A N A : Saggio di una bibliografia dei gerghi italiani, Padova 1953. L . S A I N É A N veröffentlichte unter seinem rumänischen Namen L . Ç A I N E A N U bedeutende Werke wie Istoria filologiei romine, Basmeie romîne, Influenza orientalä asupra limbii çi culturii romîne u. a. Vgl. die Rezensionen von P. M E Y E R in Ro X X X V I I (1908), S. 465 ff.; O. D R I E S E N in A S N S C X X I I I (190 9 ) , S. 198ff.; und A. T H O M A S in J S (1909), S. 437ff.

Lazare Sainéan

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l'argot ancien wurde dessen baldiges Erscheinen angezeigt unter dem Titel L'argot moderne ou le langage populaire parisien (1850—1900). Eléments sociaux, formation et développement linguistique} SAINÉAN vertritt in demselben Band von Les sources . . ., S. X , in gewisser Weise die Identität des modernen Argots mit der Pariser Volkssprache. Die Vermischung des (alten) Argots mit der Pariser Volkssprache erklärt sich nach SAINÉAN durch die immer engere Berührung zwischen den verschiedensten sozialen Gruppen. Den Argotelementen sind zahlreiche Beiträge der Sondersprachen und der provinziellen Mundarten hinzugefügt worden. Alle diese bewirkten, daß die Pariser Volkssprache in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentliche Veränderungen erfuhr und daß sie in den Augen unseres Verfassers in großen Linien mit dem identisch wurde, was er „modernes A r g o t " nennt. Wichtig ist u. a. die Tatsache, daß die Pariser Volkssprache mächtig auf die literarische Sprache einwirkt. Das Ziel der Arbeit Le langage parisien . . . besteht darin, die fortschreitende Entwicklung der Volkssprache von Paris zu verfolgen, die sozialen Faktoren zu prüfen, die an der Herausbildung ihres Wortschatzes beteiligt sind, die Neuschöpfungen, die expressiven Konstruktionen und originellen Bilder, die ihr Kraft und Gestalt gegeben haben, herauszustellen, ihre Ausdehnung außerhalb von Paris und Frankreich zu zeigen sowie den Einfluß, der von ihr auf die gegenwärtige Gemeinsprache ausgeübt wird. Der Autor gelangt auf Grund seiner Forschungen zu der Feststellung, daß die Wörterbücher von dieser lebendigen und reichen Sprache fast nichts registrieren, so daß sie einen aristokratischen Geist bezeugen, der dem des 18. Jahrhunderts ähnlich ist. Das Wörterbuch der französischen Akademie ist nach seiner Meinung von der sprachlichen Realität heute weiter entfernt als am Ende des 17. Jahrhunderts, als seine erste Ausgabe erschienen war. Was das studierte sprachliche Material betrifft, so benützte SAINÉAN U. a. verschiedene Sammlungen von sogenannten fehlerhaften Wendungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die er in seiner vorhergehenden Arbeit vernachlässigt hatte. Natürlich beobachtete er vor allem aufmerksam die sprachliche Realität, so wie sie von den verschiedenen Berufsgruppen (darunter von den Fleischern und Gauklern) geboten wurde. Nach der ins einzelne gehenden Darbietung aller Aspekte der Pariser Volkssprache (Aussprache, Syntax, Wortbildung, Wortschatz, Semantik) gelangt der Autor zu dem Schluß, daß diese Sprache einerseits durch eine konservative Tendenz charakterisiert wird, weil sie noch zahlreiche Archaismen bewahrt, aber andererseits auch durch eine große Beweglichkeit in dem Sinne, daß sie Schritt für Schritt der sozialen Entwicklung folgt, die klar in ihr widergespiegelt wird. (Auf die engen Verbindungen zwischen den 1

A. DAUZAT (Les argots, S. 25) schreibt: „ L a langue populaire contemporaine, ses langages de métiers, leur pénétration par l'argot des malfaiteurs ont fait l'objet d'un ouvrage de M. Sainéan, Le langage parisien au X l X - e siècle (1920), qui doit être considéré comme un premier essai de défrichement, avec quelques bons jalons, d'un domaine immense et encore mal, sinon peu exploré."

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

sprachlichen und den sozialen Fakten weist S A I N É A N besonders hin, wodurch er an F. B R U N O T S Histoire de la langue française erinnert.) S A I N É A N beschäftigte sich auch mit dem Argot der Soldaten während des 1. Weltkrieges. Er veröffentlichte einen Aufsatz in der Zeitung Le Temps (vom 29. März 1915), der ein starkes Echo an der Front fand. So erhielt der Verfasser zahlreiche Briefe aus den Schützengräben und verschiedene Schreiben von Personen, die die spezielle Sprache der Soldaten genau kannten. Auf der Grundlage dieses Materials schrieb er L'Argot des tranchées. D'après les lettres des poilus et les journaux du front, Paris 19151, worin er nur „des vocables relativement récents où des créations de la guerre actuelle, produits immédiats de la vie des tranchées" (S. 31) studiert. Der Autor ließ absichtlich all das beiseite, was sich in den Sammlungen des Pariser Argots findet, da dies schon bekannt war. Interessant ist die Feststellung, daß der Krieg von neuem Ausdrücke in Umlauf gebracht hatte, die bis dahin nur in besonderen Milieus Verwendung gefunden hatten. Der eigentlichen Studie folgen die „Dokumentationsstücke" (Briefe der Soldaten und Zeitungen, die an der Front verfaßt worden waren, dann ein kleines Glossar) 2 . In enger Verbindung mit den Arbeiten über das Argot stehen S A I N É A N S Forschungen über die Sprache Rabelais'. Es ist bekannt, daß das Werk dieses berühmten französischen Schriftstellers auch eine ungewöhnlich große sprachwissenschaftliche Bedeutung besitzt durch den außerordentlichen Reichtum des gebrauchten Wortschatzes. Neben zahlreichen Eigenschöpfungen und Entlehnungen, die aus der Sprache aller sozialen Gruppen genommen wurden, begegnen uns bei Rabelais auch Argotausdrücke. So erklärt sich auch das Interesse, das diesem Schriftsteller sowohl von den Literaturhistorikern als auch von den Sprachwissenschaftlern entgegengebracht wird. Für uns sind in diesem Zusammenhang nur die Sprachwissenschaftler wichtig, so beispielsweise L. S A I N É A N mit seinem zweibändigen Werk La langue de Rahelais. I : La civilisation de la Renaissance ; I I : Langue et vocabulaire, Paris 1922/23.3 In dem zweiten Band wird auch das Argotmaterial in der Sprache Rabelais' untersucht. 1 2

3

Vgl. M. C O H E N , B S L X X ( 1 9 1 6 ) , S . 69FF.; R . G A U T H I O T , ebenda, S . 7 5 . Indem er sich auf das in diesem Buch von S A I N É A N gesammelte Material stützt sowie auf das, was er selbst (in Zeitungen und französischen Kriegsliedern) gesammelt hat, veröffentlichte der deutsphe Linguist OTTO H . B B A N D T einen Aufsatz, der den Titel trägt Von der Sprache des Poilus in: NMon I (1930), S. 399ff. Diese Arbeit wurde im Auftrage der bekannten Société des études rabelaisiennes geschaffen, die im Jahre 1903 die Revue des études rabelaisiennes begründete. Später wurde diese Zeitschrift in die Revue du seizième siècle (1913—1933) umgewandelt, Herausgeber: J E A N P L A T T A R D . Diese Gesellschaft besorgt auch die Ausgabe der Gesamtwerke von Rabelais (die ersten zwei Bände davon erschienen 1912/13 unter der Leitung von A B E L L E F B A N C ) . Vgl. den Forschungsbericht von P. R A C K O W , Der gegenwärtige Stand der Rabelais-Forschung in: GRM X V I I I (1930), S. 198ff. und S. 277ff., in dem reiche und vielfältige Informationen über die Tätigkeit der Romanisten auf diesem Gebiet gegeben werden. Einige von ihnen besitzen auch für das Problem des Argots Interesse. Von den im vorliegenden Buch aufgeführten Linguisten, die sich mit Rabelais beschäftigt haben, muß

Albert Dauzat

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Außerdem können hier noch andere Werke von S A I N É A N angeführt werden, in denen er vielfach auch das Sprachmaterial des Argots mit betrachtet, obgleich in diesen Werken andere Fragen behandelt werden. S A I N É A N zeigte seit Beginn seiner Forschungen über die französische Sprache eine natürliche Neigung für die mehr oder weniger spontanen Erzeugnisse des Affekts und der Volksphantasie. So entstanden : La création métaphorique en français et roman, Band I, Halle a. d. S. 1905, und Band II, ebenda 1907 in denen die metaphorischen Namen der Haustiere 2 studiert werden, und das berühmte Werk Les sources indigènes de l'étymologie française, 3 Bände, Paris 1925—19303, worin der Autor beständig und häufig mit Erfolg ein Prinzip anwendet, das er schon ausgesprochen hatte in La création métaphorique II, S. VII. „Faute d'une étymologie positive latine ou germanique, c'est dans les éléments originaux des langues romanes, dans leur activité créatrice ou simplement fécondante, qu'il faudra chercher la solution de la plupart des problèmes qui ont résisté jusqu'ici à l'investigation étymologique."

Albert Dauzat A L B E R T DAUZAT nimmt durch seine zahlreichen Studien einen vorderen Platz in der Erforschung des Argots ein. Ich werde in chronologischer Reihenfolge seine hauptsächlichsten Arbeiten auf diesem Gebiet aufzählen. In Les Argots de métiers franco-provençaux, Paris 19174, erforscht er die frankoprovenzalischen Argots, die von den verschiedenartigsten Handwerkern angewandt worden sind. Aus Gründen, die D A U Z A T am entsprechenden Ort aufzeigt, ging er über die frankoprozenzalischen Dialekte hinaus, die bekanntlich in den östlichen Gebieten Frankreichs und in der romanischen Schweiz auf beiden Seiten des Rhônetals gesprochen werden. Der im Titel verwendete Ausdruck „métier" hat hier den üblichen Sinn. Daher hat D A U Z A T nicht das Argot der Gauner betrachtet, zugleich aber auch un-

L. SPITZEB genannt werden mit seiner Arbeit Die Wortbildung als stilistisches Mittel exemplifiziert an Rabelais, Halle a. d. S. 1910, und mit einigen Bemerkungen, die er veröffentlichte in ZRPh X L I I I (1923), S. 611ff.; X L I V (1924), S. lOlff. 1 Vgl. A.THOMAS in R o X X X V (1906), S. 471ff.; E. HEBZOG in LgrP X X I X (1908), col. 233 ff. 2 Eines der gebräuchlichsten semantischen Verfahren für die Bereicherung des Argots ist gerade die Metapher. 3 Rezensiert von L. SPITZER in LgrP X L V I I I (1927), col. 27ff. ; ELISE RICHTE» in A S N S CLIV(1928), S. 107ff.; G.ROHLFS, ebenda CLIX (1931), S. 115ff. N a c h d e m Tod SAINÉANS erschien der IV. Band dieses Werkes unter dem Titel Autour des . sources indigènes. Études d'étymologie française et romane, Florenz 1935, der Ergänzungen, Zusätze und Antworten auf die Kritiken enthält, die die drei ersten Bände erfuhren. Über die wissenschaftliche Tätigkeit v o n SAINÉAN S. IOKGU IOBDAN, Lazär Çâineanu in: V R o m Juni 1934; CONST. ÇÂINEANU, Lazär ¡päineanu (1859—1934),

4

Bucureçti

1935;

E . PETBOVICI,

Lazär

ijäineanu

(1859—1934)

in:

Dacor V I I I (1934/35), S. 493ff.; Lettres de L. Sainéan, publiées par CONST. ÇÂINEANU, Bucureçti 1936 (speziell die Seiten 33, 38, 43, 54, 65, 75). Vgl. die Rezension von M. COHEN in B S L X X I (1918/19), S. 254ff.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

beachtet gelassen die Sprache der Handwerker, die keinen Argotcharakter besitzt, z. B. den sogenannten lyonesischen „canut". Im ersten Teil seines Buches sucht er aus der Beobachtung der Fakten die Prinzipien herauszuziehen, die die Bildung dieser Argots beherrschen. Eine wichtige Besonderheit ist, daß nur ein kleiner Teil der zur Diskussion stehenden Mundarten einen Argotaspekt bietet. Im Unterschied zur Sondersprache der Gauner bewahren die Argots der Handwerker im allgemeinen unverändert die Elemente, die auch zur üblichen Sprache gehören. Dennoch gibt es gemeinsame und überdies wesentliche Punkte zwischen diesen beiden Argotgruppen. Es ist bekannt, daß einige Berufe (in Frankreich natürlich) wie die Maurer, Schornsteinfeger, Kesselflicker u. a. von Gruppen ausgeübt wurden, die von einem Ort zum anderen zogen, weil ihre Arbeit an eine bestimmte Jahreszeit gebunden war. Die entsprechenden Arbeiter lebten so unter Bedingungen, die denen des Lebens der Gauner ähnlich waren. Gerade durch ihr ambulantes und kollektives Leben unterschieden sie sich von den anderen Menschen. Diese Lage f ü h r t e zur Schaffung einer Sondersprache, die sehr mit dem eigentlichen Argot verwandt ist. 1 Weil in vieler Hinsicht die Handwerkersprachen sich den Volksmundarten nähern, meint DATTZAT, daß bei einem vergleichenden Studium dieser Sondersprachen auch die sprachgeographische Methode anzuwenden sei, natürlich mit den Veränderungen, die sich aus der Natur der Sache ergeben. Der zweite Teil von Les Argots . . . enthält die Glossare der frankoprovenzalischen Berufsargots, die nach Gegenden gruppiert sind. Wie S A I N É A J Î wurde auch D A U Z A T von der Sprache der Frontsoldaten in den Schützengräben angezogen. Um das Material zu sammeln, ging er auf dieselbe Weise vor. 2 Er griff auf „Korrespondenten" zurück, die ihm von der Front Briefe mit Ausdrücken und Wörtern aus ihrer Sondersprache schickten. So entstand L'Argot de la guerre. D'après une enquête auprès des officiers et soldats, Paris 1918 (2. Auflage ebenda 1919). 3 Da die Frage gestellt wurde, ob der Krieg tatsächlich ein besonderes Argot geschaffen oder nur das, was bereits im Soldaten1

2

3

Ich gebrauche in der unmittelbar vorhergehenden Stelle die Vergangenheit, weil die zur Erörterung stehenden Argots inzwischen untergegangen sind. In dem Brief, den mir A. DATTZAT am 13. Januar 1933 schrieb, heißt es: ,,. . . ces professions sont devenues sédentaires et les groupes ambulants n'existent plus (ce qui fait que ces argots ont disparu)." Der von mir in der vorangehenden Fußnote erwähnte Brief DATTZATS enthält in bezug auf diesen Punkt interessante Informationen. Deshalb gebe ich sie hier wieder: ,,. . . j e me suis adressé directement aux intéressés, tandis que Sainéan s'est servi de documents imprimés, les uns un peu artificiels, les autres fabriqués de toutes pièces par des journalistes (ainsi les prétendues 'lettres de Poilus', publiées par les journaux : voyez ce que j'en dis R. de philologie française X X X I V , 1922, p. 140 et Les argots, p. 50). C'est bien important, parce que ce sont des documents f a u x . A ce moment, j'avais beaucoup de relations dans de grands journaux de Paris auxquels je collaborais, et je peux parler de ces lettres en connaissance de cause. Les meilleurs matériaux, bien supérieurs aux miens (enquête directe) sont ceux de G. Esnault, Le poilu." Vgl. die Rezensionen von M. G B A M M O H T in RLR LX (1918-1920), S . 321ff.; und A. M E I L L E T in BSL X X I (1918/19), S . 93ff.

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milieu bestand, entwickelt habe, fühlte sich DAUZAT nach einer ins einzelne gehenden Untersuchung (S. 20ff. der 2. Auflage) verpflichtet, folgendes zu präzisieren: „Non ! l'argot de la guerre n'est pas un phénomène extraordinaire ni une langue créée de toutes pièces. C'est autre chose et c'est beaucoup mieux: c'est la transformation de l'argot de caserne, profondément modifié par la vie guerrière, enrichi par les apports de l'argot parisien, des provincialismes de bonne frappe et des mots exotiques que nos troupes ont empruntés aux contingents coloniaux et étrangers, ou aux populations indigènes avec lesquelles ils ont été en contact dans des expéditions lointaines." (op. cit., S. 27.) Das gleiche scheint auch die Statistik von DATTZAT auf Seite 7 zu bestätigen : Von den fast 2000 Wörtern oder Ausdrücken, die das von ihm erforschte Argot umfaßt, sind ein Drittel Ausdrücke des Pariser Argots, ein weiteres Drittel Wörter des alten Argots der Kasernen und Provinzialismen und das letzte Drittel Neuschöpfungen des Krieges. Gemäß dieser Feststellung beschäftigt sich der Autor der Reihe nach mit den alten Wörtern, mit den neuen Wörtern und mit den Entlehnungen. Dann analysiert er die semantischen und formalen Veränderungen. (Diese Veränderungen, vor allem die ersteren, sind im allgemeinen denen des Argots der Gauner ähnlich.) Und schließlich studiert er das, was er Spezialargot nennt. Dieses letzte Kapitel besitzt eine besondere Bedeutung: Aus ihm wird ersichtlich, daß selbst eine Sprache wie das Argot des Krieges, das unter ganz besonders gearteten Umständen entstand, sich nach sozialen Gruppen unterschied, wenn die Lebensbedingungen von einer Gruppe zur anderen variierten 1 . Tatsächlich hatten jede Waffengattung und jede militärische Einheit ihre eigenen Ausdrücke, die in dem Argot der anderen fehlten. Oder, was noch interessanter ist, sie wiesen je nach dem Charakter der entsprechenden Formation Bedeutungsunterschiede auf. So z . B . bedeutete billard im Lazarett „Operationstisch", aber an der Front den „Raum zwischen den feindlichen Schützengräben". Glauben wir jedoch nicht, daß diese Variationen allzu zahlreich oder wichtig waren. Im allgemeinen besitzt das Argot des Krieges ein so weit wie möglich einheitliches Aussehen. Mehr als das. Im Vorwort zur 2. Auflage (S. 8) notiert DAUZAT die Information eines Korrespondenten („agrégé de grammaire"), der im letzten J a h r des blutigen Gemetzels festgestellt hatte „. . .la tendance très nette. . . à la constitution d'une l a n g u e c o m m u n e surtout le front et la fusion progressive des langages spéciaux." Noch eine Beobachtung theoretischer Art hinsichtlich des sprachlichen Charakters des Argots: ,,Le vocabulaire que nous avons recueilli donne le plus flagrant démenti aux théories trop absolues suivant lesquelles tout argot est un langage secret créé consciemment pour la défense du groupe. Ces théories, nous les avons toujours combattues, non qu'elles ne renferment pas une part de vérité — la généralisation inverse serait également, quoiqu'à un degré moindre, inadéquate aux faits — mais parce que l'argot, comme tout langage, est dans l'ensemble une formation collective, inconsciente dans ses moyens, soumise à divers facteurs psychologiques ou 1

Noch eine Bestätigung des Grundgedankens der französischen sprachwissenschaftlichen Schule, daß die Sprache eine soziale Tatsache ist und sich unter der Herrschaft der gemeinsamen Lebensbedingungen der Menschen entwickelt.

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externes ne relevant pas de la volonté individuelle." (S. 221.) Den besten Beweis zugunsten dieses Gesichtspunktes verschafft uns das Argot der französischen Kriegsgefangenen in Deutschland, das sehr viele Wörter enthält, die gerade aus dem Deutschen entlehnt worden sind. Das dritte Buch von D A U Z A T auf dem Gebiet des Argots ist Les argots. Caractères, évolution, influence, Paris 1929. Es ähnelt sehr seiner Arbeit Les patois, vor allem, was das praktische Ziel und die Methode angeht. Auch mit diesem Werk wendet sich DAUZAT an ein breites Publikum und behandelt klar und genau alle Probleme, die die Argots stellen (sowohl das eigentliche Argot, nämlich das der Gauner, als auch die Sondersprachen der verschiedenen Berufe). Hier einige Kapitelüberschriften: Der Charakter des Argots, die verschiedenen französischen Argots 1 und ihre Entwicklung, die Erneuerung des Wortschatzes (die Entlehnungen), der Wechsel der Formen (Veränderungen und Mißbildungen), die Bedeutungsveränderungen, das Eindringen des Argots in die französische Gemeinsprache, in die Sprache der Handwerker und in die Volksmundarten. Weiterhin wird ein historischer Überblick über die Argotstudien gegeben und eine ziemlich reichhaltige Bibliographie, die die wichtigsten französischen und fremden Werke enthält. Obgleich es vielleicht nicht notwendig ist, möchte ich doch darauf hinweisen, daß dieses Buch, das keine besonderen Prätentionen besitzt und den sogenannten wissenschaftlichen Apparat weggelassen hat, sich doch auf eine vollkommene Kenntnis des Stoffes gründet und infolgedessen auch das Vertrauen der Fachleute verdient. DAUZAT haben auch andere romanische Kriegsargots interessiert. In R L R L X (1918-1920), S. 387ff., hat er eine Studie veröffentlicht, die betitelt ist Trois lexiques d'argot militaires romans recueillis pendant la guerre. Sie umfaßt eine Liste von Wörtern aus dem belgisch-französischen, dem italienischen und dem portugiesischen Argot.

Weitere Verfasser von Argotstudien Viele Forschungsarbeiten über das französische Argot stammen von Gelehrten, die in unserem Fach weniger bekannt sind. Das bedeutet jedoch nicht, daß diese Werke keinen Wert besitzen. Im Gegenteil! GASTON E S N A U L T , der Verfasser mehrerer solcher Studien, scheint der beste Kenner der Sprache der Frontsol1

Diese sind a) das Argot der Verbrecher (mit den Varianten ,,j o b e l i n " , „ j a r g o n " , „ l a r g o n j i " ) ; b) die Argots der ambulanten Berufe; c) die Argots der verschiedenen Handwerke (der „ c a n u t " von Lyon, die Sprache der Komödianten, Fleischer usw.); d) die Schülersprachen (mit den wichtigsten Unterteilungen: die polytechnische Schule und die von Saint-Cyr); e) die Militärargots (in der Kaserne, an der Front und bei den Kriegsgefangenen in Deutschland); f) die Argots der Sportler. Letzteren widmete DAUZAT ein spezielles Kapitel in seinem Buch La vie du langage, 4. Auflage, Paris 1928, S. 287ff.

Weitere Verfasser von Argotstudien

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daten zu sein. Über sein umfangreiches Buch Le poilu1 tel qu'il se parle. Dictionnaire des termes populaires, récents et neufs, employés aux Armées en 1914—1918, étudiés dans leurs étymologie, leur développement et leur usage, Paris 1919, erschienen Rezensionen, die voll des Lobes sind. Von diesen Besprechungen seien hier erwähnt: M . COHEN, B S L X X I ( 1 9 1 8 / 1 9 ) , S . 258ff.; und L. SPITZER, LgrP X LVI ( 1 9 2 5 ) , col. 1 0 4 ff. 2 Die große Überlegenheit von ESNAULT gegenüber S A I N É A N und DAUZAT (wobei es sich natürlich nur um die Arbeiten dieser Gelehrten über das Kriegsargot handelt 3 ) besteht nach SPITZER darin, daß das Material in Le Poilu... von einem Wissenschaftler kommt, der an der Front war und zugleich Lexikograph ist: Ständig ist das L e b e n der studierten Sprache spürbar, das von dem Autor selbst wahrgenommen und empfunden wird und nicht aus Büchern und Zeitungen genommen ist. ESNAULT zeichnet sich besonders durch das aus, was SPITZER „mikroskopische Etymologie" nennt. Er beschränkt sich bei seinen Untersuchungen nicht auf die Festlegung eines Etymons, wie das gewöhnlich der Fall ist, sondern er analysiert eingehendst die Bedeutungen des Wortes, und zwar eine nach der anderen, weil von jeder einzelnen Bedeutung aus neue Bedeutungen entstanden sind, die vorher nicht bekannt waren. ESNAULT hat noch ein Werk verfaßt, das in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen ist und den Titel trägt L'imagination populaire. Métaphores occidentales. Essai sur les valeurs imaginatives concrètes du français parlé en BasBretagne comparé avec les patois, parlers techniques et argots français, Paris 1925. Vgl. dazu auch die Rezension von IORGU IORDAN in Arhiva X X X I I I (1926), S. 283 ff.4 Zwischen dem Argot und der volkstümlichen Rede gibt es zahlreiche Berührungspunkte, von denen der bedeutendste vielleicht die häufige Benützung 1

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Dieser Ausdruck selbst gehört zum Soldatenargot und bedeutet nicht „l'homme à la barbe inculte, qui n ' a pas le temps de se raser, ce serait déjà pittoresque . . .", sondern „l'homme qui a du poil au bon endroit, — pas dans la main, — symbole ancien de virilité". Vgl. A. DAUZAT, L'Argot de la guerre, S. 48. D a n n gelangte dieses Wort zu der Bedeutung, die es im Titel der Arbeit von ESNAULT h a t : die von den p o i l u s gesprochene Sprache, also das Argot an der Front. Das Wort h a t in der französischen Soldatensprache ein Alter von wenigstens h u n d e r t J a h r e n , wurde aber während des Krieges neu belebt, als es eine ungewöhnliche semantische K r a f t erlangte. Das beweist sehr überzeugend DAUZAT, op. cit., S. 48ff. „Car le civil, depuis 1914, a donné une nouvelle valeur au m o t : le poilu est désormais le soldat c o m b a t t a n t (qui s'oppose à l'„embusqué"), le héros qui défend notre sol." (ebenda, S. 51-52.) Dieses Werk wurde von der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres im J a h r e 1920 mit dem „Prix Volney" ausgezeichnet. — Andere Rezensionen erwähnt der Verfasser selbst auf Seite 2 seiner Arbeit L'imagination populaire, von der noch die Rede sein wird. Die Fragen, die durch die Sondersprache der Soldaten während des 1. Weltkrieges gestellt wurden, erörtert G. RIEDEB, Probleme des Kriegsfranzösischen in : H a u p t fragen der Romanistik. Festschrift f ü r Philipp August Becker, Heidelberg 1922, S. 155ff. Weitere Rezensionen schrieben dazu G. DOTTIN in R P h F L X X X V I I I (1926), S . 161FIF.; A . M E I L L E T i n B S L X X V I I ( 1 9 2 6 / 2 7 ) , F a s z . 2 , S . LLOFF.; R . R I E G L E R i n

A SN S CLII (1927), S. 144ff.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

des metaphorischen Verfahrens bildet. Dieses ergibt eine Bereicherung und Nuancierung des Wortschatzes. So erklärt sich die Tatsache, daß die Verfasser von Argotstudien im allgemeinen auch Interesse für die von den breiten Massen gesprochene Sprache bezeugen. Daher werden an dieser Stelle solche Arbeiten mit erwähnt, die von der volkstümlichen Rede handeln. Zu dieser letzten Gruppe gehört u. a. H E N R I BAUCHE, Le langage populaire. Grammaire, syntaxe et dictionnaire du français tel qu'on le parle dans le peuple de Paris, avec tous les termes d'argot usuel, Paris 1 9 2 0 , 2 . Auflage 1 9 2 9 1 , 3 . Auflage 1951. Hier sehen wir sogar im Titel die Verbindung zwischen dem Argot und der Sprache der „unteren" sozialen Schichten. Der Verfasser, der anscheinend keine spezielle sprachwissenschaftliche Ausbildung genossen hat, untersucht in diesem Buch die lautlichen, morphologischen, syntaktischen und andere Erscheinungen, die für die Pariser Volkssprache charakteristisch sind, indem er diese Erscheinungen mit den entsprechenden Gegebenheiten in der französischen Gemeinsprache vergleicht und sie zu erklären sucht. Einen besonderen Wert besitzt das Vokabular am Ende des Buches (über 60 Seiten mit je zwei Spalten) nicht nur wegen seines Reichtums, sondern auch weil hier viele Wörter registriert werden, für die wir in anderen Sprachen „Parallelen" finden. Das ist wiederum ein Beweis dafür, daß es außer dem Volkscharakter, der von einem Volk zum anderen verschieden ist, einen Klassencharakter gibt, der ähnliche Erscheinungen in der Sprache der gleichen sozialen Gruppen entstehen läßt, gleich welcher Nationalität und Sprache sie sind. Wie sehr das Interesse für die Volkssprache gewachsen ist, beweist auch die Tatsache, daß sie in neuerer Zeit sogar den Forschungsgegenstand von Doktorarbeiten bildet. Das ist z. B. der Fall in der Arbeit La langue populaire dans le premier quart du XlX-e siècle, d'après Le petit Dictionnaire du Peuple de J. C. L. Desgranges ( 1 8 2 1 ) , Paris 1 9 2 9 , von GEORGES GOTTGENHEIM, welche die „thèse complémentaire" bei seiner Promotion an der Sorbonne bildete. 2 1

2

Diese Schrift wurde im allgemeinen von der Kritik gut aufgenommen und von der Académie Française ausgezeichnet. Von den Rezensionen zur ersten Auflage, die von kompetenten Wissenschaftlern verfaßt worden sind, kenne ich nur die von A. MEILLET in B S L X X I I (1920/21), S. 83ff. Die zweite Auflage dieses Buches wurde u. a. rezensiert von A. GRÉGOIRE in R B P h H VII (1928), S. 1536ff.; R. OLIVIER in A S N S CLV (1929), S. 291ff.; J. A. STRAUSBAUGH in R R X X I I I (1932), S. 57ff.; IOBGU IOEDAN in RCr VI (1932), S. 159ff. I m Jahre 1951 erschien eine weitere Auflage dieses Buches, die vor allem durch die Beobachtungen interessant ist, die der Autor (S. 7ff.) in bezug auf den Einfluß gemacht hat, den der zweite Weltkrieg auf die französische Sprache ausübte: Außer der Sondersprache des „Schwarzen Marktes" bewirkte dieser Krieg weder in der Gemeinsprache noch in der Volkssprache Veränderungen. U m diejenigen zu informieren, die sich für das französische Argot (im weiten Sinne) interessieren, gebe ich eine Liste der Arbeiten, die mir direkt oder (seltener) indirekt bekannt sind und die sich mit diesem Aspekt der französischen Sprache beschäftigen. Ich zähle sie in chronologischer Reihenfolge (mit Ausnahme der nichtdatierten) auf, ohne ihren Charakter zu beachten (ob es einfache sprachliche Materialsammlungen sind, wie das bei den meisten der Fall ist, oder Studien, Aufsätze usw.) : CH. NISARD, De quelques parisianismes populaires et autres locu-

Weitere Verfasser v o n A r g o t s t u d i e n

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Was die anderen romanischen Sprachen betrifft, so sind die Argotstudien nicht so zahlreich und verschiedenartig wie die bisher analysierten. Andererseits weisen meine bibliographischen Informationen auf diesem Gebiet auch große Lücken auf. Da ich nicht die Absicht habe, auch nur annähernd das Problem zu erschöpfen, werde ich hier nur einige Angaben machen. tions n o n encore ou plus ou moins i m p a r f a i t e m e n t expliquées des X V I I - e , X V I I - e (sic! s t a t t XVTII-e) et X l X - e siècles, P a r i s 1 8 7 6 ; L U C I E N R I G A U D , Dictionnaire d ' a r g o t m o d e r n e (Nouvelle édition avec s u p p l é m e n t ) , P a r i s 1888 (vgl. Dictionnaire d u J a r g o n parisien. L ' A r g o t ancien et l'Argot m o d e r n e v o n demselben A u t o r ) ; C É S A I R E V I L L A T E , Parisismen. Alphabetisch g e o r d n e t e S a m m l u n g d e r eigena r t i g e n A u s d r ü c k e des P a r i s e r Argot, Berlin-Schöneberg 1888 (2. A u f l a g e ! ) ; A L B E R T L É V Y u n d G. P I N E T , L ' a r g o t de l ' X , P a r i s 1 8 9 4 ; G. D E L A S A L L E , Dictionnaire a r g o t - f r a n ç a i s et français-argot, P a r i s 1 8 9 6 ; R O S S I G N O L , D i c t i o n n a i r e d ' a r g o t , P a r i s 1 9 0 1 ; A. W E I L , L ' a r g o t d a n s l'Université, B e s a n ç o n 1 9 0 4 ; N . E . T A U B E , É t u d e s u r l'emploi d e l'argot des m a l f a i t e u r s chez les a u t e u r s r o m a n t i q u e s , U p p sala 1 9 1 7 ; J . J E A N J A Q U E T , Argot de m a l f a i t e u r s d a n s la Suisse r o m a n d e a u X V I - e siècle i n : B G P S R I I ( 1 9 2 0 ) , S. 6 9 ; P . A E B I S C H E R , U n a r g o t d e m a l f a i t e u r s parlé d a n s le c a n t o n de F r i b o u r g à la fin d u X V I I - e siècle i n : R P h F L X L I I ( 1 9 3 0 ) , S. 1 0 6 F F . ; L . A Y N E , L ' a r g o t p i t t o r e s q u e , P a r i s 1 9 3 0 ; E M I L E C H A U T A R D , L a vie é t r a n g e de l ' a r g o t , P a r i s 1931 (ein B a n d v o n ü b e r 700 Seiten m i t reichem Material, E r ö r t e r u n g e n u n d bibliographischen Angaben) ; L. A. F O U R E T , L'évolution d u langage populaire i n : Z F E U X X X ( 1 9 3 1 ) , S. 5 6 9 F F . (in A n b e t r a c h t dessen, d a ß der K o n t a k t zwischen d e m Argot u n d der Volkssprache in den G r o ß s t ä d t e n sehr eng ist, h a b e ich ihn in diese Liste m i t a u f g e n o m m e n ) ; W . G O T T S C H A L K , Französische Schülersprache, Heidelberg 1 9 3 1 ; C U R T S I G M A R G U T K I N D , S t r u k t u r der f r a n zösischen W i r t s c h a f t s s p r a c h e i n : NMon I I ( 1 9 3 1 ) , S. 3 8 5 F F . (wie der Titel zeigt, h a n d e l t es sich u m die lexikalische u n d s y n t a k t i s c h e S t r u k t u r d e r S p r a c h e der Geschäftsleute, u n d zwar derjenigen, die a n der Börse „ t ä t i g s i n d " ) ; A. D A U Z A T , Le f r a n ç a i s populaire et les langues speciales i n : F M I I I ( 1 9 3 5 ) , S. 9 9 F F . ; G. E s N A U L T , Ciganismes en f r a n ç a i s et gallicismes des cigains i n : J G S X I V ( 1 9 3 5 ) , S. 7 2 f f . (vgl. F M I V [ 1 9 3 6 ] , S. 9 1 ) ; J . L A C A S S A G N E , L ' a r g o t d u „ m i l i e u " , P a r i s 1 9 3 5 (2. Auflage); G. E S N A U L T , Le jargon populaire parisien i n : S p r a c h k u n d e , März 1936, S. 2ff. ; derselbe, Chez n o s écoliers. Apocope avec suffixe „ s " i n : F M I V ( 1 9 3 6 ) , S. 343ff.; O L I V I E R L E R O Y , A D i c t i o n a r y of F r e n c h Slang, L o n d o n 1 9 3 6 (s. die sehr u m f a s s e n d e Rezension von R . R I E G L E R in A R o X X I I [ 1 9 3 8 ] , S. 4 1 5 f f . ) ; R . SMET, Le nouvel argot de l ' X . (Vocabulaire de l'École Polytechnique), P a r i s 1 9 3 6 ; I R M G A R D S C H U L T Z , B i l d h a f t i g k e i t im französischen Argot, Gießen 1 9 3 6 ; L . A L E S S I O , Vocabolario dell'argot e del linguaggio popolare parigino, Torino 1 9 3 9 ; S I L V I A G R E D I G , Essai sur la f o r m a t i o n d u vocabulaire d u skieur français, W a e d e n swil 1 9 3 9 ; B A R T S , V o m Wesen der französischen Vulgärsprache in N M o n X I ( 1 9 4 0 ) , S . 6 5 F F . u n d S . 114ff. ; I R M G A R D S C H U L T Z , M e t a p h e r n der F o r m im b i l d h a f t e n französischen Argot in 1 : V K R ( 1 9 4 1 ) , S. 244ff. ; J E A N L A R U E , Dictionnaire d ' a r g o t et des principales locutions populaires, précédé d ' u n e Histoire de l'argot p a r Clém e n t Casciani, P a r i s 1 9 4 8 (neue Auflage!); M A R C E L C O H E N , A u t o u r d u vocabulaire. Société et Langage, P a r i s 1949; derselbe, N o t e s u r l'argot, S o n d e r d r u c k a u s L E ( 1 9 5 0 ) , 1 1 Seiten; G È O S A N D R Y et M A R C E L C A R R È S E , Dictionnaire de l'argot moderne, P a r i s 1 9 5 3 (neue Auflage!); A R I S T I D E B R U A N T , Dictionnaire français-argot, P a r i s o. J . ; A L F R E D D E L V A U , Dictionnaire de la langue verte, P a r i s o. J . (zitiert von V I L L A T T E , P a r i s i s m e n . . . s. weiter oben); L O R É D A N L A R C H E Y , Dictionnaire historique, étymologique et a n e c d o t i q u e de l'Argot parisien, P a r i s o. J . (ebenfalls zitiert von V I L L A T T E ) ; R A P H A E L D E N O T E R , Dictionn a i r e français-argot et des locutions comiques, Paris o. J . (ebenfalls zitiert v o n

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Über das italienische Argot finden wir bei A. DAUZAT in Les argots . .., S. 173, außer den von mir bereits angegebenen Arbeiten die zwei folgenden: A. NICEFORO, II gergo dei normali, dei degenerati e dei criminali, Torino 1897, und A . NICEFORO e Sc. SIGHELE, La mala vita a Roma, Torino 1898. Auch der 1. Weltkrieg fand in unserem Fach in dieser Hinsicht einen Niederschlag. LEO SPITZER veröffentlichte im Jahre 1921 ein Buch, das ich schon bei anderer Gelegenheit erwähnt habe: Die Umschreibungen des Begriffes „Hunger" im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial. Da SPITZER die Aufgabe hatte, die Briefe der italienischen Kriegsgefangenen in Österreich zu zensieren, war er sehr beeindruckt von der Tatsache, daß diese, obgleich es ihnen in keiner Form erlaubt war, den außerordentlich großen Hunger zu erwähnen, den sie litten, sich in ihren Briefen nicht beherrschen konnten, ihr so schweres Leiden anzudeuten. Um nun einerseits ihr Leid mitzuteilen, aber andererseits dem Verbot Rechnung zu tragen, griffen sie zu jeder Art von metaphorischen und periphrastischen Ausdrücken, zu Bezeichnungen, die mit dem untersagten Wort bedeutungsähnlich waren. Die Erforschung dieses unvorstellbar reichen und verschiedenartigen Materials bildet den Inhalt des genannten Buches von SPITZER. Dieses Buch ist den Arbeiten über das eigentliche Soldatenargot ähnlich, besonders auf Grund der Lebensbedingungen, die bei den Frontsoldaten die gleichen wie bei den Gefangenen in den Lagern waren, und es ist auch verwandt mit den Studien über die Volkssprache, die, wie wir gesehen haben, zahlreiche Argotausdrücke enthält.1 Dieselben Umstände ermöglichten das Erscheinen eines anderen Buches von SPITZER: Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zu einer Charakteristik der volkstümlichen italienischen Korrespondenz, Bonn 1921. Hier werden auch Briefe italienischer Kriegsgefangener in Österreich untersucht (darunter zwei, die in „taröm" abgefaßt sind, dem Argot aus Valle di Sole, Trentino). Aber der Gesichtspunkt SPITZERS ist hier ein anderer. Er interessiert sich für die seelische Lage derjenigen, die diese Briefe verfaßt haben, nicht für die mehr oder weniger spezielle Sprache, die darin benützt wird. Das erste Buch hat sprachwissenschaftlichen Inhalt, das zweite gehört eher zur Stilistik. Indem er die Ausdrucksweise der italienischen Soldaten in ihrem Briefverkehr mit ihren Verwandten in der Heimat studiert, sucht SPITZER charakteristische Züge der italienischen Geistesart festzustellen. Sprachliche Fragen werden in der Einführung kaum berührt. Es wird auch keine Verbindung zum Argot oder gar zur Volkssprache gesucht. Daher überrascht es mich, daß DAUZAT in der Bibliographie in Les argots . . . diese Arbeit neben der anderen zitiert. 2 VILLATTE); G. SANDRY et M. CARR^RE, Dictionnaire de l'argot moderne, Paris 1953; P. GTTIBAUD, L'Argot (Nr. 700 der Sammlung „Que sais-je?"), Paris 1958; K . KNATTEB, Vulgärfranzösisch. Charakterzüge und Tendenzen des gegenwärtigen französischen Wortschatzes, München 1954. 1

Vgl. auch für das Rumänische die Rezension von IORGU IORDAN ZU SPITZERS

2

Buch in Arhiva X X X (1923), S. 123ff. Obgleich weniger reichhaltig als die Bibliographie für das französische Argot, ist die Zahl der Arbeiten über das italienische Argot dennoch beträchtlich, wie das

Weitere Verfasser von Argotstudien

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Was die iberoromanischen Argots betrifft, so drängt sich uns sofort ein wohlbekannter Name auf. Es ist M A X LEOPOLD W A G N E B 1 , der Verfasser wertvoller Arbeiten über das Argot: Mexikanisches Rotwelsch in: ZRPh X X X I X (1919), S. 513ff. 2 ; Notes linguistiques sur l'argot barcelonais, Barcelona 1924; A propòsito de algunas palabras gitano-españolas in: Filología (Buenos Aires) III (1951), S. 161 ff. Auch in anderen Studien untersucht dieser hervorragende Kenner der iberoromanischen Sprachen und Kulturen beiläufig Fakten und Probleme, die zum Argot gehören. Die Einführung zu Notes linguistiques... besitzt von mehreren Gesichtspunkten aus besondere Bedeutung. Ich habe oftmals auf den vorangehenden Seiten die Verbindungen zwischen dem Argot und der Volkssprache betont. W A G N E R versteht das Verhältnis, in dem sich diese beiden Sprachen zueinander befinden, wie folgt: „Le langage populaire, tout en se servant de procédés semblables dans la création des mots, se distingue du véritable argot par l'absence de la préméditation, c'est-à-dire l'intention d'envelopper les mots dans un voile épais de ténèbres." (op. cit., S. 7.) Im Unterschied zum französischen auch aus den folgenden, ziemlich unvollständigen Angaben zu ersehen ist : C. NIGRA, I l g e r g o d e i V a l s o a n i n i i n : A G I I I I (1874), S. 53FF.; G.TIRABOSCHI, I l g e r g o d e i

pastori bergamaschi in: Vocabolario dei dialetti bergamaschi antichi e moderni (appendice 2°), Bergamo 1879, S. 219FF.; A. ROVINELLI, Il gergo, Milano 1905; CESARE BATTISTI, Il gergo dei calderai di Valle di Sole nel Trentino in : Tridentum I I (1906), Fasz. 2; EMANUELE MIRABELLA, Mala vita. Gergo, camorra e costumi degli affiliati con 4500 voci della lingua furbesca in ordine alfabetico, Napoli 1910; CARLO BATTISTI, Voci gergali solandre in: AAccAg, s. IV, vol. I I , Rovereto 1913, S. 305FF. ; M. BORGATTI, I gerghi di Canto e di Pieve, Fabriano 1925; UGO PELLIS, Il gergo dei seggiolai di Gosaldo in A G I X X I I / X X I I I (1929), S. 542FF. (u. a. ist die Liste der Bezeichnungen f ü r das Argot in den verschiedenen Sprachen von Interesse); N. BAZZETTA DE VEMENIA, Dizionario del gergo milanese con una raccolta di Nomignoli, Como 1926; G. M. CALVARUSO, 'U Baccàgghiu. Dizionario comparativo etimologico del gergo parlato dai bassifondi palermitani, Catania 1929; UGO PELLIS, Coi furbi, Udine 1930 (Sonderdruck aus der Zeitschrift Ce fastu?); GIANFRANCO CONTINI, Note sul gergo varzese in: I t D V i l i (1932), S. 198FF.; P . S. PASCUALI, A p p u n t i lessicali f u r b e s c h i in : I t D V i l i (1932), S . 254FF.,

1 2

u n d X (1934), S. 241 ff. (mit sehr zahlreichen Informationen); O.KELLER, Die Geheimsprache der wandernden Kesselflicker der Val Colla (Tessin) in: V K R V I I (1934), S. 55ff. ; M. L. WAGNER, Übersicht über neuere Veröffentlichungen über italienische Sondersprache. Deren zigeunerische Bestandteile in: VRo I (1936), S. 264FF.; C. TAGLIAVINI-A. MENARINI, Voci zingare nel gergo bolognese in: ARo X X I I (1938), S. 242FF. ; A. PRATI, Voci di gerganti, vagabondi e malviventi studiate nell'origine e nella storia, Pisa 1940; G. MELE, Gergo di guerra, Roma 1941; A. MENARINI, I gerghi bolognesi, Modena 1942; A. FRIZZI, Il ciarlatano, Mantova o. J . ; R . BACCETTI POLI, Saggio di una bibliografia dei gerghi italiani, Padova 1953. Vgl. K a p . I, S. 90ff. Diese Studie beschäftigt sich mit der gegenwärtigen Sprache der Verbrecher in der Stadt Mexiko, die in ihrer Sprache léperos genannt werden. Nach einer Charakterisierung der Elemente, aus denen sie besteht (spanische, zigeunerische, englische), und der sprachlichen Mittel, die bei der Schaffung von Neubildungen gebraucht werden, folgt eine alphabetische Liste der Wörter, die nach dem Gesichtsp u n k t ihrer H e r k u n f t erklärt werden.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliehe Schule

Argot, das sehr wenige Elemente aus der Zigeunersprache enthält, wird das Argot von Barcelona 1 durch einen ungewöhnlichen Reichtum an Wörtern und Ausdrücken charakterisiert, die der Zigeunersprache entlehnt worden sind: Fast die Hälfte des von W A G N E K festgestellten Wortschatzes beruht auf solchem Sprachmaterial. Diese Tatsache überrascht uns nicht, weil das Vorhandensein von Zigeunern auf der Iberischen Halbinsel dokumentarisch bereits seit über 500 Jahren bezeugt ist (genau seit 1447), und gerade in Barcelona zum erstenmal. Daher finden wir in dem von W A G N E B studierten Argot nicht nur zigeunerische Wörter, sondern sogar Suffixe, die oft an romanische Wortstämme angehängt werden, ja selbst Lehnübersetzungen 2 . Was den restlichen Wortschatz betrifft, so trugen an erster Stelle die Volksmundarten der Iberischen Halbinsel dazu bei, dann die französische Sprache (mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Wörtern, was in Anbetracht der geographischen Nachbarschaft kurios erscheint), ferner die italienische, die hispano-amerikanische und schließlich die norwegische Sprache (aus dieser nur ein einziger Ausdruck, der jedoch theoretische Bedeutung hat, weil er beweist, daß entgegen der Behauptung von S A I N É A N in die romanischen Argots auch Wörter nichtromanischer Herkunft Eingang finden können). Die Arbeit von W A G N E K enthält auch eine ziemlich reiche Bibliographie (s. S. 21 ff.). Von den dort genannten Arbeiten sei erwähnt: Notes per a un vocabulari d'argot barceloni von J . G I V A N E L I M A S , veröffentlicht in BDC VII (1919), S. 11 ff. Diese Studie ist mir direkt bekannt und bezieht sich auf das Argot von Barcelona. Ihre hauptsächliche Bedeutung besteht darin, daß sie die erste wissenschaftliche Materialsammlung eines katalanischen Argots darstellt. Deshalb geht W A G N E E in seinen Betrachtungen oft von dem aus, was G I V A N E L hier gesagt hat. Die Einführung bringt nichts Neues oder Besonderes, und die etymologischen Erklärungen, die der Verfasser, nur ab und zu gibt — worauf er übrigens auch zu Beginn hinweist —, sind wenig überzeugend. Das Material selbst hat Lücken, von denen einige gewollt sind, andere nicht. Auf Seite 11, Fußnote 1, sagt uns G I V A N E L , daß er die obszönen Ausdrücke aus leicht verständlichen Gründen beiseite gelassen hat, was aber zugleich schwer zu akzeptieren ist, weil die Wissenschaft auch diese Ausdrücke untersuchen muß. Außerdem wurden bei der Abfassung des Vokabulars fast ausschließlich literarische Quellen benützt. Es ist jedoch bekannt, daß das Argot eine „gesprochene" Sprache par excellence ist: Wie kühn auch 1

2

Das gilt auch für das spanische Argot im allgemeinen. Vgl. die zuletzt genannte Studie von M. L. WAGNEB, ferner CÁELOS CLAVERÍA, Estudios sobre los gitanismos del español, Madrid 1951. Diese 269 Seiten umfassende Studie zeigt u. a. das Eindringen der Wörter zigeunerischer Herkunft in die spanische Sprache. Z . B . : span. potro „Füllen, Pferd" bedeutet im Argot von Barcelona „fett" (in der Form potru), weil im Zigeunerischen der Ausdruck für „fett" auch die Bedeutung „Pferd" hat. Die Lehnübersetzungen sind das Produkt des Bilinguismus: Wenn auf Grund der historischen Lebensbedingungen eine gesellschaftliche Gruppe dazu gelangt, gewöhnlich zwei Sprachen zu sprechen, sind die Einflüsse, die von der einen auf die andere ausgeübt werden und umgekehrt, nicht nur unvermeidlich, sondern auch sehr mächtig.

Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik

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ein Schriftsteller sein möge, er wendet nicht alle Argotausdrücke an, die ihm bekannt sind.1 Zum Schluß der Erörterung dieses Gebietes sei noch vermerkt, daß von den uns bekannten Linguisten LEO SPITZER sich ständig für die Argots interessierte. In zahlreichen Studien, Aufsätzen und Rezensionen, die sich auf Probleme der romanischen Sprachen beziehen, behandelte dieser Gelehrte häufig Fragen des Argots, für die er ein tiefes und feines Verständnis zeigt. Für andere romanische Sprachen sind meine Informationen in bezug auf das Argot ärmer, wahrscheinlich auch, weil es hierüber wenige Studien gibt. Ich erwähne die mir bekannten: M. L . WAGNER, Über die Geheimsprachen in Sardinien in: V K R I (1928), S. 69FF.; UGO PELLIS, Note sul gergo sardo in: B A L I t I (1933), S. 37ff.; M. L . WAGNEH in V K R V I I (1934), S.349ÍT.; derselbe, Portugiesische Umgangssprache und Caläo besonders im heutigen Lissabon, ebenda X (1937), S. 3FF.; derselbe, Apuntaciones sobre el caló bogotano, Bogotá 1950.

Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik Ich beschäftige mich hier noch mit einer Methode, die, wie ich bereits zu Beginn dieses Kapitels angekündigt habe, mit der französischen sprachwissenschaftlichen Schule gemeinsame Punkte aufweist. Diese bestehen im folgenden: Jede Sprache besitzt bestimmte spezifische Züge, durch die sie sich von den anderen verwandten Sprachen unterscheidet. Andererseits kann sie mit Sprachen, die nicht mit ihr verwandt sind, Ähnlichkeiten haben. Diese charakteristischen Züge haben verschiedenste Ursachen: historische (fremde Einflüsse, Lebensbedingungen usw.) und rein sprachliche (in jeder Sprache gibt es bestimmte Tendenzen, die bewirken, daß in einem gegebenen Moment eine lautliche, morphologische oder syntaktische Erscheinung, die vorher nicht vorhanden, ja sogar unmöglich war, in den Sprachen, die zur selben Familie gehören, auftaucht). Das Aufzeigen der spezifischen Besonderheiten einer Sprache, die in sich selbst betrachtet oder mit denen anderer Sprachen verglichen werden, bildet die Grundlage der Methode, die hier dargelegt werden soll. Diese Methode ist ihrem Wesen nach deskriptiv, weil sie vor allem die Beschreibung der charakteristischen Züge irgendeiner Sprache zum Ziel hat. Ihren Gegenstand bilden die sprachlichen Gegebenheiten in einer bestimmten Epoche, gewöhnlich in der gegenwärtigen. Es versteht sich indessen, daß die von einem Forscher festgelegten Grenzen nicht immer beachtet werden können. Das Aussehen, das eine Sprache heute besitzt, ist das Resultat einer Entwicklung. Wenn man daher gegenwärtige Besonderheiten erklären will, ist man häufig gezwungen, auf die vorangehenden Phasen zurückzugreifen. Ebenso 1

Von den Arbeiten über das spanische Argot ist noch zu erwähnen L. BESSES, Diccionario de argot español, Barcelona 1931, und M. L . WAGNEB, Sobre algunas palabras gitano-españolas y otras jergales in: R F E X X V (1941), S. 163ff. WAGNER studierte auch die zigeunerischen Elemente im Portugiesischen (s. O elemento cigano no caläo e na linguagem popular portuguesa in: B F X [1949], S. 296ff.).

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliehe Schule

muß man sich auf ältere sprachliche Fakten berufen, wenn man eine Sprache mit anderen Sprachen vergleicht, die zur selben Gruppe gehören, um sie zu charakterisieren. Diese Abweichungen vom rein deskriptiven Verfahren zugunsten des historischen Verfahrens variieren nach den Umständen und vor allem nach der Sprachauffassung eines jeden Fachgelehrten. Ein Linguist, der in der traditionellen Schule aufgewachsen ist, wird natürlich darauf aus sein, den historischen Gesichtspunkt zu übertreiben, während beispielsweise ein Anhänger der Lehre SATJSSUEES die historischen Betrachtungen fast vollständig unberücksichtigt lassen wird. Mit der hier zur Erörterung stehenden Methode ist es noch nicht gelungen, mehr oder weniger sichere Leitprinzipien festzulegen, obgleich die bisher beschrittenen Wege von älteren Sprachwissenschaftlern, wie W. v. HUMBOLDT, G . 1 VON DER GABELENTZ, F . MISTELI und F . N . F I N C K , aufgezeigt wurden. Eine gewisse Unsicherheit ist bei ihrer Anwendung zu bemerken, wie wir es noch konstatieren werden. So wird ein und dieselbe Sprache von den einzelnen Forschern verschieden charakterisiert. Das Französische z. B. erhält in der Charakterisierung durch W. M E Y E R - L Ü B K E einen anderen Aspekt als in der von E R N S T LEWY. Das bedeutet nicht, daß die Methode als solche mangelhaft wäre, sondern nur, daß genaue und einheitliche Kriterien, die alle Fachgelehrten oder zumindest die meisten von ihnen annehmen, noch nicht festgelegt werden konnten. I m gegenwärtigen Augenblick, gerade weil solche Kriterien fehlen, herrschen mehr oder weniger subjektive Einschätzungen vor, die vom Temperament und der Einstellung des Forschers abhängen. Aber sie können auch rein sprachliche, d. h . objektive Ursachen haben: Einem Franzosen z. B. werden bei einer Sprache vor allem diejenigen Besonderheiten als charakteristisch erscheinen, die in seiner eigenen Sprache nicht vorhanden sind. W. M E Y E R - L Ü B K E (Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft, 3. Auflage, § 54, S. 65ff.) weist auf die Schwierigkeiten hin, die bei dieser Methode auftauchen. Indem er den Fall der französischen nasalen Vokale a n f ü h r t , folgert er sehr richtig, daß ein deutscher, ein italienischer oder ein spanischer Linguist, der in seiner Muttersprache nicht an diese Laute gewöhnt ist, darin einen besonderen Zug der französischen Sprache erblicken wird. Ein Pole oder ein Portugiese dagegen, der in seiner eigenen Sprache ständig nasale Vokale hat, wird sie als etwas Natürliches betrachten und in anderen Gregebenheiten besondere Merkmale der französischen Sprache suchen. Um diese Nachteile zu vermeiden, müssen Kriterien geschaffen werden, durch die eine objektive Einschätzung ermöglicht wird. Sicherlich wird man dann in theoretischer Beziehung Ergebnisse erzielen, die wir mit Recht von der Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik erwarten. Einen geglückten Versuch sprachwissenschaftlicher Charakteristik bietet uns W. M E Y E R - L Ü B K E , op. cit., § 55 ff., S. 66ff., wo die äußeren sprachlichen Besonderheiten der gegenwärtigen französischen Sprache beschrieben werden. I n lautlicher Hinsicht hält M E Y E R - L Ü B K E folgende Besonderheiten fest: 1

Vgl. das Buch dieses Gelehrten, das den Titel trägt Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaus, Berlin 1893.

Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik

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1. „In der raschen unbeeinflußten Rede des Alltags gehen alle Wörter auf einen betonten Vokal aus." 2. Es fällt auf, daß das Französische ein reichhaltiges Vokalsystem besitzt (außer a, e, i, o, u sind ö, ü vorhanden, wobei e, o, a, ö noch verschiedene Klangfarben aufweisen. „Der oralen Reihe steht eine etwas ärmere nasale zur Seite : ä, e, ö, ö. Diphthonge fehlen gänzlich"). 3. „Der Hauptdruck ruht auf dem letzten Vokal, aber dieser Druck ist von dem der anderen Vokale wenig verschieden und je länger je mehr greift eine Verschiebung der Druckstelle nach der ersten Silbe um sich." 4. Es liegt eine starke Neigung zur Artikulation in der vorderen Mundregion vor. 5. In akustischer Hinsicht herrschen die Vokale vor. 6. Da die Konsonanten bestimmt artikuliert werden und ein scharfer Übergang vom Konsonant zum Vokal besteht, gibt es kaum Gleitelaute. Was die Flexion betrifft, so besteht das hauptsächliche Charakteristikum nach M E Y E K - L Ü B K E darin, daß die verschiedenen Beziehungen durch Partikeln ausgedrückt werden, die vor den Wörtern stehen (bei den Substantiven der bestimmte und unbestimmte Artikel, immer sind sie proklitisch; bei den Verben das Personalpronomen, das bekanntlich zu einer einfachen grammatischen Form geworden ist, so daß es nicht beiseite gelassen werden darf, und ebenfalls in der Mehrzahl der Fälle dem Verb vorausgeht; proklitisch sind auch die Hilfsverben). Das steht mit der Betonung der Wörter auf der letzten Silbe oder, wie noch gesagt werden kann, mit dem steigenden Rhythmus der französischen Sprache in Verbindung. Selbst die Ausnahmen sprechen in diesem Sinn. So wird der zweite Teil der Negation {pas, point, guère u. a.) hinter das Verb gesetzt, gerade weil er anfangs den Wert eines unabhängigen Wortes hatte, das wichtiger als das Verb selbst war. Daher bewahrt er bis heute nicht nur seinen Platz, sondern auch den Hauptton im Satz, selbst dann, wenn er eine rein formale Funktion erfüllt (wie in je sais pas, wo, da das ne fehlt, pas nur als Negation, d. h. als grammatische Form dient). Denselben Einfluß übt die Endbetonung auch auf die Wortstellung aus. Die bestimmenden Wörter als die wichtigsten stehen nach den bestimmten (vgl. la fille du roi gegenüber lat. regis filia und afrz. la roi fille), und zwar die unterscheidenden Adjektive nach ihrem Substantiv, während die Demonstrativ- und Possessivpronomen und die Adjektive, die nur eine ornamentale Rolle spielen, vor das Substantiv gesetzt werden.1 1

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In cet homme ist das Demonstrativpronomen eine einfache grammatische Form, d. h., es zeigt das Ortsverhältnis zwischen dem Sprecher und dem Objekt, das dieser bestimmt, an. Wenn wir diese Beziehung herausstellen wollen, fügen wir die Partikel ci hinzu, und zwar nach dem Substantiv, weil sie das wichtigste Wort in der gesamten Konstruktion ist : cet homme-ci. Ebenso verhält es sich mit dem Possessivpronomen: mon livre kann niemals seine Wortstellung ändern, weil mon von den Franzosen nur als grammatische Form gefühlt wird. Wenn sie es für notwendig halten, das Besitzverhältnis hervorzuheben, sagen sie mon livre à moi, also mit à moi am Schluß, an der hauptsächlichen Stelle (gerade wie ci im vorhergehenden Beispiel). Was diese zwei Funktionen der Adjektive betrifft, so vergleiche man un homme grand und un grand homme, une porte basse und une basse vengeance usw. (Es liegen dabei sehr verschiedene Bedeutungsnuancen vor.) lordan, Rom. Sprachwissenschaft

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Die französische Sprache hat auch EENST LEWY 1 zu charakterisieren versucht in seinem Aufsatz Zur Wesensgestalt des Französischen in: Z R P h X L I I (1922), S . 71 ff. Im Unterschied zu MEYER-LÜBKE analysiert LEWY eine einzige Besonderheit der französischen Sprache: die Klarheit oder, was f ü r ihn dasselbe ist, ihren abstrakten Charakter. 2 Zahlreiche Fakten sprechen in diesem Sinn: die Nominalflexion, zu der er mit einem veralteten und nicht passenden Ausdruck analytische 3 Flexion sagt, d. h. das Ausdrücken der grammatischen Beziehungen durch spezielle Wörter, nicht durch Endungen (vgl. de la mère gegenüber lat. matris; aux hommes gegenüber lat. hominibus u. a.), ferner die Wortstellung im Satz (Subjekt, Prädikat, Objekt: eine andere Wortstellung ist nur in ganz bestimmten Fällen gestattet, z. B. im Fragesatz), die Wiederholung des Subjekts in Konstruktionen wie ton père est-il venu? usw. Dieselbe Tendenz zur Klarheit, zur genauen Beobachtung und zum präzisen Ausdrücken der Tatsachen beweisen auch andere charakteristische Züge, wie das Aufzeigen der Beziehungen zwischen den Wörtern durch Ortspräpositionen, folglich durch sprachliche Elemente, die eine gesonderte Bedeutung haben (z.B. de beim Genetiv, à beim Dativ; die Formeln wie auprès de, à côté de usw., die begonnen haben, einen nominalen Charakter zu erlangen, usw.), dann die Demonstrativpronomen von der Art wie cet homme-ci, die Präpositionen, Adverbien und Konjunktionen (von letzteren besonders die untergeordneten, die größtenteils mit que gebildet werden). Ich habe weiter oben gesagt, daß ein Unterschied zwischen der Charakterisierung der französischen Sprache durch MEYER-LÜBKE und der durch LEWY vorliegt. Die zitierten Fakten sowohl des einen als auch die des anderen sind richtig, zuweilen werden sie bei beiden wiederholt. Nur der Gesichtspunkt ist verschieden : MEYER-LÜBKE als Romanist und Verfasser zahlreicher grammatischer Werke fühlte sich von dem äußeren, sozusagen formalen Aussehen dieser Sprache angezogen; LEWY, der unserem Fach gegenüber fremd war, beschäftigte sich mit einer Eigenschaft, die den Nichtfachleuten bekannter ist und die im 1

2

3

LEWY war Professor für finnougrische Sprachen an der Universität Berlin und Schüler von F . N. FINCK. FINCK veröffentlichte in der Sammlung Göschen ein

Buch Die Haupttypen des menschlichen Sprachbaues, Leipzig-Berlin 1910, in dem er versucht, alle Sprachen des Erdballes in sechs Haupttypen zu gruppieren. Dabei stützt er sich auf ihre wesentlichen Besonderheiten. U m das Verständnis für die Darlegungen zu erleichtern, gibt der Verfasser je einen Text in der repräsentativsten Sprache des entsprechenden Typs. Dann geht er zur Analyse der charakteristischen Züge jener Sprache über. LEWY wendet die Methode seines Lehrers vorzugsweise auf die finnougrischen Sprachen an (vgl. Zum Bau des Erdsja-Mordwinischen in: Heinrich Winkler zum 60. Geburtstage, Mellrichstadt 1920, S. 8ff.; und Kurze Betrachtung der ungarischen Sprache in: U J IV [1924], S. 41 ff.), doch auch auf andere Sprachen, wie es der Artikel beweist, der weiter oben erörtert worden ist, und der Aufsatz Betrachtung des Russischen in : ZsPh II (,1325), S. 415ff. Vgl. auch die Studie von VIGGO BBONDAL, Le français, langue abstraite, Copenhague 1936. LEWY sagt „die Zerlegung eines Komplexes in die Elemente, die ihn bilden".

Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik

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allgemeinen als Hauptmerkmal aller Schöpfungen des französischen Volkes betrachtet wird.1 Ehe ich diesen Abschnitt beende, erachte ich es für nützlich, noch einige bibliographische Angaben zu machen. Erstmals wandte diese Methode auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft G U S T A V G E Ö B E E an in seinem Aufsatz Eine 1

Die französische Sprache h a t in dieser Beziehung auch die Aufmerksamkeit anderer Sprachwissenschaftler auf sich gezogen. Vgl. z. B. die Studie von E . W I N K LER, Vom sprachwissenschaftlichen Denken der Franzosen, erschienen in W S (Neue Reihe) I (1938), S. 45ff. u n d S. 81ff., wo nicht von b e s t i m m t e n Besonderheiten der Sprache der Franzosen die Rede ist, sondern von deren „ G e i s t " , so wie er sich in ihren Auffassungen über die Sprache ä u ß e r t : die Tendenz zum Formalismus, der soziale Charakter der Sprache (folglich jedes „ Ä u ß e r e " : die Sprache ist ein einfaches Mitteilungsinstrument) u n d a n d e r e Aspekte des sprachwissenschaftlichen französischen Denkens, die n a c h W I N K L B E U. a. den Unterschied zwischen „ S p r a c h e " u n d „ S p r e c h e n " erklären, die T r e n n u n g von Sprache u n d Denken (bei B A L L Y Z . B . geht diese T r e n n u n g so weit, d a ß die Sprache oftmals als eine Fessel beim Ausdrücken des Gedankens b e t r a c h t e t wird) usw. Diesen Besonderheiten des französischen „Geistes", so wie er sich in den sprachwissenschaftlichen Theorien der französischen Linguisten äußert, stellt W I N K L E E die spezifischen Züge des deutschen „Geistes" entgegen: die Verinnerlichung, das tiefe Denken u. a. Der Autor dieses Aufsatzes erweist sich als ein moderner Fortsetzer der Lehre H E E D E R S u n d H U M B O L D T S , der s t a r k vom Nazismus beeinflußt worden w a r . Dieser Aufsatz erinnert sehr a n das umfangreiche Werk chauvinistischen I n h a l t s Esprit u n d Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen u n d des Franzosen, Bielefeld 1927, von E D U A R D W E C H S S L E R . W i r dürfen nicht vergessen, d a ß die e r n s t h a f t e u n d objektive Zeitschrift W ö r t e r u n d Sachen im J a h r e 1938, als W I N K LER seinen Aufsatz veröffentlichte, in die H ä n d e der Vertreter der Rassenlehre, m i t H . G Ü N T E R T a n der Spitze, gekommen war. Einen sehr gründlichen u n d im allgemeinen gut gelungenen Versuch, die französische Sprache zu charakterisieren, m a c h t C H . B A L L Y (Linguistique générale et linguistique française, Paris 1932, 2. Auflage B e r n 1944), der von dem Gesichtspunkt ausgeht, wie sich diese Sprache gegenüber den Gesetzen der sprachlichen Darlegung u n d der Beziehung zwischen „ F o r m " u n d „ B e d e u t u n g " der Ausdrücke v e r h ä l t . Vgl. auch K . V O S S L E E , F r a n k reichs K u l t u r u n d Sprache, Heidelberg 1929, u n d E. L E B C H , Französische Sprache u n d Wesensart, F r a n k f u r t a m Main 1933, von denen bereits im I I . K a p i t e l die R e d e war. I n bezug auf die französische Sprache siehe a u c h W . v. W A R T B U R G , É v o l u t i o n et s t r u c t u r e de la langue française, Leipzig-Berlin 1937 (5. Auflage Bern 1958); A. S A U V A G E O T , Les procédés expressifs du français contemporain, Paris 1957. F ü r die italienische Sprache sei e r w ä h n t die Arbeit von M. B A R T O L I , Caratteri f o n d a m e n t a l i della lingua nazionale italiana e delle lingue sorelle i n : R . Università di Torino. Miscellanea della Facoltà di Lettere e Filosofia, Seria I, X I V (1936), S. 69—106; u n d f ü r das Spanische das B u c h von M. C R I A D O D E V A L , Fisonomía del idioma español. Sus características comparadas con las del francés, italiano, portugués, inglés y alemán, Madrid 1954. Vgl. f e r n e r : H E I N B I C H L A U S BERG, Vergleichende Charakteristik der italienischen u n d der spanischen Schriftsprache in: R F L X (1947), S. 106ff.; W . v. W A R T B U R G , Caratteristica comparativa dell'italiano e del francese i n : L a posizione della lingua italiana, Firenze 1940, S. 75ff., u n d das Kapitel Die Eigenart des französischen Sprachbaus u n d ihre historische Grundlage in: E i n f ü h r u n g in P r o b l e m a t i k u n d Methodik der Sprachwissenschaft, Halle a. d. S. 1943, S. 164ff. ; S. U L L M A N N , Précis de s é m a n t i q u e française, Bern 1952, S. 316ff., wo die „ d o m i n a n t e s sémantiques d u f r a n ç a i s " herausgestellt werden.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Tendenz der französischen Sprache in: Miscellanea linguistica in onore di Graziadio Ascoli, Torino 1901, S. 263ff., in dem er die Tendenz der französischen Sprache, offene Silben zu haben, verfolgt. W. M E Y E E - L Ü B K E versuchte auch, die charakteristischen Züge der rumänischen Sprache herauszuarbeiten, und zwar in Rumänisch, Romanisch, Albanesisch (s. Mitteilungen des Rumänischen Instituts der Universität Wien, Heidelberg 1914, S. lff.) und in Rumänisch und Romanisch (in: MAR, Sec^iunea Literarä, seria I I I , tomul V, Bucuresti 1930, S. l.ff.). Wie aus diesen Titeln ersichtlich ist, basiert die erste dieser beiden Studien auf dem Vergleich der rumänischen Sprache mit den anderen romanischen Sprachen und mit dem Albanesischen und die zweite nur auf dem mit den übrigen romanischen Sprachen. Der Gesichtspunkt M E Y E B - L Ü B K E S ist indessen auch hier derselbe. Er interessiert sich für die Besonderheiten der rumänischen Sprache und geht dabei so vor wie mit der französischen Sprache in Einführung in das Studium ..., nur daß er diesmal die charakteristischen Züge des Rumänischen mit den entsprechenden Fakten in den anderen verwandten Sprachen in Beziehung setzt. In Rumänisch, Romanisch, Albanesisch betrachtet er nur die Laute, in der Studie Rumänisch und Romanisch, die teilweise als eine Fortsetzung der ersten Arbeit betrachtet werden kann, erörtert er lautliche (allerdings nur wenige, für die übrigen verweist er auf die zuerst genannte Studie), morphologische und syntaktische Erscheinungen. Eine Zusammenfassung des Inhalts dieser beiden Studien kann wegen des großen Reichtums an Fakten, die der Verfasser analysiert, nicht mit wenigen Worten gegeben werden. Doch das ist auch nicht notwendig, weil hier nur gezeigt werden soll, worin die Methode der Charakteristik besteht. Und das ergibt sich, so meine ich, ziemlich klar aus den im vorliegenden Abschnitt gegebenen Erklärungen. Es sei jedoch noch vermerkt, daß in diesen beiden hier angeführten Arbeiten oftmals auf die Geschichte der entsprechenden Sprachen zurückgegriffen wird. Das geschieht offensichtlich deshalb, weil der Verfasser die vergleichende Methode gebraucht, die besonders bei einem Linguisten wie M E Y E R L Ü B K E durch die Gegebenheiten selbst mehr oder weniger historisch wird. Die zweite Studie besitzt für das Rumänische dadurch eine besondere Bedeutung, weil in ihr von der Feststellung H. SCHUCHABDTS ausgegangen wird (die dieser in einem Brief an G. W E I G A N D geäußert hatte), daß der endgültige Beweis für die Latinität des Rumänischen noch nicht geliefert worden sei. (?!) Nachdem M E Y E B - L Ü B K E die charakteristischsten Merkmale des Rumänischen in Verbindung mit den entsprechenden Erscheinungen in den verwandten Sprachen beschrieben hat, schließt er wie folgt: „Am romanischen Charakter des Rumänischen ist nicht zu zweifeln, es zeigt die romanischen Züge, ja es zeigt sie sogar vielfach reiner als die anderen Sprachen . . . den übertreibenden Zweifel Schuchardts nach der anderen Seite übertreibend könnte man sagen, das Rumänische zeigt die lateinisch-romanische Entwicklung am ungetrübtesten." (Rumänisch und Romanisch, S. 35/36.)

Schlußbetracktungen

Die im allgemeinen sehr optimistischen Einschätzungen, die ich im Hinblick auf die romanische Sprachwissenschaft in der ersten Auflage dieses Buches (S. 440ff.) traf, scheinen mir heute nur noch teilweise gültig zu sein, und zwar fast ohne Ausnahme vom quantitativen Gesichtspunkt aus. In der Tat wird unser Fach auch gegenwärtig durch eine umfangreiche und vielfältige Betätigung charakterisiert. Obgleich zahlreiche Autoritäten auf dem Gebiet der Romanistik nicht mehr am Leben sind, erscheinen immer mehr Studien in bezug auf die romanischen Sprachen 1 , weil die Zahl der Romanisten beständig zunimmt. Ich möchte dem noch die nicht unbedeutende Einzelheit hinzufügen, daß den Platz der für immer von uns geschiedenen großen Gelehrten andere eingenommen haben, die hinsichtlich ihrer persönlichen Befähigung im allgemeinen ebenso hoch wie ihre Vorgänger eingeschätzt werden können. Wenn wir uns indessen auf die Qualität der verfaßten Studien beziehen, die nach ihrer Bedeutung für die anderen sprachwissenschaftlichen Disziplinen und besonders für die allgemeine Sprachwissenschaft beurteilt werden, müssen wir anerkennen, daß die Romanistik heute nicht mehr die privilegierte, „führende" Position ihren Schwesterdisziplinen gegenüber einnimmt, wie ich das noch mit gutem Recht vor etwa dreißig Jahren feststellen konnte. Eher könnte man sagen, daß sie zurückgeblieben ist, nicht nur vom Gesichtspunkt der eigenen Neuerungen, der Konzeption und der Methode aus, sondern auch von dem der Aneignung einiger Neuerungen, die in die Sprachwissenschaft von den Vertretern anderer sprachwissenschaftlicher Disziplinen eingeführt worden sind. Meine Einschätzungen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, die 0 . KLAPP in einem Aufsatz in ZRPh L X X I I I (1957), S. 460FF., gibt. Nach KLAPP sind folgende Punkte charakteristisch für die von den romanischen Sprachwissenschaftlern und Philologen in der Zeit von 1940 bis 1954 entwickelte Tätigkeit: 1. „Die Einsicht, das Gefüge der romanischen Sprachen und Literaturen wieder mehr und mehr als Ganzes sehen zu müssen, die auf die Erkenntnis zurückgeht, daß sich die Methode aus dem Material, dem Stoff, in diesem Talle aus der Tatsache der gemeinsamen Wiege der romanischen Sprachen ergibt." 2. „Die auffallig starke Akzentverlagerung von der Literatursprache auf die Vulgär- und Umgangssprache in vielen neueren linguistischen Untersuchungen. Auch die Sprachgeographie ist aus dem Stadium der methodischen und experimentellen Klärung endgültig herausgetreten und erscheint nun mit neuen, z. T. großangelegten und umfassenden Arbeiten." 3. Die Wissenschaftler aller Länder sehen sich immer mehr „der Notwendigkeit gegenüber, aus ihren, nationalen Schulen'herauszugehen, 1

Vgl. das B u c h v o n A. KUHN, Romanische Philologie. I : D i e romanischen Sprachen, Bern 1951, und die Supplementbände zur Zeitschrift für romanische Philologie, die die Bibliographie der Publikationen auf dem Gebiet der romanischen Philologie bis 1955 geben. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch noch die Z u n a h m e der Fachzeitschriften, v o n denen eine jede sehr reiche bibliographische Angaben enthält.

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Kapitel IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

ihre Forschungsbereiche in größeren Zusammenhängen zu sehen und mit den Fachkollegen anderer Kontinente in Verbindung zu treten." 4. Die Entwicklung der allgemeinen Sprachsoziologie. Zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Erfolgen der romanischen Sprachwissenschaft unseres Jahrhunderts müssen die Sprachgeographie und die Stilistik gerechnet werden. Beide (vor allem die erste) haben sich als dauerhaft erwiesen in den Forschungen, die über andere spjachverwandte Gruppen und Familien unternommen worden sind. Wenn wir die Art verfolgen, wie sich die wissenschaftliche Tätigkeit der Romanisten nach der Bildung dieser beiden Zweige der Sprachwissenschaft auf der Grundlage der Ideen und Methoden ihrer Schöpfer ( G i l l i ^ e o n und B a l l y ) entfaltet hat, ist es nicht schwer, festzustellen, daß mehr quantitative als qualitative Fortschritte zu verzeichnen sind. Die wissenschaftliche Bedeutung der Sprachgeographie ist in dieser Hinsicht wesentlich größer als die der Stilistik. Ein Vergleich des A L F mit den anderen romanischen (und nichtromanischen) Atlanten beweist klar, daß die direkten oder indirekten Schüler von Gillüseon Neuerungen sowohl in der Konzeption als auch in den Methoden der Sprachgeographie gebracht haben. Ich brauche hier nur daran zu erinnern, daß bei den die Atlanten vorbereitenden Enqueten die Ethnographie und seit neuerer Zeit auch die Volkskunde 1 einbezogen wurden. Ferner sei der fruchtbare Gedanke erwähnt, regionale Atlanten anzufertigen. Von ihnen sind einige bereits fertiggestellt, während zahlreichere eben angefertigt oder geplant werden. Die sprachgeographischen Studien aber, die auf den Angaben der Atlanten basieren, selbst wenn ihre Anzahl größer geworden wäre (was ich weder bejahen noch verneinen kann, weil ich keine Statistik geführt habe), sind dennoch nicht auf der Höhe der Studien von GilliIsbon, Jabebg oder Jttd. Was die Stilistik betrifft, so haben wir eine völlig unbefriedigende Lage vor uns. B a l l y hat diese Disziplin als einen Zweig der Sprachwissenschaft im strengen linguistischen Sinne geschaffen, doch wurde und wird B a l l y s Methode von sehr wenigen Romanisten fortgesetzt. Dagegen nimmt die Zahl der Anhänger der Stilistik Spitzees zu, der von V o s s l e e ausgeht, weil er ebenfalls wie dieser das „schöpferische", d . h . individuelle Element verfolgt sowohl in der Gemeinsprache, was ziemlich selten vorkommt, als auch in der Sprache der Kunstwerke. Die letzten stilistischen Arbeiten Spitzees gehören fast ausschließlich zur Literaturwissenschaft, jedoch mit dem wichtigen Unterschied, daß die angewandte Methode gewissermaßen sprachwissenschaftlich ist: E r geht bei der Charakterisierung des Schriftstellers nicht vom Inhalt eines Werkes aus, wie es die Literaturhistoriker tun, sondern von den Ausdrucksmitteln, weil sich nach seiner Ansicht auch aus ihnen die Weltanschauung und Weltsicht des betreffenden Autors erkennen lassen. 1

Ich beziehe mich nicht auf die Studien der volkskundlichen Geographie, die von R. M e n e n d e z P i d a l unternommen wurden, sondern auf das Questionnaire der kolumbianischen Linguisten, das auch einen Abschnitt über literarische Volkskunde enthält.

Schlußbetrachtungen

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E s ist bezeichnend, daß in d e m u m f a n g r e i c h e n B u c h v o n HELMUT HATZFELD,

Bibliograßa critica de la nueva estilistica, Madrid 1955, von den über 2000 Titeln wenigstens 1800 Studien über den individuellen Stil (eines Schriftstellers oder eines literarischen Werkes) sind.1 Übrigens mußte der Autor einleitend betonen, daß es sich um die „neue, auf die romanischen Literaturen angewandte Stilistik" handelt, und dies tat er nicht, weil er von Anfang an entschlossen gewesen wäre, nur Arbeiten des literarischen Stils zu registrieren und zu erörtern, sondern wegen der überwältigenden Anzahl dieser Studien gegenüber Arbeiten auf dem Gebiet der sprachwissenschaftlichen Stilistik. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß in der westlichen Romanistik die Auffassung der sowjetischen Sprachwissenschaftler vom Stil und von der Stilistik anscheinend kein Echo gefunden hat. Bekanntlich sind diese Begriffe in der einschlägigen Fachliteratur der Sowjetunion der objektiven sprachlichen Wirklichkeit gemäß geklärt worden. Es gibt Sprachstile und Individualstile. Die Sprachstile sind die wesentlichen, weil die anderen im Rahmen der Sprachstile erscheinen und sich voneinander nicht nur durch die persönliche Färbung unterscheiden, die sie durch den Sprecher erhalten, sondern vor allem auch durch den spezifischen Charakter des Sprachstils, zu dem auf Grund seines Inhalts das entsprechende Werk gehört. Die Definition, die dem zur Betrachtung stehenden Begriff gegeben wird, fußt auf dem Gedankengut (im weiten Sinne), das von einem Tätigkeitsbereich zum anderen verschieden ist. Wir haben somit einen wissenschaftlichen Stil, einen literarischen (oder, genauer gesagt, einen künstlerischen), einen publizistischen, einen administrativen usw., denen der Stil der Umgangssprache hinzuzufügen ist. Auch er weist bestimmte Besonderheiten auf. Die Unterschiede zwischen diesen Stilen sind nicht nur lexikalischer Art (in erster Linie kommt der spezifische Wortschatz eines jeden hinzu), sondern auch solche der Phraseologie, der Verbindung der Wörter zu Syntagmen, zu einfachen und zusammengesetzten Sätzen. Einen besonderen Platz nimmt der Stil der literarischen Werke ein, der im Grunde ein eklektischer Stil ist, wenn ich so sagen darf: sowohl sein Wortschatz als auch seine Phraseologie gehören je nach den Umständen allen oder den meisten Sprachstilen an. Das Studium des künstlerischen Stils gehört auch zur Kompetenz des Sprachwissenschaftlers, weil es auf einer sprachwissenschaftlichen Konzeption beruht, ja beruhen muß, die von der realen Lage auferlegt wird, nämlich derjenigen, daß wie auch bei den anderen Stilen sprachliche Fakten als Ausdruck eines bestimmten Inhalts hinzutreten. Nur auf der Grundlage dieser Konzeption können Arbeiten über sprachwissenschaftliche Stilistik geschaffen werden, die wirklich wissenschaftlich und geeignet sind, zum Fortschritt der Sprachwissenschaft im allgemeinen beizutragen.2 1

2

Es handelt sich um Studien, die vor allem in den letzten 30 Jahren erschienen sind. Vgl. auch die 1953 in Genf erschienene Ausgabe: The Development of Stylistic Studies in the Romance Literatures, 1900—1952. A critical Bibliography. Vgl. die Diskussion, die in bezug auf die Stilistik in der Zeitschrift Bonpocu H3biK03HaHHH, Band I I , I I I und I V (1953, 1954, 1955) geführt worden ist.

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K a p i t e l IV. Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Was die mehr oder weniger neuen Strömungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft betrifft, so zeigen sich die Romanisten diesen gegenüber zurückhaltend. Ich denke vor allem an die verschiedenen Formen des Strukturalismus. Wenn gegenüber der Glossematik von L. H J E L M S L E V und seinen Schülern (vgl. z. B. K N U D T O G E B Y , Structure immanente de la langue française, Copenhague 1951 *) die Zurückhaltung mir sehr gerechtfertigt erscheint, so ist sie es aber nicht gegenüber der phonologischen Prager Schule 2 und selbst nicht gegenüber der „amerikanischen deskriptiven Sprachwissenschaft".3 1

2

3

Hier zwei Zitate aus diesem Buch, die den Zweck haben, den Sinn des Wortes „ i m m a n e n t " zu klären u n d d a m i t zugleich die Auffassung des Autors : „ L a m é t h o d e i m m a n e n t e a pour objet la langue considérée comme u n t e x t e infini dont il f a u t décrire la s t r u c t u r e . " (S 8.) „ L ' o b j e t d ' u n e description i m m a n e n t e e s t . . . la langue considérée comme u n t e x t e sans fin." (S. 23.) Vgl. a u c h die im allgemeinen negative Kritik, die E . A L A R C O S L L O R A C H , ein Anhänger der Phonologie, in Archivum V (1955), S. 172ff., a n der Arbeit von K . T O G E B Y , Mode, Aspect et Temps en espagnol, Copenhague 1953, ü b t , wo vom „glossematischen" Gesichtspunkt aus F a k t e n der spanischen Sprache analysiert werden, die m i t den im Titel dieser Arbeit angegebenen Problemen v e r b u n d e n sind. Ich h a l t e es in diesem Z u s a m m e n h a n g f ü r nützlich, aus dem Buch Économie des changements phonétiques. Traité de phonologie diachronique, Berne 1955, von A. M A R T I N E T , einem f ü h r e n d e n Vertreter der gegenwärtigen Phonologie, die folgende Stelle wiederzugeben: „Ceux qui t e n d e n t à identifier 'phonologie' et f o r m a lisme linguistique s'étonneront peut-être de voir ce t e r m e rapprocher de celui 'd'économie' avec t o u t ce que ce dernier implique de réalisme et de dynamisme. On espère que la lecture des pages qui suivent les convaincra que le choix n'est pas entre une linguistique traditionnelle que paralyse le respect du fait isolé, et u n e linguistique 'structurale' où se donne libre cours l'arbitraire du linguiste, entre u n e routine dépassée et u n byzantinisme stérile." (S. 7.) F ü r unser F a c h ist in höchstem Grade die Einschätzung v o n M A R T I N E T hinsichtlich der A c h t u n g d e m isolierten F a k t gegenüber gültig. Die „ E i n f ü h r u n g " dieses Buches besitzt v o m theoretischen Gesichtspunkt aus eine besondere B e d e u t u n g : Der Verfasser bespricht m i t leichter Polemik, die sich gegen die „ T r a d i t i o n a l i s t e n " u n d die „ S t r u k t u r a l i s t e n " wendet, grundlegende Probleme der Phonologie. Dabei plädiert er überzeugend, wie es j a das gesamte B u c h beweist, f ü r die Verbindung der Diachronie m i t der Synchronie. Die meisten sowjetischen Sprachwissenschaftler bezeugen trotz alles Problematischen theoretisch Verständnis f ü r diese zwei R i c h t u n g e n des gegenwärtigen Strukturalismus. Man vergleiche die inhaltsreiche u n d instruktive Diskussion, die von der R e d a k t i o n der Zeitschrift Bonpocu H3LiK03HaHHH, B a n d V (1956) u n d V I (1957), in Verbindung m i t den von den Strukturalisten gestellten Problemen organisiert worden ist. Hier verdient a u c h e r w ä h n t zu werden, d a ß der Aufsatz von H U G O M Ü L L E R , Sprachwissenschaft auf neuen Wegen, m i t dem U n t e r t i t e l Die beschreibende Linguistik in den U S A (erschienen in Z P h S V I I [1953], S. 1 ff.) zus a m m e n m i t zwei anderen Studien ins Russische übersetzt u n d veröffentlicht wurde in dem B a n d Oômee H HHRoeBponeiicKoe H3BIK03HAHNE, MocKBa 1956, S. 55ff. Ebenso w u r d e ins Russische übersetzt das B u c h von H . A. G L E A S O N , An I n t r o d u c t i o n t o Descriptive Linguistics, New Y o r k 1955. Mit der Tätigkeit der amerikanischen Linguisten auf dem Gebiet der deskriptiven Sprachwissenschaft beschäftigt sich J O H N B. C A R R O L L , T h e S t u d y of Language. A Survey of Linguistics a n d R e l a t e d Disciplines in America, Cambridge (Mass.) 1953, von dem E . M. U H L E N B E C K in

Schlußbetrachtungen

447

Charakteristisch für das Zurückbleiben unseres Faches scheint mir, daß die Gegner des Strukturalismus ihre traditionelle Position im allgemeinen nicht verlassen, sich also gewöhnlich damit zufrieden geben, so wie früher zu arbeiten, d. h. in einem Geist, der sich ziemlich dem der Junggrammatiker nähert. Sie häufen Fakten auf Fakten, die, selbst wenn sie an sich sehr interessant sind, wie das meistens der Fall ist, einen guten Teil ihres demonstrativen Wertes verlieren, weil ihnen mehr oder weniger formalistische Erklärungen gegeben werden. Ich führe hier zwei besonders wertvolle Werke an: G. ROTTLFS, Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten, 3 Bände, Bern 1949, 1954, und A L F L O M B A E D , Le verbe roumain, 2 Bände, Lund 1954, 1955. Beide Forscher gehören gegenwärtig zu den bedeutendsten Vertretern der romanischen Sprachwissenschaft. Sie haben bisher eine fruchtbare Tätigkeit entwickelt und verfügen über eine große Erfahrung, die ihnen erlauben würde, ich möchte sogar sagen, die sie verpflichten sollte, neue Wege einzuschlagen, um zu sicherlich höheren Ergebnissen zu gelangen. Die letzten beiden Romanistenkongresse (Florenz 1956 und Lissabon 1959) haben auch die Krise erkennen lassen, in der sich unser Fach befindet. Auf dem Kongreß in Florenz, wo auch theoretische Fragen erörtert wurden, haben sich die zahlreichen Vorträge hinsichtlich der Literatursprache im allgemeinen mit kleineren Aspekten dieses so wichtigen Problems beschäftigt. Zunächst behandelten fast alle Vortragenden Themen der künstlerischen Literatursprache, so daß bereits darin die veraltete Auffassung zum Ausdruck kommt, daß allein die belletristischen Werke in der Literatursprache1 geschrieben sind. Somit wird auch auf diesem Gebiet (wie auf dem der Stilistik) völlig die Tätigkeit sowjetischer Sprachwissenschaftler ignoriert, die unter Literatursprache nicht nur die Sprache aller geschriebenen Werke, gleich welchen Inhalts, verstehen, wenn sie vom Gesichtspunkt der Korrektheit aus (und dem anderer Eigenschaften, die sich aus ihrer besonderen Lage ergeben) völlig befriedigt, sondern auch die gesprochene Sprache, wenn diese den „Normen der Literatursprache" entspricht. In Lissabon fehlte nahezu vollständig eine allgemeine theoretische Orientierung, selbst im Geiste der älteren romanischen Sprachwissenschaft. Die Teilnehmer dieses Kongresses behandelten in ihren Vorträgen alle möglichen Fragen und bezogen dabei die verschiedensten theoretischen Positionen, was den Eindruck eines planlosen Durcheinanders von Themen und Interpretationen machte.

1

R P h X (1957), S. 343ff., sagt, daß er hinsichtlich der „Methodologie der deskriptiven Sprachwissenschaft" zu optimistisch sei: Fortschritte wurden nur in der Phonologie erzielt, während die Morphologie zurückgeblieben ist (das Problem der morphologischen Kategorien ist nicht geklärt). Der Rezensent weist auch die übertriebenen Lobeshymnen auf die amerikanischen Linguisten zurück, die er ohne Grund über die europäischen erhebt. Außer der Konfusion zwischen dem Begriff „Literatursprache" (im allgemeinen) und „die Sprache der belletristischen Literatur" tauchte noch eine andere auf, nämlich die zwischen „Literatursprache" und „Schriftsprache". So erklärt sich u. a., daß zwei Vorträge über die Straßburger Eide gehalten wurden, deren Sprache meines Erachtens nicht als „literarisch" betrachtet werden kann.

448

Kapitel I V . Die französische sprachwissenschaftliche Schule

Von dem Schlußkapitel der ersten Auflage des vorliegenden Buches bleibt weiterhin die Einschätzung gültig, die ich mit Hilfe der Worte S C H U C H A B D T S gab, die dieser große Gelehrte angesichts der bestehenden Lage in der gesamten und nicht nur in der romanischen Sprachwissenschaft im Jahre 1922 geprägt hatte: „Man hört jetzt: in der Sprachwissenschaft kriselt es; das ist ein gutes W o r t . " (Hugo-Schuchardt-Brevier, S. 451.) Es kann gesagt werden, daß die Krise nicht vorüber ist, sondern weiterhin anhält, sich aber unter anderen Formen äußert. Um sie zu überwinden, haben wir die marxistische Lehre zur Verfügung, nach der die Sprache als unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens und als Ergebnis des menschlichen kollektiven Lebens in enger Verbindung mit diesen ihren beiden Inhalten studiert werden muß. Die neue, auf dem Marxismus beruhende Sprachwissenschaft verwirft von der alten Sprachwissenschaft nur die falschen Ideen und Methoden, die das Produkt idealistischer Auffassung sind. Die Tätigkeit der materialistischen Sprachwissenschaftler besteht einerseits in der Bekämpfung dieser Ideen und Methoden, andererseits in der Ausarbeitung neuer Prinzipien, die mit der marxistisch-leninistischen Philosophie konform gehen.1 Die Anstrengungen in dieser Richtung sind vor allem in den Ländern zu finden, wo die gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen für die Entwicklung des materialistischen Denkens günstig sind. Es handelt sich in erster Linie um die Sowjetunion, deren Linguisten sich nicht nur als sehr aktiv erweisen, sondern auch als mutig in dem Sinne, daß sie die Probleme stellen und sie freimütig zu lösen suchen, von dem einzigen Wunsch beseelt, eine wahrhaft wissenschaftliche Linguistik zu schaffen. Zu diesem Zweck benützen sie all das, was sich in der bisherigen Tätigkeit der Fachgelehrten als wertvoll erwiesen hat, gleichgültig wann und wo diese Forscher arbeiteten oder arbeiten. Das zeigt u. a. sehr konkret die Tatsache, daß sie viele sprachwissenschaftliche Arbeiten ins Russische übersetzten und weiterhin übersetzen, um einer möglichst großen Anzahl von Interessenten wichtige Werke der westlichen Sprachwissenschaftler an die Hand zu geben. Ich bin davon überzeugt, daß ihre wissenschaftlichen Bemühungen, die von Fachkollegen in den sozialistischen Ländern und von einigen fortschrittlichen westlichen Sprachwissenschaftlern unterstützt werden, bald die erwarteten fruchtbaren Ergebnisse bringen werden. Von diesem Zeitpunkt an wird die Krise, in der sich die Sprachwissenschaft heute im allgemeinen und damit auch die ro-

1

Ein im allgemeinen gelungener Versuch, soweit ich es einschätzen kann, ist die in diesem Buch mehrmals erwähnte Arbeit Grundfragen der Sprachtheorie, Halle a. S. 1955, von G E B T R U D P Ä T S C H . Von den westlichen Sprachwissenschaftlern erweist sich M A B C E L C O H E N als einziger, der mit der marxistischen Sprachauffassung vertraut ist. Dennoch wendet er sie nur teilweise und nicht mit dem notwendigen Mut an in den Arbeiten Linguistique et matérialisme dialectique, Paris 1948; Pour une sociologie du langage, Paris 1956; Linguistique moderne et idéalisme in: Recherches internationales à la lumière du marxisme 1958, Nr. 7, S. 61 ff. (diese Studie erschien auch in V I V I I [1958], Fasz. 2, S. 57£f.).

Schlußbetrachtungen

449

manische Sprachwissenschaft im besonderen noch befinden1, überwunden sein; sie werden sich ungehemmt entwickeln und wertvolle Arbeiten hervorbringen. 1

Ausdruck dieser noch bestehenden Krise ist auch der in jeder Hinsicht aufschlußreiche Sammelband Linguistics Today. Published on t h e Occasion of t h e Columbia University Bicentennial, New York 1 9 5 4 , den A. M A R T I N E T u n d U . W E I N R E I C H herausgaben. Das ist sowohl aus dem Aufsatz The u n i t y of linguistics von A. MART I N E T ersichtlich als auch aus den vielfältigen Themen von Vertretern verschiedenster Richtungen, die dieses Sammelwerk behandelt. M A R T I N E T schreibt: „ T o d a y contacts are becoming more a n d more f r e q u e n t , a n d yet it is probably no exaggeration t o say t h a t t h e average member of one group is genuinely incapable of a t t a c h i n g a n y meaning t o t h e activities of t h e other g r o u p . " (S. 3.) A. V . I S A Ö E N K O k o m m t in seiner Besprechung dieses Buches zu dem Schluß, d a ß ein einheitlicher Gesichtspunkt über den Stand u n d die Aufgaben der Sprachwissenschaft trotz aller Versuche sich hier als unmöglich erweist: ,,So m u ß t e denn a u c h ein im J a h r e 1954 u n t e r n o m m e n e r Versuch, die Vertreter verschiedener sprachwissenschaftlicher Richtungen in einem Sammelband zu W o r t k o m m e n zu lassen, zu einem b u n t e n Mosaik meist scharfsinniger u n d origineller, aber nicht i m m e r überzeugender Abhandlungen über eine R e i h e von aktuellen Problemen f ü h r e n , zwischen denen m a n vergebens eine Querverbindung sucht. U n t e r diesem Gesichtspunkt b e k o m m t der englische Titel der Veröffentlichung „Linguistics T o d a y " durch seine Pluralform beinahe einen neuen Sinn." (ZPhS I X [ 1 9 5 6 ] , S. 270ff.)

ANHANG

Strukturalistische Bestrebungen in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft im Hinblick auf die romanische Sprachwissenschaft (Versuch eines kritischen Überblicks) Für die moderne Sprachwissenschaft ist ohne Zweifel die strukturelle Betrachtungsweise typisch. S. U L L M A N N formuliert in Précis de sémantique française, Bern 1952, S. 299, programmatisch: „Ce qui distingue le plus nettement la linguistique du XX e siècle de celle du XIX e , c'est son orientation structurale. Plus qu'aux éléments particuliers, elle s'intéresse aux 'structures', aux configurations et aux systèmes dont ils font partie et dont ils tirent leur valeur." Der Begriff „Strukturalismus" erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als sehr vieldeutig. A. M A R T I N E T betont: „Mais, sous l'étiquette commune et trompeuse de 'structuralisme' se retrouvent des écoles d'inspiration et de tendances fort divergentes." 1 Abgesehen davon, daß es zahlreiche Schulen und Gruppen gibt, die unter der Flagge des Strukturalismus oftmals völlig entgegengesetzte Ansichten vertreten, hat sich in der praktischen Forschung immer mehr die Notwendigkeit ergeben, die einzelnen Fakten in einen größeren Zusammenhang zu stellen, von einer Gesamtschau her die Gründe für die Veränderungen der einzelnen sprachlichen Tatsachen aufzudecken. Daran ändern auch die neueren in ihrer Methode den Junggrammatikern verpflichteten Handbücher nichts 2 , deren teilweise bewundernswürdige, von sehr viel Fleiß und Sammeleifer zeugende philologische Kleinarbeit erst auf einer strukturellen Ebene die notwendige Krönung erhalten dürfte. Doch in bezug auf diese rein strukturalistisch orientierte Forschung liegen außer zahlreichen programmatischen Erklärungen nur wenige Arbeiten vor, besonders auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft. Von diesen verhältnismäßig wenigen Studien mit neuer Blickrichtung gibt es wiederum nur einige, die zu neuen gesicherten Ergebnissen geführt haben. Es ist 1

s

Économie des changements phonétiques. Traité de phonologie diachronique, Berne 1955, S. 11. Vgl. H . L Ü D T K E , D i e strukturelle Entwicklung des romanischen Vokalismus, B o n n 1956, S. 6: „Trotz der beachtlichen theoretischen Fortschritte in der Betrachtung sprachlicher Veränderungen sind die Gesamtdarstellungen einer Sprache oder Sprachgruppe, die 'historischen Grammatiken', im wesentlichen auf dem Stand der Junggrammatiker geblieben. N i c h t , was die Einzelheiten betrifft : auf diesem Gebiet ist in den letzten 60 Jahren vieles geleistet worden; in der Romanistik läßt sich der Fortschritt besonders deutlich erkennen beim Vergleich der „Italienischen Grammatik" v o n Meyer-Lübke aus dem Jahre 1890 und der neuen „Historischen Grammatik" v o n Rohlfs. Das Material ist in ganz erheblichem U m f a n g erweitert, unsere Kenntnis der verschiedenen Regionen Italiens in bezug auf die sprachliche Gliederung wesentlich verfeinert und vervollständigt worden, — doch das Darstellungsprinzip hat sich kaum geändert."

Die Phonologie

451

also noch alles in Fluß. Viele in theoretischen Diskussionen vorgebrachte Prinzipien müssen erst noch ihre Feuerprobe in der Praxis bestehen, und manche allzu schnellen Folgerungen erwiesen sich in der Welt der sprachlichen Fakten als nicht stichhaltig. Falsche philosophische Voraussetzungen, u. a. die Verkennung der Grundfunktion der Sprache, führten in ein Dilemma, ehe überhaupt der Schritt zur Praxis, die Zuwendung zum sprachlichen Geschehen selbst erfolgte. I m allgemeinen unterscheidet man innerhalb des gegenwärtigen Strukturalismus, wenn wir vorläufig die Wortforschung ausklammern, drei größere Gruppen, die allerdings sehr wesentlich voneinander verschieden sind: 1. die Phonologie, 2. der amerikanische Strukturalismus oder die deskriptive Linguistik, 3. der Kopenhagener Strukturalismus oder die Glossematik. 1 Auf Grund der bisherigen Forschung verdient innerhalb der romanischen Sprachwissenschaft von diesen drei Richtungen die Phonologie wohl die größte Beachtung. Sie hat bisher allein durch die gebotenen Resultate wenn auch nicht immer im Einzelfalle zu überzeugen, so doch zumindest in fruchtbarer Weise anzuregen gewußt. Nicht zuletzt hat sie durch die Einbeziehung der Diachronie gewonnen, weil dadurch der Schritt über die so notwendige beschreibende Bestandsaufnahme hinaus zur Frage nach dem „Warum" der sprachlichen Veränderungen vollzogen wurde. 2 Hinzu kommt, daß entgegen bestimmten Prophezeiungen die Phonologie besonders nach dem 2. Weltkrieg in den philologischen Einzeldisziplinen eine größere Zahl von Anhängern gewonnen hat. Gerade diese Tatsache zeigt, daß V. P I S A N I S Formulierung vom „Schwanengesang" der Phonologie unbegründet ist. 3

Die Phonologie Auf den folgenden Seiten soll der Versuch unternommen werden, die Grundzüge als auch die Bedeutung und die Grenzen der Phonologie kurz zu umreißen, wobei sich im wesentlichen auf N . S. T R U B E T Z K O Y S Grundzüge der Phonologie 1

Vgl. die kritischen Berichte von K. HANSEN, Wege und Ziele des Strukturalismus i n : Z A A V I ( 1 9 5 8 ) , S . 341FF.; u n d H . H . CHRISTMANN, S t r u k t u r e l l e

Sprachwissen-

schaft. Grundlagen und Entwicklung in: R o J b I X (1958), S. 17FF.; F . SCHUBEL, Aufgaben und Ergebnisse der allgemeinen Linguistik in: S N X X (1947/48), S. 49FF. ; V. PISANI, Allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft. Indogermanistik, Bern 1953, S.9FF.; B. B. TOPHYHR, O xapaKTepe H3LIKOBOS CTpyKTypu 2

8

i n : V I V I I I ( 1 9 5 9 ) , F a s z . 1, S . 34FF.

Obgleich anfangs die meisten phonologischen Studien synchronisch orientiert waren, wurde doch gleich v o n Beginn an, zumindest theoretisch, v o n den Vertretern der Prager Schule die strikte Trennung SAUSSUBES zwischen Synchronie u n d Diachronie abgelehnt. Vor allem JAKOBSON setzte sich für die Einbeziehung der Diachronie in die phonologische Betrachtungsweise ein. Vgl. seinen Aufsatz Prinzipien der historischen Phonologie in: Trav I V (1931), S. 247ff. Vgl. A. V. ISAÖENKO, H a t sich die Phonologie überlebt? in: ZPhS I X (1956), S. 311 ff.

452

Anhang

sowie auf einige neuere phonologische Arbeiten über Probleme der romanischen Sprachwissenschaft gestützt wird und auf die kritischen Auseinandersetzungen, die darüber geführt wurden. 1 Die Phonologie ist eng mit dem „Cercle Linguistique de Prague" verbunden, der im Jahre 1926 gegründet wurde und auf dem ersten internationalen Linguistenkongreß 1928 in D e n Haag durch seine dort dargelegte phonologische Sprachkonzeption große Beachtung in der linguistischen Öffentlichkeit fand. Die eigentlichen Begründer der Phonologie sind N. S. T R U B E T Z K O Y (1890—1938) und 1

Vgl. u. a. neben N . S. T R U B E T Z K O Y , Grundzüge der Phonologie, P r a g 1939, u n d zahlreichen anderen Aufsätzen in T r a v (besonders B a n d IV, V I u n d V I I I ) A. MART I N E T , R e m a r q u e s sur le système phonologique du français in: B S L X X X I V (1933), S. 191 ff.; La phonologie in : F M V I (1938), S. 131 ff., u n d V I I (1939), S. 33 ff.; Le phonème et la conscience linguistique i n : F M X I (1943), S. 197ff.; La prononciation du français contemporain, P a r i s 1945; Description phonologique du parler franco-provençal d'Hauteville (Savoie) i n : R L i R X V (1945), S. 1 ff.; Où en est la phonologie i n : Lingua I (1947), S. 34ff.; Structural Linguistics i n : Anthropology Today, Chicago 1953, S. 574ff. ; Économie des changements phonétiques. Traité de phonologie diachronique, B e r n e 1955 (darin sind u . a . wiederabgedruckt: L a lénition en celtique et les consonnes du r o m a n occidental, S. 257ff., u n d Structures en c o n t a c t : Le dévoisement des sifflantes en espagnol, S. 297ff.); La description phonologique, avec application a u parler franco-provençal d'Hauteville (Savoie), Genève 1956; H . L A U S B E R G , Wesen u n d Aufgaben der Phonologie in: Z P h S I I I (1949), S. 2 4 9 - 2 6 1 ; Z u m französischen Vokalismus in: R F L X (1947), S. 308ff.; Zum romanischen Vokalismus in: R F L X (1947), S. 295ff.; Détresse phonologique u n d Mehrlautphoneme i n : A S N S C L X X X V I I (1950), S. 66ff.; H . L Ü D T K E , Die strukturelle Entwicklung des romanischen Vokalismus, B o n n 1956; H . W E I N RICH, Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte, Münster 1958; E . S E I D E L , Das Wesen der Phonologie, Bukarest-Kopenhagen 1943; E . F I S C H E R J Ö R G E N S E N , Phonologie. Bericht über Arbeiten in germanischen u n d romanischen Sprachen in: A v P h (1941), S. 170ff.; A . G. J U I L L A N D , A Bibliography of Diachronie Phonemics i n : Word (1953), S. 198ff.; A. G. H A U D R I C O U R T u n d A. G. J U I L L A N D , Essai pour u n e histoire structurale d u phonétisme français, Paris 1949; A. G. H A U D R I C O U R T , Problèmes de phonologie diachronique (français Ei > Oi) i n : Lingua I (1947), S. 208ff. ; B. M A L M B E R G , L e système consonantique du français moderne, L u n d 1943; Die Q u a n t i t ä t als phonetisch-phonologischer Begriff, L u n d 1944; A p r o p o s du système phonologique de l'italien in : AL I I I (1942/43), S. 34ff.; U . W E I N R E I C H , I S a Structural Dialectology Possible? in: W o r d (1954), S. 388ff.; H . F . J U N G E M A N N , L a teoría del sustrato y los dialectos hispanoromances y gascones, Madrid 1955; E . A L A R C O S L L O R A C H , Fonología española, Madrid 1954 (2. Auflage); E . B E N V E N I S T E , Tendances récentes en linguistique générale i n : J o u r n a l de Psychologie, 1954, S. 130ff. ; E . H A U G E N , Directions in M o d e m Linguistics in: Language (1951), S. 211 ff.; B. E . V I D O S , H a n d b o o k t o t de R o m a a n s e t a a l k u n d e , 's-Hertogenbosch 1956, S. 122ff. ; H . L. K O P P E L M A N N , Phonologie, strukturelle Linguistik u n d die Zweckmäßigkeit in der Sprache in : Anthropos L I (1956), S. 201 ff. ; J . ORR, H o m o n y m i e et phonologie in : V I I Congreso internacional de lingüística románica, Barcelona 1953, T o m o I I : Actas y memorias, Barcelona 1955, S . 621 ff. M. S A N D M A N N , Z U Martinet's Économie des changements phonétiques i n : Z R P h L X X I V (1958), S. 431 ff.; K . B A L D I N G E R , Z U Weinrichs Phonologischen Studien in Z R P h L X X I V (1958), S. 440ff.; O. C. AXMAHOBA, (|>0H0JI0RNH, MocKBa 1955.

Die Phonologie

453

Die phonologische Betrachtungsweise, deren Prinzipien von und den verschiedenen Vertretern der Prager Schule dargelegt worden sind, ist als bewußte Opposition gegen die atomistische junggrammatische Lehre zu werten. TRUBETZKOY stützte sich dabei auf entsprechende kritische Ansätze in der sprachwissenschaftlichen Tradition, die er dann ausbaute und zu einer selbständigen Lehre entwickelte. Er ging von F E R D I N A N D DE SAUSSURE aus und von dem russischen Linguisten BAUDOUIN DE COURTENAY, ohne allerdings dessen Schüler gewesen zu sein. Dieser russische Sprachwissenschaftler polnischer Herkunft unterschied als einer der ersten Laut und Phonem voneinander, erkannte aber noch nicht deutlich genug die darin liegenden Konsequenzen, weil er noch zu sehr der psychologischen Sprachbetrachtung verpflichtet war. 2 Bedeutender jedoch war, in der Gesamtsicht betrachtet, der Einfluß von SAUSSURE, dessen Cours de linguistique générale zweifellos den Ausgangspunkt für die moderne strukturelle Sprachwissenschaft schlechthin bildet. Besonders SAUSSURES Darlegungen über den Zeichencharakter der einzelnen Sprachelemente und damit die Betrachtung der Sprache als eines in sich gegliederten Systems von Zeichen besaßen für die phonologische Richtung große Bedeutung. E. S E I D E L stellt heraus: „Für die Phonologie wurde vor allem der Gedanke fruchtbar, daß den Sprachlauten Zeichencharakter zukommt. Dieser Betrachtungsweise liegt die Beobachtung zugrunde, daß die Bedeutung der Sprachlaute sich nicht in ihren physikalischen Eigenschaften erschöpft, sondern daß der Sinn des Gesprochenen erst dadurch zustande kommt, daß die einzelnen Laute Kontrastwerte zeigen." 3 Tatsächlich sollte gerade der Gedanke des Systems und innerhalb des Systems der der Opposition bei der Herausbildung der Phonologie eine entscheidende Rolle spielen. Die Sprachlaute interessieren nämlich vom phonologischen Blickpunkt aus nur insofern, als sie Unterscheidungsmerkmale darstellen, d. h. als ihnen innerhalb des Sprachgefüges ( = „langue" im Sinne SAUSSURES) eine bestimmte Funktion zukommt. ROMAN J A K O B S O N . 1

TRUBETZKOY

In seinen Grundzügen der Phonologie geht N. S. TRUBETZKOY von der SAUSSURE sehen Trennung zwischen Sprache und Sprechen, zwischen Sprachgebilde und Sprechakt aus. Da diese Bereiche in ihrem Wesen grundverschieden voneinander sind, gilt es, sie auch gesondert zu untersuchen. TRUBETZKOY unterscheidet daher die Sprachgebildelautlehre von der Sprechaktlautlehre. Erstere bezeichnet er als Phonologie und letztere als Phonetik. Damit ist eine radikale Trennung zwischen Phonetik und Phonologie vollzogen, die weitgehende Folgen hat und heftiger Kritik ausgesetzt war. 4 Den Phonologen geht es nicht um den 1

Sehr interessante allgemein sprachwissenschaftliche Werke v o n R . JAKOBSON sind u. a. Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Uppsala 1942, sowie in Zusammenarbeit mit M. HALLE, Fundamentals of Language, The Hague 1956. Vgl. auch die deutsche Übersetzung dieses Werkes : Grundlagen der Sprache, Berlin 1960.

2

E . SEIDEL, o p . c i t . , S . 13. E . SEIDEL, o p . c i t . , S . 1 1 / 1 2 .

3

4

Für TRUBETZKOY kann zwar die Phonetik eine Hilfswissenschaft der Phonologie sein, doch in methodischer Hinsicht vollzieht er eine radikale Trennung zwischen Phonetik und Phonologie. Diese dürfte aber nicht angebracht sein, weil ja beide dasselbe Objekt betrachten, den Sprechakt, wenn auch v o n einem völlig ver-

454

Anhang

physiologisch-akustischen Charakter der einzelnen Laute, sondern darum, welche Lautunterschiede in der betreffenden Sprache zugleich Bedeutungsunterschiede darstellen. Die bedeutungsunterscheidende Funktion der Laute steht allein im Vordergrund. TRUBETZKOY formuliert: „Die Sprachlaute, welche die Phonetik zu untersuchen hat, besitzen eine große Zahl von akustischen und artikulatorischen Eigenschaften, die für den Phonetiker alle wichtig sind, da nur die Berücksichtigung aller dieser Eigenschaften die genaue Beantwortung der Frage nach der Aussprache des betreffenden Lautes ermöglicht. Für den Phonologen sind aber die meisten dieser Eigenschaften ganz unwesentlich, da sie nicht als Untersuchungsmerkmale der Wörter fungieren. Daher decken sich die Laute des Phonetikers nicht mit den Einheiten des Phonologen. Der Phonologe hat am Laut nur dasjenige ins Auge zu fassen, was eine bestimmte Funktion im Sprachgebilde erfüllt." (S. 14.) Für die phonologische Betrachtungsweise ist also das lautliche Element ausschlaggebend, das einen Bedeutungsunterschied ermöglicht, der sich von den anderen bedeutungsdifferenzierenden lautlichen Elementen unterscheidet.1 Nach TBTTBETZKOY spielt für diese notwendige Unterscheidung der Begriff der Opposition eine große Rolle, weil gerade durch das Gegensatzverhältnis die distinktive Funktion erst klar hervortritt. Je nachdem ob die Opposition bedeutungsdifferenzierend ist oder nicht, werden zwei Arten von Oppositionen streng auseinandergehalten: „Schallgegensätze, die in der betreffenden Sprache die intellektuelle Bedeutung zweier Wörter differenzieren können, nennen wir phonologische Oppositionen. Solche Schallgegensätze dagegen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, bezeichnen wir als phonologisch oder indistinktiv." (S. 30/31.) Jedes Glied einer phonologischen Opposition wird von TRUBETZKOY phonologische Einheit genannt, wobei er darauf aufmerksam macht, daß phonologische Einheiten unterschiedlich in ihrem Umfang sein können. Die kleinste, nicht mehr zerlegbare Einheit bezeichnet TRUBETZKOY als Phonem 2 . Zu beachten ist dabei, daß das Phonem immer nur als Glied einer Opposition faßbar ist, daß es demnach ein Einzelphonem als solches nicht gibt. „Nicht das Phonem also ist der fundamentale Begriff der Phonologie, sondern die phonologische oder distinktive Opposition." ( S E I D E L , op. cit., S . 21.) TRUBETZKOY folgert daher: „Die Definition des Gehaltes eines Phonems hängt davon ab, welche Stelle dieses Phonem im gegebenen schiedenen Gesichtspunkt aus. Vgl. die sehr kritischen Bemerkungen von I. DAL, P h o n o l o g i e u n d S p r a c h w i s s e n s c h a f t i n : S L I V ( 1 9 5 0 ) , S . 1 f f . ; u n d d i e v o n AXMAHOBA, 1

a

op. cit. I. DAL, op. cit., S. 3—4, lehnt den einzelnen Laut als Sprachzeichen kategorisch ab. Für ihn ist das einzelne Sprachzeichen das Wort. Er schreibt über die Phoneme: „Diese kleinsten Teile gehören nicht der Sprache in unserem Sinne an, sondern ausschließlich dem Lautsubstrat, also dem sinnlichen Bestandteil, sie haben keine Entsprechung in dem Bedeutungsplan. Sie sind in diesem Sinne außersprachliche Größen." (S. 4) Vgl. ferner J. M. KOÄINEK, Laut und Wortbedeutung in: Trav VIII (1939), S. 58fF. Über den Charakter des Phonems im einzelnen besteht bis heute unter den Phonologen keine einheitliche Ansicht.

Die Phonologie

455

Phonemsystem einnimmt, d. i. letzten Endes davon, welchen anderen Phonemen es entgegengestellt wird." (S. 60.) Dieser Grundbegriff der Phonologie erhält also seine Bedeutung und Berechtigung zugleich nur vom System der Sprache, vom Sprachgebilde her. Er ist unmittelbar mit einer Einzelsprache verbunden, wie das besonders die Phonemkombinationen erweisen. Den Ausgangspunkt der phonologischen Betrachtungsweise bildet daher die Ermittlung des Lautsystems einer Sprache. Darunter ist die Bestandsaufnahme der Phoneme einer gegebenen Sprache, d. h. ihrer phonologischen Oppositionsmöglichkeiten, zu verstehen. E. SEIDEL unterstreicht (op. cit., S . 29), wie dabei darauf zu achten ist, daß zwei verschiedene Laute nur ein einziges Phonem darstellen können und daß alle Kombinationsmöglichkeiten der Phoneme erschlossen werden müssen. Weiterhin ist herauszuarbeiten, wie die einzelnen Phoneme und Phonemkombinationen in der gegebenen Sprache verwertet und ausgenutzt werden. TKTTBETZKOY legt in seinen Grundzügen der Phonobgie ausführlich dar, welche Arten von Oppositionen es zu beachten gibt. Er unterscheidet u. a. zwischen korrelativen und disjunktiven, zwischen eindimensionalen und mehrdimensionalen sowie zwischen proportioneilen und isolierten Oppositionen. Dabei folgert TBUBETZKOY sehr richtig, daß eine Opposition nicht nur solche Eigenschaften aufweist, durch welche die Disjunktion der einzelnen Oppositionsglieder zustande kommt, sondern auch solche Eigenschaften, über die die Oppositionsglieder gemeinsam verfügen. Es kommt also auf die Vergleichsgrundlage an, damit überhaupt eine Opposition möglich ist. Ein Beispiel diene hierfür zur Illustration: „So ist z. B. im Deutschen die Opposition t—d eindimensional, weil t und d die einzigen dentalen Verschlußlaute des deutschen phonologischen Systems sind. Hingegen ist die Opposition d—b im Deutschen mehrdimensional, weil das, was diesen zwei Phonemen gemeinsam ist, nämlich die schwache Verschlußbildung, außerdem noch bei einem anderen deutschen Phonem, nämlich bei g wiederkehrt." (S. 6 1 . ) Schon dieses Beispiel zeigt, wie sehr TBUBETZKOY bemüht ist, in subtiler Weise das Gemeinsame und das Trennende im Lautsystem einer Sprache aufzudecken, wie er den systemhaften Aufbau der einzelnen Elemente, ihr Ineinander aufzuzeigen bemüht ist. Die physiologisch-akustischen Merkmale, wie „stimmhaft — stimmlos", „nasaliert — unnasaliert", „gerundet —ungerundet" usw., erhalten von den Einzelsprachen her ihre nähere, d. h. funktionelle Bestimmung. Es erfolgt ihre Abstraktion zum Phonem und davon ausgehend der Schritt zu den Phonemkombinationen. Die dabei genutzten und ungenutzten Möglichkeiten sind entscheidend für den Charakter der jeweiligen Sprache, nämlich des betreffenden innersprachlichen Lautsystems. Damit ist zugleich ein sehr wichtiger Ansatzpunkt für die Hervorhebung der spezifischen Merkmale einer Sprache gegeben. In diesem Fall kann der Linguist natürlich nur rein synchronisch das gegebene Phonemsystem einer Sprache erforschen. Doch da es eine absolute Synchronie nicht gibt und die Sprache sich ständig, wenn auch nahezu unmerklich, verändert, folgt daraus die Notwendigkeit, auch das Werden einer Sprache, das ist in diesem Falle die Veränderung eines Phonemsystems einer Sprache zu untersuchen. Mit Recht betont E. SEIDEL: „Ein gegebenes Phonemsystem besteht nur innerhalb einer bestimmten Zeit und für bestimmte Generationen von Sprechern. 30 Iordan, Horn. Sprachwissenschaft

456

Anhang

Nur für diese gewährleistet es die Auseinanderhaltung der verschiedenen Wörter. Wenn aber eine Generation beginnt, bestimmte Phoneme nicht mehr auseinanderzuhalten, wenn sie eine phonologische Opposition auflöst oder umgekehrt aus einem Phonem zwei werden läßt, so ist mit dieser Änderung immer der Umbau des gesamten Systems verbunden." (S. 2 6 . ) R O M A N J A K O B S O N war der erstePhonologe der Prager Schule, der es unternahm, die Verbindung zwischen Synchronie und Diachronie vom Blickpunkt phonologischer Betrachtungsweise aus herzustellen. 1 Es ist bemerkenswert, daß seit dem Ende des 2. Weltkrieges gerade auf dem Gebiet der historischen Phonologie ziemlich erfolgreich gearbeitet wird. In erster Linie ist dabei A. M A B T I N E T 2 zu nennen. Die isolierte Betrachtung einzelner regelmäßiger sprachlicher Veränderungen, die die Junggrammatiker fälschlicherweise als „Lautgesetze" ausgaben, wird durch die diachronische Phonologie aufgehoben. Von einem Ganzheitsstandpunkt aus erscheint die anscheinend einzelne lautliche Veränderung als Folge der Umschichtung eines Phonemsystems. H. W E I N KICH spricht deshalb davon, daß in der diachronischen Phonologie nicht mehr die Oppositionen der Phoneme den Zentralbegriff bilden würden wie in der synchronischen Phonologie, sondern daß die Kollision der Phoneme im Mittelpunkt stehe. Er folgert weiter: „Es gibt daher zwei grundverschiedene Arten des Lautwandels, solchen, der die Oppositionen zwar verschiebt, aber doch bestehen läßt (Kettenreaktion), und solchen, der die Oppositionen durch Phonemkollision aufhebt. Nur der letztere hat semantische Konsequenzen. Schließlich können auch neue Oppositionen entstehen, besonders durch Phonematisierung von Varianten. Umgekehrt gehen Oppositionen durch Entphonematisierung (Entphonologisierung) der Phoneme verloren." (op. cit., S. 6.) M A R T I N E T geht es in diesem Zusammenhang nicht nur um die Umschichtung des Phonemsystems, sondern er möchte zugleich auch feststellen, welche innersprachlichen Tendenzen neben außersprachlichen Momenten diesen Umgliederungen des Lautsystems einer Sprache im allgemeinen zugrunde liegen. Dabei sieht er in dem Prinzip der Ökonomie, d. h. in dem Bemühen, mit der geringsten physischen und geistigen Anstrengung den höchstmöglichen Kommunikationseffekt zu erzielen, einen sehr wesentlichen Faktor. M A B T I N E T meint: „L'évolution linguistique en général peut être conçue comme régie par l'antinomie permanente des besoins communicatifs et expressifs de l'homme et de sa tendance à réduire au minimum son activité mentale et physique. Sur le plan des mots et des signes, 1

2

Vgl. auch G. GOTJGENHEIM, Réflexions sur la phonologie historique du français in : T r a v V I I I (1939), S. 262£f. ; A. G. H A U D B I C O U R T , Quelques principes de phonologie historique, ebenda, S. 270ff.; N. VAN WIJK, L'étude diachronique des phénomènes phonologiques et extra-phonologiques, ebenda, S. 297ff., und Umfang und Aufgaben der diachronischen Phonologie in : Mélanges de linguistique et de philologie offerts à J. van Ginnecken, Paris 1937, S. 93ff. MABTINET ist heute wohl der repräsentativste Vertreter der diachronischen Phonologie. Zahlreiche Linguisten widmeten ihm eine Festschrift: Miscelánea Homenaje a André Martinet 'estructuralismo e historia', La Laguna 1957 (2 Bände). Vgl. außer den bereits zitierten Studien von ihm noch Rôle de la corrélation dans la phonologie diachronique in: Trav V I I I (1939), S. 273ff.

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457

chaque communauté linguistique trouve à chaque instant un équilibre entre les besoins d'expression qui demandent des unités plus nombreuses, plus spécifiques et proportionnellement moins fréquentes, et l'inertie naturelle qui pousse vers un nombre plus restreint d'unités plus générales et d'emploi plus fréquent. L'inertie est un élément permanent qu'on peut supposer immuable, mais les besoins communicatifs et expressifs sont, d'un âge à un autre, soumis à variations, et la nature de l'équilibre se modifiera au cours du temps." 1 Von dieser Sicht aus erweist sich die strukturell-funktionelle Sprachbetrachtung als fruchtbar, wird doch dadurch der Gedanke des sprachlichen Systems in den größeren Zusammenhang des allgemeinen Sprachgeschehens hineingestellt. Die phonologische Betrachtungsweise bedeutet ohne Zweifel einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der traditionellen Forschung, weil sie von einem Ganzheitsstandpunkt aus die einzelnen Erscheinungen und deren Veränderungen betrachtet und damit versucht, die sprachliche Wirklichkeit genauer zu erfassen. In den bisherigen phonologischen Einzeluntersuchungen zeigt sich dabei jedoch vielmals die Gefahr einer Schematisierung, die der Mannigfaltigkeit sprachlichen Geschehens nicht Rechnung trägt. Zu leicht wird mit „Systemzwang" operiert und das Nebeneinander einzelner Formen und Varianten übersehen. H. H. CHRISTMANN zieht in diesem Zusammenhang eine Parallele zu GILLIÉRON, der manchmal etwas gewaltsam mit dem Prinzip der Homonymie verfuhr, wenn es die Ursachen für bestimmte sprachliche Veränderungen aufzudecken galt. „Wie man im Gefolge Gilliérons die Wichtigkeit der Homonymie für den Wortschwund überschätzte, und manchmal die entlegensten Homonymien heranholte, um den Ersatz eines Wortes durch ein anderes zu rechtfertigen, so neigt man in der Phonologie dazu, das Zusammenfallen zweier Phoneme, nur weil es zur Verwechslung eines oder zweier Wortpaare führen könnte, als Ursache für einen totalen Umsturz des Systems anzusehen." 2 Mit fast mathematischen Methoden werden Folgerungen gezogen, die auf Grund der bisherigen sprachwissenschaftlichen Erfahrungen den Verdacht erregen müssen, daß dem Systemgedanken zuliebe die sprachliche Wirklichkeit in ihrer Vielfalt einer vorausgesetzten, in sich beruhenden symmetrischen Ordnung wegen gewaltsam standardisiert wird. 3 Das System einer Sprache ist nicht so in sich geschlossen, daß eine Veränderung unabwendbar andere nach sich ziehen muß, also eine Kettenreaktion auslöst und damit eine Umschichtung verursacht. 4 Die 1 2 3

4

Économie des changements phonétiques, Berne 1955, S. 94. Op. cit., S. 26. H. LAUSBERG formuliert daher vorsichtig: „Ein phonologisches System ist also ein geordnetes Ganzes. Gewisse symmetrische Eigenheiten z. B. sind im System nicht zu verkennen. Das ist ganz natürlich ; denn die Sprache selbst ist auch in den höheren Bereichen der Wörter, Wortformen, Satzbildungsmöglichkeiten ein geordnetes Ganzes: die soziale Funktion der Mitteilung ist mit sprachlichen Mitteln ja nur vollziehbar, wenn die Sprache kein Chaos ist." (Romanische Sprachwissenschaft, Berlin 1956, Band I, S. 79.) Es ist bezeichnend, daß H. WEINKICH, op. cit., S. 5, auf die Feldtheorie von TRIER Bezug nimmt. Doch gerade dieses völlig in sich geschlossene „Feld" wurde bisher von den meisten Wortforschern als apriorische Konstruktion abgelehnt. Vgl. den noch folgenden Abschnitt „Kritik der Feldtheorie", S. 483.

30»

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teleologische Konzeption vieler Phonologen ist gegenüber der sprachlichen Wirktichkeit wohl kaum haltbar. W. v. W A R T B U R G erhebt gegen den Begriff der Zweckmäßigkeit im lautlichen Bereich der Sprache schwere Bedenken und weist in dieser Hinsicht auf einen entscheidenden Unterschied zwischen der lexikologischen und der lautlichen Seite der Sprache h i n : „Der Wortschatz ist mehr als irgendein anderer Teil der Sprache mit dem Intellekt verbunden und von ihm abhängig. Deshalb ist hier das Bewußtsein ganz anders in der Lage, die dem Verständnis abträglichen Folgen von Kollisionen durch Verschiebung von Wörtern zu beheben. I m Lautlichen aber, dem ,materiellsten' Teil der Sprache, ist es gefahrlich, ohne weiteres eine derartige Korrektur anzunehmen, auch schon deswegen, weil wirkliche Kollisionen hier immer nur wenige Wörter einer Serie betreffen. Daß der Drang nach einer gewissen Kongruenz innerhalb des Lautsystems so groß sei, wie etwa behauptet und auch hier behauptet wird, ist eine unbewiesene und höchst unwahrscheinliche Annahme." 1 Der Gedanke des sprachlichen Systems, mit dem die Phonologen arbeiten, leidet an einer gewissen Einseitigkeit, da nur das verstandesmäßig bedeutungsdifferenzierende Element berücksichtigt wird. Die emotionell-affektive Komponente der Sprache findet kaum Platz im phonologischen System. H. W E I N R I C H betont daher gleich in der Einleitung zu seiner Arbeit Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte, daß der Phonologie bestimmte Grenzen gesetzt sind. „Sie kann nur Laute in Hinblick auf die Bedeutung der Wörter sehen und nicht anders. Es ist gut, mit J . v. Laziczius kritisch auf diese Grenze phonologischer Erkenntnis nachdrücklich hinzuweisen. Der Aspekt, unter dem die Phonologie die Sprache sieht, ist intellektuell." 2 Bereits T R U B E T Z K O Y ging im Anschluß an K. B Ü H L E R S Dreiteilung der sprachlichen Äußerung auf diese Schwierigkeit ein, ohne jedoch Klärung zu bringen. Er fragt sich, ob neben der Darstellungsebene auch die Kundgabeebene und Appellebene zum Bereich der Phonologie gehören. Dabei kommt er zu folgendem Schluß : „Auf den ersten Blick scheinen diese Ebenen ausschließlich im Bereich des Sprechaktes zu liegen und daher nicht einer phonologischen, sondern nur einer phonetischen Untersuchung zugänglich zu sein. Bei näherer Betrachtung erweist sich aber diese Ansicht als falsch. Unter den Schalleindrücken, an denen wir die Person des Sprechers und die von ihm beabsichtigte emotionelle Einwirkung auf die Hörer erkennen, gibt es auch solche, die, um richtig verstanden zu werden, auf bestimmte, in der betreffenden Sprache festgesetzte Normen bezogen werden müssen. Solche Normen sind als Sprachwerte zu betrachten, sie gehören zum Sprachgebilde und müssen daher von der Phonologie behandelt werden." 3 T R U B E T Z K O Y läßt theoretisch den Einwand von J . v. L A Z I C Z I U S gelten, daß durch die Ausrichtung der phonologischen Betrachtungsweise auf die Darstellungsebene allein ein Mangel 1 2

ZRPh LXVI (1950), S. 377 (Besprechung des bereits zitierten Werkes von HAUDRICOURT u n d JITILLAND).

Op. cit., S. 9. Vgl. auch J. v. LAZICZIUS, Phonétique et phonologie in: Lingua I

(1947), S. 293ff. Grundzüge der Phonologie, Prag 1939, S. 18.

Die Phonologie

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vorliegt. Daraus ergibt sich für ihn die Forderung, noch eine spezielle Kundgabephonologie und Appellphonologie zu schaffen. Doch TBTJBETZKOY findet in der sprachlichen Realität selbst zu wenige Ansatzpunkte für ein in dieser Hinsicht gegebenes konventionelles Zeichensystem. Vor allem gibt es große Schwierigkeiten bei der Aufstellung von Grundsätzen für die Appellphonologie. „Die Scheidung zwischen Sprache und Sprechen, zwischen Sprachgebilde und Sprechakt, ist hier besonders schwierig und heikel." 1 Obgleich TBTJBETZKOY unbedingt eine Scheidung zwischen Kundgabephonologie und Appellphonologie für notwendig hält, schließt er doch beide aus dem eigentlichen phonologischen Bereich aus, denn anders kann ihre Versetzung in den besonderen Wissenschaftszweig der Lautstilistik nicht gedeutet werden. 2 Indem TRTJBETZKOY die Dreiteilung der Phonologie n a c h d e m von ihm gebilligten BüHLEKschen Modell der sprachlichen Äußerungen nicht für angebracht hält, stellt er heraus: „Der Name ,Phonologie' darf nach wie vor auf die Untersuchung der darstellungsrelevanten lautlichen Seite des Sprachgebildes beschränkt bleiben, während die Untersuchung der kundgaberelevanten und der appellrelevanten Elemente der lautlichen Seite des Sprachgebildes von der .phonologischen Stilistik' besorgt wird, die ihrerseits nur ein Teil der ,Lautstilistik' ist." 3 Diese Schwierigkeiten beruhen zum Teil auch darauf, daß die Phonologen von der BüHLEEschen Dreiteilung ausgehen, die etwas Künstliches an sich hat. 4 B Ü H L E R hatte vom genetischen Gesichtspunkt aus richtige Ansätze, wenn er die Kundgabe als reinen Empfindungslaut und den Appell im Sinne eines Lock- oder Warnrufes, d. h. die Hinwendung zum anderen in das vorsprachliche Stadium setzt. Doch er unterschätzt den Umschlag in die neue Qualität, wenn er die menschliche Sprache nur durch das hinzukommende Vermögen der Darstellung durch Zeichen entstanden und charakterisiert sieht. Darstellung heißt ja in diesem Falle zugleich die Einbeziehung der Kundgabe und des Appells in das Zeichensystem. Auf einer neuen qualitativen Ebene wird der einstige vorsprachliche Charakter aufgehoben und in einen sozialen verwandelt. Es ist also angebracht, daß von einer einheitlichen Kommunikation, von der Grundfunktion der Sprache ausgegangen wird. Wenn B Ü H L E R von einer dreifachen Leistung der menschlichen Sprache spricht, die Kundgabe, Auslösung und Darstellung umfaßt, so erfolgt außer der Vermischung von genetischer Fragestellung und der nach dem Wesen der Sprache eine Isolierung von drei Teilen, die ein Ineinander bilden und nicht, 1

Ebenda, S. 25. Die historische Phonologie sieht darin ein großes Reservoir für die phonologischen Bedürfnisse der Sprache. H . W E I N B I C H , op. cit., S. 1 1 , schreibt: „Wenn nämlich in einer Sprache neue Phoneme gebraucht werden, so können expressive Varianten ihrer bedeutsamkeitsdifferenzierenden Funktion entkleidet und als bedeutungsdifferenzierend (phonematisiert) in das Phonemsystem eingegliedert werden . . . Die diachronische Phonologie wird die Lautstilistik als eine Quelle der Unbeständigkeit im Lautsystem im Auge behalten." 3 Op. cit., S. 29. 4 ' Vgl. K. B Ü H L E R , Sprachtheorie, Jena 1934, und die kritischen Hinweise von G. PATSCH, Grundfragen der Sprachtheorie, Halle a. d. S. 1955, S. 34ff. und S.58ff. 2

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auseinandergerissen, einzeln verabsolutiert werden können. „Wie kann ich im Appell etwas ohne Bedeutung mitteilen ?. . . Der Ausdruck, die Persönlichkeit des Sprechers, kann selbstverständlich die Mitteilung färben, aber wiederum kann ohne gedanklichen Inhalt nicht von Sprache die Rede sein." 1 Die Sprache ist zugleich Ausdruck und Mitteilung. Nur von dem Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer aus erhält die Darstellung ihren Sinn. Ein Auseinanderreißen von Sender, Empfänger und Sachverhalt ist zwar in der sprachwissenschaftlichen Analyse möglich, doch in der sprachlichen Realität sind sie nur als Einheit faßbar. Weiterhin gilt es zu beachten, daß die phonologische Betrachtungsweise zwar bestimmte Einzelerscheinungen durch ihre innersprachliche Totalitätsauffassung zu erklären, jedoch nicht immer die letzten Ursachen sprachlicher Veränderungen anzugeben vermag. Mit rein strukturellen Erklärungen ist es angesichts der innigen Verkettung von Sprache und Gesellschaft nicht allein getan, so daß sich die Trennung zwischen innerer und äußerer Sprachwissenschaft als unangebracht, ja, als unhaltbar erweist. K. B A L D I N G E R hebt in seiner Kritik an der bereits zitierten Arbeit von H . W E I N B I C H hervor, daß die phonologische Betrachtungsweise zwar die Strukturveränderungen im Verlauf der Sprachgeschichte gut erkennen läßt und dadurch neue Zusammenhänge aufdeckt, aber die „eigentlichen Ursachen, die Gründe für den Beginn der strukturellen Veränderungen außerhalb der Phonologie liegen." 2 Die phonologische Betrachtungsweise bietet gegenüber der traditionellen Sprachwissenschaft den großen Vorteil, daß sie vom sprachlichen System aus die lautlichen Erscheinungen faßt, somit die Komplexität der sprachlichen Vorgänge beachtet. Die Gefahr eines „Konstruierens" liegt jedoch vor, wenn, wie bereits gesagt, das sprachliche System als völlig in sich gegliedert und geschlossen aufgefaßt wird. Besonders durch die von A. M A R T I N E T , H. L A U S B E R G und ihren Schülern betriebene diachronische Phonologie wird die Enge deskriptiv-synchronischer, struktureller Sprachbeschreibung durchbrochen und damit der Umgliederung des sprachlichen Systems große Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch gilt es hier noch mehr die Verbindung zur sogenannten äußeren Sprachgeschichte zu suchen, um die letzten Ursachen sprachlichen Werdens im Einzelfalle aufzuzeigen. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis von H. H. C H R I S T M A N N , daß das Übergehen von der inneren zur äußeren Sprachgeschichte methodischer Verfeinerung bedarf. Allerdings dürfte man auf Grund der neueren phonologischen Arbeiten im Bereich der romanischen Sprachwissenschaft nicht uneingeschränkt der nachstehenden Schlußfolgerung C H R I S T M A N N S beistimmen: „Vorerst hat man bei einigen phonologischen Arbeiten noch den Eindruck, der Verfasser führe überall da, wo er um innere Ursachen verlegen ist, äußere ein, die er dem Arsenal der traditionellen historischen Sprachwissenschaft entnimmt, so daß sich ein schwer überschaubares methodisches Ineinander ergibt." 3 Zu erwähnen ist ferner, daß die Phonologie auch bei der Einschätzung des Substrats in der Sprachgeschichte eine sehr positive Rolle spielen kann, weil hier das 1

G. PÄTSCH, o p . cit., S. 35.

2

Op. cit., S. 443.

3

Op. cit., S. 26.

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461

Ineinander von innersprachlicher struktureller Betrachtung und außersprachlichen geschichtlichen Faktoren auf der Hand liegt. Vom Lautsystem her kann der Substrateinfluß gefaßt oder bei fehlenden Voraussetzungen ein Argument für die Ablehnung bisher angenommener Substrateinflüsse gefunden werden. Gerade diese Verbindung zur Geschichte der betreffenden Sprachgemeinschaft ist von einigen Linguisten der Prager Schule als neues Ziel herausgestellt worden, als sie vor einigen Jahren ihre methodologischen Positionen überprüften. T K N K A formulierte als ihr Sprecher: „Der Strukturalismus ist unserer Ansicht nach eine Richtung, die die sprachliche Realität als Realisierung eines Systems von Zeichen betrachtet, die für ein bestimmtes Kollektiv verbindlich sind und von spezifischen Gesetzen beherrscht werden. Unter dem Zeichen versteht die Prager Schule ein sprachliches Korrelat der außersprachlichen Realität, ohne die es keinen Sinn und keine Existenzberechtigung hat." 1 Um die Phonologie von der eigentlichen strukturalistischen Sprachwissenschaft abzutrennen, sollte sie besser, wie das auch T E N K A vorschlägt, als „funktionelle Linguistik" bezeichnet werden. Besonders deutlich wird dies, wenn man die neueren Arbeiten der diachronischen Phonologie unter den folgenden vier Punkten betrachtet, die K . H A N S E N in seinem bereits zitierten Aufsatz Wege und Ziele des Strukturalismus als typisch für strukturalistische Sprachbetrachtung herausstellt: „1. die Betrachtung der Sprache als Struktur sui generis, die .befreit' ist von jeder Beziehung zur außersprachlichen Realität, vor allem vom Sprachträger, 2. die Betrachtung der Sprache auf synchronischer Ebene, 3. die Betrachtung der Sprache von der Form her als System von reinen Beziehungen, oft unabhängig von seiner tatsächlichen Realisierung, 4. den Versuch, die Sprachwissenschaft ,dem weit fortgeschrittenen Niveau der übrigen Wissenschaften' — genauer: der Naturwissenschaften — anzugleichen, sie zu einer exakten Wissenschaft zu machen."2 Diese vier Punkte treffen kaum alle für die neueren phonologischen Arbeiten auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft zu, und selbst die Punkte, die nach H A N S E N die Prager Schule mit den übrigen Strukturalisten gemein hat, sind nur sehr bedingt zutreffend, so die Absage an die atomistische Betrachtungsweise der Junggrammatiker und die sich daraus ergebende Forderung, die Sprache als ein System zu betrachten. Diese Bestrebungen dürften nicht allein bei den Phonologen und den Vertretern anderer strukturalistischer Richtungen gesucht werden. Gerade seit den letzten Jahrzehnten setzt sich immer mehr ein ganzheitlicher Standpunkt in der Sprachwissenschaft durch, der sich nicht allein auf die lautliche Seite, sondern auch auf die Syntax, Wortbildung und Lexikologie erstreckt. Nicht voll gültig ist ferner die Ansicht von K . H A N S E N , daß sowohl die Phonologie als auch der Strukturalismus die Sprachwissenschaft als autonome Wissenschaft auffassen würden, „die sich auf dem Begriff des sprachlichen Zeichens aufbaut, nicht ein Konglomerat von Psychologie, Physiologie, Logik und Soziologie" 1 2

Zitiert nach K. H A N S E N , op. cit., S. 375—376. Ebenda, S. 344.

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ist. 1 Das ist doch in vollem Maße—wie er selbst einschränkend feststellen muß—nur für den Strukturalismus zutreffend, denn gerade die neueren Forschungen haben erwiesen, daß diese hier getroffene Gleichsetzung von Phonologie und Strukturalismus nicht am Platze ist, weil verschiedene Phonologen den Anschluß an die äußere Sprachwissenschaft, an die Geschichte des Volkes, das diese Sprache spricht, suchen. Besonders die Neuorientierung der Phonologie, wie sie programmatisch in dem oben wiedergegebenen Zitat von TENKA vorgeschlagen wird, zeigt, daß in

Zukunft eine sehr fruchtbare Verbindung zwischen der strukturell ausgerichteten inneren Sprachwissenschaft und der äußeren Sprachwissenschaft zu erwarten ist. Die amerikanische deskriptive Sprachwissenschaft In der heutigen amerikanischen Linguistik herrscht im allgemeinen die deskriptive Sprachwissenschaft vor, wenn man von dem New Yorker Kreis absieht.2 Besonders BLOOMITELDS Language, New York 1933, erweist sich hierbei als das zentrale Werk. BLOOMFIELD operiert zwar in sprachhistorischer Hinsicht mit junggrammatischen Methoden und Grundsätzen, doch im Bereich der deskriptiven Sprachwissenschaft hat er neue Wege beschritten.3 Ihm kommt es hier auf die Analyse der gesprochenen Sprache an, d. h., er verfährt induktiv. Da für ihn die Bedeutung nicht konkret faßbar ist, geht er in erster Linie von der Form aus.4 Das bedeutet natürlich, daß er damit der Sprache als Verständigungsmittel nicht mehr gerecht wird. K. HANSEN betont, daß BLOOMFIELD durch seine mechanischmaterialistische Grundkonzeption, die er von den Behavioristen übernahm, nicht in der Lage ist, das Phänomen Sprache in seinem Wesen zu erfassen. „Wenn 1 2

3

4

Ebenda, S. 372. Der Linguistic Circle of New York „wurde 1943 von Sprachwissenschaftlern gegründet, die der École Libre des Hautes Études angehörten oder nahestanden, die während des zweiten Weltkrieges von geflohenen ausländischen Gelehrten, vornehmlich Franzosen, als eine Art Exiluniversität in New York geschaffen worden war". (K. H A N S E N , op. cit., S. 358.) H . M Ü L L E R , Sprachwissenschaft auf neuen Wegen. Die beschreibende Linguistik in den U S A in: ZPhS VII (1953), S. 2, schreibt: „Die Spezialisierung vieler amerikanischer Linguisten auf die deskriptive Methode wurde wesentlich gefördert durch das Studium der indianischen Sprachen. Nachdem durch F R A N Z B O A S hierzu die Wege geebnet worden waren, ist auf dem Gebiet eine außerordentlich große Zahl von Arbeiten erschienen." H A N S E N weist ferner darauf hin (op. cit., S. 359), daß die amerikanische Sprachwissenschaft direkten Kontakt mit der pädagogischen Praxis besitzt und daß politische Gründe das deskriptive Studium von „ungewöhnlichen Sprachen" seit dem 2. Weltkrieg ungemein förderten. Vgl. auch den Sammelband Readings in Linguistics. The development of descriptive linguistics in America since 1925, ed. M. J o o s , Washington 1957. „Die einen (Harris, Trager, Bloch u. a.) nehmen prinzipiell an, daß eine rein formale Beschreibung sprachlicher Einheiten ohne Berücksichtigung ihrer Bedeutung möglich und erschöpfend ist und daß sie allein eine exakte Formulierung der Ergebnisse zuläßt. Die anderen (Bloomfield, Fries, Pike u. a.) sprechen offen aus, was die reinen Formalisten in der Praxis zugeben müssen : daß es ohne die Bedeutung überhaupt nicht geht." (K. H A N S E N , op. cit., S. 362.)

Der Kopenhagener Strukturalismus

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die Sprache auf den Mechanismus von Reiz und Reaktion reduziert, so bedeutet das in letzter Konsequenz, daß sich der Mensch nur über die Dinge verständigen kann, die innerhalb seines eigenen Wahrnehmungsbereiches liegen. Nicht zufällig greift er bei der Wahl seiner Beispiele auf sehr einfache Situationen zurück, in denen es um die Befriedigung elementarster menschlicher Bedürfnisse geht. Die Sprache wird letztlich auf den Dialog reduziert. An die Stelle der Gesellschaft treten zwei Individuen, Sprecher und Hörer, die durch den Sprechakt unmittelbar verbunden sind." (op. cit., S. 361.) In Anbetracht der Tatsache, daß nur wenige moderne romanistische Werke diese methodische Ausrichtung haben und in ihren Resultaten nicht die erwarteten Ergebnisse zeigen, wäre es an dieser Stelle verfehlt, ausführlich die Methoden und Theorien der amerikanischen Strukturalisten zu erörtern. Erwähnt seien daher nur Structural Sketch: French, Baltimore 1948, und Descriptive Italian Grammar, Ithaka 1 9 4 8 , von R O B E K T A. H A L L JR. 1 sowie Structural Sketch of Rumanian, Baltimore 1 9 5 8 , von F R E D E R I C K B. A G A R D . Alle drei Arbeiten bieten außer einer neuen, nicht immer einfachen Terminologie keine neuen Erkenntnisse. Die französische, italienische und rumänische Sprache (d. h. die moderne gesprochene Sprache!) werden zwar völlig „untraditionell" nach ihren Elementen beschrieben, doch zu sehr herrscht das Bestreben vor, alles in ein empirisch gewonnenes, aber nichtsdestoweniger mechanisches System zu zwingen. Typisch ist auch, daß auf Grund der Unterschätzung des Bedeutungsfaktors die Syntax nur wenig oder im Falle der Arbeit von A G A R D nicht in all ihren wesentlichen Elementen zur Geltung kommt. Angesichts dieser Tatsache dürfte es nur für die Vertreter der diachronischen Phonologie sprechen, wenn sie die Studien von A. H A L L JR. vor allem einer scharfen Kritik unterzogen haben.2 BLOOMIXELD

Der Kopenhagener Strukturalismus Was auf dem Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft kurz über die amerikanische deskriptive Sprachwissenschaft gesagt worden ist, gilt auch für die Kopenhagener strukturalistische Schule, obgleich völlig andere philosophische Voraussetzungen vorliegen und die amerikanische Richtung wenigstens noch das Positive hat, daß sie induktiv von der gesprochenen Rede ausgeht. Die Hauptvertreter und Theoretiker des Kopenhagener Kreises sind V I G G O B R O N D A L ( 1 8 8 7 - 1 9 4 2 ) u n d LOÜIS HJELMSLEV.

brachte in seinem Aufsatz Linguistique structurale im ersten Heft der 1939 begründeten Zeitschrift Acta Lingüistica das Programm dieser struktuBR0NDAL3

1

2

3

V g l . a u c h v o n R . A . H A L L JE., A m e r i c a n L i n g u i s t i c s , 1 9 2 5 — 1 9 5 0 i n : A L i I I I ( 1 9 5 1 ) , S. l O l f f . , u n d I V (1952), S. l f f . V g l . H . H . CHRISTMANN, o p . c i t . , S . 3 4 .

Vgl. Essais de linguistique générale, Copenhague 194Á (dieser Sammelband umfaßt zahlreiche, bereits früher erschienene Aufsätze sowie eine Bibliographie der Werke BB0NDALS),undThéorie des prépositions. Introduction á unesémantiquerationelle, Copenhague 1950.

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ralistischen Richtung zum Ausdruck, indem er ganz entschieden von den Junggrammatikern abrückte und von der SATJSSUBESchen Auffassung der „langue" ausgehend seine Thesen entwickelte. Er trennt „parole" und „langue" völlig voneinander und sieht in der „langue" ein rein abstraktes Wesen, das für die Individuen die übergeordnete Norm bedeutet und ein „ensemble de types essentiels que réalise la parole de façon infiniment variable" darstellt.1 Neben seinem Bemühen, die Einheiten von Elementen zu identifizieren und diese dann in konstante, notwendige und konstitutive Korrelationen zu bringen, möchte B B O N D A L allgemein menschliche Faktoren entdecken und so neben Diachronie und Synchronie noch

eine Panchronie oder Achronie setzen.2 Im Gegensatz zu B B O N D A L ist für H J E L M S L E V die Sprache vor allem Form. „Ganz im Sinne der Saussureschen Definition der Sprache als System von bloßen Werten verlangt Hjelmslev daher, daß die Sprachwissenschaft nicht die Laute oder die geschriebenen Zeichen und Bedeutungen als solche studiere, sondern die durch sie dargestellten Elemente der Korrelation, denn diese sind für ihn die realen sprachlichen Einheiten und bilden das innere System einer Sprache, das sie von anderen Sprachen unterscheidet. Die Realisierung dieser Wechselbeziehung in Form von konkreten Lauten, Schriftzeichen oder Bedeutungen ist belanglos für das System, denn das sprachliche Zeichen existiert immanent, unabhängig 3

1 2

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AL I (1939), S. 5. AL I (1939), S. 8, heißt es: „Pour ce qui est de la distinction entre synchronie et diachronie, il faut bien admettre que le temps — ce grand obstacle à toute rationalité — se fait valoir à l'intérieur de la synchronie, et qu'il faut y distinguer entre statique et dynamique — le dernier constituant la base de l'existence de la syllabe dont l'étude, au point de vue structural, sera de la plus grande importance pour la description détaillée (accentuation, métrique) aussi bien que pour un véritable approfondissement de l'histoire des langues. — Dans cet ordre d'idées on posera également la question de savoir si, à côté du diachronique et du synehronique, il ne faut pas admettre une panchronie ou achronie, c'est-à-dire des facteurs universellement humains qui persistent à travers l'histoire et se font sentir à l'intérieur d'un état de langue quelconque." Seit ungefähr 1936 gebraucht H J E L M S L E V für seine Lehre den Ausdruck „Glossematik". Die Grundzüge seiner Glossematik hat er dargelegt in Omkring sprogteoriens grundlaeggelse, Köbenhavn 1943. Die englische Übersetzung dieser Schrift erschien 1953 in Baltimore unter dem Titel Prolegomena to a Theory of Language. Mehr oder weniger kritische Darlegungen der Lehre von H J E L M S L E V geben : V. P I S A N I , op. cit., S. 9ff. ; H . H . C H B I S T M A N N , op. cit., S. 34ff. ; K . H A N S E N , op. cit., S. 350ff. ; E . A L A B C O S L L O B A C H , Gramática estructural (según la Escuela de Copenhague y con especial atención a la lengua española, Madrid 1951; L. L. H A M M E B I C H , Les glossématistes danois et leurs méthodes in: APS X X I (1950 bis 1952), S. lff. und S. 87ff.; A. M A B T I N E T , A U sujet des 'Fondements de la théorie linguistique' de Louis Hjelmslev in B S L X L I I (1942-1945), S. 19FF. ; W . H A A S , Concerning Glossematics in: ALi V I I I (1956), S. 93ff.; E . COSEBITJ, Sincronía, diacronía e historia. E l problema del cambio lingüístico, Montevideo 1958, S. 150ff. ; I. DAL, Phonologie und Sprachwissenschaft in: SL I V (1950, S. lff., speziell S. 6ff.; O. C. AXMAHOBA, F n o c c e M a T H K a Jlyii EJIBMOIEBA KaK njJoHBJiemie ynajjKa COBp e M e H H o r o 6 y p m y a 3 H o r o H3HK03HAHHH in: V I I I (1953), Fasz. 3, S . 25ff. B . S I E B T S E M A , A study of glossematics. Critical survey of its fundamental concepts, 's-Gravenhage 1954.

Der Kopenhagener Strukturalismus

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von seiner Realisierung. . . . Phonetik und Semantik sind daher lediglich Hilfsdisziplinen der eigentlichen Linguistik." 1 H J E L M S L E V versucht mit naturwissenschaftlich-mathematischen Methoden in der Sprachwissenschaft zu arbeiten. Das wird von ihm als Element in der Analyse gefaßt, was sich als Schnittpunkt für mehrere Beziehungen erweist. Die sprachliche Realität schrumpft dabei zu einem Beziehungsgebilde zusammen. Besonders deutlich kommt dies in dem Ziel zum Ausdruck, das er der Sprachwissenschaft stellt: „Die Linguistik muß ihre Hauptaufgabe darin sehen, eine Wissenschaft vom Ausdruck und eine Wissenschaft vom Inhalt auf einer inneren und funktionalen Grundlage aufzubauen, erstere ohne phonetische und phänomenologische Prämissen zu Hilfe zu nehmen ; letztere ohne ontologische oder phänomenologische Prämissen (aber natürlich nicht ohne erkenntnistheoretische, auf denen alle Wissenschaft beruht). In einer solchen Linguistik, zum Unterschiede von der üblichen, wäre die Wissenschaft vom Ausdruck keine Phonetik und die Wissenschaft vom Inhalt keine Semantik. Eine solche Wissenschaft wäre eine Algebra der Sprache, die mit unbenannten, d. h. willkürlich genannten Einheiten operiert, die eine motivierte Benennung nur bei Konfrontierung mit der Substanz erhalten würden." 2 H J E L M S L E V will damit letztlich Sprachwissenschaft ohne Sprache treiben. Die sprachliche Mannigfaltigkeit, die Existenz der Sprache innerhalb der Gesellschaft und durch die Gesellschaft machen einer Abstraktion Platz, die durch Verfahren zustande gekommen ist, welche ihrem Gegenstand inadäquat sind. Das wird auch dadurch deutlich, daß es bisher keinem Vertreter der Glossematik gelang, diese Theorie in der Praxis zu erhärten, auch nicht K. T O G E B Y in seiner Arbeit Structure immanente de la langue française, Copenhague 1951. Dieses Werk bietet eine Analyse der französischen Sprache nach den Grundsätzen der Glossematik, wobei jedoch der im Titel angezeigte Gegenstand zu sehr von theoretischen Erörterungen zurückgedrängt wird. Hinzu kommt, daß dieses Buch eine sehr schwierige Lektüre darstellt, weil überlieferte sprachwissenschaftliche Termini wie „combinaison", „direction" und andere eine neue Sinngebung erhalten und terminologische Neuschöpfungen wie hétérocatégorique, homosyntagmatique, plérème usw. eher verwirren als zur Klärung beitragen. 3 1

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K. H A N S E N , op. cit., S. 353. Gegen die durch H J E L M S L E V versuchte Ausschaltung der lautlichen Substanz ist von verschiedenen Seiten heftig protestiert worden. I. DAL (op. cit., S. 12) hält H J E L M S L E V S Position für sehr bedenklich. Er schreibt : „Erstens muß man daran zweifeln, ob eine wissenschaftliche Beschreibung der Substanz unabhängig von der Sprache möglich ist. Jede solche Beschreibung kann doch nur durch das Medium der Sprache stattfinden. Denn auch die Experimente der Naturwissenschaft und ihre mathematischen Formeln müssen zuletzt in die gewöhnliche Sprache umgesetzt werden, um wirkliehe Erkenntnis zu sein." Vgl. auch F. H I N T Z E , Zum Verhältnis der sprachlichen „Form" zur „Substanz" in: SL III (1949), S. 86ff. Prolegomena to a Theory of Language, S. 50. Die deutsche Übersetzung wurde entnommen aus H. A B E N S , Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg-München 1955, S. 520. Vgl. auch K . T O G E B Y , Désorganisation et réorganisation dans l'histoire des langues romanes in Miscelánea a André Martinet «estructuralismo e historia», La Laguna 1957, Band I, S. 277ff. Dieser Aufsatz, der sprachhistorisch orientiert ist, vermag in seinen Darlegungen ebensowenig zu überzeugen.

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Die Feldtheorie von Jost Trier Der Gedanke des sprachlichen Systems, das Gegliedertsein eines sprachlichen Gefüges spielt auch in der modernen Lexikologie und in der Bedeutungsforschung eine große Rolle. Der entscheidende Vorstoß kam dabei von germanistischer Seite. J O S T T R I E B war der erste, der in theoretischer und auch in praktischer Hinsicht den strukturellen Totalitätsgedanken in seinem Werk Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, Heidelberg 1931, umfassend anwandte und entwickelte. Das Wort und seine begriffsverwandten sowie seine opponierenden Nachbarn bilden nach TBIER ein gegliedertes Ganzes, d. h. ein Wortfeld oder sprachliches Zeichenfeld. Sie bedingen sich gegenseitig so, daß das Einzelwort nur vom gesamten Gefüge her seine inhaltliche Bestimmtheit erhält. TRIER formuliert: „Die Bedeutung des Einzelwortes ist abhängig von der Bedeutung seiner begrifflichen Nachbarn. Alle schließen sich zu der Aufgabe zusammen, in den Block ungegliederten Bewußtseinsinhaltes gliedernde Grenzen einzubeziehen, ihn zu klären, ihn begrifflich faßbar zu machen." (S. 3.) Die Bedeutung des Einzelwortes kann damit nur aus dem Ganzen erschlossen werden, weil sie erst vom Gefüge her ihren Stellenwert, der gleichzeitig ihr Eigenwert ist, erlangt. „Nur im Feld gibt es Bedeuten", folgert TRIER. In diesem Zusammenhang verweist er auf SAUSSURE und hebt das Verdienst des Genfer Linguisten hervor, den Systemgedanken in der Sprachwissenschaft herausgearbeitet zu haben. Da SAUSSURE jedoch nur in der Synchronie das strukturelle Moment greifbar vorfindet, gibt sich TRIER damit nicht zufrieden. Er will statische und diachronische Sprachbetrachtung bei der Erforschung des Wortschatzes miteinander verbinden. E s steht also das Problem, wie Feldbetrachtung und Betrachtung des Werdens in Einklang gebracht und zu ihrem gegenseitigen Nutzen miteinander verbunden werden können. TRIER meint dieses Problem wie folgt zu lösen: „Wenn nur im reinen Sein eines ruhenden oder als ruhend gedachten Sprachzustandes die Struktur von Feldern sichtbar wird, wenn nur hier sprachlich-begriffliche Gruppenbildungen und die Abhängigkeit der Wortbedeutungen voneinander überhaupt 1

Vgl. noch folgende Studien von T B I E R : Die Idee der „Klugheit" in ihrer sprachlichen Entfaltung in: Zeitschrift für Deutschkunde X LVI (1932), S. 625ff.; Die Worte des „Wissens" in: Mitteilungen des Universitätsbundes Marburg III (1931), S. 33ff.; Über die Herkunft einiger Wörter des „sittlichen Bereichs" in: Studium Generale I (1947/48), S. 103ff. Abgesehen von mehreren germanistischen Arbeiten, liegen auch zwei romanistische Studien vor, in denen die TRiERSche Feldmethode angewandt worden ist : H. FISCHER, Der Intellektualwortschatz im Deutschen und Französischen des 17. Jahrhunderts; untersucht an Gerzans und Zesens „Sofonisbe", Berlin 1938; H. BECHTOLD, Der französische Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. (Die geistliche und lehrhafte Literatur von ihren Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts) in: B F X L I X (1935), S. 21ff. Hierzu vgl. auch P. ZUMTHOR, Pour une histoire du vocabulaire français des idées in: ZRPh L X X I I (1956), S. 340ff; und Note sur les champs sémantiques dans le vocabulaire des idées in: Neophilologus X X X I X (1955), S. 175ff. und S. 241ff.

Die Feldtheorie von J o s t Trier

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gesehen werden, so wird Geschichte nur möglich sein als komparative Statik, d. h. als eine sprungweise v o n Querschnitt zu Querschnitt fortgehende, stets und immer v o n neuem das Gesamtfeld ins Auge fassende zeitlich rückwärts und vorwärts vergleichende Beschreibung." (S 13.) D a ß dies nur ein Behelfsmittel ist und nicht die Totalität des geschichtlichen Werdens einzubeziehen vermag, beweist T R I E R S Nachsatz, daß v o n der Dichte der angelegten Querschnitte der Grad der Annäherung an die historische Realität abhänge. Die Diachronie wird aufgelöst in eine nacheinanderfolgende Schau v o n strukturellen Querschnitten. Sie ist damit weiter nichts als eine mehrschichtige Synchronie im Verlauf der Sprachgeschichte, wobei jedoch noch hinzugefügt werden muß, daß einzelne Querschnitte auf Grund des nicht lückenlos überlieferten Materials kein vollständiges Bild ergeben können. 1 Mit dieser strukturellen Betrachtungsweise wurde ohne Zweifel eine Bresche in die traditionelle Bedeutungslehre geschlagen. Die v o m Einzelwort ausgehende Semasiologie schien wissenschaftlich unhaltbar geworden zu sein, denn das Problem d e s Bedeutungswandels wurde unter einem völlig neuen Licht gesehen. Nicht ein Wort verändert im Laufe der Zeit seine Bedeutung, erhält einen neuen Inhalt, sondern das gesamte Gefüge, und v o n da aus auch das einzelne Element. 2 Doch 1

2

Natürlich gibt es gar keine andere Möglichkeit, einen Bereich des Wortschatzes einer Sprache strukturell u n d zugleich diachronisch zu erforschen, als durch Querschnitte. Das Problem besteht vor allem darin, d a ß diese Querschnitte verhältnismäßig dicht aufeinanderfolgen u n d d a ß dabei die entscheidenden historischen u n d gesellschaftlichen Veränderungen unbedingt berücksichtigt werden müssen. Ferner ist zu beachten, d a ß ein solcher Querschnitt niemals in jeder Hinsicht eine vollk o m m e n e Synchronie bietet, weil es auf Grund der ständigen Veränderungen eine absolute Synchronie nicht gibt. Ohne d a ß die Feldtheorie T R i E R s c h e r P r ä g u n g konsequent angewandt wird, ist doch festzustellen, d a ß die Bedeutungsveränderungen der W ö r t e r in der neueren Forschung immer mehr von einem größeren Z u s a m m e n h a n g her gefaßt werden. Die älteren R i c h t u n g e n der Semasiologie verfielen in den Fehler, das vereinzelte W o r t in bezug auf seine B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g e n zu b e t r a c h t e n u n d d a n a c h die einzelnen Fälle des Bedeutungswandels zu gruppieren u n d zu klassifizieren. Dabei b e n ü t z t e n sie logische, psychologische oder aus der klassischen R h e t o r i k entn o m m e n e Einteilungsprinzipien. Doch Feststellungen wie Bedeutungserweiterungen oder Bedeutungsverengungen, objektiver oder subjektiver Bedeutungswandel, Bedeutungsverbesserung u n d Bedeutungsverschlechterung k o n n t e n nicht z u m K e r n der sprachlichen Veränderungen vorstoßen. Auch h e u t e noch wird die Semasiologie von vielen Forschern in traditioneller Weise betrieben, w e n n auch immer mehr die Beziehungen zu den b e n a c h b a r t e n Gebieten wie Sprachgeographie, Psychologie, Kulturgeschichte u. a. gepflegt werden. H . K R O N A S S E R ( H a n d b u c h der Semasiologie. K u r z e E i n f ü h r u n g in die Geschichte, P r o b l e m a t i k u n d Terminologie der Bedeutungslehre, Heidelberg 1952, S. 77) b e t r a c h t e t z. B. als Aufgabe der Semasiologie „die Erforschung der Wortinhalte, ihrer Beziehungen u n d W a n d l u n g e n " . B e m e r k e n s w e r t ist in diesem Zusammenhang, d a ß die Grundfragen der Wortforschung, wie Beziehung zwischen W o r t u n d I n h a l t , zwischen W o r t u n d Sache, von K R O N A S S E R ausgeklammert werden ! F ü r die Erforschung der Wortinhalte ist n a c h K R O N A S S E R notwendig: „1. Die genaue B e s t i m m u n g der Bedeutungen. Dabei wird ihre Wandelbarkeit nach Zeit u n d R a u m offenbar u n d es erhebt sich 2. die Frage, ob es b e s t i m m t e A r t e n des Bedeutungswandels g i b t ; wenn ja,

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auch die onomasiologische Fragestellung: W i e wird d a s oder jenes bezeichnet? ist nach TRIEB. nicht für alle Bereiche des W o r t s c h a t z e s tauglich. I m Bereich der Sachen k ö n n e n die B e z e i c h n u n g e n f ü r Gegenstände, Körperteile u. a. deskriptiv u n d historisch erfaßt werden, doch bei g e i s t i g e n Begriffen ist eine Schranke g e s e t z t . T R I E B k o m m t z u d e m Schluß: „Man k a n n keine B e z e i c h n u n g s g e s c h i c h t e der K l u g h e i t aufstellen, wie m a n eine Bezeichnungsgeschichte der Sichel, der E g g e , der H a n d , d e s F u ß e s aufstellen kann. Ü b e r die Gleichartigkeit der bezeichn e t e n Gegenstände u n t e r r i c h t e t noch die Sachgeschichte, H a n d bleibt i m m e r H a n d , F u ß i m m e r F u ß . D e n Begriff der K l u g h e i t aber h a b e ich nur m i t d e m W o r t e . " (S. 16.) D a s Begriffsfeld „ V e r s t a n d e s e i g e n s c h a f t e n u n d K r ä f t e " k a n n n a c h T B I E B allein d e n I n h a l t des W o r t e s K l u g h e i t b e s t i m m e n . D a s jeweils gegebene sprachliche S y s t e m , d. h. die „Zahl u n d Lagerung der d e m W o r t e K l u g h e i t in e i n e m gegebenen Z e i t p u n k t begrifflich benachbarten, z u m gleichen geschlossenen Zeichenmantel gehörenden W o r t e " b e s t i m m e n d e n Zeichenwert d e s W o r t e s K l u g heit u n d d a m i t die B e d e u t u n g u n d B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g dieses W o r t e s i m Verlauf der Sprachgeschichte. D i e Bezeichnungsgeschichte f ü r geistige Begriffe k a n n daher n a c h T B I E B nur v o m g e s a m t e n Sinnbereich her erfolgen. D a s A u f zeigen des Feldgliederungswandels ist dabei d a s große Ziel der Sprachforschung.

3. welche s i n d die A r t e n d e s B e d e u t u n g s w a n d e l s ? 4. Die B e s t i m m u n g der n ä h e r e n U m s t ä n d e u n d der U r s a c h e n des B e d e u t u n g s w a n d e l s . " Diese A u f g a b e n s t e l l u n g zeigt, d a ß hier letztlich noch die traditionelle, rein e m p i r i s c h a u s g e r i c h t e t e Semasiologie vorliegt. Die F r a g e k a n n f ü r die B e d e u t u n g s f o r s c h u n g n i c h t l a u t e n Semasiologie oder Onomasiologie, s o n d e r n beide M e t h o d e n m ü s s e n e i n a n d e r ergänzen. E i n e bezeichnungsgeschichtliche A r b e i t wird d u r c h eine semasiologische B l i c k r i c h t u n g bei der C h a r a k t e r i s i e r u n g der einzelnen B e z e i c h n u n g e n eine wertvolle H i l f e erh a l t e n . I m A n s c h l u ß d a r a n w e r d e n n a t ü r l i c h die einzelnen W o r t m o n o g r a p h i e n in einen g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g hineingestellt, d. h., die Semasiologie wird i m Sinne der tieferen E r f a s s u n g des sprachlichen Geschehens in d e r Onomasiologie a u f g e h o b e n . Dieses I n e i n a n d e r w ä r e n a c h der TniEBschen F e l d t h e o r i e n i c h t möglich, weil d e n einzelnen Begriffen n i c h t ein gewisser E i g e n w e r t z u g e s t a n d e n wird. D o c h i m H i n b l i c k auf d a s V e r h ä l t n i s zwischen Begriff u n d W i r k l i c h k e i t erweist sich g e r a d e die onomasiologische M e t h o d e als f r u c h t b a r u n d die TRiERsche F e l d t h e o r i e als w i r k l i c h k e i t s f r e m d . H i e r einige n e u e r e A r b e i t e n ü b e r semasiologische P r o b l e m e : S. U L L M A N N , T h e principles of s e m a n t i c s , O x f o r d 1957 ( 1 . A u f l a g e e b e n d a 1951), u n d Précis de s é m a n t i q u e française, B e r n e 1952 (2. A u f l a g e 1959); E . G A M I L L S C H E G , F r a n z ö s i s c h e B e d e u t u n g s l e h r e , T ü b i n g e n 1951; G . E S N A U L T , L a S é m a n t i q u e i n : Où e n s o n t les é t u d e s d e f r a n ç a i s v o n A . D A T J Z A T , P a r i s 1949 (2. A u f l a g e ) ; O. F U N K E , Z u m P r o b l e m des B e d e u t u n g s w a n d e l s i n : Anglo-Americ a n a ; W i e n e r B e i t r ä g e z u r englischen Philologie, S. 5 3 f f . ; A . GILL, L a d i s t i n c t i o n e n t r e „ l a n g u e " e t „ p a r o l e " en s é m a n t i q u e h i s t o r i q u e i n : S t u d i e s in R o m a n c e Philology a n d F r e n c h L i t e r a t u r e , p r e s e n t e d t o J o h n Orr, M a n c h e s t e r 1953, S. 90ff. ; G . G O U G E N H E I M , P o i n t s de v u e n o u v e a u x e n s é m a n t i q u e i n : Critique L X X I I (1953), S. 429ff.; P . G U I R A U D , L a S é m a n t i q u e , P a r i s 1955; B . v. L I N D H E I M , N e u e W e g e d e r B e d e u t u n g s f o r s c h u n g i n : Neuphilologische Zeitschrift I I I (1951), S . 101 ff. ; H . C. S C H E E L , Geistesgeschichtlich o r i e n t i e r t e W o r t f o r s c h u n g in d e r r o m a n i s c h e n Philologie (1945-1954) i n : G R M X X X V I (1955), S. 5 3 f f „ u n d N e u e r e A r b e i t e n zur Lexikologie, e b e n d a , S. 253 ff. ; K . B A L D I N G E R , Die Semasiologie. V e r s u c h eines Überblicks, Berlin 1957; B. A. 3BErHHi);EB, CeMacHOJiorHH, MocKBa 1957.

Die Feldtheorie v o n Jost Trier

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Der Bedeutungswandel des Einzelwortes ist im Feldgliederungswandel aufgehoben, weil „Bedeuten ein Bedeuten im Feld und kraft eines Feldes ist". (S. 19.) Ist T R I E B in seiner Konzeption der Feldgliederung SATTSSURE verbunden, so in seinen weiteren philosophischen Folgerungen W E I S G E R B E R . 1 THIER bringt nämlich seine Feldtheorie in Zusammenhang mit dem Begriff der inneren Sprachform und dem des sprachlichen Weltbildes. Er ist der Ansicht, daß die Aufteilung eines bestimmten Feldes ein Stück sprachlichen Weltbildes zu erkennen gibt, und leitet davon den Schluß ab: „Erst durch die Untersuchungen der Feldaufteilungen wird der Grund dazu gelegt, zwei Sprachen oder zwei zeitlich getrennte Zustände derselben Sprache miteinander zu vergleichen. Denn die Sprachen unterscheiden sich wesentlich durch Zahl und Lagerung der zu einem gegebenen Begriffsblock gehörenden sprachlichen Zeichen." (S. 21.) W. v. HUMBOLDT, SO meint T R I E R , habe dies zwar erkannt, aber in seiner Auffassung der inneren Sprachform dem nicht Rechnung getragen, daß diese Seite der inneren Sprachform sich wandelt. Dadurch gerade ist es nach T R I E R möglich, in dem Feld- oder Gliederungswandel den Wandel des sprachlich-begrifflichen Weltbildes zu fassen. Der Vergleich zweier Sprachen im Sinne einer historischen Vertiefung erfordert daher, daß die Geschichte der Feldeinteilungen einer Einzelsprache vorausgeht. Wortgeschichte im TRiERschen Sinne wird durch die Ganzheitsbezogenheit, durch die Aufgliederung in Felder zur Begriffsgeschichte. Zwischen Begriff und Wort besteht hier eine innige Verkettung, keines existiert ohne das andere. Es ist nun bezeichnend, daß T R I E R diese Art Begriffsgeschichte als Geistesgeschichte unter Ausschaltung der konkreten historischen Realität betreibt. Er wendet sich gegen die unmittelbare Verquickung von ideologisch-geistesgeschichtlichen Fakten und sprachlichen Fakten und schreibt: „Wenn wir aber Begriffsgeschichte, also Geistesgeschichte als Beispiel der Feldgliederung vorführen, so hüten wir uns, ehe nicht unsere eigene, rein sprachgeschichtliche Aufgabe erfüllt ist, ein Wissen aus außersprachlicher geistesgeschichtlicher Sphäre in die Betrachtung eindringen zu lassen. Nicht Sprachgeschichte als Spiegel der Geistesgeschichte, sondern Geistesgeschichte nur in der Sprachgeschichte ist das Ziel." (S. 22.) In der Folgezeit kam T R I E R mehrfach auf die Feldtheorie, ihre Grundbegriffe und ihre Bedeutsamkeit für die Sprachforschung zurück. Manches wurde dabei stärker herausgearbeitet, präzisiert oder neu gefaßt. In dem Aufsatz Sprachliche Felder (Zeitschrift für deutsche Bildung V I I I [1932], S. 417ff.) betont er, daß das gesamte Sprachgefüge aus Feldern besteht, wobei er von folgender Überlegung ausgeht: „Das Element hat unmittelbar nur Beziehung zu dem ihm nächst übergeordneten kleineren Ganzen, dessen unmittelbares Glied es ist. Dies Ganze seinerseits ist Glied eines übergeordneten Ganzen und so fort bis zum Größten." (S. 418.) Jedes in sich gegliederte Feld ist also neben anderen in ein größeres Feld eingeordnet. Weiterhin unterstreicht TRIER in diesem Aufsatz, daß die Feldbetrachtung notwendigerweise vergleicht: entweder zwei verschiedene sprachgeschichtliche Phasen ein und derselben Sprache oder die gleichzeitigen Phasen verschie1

Bezüglich der Sprachtheorie WEISGEBBEKS vgl. S. 402ff. dieses Buches.

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dener Sprachen. So gelingt es, Einblick in das innere Wesen der jeweiligen Sprache einer bestimmten Epoche zu erhalten, während die vom Einzelwort ausgehende isolierte Betrachtung nie über gewisse Äußerlichkeiten hinauskam. Bemerkenswert ist ferner, daß sich T B I E B hier darüber äußert, welche K r ä f t e seiner Meinung nach auf das sprachliche Gefüge einwirken und es damit verändern. Seine Antwort lautet: „Die Umgliederungen im Gefüge gehn von den großen Männern einer Sprachgemeinschaft aus. Das Geheimnis des Ineinanders von System und Wandlung ist in ihnen konkretisiert. Sprachgeschichte muß philologisch sein." (S. 426.) Sofort fällt hier auf, daß durch eng philologische Blickrichtung das Sprachgeschehen von einer Winkelperspektive her gedeutet wird. Da von T B I E B nur die überlieferten literarischen Texte f ü r seine Untersuchung des deutschen Wortschatzes im Sinnbezirk des Verstandes benutzt wurden und benutzt werden konnten, erblickt T B I E B fälschlicherweise nur in den Schriftstellern die bedeutungsformenden und bedeutungsumgestaltenden Kräfte. Dabei übersieht er völlig, daß die Schriftsteller von ihrer Sprachgemeinschaft abhängig sind und daß der Anteil, den die Schriftsteller nach neueren Forschungen an der Sprachveränderung haben, nur sehr niedrig anzuschlagen ist. 1 In theoretischer Hinsicht ist vor allem sehr interessant T B I E B S Aufsatz Deutsche Bedeutungsforschung in: Germanische Philologie. Ergebnisse und Aufgaben. Festschrift f ü r Otto Behaghel, Heidelberg 1934, S. 173ff. I n diesem Beitrag bekennt er sich deutlich zu W E I S G E B B E B , rechnet mit der traditionellen Bedeutungslehre ab, betont, daß S A U S S U R E durch seine Linguistique synchronique den „Rückzug zum humboldtischen Gedanken der Gliederung (articulation) öffnet" und polemisiert leicht gegen W. v. WABTBUBG, wobei er seine Feldtheorie nach dem Methodologischen und Philosophischen hin auszubauen sucht. I h m geht es vor allem um die Überwindung der SAUSSUBESchen Trennung von Synchronie und Diachronie, die ebenfalls W. v. WABTBUBG, von der praktischen Wortforschung herkommend, in seiner Schrift Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft in Angriff genommen hatte. T B I E B interpretiert folgendes Beispiel, das W. v. W A B T B U B G erörtert und f ü r das Ineinander von Synchronie und Diachronie a n f ü h r t : A) Die südfranzösischen Mundarten haben die lateinischen Bezeichnungen für Katze cattus und Hahn gallus in entsprechend modifizierter Form beibehalten. B) Da im Gascognischen lat. Il > t wurde, trat eine Kollision ein, denn die Bezeichnungen für Katze und Hahn lauteten nun beide gat. Das bedeutete für die sprachliche Verständigung eine unerträgliche Homonymie, die beseitigt werden mußte. C) Die Sprecher griffen auf eines der bereits bestehenden affektgeladenen Trabantenwörter zurück, indem sie es an Stelle des durch Homonymie unbrauchbar gewordenen Wortes als Normalwort setzten, in diesem Fall auf bigey < vicarius, das den Platz von *gat < gallus einnahm und nun säuberlich getrennt von gat < cattus stand. W. v. W A R T B U R G folgert : „Die Diachronie A — B hat das Mittel bereitgelegt, mit dem die in der Synchronie B vorhandene Spannung gelöst werden kann." Nach Überwindung der entstandenen Unsicherheit haben wir dann die wiederhergestellte Ordnung in C. 1

Vgl. u. a. G. Lille 1951.

MATOBÉ,

Le vocabulaire et la société sous Louis-Philippe, Genève-

Die Feldtheorie von Jost Trier

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T R I E B pflichtet zwar den Darlegungen W . V. W A B T B U R G S bei, doch gibt er sich methodisch nicht damit zufrieden. Er stellt höhere Forderungen und bemerkt: „Wenn wir uns Sprachinhalt und Gliederung als die Zielgedanken unserer Arbeit vergegenwärtigen, dann erscheinen solche Vorgänge wie die durch v. Wartburg beschriebenen als merkwürdig ungeschichtlich. Es fällt ja allerlei vor, aber zum Schluß stellt sich heraus, daß nichts geschehen ist. Es ist kein wahrhaft geschichtliches Geschehen, wenn aus dem Zustand A mit cattus und gallus durch allerlei Verwicklungen schließlich wieder ein wohlgeordneter Zustand C mit gat und bigey hervorgeht." (S. 178.) T R I E R leugnet gar nicht, daß sowohl im Sinne der traditionellen Bedeutungslehre als auch in dem der Bezeichnungslehre hierbei Veränderungen erfolgten, aber er möchte dies vom Blickpunkt des Sprachinhaltes gewertet wissen. Dann zeigt es sich, daß sich innerhalb des begrifflichen Gefüges nichts getan hat. „Nur Wortinhalte haben sich geändert, nicht der Sprachinhalt. Das Stück Weltbild, das im Sprachzustand A mit cattus und gallus erschlossen worden war, ist genau das gleiche, das im Zustand C mit gat und bigey erschlossen wird. Gliederungsgeschichte kann nur da ein wirkliches geschichtliches Geschehen sehen, wo in der Art der sprachgegebenen Ausgliederung, Darstellung und Aufschließung des Weltinhaltes eine Änderung vor sich geht, wo die Sprachgemeinschaft in C um anderes weiß, als sie in A wußte." (S. 178/79.) Abgesehen von dem problematischen Begriff des sprachlichen Weltbildes werden hier die von T R I E R bei der Erforschung geistiger Begriffe gewonnenen Erkenntnisse verabsolutiert, indem sie auch als Grundsätze an andere Wortschatzbereiche herangetragen werden. T R I E R wirft W. v. W A R T B U R G vor, daß er die Bedeutsamkeit eines Beispiels im Sinne einer Verallgemeinerung übertreibe, und doch verfährt er mit seiner Theorie nicht nur in gleicher Weise, sondern verabsolutiert geradezu im Gegensatz zu W. v. W A B T B U B G seine aus nur einem Bereich gewonnenen Prinzipien. Weiterhin fällt auf, daß T R I E B sich nicht mit der dem „GimiiRONschen Mechanismus" nahestehenden Erklärung aus prinzipiellen Gründen einverstanden erklären will, doch andererseits nicht umhin kann, die gegebene Erklärung für den angeführten Einzelfall durch W. v. W A R T B U R G zu billigen. Die durch lautliche Veränderungen entstandene Homonymie ist für T R I E R ein äußerlicher Anstoß und bezeugt ihm, daß „immer noch das alte Auseinanderfallen der Ebenen von Anstoß und Wirkung" vorliegt. Er meint in diesem speziellen Fall: „Wir haben immer noch die alte Geistferne der Senkrechten." Von diesen mechanisch wirkenden äußeren Anstößen her würde man niemals die innersten Vorgänge der Wortschatzveränderungen, die sprachinhaltliche Gliederungsveränderungen sein müssen, erfassen. T R I E R kommt, von dem WABTBUBGSchen Beispiel ausgehend, zu der Ansicht: „Grundsätzliche Gleichartigkeit und die Möglichkeit jederzeitiger Wiederholung hebt diese Vorgänge aus dem Reich der Geschichte heraus." (S. 180.) Diese Schlußfolgerung zeigt nur, wie T R I E R nicht aus dem Dilemma herauskommt, weil er eben seine aus der Erforschung der Wörter des geistigen Sinnbereichs gewonnenen Prinzipien verabsolutiert. Diese grundsätzliche Gleichartigkeit kann nur als Tendenz innerhalb des sprachlichen Geschehens vorliegen. Die speziellen inner- und außersprachlichen geschichtlichen Umstände entscheiden 31 lordan, Rom. Sprachwissenschaft

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darüber, ob und in welchem Maße diese Tendenz realisiert wird. Allgemein sprachwissenschaftliche Tendenzen erhalten erst durch die Sprachgeschichte im weitesten Sinne des Wortes ihre Erfüllung bzw. Bestimmung. Hier gilt das dialektische Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. In diesem Bereich kann die Geschichte nicht eliminiert werden. T R I E R setzt sich in diesem Aufsatz weiterhin mit dem Begriff des sprachlichen Feldes auseinander, da PORZIG, JOLLES und I P S E N mit diesem Begriff bereits operierten, doch jeder Forscher etwas anderes darunter versteht 1 . Vor allem in seinem Artikel Das sprachliche Feld in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung X (1934), S. 428ff., betrachtet er kritisch von seinem Standpunkt aus die bisherigen Auffassungen des sprachlichen Feldes. Auch hier tritt deutlich hervor, daß T R I E R immer mehr W E I S G E R B E R S Sprachtheorie verpflichtet ist und ^besonders mit dem unhaltbaren Begriff der sprachlichen Zwischenwelt arbeitet. T R I E R definiert: „Die Felder sind die zwischen den Einzelworten und dem Wortschatzganzen lebendigen sprachlichen Wirklichkeiten, die als Teilganze mit dem Wort das Merkmal gemeinsam haben, daß sie sich ergliedern, mit dem Wortschatz hingegen, daß sie sich ausgliedern." (S. 430.) In diesen Zeilen ist schon angedeutet, daß der Feldbegriff kein empirisch gewonnener Arbeitsbegriff ist, sondern daß ihm ein philosophisches Prinzip zugrunde liegt. T R I E R betont, daß sein Feldbegriff aus seinem Sprachbegrifif, also letztlich aus seiner sprachphilosophischen Konzeption folgt. „Wenn der gegliederte und gebaute Raum der Sprachinhalte uns das Eigentliche an der Sprache ist, dann gelangt man zum Feld von oben her, teilend, nicht von unten her, sammelnd." (S. 449.) T R I E R kommt es stets auf das Sprachganze an, und er behauptet, daß das Feld immer etwas sei, das über sich hinausweist. Daher distanziert er sich von der Auffassung, die J O U E S oder PORZIG vom sprachlichen Feld haben. Diese beiden Forscher gehen vom Wort und seinem Sinnbereich aus, arbeiten also mit einem nach außen hin geschlossenen Bedeutungsfeld und erblicken in dessen Erschließung das Endziel ihrer forscherischen Bemühungen. 1

Sehr interessante Ansätze zur Feldforschung machte bereits R. M . M E Y E R in seiner Studie Bedeutungssysteme in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung XLIII (1909), S. 352 ff. Er unterscheidet zwischen künstlichen und natürlichen Bedeutungssystemen. Die Semasiologie hat nach ihm die Aufgabe, „für jedes Wort erstens festzustellen, welchem Bedeutungssystem (oder welchen Bedeutungssystemen) es angehört; zweitens, welches der systembildende, differenzierende Faktor dieses Systems ist". (S. 359.) Wohl als erster wandte G. I P S E N die Bezeichnung „Feld" an. In seinem Aufsatz Der alte Orient und die Indogermanen in : Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Festschrift für Wilhelm Streitberg, Heidelberg 1924, S. 200ff., spricht er vom „Bedeutungsfeld". In der Arbeit Der neue Sprachbegriff, erschienen in : Zeitschrift für Deutschkunde X L VI (1932), S. 1 ff., legt er nochmals seine Anschauung darüber eingehender dar, ohne sich der TraEBschen Konzeption dabei auch nur zu nähern. Andere Auffassungen vom „Feld" entwickelten vor allem W. P O R Z I G , Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen in : Pauls und Braunes Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur LVIII (1934), S. 70ff.; und A. J O L L E S , Antike Bedeutungsfelder, ebenda, S. 97 ff. In einer anderen Richtung arbeitet P. G U I R A U D ebenfalls mit einem Feldbegriff in Les champs morphosémantiques. Critères externes et critères internes en étymologie, BSL L U (1956), S. 265ff.

Kritik der Lehre Triers

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Kritik der Lehre Triers Gegen die TRiERsche Feldtheorie sind von der praktischen Wortforschung her verschiedene kritische Einwände erhoben worden, die in sachlicher Hinsicht größtenteils gerechtfertigt sind. Die kritischen Stimmen reichen von der kleinen Korrektur bis zur völligen Ablehnung. F. W E I S W E I L E R erkennt an (Die Wortfeldtheorie in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur L X X I X [1942], S. 249£F.), daß eine Untersuchung sinnverwandter Wörter, „auch mit dem Ziel, sie als Glieder eines geordneten Gefüges zu erweisen", von Wert ist, sofern nicht mit apriorisch gefaßten Kategorien an diese Aufgabe herangegangen wird. T R I E R gerade hat hier gefehlt, weil er nicht induktiv auf Grund des Studiums der Texte zu seinen Schlußfolgerungen kam. W E I S W E I L E R wirft T R I E R vor, daß für ihn diese Theorie vom sprachlichen Feld bereits feststand, „ehe er es unternahm, sie an den Texten nachzuweisen". (S. 267.) Weiterhin kritisiert W E I S W E I L E B , daß T R I E R den Nachweis des in sich gegliederten Feldes an einem völlig ungeeigneten Objekt versucht habe, weil in diesem Sinnbereich die Bedeutung der Wörter teilweise sehr schillernd ist und ineinander übergeht. Auch heute, folgert er, „ist die Sprache noch nicht intellektualisiert genug, um sich in das Schema einer solchen Theorie pressen zu lassen" (S. 267). W E I S W E I L E R zeigt an Einzelbeispielen aus dem Mittelhochdeutschen, daß im Mittelalter eine gewisse Sorglosigkeit der Wortwahl vorlag, d. h. ein geschärftes Sprachempfinden fehlte. Synonyma beeinflußten sich gegenseitig, „aber nicht im Sinne der Bedeutungsdifferenzierung, wie es nach der Wortfeldtheorie sein müßte, sondern umgekehrt im Sinne der Bedeutungsvermengung, derart, daß das eine die Bedeutung des anderen annimmt" (S. 265). Der Stellenwert des einzelnen Wortes im Gefüge kann eben nicht allein von der verstandesmäßigen Ebene der Sprache aus geklärt werden, sondern auch die emotionelle Komponente gilt es zu beachten, was wiederum bestimmte Konsequenzen hat. Gerade im affektiven Bereich ist nicht ein fein säuberliches Getrenntsein, ein klar erkenntlicher Stellenwert festzustellen, sondern ein Ineinanderübergehen. Hier dürfte das von I P S E N geprägte Bild vom Ansturm der Vokabeln auf einen Sachbereich Geltung haben. W . v. W A R T B U R G steht der TRiERschen Feldtheorie wohlwollend gegenüber, ist es ihm doch gerade um die Erfassung größerer sprachlicher Zusammenhänge zu tun. Er bringt aber zwei entscheidende Korrekturen an, die im Sinne der besseren Erfassung der sprachlichen Realität sehr ernst zu nehmen sind. W A R T B U R G wendet sich erstens dagegen, daß T R I E R Grundsätze verabsolutiert, die er bei der Untersuchung der Wörter aus dem Sinnbereich des Verstandes gewonnen hat, und daß er davon ausgehend vor allem nur das als wirkliche Sprachgeschichte faßt, was sprachinhaltliche Veränderungen bietet, nicht aber das, wo nur Bezeichnungsveränderungen gegeben sind. W. v. W A R T B U R G formuliert: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß hier Trier, geblendet von dem Licht seiner eigenen, an dem Beispiel des semantischen Feldes des Verstandes erarbeiteten Erkenntnis, weit über das Ziel, über alles Vertretbare hinausgegangen ist. Triers Formulierung nimmt bloß die Ereignisse im Geistigen als wirkliche 81*

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Geschichte." 1 Zweitens erhebt W. v. W A R T B U R G den Einwand, daß das sprachliche Gefüge nicht so lückenlos und absolut von oben her ausgegliedert werden kann. Nicht jedes Feld weist scharfe Konturen auf, denn zahlreiche Bezirke des Lebens bezeugen nur verschwommene oder gar keine Grenzen, besonders wenn das Empfindungsmäßige zu sehr überwiegt. Die einzelnen Sinnbezirke sind je nach der Tätigkeit der entsprechenden gesellschaftlichen Gruppe mehr oder weniger in sich geschlossen, so daß v. W A R T B U R G zu dem Schluß kommt: „Die Lagerung des Wortschatzes einer und derselben Sprache ist bei zwei verschiedenen Individuen recht verschieden; das hängt mit der Ungleichheit der Lebenserfahrungen zusammen." (S. 152.)2 Auch W. B E T Z kam in seinem Aufsatz Zur Überprüfung des Feldbegriffs in: ZvS L X X I (1953), S. 189ff., zu der Erkenntnis, daß es kein lückenloses sprachliches Feld gibt, nachdem er das Intellektualfeld „Wörter für positive Verstandesqualitäten wie klug, weise, schlau, gerissen usw." in der deutschen Gegenwartssprache studiert hatte. Da das Feld keine wesensmäßige Strukturform des Wortschatzes darstellt, lehnt B E T Z auch den Terminus technicus „Feld" für die Sprachforschung ab und schlägt dafür den Ausdruck „Sinnbereich" vor. Damit trifft sich B E T Z mit F. D O R N S E I F F , der in seinem Beitrag Das Problem des Bedeutungswandels in: ZDP L X I I I (1938), S. 119ff., den Begriff „Feld" ebenfalls ablehnt und von Sachgruppen oder Begriffsbereichen spricht. D O R N S E I F F greift besonders die apriorisch-sprachphilosophische Konzeption des TRiERschen Feldbegriffes an und kommt von einer zu sehr in der Empirie verhafteten onomasiologischen Position her zu folgender Einschätzung: „Es ist der Bezeichnungslehre nicht erspart geblieben, daß die verbreitete Regel: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? auf sie angewandt wurde. Aus dem selbstverständlichen Grundsatz, daß man bei der Wortforschung gut tut, auch die Synonyma des betreffenden Begriffskreises zu berücksichtigen, entstand seit 1924 für den einfachen Begriff eines Begriffsbereichs, einer Sachgruppe die Mystik der 'Bedeutungsfelder'. Man sagt auch 'semantische Felder', 'sprachliche Felder'. Wer bis hierher gefolgt ist, wird mit mir einig sein, daß der einzige nicht irreführende Ausdruck nur lauten kann: Begriffsfelder. Und was sie betrifft, so sollte es wirklich nicht schwer sein, zu der naheliegenden Erkenntnis vorzudringen, daß besagte Felder logische Verabsolutierungen von 'Sachgruppen' sind. Sachgruppen zu berücksichtigen ist natürlich für jeden Sprachforscher ratsam. Aber man hat die rein arbeitstechnische Einteilung 'Sachgruppe', 'Begriffsbereich', den willkürlich gerade vorgenommenen Ausschnitt aus dem Wortschatz, zu Meta-Sachgruppen, zu 'Feldern' mit 'Gefüge' erhoben. Man darf sie getrost wieder 'auf die Erde herunterholen'." (S. 126.) D O R N S E I F F lehnt es ab, daß die Bedeutung eines Einzelwortes durch seine bedeutungsähnlichen Nach1 2

S. Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, Halle a. S. 1943, S. 151. Vgl. auch die folgende Beobachtung v o n S. ÖHMAN, Wortinhalt und Weltbild. Vergleichende und methodologische Studien zu Bedeutungslehre und Wortfeldtheorie, Stockholm 1951, S. 14: „Der bedeutende Größenunterschied, der zwischen dem passiven und dem aktiven Wortschatz eines jeden Menschen besteht, dürfte auch darauf hinweisen, daß die Wirklichkeit des sprachlichen Feldes eine relative ist."

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barworte mitbestimmt wird. Er betont, daß Synonyma einen Sachbereich nicht aufgliedern. „Das ist eine Überschätzung der Sprache. Dazu ist die Realität der Welt und des Lebens, der gegenüber die Wörter jeder Sprache nur ein Zeichensystem, d. h. bescheidene Signalisiermittel sind, zu unendlich und unausschöpfbar. Die Realität der Welt und des Lebens wird vielmehr durch die Wörter an immer einer anderen Stelle selbständig angeschnitten." (S. 1 2 7 . ) Während bei T R I E R die Gefahr einer Vergewaltigung des sprachlichen Geschehens durch einen logischmathematischen Systembegriff besteht, scheint bei D O R N S E I F F die vorzuliegen, daß dem Werkzeugcharakter der Sprache, der im Sinne der Verständigung auf ein offenes Gefüge ständig hintendiert, nicht voll Rechnung getragen wird. Es ist eine bekannte Tatsache, daß in Zeiten, wo zahlreiche Neologismen in die Sprache eindringen, zunächst eine Bedeutungsgleichheit zwischen der neuen und der einheimischen Bezeichnung vorliegt, sofern man vom Gefühlswert bzw. stilistischen Wert absieht. Allmählich erfolgt durch die Sprecher der betreffenden Sprache eine semantische Differenzierung zwischen diesen beiden Wörtern, vorausgesetzt, daß beide weiterhin in der betreffenden Sprache existieren. Diese Differenzierungen, die manchmal nur bestimmte Nuancierungen bringen, sind ohne Zweifel als Sprachbereicherung zu werten. Daher spielt selbstverständlich die semantische Umgebung eine große Rolle. Erst von einer bestimmten semantischen Ganzheit aus, ganz gleich, ob der Begriff „Feld" beibehalten wird oder ob man besser „Sinnbezirk" sagt, kann erklärt werden, warum diese Differenzierungen erfolgten und warum gerade auf diese oder jene Weise. In neuerer Zeit wird als Mangel der Feldforschung empfunden, daß sich T R I E R und seine Schüler fast nur mit abstrakten Feldern beschäftigen und dabei ältere Sprachepochen studieren. Daher ist man bestrebt, die Gegenwartssprache wesentlich mehr als bisher zu berücksichtigen. Man hat erkannt, daß das lebendige Sprachgefühl der Sprecher der untersuchten Sprache in methodischer Hinsicht für die Forschung ein wichtiges Hilfsmittel und Korrektiv zugleich darstellt. In seiner breit angelegten und methodisch gut fundierten Arbeit Semantische Studien im Sinnbereich der Schnelligkeit. „Plötzlich", „schnell" und ihre Synonymik im Deutsch der Gegenwart und des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters, Stockholm 1958, stellt ELS OKSAAR folgende Forderung auf, deren Thesen er auch durch seinen Forschungsgegenstand zu exemplifizieren und zu erklären sucht: „Der Feldbegriff bedarf also dringend der Anpassung an die sprachliche Wirklichkeit. Bei derartigen Inhaltsuntersuchungen scheint es unbedingt nötig zu sein, sich zuerst an Hand des Sprachbewußtseins der einzelnen Sprachträger und unter Heranziehung eines reichhaltigen Materials aus der modernen Literatur darüber zu orientieren, was heute wirklich vorliegt und erst dann „Felder" in der Vergangenheit aufzuzeigen. Damit sei nicht behauptet, daß die Felder früher nach dem gleichen Prinzip aufgebaut sein mußten, wie in der lebendigen Sprache, in dieser könnten wir aber eine sichere Grundlage finden für die Prinzipien des Aufbaus der Felder überhaupt." (S. 16) Wie wir bereits hervorhoben, zeigt sich bei stark affektiv geladenen Wörtern die Tendenz der semantischen Verwischung. Besonders deutlich tritt dies bei Schlagworten hervor. Hier erweist sich auch der TRiERsche Gedanke des „Sich-

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Ausgliederns" als verfehlt, denn nicht ein Abgestuftsein, ein Insichgegliedertsein, sondern ein Ineinanderübergehen ist für Schlagworte charakteristisch. BELINMXLLÉRON stellt heraus, welches Ineinander in der Sprache der Französischen Revolution zwischen Schlagworten wie „loi", „patrie", „peuple", „vertu", „liberté" und anderen besteht. Die Tatsache, daß im Sprachgebrauch der Revolution so von Dynamik erfüllte Wörter wie „peuple", „nation", „souverain" u. a. verschmolzen, war ja Anlaß heftiger sprachlich-politischer Auseinandersetzungen. F. PAULHAN schreibt über den Charakter solcher Schlagworte: „ I I suffit de les lancer pour déchaîner l'enthousiasme ou la colère des foules, des parties, de groupes immenses. Liberté, égalité, ordre, patrie, justice, et bien d'autres ont montré tour à tour leur efficacité momentanée."1 Dabei ist allerdings zu beachten, daß diese Wörter Ausdruck gesellschaftlicher Spannungen und Kämpfe sind. Das bedeutet, daß der Inhalt dieser Wörter schwankt, daß nicht jede gesellschaftliche Gruppe dasselbe darunter versteht. Jede Gruppe, jede Klasse sucht sich ja gerade eine bestimmte Bedeutung des entsprechenden Wortes aus oder gibt ihm eineii Sinn, der ihren Zielen entgegenkommt. Zahlreiche Schlagworte werden sogar in völlig entgegengesetztem Sinn von den einzelnen Angehörigen einer Sprachgemeinschaft gebraucht2, was darauf schließen läßt, daß eine völlig in sich geschlossene Sprachgemeinschaft in diesem Sektor des Wortschatzes einer Nationalsprache nicht vorhanden ist. Hier zeigt sich eine Grenze bei der Allgemeinverbindlichkeit der Muttersprache. Eine Nationalsprache dient zwar allen Schichten des Volkes, doch dort, wo der ideologische Überbau in der Sprache sich unmittelbar niederschlägt, bezeugt auch sie die gesellschaftlichen Reibungen, d. h., der sprachliche Kontakt ist nicht mehr zwischen allen Sprechern einer Sprachgemeinschaft vorhanden. Daher meinten manche Zeitgenossen sehr bewegter geschichtlicher Epochen, sie hätten es mit dem Beginn einer babylonischen Sprachverwirrung zu tun.3 Dieser kleine Exkurs über den Charakter des Schlagwortes deutet an, daß diese Erscheinungen mit der Wortfeldtheorie TKIEBS nicht zu fassen sind. Abgesehen von dem Verfehltsein des „Sichausgliederns" dürfte ersichtlich geworden sein, daß in bestimmten geistigen Wortbereichen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Berücksichtigung finden müssen. Damit ist das postulierte einheitliche, für alle Angehörigen einer Sprachgemeinschaft typische sprachliche System in diesem Bereich abzulehnen. Daher ist auch B. QTTADRIS Folgerung in Aufgaben und Methoden der onomasiologischen Forschung, Bern 1952, S. 153, einer Kor1 2

3

La double fonction du langage in: Revue Philosophique CIV (1927), S. 44. Zitiert nach S. ULLMANN, Précis de sémantique française, Berne 1952, S. 152. Der französische Revolutionär Babeuf kam in dieser Hinsicht zu dem Schluß : „Mais tel est le dictionnaire des palais, des châteaux et des hôtels, que les mêmes expressions offrent presque toujours l'inverse des significations qu'on leur reconnaît dans les cabanes." (Le Tribun du peuple, n° 36, 20 frimaire au IV, 11 décembre 1795, zitiert nach Babeuf. Textes choisis [Les classiques du peuple], Paris 1950, S. 48). Vgl. W. BAHNER, Zum Charakter des Schlagwortes in Sprache und Gesellschaft in: W Z K L X (1961), Heft 3, S. 397ff.

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rektur oder zumindest eines erläuternden Nachsatzes bedürftig. Er schreibt nämlich: „Der Trierschen Lehre blieb es dagegen vorbehalten, in den Bereich des subjektiv Unbestimmten vorzustoßen und Begriffskomplexe aus der höheren Sphäre des Abstrakten (Klugheit, Verstand, Schönheit) auf ihren Wortschatz zu prüfen." Der Fehler T B I E E S liegt aber doch gerade darin, daß er dieses subjektiv Unbestimmte „objektivierend" im Sinne eines gewaltsam herangetragenen lückenlosen sprachlichen Gesamtsystems zu fassen sucht. Besonders schwerwiegend ist, daß T B I E B die geschichtlichen Voraussetzungen in seinen Forschungen nicht beachtet. Er geht rein innersprachlich vor und sieht erst nach Erfassung des Gesamtgefüges des sprachlichen Feldes die Möglichkeit, außersprachliche Faktoren zu berücksichtigen. U. R I C K E N zeigt in seiner Arbeit Gelehrter und Wissenschaft im Französischen. Beiträge zu ihrer Bezeichnungsgeschichte vom 12.—17. Jahrhundert, Berlin 1961, sehr anschaulich, wie notwendig die stete Beachtung geschichtlich-gesellschaftlicher Gegebenheiten ist. Rückschauend stellt R I C K E N fest: „Ohne vorhergehende geschichtliche Kenntnis wäre überhaupt keine befriedigende Sammlung und Sichtung des Wortmaterials zustandegekommen. . . Damit ist nicht gesagt, daß das Wortmaterial selbst keinerlei geschichtliche Relevanz hätte; es kann in vielen Fällen zur Ergänzung eines in den Grundzügen schon bekannten geschichtlichen Sachverhalts beitragen." (S. 294.) Dadurch daß T R I E B Wort und Begriff unabhängig von ihrem Verhältnis zur Realität faßt, greift er zur „sprachlichen Zwischenwelt" W E i S G E B B E B S c h e r Prägung. Er begibt sich damit der Möglichkeit, wirklich historisch die Dynamik sprachlicher Veränderungen zu erforschen. Die innere Dynamik des TßiEBschen Feldgliederungswandels erweist sich nur als Pseudodynamik. Gerade weil der Wortschatz einer Sprache so innig und unmittelbar mit der Geschichte des Volkes verbunden ist, das diese Sprache spricht, mußte die innersprachlich-strukturelle Methode T R I E B S versagen. Es gilt, von einem Ganzheitsstandpunkt aus die sozialen Veränderungen und ihre Widerspiegelung im Denken der Menschen aufzudecken, die in der Wortschatzentwicklung wirksam sind. (Vgl. RICKEN, op. cit., S. 300.) Ganzheitsstandpunkt heißt aber nicht, mit einem wirklichkeitsfremden logisch-mathematischen Systembegriff zu arbeiten, sondern die Erscheinungen im Zusammenhang zu betrachten, alle Faktoren zu berücksichtigen, welche die jeweils gegebene geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit im konkreten Falle darbietet. 1 1

Kritische Studien über die Feldtheorie TaiBBscher Prägung sind u. a. noch folgende: W. PFLEIDERER, Wortfelder im Schulunterricht in: ZDB X V I I (1941), S. 230ff.; S.ÖHMAN, Theories of the „Linguistic Field" in: Word I X (1953), S. 123ff.; M. KONRADT-HICKING, Wortfeld oder Bedeutungsfeld (Sinnfeld) ? in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung L X X I I I (1956), S. 222ff.; G . E . MAIER, Die Feldlehre und ihr Gegensatz zu den tatsächlichen Sprachgegebenheiten, untersucht an Wörtern des Freudebereiches in Gottfrieds Tristan, Hartmanns Armen Heinrich und Iwein und im Nibelungenlied, Dissertation Köln 1955 (Masch.-Sehr.).

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Die strukturelle Erfassung des Gesamtwortschatzes einer Sprache (Begriffssystem) Ausgehend von der Annahme, daß der Gesamtwortschatz einer Sprache ein großes gegliedertes Ganzes bildet, liegen in neuerer Zeit Versuche oder vorbereitende Studien vor, diesen deskriptiv zu erfassen. Die übliche alphabetische Anordnung des Wortschatzes wird als unbrauchbar zurückgewiesen. Sie ist zwar praktisch zum Nachschlagen, doch vermag sie überhaupt keinen Einblick in das Bezeichnungsgefüge einer Sprache zu geben. Schon H . PAUL hatte festgestellt: „Wenn man einmal anerkennt, daß das Wörterbuch ein Werk von selbständigem Wert sein soll, nicht ein bloßes Hilfsmittel zum Nachschlagen bei der Lektüre, so muß man alles nur als Fortschritt begrüßen, was von der äußerlichen, zufälligen alphabetischen Anordnung zu einer dem realen Zusammenhang entsprechenden Gruppierung hinüberführt." 1 F. DORNSEIFF macht mit Recht darauf aufmerksam, daß damit nur auf ein Stadium zurückgegriffen wird, wo die Wortschatzdarstellung innig mit der Realenzyklopädie verbunden war, und er gibt in der Einleitung zu seinem Buch Der deutsche Wortschatz nach Sprachgruppen einen sehr interessanten Überblick über diese jahrtausendalte Tradition. Das erste neuere, nach Begriffsgruppen geordnete Wörterbuch — ein solches hatte der spätromantische Sprachphilosoph K . F. BECKER mit Nachdruck gefordert — wurde in England geschaffen. Weitab von sprachphilosophischer romantischer Spekulation, rein praktische Zwecke verfolgend, erschien im Jahre 1852 in London Thesaurus of English Words and Phrases von PETEB MARK ROGET. ROGETS Werk stellt eine beachtenswerte Denkleistung dar und wurde vielfach nachgeahmt. Zahlreiche Synonymenwörterbücher der verschiedensten europäischen Sprachen erschienen kurze Zeit danach.2 ROGETS Wörterbuch besitzt jedoch eine rein utilitaristische Zielstellung und liefert noch keine wissenschaftlichen Kriterien für eine Erfassung des lexikalischen Gesamtsystems einer Sprache. Es ist überhaupt bezeichnend für das 19. Jahrhundert, daß zwar einzelne Stimmen im Sinne einer wissenschaftlichen Lexikographie für eine Erfassung des Gesamtgefüges plädieren, doch die nach Sachgruppen angeordneten Wörterbücher darauf nicht Rücksicht nehmen und rein praktischen Bedürfnissen dienen. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte in dieser Hinsicht allmählich eine Wende, die durch die sprachgeographischen Methoden und Ergebnisse, die Richtung „Wörter und Sachen" und vor allem durch den SAUSSURESchen Systemgedanken herbeigeführt wurde.3 Auf SAUSSURE fußend, stellte so z. B. CH. BALLY 1909 ein 1

Über die Aufgaben der wissenschaftlichen Lexikographie in : Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Philologische Klasse 1894, S. 91; zitiert nach F. DORNSEIFF, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, Berlin 1954 (4. völlig neu bearbeitete Auflage), S. 29.

2

V g l . u. a . SCHLESSING,

3

Dictionnaire idéologique de la langue française, Paris 1859; E. BENOT, Diccionario de ideas afïnes, Madrid 1899. Vgl. K . BALDINGER, Die Gestaltung des wissenschaftlichen Wörterbuchs. Historische Betrachtungen zum neuen Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie von Hallig und Wartburg in: RoJb V (1952), S. 65ff., und Grundsätze zur

Der

passende

Ausdruck,

Eßlingen

1881;

ROBERTSON,

Begriffssystem : Strukturelle Erfassung des Gesamtwortschatzes

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Begriffssystem auf, das nach wissenschaftlichen Kriterien entworfen wurde. 1 Einer der ersten jedoch, der nicht nur solche Begriffssysteme entwarf, sondern sie auch für eine Sprache realisierte, ist der Altphilologe F. D O R N S E I F F gewesen. I m Vorwort zur ersten Auflage (1933) 2 seines Buches Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen bringt D O R N S E I F F zum Ausdruck, daß er damit auch sprachwissenschaftliche Ziele verbindet, die über die deutsche Sprache hinausgehen. Ferner heißt es hier: „Es sollte der Versuch gemacht werden, den ganzen Reichtum der deutschen Ausdrucksmittel, sowohl Wörter wie ausführliche Redensarten, v o n der feierlich gehobenen Sprache bis herab zur Gebärde nach Begriffen geordnet aufzuzeichnen." (S. 7.) D O R N S E I F F teilt den gesamten Wortschatz in 20 Hauptabteilungen ein, wobei er v o n der äußeren Natur ausgeht und über die allgemeinen Seinsbeziehungen und das Subjektive zum sozialen Bereich und zur Kultur kommt. Von den Romanisten ist es vor allem W . v. W A R T B U R G , der sich sehr ernsth a f t u m die Erfassung des lexikalischen Gesamtgefüges einer Sprache und um allgemeine wissenschaftliche Einteilungskriterien bemüht. 3 I n seinem Aufsatz

1 2 3

Gestaltung des wissenschaftlichen W ö r t e r b u c h s in : Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946-1956, Berlin 1956, S. 379ff. Vgl. Traité de stylistique française, Heidelberg-Paris 1 9 0 9 , B a n d I , §§ 116—146, u n d B a n d I I , S. 227 ff. Die letzte Auflage (die f ü n f t e ) dieses Werkes erschien Berlin 1959. E i n historisches W ö r t e r b u c h einer Sprache weist nach W . v . WABTBURG den großen Nachteil auf, d a ß es nicht die Umschichtungen des Ausdrucksystems deutlich m a c h t . U m auch hier mit strukturellen Methoden zu arbeiten, ist es außer der bewußten Abkehr von der alphabetischen A n o r d n u n g erforderlich, d a ß der Wortschatz bestimmter Zeiträume in seinem Ausdruckssystem e r f a ß t wird, so d a ß ein solches U n t e r n e h m e n nicht einfach einen Längsschnitt, sondern mehrere Querschnitte durch die Geschichte der betreffenden Sprache geben m ü ß t e . I n diesem Z u s a m m e n h a n g h e b t v. WABTBURG einige Grundsätze hervor, die dabei stets B e a c h t u n g finden sollten: „ J e größer die Zeitspanne ist, die ein W ö r t e r b u c h u m f a ß t , u m so mehr verwischen sich die K o n t u r e n u n d Grenzen des Systems . . . Aber m a n wird darauf a c h t e n müssen, d a ß nicht Zeiträume sehr verschiedenen Charakters im gleichen W e r k behandelt werden. Die Z u k u n f t wird nicht mehr deskriptive Wörterbücher schaffen, die ein halbes J a h r t a u s e n d u n d mehr umfassen. Sie wird diese Zeitenflucht in kleinere Abschnitte zerlegen, wie sie sich durch b e d e u t s a m e Ereignisse ergeben." (Einführung in P r o b l e m a t i k u n d Methodik der Sprachwissenschaft, Halle a. d . S. 1943, S. 161/62.) F ü r die französische Sprachgeschichte besonders liegen mehrere Arbeiten aus der WARTBURGSchen Schule vor, die im Sinne der organischen Erfassung des französischen Wortschatzes b e s t i m m t e r E p o c h e n f ü r diese oben skizzierte gewaltige Aufgabe als Vorarbeiten dienen sollen: G. HEIDEL, L a langue et le style de Philippe de Commynes i n : Leipziger Romanistische Studien, I. Sprachwissenschaftliche Reihe, H e f t 8, Leipzig-Paris 1934; W . RUNKEWITZ, Der W o r t s c h a t z der Grafschaft Rethel n a c h dem Trésor des Chartes d u Conté de R e t h e l (Heft 16, 1937); K . HEILEMANN, Der W o r t s c h a t z v o n Georges Chastellain, nach seinen Chroniken (Heft 19, 1937); C. BEVANS, L e vocabulaire de la Champagne a u 13E siècle d'après les Comptes de Champagne, p . p. A. Longnon, Chicago 1941 ; ORNE, Vocabulaire de l'architecture française a u commencement du X V I e siècle, Chicago 1941 (Manuskript); H . - E . KELLER, É t u d e descriptive sur le vocabulaire de Wace, Berlin 1953 (erschienen als 7. B a n d der

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Betrachtungen über das Verhältnis von historischer und deskriptiver Sprachwissenschaft in: Mélanges de linguistique offerts a Charles Bally, Genf 1939, S. 3ff., formuliert er: „Die bisherige historische Forschung hat die Phänomene als solche verfolgt in ihrem Wandel von Epoche zu Epoche. Diese neue Forschungsweise wird sich nicht mehr auf die Phänomene als solche beziehen ; sie wird vielmehr die Art und Weise, wie das sprachliche Ganze zu einer gewissen Zeit gegliedert und aufgebaut ist, vergleichen mit dessen Aufbau und Gliederung in einer anderen Zeit." ( S . 7 . ) Diese Grundsätze möchte W A R T B U B G bei der Erfassung eines Gesamtwortschatzes beachtet wissen, das Ausdruckssystem soll in seiner inneren Ökonomie deutlich vor Augen treten. Auch W A B T B U R G erkennt an, daß dabei das schwierige Problem der Gestaltung der Gliederung zu bewältigen ist. Als sehr diffizil erweisen sich dabei die Bereiche, in denen der geschichtliche Wandel besonders stark ist. W A B T B U B G ist jedoch der Ansicht, daß auch hier zumindest im Gesamtsystem ein konstanter Platz gegeben ist. Zusammen mit ß . H A L L I G publizierte W. v. W A B T B U R G Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie (Berlin 1952), das Ausdruck dieser Bestrebungen ist. Es wird zwar als Versuch hingestellt, aber doch in programmatischer Weise dargelegt. Die damit verbundenen Ziele sind nach R. H A L L I G (Zum Aufbau eines Ordnungsschemas für Wortschatzdarstellungen in: ZRPh L X X [1954], S. 249ff.) folgende: „Unsere Absicht war, im Anschluß an Auffassungen von W. v. Humboldt und von F. de Saussure ein Hilfsmittel für die Lexikographie zu schaffen, das 1. die Darstellung des Wortschatzes einer Sprache im Hinblick auf den Gedanken der Synchronie fördern, 2. die Einsicht in das Weltbild der betreffenden Sprache vorbereiten, 3. den Vergleich des Wortgutes verschiedener Sprachen bzw. Mundarten, oder verschiedener Epochen einer und derselben Sprache ermöglichen und 4. auf dieser stets gleichbleibenden Grundlage die sinnvolle Durchführung des diachronischen Studiums des Wortschatzes einer Sprache und damit die Einsicht in dessen Geschichte erleichtern könnte." Zu vieles wird diesem Begriffssystem abverlangt! Es wird in idealistische sprachphilosophische Spekulationen hineingezogen, die wohl über seine nicht gerade bescheidenen Ansprüche hinausgehen, noch dazu, da der W E I S Veröffentlichungen des Instituts für Romanische Sprachwissenschaft zu Berlin). Hierher gehört auch die sehr aufschlußreiche Arbeit von H. SCKOMMODAU, Der französische psychologische Wortschatz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Leipzig-Paris 1933 (ebenfalls erschienen in: Leipziger Romanistische Studien, I. Sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 2), die immer wieder im Zusammenhang mit der Feldtheorie T H I E R S in allgemeinen Abhandlungen über die Semantik (vgl. z. B. S. UiiLMANN, Précis de sémantique française, Berne 1951, S. 305ff.) angeführt wird. Es muß jedoch betont werden, daß SCKOMMODAU in seiner Arbeit nirgends auf T R I E B Bezug nimmt, obgleich auch hier ein interessanter Sinnbereich in seiner Gesamtheit untersucht wird. Nicht zuletzt deshalb ist vielleicht SCKOMMODAUS Untersuchung recht überzeugend ausgefallen. Für das Italienische sei erwähnt T . R E I N H A R D , L'uomo nel Decamerone. Saggio di Vocabolario semantico (Dissertation Basel 1948), Santa Maria degli Angeli (Assisi) 1951, und für das Rätoromanische M. H. J . F E B M I N , Le vocabulaire de Bifrun dans sa traduction des quatre évangiles, Amsterdam 1954.

Begriffssystem : Strukturelle Erfassung des Gesamtwortschatzes

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GERBEBSche Begriff der sprachlichen Zwischenwelt wissenschaftlich unhaltbar sein dürfte. Man verlangt von der Sprache mehr, als sie zu geben vermag. Sie wird philosophisch überfordert. Der Grundfehler TRIERS, die Annahme eines völlig in sich gegliederten Gefüges, wird als geradezu exakt bewiesene Tatsache ausgegeben, um im Anschluß daran D O R N S E I F F vorzuwerfen, er gliedere zwar, doch er gliedere nicht aus. Da D O R N S E I F F die Auffassung von der Sprache als ein System, d. h. als ein ganzheitliches Gefüge ablehnt, kann natürlich von einer Ausgliederung im TRiERschen Sinne gar nicht die Rede sein. D O R N S E I F F verfolgte rein onomasiologische Ziele. Er möchte den in einer Sprache gegebenen Reichtum an Bezeichnungsmitteln aufzeigen (in diesem Falle den der deutschen Sprache), wobei er nach Sachgruppen ordnet. Daher hält er auch das Vorwort zu dem Begriffssystem von W A R T B U R G und H A L L I G für verfehlt. Er wirft diesen Autoren vor: „Anstatt den eigentlichen onomasiologischen Methodenfragen nachzugehen, müht sich die Einleitung an beliebten topoi der gegenwärtigen Sprachphilosophie ab, die, von allem andern abgesehen, mit den Unternehmen dieses Buches nichts zu tun haben." 1 Das Begriffssystem von W A R T B Ü R G und H A L L I G dürfte sich kaum als allgemeine Grundlage für die Lexikographie durchsetzen, weil die vorgenommene Einteilung zu subjektiv ist, obgleich vorgegeben wird, daß es das Ziel sein muß, den Wortschatz durch „ein der Sprache in ihrem jeweiligen Zustand selbst abgelauschtes System" zu erfassen. 2 Ein Nachteil ist vor allem auch, daß für die Assoziationen kaum Raum in diesem Begriffssystem ist. Nur sehr selten wird mit Verweisen gearbeitet. Da dieses Begriffssystem nicht nur für die gegenwärtige Epoche, sondern auch für frühere Epochen mit benutzt werden soll, sind Abschnitte eingefügt worden wie „Les costumes anciens" oder „La vie chevaleresque du moyen âge". Das zeigt aber doch wiederum nur, daß es eben kein Begriffssystem schlechthin, d. h. ein für alle sprachhistorischen Epochen gültiges gibt. Ferner muß vor einer Überschätzung dieser hier kurz aufgezeigten Methode der deskriptiv-strukturellen Erfassung des Wortschatzes eines Autors oder gar eines Zeitraumes gewarnt werden. So verdienstvoll z. B. die in ihrer Art sehr gründliche Arbeit von H.-E. K E L L E R über den Wortschatz von Wace ist, sie vermag nicht viel über das eigentliche Weltbild von Wace auszusagen. Zu sehr sind die geschichtlichen Voraussetzungen dabei unberücksichtigt geblieben. Mit Recht hat E. K Ö H L E R auf diesen wunden Punkt hingewiesen, wenn er schreibt: „Die Klassifizierung schwieriger Wörter ist indessen nicht nur eine Frage von Takt und Geschmack, auch wenn man diese Qualitäten so tief faßt wie Bally 1

2

DLZ L X X I V WARTBURG).

( 1 9 5 3 ) , c o l . 3 9 9 ( R e z e n s i o n d e s B e g r i f f s s y s t e m s v o n HALLIG

und

Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen v o n DORNSEIFF (op. cit., col. 397): „Die Hrsg. betonen stark: Man muß nicht Philosophie zugrunde legen, sei es welche auch immer, sondern die Logik des Lebens, die Art, wie der einfache Mensch denkt und assoziiert. Das habe ich mir auch seinerzeit so vorgestellt, aber ein Weltkatalog führt notwendig in philosophische Bezirke, und je sicherer m a n vermeint, die Philosophie herausbefördert zu haben, u m so unvermuteter ist sie da."

482

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und mit ihm Keller (S. 13). Der strukturtragende Stellenwert, den die Einordnung in ein so anspruchsvolles System dem Einzelwert verleiht, setzt in zahlreichen und dann meist gerade die Gelenkstücke des strukturellen Organismus betreffenden Stellen eine zusätzliche Anstrengung voraus : die genaue Kenntnis der jeweils zeitgenössischen Denkstruktur vom literarhistorischen Bereich her, die dann wiederum am Wortschatz zu verifizieren ist." 1

Die strukturell-soziologische Methode von G. Matoré In neuerer Zeit bemüht sich in Frankreich vor allem GEOBGES MATORÉ um die strukturelle Erfassung des Wortschatzes bestimmter Zeitabschnitte. Wie f ü r T B I E B ist auch f ü r MATORÉ die Erfassung des lexikalischen Gesamtgefüges einer Sprache das Ziel der forscherischen Bemühungen. Doch hinsichtlich der theoretischen Fundierung, der philosophischen Konzeption bestehen große Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen Linguisten. Während T B I E B von der neuromantischen Bichtung WEISGERBEBscher Prägung kommt, beruht MATORÉS Grundkonzeption auf den Prinzipien der französischen sprachwissenschaftlichen Schule. In La méthode en lexicologie. Domaine français, Paris 19532, legt dieser französische Linguist seine Auffassung über die Methoden u n d Grundsätze der lexikalischen Forschung dar, die ohne Zweifel von Interesse ist. Daß MATORÜ; die Lexikologie von einem strukturellen Gesichtspunkt aus fassen möchte, wird besonders dadurch deutlich, daß er sie wie folgt von der Semantik abgrenzt: „La lexicologie doit être distinguée de la sémantique qui, étudiant les valeurs successives des mots, considérés individuellement, est une discipline appartenant à la linguistique historique, alors que la lexicologie qui est, nous le verrons, une discipline sociologique, envisage des groupes de mots considérés statiquement du point de vue notionnel." (S. 13.) MATORÉ sucht also, von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ausgehend, die Bezeichnungen f ü r bestimmte Begriffe in einem gegebenen historischen Abschnitt. 3 Die TßiEBsche Konzeption des Begriffsfeldes ist u. a. vor allem deshalb f ü r ihn unannehmbar, weil mit ihr nicht Einschnitte in der Ge1 2

3

RoJb VI (1953/54), S. 206 (Rezension des erwähnten Buches von H.-E. KELLEB). Vgl. ferner von G. MATOBÉ, Le vocabulaire et la société sous Louis Philippe, Genève-Lille 1951, und in Zusammenarbeit mit A. J. GBEIMAS, La Méthode en Lexicologie. A propos de quelques thèses récentes in: R F L X (1948), S.411ff., und R F L X I I (1950), S. 208ff. Einem solchen „classement sémantique" sollen nach MATOBÉ vier Prinzipien zugrunde liegen : „1. Le mot n'étant pas isolé ne peut être en aucun cas dissocié du groupe auquel il appartient. 2. Les mots, à l'intérieure du groupe, n'ont pas tous la même valeur; ils constituent une structure hiérarchisée. 3. Cette structure est mobile; les mouvements auxquels obéissent les mots et les groupes de mots ont lieu de manière corrélative: un vocabulaire est un tout comme l'époque qu'il représente. 4. Le classement que nous préconisons ne saurait trouver sa justification en soi. Il doit aboutir à une explication. Le vocabulaire étant l'expression de la société, cette explication sera de nature sociologique." (op. cit., S. 62.)

G. Matoré: Die strukturell-soziologische Methode

483

schichte des Wortschatzes genau festgelegt werden können. 1 Doch auch M A T O R É muß bekennen, daß das schwierige Problem der Festlegung solcher geschichtlicher Einschnitte noch nicht gelöst ist. Er schlägt als vorläufige Lösung vor, mit der Generationentheorie zu arbeiten und je nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen eine Zeitspanne von 30 bis 36 Jahren für einen Zeitraum anzusetzen, dessen Wortschatz in statisch-struktureller Weise zu erforschen sei.2 Trotz soziologischer Ausgangsposition zeigt sich klar, daß M A T O R É mit einem Begriff operiert, der sich in sprachwissenschaftlicher als auch in literarhistorischer Hinsicht als unbrauchbar erwiesen hat und der dem historisch-gesellschaftlichen Geschehen künstlich aufgepfropft wird. M A T O R É versteht es nicht, den Prozeßcharakter der Geschichte in richtiger Weise für die Festlegung derartiger geschichtlicher Einschnitte auszuwerten, weil er die geschichtliche Dynamik mechanisch betrachtet. Im Innern des soziologisch bedingten sprachlichen Gesamtfeldes gilt es nach M A T O R É , die wichtigsten Elemente ausfindig zu machen, um eine gewisse lexikalische Hierarchie zu errichten. Die gewichtigsten Elemente bezeichnet er als „mots-témoins". Ein solches Wort ist ,,le symbole matériel d'un fait spirituel important". (S. 66.) Das weist wiederum darauf hin, daß nur von der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage und Entwicklung her eine derartige Auswahl getroffen werden kann. Die „mots-témoins" sind damit Zeugen großer geschichtlicher Veränderungen, die zugleich auch für die jeweilige Struktur des Wortschatzes von Bedeutung sind: Neben Bedeutungsveränderungen sind Neuschöpfungen und Entlehnungen feststellbar.3 Nehmen wir ein von M A T O R É gegebenes Beispiel : Das Wort magasin bezeugt ab 1820 oder 1825 eine neue Auffassung vom Handel, die mit der Herausbildung der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft in unmittelbarem Zusammenhang steht. Es handelt sich um das Aufkommen großer Handelsunternehmungen, die direkt ab Fabrik ihre Waren beziehen und sie in großen Kaufhäusern anbieten.4 Lexikalisch äußert sich das wie folgt: „L'apparition de ce mot est en liaison avec celle d'employé et de commis (qui ont tendance à remplacer vendeur), (S.

avec celle de rayon,

facture, client (qui supplante pratique),

etc. . .

66).

Die „mots-témoins" sind zwar wichtig für die hierarchische Aufgliederung des Wortschatzes, doch noch zu zahlreich, um gleichzeitig die Grundelemente des 1

2 3 4

M A T O R É wirft weiterhin der T R i E K S c h e n Konzeption des Feldes vor: „Mais la linguistique allemande des champs se mouvant entre des considérations philosophiques abstraites („volonté communautaire" — „lutte pour l'ordre" etc.) et un point de vue purement linguistique et formel fondé, par exemple, sur l'opposition du mot et de son contraire, . . . n'a pu formuler que des explications fragmentaires et discutables." (op. cit., S. 64.) Op. cit., S. 57ff. Diese alle bezeichnet M A T O R É als „néologismes" (op. cit., S . 4 1 ) . W. K R A U S S beweist (Zur Lexikologie der Aufklärung I in: R F L X V I [ 1 9 5 5 ] , S. 384ff.), daß hier eine Fehldeutung seitens M A T O R É vorliegt. Die neue Bedeutung „Warenhaus" hatte magasin bereits im 18. Jahrhundert. Wie hier ist M A T O R É auch in einigen anderen Fällen bei der Feststellung neuer Wortinhalte apodiktisch vorgegangen, besonders bei den sogenannten „mots-témoins".

484

Anhang

Wortschatzes bilden zu können. Wichtiger ist das, was MATORÉ „mot-clé" nennt. Ein solches Schlüsselwort symbolisiert seiner Ansicht nach ein ganzes Jahrhundert. Es drückt das Ideal einer bestehenden Gesellschaft aus, so z. B. im 17. Jahrhundert die Bezeichnung honnête homme und im 18. Jahrhundert philosophe. Dabei unterscheidet MATORÉ wiederum zwischen a) ,,mot-clé principal" und b) „mots-clés secondaires". MATORÉ übersieht wohl in diesem Zusammenhang, daß die Gesellschaft soziologisch kein einheitliches Gebilde ist, wie es die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Reibungen in der Geschichte bezeugen. Auch die Ideale sind demzufolge klassengebunden, selbst wenn sie im allgemeinen als diejenigen der herrschenden Klasse oder auch zuweilen als diejenigen der aufsteigenden Klasse in der Literatur, im geistigen Leben eines Zeitabschnittes vorherrschen. Immerhin liegt in den Bestrebungen MATORÉS ein sehr ernst zu nehmender Versuch vor, Sprache und Gesellschaft im Bereich des Wortschatzes miteinander in eine unmittelbare Verbindung zu setzen, d. h. die realen gesellschaftlich-ökonomischen Voraussetzungen stärker als bisher in die lexikologischen Forschungen einzubeziehen, um den eigentlichen Ursachen sprachlicher Veränderungen und Gegebenheiten besser nachgehen zu können. MATORÉ formuliert seine Auffassung von der Lexikologie, indem er sich einerseits von D Ü R K H E I M und T A K D E und andererseits von S A U S S U R E distanziert. Dabei verdient die folgende Stelle festgehalten zu werden, weil sie in methodologischer Hinsicht manch wertvollen Ausblick eröffnet: „Dépassant la conception durkheimienne et le point de vue 'interpsychologique' de Tarde, la lexicologie ne considère les faits sociaux ni comme des choses en soi, étrangères à l'individu, ni comme une prolifération des consciences particulières. Pour elle, les faits sociaux ont bien l'aspect de choses, mais ce sont des choses vues, senties, comprises par des hommes. Elle envisage donc les réalités sociologiques dont le vocabulaire est le reflet, à la fois objectivement, comme des réalités indépendantes de l'individu, et subjectivement en fonction d'êtres vivant dans un milieu concret, dans certaines conditions sociales, économiques, politiques, esthétiques, etc. Le point de vue idéaliste de la sociologie durkheimienne et de la linguistique qui en est issue a entraîné de nombreux savants à minimiser de manière inconsidérée le rôle des conditions matérielles, et notamment économiques dans l'évolution du langage, à émettre l'idée discutable d'un »contrat social« et même, comme Saussure, à prétendre que les faits de langue se développent d'une manière particulière à l'intérieur d'un système autonome, indépendant des autres faits sociaux. La lexicologie réprouve absolument une telle conception : elle se refuse à être isolée des études sociologiques, et elle prétend qu'on ne peut expliquer le vocabulaire sans recourir au milieu humain qui le détermine." (S. 92-93.) Ferner sei noch darauf hingewiesen, daß MATORÉ streng zwischen Stilistik und Lexikologie trennt. Erstere ist für ihn ein „fait individuel", letztere ein „fait social". Er wendet sich auch gegen die Versuche, den Dichtern entscheidende Bedeutung für die allgemeine Entwicklung einer Sprache beizumessen. In dieser Hinsicht kommt er auf Grund eigener umfangreicher Studien zu der Erkenntnis : ,,Ce n'est pas de son imagination, mais de ses lectures, que Th. Gautier a tiré les

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éléments les plus nouveaux, les plus significatifs de son vocabulaire." 1 Der Sprachgebrauch und die Neuschöpfungen unbekannter Schriftsteller und Journalisten spielen dabei eine große Rolle. Aus diesem Grund sagt nach seiner Meinung das Studium des Wortschatzes eines Schriftstellers nichts Allgemeines über die jeweilige Sprache einer bestimmten Zeit aus, sondern nur über den Stil des betreffenden Autors, wobei nach M A T O B É auch erst sichere Schlüsse über diesen Stil gezogen werden können, wenn der Wortschatz der betreffenden Zeit vorher ernsthaft studiert worden ist. Dabei kann M A T O B É nicht umhin festzustellen, daß erst einmal der Wortschatz bestimmter Zeitabschnitte gründlich in strukturellsoziologischer Schau zu erfassen ist und daß dies nur in jahrzehntelanger Zusammenarbeit vieler Forscher realisiert werden dürfte. 2 1 2

R F L X (1948), S. 412. Methodisch ähnlich angelegte Werke sind: K . J . H O Ü Y M A N , Le développement du vocabulaire féodal en France pendant le haut moyen âge (Étude sémantique), Genève-Paris 1 9 5 7 ; B . QTTEMADA, Introduction à l'étude du vocabulaire médical ( 1 6 0 0 — 1 7 1 0 ) , Paris-Besançon 1 9 5 5 (mit Vorwort von G. M A T O B É ) ; P. J . W E X L E R , La formation du vocabulaire des chemins de fer en France ( 1 7 7 8 — 1 8 4 2 ) , GenèveLille 1955. In diesem Zusammenhang verdient auch die gründliche Arbeit von G U N N A B V O N P R O S C H W I T Z , Introduction à l'étude du vocabulaire de Beaumarchais, Stockholm 1956, erwähnt zu werden, obgleich keine unmittelbare Verbindung zur Theorie M A T O R F S vorliegt und der Verfasser sich gegen M A T O R É S strikte Trennung von Stilistik und Lexikologie ausspricht (S. I X ) . P R O S C H W I T Z sucht den Wortschatz der Werke von Beaumarchais zu erfassen, indem er sowohl die historischen Gegebenheiten beachtet als auch eingehend den Wortschatz von Werken der Zeitgenossen Beaumarchais' heranzieht. Das dürfte ganz im Sinne M A T O R É S sein. Da jedoch P R O S C H W I T Z gegen die strikte Trennung von Lexikologie und Stilistik ist, gelingt es ihm, über M A T O R É hinauszugehen und das Zusammenspiel zwischen Allgemeinem und Besonderem gut herauszuarbeiten. Er schreibt u. a.: „Bien de» fois la création d'un mot nouveau dépend uniquement de considérations de style. Renoncer à expliquer ces cas nombreux, c'est trop circonscrire le domaine dans lequel les études de vocabulaire sont en droit s'exercer, . . . " (S. I X ) . Nichtsdestoweniger ist natürlich entscheidend, wann und warum die entsprechende Neuschöpfung Umlaufswert erhielt: „Ce qui importe de savoir, c'est quand, comment et pourquoi l'emploi d'un mot se généralise." (S. X I . )

Nachträge

Zu S. 1—18, „Die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft" Vgl. auch den Sammelband Preistoria e storia degli studi romanzi, Milano 1955, von A. V I S C A R D I , C . CREMONESI, E . MOZZATI und M. V I T A L E . Besonderes Interesse besitzt darin der Beitrag von M. V I T A L E : Sommario elementare di una storia degli studi linguistici romanzi, S. 5—169 (ab S. 92ff. wird über die Entwicklung der 'linguistica scientifica' berichtet). Von Bedeutung für die Vorgeschichte der romanischen Sprachwissenschaft in Italien sind auch die betreffenden Darlegungen und Bemerkungen von B . MIGLIORINI in seiner umfassenden Storia della lingua italiana, Firenze 1960 (3. Auflage 1961). Zu erwähnen sind ferner : L. W A G N E R , Contributions à la préhistoire du romanisme in : Conférences de l'Institut de linguistique de l'Université de Paris X (1950/51), S. 101-124, und C . GARCÍA, Contribución a la historia de los conceptos gramaticales. La aportación del Brócense, Madrid 1960 ; A. B O R S T , Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Band 111,1 und 111,2, Stuttgart 1960 bzw. 1961 (Dieses Buch bietet auch sehr viel Material für die Vorgeschichte der Sprachwissenschaft in den romanischen Ländern. Die ersten beiden nichtgenannten Bände besitzen für unsere Problematik kein unmittelbares Interesse) ; P. K U E H N E R , Theories of the origin and formation of language in the eighteenth Century in France (Diss. Pennsylv. 1941), Philadelphia 1944; P. A. EyHAroB, IIpoójieMU U3yHenna poMancKUX jiumepamypnux x3mko8, MocKBa 1961. In bezug auf die Geschichte der rumänischen Philologie vgl. auch D. MACREA, Linguisti §i filologi romíni, Bucuresti 1959 (vor allem den Abschnitt „Precursorii", S. 17-78).

Zu S. 23ff. und 42ff., „Graziadio Isaia Ascoli" Vgl. E . D E F E L I C E , La terminologia linguistica di O. I. Ascoli e della sua scuola, Utrecht-Antwerpen 1954. Zu S. 25, „Substrat" Vgl. ferner B . T E R R A C I N I , Sostrato in: Scritti in onore di A . Trombetti, Milano 1938, S. 321-364 (wiederabgedruckt in: Pagine e appunti di linguistica storica, Firenze 1957, S. 41-79). 32 lordali, Rom. Sprachwissenschaft

488

Nachträge

Zu S. 66, „Lautwandel" Vgl. ferner H. L. K O P P E L M A N N , Ursachen des Lautwandels, Leiden 1939, und A. W. D E G K O O T , Structural Linguistics and Phonetic Law in: Lingua I (1947—48), S. 175-208. Zu S. 75, „Lautnachahmung" S. auch Z. W I T T O C H , Quelques notions nouvelles concernant les onomatopées; le type, la gamme, la série, la voyelle-type in: S C L X I ( 1 9 6 0 ) , S . 7 8 3 — 7 9 6 ; K . H R R T , Wortschöpfung, Schalldeutung, Wortumdeutung in: Orbis V I I I ( 1 9 5 9 ) , S . 1 3 0 — 1 4 2 ; K . H I R T , Prinzipien sprachlicher Urschöpfung in: Orbis V ( 1 9 5 6 ) , S . 4 2 1 — 4 3 4 . Zu S. 76/77, „Lautsymbolik" Vgl. auch M. C H A S T A I N G , Le symbolisme des voyelles, signification des «7» in: LV (1958), S. 403-423 und 461-481; M . W A N D R U S Z K A , Der Streit um die Deutung der Sprachlaute in: Festgabe Ernst Gamillscheg, Tübingen 1952, S. 214 bis 227 ; R. L E H M A N N , Le sémantisme des mots expressifs en Suisse romande, Berne 1949. JPNP

Zu S. 97, ,,Affektbedingte Wörter" Einen interessanten Beitrag bringt in dieser Hinsicht K . B A L D I N G E R , Vom Affektwort zum Normalwort in: Etymologica. Waither von Wartburg zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1958, S. 59—93. Dieser Aufsatz behandelt vor allem die Bedeutungsentwicklung von frz. travailler.

Zu S. 129ff„ „W. v. Humboldt" Vgl. auch B . B E N E S , Wilhelm von Humboldt, Jacob Orimm, August Ein Vergleich ihrer Sprachauffassungen, Winterthur 1958.

Schleicher.

Zu S. 171 ff., „Sprachgeographie (allgemein) und französischer Sprachatlas" Vgl. ferner M. A L V A R , Los nuevos atlas lingüisticos de la Romania, Granada 1960, und S. POP, Bibliographie des questionnaires linguistiques, Paris 1955. Wertvolle Angaben über E . E D M O N T und den französischen Sprachatlas werden gegeben von J. M A R T E L in Edmont linguiste. Créateur, avec Gilliéron, de la géographie linguistique in: Orbis VIII (1959), S. 7—17, und von S. POP in Atlas linguistique de la France:

Nachträge

489

Notes sur les cahiers de l'enquête d'Edmond Edmont in : Studies in Romance Philology and French Literatura, presented to John Orr, Manchester 1953, S. 218—225. Zu S. 193ff., „Homonymie" Vgl. ferner P. DIACONESCTJ, Omonimia §i polisemia in : Probleme de lingvisticä generala, Bu cureç ti, vol. I (1959), S . 133—153; F . A S A N , Observafii eu privire la omonime, ebenda vol. I I (1960), S . 113—124; S . S T A T I , Omonimia în sistemul morfologic, ebenda vol. I I (1960), S. 125-142. Zu S. 202, „Volksetymologie" Vgl. auch V.

PISANI,

Über Volksetymologie in: SCL X I (1960), S. 633-643.

Zu S. 277, „Mundartforschungen" Vgl. auch die deutsche Übersetzung: V. M . SCHIRMTTNSKI, Deutsche Mundartkunde. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten, Berlin (Akademie-Verlag) 1 9 6 2 . Von Interesse ist ferner A . G R I E R A , Cinquante années de dialectologie romane in: Orbis VII ( 1 9 5 8 ) , S . 3 4 7 - 3 5 6 . Zu S. 278, „Onomasiologie" Vgl. auch U. R I C K E N , Bemerkungen zur Onomasiologie in: W Z K L X (1961), Heft 3, S. 409-419. Zu S. 289ff., „Der Sprachatlas Italiens und der Südschweiz" Vgl. auch K. J A B E R G und J . J U D , Index zum Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. Ein propädeutisches etymologisches Wörterbuch der italienischen Mundarten, Bern 1960. Zu S. 305, „Atlas linguistique et ethnographique du Massif Central" Band I I (Le Paysan) erschien in Lyon 1959, Band I I I (L'Homme: Corps humain. Vie humaine. Vie sociale) wird im Verlauf des Jahres 1962 erscheinen. Zu S. 306, „Kolumbianischer Sprachatlas" Vgl. T O M I S BTTESA O L I V E R y Luis F L Ó R E Z , Cuestionario para él atlas lingüísticoetnográfico de Colombia. Segunda redacción, en experimentación, Bogotá 1960. 32*

Nachträge

490

Zu S. 306, „Andalusischer Sprachatlas" Vgl. M. ALVAR, Attas lingüístico y etnográfico de Andalucía, Tomo I, Madrid 1961. Dieser Regionalatlas wird 5 Bände umfassen. Der erste Band, der die notwendigen Vorbemerkungen über das Vorhaben, die Auswahl, die 'sujets' usw. enthält, bringt das Sprachmaterial aus den Gebieten der Landwirtschaft und des Handwerks. Er besteht aus 287 Karten und 284 Abbildungen.

Zu S. 306, „Mediterraner Sprachatlas" Dieser Atlas wird seit einigen Jahren von Linguisten verschiedenster Länder geplant. Die organisatorische Vorbereitung liegt vor allem in den Händen von M. DEANOVIÓ, einem jugoslawischen Sprachwissenschaftler. Dieser geplante Atlas soll die Fischer- und Schifferterminologie der Mittelmeerländer umfassen. Vgl. Bollettino dell'Atlante Lingüístico Mediterráneo, Band I, Venezia-Roma 1959, in dem M. DEANOVIC und G. FOLENA berichten über „Prospettive dell'Atlante Lingüístico Mediterráneo", „ I punti di inchiesta", ,,11 sistema di trascrizione fonética", „II Questionario dell'ALM". Dieser Band enthält ferner Aufsätze von zahlreichen Linguisten über Probleme der Sprachen der am Mittelmeer gelegenen Länder. Zu S. 324FF., „Die Lehre Ferdinand de Saussures" Vgl. auch A. J . GREIMAS, L'actualité du saussurisme in: FM X X I V (1956), S. 191-203 ; B. MALMBERG, Systeme et méthode. Trois études de linguistique générale, Lund 1945. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang der Sammelband Zeichen und System der Sprache, Berlin 1961 (bisher 1 Band erschienen), der die Veröffentlichungen des Internationalen Symposiums „Zeichen und System der Sprache" bringt, das vom 28. 9. bis 2. 10. 1959 in Erfurt stattfand. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen u. a. Fragen über das Verhältnis zwischen Zeichen und Wirklichkeit und zwischen Form und Inhalt im sprachlichen Bereich. Es wird gefragt nach dem Wesen des sprachlichen Systems, der Kategorien, des Zeichens usw. An diesen Diskussionen beteiligten sich zahlreiche Linguisten aus verschiedenen Ländern. Vgl. auch hinsichtlich der Beziehungen zwischen Synchronie und Diachronie den Sammelband sowjetischer Linguisten O coomuoiueniiu cuHxpoHOZO anajima

u ucmopunecKoeo

u3y%eHUH x3UKoe, MocKBa 1960.

Zu S. 353, „Entlehnungen" Vgl. die in dieser Hinsicht grundlegende neuere Arbeit von L . DEROY, L'emprunt linguistique, Paris 1956 (mit einer außerordentlich umfassenden Bibliographie!).

Nachträge

491

Zu S. 354£F., „Sprachtabu und Euphemismus" Vgl. auch R. F. MANSTJR G U É R I O S , Tabus Lingüísticos, Rio de Janeiro 1 9 5 6 ; M. CORTELLAZZO, Valore attuale del tabu lingüístico mágico in: Rivista di Etnografía VII ( 1 9 5 3 ) , S. 1 3 — 2 8 ; J . O R R , Le rôle destructeur de l'euphémie in: Cahiers de l'Association Internationale des Études Françaises 1 9 5 3 , S. 1 6 7 — 1 7 5 ; C H . B R U NEAU, Euphémie et euphémisme in: Festgabe Ernst Gamillscheg, Tübingen 1 9 5 2 , S.

11-23.

Zu S. 441, „Die Methode der sprachwissenschaftlichen Charakteristik" Vgl. auch H. K U E N , Versuch einer vergleichenden Charakteristik der romanischen Schriftsprachen, Erlangen 1958. Dieser Vergleich der romanischen Schriftsprachen bezieht sich auf verschiedene Aspekte der Sprache, wobei der Autor häufig auf die Sprachgeschichte zurückgreift oder mit etwas fragwürdigen völkerpsychologischen Betrachtungen aufwartet. M. W A N D R U S Z K A , Der Geist der französischen Sprache, Hamburg 1959. Hier handelt es sich um den Versuch, von der Bedeutungsgeschichte bestimmter Schlüsselwörter her (wie 'courtoisie', 'esprit', 'politesse' usw.) zu einer „kultur- und nationalpsychologischen Deutung" zu kommen. Die Ausführungen des Autors stellen eine sehr geistvolle Plauderei dar, die sprachhistorisch noch vieler Abstützungen bedarf. W A N D R U S Z K A ist vor allem bemüht, leichtfertige völkerpsychologische Urteile zu vermeiden. Zu S. 445, „Stilistik" Vgl. auch H . H A T Z F E L D et Y. L E H I R , Essai de bibliographie critique de stilistique française et romane (1955—1960), Paris 1961. Zu S. 448, „Marxistische Sprachwissenschaft" Zu erwähnen sind hier vor allem auch A L . G R A U E , Studii de lingvisticá generala Bucureçti 1960; A . A . PE ü (frz.) 10, 24, 46 Variante 312 Verheiratungen. Ihre Rolle in der Sprachgeschichte 237—241 Version 312 Verstandesmäßig 107, 224, 380, 381 Vulgärlatein 38, 70 Volkscharakter und Sprache 152, 153, 359, 364, 388, 401, 402, 403 Volksdichtung 309 Volksetymologie 183, 186, 202, 203, 204, 205, 206 Wellentheorie 28, 71, 72, 332 Westromanisch 20 Wörter und Sachen 74, 8 4 - 9 6 , 125, 251, 252, 276, 478 Wörterbücher und Sprachatlanten 268, 285, 286 Wortstellung des Neufranzösischen Wortuntergang 192, 193, 197, 265, Wortwanderung 84, 85, 181-183, 265, 273

208, 267, 107 317 227,

Zweikasussystem des Altfranzösischen 106, 390

Wortregister

abeille (frz.) 226 abhorrer (frz.) 205 absinthe (frz.) 205 acá (span.) 75 (a)colo (rum.) 75 acru (rum.) 195 adorer (frz.) 204 aestimare (lat.) 197 à force de (frz.) 329 âyyeXoç (agriech.), 352 (a)ici (rum.) 75 aimant (frz.) 197 aimer (frz.) 112, 197, 198 ahla (agriech.), 352 ajuster (frz.) 217 alba spina, albus spinus (lat.) 183 allons donc! (frz.) 329 ait (rum.) 195 alter (lat.) 195 altus (lat.) 195 allá (span.) 75 allí (span.) 75 am (rum.) 195 amabas (lat.) 331 amant (frz.) 197 amare (lat.) 197 amido (ital.) 87 amo (lat.) 195 août (frz.) 187, 217 ap (frz.) 202 apis (lat.) 187, 189, 191, 198, 202 apprentissage (frz.) 330 aquí (span.) 75 ara(t) (rum.) 195 aratrum (lat.) 195 aratu (arom.) 195 arb (frz.) 205 arbre(s) (frz.) 201, 205 arîstoacà (arom.) 95 as (frz.) 201 asaña (frz.) 183 asañe (frz.) 183 aubépin(e) (frz.) 183 aubert (frz.) 420

aucellus (lat.) 189 aude (rum.) 195 audit (lat.) 195 augustus (lat.) 217 auricula (lat.) 192 aut (lat.) 217 auteurs (frz.) 188 autres (frz.) 201 a^icà (rum.) 192 aveine (afrz.) 208 avena (lat.) 193, 208 avicellus (lat.) 192 avoine (frz.) 208, 209 azvîrl (rum.) 75 babel (frz.) 406 bâga (rum.) 95 balader (frz.) 420 balancer (frz.) 420 balle (frz.) 420 banc de menuisier (frz.) 182 basiare (lat.) 195 bâçare (arom.) 195 bâut (rum.) 266 b e a t à (rum.) 266 beau (frz.) 269 bedoucette (frz.) 192 beko (prov.) 227 bel (frz.) 353 belette (frz.) 355 betterave (frz.) 368 biatà (rum.) 266 bien (frz.) 353 biet (rum.) 266 bigey (frz.) 470, 471 billard (frz.) 429 bimb-bamb 75 blaireau (frz.) 182 blank (germ.) 183 blînd (rum.) 168 bodîrlâu (rum.) 423 bon (frz.) 102, 353 bostan (rum.) 368 bot (rum.) 368

Wortregister bou (rum.) 368 boule ( f r z . ) 368 bourguignon ( f r z . ) 269 braie ( f r z . ) 182 Brieulle ( f r z . ) 407 Bucureçtioara (rum.) 192 buisson ( f r z . ) 183 bun (rum.) 168

oaballioare (lat.) 44 caillou ( f r z . ) 368 calca în stràchini (rum.) 368 caldaria (lat.) 182 camisia (lat.) 92 capazón (rum.) 368 caput (lat.) 368 car (rum.) 195 carafe ( f r z . ) 368 carrum (lat.) 195 carte ( f r z . ) 191 carte (rum.) 352 carus (lat.) 195 casà (rum.) 327 cattus (lat.) 470, 471 cauliculus (lat.) 192 causa (lat.) 352 causa (ital.) 352 cause ( f r z . ) 352 càlugàr (rum.) 168 câmaçà (rum.) 92 càpâÇînà (rum.) 368 celebro (aitai.) 407 cenélier ( f r z . ) 183 cent ( f r z . ) 188 centum ( l a t . ) 195 cerebrum ( l a t . ) 407 cetate (rum.) 168 charretier ( f r z . ) 269 chaudrière ( f r z . ) 182 chaudron ( f r z . ) 182 chausse ( f r z . ) 182 chef ( f r z . ) 368 chevauchier ( a f r z . ) 44 chiave (ital.) 409 chiedete (ital.) 44 chiedo (ital.) 44 chiftea (rum.) 206 chose ( f r z . ) 352 Christ ( f r z . ) 188 cinque ( v l a t . ) 195 citron ( f r z . ) 368, 419 clavellus (lat.) 194 clavis (lat.) 193, 194, 409

clavus (lat.) 193, 194 client ( f r z . ) 483 coar ( p r o v . ) 205 colazione (ital.) 87 colibri ( f r z . ) 342 commis ( f r z . ) 483 contropatio (lat.) 74 corset ( f r z . ) 192 cosa (ital.) 352 coulindrou ( f r z . ) 406 cour ( f r z . ) 221 court ( f r z . ) 221 couver ( f r z . ) 205 crai (rum.) 168 cresci (ital.) 44 cresco (ital.) 44 cri ( f r z . ) 188 cubare (lat.) 205 culotte ( f r z . ) 182 xvgioç (agriech.) 352

damà (rum.) 351 danois ( f r z . ) 209 dâ în g r o p i (rum.) 368 déborder ( f r z . ) 204 dèche ( f r z . ) 420 dèdica (rum.) 85 dëdu (slaw.) 85 dégindandé ( f r z . ) 369 dégoûtant ( f r z . ) 204 dégoûter ( f r z . ) 204 demandare ( l a t . ) 409 demi ( f r z . ) 205 d e m o n ( r u m . ) 100 démon ( f r z . ) 269 desiderare ( l a t . ) 195 desidera, delira (altrum.) 195 delira ( r u m . ) 185 deçtept (rum.) 369 dezgustàtor (rum.) 204 diable(s) ( f r z . ) 200