Einen Dieb fangen
 9788723901989, 8723901985

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Trinen Dieb fangen Otto Steiger

GEGENWARTSLITERATUR

EASY READERS Dánemark

ERNST KLETT SPRACHEN Deutschland

ARCOBALENO Spanien LIBER Schweden

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Ein Verzeichnis aller bisher erschienenen EASY READERS in deutscher Sprache finden Sie auf der vorletzten Umschlagseite. Diese Ausgabe ist gekürzt und vereinfacht und ist damit für den Deutschlernenden leicht zu lesen. Die Wortwahl und der Satzbau richten sich - mit wenigen Ausnahmen - nach der Haufigkeit der Anwendung und dem Gebrauchswert für den Leser. Weniger gebrauchliche oder schwer zugángliche Wórter werden durch Zeichnungen oder FuBnoten in leicht verstándlichem Deutsch erklart. EASY READERS sind unentbehrlich für Schule und Selbststudium. EASY READERS sind auch auf Franzósisch, Englisch, Spanisch, Italienisch und Russisch vorhanden.

OTTO STE1GER

EINEN DIEB FANGEN

Bearbeitet von: Stefan Freund Illustrationen: Per Illum

GEKURZT UND VEREINFACHT FÜR SCHULE UND SELBSTSTUDIUM

Diese Ausgabe, deren Wortschatz nur die gebráuchlichsten deutschen Wórter umfasst, wurde gekürzt und vereinfacht und ist damit den Ansprüchen des Deutschlemenden auf einerJrühenJSrufe angepasst.

Dieses Werk folgt der reformierteh Rechtschreibung und Zfcichensetzung

Herausgeber: Ulla Malmmose

Umschlagentwurf: Mette Plesner

© 1974 by Otto Maier Verlag Ravensburg © 1993 EASY READERS, Copenhagen - a subsidiary oí Lindhardt og Ringhof Forlag A/S, an Egmont company. ISBN Danemark 978-87-23-90198-9 www.easyreaders.eu The CEFR levels stated on the back oí the book are approximate levels.

Easy Readers

Gedruckt in Danemark von Sangill Grafisk, Holme Olstrup

OTTO STE1GER geboren 1909 in Flawil, Schule und Studium in Bern. Arbeitete ais Redakteur und Nachrichtensprecher am Schweizer Rundfunk. Lebt heute ais freier Schriftsteller in Zürich. Seine Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Schweizerischen Jugendbuchpreis und dem Literaturpreis der Stadt Zürich.

Werke Sie tun, ais ob sie lebten, 1941; Die Reise ans Meer, 1959; Katz und Maus, 1964; Geschichten vom Tag, 1973; Keiner kommt bis Indien, 1976.

Der Bus ist überfüllt. Immer am Mittag, wenn Karin nach Hause fáhrt, ist der Bus überfüllt. Vor allem in der Náhe der Türen sind viele Leute. Karin steht in der Mitte zwischen den beiden Eingángen. Da hat man ein wenig mehr Platz. Die Mánner im Bus - nicht alie, 5 aber viele - werfen Karin Blicke zu. Sie weiB es, es machí ihr nichts aus. Im Gegenteil. Und sie denkt auch, es ist ja wahr, eine gute Figur habe ich. Besonders wenn ich die engen gelben Jeans trage und dazu den hellblauen Pullover. GroBmutter sagt: »Es ist keine 10 Kunst, mit vierzehn eine gute Figur zu haben. Warte bis du so alt bist wie ich.« Vierzehn, das war einmal. Ich bin nicht vierzehn, sagt sich Karin. Náchsten Monat werde ich fünfzehn. Sie denkt, so wie GroBmutter mochte ich schon gar 15 nicht werden. Nein nur das nicht. »Das macht keinen Unterschied, vierzehn oder fünfzehn«, sagt die GroBmutter. Was weiB die denn. Mit vierzehn war ich noch ein richtiges Kind. Sicher mit dreizehn. Aber heute nicht 20 mehr. Jetzt kommt der Bus zur Haltestelle, wo Peter gewohnlich einsteigt. Meistens allein, manchmal mit einem Klassenkameraden. Ja, da steht er und wartet. Allein. Das ist gut. 25 Peter steigt ein, der Bus fáhrt weiter. Er hat sie wohl nicht gesehen. Natürlich hat er mich gesehen, denkt Karin. Ist klar,

die Figur, das Aussehen

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dass er mich gesehen hat. Der tut nur so. Was ist eigentlich los mit ihm? Seit ein paar Tagen schon. Er tut ais ob ich giftig wáre. Eigentlich: seit seinem Klassenlager. Dort muss irgendetwas gewesen sein, aber keiner erzáhlt etwas. Peter nicht und Arthur schon gar nicht. Gehen die in ein Klassenlager ins Wallis und kommen eine Woche früher zurück ais geplant war. Dann die faulen Ausreden, mit denen sie kommen, wenn man fragt, warum sie früher zurückgekommen sind. Karin geht nach vorn. Jetzt hat sie Peter erreicht: »Hallo«, sagt sie. Er auch: »Hallo«. Sonst nichts. Sieht sie kaum an? Was der blob hat? »Heute früh bist du nicht im Bus gewesen«, sagte sie. »Nein.« »Gestem auch nicht.« »Nein.« »Wieso nicht?« »lch fahre jetzt meistens mit einem früheren Bus. Ich kann dann in der Schule noch ein wenig arbeiten.« Wie der lügt, denkt Karin. Früher wáre er mit irgendeinem Bus gefahren, nur um mich zu sehen. Wie schlecht er lügt. Er geht mir aus dem Weg. Schade. Wenn ich am Morgen mit ihm zur Schule fahre, ist der Tag schon halb gerettet. Sogar wenn eine Englischprüfung bevorsteht. »Was hast du plótzlich gegen mich?«, fragte sie.

die Ausrede, die Entschuldigung

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»Ich? - Nichts. Was solí ich wohl haben?« »Du bist anders ais früher.« »Ach wo. Weil ich morgens früher zur Schule fahre? Ich sage dir ja, es ist bloB, weil ich im Augenblick viel zu tun habe.« »Seit eurem Klassenlager bist du anders. Seit achí nein, seit zehn Tagen.« »Ach wo.« Wenn er nichts sagen will, kann man nichts machen. Im Bus kann man sowieso nicht gut reden. Wo einem immer alie Leute auf den Mund sehen. An der náchsten Haltestelle müssen beide aussteigen und haben dann noch ein Stück zu FuB vor sich. Bis zur Antennengasse, wo Karin rechts abbiegen muss. Sie steigen aus, sie gehen nebeneinander. Es ist ein hellwarmer Tag. Sie sagt noch einmal: »Seit eurem Klassenlager. Was ist dort eigentlich geschehen?« »Nichts. Was solí geschehen sein?« »Ihr seid zu früh heimgekommen. Warum?« »Hat Arthur zu Hause nichts erzáhlt?« »Er hat gesagt, das Haus wurde von einer anderen Klasse besetzt. Faule Ausrede. Das glaubt kein Mensch. Ais Papa sagte, das kommt nicht in Frage, das lasse ich mir nicht gefallen, dann sollen die wenigstens das zu viel bezahlte Geld zurückgeben, da hattest du Arthur sehen sollen. Und hóren. Auf keinen Fall, kommt gar nicht in Frage, Geld zurückzuverlangen, lácherlich wáre so etwas, die anderen tun es auch nicht, weshalb gerade wir? Wenn du das Geld zurückverlangst, gehe ich nicht mehr zur Schule, da kannst du machen, was du willst. - Also, warum seid ihr früher zurückgekom' men?« »Du hast es ja von Arthur gehórt.«

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»Ist mir übrigens ziemlich egal. Aber wieso du nicht mehr mit mir reden willst, das mochte ich geme wissen.« »Ich rede ja mit dir.« »Aber wie. So blod reden nicht mal meine Eltern miteinander.« Vielleicht eine ándete, dachte sie. Eine, die hübscher ist ais ich? Man kann nie wissen. Dabei sehe ich doch gut aus. »Arthur hat erzáhlt, dass ihr euch geprügelt habt. Stimmt das?« »Wer?« »Du und Arthur.« »Wenn er es sagt, wird es schon stimmen. Warum fragst du?« »Ich frage eben.« »Ja«, sagt Peter. »Wir haben uns geprügelt. Das heiBt: Eigentlich hat er mich verprügelt. Er ist stárker ais ich.« »Weshalb?« »Irgendetwas. Ich weiB nicht mehr, worum es ging. Irgendwas.« Natürlich weiB er es. Will es nur nicht sagen. Viel­ leicht war es wegen mir, denkt Karin. Sie gehen wieder eine Weile schweigend nebeneinander her. Und jetzt sind sie bei der Antennengasse. Karin sagt schnell: »Kommst du heute Nachmittag baden?« »Wohin?« »In die Aare. Wohin denn sonst?«

egal, gleich reden, sprechen blod, dumm prügeln, schlagen schweigend, ohne zu reden

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»Nein. Heute nicht. Ich habe etwas anderes vor.« Wieder so eine Ausrede, denkt Karin. »Was denn?«, fragt sie spitz. »Ich kann es dir nicht erkláren.« »Jetzt mach mal einen Punkt«, sagt sie. »Wenn du nicht mehr mit mir reden willst, dann sag es. Ich lauf dir bestimmt nicht nach.« »Ich rede ja mit dir. Ich will schon mit dir reden.« »Aber dann bitte nicht so.« »Gut«, sagt Peter. »Wenn du es wissen willst. Ich muss heute Nachmittag mein Zimmer streichen.« »Dein Zimmer streichen? Ganz allein? — Du, das finde ich eine talle Idee.« »Ich habe schon alies zum Malen eingekauft. Ich streiche die Wánde und die Decke. Jetzt sieht alies hasslich aus. Die Tapete ist ganz gelb.« »Muss das denn gerade heute sein?« »Ja. Ich habe vielleicht nachher keine Zeit mehr.« »Mir wáre es auf jeden Fall egal, wie die Tapete in meinem Zimmer aussáhe.« »Das sagst du so. Das sagt man leicht, wenn man in einer Villa wohnt. Mit einem groBen Schwimmbad im Garten. Dein Zimmer sieht sicher toll aus. Du brauchst nicht zu streichen. Und wenn es gestrichen werden muss, kommen die Maler.« »Hilft dir deine Mutter dabei?« »Meine Mutter arbeitet. Die kann mir nicht helfen.« »Ich würde dir geme helfen«, sagt Karin nach einer kurzen Pause.

streichen, malen toll, groBartig

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«Natürlich nur, wenn du magst.« Jetzt ist Peter überrascht. Das hat er nicht erwartet. »Wieso?«, fragt er. «Eigentlich wollte ich ja badén gehen. Aber es gibt noch manchen schonen Tag zum Badén. AuBerdem 5 kann ich gegen Abend zu Hause noch ein wenig schwimmen. Am Nachmittag kann ich nicht badén. Bis vier Uhr ist das Schwimmbad immer von Mama und GroBmutter besetzt.« »Und da ist für dich kein Platz mehr?« 10 »lch mag nicht. Ich will Beber nicht mit Mama zusammen badén. Móchtest du zusammen mit deiner Mutter badén ?« »NatürIich, warum nicht ?« «Wahrscheinlich kommst du eben mit deiner Mut- 15 ter besser aus ais ich mit meiner. Ich will sie nicht im Badeanzug sehen. Und GroBmutter schon gar nicht. Sie wollen unbedingt jünger aussehen ais ich. Hast du eine Mutter, die jünger aussehen will ais du?« «Meine Mutter ist normal.« 20 »Da hast du Glück. Also, wie ist es! Solí ich dir helfen?« »Wenn du magst. Aber ich werde allein auch fertig. Natürlich ist es mir recht, wenn du zu mir kommst. Auch wenn du nicht hilfst. WeiBt du, wo ich wohne?« 25 «Natürlich weiB ich das. Also, um zwei Uhr?« »Gut. Um zwei Uhr. Aber glaube nur nicht, dass wir so wohnen wie ihr. Kein eigenes Haus. Nur eine Dreizimmerwohnung unter dem Dach.« »Deine Eltern und du?« 30

erwarten, mit etwas reclinen

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»Meine Mutter und ich. Meine Eltem sind geschieden.« Geschieden! denkt Karin. Davon hat Papa auch schon mal gesprochen. Es war aber wohl nicht ernst. Von mir aus sollen sie sich scheiden lassen. Das muss 5 ganz interessant sein, wenn die Eltern sich scheiden lassen. Ich würde dann bei Papa wohnen. »TschüB«, sagt sie. »Also um zwei Uhr.«

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Zuerst muss man die Móbel in die Mitte des Zimmers stellen, dann alies mit Plastikfolie oder Zeitungen abdecken, den Boden und die Móbel. »Ich habe nicht geglaubt, dass du wirklich kommst«, sagt Peter. »Wieso nicht?« »Bei diesem Wetter. Wenn ich es nicht schon lange geplant hátte, würde ich heute etwas Besseres tun.« »Ich nicht.« Peter zeigt Karin, wie man malt, und sie fangen an. »Erzáhlst du mir jetzt, wie es im Klassenlager war?« »Was denn?« »Alles. Warum ihr euch geprügelt habt, Arthur und du. Auch das mit dem Italiener. Einfach alies.« »Hat Arthur etwas von dem Italiener erzáhlt?« »Er hat nur gesagt, es war was mit einem Italiener, mehr nicht. Ich erzáhl es dir spáter mal, hat er gesagt, aber jetzt noch nicht.« Peter steht mit dem Gesicht zur Wand und streicht, Karin kann sein Gesicht nicht sehen. Das ist gut, denkt er, es ist leichter, ehrlich zu reden, wenn man das Gesicht zur Wand hat.

geschieden, getrennt

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»Warum will Arthur nichts erzáhlen? WeiBt du es?«, fragt Karin. »Vielleicht ist es ihm unangenehm.« »Du meinst, er schamt sichl Weswegen? Das ist unmóglich, dass Arthur sich schamt. Der hat sich noch nie geschámt. Schámst du dich etwa?« »Ich weiB nicht«, sagt Peter. »Jetzt nicht mehr. Wenn du willst, kann ich dir alies erzáhlen. Jetzt darf ich, vorher durfte ich nicht.« Er denkt, ich werde ehrlich sein. Alies so erzáhlen, wie es war. Das mit dem Italiener, und dass Arthur mich zusammengeschlagen hat. Vielleicht nicht gerade zusammengeschlagen, aber immerhin ein blaues Auge habe ich drei Tage lang gehabt. Auch den Grund für unseren Streit werde ich ihr sagen. Dann ist es mal aus mir raus. »Aber ganz von Anfang an«, sagt Karin. »Ich weiB nicht mal genau, wo ihr im Lager gewesen seid.« »In Saas-Almagell. WeiBt du, wo das liegt?« »Irgendwo im Wallis. Genau weiB ich es nicht.« »Ich habe es vorher auch nicht gewusst. Im Frühling schon hat Strasser gesagt, dieses Jahr machen wir zwei Wochen Klassenlager im Wallis. Und zwar in SaasAlmagell. « »Ist das bei Saas-Fee?« »Ungefáhr, ja. Saas-Almagell liegt im Tal unten, Saas-Fee oben.« Karin sagt: »Wir gehen ins Tessin ins Klassenlager.

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sich schamen, etwas unangenehm sein der Streit, der Arger

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Ins Maggiatal. Ich freue mich. Wer hat bei euch gekocht?« «Strasser hat seine Frau mitgenommen.« »Wie sieht sie aus?« >>Nicht besonders groB. Schmal. Jünger ais er. Sie ist 5 ... ich weiB nicht ... ein wenig angstlich, sieht fast wie eine Schülerin aus.« »Hat sie dir gefallen?« «Gefallen? Nein. Wieso fragst du das? Schlecht sieht sie nicht aus.« ;o «Arthur hat gesagt, du bist oft bei ihr in der Küche gewesen.« »So ein Unsinn, wenn sie gesagt hat, ich solí Holz holen, dann habe ich Holz geholt. Wir hatten námlich einen Holzherd. Ein paarmal habe ich auch im Herd 15 Feuer gemacht. Aber sonst habe ich sie nicht ófter gesehen ais die anderen. Am Anfang war das Wetter schlecht. Kalt und Nebel. Wenn wir am Morgen die Fenster offneten, sahen wir nur eine weiBe Wand drauBen. Keine Bau- 20 me. Und die Berge schon gar nicht. Erst gegen Mittag ging der Nebel weg. Ich kann dir sagen: das war vielleicht langweilig, so ein Vormittag. Man konnte gar nichts machen. Wir wohnten nicht in Saas-Almagell selber, sondem in Zermeiggern, das sind einige Hauser 25 oberhalb des Dorfes. Komischer Ñame: Zermeiggern. Jeden zweiten Vormittag ist Frau Strasser ins Dorf hinuntergegangen um einzukaufen. Manchmal sind

der Herd, die Feuerstelle der Nebel, der Wasserdampf in der Luft

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wir zu zweit oder zu dritt mitgegangen, um ihr beim Tragen zu helfen.« »Du bist immer mitgegangen ?« »Nicht immer. Nur wenn sie gesagt hat, ich solí mitkommen. Das war natürlich toll, die anderen mussten lernen, da bin ich beber mit ins Dorf gegangen. Strasser hat gesagt, wenn wir drauBen nichts machen kónnen, wollen wir ein bisschen Franzbsisch lernen. >Holt die Bücher.< Ich habe in der ersten Woche nie mitgemacht, immer hat Frau Strasser gesagt, Peter kónnte mir helfen - Holz holen und so. Oder eben ins Dorf mitgehen. Einmal hat Strasser zu seiner Frau gesagt: >Du kónntest vielleicht mal einen anderen Schüler nehmen, der dir hilft. Nicht immer Peter.< Arthur hat sofort gerufen: >Ja, mich.< Aber sie hat gesagt: >Peter weiB jetzt, wie ich alies haben móchte.< Da war Strasser einverstanden, er hat nur gesagt: >Gut, mach wie du willst.Das ist nicht wahr, ich laufe Karin nicht nach.< - >Such dir doch eine aus deinen KreisenKarin will nichts von dir wissen. Das hat sie mir gesagt. Und anderes auch.< — >Was denn?Dass du ihr immer in den Ohren liegst, du móchtest einmal zu uns kommen, weil wir ein Schwimmbad haben. Soll ich Holz holen?< Da hat sie zum erstenmal den Kopf gehoben und mich angesehen. Sie hatte Tránen in den Augen. Ich wurde ganz verlegen, ich fragte: >Ist etwas passiert?
Setz dich zu mir, Peten, und, ais ich mich gesetzt hatte, sagte sie: >Es ist etwas geschehen.< >Was denn Alies Geld ist gestohlen worden.< >Welches Geld?< >Das Geld für das Lager. Alies. < Ich wat so überrascht, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fragte: >Alles?> >Sechshundert Franken. Ich weiB nicht mehr, was ich tun soll.< Ich fragte - nur um etwas zu sagen - wo man das Geld gestohlen habe. Sie sagte, sie habe das Geld immer im Küchenschrank gehabt. Gestern noch habe sie es nachgezáhlt. Darum sei sie auch ganz sicher, dass es in der Nacht gestohlen worden sei. >Dann muss es doch einer von uns gewesen seinJa. Einer, der gewusst hat, dass es dort liegt. Das gibt mir am meisten zu denken. Dass es einer von uns gewesen sein muss. - Hast du gewusst, dass ich das Geld im Schrank hatte ?< Ich sagte: >Ja, ich habe gesehen, dass Sie hin und wieder Geld aus dem Küchenschrank genommen haben. Aber ich habe nicht gewusst, wie viel drinlag. Und ich habe es nicht genommen. < >Nein, nein, natürlich nichtDu

nicken, den Kopf kurz auf und ab bewegen

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nicht. So habe ich es nicht gemeint. Aber wer? Jemand muss mich gesehen haben. VZer? Wer kónnte mich denn gesehen haben?< Ich wusste es nicht, und ich konnte mir auch nicht denken, wer das hátte tun kónnen. Zuerst kam mir 5 alies unmóglich^vor, aber wenn sie sagte, das Geld ist weg, dann^ar es zweifellos gestohlen worden. Und dann musste es einer von uns gewesen sein. >WeiB es Herr Strsser schon?Ich weiB nicht, wie ich es ihm sagen solí. Er war dagegen, dass ich das Geld in den Schrank lege.< >Vielleicht hat er es genommen.< >Wer? Mein Mann• < 15 >Vielleicht hat er es an einen anderen Ort gelegt, weil er mit diesem nicht einverstanden war.< >Nein. Dann hátte er es mir gesagt.< >Oder er hat es weggenommen, um Ihnen zu zeigen, wie leicht es gestohlen werden kónnte.< 20 >So etwas macht er nicht. Nicht mit Geld.< Mir war auf einmal, ais habe sie mich zu ihrem Verbündeten gemacht, ais ich sie von ihrem mann so reden hórte. Das hat mir gefallen, obwohl der Grund dazu nicht gerade fróhlich war. Aber sie sprach zu mir 25 wie zu einem Freund.« »Ist sie hübsch?«, fragte Karin. »Wie sie damals so dagesessen hat und keinen Rat wuBte, da hat sie mir gefallen.« »Hübscher ais ich?« 30

der Verbündete, der Freund

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»Nein. Natürlich nicht.« »Willst du damit sagen, niemand sei hübscher ais ich?« »Ja. Das ist doch wohl klar.« »Fein«, sagt Karin und láchelt. »Das wollte ich mal von dir horen. Erzáhl weiter. Wer war es denn nun?« »Ich erzáhle der Reihe nach. Also, wie sie so dasaB, habe ich gedacht, ich müsse irgendetwas tun, um ihr zu helfen. Sie hat sich vor ihrem Mann geschámt, weil der sie wegen des Geldes gewarnt hatte. Aber ich konnte ihr wirklich nicht helfen. Ich wartete noch eine Weile, ich dachte, vielleicht will sie noch etwas erzáhlen, aber sie schwieg.

Die anderen sind bald zurückgekommen. Ais ich sie hórte, bin ich aufgestanden. Wie ich in den Gang kam, stand Frau Strasser bei ihrem Mann und hat leise mit ihm geredet. Sie war ein bisschen aufgeregt. Ich habe inzwischen meine Klassenkameraden genau angeschaut. Ich habe mir überlegt: Wer konnte es gewesen sein? Wer hat das Geld gestohlen? Dann sagte Strasser: >Eben hat mir meine Frau gesagt, dass in der letzten Nacht alies Geld für unser Lager gestohlen wurde.> Ich stand etwas weiter weg, ich konnte die anderen gut beobachten. Ich habe gedacht, vielleicht bekomme ich es jetzt schon raus, wer es gewesen ist.

wcimen, auf eine Gefahr aufmerksam machen überlegen, nachdenken, durchdenken beobachten, genau ansehen

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Arthur hat gefragt: >Wieviel war es denn?Kommt es darauf an?< hat er gefragt. >JaSechshundert Franken.< Strasser stand jetzt schweigend vor seinen Schülern, sah einen nach dem anderen an. Er gab mir ein Zeichen, ich solle mich zu den anderen stellen. Uns alien war nicht ganz wohl. Wir wussten, dass maní einen von uns im Verdacht hatte, dass es wohl auch einer von uns gewesen sein musste. Je langer Strasser schwieg und uns nur ansah, desto unangenehmer wurde uns. SchlieBlich hat Heinz gefragt: >War es einer von uns?< Strasser hat ein Gesicht gemacht und gefragt: >Wer denn sonst? Ich vielleicht?< Wir haben kurz gelacht, um zu zeigen, wie absurd uns dieser Gedanke schiene. Er ist emst geblieben, er hat gesagt: >Derjenige solí sich melden.< Natürlich hat sich keiner gemeldet. Ich habe gedacht, so bekommst du ihn bestimmt nicht. Das muss man klüger anfangen. Strasser hat gewartet. Vielleicht hat er tatsachlich geglaubt, der Dieb melde sich, aber das war doch unwahrscheinlich. Ich denke, er hat ganz einfach nicht gewusst, was er tun solí. Endlich hat er gesagt: >Wenn sich der Dieb jetzt meldet, gut, dann ist alies in Ordnung. Er gibt das Geld zurück, ich nehme an, er hat sich im Augenblick die Tat nicht überlegt. Er gibt

im Verdacht haben, für schuldig halten scheinen, wirken ais ob

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das Geld zurück, und wir reden nicht mehr davon. Aber wenn ich es der Polizei melden muss, dann kommt er nicht so einfach davon. Das ist námlich Diebstahl. Auf jeden Fall muss und werde ich dann die 5 Sache genau untersuchen lassen. Der Dieb solí nur nicht glauben, wir finden das Geld nicht. Wir werden alies durchsuchen, und wenn wir das ganze Haus auf den Kopf stellen müssen. Auch, wenn wir für den Rest der Zeit hier oben nichts anderes mehr tun kdnnen.< ¡o Es meldete sich niemand. Strasser fuhr fort: >Ihr geht jetzt in eure Zimmer. Meine Frau und ich auch. Eine Stunde lang. Also bis zehn Uhr. Der Dieb hat Zeit, das Geld in den Schrank zurückzulegen. Nie­ mand wird ihn sehen. Wenn in einer Stunde das Geld 15 wieder im Schrank liegt, reden wir nicht mehr davon. Im anderen Fall melde ich es der Polizei. Das muss ich tun, denn es handelt sich schlieBlich um das Geld eurer Eltern.< Egon, der sonst immer still ist, wáhrend der Stunde 20 und in der Pause, hat gesagt: >Wenn wir alie in unsern Zimmern sind, und der, der das Geld gestohlen hat, geht hinaus, dann weiB jeder, wer es ist. < Strasser muBte Egon recht geben. >Wie wollen wir es denn machen?NiemandIn einer halben Stunde ist die Polizei hier.< Wir haben gewartet. Wir wussten nicht, was wir hárten tun kónnen, auBer uns hinzusetzen und zu warten. Strasser harte sich mit seiner Frau in die Ecke beim Fenster gesetzt. Plótzlich sagre Arthur in die Stille: >Ich glaube nicht, dass es einer von uns war.< >Wer denn sonst?Also, jetzt alies noch einmal und schón der Reihe nach.< Auf einmal sah alies nicht mehr so gefáhrlich aus wie vorher. Wir harten Vertrauen zum Polizisten mit dem fróhlichen Gesicht. Die anderen dachten sicher

Vertrauen haben, an jemanden glauben

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wie ich: Der wird es schon schaffen. Strasser fragte: >Was wollen Sie jetzt machen?< >Ich muss natürlich ein Protokoll machenSobald ich Zeit habe.< 5 >Und dann?< >Dann? Dann nichts mehr.< >Und das Geld? Wollen Sie nicht wenigstens sehen, wo es gestohlen wurde?< >Doch, hat der Polizist gesagt. Warum nicht.< 10 Sie sind in die Küche gegangen, wir ihnen nach. Strasser hat den Schrank gedffnet. Frau Strasser hat gesagt: >Da unter das Buch, in das ich die Ausgaben schreibe, habe ich das Geld gelegt.< Es war dem Polizisten vollstándig gleich, wo das 15 Geld gelegen hatte: >Das wáre dann alies.< Strasser hatte mehr erwartet. Wir auch. >Was wollen sie tun?Da gibt es nichts zu tun. Das Geld ist weg.< >Man muss das Haus durchsuchenDer Dieb kann das Geld unmóglich weggebracht haben.< >Das hat keinen SinnDas Geld ist nicht im Haus.< >Woher wollen Sie denn das wissen?< 25 >lch weiB es.< >Dann wissen Sie vielleicht auch, wer es gestohlen hat.< >Sicher weiB ich das.< Ich dachte, der ist doch verrückt, der nimmt uns auf 30 den Arm. >Wer ist es denn?Keiner von euchDa bin ich mir ganz sicher. Das Geld ist nun mal weg und der Dieb 26

natürlich auch.< >Wer ist es?< >Der Italiener - Der Canevari.< >Wer ist das?< >Pietro Canevari heiBt er. Das ist námlich so: Vor zwei Tagen haben sie von Mattmark oben angerufen, vom Kraftwerk, sie hárten einen Italiener dabei überrascht, wie er in der Kantine gestohlen hat. Kommt immer mal wieder vor, so etwas. Meistens Geld. Auch Lebensmittel. Die Italiener stehlen námlich nie bloB Geld. Am liebsten Geld, klar, aber sie nehmen immer noch etwas für unterwegs zu essen mit, wenn sie kónnen. Mich wundert nur, daB Canevari neben dem Geld hier nichts hat mitgehen lassen.< >Der kann es gar nicht gewesen seinBei uns ist das Geld erst gestern Nacht gestohlen worden.< Der Polizist hórte nicht hin. Er redete weiter: >Also bin ich hinaufgefahren und habe ihn verhaftet. Wenn wir hier oben jemand verhaften, bringen wir ihn nach Visp hinunter ins Gefángnis. Ich rufe also in Visp an und sage, ich habe da einen, wann kann ich ihn bringen. Bring ihn übermorgen, hat man geantwortet, da passt es uns am besten. Ich habe Canevari gesagt, über­ morgen bringe ich dich nach Visp, bis dahin muss ich dich hier einsperren. Die Italiener sind hófliche Leute, alies was recht ist, das muss man ihnen lassen. Cane­ vari hat nur gesagt: >BeneAus Ihrem Gefángnis?< >Wir haben kein richtiges Gefángnis hier oben. BloB einen Raum, den wir zuschlieBen kónnen. Dass der das SchloB óffnen konnte, hárte ich nicht gedacht. Canevari hat auf jeden Fall das Schloss geóffnet, und ab ist er. Ein schmachtiger Kerl. Und schon alt. Vielleicht schon fünfzig.< >Und Sie meinender ist es gewesen?< >Meine ich nicht nur. Das weiB ich. SchlieBlich hat man seine Erfahrungen. Mich wundert nur, dass er keine Lebensmittel mitgenommen hat.< >Drei Gláser Marmelade fehlenNa also, was habe ich gesagt? Dann ist ja alies klar.< >Das ist noch lange kein Beweis, dass er das Geld gestohlen hatFür mich schonDu mochtest bloB, dass man dem nichts beweisen kann, weil du selber ein Italiener bistIch bin kein Italiener.< >Aber dein Vater.< >Ruhe jetztIch nehme doch an, der Herr von der Polizei weiB, was er sagt. Und wir haben alien Grund, froh darüber zu sein, dass es keiner von

ausreiflen, davonlaufen schmáchtig, dünn der Kerl, der Mann die Erfahrung, die Geschehen, aus denen man für das Leben lemt

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unserer Klasse war. Ob Italiener oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Sicher wird er nicht weit mit dem Geld kommen. Den werden sie in Visp bald verhaften.< Aber der Polizist lachte. >So blód ist der nicht, dass er nach Visp geht. Direkt ins Land hinein, wo er doch hier nur 10 km von der Grenze entfernt ist. Nein, nein, der geht sicher nicht hinunter, sondern hinauf. Der Grenze zu. Wenn einer etwas gestohlen hat, oder auch sonst, wenn er nichts gestohlen hat und einfach heimkehren will, geht er zu FuB an der Vispa entlang hin­ auf, über den Montemoropass, und auf der anderen Seite hinunter ins Anzascatal. Nein, das Geld sehen Sie bestimmt nicht wieder. Und Canevari kann man nur gute Reise wünschen.< Es schien ihm SpaB zu machen, er lachte. Ein paar von uns lachten auch, und einer rief: >Der ist schon in Italien, den findet man nicht mehr.< >Mit unserem GeldUnd wir kónnen unser Ferienlager abbrechen. < Ich glaube, das war alien egal. Mir jedenfalls war es recht. Nach meinem Streit mit Arthur wollte ich sowieso am liebsten heim. Auch von den anderen sag­ te niemand, es sei schade. Einer fragte bloB: >Wann géhen wir?< Der Polizist war inzwischen aufgestanden und woll­ te gehen. >Das war es alsoJetzt ist das Wetter endlich besser geworden. Canevari hat Glück. Es ist natürlich angenehmer, bei schónem Wetter über den Pass zu gehen. Ist auch so noch weit.< >Ist er schon in Italien?Natürlich nicht. Es sind immerhin fast acht Stunden bis hinauf zur Grenze. Dann nochmals sieben, bis hinunter ins Anzascatal. Aber den recht gefáhrlichen Weg von der Passhóhe hinunter nach Staffa oder Pecetto kann er nachts nicht gehen. Darum muss er oben übernachten. Die übernachten immer in der Tállibodenhütte. Erst am anderen Morgen gehen sie über die Grenze und hinun­ ter ins Tal.< Wir haben ihn dumm angeschaut. Ich habe gedacht, der spinnt total, und Frau Strasser hat gefragt: >WoIlen Sie damit sagen, daB er die náchste Nacht noch auf Schweizer Boden ist?< >Ganz sicher. Vor zwei Uhr kommt er ja kaum hin­ auf auf den Tálliboden. Dann sind es noch einmal zwei Stunden bis zur Grenze. Nein, der ist nicht dumm, der geht erst morgen hinüber.
Mit unserem Geldh, dachte ich. Auf einmal wurde 25 mir klar, dass dieser Canevari mein Geld gestohlen hatte. Mein Geld. Das Geld, das meine Mutter verdient

übernachten, eine Nacht lang bleiben spinnen, im Kopf nicht richtig sein verdienen, durch Arbeit bekommen

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hatte. Damit machte der sich nun ein paar gemütliche Wochen. Ich wáre nun doch noch geme lánger im Lager geblieben, gerade, weil wir kein Geld mehr hat' ten. Ich sah es den anderen an, dass sie auch so dach' ten. Strasser sagte: >Aber das ist doch nicht zu glauben. Sie glauben zu wissen, wo der Dieb die náchste Nacht sein wird?< > Klar. Ich sage Ihnen ja: in der Tállibodenhütte oben. Dort ist er allein, braucht sich nicht mal zu ver' stecken. Den verfolgt niemand.< - >SieSie werden ihn verfolgen. Das ist Ihre Pflicht.< > Ich? Nein. Ich sicher nicht. Ich denke nicht daran. > Es ist Ihre Pflicht.< >NeinNichts zu machen mit mir. Das tue ich bestimmt nicht.< Wir waren nun alie auch gegen den Polizisten, und wir riefen: >Sicher ist das Ihre Pflicht.< Der Polizist wurde jetzt bóse. Er brauche sich von niemanden sagen zu lassen, was seine Pflicht sei, schon gar nicht von ein paar jungen Kerlen aus der Stadt. Er sei hier oben allein und kónne den Posten auf keinen Fall verlassen. Er kenne seine Pflichten besser ais irgendeiner. Auf jeden Fall gehe er nicht auf den Tah liboden hinauf und verhafte den Italiener. Und dann - ja, dann sagte er noch etwas. Das hat alies verándert. Alies. Einfach alies. Für mich.« »Was heiík das: Alles?« »ÁuBerlich fast nichts«, sagt Peter. »Aber in mir. In

verstecken, sich unsichtbar machen verfolgen, jemand versuchen einzufangen

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mir hat sich viel verándert. Ich habe mich seither schon hundertmal gefragt, wie alies wohl gekommen ware, wenn damals der Polizist nicht gesagt hátte: >Holt ihn doch selber! Wenn euch so viel an seiner Verhaftung liegt.< Innerlich bin ich ein paar Jahre álter geworden, seit dem Augenblick, da der Polizist sein Motorrad startete und - immer noch halb árgerlich, sagte: >Holt ihn doch selber. Ihr habt Zeit. Und schlieBlich ist es euer Geld.< >Holt ihn selber. < Nicht nur: >Ihr dürft mitkommen, wenn ich ihn verhafte, ihr dürft einmal zusehen, wie das vor sich geht.< Obwohl das schon eine groBe Sache für uns gewesen wáre. Nein. >Holt ihn selber.< Er gab uns die Erlaubnis: fast den Befehl! >Holt ihn selber.< Hinaufsteigen zur Tállibodenhütte, den Italiener gefangen nehmen. Und hinunterbringen nach SaasAlmagell. Das war natürlich eine Aufgabe! Nein, keine Aufgabe: ein Vergnügen, eine Freude und ein SpaB, wie wir ihn noch nie erlebt hatten und nie mehr erleben würden. In diesem Augenblick wagte noch keiner von uns, daran zu glauben. Auch Strasser nicht. Er sagte bloB: >Jaja. Wenn das móglich wáre.< >Warum sollte es nicht móglich sein?< fragte der Polizist. Strasser zbgerte immer noch: >Ich weiB nicht, ob das geht. Mit einer Schulklasse.
Natürlich geht das, warum nicht?< >Meinen Sie das ernst?Natürlich. Wenn ihr jetzt bald einmal losgeht, seid ihr gegen sechs Uhr im Tálliboden.< >Und wenn wir ihn nicht finden?< >Das macht auch nichtsdann haben wir doch unseren SpaB gehabt.< Der Polizist sagte: >Die Hütte findet ihr. Die sieht man schon eine Weile vorher. Und in der Hütte findet ihr auch Canevari. Wenn ihr ihn habt, bringt ihr ihn ins Dorf hinunter. Zu mir. Ich habe noch ein paar ena­ ste Worte mit ihm zu reden. < >Da müssten wir ja oben übemachtenKlar. Ubernachten müsst ihr oben. Aber die Hütte ist warm. Und gut eingerichtet. Ihr nehmt eure Schlafsácke mit. Und natürlich etwas zu essen.< Strasser fragte: >Was meint ihr dazu?< Alie fanden den Plan toll. >Das wáre groBartigmal was anderes, von dem lassen wir uns doch nicht unser Geld stehlen, den holen wir.< Nur Frau Strasser machte ein nachdenkliches Gesicht. Ihr war es zu gefáhrlich. >Was solí denn geschehenKónnte er für die Nacht auch in eine andere Hütte gehenh, fragte Strasser. > Kónnte erTut er aber nicht. Weil das die beste Hütte ist von hier bis zur Grenze. Der denkt ja nicht im Traum daran, dass ihm jemand 34

folgen konnte. Darum geht er so hoch hinauf wie moglich. Es gibt zwischen Mattmark und dem Tálliboden nur drei Hütten, wo er übernachten konnte. Zwei am linken Weg, eine am rechten. Die kónnt ihr durchsuchen, wenn ihr vorbeige/kt. Am besten macht ihr zwei Gruppen. Die eine geht links von der Vispa, die andere rechts. Ihr werdet ihn bestimmt finden.< Ais der Polizist abgefahren war, fingen wir gleich mit den Vorbereitungen an. Strasser fragte: >Wer will zu Hause bleiben?< Natürlich meldete sich niemand. >Wir bilden zwei GruppenDie eine Gruppe führe ich an. Die andere Gruppe kann Silvio anführen.< >Ich nichtWieso nicht?< >Ich mag nicht. < Ich wusste, warum er nicht wollte, aber die anderen wussten es wahrscheinlich nicht. Er wollte nicht, weil wir einen Italiener jagten. Silvio ist Schweizer, aber sein Vater ist Italiener, und er hat mir einmal gesagt, ihn lassen es die Leute immer noch merken, dass er Auslánder ist. Dabei wohnt er schon lange in Bern und spricht auch ziemlich gut Deutsch. Silvio hat mir mal erzáhlt, es kommt vor, daB Leute zu seinem Vater sagen: >Du blóder Tsching.< Darum wollte Silvio die Gruppe nicht anführen. >Dann eben ArthurBist du einverstanden?< Arthur hatte nichts dagegen. >Und jetzt bestimmen wir, wer in welche Gruppe

der Tsching, ein schlechtes Wort für Italiener

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kommtZuerst wahlst du einen, Arthur, dann ich, und so fort.< Ich dachte, da komme ich ganz sicher in Strassers Gruppe. Arthur wird mich auf keinen Fall bei sich haben wollen. Er hatte ais ersten Silvio gewáhlt, ich wáre gern bei Silvio gewesen. Dann wáhlte aber Arthur doch mich ais zweiten. Nachher begannen wir mit den Vorbereitungen. Frau Strasser kochte Tee und Eier, machte Brote, packte Wurst und Suppe ein. Sie war nun auch dafür, dass wir Canevari holten. Dann zogen wir los. Es war schon ein Uhr, ais wir in Mattmark ankamen. Es war ein heiBer Tag und alie hatten Durst. Nach einer halben Stunde sind wir weitergegangen. Wir trennten uns nun. Strasser ging mit seiner Gruppe auf der linken Seite der Saaser Vispa, wir auf der rechten. Lange Zeit sahen wir uns noch gut, aber dann führten die Wege hinauf, und wir verloren uns aus den Augen. Um sechs Uhr wollten wir uns vor der Tállibodenhütte treffen. Aber doch noch so weit entfernt, dass der Italiener uns nicht sehen konnte. Zeit blieb uns genug, das wussten wir. Wir hatten langsam gehen kónnen, aber wir hatten es plótzlich eilig. Wir gingen immer schneller. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, so fühlte doch jeder - sicher mit Ausnahme von Silvio - dasselbe: wir wollten zuerst oben sein. Wir wollten Canevari allein fangen. Wenn um sechs die anderen ankamen, konnten wir ihnen sagen: wir haben ihn schon lange. Er liegt gefesselt in der Hütte. wahlen, aussuchen fesseln, an Handen und FüBen binden

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Wir gingen sehr schnell, aber nach zwei Stunden mussten wir uns dann doch hinlegen. V7ir konnten einfach nicht mehr. V7ir mussten eine Pause machen und etwas trinken. Kaum hatten wir uns wieder auf den Weg gemacht, sahen wir links oben eine Hütte. Arthur sagte, einer solle hineingehen und nachschauen, ob er hier gewesen sei. Wir wollten alie zusammen gehen, um die Hütte zu untersuchen. Aber Silvio hat gesagt: >Geht nur, ich komme nicht mit.< Also bin ich bei ihm geblieben. >Warum willst du nicht?*, fragte ich. >Mir gefállt das nicht,< sagte er. >Was gefállt dir nicht?* >Alles. Und dass ihr solche Freude daran habt, gefállt mir noch weniger.< >Ist doch ein SpaB*, sagte ich. >Für euch vielleicht. Aber für ihn? Wenn ihr ihn erwischt, kommt er ins Gefángnis. Das ist bestimmt kein SpaB.* >Aber er hat gestohlen. Er hat unser Geld gestoh­ len.* >Ja, aber ich weiB nicht, warum er es gestohlen hat. WeiBt du es vielleicht?* >Nein. Aber es ist schlieBlich unser Geld. Was ist denn unrecht daran, wenn wir einen Dieb fangen und der Polizei übergeben? Das tut ja die Polizei selber auch.* >Das ist etwas anderes*, meinte Silvio, >wenn die

erwischen, zu fassen bekommen

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Polizei es tut. Obwohl ich auch nicht Polizist sein móchte. Aber immerhin: das ist ihr Beruf, sie werden dafür bezahlt. Euch macht es SpaB. Das ist der Unterschied.< Nach einer halben Stunde sind die anderen aus der Hütte zurückgekommen. Keine Spur von Canevari. Also gingen wir weiter. Um sechs Uhr kamen wir bei der Hütte an. Man sieht sie schon von weitem. Wir wussten sofort, dass es die Tállibodenhütte war: breit und máchtig, mit einem Dach aus Stein und kleinen Fenstem. Ais wir naher kamen, saben wir Rauda aus der Húr­ te steigen. Canevari war also drin. Wir blieben ein paar hundert Meter unter der Hütte stehen, sodass Canevari, auch wenn er zum Fenster hinausschaute, uns nicht sehen konnte. Arthur wollte die Hütte sogleich stürmen, aber Silvio meinte, es sei doch wohl besser zu warten, bis Strasser mit seiner Gruppe káme. Er hatte recht. Strasser hatte es natürlich nicht gefallen, wenn wir Canevari ohne ihn gefangen hátten. Und die anderen aus seiner Gruppe auch. Also warteten wir. Wir brauchten nicht lange zu warten, da saben wir sie kommen. Wir erzáhlten ihnen, Canevari sei bestimmt in der Hütte und zeigten auf den Rauch. Strasser übernahm jetzt den Befehl. Er sagte, wir wollen ganz vorsichtig vorgehen und uns in keine unnótige Gefahr bringen. Ich trage die Verantwortung der Beruf, die Arbeit stürmen, den Kampf beginnen die Verantwortung, eine Handlung für richtig finden und bereit sein, die Konsequenzen zu ziehen

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für alies. Vergesst das bitte nie. Wir gingen hinter ihm den Weg hinauf, bis wir die Hütte ungefáhr 50 bis 70 Meter vor uns harten. Wir waren nun am Rand eines Kie/emwáldchens, in dessen Schutz wir náhergekommen waren. Vor uns lag noch 5 ein freier steiniger Platz, und auf der anderen Seite des Platzes war der Eingang zur Hütte. Strasser befahb >Hinlegen, damit er uns nicht sehen kann.< Wir waren sehr aufgeregt. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie aufgeregt wir waren. Canevari war keine lo hundert Meter von uns entfernt. Auch Strasser war auf­ geregt. Er sprach ganz leise, obwohl Canevari auch eine nórmale Stimme niemals hatte hóren kónnen. >Bisher ist alies gut gegangenDer entkommt uns nicht. Nur müssen wir vorsichtig sein und 15 alies erst genau überlegen. Wir haben Zeit genug. Es bleibt mindestens noch eine Stunde lang hell. Zuerst wollen wir die Umgebung untersuchen. Das mache ich, ihr wartet inzwischen hier. Einer kann mitkommen. Wer?< 20 Wir wollten alie. Er wáhlte ohne zu zógern Arthur. Die beiden machten sich - immer im Schutz der Báume — auf den Weg. Wir sahen ihnen nach, bis sie weg waren. Wir blieben liegen, bewegten uns kaum und wagten nur ganz leise zu reden. 25 Einige Zeit spáter kam Strasser mit Arthur zurück, und Strasser erklárte uns wie es auf der anderen Seite

die Kiefer, ein Nadelbaum vorstellen, denken entfemt, weg die Umgebung, die Gegend

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der Hütte aussah: erst eine ziemlich steile Geróllhalde, etwa 40 Meter tief, dann ein Kiefernwáldchen wie hier. >Zuerst muss sich jeder einen Stock suchendann umstellen wir die Hütte. Auf der anderen Seite gibt es eine schmale Tür, die führt in einen Schuppen. Vielleicht gibt es aber von diesem Schuppen aus einen Eingang nach oben. Die Fenster auf der anderen Seite sind im ersten Stock. Durch ein Fenster kann er uns also nicht entkommen, es sei denn, er springt vom ersten Stock auf die Geróllhalde hinunter. Doch das wird er nicht tun, denn es ist eine recht gefáhrliche Sache. Dennoch wollen wir vorsichtig sein, vor allem auch, weil wir nicht wissen, ob die Tür nur in den Schuppen führt. Darum sollen sich sechs Mann unter die Geróllhalde stellen. Die anderen stürmen mit mir den Eingang. Und merkt euch dabei eines: nicht lange zógern. Wenn er nicht sofort aufgibt, geht mir keiner einzeln auf ihn los, sondem alie miteinander. Mir ist denn doch lieber, wenn er dabei ver­ le tzt wird, ais einer von euch.< >Klarauf ihn. Bevor der weiB, was geschieht, ist er schon gefesselt.< Einer sagte: >Also los, worauf warten wir noch?< >Wir haben ZeitDer entkommt uns nicht mehr. Wir beginnen, wenn es ein biBchen dunkler geworden ist. Dann kónnen wir besser an die Hütte herankommen, ohne gesehen zu werden.< Arthur bekam die Aufgabe, sich mit fünf anderen

die Geróllhalde, ein Berg aus losen Steinen der Schuppen, ein kleines Haus aus Holz

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auf der unieren Seite der Hütte aufzustellen. Er wahlte sie aus, diesmal nahm er miela nicht, Silvio auch nicht. Dann suchten wir nach Stócken. Ais wir jeder einen gefunden harten, trafen wir uns wieder am Rand des Wáldchens, wo Strasser wartete. ts war immer noch zu früh. Strasser sagte: >Wenn einer von euch lieber nicht mitmachen will, solí er es sagen.< Keiner meldete sich. >Arthur, wir wollen unsere Uhren vergleichenIch habe jetzt 18.12. Das ist die offizielle Zeit. Um 18.30 stürmen wir hier den Eingang. Alies klar?< Wir nickten, stellten unsere Uhren. Es war viel interesanter ais ein Krimi im Fernsehen, weil wir jetzt wirklich dabei waren. Ich saB still da, hielt den Stock fest. Meine Hand war ganz nass, so aufgeregt war ich. Die anderen auch, sogar Strasser. Er sagte: >Ich muss noch eine Zigarette rauchen, das beruhigt.< Arthur gab seinen Leuten das Zeichen zum Aufbruch. Gerade in diesem Augenblick óffnete sich die Tür der Hütte. Canevari kam heraus. Jetzt sahen wir ihn leibhaf' tig vor uns. Er war ziemlich klein. Und so alt, wie der Polizist uns gesagt hatte. Es war natürlich eine ganz unglaubliche Sache, ihn da plótzlich vor sich zu sehen und zu wissen: das ist er, den holen wir uns in ein paar Minuten. Wir waren froh, dass wir ihn sahen und nun genau wussten, es war für uns leicht, ihn zu fangen. Canevari hatte eine Zigarette zwischen den Lippen.

der Aufbruch, das Weggehen leibhaftig, wirklich

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Er blickte sich um, wie einer, der unter der Tür seines Ferienhauses den Abend betrachtet, den Himmel und die Gegend. Ich dachte, er wird gleich wieder hineingehen, aber er blieb, es gefiel ihm drauBen. Er rauchte die Zigarette zu Ende, warf den Rest weg. Ais er sich umdrehte, um wieder hineinzugehen, sprang Silvio plótzlich auf und rief: >He, Canevari! Hau ab! - Hau ab\< Und dann noch etwas auf Italienisch, das ich nicht verstand. Der Italiener drehte sich um, sah Silvio, sah dann auch uns alie, denn wir waren alie aufgesprungen, ais wir Silvios Stimme horren. Canevari verstand recht schnell, was wir wollten. Er muss sogleich gewusst haben, woran er mit uns war. Nur eine Sekunde blieb er überrascht stehen. Dann sprang er in die Hütte zurück und schloss die Tür. Wir waren von Silvios Tun ebenso überrascht worden wie der Italiener. Wir waren aufgesprungen, aber wir wussten nicht, was jetzt zu tun war. Wir sahen Sil­ vio vor uns, der sich jetzt umdrehte und langsam zu uns kam, und wir sahen auch, dass Canevari im Haus die Fenster schloss. Strasser rief: >Arthur, sofort ab mit deinen Leuten hinters Haus. Wenn er versucht auszubrechen, schlagt ihr Alarm. Er darf uns auf keinen Fall entkommen.< Arthur rannte mit den fünf los. Die anderen stellten sich um Silvio. Er stand mit dem Rücken an einer Kiefer. Wir waren alie wütend auf ihn. Ich auch. Sie stell­ ten sich ganz eng um ihn. Sie harten alie ihre Stócke

betrachten, genau ansehen abhauen, weglaufen

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in den Hánden. Ich stand ein wenig abseits, ich dachte, wenn die anfangen, mit ihren Stócken auf ihn einzuschlagen, bringen sie ihn um. Ich blickte zu Strasser hinüber, weil er der einzige war, der das Unglück noch aufhalten konnte. Er ging langsam náher zur Gruppe. Er musste wissen, dass sie in der náchsten Sekunde über Silvio herfallen würden, aber er beeilte sich nicht. Wahrscheinlich wáre es ihm gleich gewesen, wenn sie ihn zusammengeschlagen hárten. Ich dachte, wenn einer anfángt, werden sie alie auf ihn einschlagen, und dann ist es zu spát. Silvio dachte wahrscheinlich dasselbe. Zum erstenmal sah ich Angst in seinen Augen. Sie schrien: >Verraterl< und sie warteten nur darauf, dass einer ais erster zuschlage. Aber nun war Strasser bei ihnen. Er rief: >Ruhe! Passt auf! auf! Keiner fasst ihn an. Keiner. Verstanden.< Der Kreis um Silvio óffnete sich, sie lieben Strasser hindurch, und damit war die erste Gefahr vorbei. Strasser trat dicht vor Silvio hin und sagte: >Für das, was du getan hast, gibt es nur ein Wort: Verrat. Durch deinen Verrat hast du dich von uns ausgeschlossen. Ich sage dir heute ganz offen, Silvio Contini: Du hast mir nie recht gefallen. Es geschieht dir hier nichts. Deine Kameraden werden dich nicht mit ihren Fausten, sondem mit ihrem Ausschluss strafen. Aber glaube ja nicht, dass es damit getan ist.
Den wollen wir nicht mehr in unserer Klasse habenLasst ihn jetzt in Ruhe. Der Italiener ist wichtiger. Kommth I0 Wir sind mit ihm bis an den Rand des Wáldchens gegangen. Er hat die Hande an den Mund gelegt und gerufen: >Canevari! Herauskommen! Sofort! Das Haus ist umstellt.< ¡5 Wir standen dicht um Strasser und horchten auf ein Zeichen von der Hütte her. Der Italiener hat nicht geantwortet. Einer — ich glaube, es war Martin Fink — hat gesagt: >Auf einmal bricht der aus. Das machen die immer so. Wenn man es am wenigsten erwartet, dann 20 brechen sie aus. Das habe ich schon oft im Film gese­ hen.< >Uns überrascht er nichtWir sollten Silvio fesselm, sagte Martin. >Der ist in der Lage und hilft dem Italiener, wenn er ausbricht. 25 Dann haut er mit unserem Geld ab und wir sind die Dummen.< Strasser sagte: >Aber nur, bis wir Canevari gefangen haben. Nicht langer.
Setz dich! < Silvio gehorchte. Sie banden ihm die Hánde hinter dem Baum zusammen. Strasser sagte: >Daran bist du selber schuld. Im Grunde bin ich dagegen. Aber wir kónnen nicht riskieren, dass du dem Italiener hilfst, wenn er ausbrechen sollte. Du wirst nicht lánger angebunden bleiben, ais nótig ist.< Die anderen gingen dann wieder gegen die Hütte zu, ich blieb allein bei Silvio. Mir war es sehr unangenehm, ihn so vor mir auf dem Boden zu sehen, die Arme hinter dem Baum zusammengebunden. Ich fragte ihn: >Soll ich dir etwas zu trinken holen?< >NeinIch habe keinen Durst.< >Oder etwas zu essen? Oder eine Zigarette?< >Nichts.< Er hatte keine Angst mehr. Er sah mich nicht an, er sah einfach an mir vorbei. Daran merkte ich, dass er über mich enttduscht war. Vielleicht sogar mehr ais enttáuscht. Ich wollte ihm erkláren, dass es sinnlos und sogar dumm gewesen wáre, wenn ich versucht hátte, ihm zu helfen. Ich begann: >Du musst verstehen ...< Er unterbrach mich: >Natürlich verstehe ich.< >Dann ist es gut.< >Aber weniger gut ist, dass du scheinbar nichts verstehst.Canevari! Herauskommen. Wir geben dir noch fünf Minu­ ten Zeit. Wenn du in fünf Minuten nicht heraus- 5 kommst, stürmen wir die Hütte. Wenn es dabei rauh zugeht, bist du selbst daran schuld.< Ich hoffte - und ich glaube, wir alie hofften - Cane­ vari móge nicht herauskommen. Wir wollten das Haus stürmen und ihn drinnen gefangen nehmen. Ich lieB 10 Silvio nun allein und ging zu den anderen.« »Wieso hast du ihn allein gelassen?«, fragt Karin. »Wieso - wieso! Immer fragst du: >Wieso?< Das weiB ich auch nicht. Ich bin einfach zu den anderen gegangen. Ich versuche, dir ehrlich zu erzáhlen, wie es gewe- 15 sen ist. Das ist gar nicht leicht für mich. Es gibt ein paar Dinge, die ich viel lieber nicht erzáhlen móchte. So ist das. Jetzt trinken wir erst einmal eine Tasse Tee. Es ist erst halb vier.« »Willst du nachher noch weitermachen mit dem 20 Streichen in deinem Zimmer.« »Nein. Ich mag nicht mehr.« »Wenn du willst, kónnen wir bei mir zu Hause noch ein wenig badén.« »Lieber nicht. Ich komme nicht gern zu dir badén.« 25 »Warum nicht? Gefállt dir unser Schwimmbad nicht? Oder ist es, weil Arthur ein paar idiotische Bemerkungen gemacht hat?« »Ich habe euer Schwimmbad noch nie von Nahem

rauh, unfreundlich, grob

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gesehen, ich kann also nicht sagen, ob es mir gefállt oder nicht.« »Oder du hast Angst, meine Mutter und meine GroBmutter konnten noch dort sein? Die badén nie lánger ais bis vier Uhr. Dann wird Tee serviert, und dann tun sie sonst irgendetwas. Wir werden also allein sein.« »Und Arthur?« »Der spielt heute Nachmittag Tennis. - Spielst du Tennis ?« »Nein.« »Warum nicht ?« »Manchmal fragst du Sachen, da kann man nur den Kopf schütteln.« »Du hast recht«, sagte Karin. »Manchmal stelle ich wirklich dumme Fragen.« »Ich spiele nicht Tennis, weil ich keinen Schláger habe und keine Tennisschuhe und keinen Ball. Weil ich in keinem Klub bin und keine Zeit habe. Ich muss námlich jeden Abend Zeitungen austragen.« »Ich weiB. Wie viel zahlen sie dir?« »Zehn Franken für den Abend.« »Und wie lange dauert es?« »Kommt darauf an, wie schnell ich mache. Eine Stunde bis 90 Minuten.« »Ist nicht gerade viel, was die zahlen.« »Ich kann mir doch einiges dafür kaufen.« «Gehen wir noch zu mir? Wir sind sicher ganz allein.« »Wegen mir. Aber nur bis gegen sechs Uhr.« »Gut. Erzáhl weiter.« »Ja. Aber du darfst nicht nach jedem Satz fragen: Wieso?«

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»Der Italiener kam nicht heraus. Nach fünf Minuten hat Strasser einen hinters Haus geschickt zu den anderen, sie sollten die hintere Tür zur gleichen Zeit mit uns stürmen. Ais er zurückkam, hat Strasser geschrien: >Los!< So laut, dass die hinter dem Haus es hóren 5 konnten. Zu uns sagte er: >Wir rennen einzeln. Jeder so schnell er kann zur Tür. Der Náchste rennt immer los, wenn der Vordermann bei der Tür angekommen ist. Vergesst die Stócke nicht. Ich mache den Anfang.< Er lief. Ais er bei der Tür war, winkte er und der 10 Náchste rannte los. Ich beobachtete inzwischen die Fenster. Ich erwartete einen Revolver zu sehen. Aber alies blieb ruhig. Ich war der Zweitletzte. Ich lief ohne Eile. Es war nicht gefáhrlich. Einmal wusste ich jetzt, dass Canevari keinen Revolver besaB, und dann kam 15 mir alies wie im Traum vor oder wie in einem Film. Ais wir zusammen waren, begannen wir, mit den Stocken an die verschlossene Tür zu schlagen. Aber die Tür gab nicht nach. Strasser sagte: >So nicht. Damit kommen wir nicht weiter. Wir müssen die Tür 20 aufbrechen. Also: alie miteinander gegen die Tür. Achtung — los!< Gerade ais er los rief, hórten wir hin­ ter dem Haus jemanden schreien: >Da! Da ist er!< Dann ein anderer, fast zur selben Zeit: >Er ist aus dem Fenster gesprungen.< 25 Wir rannten blitzschnell hinters Haus. Da saben wir Canevari. Er war schon die uniere Hálfte der Geróllhalde hin-

schicken, senden winken, mit der Hand ein Zeichen geben

4 Dieb fangen

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untergefallen. Bald war der Kopf oben, bald unten, bald lag er mit dem Gesicht nach oben, bald auf dem Rücken. Arthur rief: >Den holen wir uns, der kann uns nicht entw¿schen.< Cañe vari war jetzt unten angekommen. Er stand auf, sah zu uns hinauf. Er blutete am Gesicht, und er humpelte davon, ganz langsam, gegen das Gebüsch zu. Strasser sah den Italiener auch im Gebüsch verschwinden. Er lachte. >Der entwischt uns bestimmt nichtnicht so, wie der aussieht. Der gehórt uns. Das habt ihr groBartig gemacht. Jetzt haben wir nur einen Feind: die Zeit. Wir müssen ihn erwischen, solange es noch hell ist, solange man noch etwas sehen kann. In einer halben Stunde wird es dunkel. Also los! Wir gehen rechts von der Geróllhalde hinunter.< Wir rannten. Ais wir unten ankamen, mussten wir erst einmal Luft holen. Vor uns standen die Kiefern ziemlich dicht. Es war klar, dass wir Canevari fangen mussten, solange es noch hell war. Viel Zeit blieb uns nicht. Schon jetzt sah man kaum zehn Meter tief in den Wald hinein. Wenn es dunkel war, konnte Cane­ vari sich leicht verstecken. Strasser sagte: >Wir machen Jagd auf ihn.< Wir gingen nebeneinander in einer Reihe durch das Wáldchen und hielten die Stócke fest in den Hánden. Ich war mir sicher, dass wir den Italiener bald finden würden. Und richtig: wir waren noch keine hundert entwischen, nicht zu fassen bekommen humpeln, schief gehen das Gebüsch, ein niedriger Wald dicht, eng

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Meter gegangen, da sah ich ihn, wie er davonhumpelte. Ich zeigte ihn den anderen: >Dort - dort ist er.< Eine Felswand war da, nicht hoch, vielleicht zehn Meter. Er ging darauf zu. Wir rannten alie los. Ais er merkte, dass er entdeckt war, versuchte er auch zu rennen, aber es gelang ihm nicht mit seinem kaputten FuB. Zuerst verstand ich nicht, warum er gerade auf diese Felswand zuging. Ais wir náherkamen, sah ich warum. Es war eine Hóhle in dem Felsen, wir hatten sie vorher nicht sehen kónnen. Eigentlich keine richtige Hóhle, das sah man gleich, mehr nur ein Loch von vielleicht vier oder fünf Metem Tiefe. Wir waren dicht hinter ihm her, da gelang es ihm doch noch, in diese Hóhle hineinzukommen. Wir standen ziemlich ratlos davor und wussten nicht, was wir tun sollten. >Der muss ja mal wieder rauswir warten einfach hier.< Strasser sagte: >Ich kenne ein Mittel, wie wir ihn herausbekommen. Mit Rauch.< Es war nicht leicht, vor der Hóhle ein Feuer anzumachen. Wir hatten fast kein Papier. SchlieBlich gelang es uns doch, und wenn auch der Rauch nicht gerade in die Hóhle hineinzog, so war es doch die Hitze, die Canevari Mühe machte, Wir brauchten auch nicht tange zu warten. Er sprang aus der Hóhle, stand plótzlich mitten im Feuer und zertrat es. Dann erst der Fels, der Stein entdecken, finden die Hóhle, hier: der Raum gelingen, glücken

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merkten wir, daB Canevari nicht daran dachte, sich zu ergeben. Er hatte ein Messer in der Hand. Ein Taschenmesser zwar nur, aber doch mit einer Klinge von etwas sieben Zentimetem. Wir standen um ihn herum, alie sechzehn. Oder alie fünfzehn, denn Silvio saB immer noch bei der Hütte oben, an eine Kiefer gebunden. Ich weiB nicht, wo Strasser stand und was er tat. Ich hatte nur dieses Messer in den Augen, den Italiener und das Messer, das er, die Spitze nach unten, vor seinem Kórper hielt. Von der Seite her sah ich, wie Martin einen Stein aufhob und ihn auf den Italiener warf. Der zog den Kopf ein, hielt die Hand mit dem Messer vors Gesicht. Im gleichen Augenblick warfen auch andere Steine. Da drehte Canevari sich um, damit die Steine ihn nicht ins Gesicht trafen. Und dann waren wir über ihm. Wir schlugen mit unseren Stócken auf ihn ein. Canevari ging sofort zu Boden. Das Messer hatte er fallen lassen. Mit den Hánden schützte er seinen Kopf. Der erste Schlag, vielleicht auch noch der zweite, war nicht ganz einfach. Aber ais er einmal am Boden lag, und wir sahen von ihm nur den schmutzigen Anzug und die Hánde über dem Kopf, da war das Schlagen nichts mehr. Es ging wie von selbst. Ich • schlug nicht besonders hart zu. Ich sah, dass es einige mit aller Kraft taten, aber ich nicht. Wie lange wir alie auf ihn einschlugen, weiB ich nicht. Vielleicht eine

ergeben, den Kampf aufgeben die Klinge, der scharfe Teil des Messers

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Minute, vielleicht zwei. Dann horren wir Strassers Stimme: >Nicht auf den Kopf. Schlagt ihn nicht auf den Kopf, das ist zu gefáhrlich.Genug jetzt, sonst bringt ihr ihn noch um.Was war das denn, das so plótzlich da war, dass wir nicht mehr überlegten, sondern einfach schlugen, ais wáre das unser Beruf. So lange schlugen, bis wir Strassers Stimme hórten.< Sie wissen es auch nicht. Einige sagen: >Es war gar nicht so schlimm, natürlich wáre es besser gewesen, wir hátten es nicht getan, und übrigens ist jetzt alies vorbei. Warum noch darüber nachdenken?< Ja, es ist vorbei. Aber für mich ist es nicht vorbei. Ich kann es nicht begreifen, was mit mir geschehen ist. Für den Italiener ist es vielleicht vorbei. Es mag sein, dass er die Schmerzen nicht mehr spürt, aber für mich nicht. Wir lieBen also von Canevari ab, er blieb liegen. Er bewegte sich nicht. Da wurden wir unruhig. Wir begreifen, verstehen spüren, fühlen

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stieBen ihn mit den FüBen, wir riefen: >He - aufstehen!< Weil er sich auch jetzt noch nicht bewegte, dachte ich, er se i ohnmachtig geworden. Ich dachte nicht, wir hárten ihn getótet, keine Sekunde dachte ich das. Aber ohnmachtig. Strasser bückte sich über ihn, drehte ihn zur Seite. Da sahen wir, dass er nicht ohnmachtig war, im Gegenteil. Seine Augen blickten immer noch gleich wild und verzweifelt. Das beruhigte uns, und es machte uns nichts mehr aus, dass wir ihn geschlagen harten. Dann stand er auf. Er hatte Mühe. Er hatte doch mehr abbekommen, ais wir gedacht harten, aber endlich stand er, machte den Schmutz von seinem Anzug. Ais er sich bückte, um die Hose sauber zu machen, meinten wir, er wolle nach dem Messer fassen. Wir hoben schon unsere Stócke. Da schrie er: >No - nein.< Es war nun dunkel geworden. Strasser sagte: >Jetzt hinauf mit ihm in die Hütte. Dann wollen wir mal ein bisschen über Geld miteinander reden. Wir mussten ganz langsam gehen, weil Canevari kaum auf dem linken FuB stehen kónnte. Wir gaben ihm einen Stock, da ging es ein bisschen schneller. Ais wir endlich bei der Hütte waren, konnten wir nicht hinein, weil Canevari die Tür von innen verschlossen hatte. Wir suchten nach einem Einstieg, und wir fanden auf der Seite eine kleine Offnung, ein viereckiges Loch in der Mauer. Max Flühmann - er ist der Kleinste der Klasse

ohnmachtig, hier: nicht wach bücken, den Rücken krumm machen

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- gelang es durch die Óffnung zu kommnen und machte die Tür von innen auf. Canevari hatte eine rechte Unordnung gemacht. Aber die Marmelade, die er bei uns gestohlen hatte, fanden wir nicht. Er wehrte sich jetzt auch nicht mehr. Wir brachten ihn in die Stube. Strasser zündete sich eine Zigarette an, dann sagte er: >Jetzt wollen wir erstmal unser Geld haben, nachher machen wir uns etwas zu essen.< Den Italiener fragte er: >Wo ist unser Geld?< Canevari machte einen Schritt zurück. Er hatte auf einmal wieder Angst. Er schüttelte den Kopf und rief: >Nix Geld - nix Geld.< Seine Unterlippe war dick und ganz blau. Das hatte er nicht von uns, das musste beim Sprung aus dem Fenster oder beim Fallen über die Geróllhalde geschehen sein. Er trug helle Hosen, gute Bergschuhe und eine Windjacke. Natürlich schmerzte ihn sein FuB und sicher auch der Rücken, auf den wir eine Minute oder lánger eingeschlagen harten, und er fuhr mit der Zunge ein paar Mal vorsichtig über die blaue Unterlippe. Aber er stand doch aufrecht im Zimmer und hielt sich nirgends fest. Strasser hielt ihm seine Zigaretten hin, er nahm eine, sagte: >GrazieSetzen Sie sichNix GeldDen prügeln wir so lange, bis er das Geld herausgibtNur keine Angst. Wir finden das Geld bestimmt.< Zum Italiener sagte er: >Wir sind falls Sie es noch nicht wissen — die Schulklasse, die Sie bestohlen haben. Aus unserem Küchenschrank haben Sie sechshundert Franken gestohlen. Diese sechshundert Franken wollen wir zurückhaben.< Der Italiener sagte nur: >Nix Geld.< Nachher erklarte er ihm noch einmal langsam und deutlich, wer wir seien. Aber der tat, ais verstehe er nichts und rief wieder: >Nix Geld.< Ich sagte: >Der versteht gar nicht, wovon wir redenDer versteht kein Deutsche Wir dachten, dass Strasser nun italienisch mit Canevari rede, aber er sagte nur: >Ich kann zu wenig.< Mir fiel Silvio ein, der immer noch an den Baum gebunden war, ich fragte: >Soll ich Silvio holen?< Die anderen waren dagegen, Strasser auch. Er sagte: >Zuerst wollen wir unser Geld zurück. Dann muss Sil­ vio hereingeholt werden.< Strasser winkte Canevari: >Aufstehen!< Er stand auf. Strasser sagte: >Haltet ihn mal fest!< Wir hielten Canevari fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Strasser begann seine Taschen zu untersuchen. Gleich aus der ersten Tasche zog er einen 58

ziemlich dicken gelben Briefumschlag. Er offnete ihn und leerte den Inhalt auf den Tisch. Es waren eintausendfünfhundert Franken in Hundertfrankenscheinen. >Der hat anderswo auch noch gestohlen*, sagte Arthur. >Das ist Sache der Polizei*, meinte Strasser. Das zu untersuchen ist nicht mehr unsere Aufgabe. Aber wir haben wenigstens unser Geld wieder. Und den Dieb dazu. Den werden wir der Polizei übergeben. Wir beben Canevari nun frei. Er blickte auf das Geld und dann begann er plótzlich zu weinen. Strasser legte das Geld wieder in den Umschlag und steckte ihn in seine Tasche. Ich sagte: >Der weint ja.< >Klar weint der*, meinte Martin. >Weil wir ihm das Geld abgenommen haben.* Jetzt, da alies vorüber war und wir unser Geld in Sicherheit wussten, fühlten wir, wie hungrig wir waren. Und nicht nur hungrig. Wir waren auch ruhiger geworden. Mir tat der Italiener fast ein wenig leid. Und wahrscheinlich ging es einigen anderen auch so. Ich dachte auch an Silvio, der immer noch drauBen war. Strasser sagte: Jetzt machen wir uns eine kraftige Suppe.* Und zu mir sagte er: >Hol Silvio rein. Und wenn er zurückkommt, seid freundlich zu ihm wie vorher. Das wird ihm sicher eine Lehre gewesen sein.* Das hatte er wahrscheinlich gar nicht sagen müssen. Ich glaube, alie waren froh, dass Silvio zu uns zurückkam. Ich ging hinaus, um ihn zu holen. Es war nicht so

die Lehre, ein Geschehen, aus dem man etwas lemt

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leicht ihn zu finden, da es inzwischen dunkel geworden war. Ich rief seinen Ñamen. >HierHast du mich nicht gesehen?Doch.< >Warum hast du denn nichts gesagt. Du hast doch gewusst, dass ich dich suche.< >Das habe ich nicht gewusst. < Er war mir also immer noch bóse, dass ich ihm nicht geholfen hatte. >Du kannst mit in die Hütte kommenHabt ihr ihn?Ja.< Er hatte es erwartet, er sagte nur: >Dann ist es ja gut.< >Das Geld haben wir auch.< >Dann ist es ja guthau ab< und noch etwas auf Italienisch zugerufen hatte. Die andern waren freundlich zu Silvio, und sie wollten es'ihm zeigen. Auch Strasser war freundlich: >Ist alies in Ordnung bei dir?Bei mir schonmir< so deutlich, dass jeder ver-

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stand, was er meinte. Wir lachten. Es gab Suppe zu essen, Brot und Wurst. Wir machten Canevari die Handfesseln ab, und er durfte einen Teller Suppe und eine halbe Wurst mit uns essen. Ais er mit dem Essen fertig war, hielt ihm Strasser seine Zigaretten hin und fragte: >Zigarette?< >SigrazieWas hat er gefragt?Ob wir morgen mit ihm zur Polizei gehen.< >SicherDa ist leider nichts zu machen.< Und zum Italiener: >Si, si.< Canevari antwortete nur: >Bene.< Wir waren müde. Ich war froh, ais Strasser sagte: >Wir gehen jetzt schlafen. Wir kónnen hier und in der Küche bleiben. Canevari legen wir ins hintere Zimmer, dann schlieben wir ab. Zum Fenster hinaus springt er uns ein zweites Mal nicht mehr.< Es führte ein kurzer Gang zum hinteren Raum, zu jenem, aus dem Canevari auf die Geróllhalde gesprungen war. Er wollte nicht, dass wir ihm halfen, er konnte allein nach hinten gehen. Er wollte auch keinen Schlafsack haben. Strasser sagte: >Dann lasst ihn eben! Wir gehen jetzt schlafen.< Wir legten uns in der Stube hin. Nur Strasser und zwei Schüler schliefen in der Küche, weil es dort wármer war. Wir machten das Licht aus. Es war eine helle Mondnacht. Wir waren müde, aber noch mehr waren

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wir froh, dass dieser Tag hinter uns lag. Dann bin ich eingeschlafen. Aber irgendwann in jener Nacht erwachte ich. Ich musste hinaus. In der Hütte gab es keine Toilette. Das Háuschen stand hinter dem Haus, etwa zehn Meter entfernt. Ich überlegte, ob ich aufstehen oder bis zum Morgen warten solle. Aber dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich machte den Schlafsack auf und stand auf. Ich war sehr unruhig. Ich hatte Angst. Ich weiB nicht, wovor ich Angst hat­ te, aber ich hatte Angst. Ich dachte, ich renne hinüber zum Háuschen. Vorsichtig ging ich an den anderen vorbei, zur Tür hinaus. Erst ais ich drauBen stand, merkte ich, dass ich vergessen hatte die Schuhe anzuziehen. Also ging ich langsam hinüber, denn der Boden vor dem Haus war voller spitzer Steine. Schon wáhrend ich ging, hórte ich das Stóhnen. Es lag ein richtiges Stóhnen in der Luft. Ich bekam einen Schreck, sodass ich zuerst nur an eines dachte: zurückrennen ins Haus. Aber ich musste so sehr; ich konnte es fast nicht mehr aushalten, und deshalb ging ich weiter. Je mehr ich gegen die hintere Seite des Hauses kam, desto lauter wurde das Stóhnen. Aber erst ais ich aus dem Háuschen herauskam, begriff ich, woher es kam: aus Canevaris Fenster im ersten Stock. Ich ging, so schnell es mir die Steine erlaubten, zum Eingang zurück. Ich dachte, es ist der Italiener, was mache ich jetzt? Ich musste etwas tun. Da kam mir Silvio in den Sinn. Sogleich wurde ich

das Stóhnen, ein klagender Laut

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ruhig und, alies schien mir jetzt viel einfacher. Ich ging zu Silvio und weckte ihn. Der war gleich hellwach, fragte leise: >Was ist?< >Komm! Der Italiener.< Er sagte kein Wort. Er fragte nicht erst, was mit dem Italiener sei, sondern stand sofort auf. Ich sagte leise: >Komm hinaush Wir zogen unsere Schuhe an, dann gingen wir hinaus. Ich führte ihn hinter das Haus. Canevari stóhnte immer noch. >Hórst du ihn?Komm!< Wir gingen ins Haus zurück, durch den Gang zum hinteren Zimmer. Silvio óffnete die Tür. Noch bevor er Licht machen konnte, roch ich es: Canevari hatte sich erbrochen. Canevari lag am Boden. Er sah sehr schlecht aus. Seine Lippe war - so schien mir wenigstens - noch schlimmer geworden. Vor ihm lag das Nachtessen, die Suppe und alies, erbrochen. Nie in meinem Leben bin ich so froh über jemand gewesen wie über Silvio in diesem Augenblick, ais ich den Italiener am Boden sah, den Blick auf uns. Und immer das Stóhnen. Ich dachte, der stirbt. Wenn einer so schlimm ausssieht, stirbt er sicher. Silvio fragte ihn etwas auf Italienisch. Canevari nickte, Silvio sagte zu mir: >Hilf mir! Wir wollen ihn hinausführen, drauBen wird ihm vielleicht besser. Wenigstens kann er sich am Brunnen waschen. Wir halfen Canevari aufstehen. Wir gingen langsam erbrechen, das Essen, was im Magen ist, durch den Mund wieder von sich geben der Brunnen, die Wasserstelle

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mit ihm hinaus. Silvio sagte: >Du musst seinen Arm über die Schulter nehmen - so.< Ich tat es, und es war nun viel leichter, Canevari beim Gehen zu helfen. ich fragte mich, woher Silvio alie diese Dinge weiB. Aber ich hatte nun keine Angst mehr, der Italiener kónne sterben, weil Silvio nichts davon gesagt hatte. Wir gingen mit ihm zum Brunnen vor dem Haus. Er wusch sich, dann setzte er sich auf den Rand des Brunnens. Er sah immer noch müde und krank aus. Wir standen da und warteten darauf, ihn wieder hineinfüh' ren zu kónnen. Aber er lieB sich Zeit. >Er hat sicher SchmerzenSicherWir wollen ihn laufenlassenJetzt ist es zu spat. Allein kommt er nicht über die Grenze. Nicht mit diesem FuB.< >Vielleicht doch. Er kannte den Weg. Frag ihn! Frag ihn wenigstens. Wenn er will, lassen wir ihn gehen. Frag ihn!< Er fragte ihn. Sie sprachen kurz miteinander, dann sagte Silvio: >Er will nicht. Nicht ohne das GeldWie der sich das vorstelltWir haben den Einbrecher verfolgtln der Tállibodenhütte haben wir ihn dann gefangen. Er wollte fliehen, ist aus dem Fenster vom ersten Stock auf eine Geróllhalde hinuntergesprungen. Dabei hat er sich verletzt, und kann jetzt nicht mehr gehen.< Die beiden haben gelacht, der Direktor hat gesagt: >Es ist nett von euch, dass ihr euch um den kümmert. Aber dafür kann ich euch keinen Jeep geben. Der solí sehen, wie er allein wieder ins Tal kommt. Hinaufgekommen ist er ja auch.
Wie du es mir vorhin erzáhlt hastJa, was machen wir da?Alles zu seiner Zeit. Zuerst wollen wir die Sache mit dem Geld erledigen.< Strasser legte den Briefumschlag auf den Tisch und sagte: >Hier. Das haben wir sicher gestellt.< Der Polizist záhlte die Scheine. Ich záhlte mit, und ich sah, daB Canevari den Kopf gehoben hatte und mitzáhlte. Ais der Polizist fertig war, sagte er: >Davon gehóren also sechshundert euch. Den Rest hat er eben anderswo gestohlen. < >Fragt sich nur wo?Das wird sich wahrend der Untersuchung alies zeigen.< Er legte sechs Scheine neben die anderen. Dabei fiel sein Blick zum ersten Mal auf den Italiener, seit dieser den Kopf gehoben hatte und auf das Geld starrte. Ein paar Sekunden lang starrte er dem Italiener ins Gesicht, dann sah er Strasser an, dann nochmals den Italiener. Und schlieBlich sagte er: >Himmeldonnerwetter, was solí denn das bedeuten? Wer ist das?< >CanevariDas ist nicht Canevari. Das ist nicht mein Caneva­ ri. Der nicht. < Wir waren natürlich alie erstaunt, ais wir das hórten. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet, dass das gar nicht Canevari sein kónnte. Strasser fragte vorsichtig: >Wer sollte es denn sonst sein?< >Weifí ich nichts rief der Polizist. Sein Ton war jetzt noch viel weniger freundlich. >Auf jeden Fall haben wir den in der Tallibodenhütte oben erwischtund unser Geld hatte er auch.< Aber der Polizist meinte, das sei ihm egal, wo wir den gefunden hatten. Er kónne nur wiederholen, das sei nicht Canevari. Mit dem da habe er nichts zu tun. Und ohnehin konne er ihn, so wie er aussehe, nicht annehmen. Vielleicht habe er innere Verletzungen. Wenn er ihn annahme, hatte er dann den ganzen Árger und wir waren inzwischen über alie Berge. Es wáre gegangen, wenn es wenigstens Canevari gewesen ware, aber nicht bei einem Fremden, der doch mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun habe. Er telefonierte mit dem Arzt des Dorfes. Der Arzt war zu Hause. Der Polizist erklarte ihm, was geschehen war, hángte auf und sagte: >Er kommt.< Er nahm ein neues Blatt Papier für seine Schreibmaschine und fragte den Italiener: >Name? Vorname?< Noch ehe der Italiener antworten konnte, sagte Strasser: >Der spricht nicht Deutsche >Soviel versteht der schon. Was sie verstehen

erstaunt sein, sich wundem wiederholen, noch einmal sagen

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müssen, verstehen sie immer. - Also: Ñame? Vorname?< >PortaUmberto Portas sagte er. Der Polizist schrieb auf der Schreibmaschine und sagte, ohne den Kopf zu heben: >Der hat mit meinem Canevari überhaupt nichts zu tun. Das habe ich sofort gemerkt. Sieht ganz anders aus. - Pass? - Passaporto?< >SiDa! Lesen Sie! Porta, Umberto. Geben Sie es jetzt zul< >Was heiBt denn zugeben? Ich habe nichts zuzugeben. Ich habe nie gesagt, er heiBe Canevari.< >Doch, das haben Sie. Ais Sie ihn brachten, haben Sie gesagt, es sei mein Canevari.< >Machen Sie doch die Sache nicht noch komplizierter ais sie ist. Ich wiederhole: Wir haben nicht einen Canevari gesucht, sondern einen Dieb.< >Ich glaube Ihnen kein Wort mehr. Erst sagen Sie, er heiBt Canevari und er hat gestohlen. Und jetzt auf einmal nur noch, er hat gestohlen. Beweisen kónnen Sie das ja auch nicht. Und wenn es sich plótzlich zeigen sollte, dass er gar kein Dieb ist?
Woher hat er denn das viele Geld?< >Ich sage es ja nur so. Alies muss zuerst genau untersucht werden. < Er wandte sich an den Italiener: >Woher haben Sie 5 das Geld?< Der Italiener sagte, ais er von Geld reden hórte: >Si, si. Geld. Mein Geld.< Und dann begann er auf einmal trotz seiner dicken Lippe und dem blutigen Kopf so schnell italienisch zu 10 reden, dass ich Angst hatte, Silvio kónne ebenso wenig verstehen wie ich. Silvio übersetzte. Das hat mir dann den Rest gegeben. Der Italiener, berichtete Silvio, arbeite in Mattmark. Er habe eine Woche frei bekommen, weil in Pecetto 15 das sei ein Dorf auf der anderen Seite des Montemoropasses - seine Tochter heirate. Darum sei er auch zu FuB gegangen. Mit der Bahn hatte es zu lange gedauert: zuerst hinunter nach Visp, durch den Simplón nach Piedemulera, dann das Anzascatal hinauf, und 20 das letzte Stück zu FuB. >Und das Geld?Sagt er, das Geld gehóre ihm?< >Er sagt, das Geld gehóre ihmEr hat, bevor er wegging, seinen Lohn bekommen. Achthun25 dert Franken. Der Rest war Geld, das er gespart hatte. Er wollte der Tochter ein Hoch^eitsgeschenk kaufen.
Er lügt.< Porta verstand offenbar doch besser Deutsch, ais wir dachten. >Ich nicht lügenDas lásst sich leicht beweisem, meinte der Polizist. Er telefonierte mit Mattmark oben, wegen mir hatte er nicht zu telefonieren brauchen. Ich wusste im Voraus, dass Porta die Wahrheit gesagt hatte. Das zeigte sich dann auch sehr bald. Die haben in Mattmark sogar so etwas wie eine Bank, wo die Arbeiter den Teil des Lohnes, den sie nicht brauchen, einzahlen kónnen. Daher konnten sie dem Polizisten mit Sicherheit sagen, dass Porta bei ihnen arbeite und fünf Tage frei bekommen habe. Am Vorabend sei ihm sein Lohn für zwei Wochen, námlich achthundert Franken ausbezahlt worden. Dazu habe er noch siebenhundert von seinem Sparbuch bekommen. Der Polizist blickte Strasser eine Weile bóse an, dann sagte er: >Das sieht schlecht aus für Sie. Das wird seine Folgen haben. Einem vóllig fremden Menschen, 85

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der ihnen nichts getan hat, sein Geld wegnehmen. Das kann man, wenn man will, Raub nennen.< Wir schwiegen. Endlich sagte Strasser: >Ja, es war wohl ein groBer Fehler. Wir konnten aber nicht wissen, dass er unschuldig ist.< >Jedermann ist unschuldig, bis seine Schuld bewiesen istAber auch, wenn er das Geld tatsachlich gestohlen hatte, so wáre das noch lange kein Grund, ihn so zu behandeln. Alies kommt in meinen Bericht, das ist sicher.< > Was sollen wir tun? Zuerst das Geld zurückgeben.< > Ja. Selbstverstándlich. < > Gut, dann tun Sie es. Ich habe ihm das Geld nicht abgenommen, ich gebe es ihm also auch nicht zurück.< Strasser nahm gehorsam die Scheine, die auf dem Tisch lagen, steckte sie in den Umschlag und gab sie Porta. >Entschuldigungwir haben gedacht, Sie seien ein anderer.< Porta steckte den Umschlag in seine Jackentasche, und da sah ich zu erstenmal ein Lácheln in seinen Augen. Silvio sagte ihm etwas auf Italienisch und jetzt lachte Porta sogar mit dem Mund. Oder wenigstens versuchte er es. Er klopfte mit der Hand auf die Tasche mit dem Geld und sagte: >Fa rúente.< Martin rief plótzlich: > Also, wenn der es nicht gewe­ sen sein solí, wer denn dann? Da muss es ein anderer gewesen sein.< >Bitte nicht jetztHerein!< Es war der Arzt. Strasser nannte seinen Ñamen und wollte erklaren, aber der Polizist sagte: >Ich habe Sie tufen lassen, weil wir hier einen Fall haben. Das ist die­ ser Mann hier. Er ist Italiener, nach seinem Reisepass heisst er Umberto Porta. Er war unterwegs auf einer FuBwanderung über den Montemoropass. Da haben ihn die hier verprügelt.< >Verprügelt?Wieso?< >BloB, weil sie geglaubt haben, er sei ein Dieb. Er ist aber kein Dieb. Das habe ich alies geprüft.< >Und deswegen habt ihr ihn so zugerichtet!Auf den Kopf haben wir ihn nicht geschlagenHat er erbrochen?< >Ja. Ein paar Mal.< Der Arzt fragte dann: >Kann er sich irgendwo hinlegen. Ich muB ihn genauer untersuchen.< >Im Nebenraum ist eine Pritsche.< >GutDer Mann muB sofort ins

zurichten, verletzen die Pritsche, ein einfaches Bett

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Krankenhaus. Wahrscheinlich Gehirnerschütterung. Hoffentlich keine inneren Verletzungen. Verprügelt. Sie sollten diese jungen Leute besser unter Kontrolle haben. Haben Sie das denn nicht verhindern kónnen?< >Leider nichtIch stand zu weit weg. Ais ich hinzukam, habe ich mich natürlich sofort dazwischengestellt. < Er log. Wir wussten alie, dass er log. Und er wusste, dass wir es wussten. Er war keine fünf Meter hinter uns gewesen, er hatte nur gesagt: >Nicht auf den Kopf.< Er log. Er hatte die Augen gesenkt. Er schámte sich vor uns. Der Arzt ging mit Porta ins Nebenzimmer und schloss hinter sich die Tür. Der Polizist schrieb an seinem Bericht weiter. Wir standen da und wagten nicht mehr, uns zu setzen oder miteinander zu reden. Nach einer Viertelstunde óffnete der Arzt die Tür, sagte: >Herr Strasser, kommen Sie doch mit den jungen Leuten mal her. Das müssen Sie sich ansehen.< Wir gingen in den kleinen Nebenraum, wo der Italiener mit nacktem Oberkórper auf der Pritsche lag. Sein Rücken - seinen Rücken werde ich nicht vergessen. Blau, rot und gelbe Stellen. >So etwas habe ich noch selten gesehenHaben Sie mit dem Krankenhaus telefoniert?Da müsste ich aber nach Visp telefonierem, sagte der Polizist. >Es gibt kein náheres Krankenhaus.
Tun Sie es. Sofort. Der Mann braucht Krankenhausp/Iege.< Ais der Polizist gegangen war, fragüe der Arzt: >Was ist denn nur mit euch los? Warum habt ihr das getan? - Du zum Beispiel - und er zeigte auf mich - warum hast du ihn geschlagen?< >Ich weiB es nichtUnd duGefállt euch sein Rücken? Oder sein Kopf?< Wir sagten nichts. >Einer alleinhátte so etwas nie getan. Aber wenn es viele sind, nicht wahr, dann wird alies einfach. Da versteckt man seinen Verstand hinter dem Rücken des anderen.< Er hatte Recht. Ich konnte mir auch nicht mehr erkláren, wie es dazu gekommen war. >Ist es schlimm mit Porta?Lebensgefahr besteht wohl nicht. Aber es kónnen natürlich Komplikationen kommen. Deshalb muss er sofort ins Krankenhaus.< Der Polizist meldete, ein Krankenwagen werde sofort heraufgeschickt. Wir durften nun gehen, wir brauchten nicht zu warten, bis der Krankenwagen kam. Wir gingen langsam und mit hángendem Kopf hinaus. Auf dem Heimweg sprachen wir fast nichts. Wir waren hungrig, durstig, müde und deprimiert. Ich ging die Pflege, die Sorge für jemand der Verstand, die Vemunft bestehen, hier: dasein

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neben Silvio. Ais wir das Dorf hinter uns harten, frag­ te ich ihn: >Werden wir Schwierigheiten haben?< >Ich weiB nicht ?< >Wir hárten ihn besser laufen lassen.< 5 >Ja.< Er wollte nicht mit mir reden. Hinter uns ging Mar­ tin neben Strasser. Martin sagte: >Dass wir ihn ein bisschen verprügelt haben, ist nicht so schlimm. Aber dass er das Geld nicht gestohlen hat, das ist eine 10 Schweinerei. Dann ist der Dieb eben doch unter uns. Und hat mitgeholfen, ais wir den Italiener verprügelten. So ein Schuft. Jetzt konnen wir wieder von vom anfangen. Wir müssen doch herausfinden, wer es gewesen ist. Sonst ist jeder von uns im Verdacht.< 15 Er hatte Recht, aber wir wollten nicht mehr darüber reden. Und ais Martin sich mit der Frage an Strasser wandte: >Was tun wir jetzt?Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Und ich mag jetzt auch nicht. < 20 Ich habe gedacht, Frau Strasser wird uns entgegenkommen, weil sie uns doch ziemlich lange nicht gese­ hen hatte und ohne Nachricht geblieben war. Aber sie kam nicht. Sie stand am Kochherd, kaum, dass sie sich uns zuwandte und guíen Abend sagte. >Endlich! Wo ■ 25 seid ihr denn gewesen? Den ganze Tag hast du mich ohne Nachricht gelassen.< Strasser sagte: >Es ist viel geschehen. Ich konnte nicht telefonieren.
Setzt euch zu TischDas Essen ist schon lange fertig.< Wir gingen ins EBzimmer hinüber. Ich hatte das Gefühl, Frau Strasser sehe mich besonders emst an, wieder so frenad und geheimnisvoll wie am Vortag. Ich ging besonders langsam hinüber. Sie merkte es und sagte rasch und so laut, dass alie es hórten: >Peter, hilf mir bitte das Essen hineintragen.< Sie reichte mir die Kartoffeln und flüsterte hastig: >Komm nach dem Essen gleich in die Küche.< Ich trug das Essen hinein und setzte mich an meinen Platz. Wir aben schweigend. Mir fiel auf, dass Frau Strasser kein Wort sagte. Das muss auch ihrem Mann aufgefallen sein. Er fragte: >Willst du nicht wissen, was wir erlebt haben?< Sie blickte nicht auf, aB noch eine Weile, dann frag­ te sie mit tonloser Stimme: > Was habt ihr erlebt? Habt ihr Canevari gefunden?< >Canevari nicht, aber einen anderen. Auch Italiener. Den haber wir auf den Polizeiposten nach SaasAlmagell gebracht. Geld hatte er auch bei sich.< Jetzt blickte sie auf. >Geld?Habt ihr ihm das Geld abgenommen?< >Nein. Wir durften nicht. Es hat sich gezeigt, dass er nicht der Dieb ist.< >Es muss einer von uns seinWir müssen ihn auf jeden Fall finden.< Ich dachte, jetzt werden sie anfangen, nach einem Schuldigen zu suchen. Aber sie waren zu múde, und vielleicht waren sie auch durch die Erlebnisse des Tages hastig, eilig auffallen, hier: bemerken

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ein bisschen vorsichtiger geworden. Frau Strasser sagte: >Ihr geht nach dem Essen am besten alie zu Bett. Ihr müsst ja schrecklich múde sein. Vielleicht hilft mir Peter noch beim Abwaschen. 5 Natürlich nur, wenn du nicht zu müde bist.< >Ich bin nicht zu müde, ich helfe Ihnen gem,< sagte ich. Nach dem Essen gingen alie zu Bett. Strasser sagte: >Ich setze mich noch ein wenig vors Haus. Nachher 10 gehe ich auch schlafen. Ich bin auch müde.< Er zündete eine Zigarette an, blickte mich an, drehte sich dann um und ging hinaus. Ais wir alleine waren, sagte sie: >Stell dir vor, Peter: Ich habe es.< 15 Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Ich wartete ein

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paar Sekunden, dass sie weitersprach, aber ais sie nichts mehr sagte, fragte ich: >Was?< >Das Geld.< >Welches Geld?< >Unser Geld. Das gestohlene Geld. Es ist nicht gestohlen worden. Ich habe es gefunden. WeiBt du wo? Im Kochbuch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Geld ins Kochbuch kommen konnte. Ich muss es natürlich selber hineingelegt haben, ais ich das letzte Mal hineingeschaut habe. Und jetzt habe ich es gefunden.< Sie erwartete natürlich, dass ich mich freue und >groBartig!< rufe. Aber mir war es gleichgültig, dass sie das Geld gefunden hatte. Ich dachte an Porta, und ich dachte, dass wir ihn harten toten kónnen. Und nur weil Frau Strasser backen wollte und die Backzeit nicht kannte. Sie war enttáuscht, weil ich mich nicht freute: >lhr werdet alie froh seinLeider seid ihr jetzt ganz umsonst so weit gegangen.< >Das macht nichtsWenigstens habt ihr gutes Wetter gehabt. Es ist sicher ein schoner Tag gewesen.< Ich konnte nicht sagen: >Ja, es war schónHauptsache, dass wir unser Geld wiederhaben. Und dass kein Dieb unter uns ist.< >Wenn ich nur wüsste, wie ich es ihm sagen soll.< >Er wird sich freuenJa. Aber, dass ihr zwei Tage verloren habt! Und dann liegt das Geld im Kochbuch. Das wird meinem Mann nicht gefallen. Ich kenne ihn.< >Der Tag war nicht verloren. Für uns nicht. < 93

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Zuerst wollte ich noch sagen, für Herrn Strasser auch nicht, aber ich schwieg. Ich sah ihn wieder vor mir, wie er auf dem Polizeiposten verlegen geworden war und gelogen hatte. Es musste sehr schwer für ihn gewesen sein, vor uns zu lügen, und nicht nur zu lügen, sondern uns eine Schuld zuzuschieben, die eigentlich auf ihm ruhte. Aber merkwürdigerweise war er mir deswegen nicht unsympathisch geworden. Im Gegenteil. Dass er uns eine schwache Seite gezeigt hatte, gefiel mir. Sonst haben Lehrer ja meistens Recht. Es ist unmenschlich, meistens Recht zu haben. Auf jeden Fall habe ich Frau Strasser nicht gesagt, auch für ihren Mann sei der Tag nicht verloren gewe­ sen. Ich habe gedacht, wer weiB, wie es dem jetzt geht, im Dunkeln vor dem Haus mit seiner einsamen Zigarette. Ich habe ihr mit dem Abwasch in der Küche geholfen. Ais er mich arbeiten sah, sagte er: >Geh schlafen, Peter. Du hast heute sehr viel gearbeitet.< Aber sie wollte mich dabeihaben, wenn sie es ihm erzáhlte. Sie sagte: >Denk dir nur, eben habe ich es Peter erzáhlt: Ich habe das Geld gefunden.< >Die sechshundert?< Sie berichtete ihm, wo sie das Geld gefunden hatte. Er war zu müde - und wohl nicht nur zu müde - um viel darauf zu sagen, er sagte nur: >Das passt zum Ande­ ren. < >Zu welchem Anderen?Nichts. Nichts.< >Ihr habt zwei Tage verlorenDiese zwei Tage waren nicht verloren. Oder was meinst du, Peter?< >Für mich nicht.< 94

>Auch für mich nicht. Aber jetzt muss ich telefonieren.< Ich wusste, mit wem er telefonieren wollte: Mit dem Krankenhaus in Visp. Er fragte ob ein Herr Porta dort angekommen sei - wie es ihm gehe - nichts Besonderes? - gut und danke und adieu. >Mit wem hast du telefoniert?Mit dem Krankenhaus. Der Italiener námlich, den wir für Canevari hielten und gefangen nahmen, der wollte fliehen. Er ist aus dem Zimmer im ersten Stock gesprungen und hat sich dabei am Kopf und am Bein verletzt. Er musste ins Krankenhaus gebracht werden.< Er sah nicht seine Frau an, ais er es erzáhlte, er blickte nur mich an. >Wie geht es ihm?Nichts zu meldenIch frage mich bloB, wie das jetzt weitergehen solí. Wenn der im Krankenhaus liegt, muss 10 jemand für ihn zahlen.< >Uns kann auf jeden Fall nichts geschehenWozu haben wir denn unseren Lehrer mitgenommen? Wenn er wieder erzáhlt, er habe das nicht verhindern kónnen, dann müssen wir einfach alie sagen, 15 das stimmt nicht. Uns kann man nichts tun. Ich zahle auf jeden Fall gar nichts. Freut euch das nicht?Doch doch. Wieso nicht? Ist ja schlieBlich unser Geld. Sonst hátten wir vorzeitig heimfahren müssen.< Da hat plótzlich einer - ich weiB nicht mehr, wer den Vorschlag gemacht, wir kónnten trotzdem heim­ fahren. Das Geld dem Italiener geben. Ais Schmer- 10 zensgeld.« »Das war Martin«, sagte Peter. »Ich weiB es, weil ich mich gewundert habe, dass gerade Martin diesen Gedanken hatte. Ja, Martin war es. Wir waren erstaunt. Keiner von ¡5 uns hatte daran gedacht. Strasser fand es eine groBartige Idee. Und dann fanden wir sie alie groBartig. Sogar Frau Strasser. Obschon sie den wirklichen Grund gar nicht kannte. Sie sagte: >Ich bin dafür. SchlieBlich ist es mein Fehler.< 20 >Nicht nur dein FehlerWir alie haben Fehler gemacht. Ich den gróBten.Da bekommt er also sechshundert. Und ich gebe aus meiner Tasche noch vierhun- 25 dert dazu. Es ist alies, was ich bei mir habe. Das hilft Porta ein biBchen über den ersten Schmerz hinweg. Ubermorgen fahren wirMorgen haben wir Zeit zum Reinemachen und Packen. In Visp nehmen wir einen spáteren Zug. Einer geht ins Krankenhaus 30 und bringt Porta das Geld.< 7 Dieh tangen

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Wir waren einverstanden. Ais Strasser uns vorschlug, wir kónnten nach Saas-Fee hinauffahren und das Schwimmbad besuchen, da waren alie zufrieden. Nach dem Mittagessen fuhren wir los. Ein sehr schónes Bad haben sie in Saas-Fee. Es war ziemlich spát, ais wir zurückkehrten. In der Nacht sind wir wieder zum Fenster hinausgestiegen und haben uns ins Gras gesetzt und geraucht und über Porta geredet. Am náchsten Morgen ging es los. Zu FuB nach SaasAlmagell, mit dem Postauto hinunter nach Visp. Am Bahnhof haben wir eine Postkarte gekauft, wir haben geschrieben: >Gute BesserungWer bringt ihm das Geld?Wie geht es Herrn Porta?< >GutGehirnerschütterung. Ist aber nicht sehr schlimm. Dann Verletzungen am Rükken.
Buon giorno — guten Tag.< Strasser drückte der Krankenschwester die Blumen in die Hand, die wir draussen gekauft hatten und hat gesagt: >Sind die nicht wunderschdn?< >Si siWie geht es?< Porta konnte viel besser Deutsch, ais ich gedacht hatte. >GutGut.< Und dann hat er zu erzahlen angefangen, wie schón er es hier habe. Wie gut es ihm ginge. Und dazu lachte er, ais müsse er uns dankbar sein, weil wir ihm den Aufenthalt in diesem schónen Krankenhaus moglich gemacht hatten. Mit seiner Tochter aus Pacetto habe er auch telefoniert. Sie werde ihn bald besuchen, und dann fahren sie zusammen heim. >Die Tochter, die eben Hochzeit gefeiert hat?Es tut uns alien 5 sehr Leid.< Aber Porta wollte nicht, dass wir uns entschuldigten. Alies sei gut, das Geld habe er zurückbekommen, bald werde er aus dem Krankenhaus herauskommen. Strasser zog den Briefumschlag aus der Tasche, legte 10 ihn auf den Nachttisch und sagte: >Ich habe hier etwas für Sie. Von alien Schülem und von mir. Für Sie oder ais verspátetes Hochzeitsgeschenk für ihre Tochter.< >Nicht — nicht ndtigDochDas ist nótig. Für Sie und für 15 uns.< Natürlich hat Porta nie emstlich datan gedacht, den Umschlag nicht zu nehmen. Er wusste, dass Geld darin war, und sein >nicht nótig< war reines Theater. 20 Aber er lieB den Umschlag liegen, schob ihn nur ein bisschen weiter zurück und sagte: >Grazie.< Er sah immer uns an und strahlte. Ich glaube, er war stolz darauf, dass er Besuch bekommen hatte. SchlieBlich sagte Strasser: >Ja also, dann. Es war 25 hübsch, dass wir Sie hier besuchen durften. Jetzt müssen wir gehen. Gute Besserung und viele GrüBe von der ganzen Klasse und hoffentlich sind Sie uns nicht mehr bóse.< Strasser gab ihm noch die Adresse der Klasse, und 30 Porta versprach, er schicke uns eine Karte, sobald er aus dem Krankenhaus káme. Wir standen auf. Der Briefumschlag lag immer noch unberührt auf dem Nachttisch. Aber Porta dachte

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nicht daran, den Umschlag zu óffnen, obwohl er sicher gem gewusst hatte, wie viel Geld drinlag. Wir gaben ihm zum Abschied die Hand. Im Gang haben wir dann noch einmal denselben Arzt getroffen. Strasser fragte ihn, wer Portas Krankenhausaufenthalt bezahle. >Die Krankenkasse Unfall ?Wissen Sie nicht, wie er verunglückt ist?< >Nicht genauEr wollte über den Montemoropass und hat in der Tallibodenhütte übernachtet. Wahrscheinlich hat er ein bisschen zu viel getrunken, jedenfalls fiel er vomüber zum Fenster hinaus auf eine Geróllhalde. Dabei hat er die Gehirnerschütterung bekommen.< Auf dem Rückweg habe ich Strasser gefragt: >Warum hat er den Briefumschlag nicht geóffnet? Ist es ihm gleich, wie viel Geld wir ihm geben?< >NeinDas ist ihm bestimmt nicht gleichgültig. Zuerst habe ich auch gedacht, er sollte ihn óffnen, wenn wir dabei sind. Aber dann habe ich verstanden, warum er es nicht tat. Aus Hóflichkeit. Er fand, es sein unhóflich, den Umschlag gleich aufzumachen.< >Jedenfalls ist es gut, dass er nicht die Wahrheit über die Verletzungen auf seinem Rücken erzahlt hat. Sonst hatte die Krankenkasse vielleicht nicht bezahlt.
Ja, er wollte uns nicht verratenDieser Porta! Ein groBartiger Menschh Aber was heiBt schon >groBartiger Menschc Der wollte keinen Árger und das Geld von der Krankenkasse.« 5

»Auf der Heimfahrt«, sagt Peter, »haben wir einander versprochen, dass wir keinem Menschen den wahren Grund erzáhlen, warum wir vorzeitig aus dem Lager zurückkehrten. Das Haus sei von einer anderen Klasse belegt worden, wollten wir sagen. Die Wahrheit wollten wir erst berichten, wenn wir von Porta die Karte bekommen hatten, in der er uns erzáhlt, dass er aus dem Krankenhaus gekommen sei.« »Und?«, fragt Karin. »Hat er geschrieben?« »Heute ist die Karte gekommen. Strasser hat sie hochgehalten, ais er zur Tür hereinkam. Er musste uns nicht erst erkláren, was er hochhielt. Wir wussten es alie. Wir haben geklatscht. Es war eine Karte von Visp. Nur ein paar Satze. Auf Italienisch. Von seiner Tochter geschrieben. Er sei ganz gesund und fahre nun mit seiner Tochter ins Anzascatal. >Danke für das wunderschone Geschenk. Viele GrüBe der ganzen Klasse und dem lieben Lehrer.< >Ich denkewir haben alie viel von ihm gelemt.