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German Pages [313] Year 2016
Hans Jörg Sandkühler
Nach dem Unrecht Plädoyer für einen neuen Rechtspositivismus
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495807927
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B
Hans Jörg Sandkühler Nach dem Unrecht
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Wie Deutschland nach 1945, so stehen auch andere Gesellschaften, die Diktaturen überwunden haben, vor der Frage, wie man mit Verbrechen staatlichen Terrors umgehen soll. In der modernen Rechtskultur findet sich die scheinbar klare Antwort: nulla poena sine lege. Doch es muss aus Gründen der Gerechtigkeit Grenzen des Rückwirkungsverbots geben, nicht zuletzt bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die nach 1945 für die Entlegitimierung der NS-Rechtsordnung wegweisende These, die Gerechtigkeit verlange angesichts »gesetzlichen Unrechts« nach »übergesetzlichen« Normen, geht auf G. Radbruch zurück. Er verband sie mit der Unterstellung, der Rechtspositivismus habe aufgrund der Trennung von Moral und Recht die Justiz im »Dritten Reich« wehrlos gemacht. Obwohl das »Recht« im NSRegime in einem offen erklärten Antipositivismus gründete, wurde die Positivismuslegende zum Gründungsmythos der westdeutschen Republik. Es schien nur den Weg zurück zum Naturrecht zu geben – gegen den oft antisemitisch denunzierten Rechtspositivismus. In diesem Buch wird über historische, politische und juristische Ereignisse seit den Nürnberger Prozessen und über die Geschichte des Rechtspositivismus berichtet. Plädiert wird für einen Rechtspositivismus, der Elemente sowohl der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens als auch von Gustav Radbruchs Positivismuskritik aufnimmt und zugleich zu beiden Theorien auf Distanz geht: Recht und Gesetz verlangen keinen vom Prinzip »Gesetz ist Gesetz« diktierten blinden Gehorsam. Normen gerechten Rechts bedürfen keines Rückgriffs auf das Naturrecht: Sie gründen im positiven Recht der die Menschenwürde-Norm konkretisierenden Menschenrechte.
Der Autor: Hans Jörg Sandkühler, Jahrgang 1940, hat nach dem Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften 1967 promoviert und sich 1970 habilitiert. 1971 wurde er Professor für Philosophie in Gießen, 1974–2005 in Bremen. 2003–2011 leitete er die Deutsche Abteilung Menschenrechte und Kulturen des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie/Paris an der Universität Bremen.
https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Hans Jörg Sandkühler
Nach dem Unrecht Plädoyer für einen neuen Rechtspositivismus
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © iwona1701 – Fotolia Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48765-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80792-7
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Inhalt
Vorbemerkung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Kapitel 1 Nach dem Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Nulla poena sine lege – Das Rückwirkungsverbot und die Revolutionierung des Völkerstrafrechts . . . . . . . . .
17
Die Nürnberg-Klausel, die Aufhebung des Rückwirkungsverbots und die Revolutionierung des Völkerstrafrechts .
22
Deutsche Exil- und Widerstandsgruppen zum Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
Gesetze des Alliierten Kontrollrats . . . . . . . . . . . . . .
39
Zur rechtstheoretischen Debatte über das Rückwirkungsverbot
43
Der Internationale Strafgerichtshof . . . . . . . . . . . . . .
45
Kapitel 2 Gustav Radbruch – Nationalsozialismus, gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
. . . . . . . . . . . .
52
Kapitel 3 Eine Gründungslegende – Positivismuskritik und Naturrechtsrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Rechtssicherheit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . .
72
Naturrecht vs. Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . .
75
Kelsens Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats . . . .
94
Nationalsozialistische Rechtsideologie
5 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Inhalt
Kapitel 4 Was heißt Rechtspositivismus?
. . . . . . . . . . . . . . . . 100
Die rechtspositivistische These der Trennung von Moral und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104
Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Kelsens Konzeption der ›Grundnorm‹ . . . . . . . . . . . . .
120
Die Norm als ›Deutungsschema‹ : Zur juristischen Methodenund Auslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
. . . . . . . . 131
Die Bindung der Richter an Gesetz und Recht
Kapitel 5 Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
Positivismus in Anlehnung an die Naturwissenschaften als Vorgeschichte des Rechtspositivismus? . . . . . . . . .
143
›Positive‹ Gesellschaftstheorie nach dem Muster der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Saint-Simon und Fourier . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Comtes ›Physique sociale‹
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Die Krise des Positivismus und die Philosophie der induktiven Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom älteren Rechtspositivismus zum Neukantianismus
. . . Jeremy Bentham und John Austin . Karl Bergbohm . . . . . . . . . . . Interessenjurisprudenz . . . . . . . Freirechtslehre . . . . . . . . . . . Hans Kelsens ›Reine Rechtslehre‹ . . Mit Kant über Kant hinaus . . . . .
. . . . . . . Kelsen: Sein, Sollen und Zurechnung . Kelsen in Nähe zum Wiener Kreis? . .
. . . . . . . . . Herbert Lionel Adolphus Harts Konzeption des Rechts . Der ältere Rechtspositivismus
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
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6 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
151 153 155 156 161 166 167 169 169 172 175 180
Inhalt
Kapitel 6 Der Rechtspositivismus als Sündenbock . . . . . . . . . . . .
184
. . . . . . . . . . 186 Marxistische Kritik am Rechtspositivismus . . . . . . . . . . 189 Katholische Kritik am Rechtspositivismus
Kapitel 7 Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945 . . . . . . . . .
199
Naturrecht und positives Recht bei Entstehung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹ . . . . . . . . . . .
207
Der Parlamentarische Rat 1948–1949 . . . . . . . . . . . . .
208
Naturrecht in der Rechtsprechung nach 1945 . . . . . . . . .
220
Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
. . . . . . . . 229
Kapitel 8 Rechtspositivismus oder Naturrecht? Eine offene Frage
. . . . 239
Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht . . . .
240
Religion und Naturrecht: Die katholische Kirche . . . . . . .
242
Bioethik, Naturrecht und Rechtspositivismus . . . . . . . . .
248
. Staatenrecht oder Völkerrecht? . . . . . . . . . . . . Die Revolutionierung des Völkerrechts nach 1945 . . Die UNO-Charta und das ›ius cogens‹ . . . . . . . .
254
Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht
Bibliografie
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. . . .
. . . .
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260 262 265
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
7 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
Nach dem Unrecht – dies ist nach 1945 die Zeit des Konflikts zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht. Nach Terrorsystemen und Diktaturen, nach Kriegen und Revolutionen stehen alle Gesellschaften vor der moralischen und juristischen Frage, wie man mit denen umgehen soll, die ungesühnt in staatlichem Terror Verbrechen begangen haben. Man sieht sich mit einer Alternative konfrontiert: Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit. Es bieten sich drei Möglichkeiten der Lösung des Problems an, Gerechtigkeit zu üben und Rechtssicherheit zu garantieren: (i) die Strafverfolgung nach Aufhebung des Rückwirkungsverbots nulla poena sine lege gemäß dem nach 1945 entwickelten Völkerstrafrecht; (ii) Amnestiegesetze, wie sie 1949 und 1954 in Deutschland – nicht zuletzt unter fragwürdiger Berufung auf das Rückwirkungsverbot – mit dem Ziel verabschiedet wurden, die Entnazifizierung zu beenden und NS-Täter in die Gesellschaft zu integrieren; (iii) Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wie z. B. in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, die geständige Täter – ungeachtet der Gerechtigkeitsbedürfnisse der Opfer – straffrei lassen. In der modernen Rechtskultur findet sich zum Problem der Rechtssicherheit eine scheinbar klare Antwort: nulla poena sine lege. Die Garantiefunktion des Strafrechts umfasst vier normative Prämissen: (i) das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa), (ii) das Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta), (iii) das Verbot, Gewohnheitsrecht zuungunsten von Tätern anzuwenden (nulla poena sine lege scripta), und (iv) das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia). Das Rückwirkungsverbot gilt als Gebot der Gerechtigkeit. Dies trifft aber nicht immer zu. Am Beispiel der westdeutschen Geschichte nach dem Terror des Nationalsozialismus ist zu zeigen, dass und warum es aus Gründen der Gerechtigkeit Grenzen des Rückwirkungsverbots geben muss. Das schützenswerte Rechtsgut ›keine Strafe 9 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
ohne zur Zeit der Tat bestehendes Gesetz‹ wird dann fragwürdig, wenn es die Täter schützt und die Opfer noch einmal verletzt. Das Beispiel zeigt auch, wie sich die Alternative ›Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit‹ mit einer anderen Alternative überschneidet: Legalität oder Opportunität. Die Nürnberger Prozesse, die von 1945 bis 1949 gegen die Hauptkriegsverbrecher und andere zur Zeit des Nationalsozialismus Verantwortliche – wie z. B. Juristen, Mediziner, Diplomaten und Funktionäre der Terrorverwaltung – durchgeführt wurden, sowie weitere seit 1945 von der alliierten Militärjustiz gegen Verantwortliche für Verbrechen in Konzentrationslagern durchgeführte Prozesse haben Rechtsgeschichte geschrieben; sie haben das Völkerrecht und das Völkerstrafrecht revolutioniert. Erstmals boten weder nationale Gesetze noch Staatenimmunität absoluten Schutz mehr vor Strafverfolgung. Das justizielle Grundrecht des Rückwirkungsverbots wurde für bestimmte Verbrechen außer Kraft gesetzt, nicht zuletzt für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die nach 1945 für das deutsche Rechtssystem wegweisende These, das NS-Regime habe durch Willkür ein Vakuum der Gerechtigkeit und des Rechts geschaffen und die Gerechtigkeit verlange angesichts ›gesetzlichen Unrechts‹ nach ›übergesetzlichen‹ Rechtsnormen, die eine Bestrafung der Täter ermöglichten, geht auf Gustav Radbruch zurück. Es ging ihm um die Entlegitimierung der NS-Rechtsordnung. Dieses berechtigte Bemühen verband er allerdings mit einer rechtsgeschichtlich unhaltbaren These, der Rechtspositivismus habe die Justiz im ›Dritten Reich‹ wehrlos gemacht. Doch das nationalsozialistische Unrechtssystem hatte eine seiner ideologischen Quellen in einem offen erklärten Antipositivismus. Dass dies nach 1945 verdrängt wurde, gehört zu den Paradoxien der vermeintlichen Stunde Null. Der Antipositivismus wurde zum Gründungsmythos der westdeutschen Republik, nicht zuletzt in Rechtstheorie, Rechtspolitik und Judikatur. Unter dem Eindruck der Radbruch’schen These schien es nur einen Ausweg zu geben – zurück zum Naturrecht, und zwar bis in die höchstrichterliche Wertejudikatur. Dass für diese Alternative nicht wenige plädierten, die noch ein paar Jahre zuvor die nationalsozialistische ›völkische Rechtserneuerung‹ und ein Naturrecht aus ›Blut und Boden‹ propagiert hatten, gehört ebenfalls zu den Paradoxien der Stunde Null. Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945 war eine Ideologie gegen – gegen den oft antisemitisch denunzierten Rechtspositivismus (›der Jude Kelsen‹). 10 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
Die offensichtliche Kontinuität mit Motiven und Ideologemen der NS-Zeit war nur dürftig rhetorisch kaschiert. Die nationalsozialistische Vorgeschichte der Verteufelung des Rechtspositivismus hatte und hat ihre Nachgeschichte in Vorurteilen, Legenden und ideologischen Polemiken – in der Rechtswissenschaft, in der Politik, in katholischen kirchlichen Äußerungen und im Marxismus. Der Rechtspositivismus wurde und wird immer wieder zum Sündenbock erklärt, nicht nur von Konservativen. In den späten 1960er und in den 1970er Jahren war Positivismuskritik auch für marxistisch orientierte Linke, unter anderen für mich, geradezu eine Selbstverständlichkeit. Die Grundlage für die unterschiedlich motivierte, im Ziel aber identische Kritik war und ist weder die juristische Verteidigung der Herrschaft des Rechts noch die politische Verteidigung der Demokratie noch das Christentum als Religion der Nächstenliebe noch der Kampf um Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung. Die Ausgangspunkte waren politische Ideologien im Kampf um Interpretationshoheit und Macht. Als das wesentliche Merkmal ›des‹ Rechtspositivismus wird meist die These der Trennung von Recht und Moral gesehen. Die oft unreflektiert vertretene Annahme einer homogenen Theorie namens ›der Rechtspositivismus‹ lässt aber (i) die Differenzierungen unberücksichtigt, die sich seit dem älteren Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts in der juristischen Theorieentwicklung ergeben haben, so z. B. den wesentlichen Unterschied zwischen einem ›exklusiven‹, moralische Einflüsse auf das Recht ausschließenden und einem ›inklusiven‹ Rechtspositivismus, der die These einer strikten Trennung von Recht und Moral so abmildert, dass moralische Einflüsse zwar nicht notwendigerweise, aber doch möglicherweise eine Rolle spielen. Übersehen wird im Kontext der Positivismuslegende (ii), dass die Feststellung der Tatsächlichkeit des Rechts Rechtspositivisten nicht von der Frage nach der Geltung des Rechts entbindet: Rechtspositivisten müssen den Begriff des Rechts keineswegs so definieren, dass er moralische Maßstäbe ausschließt. Meine eigene Perspektive, in der ich in diesem Buch über historische, politische und juristische Ereignisse seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, die eine Völkerrechts- und Völkerstrafrechtsrevolution ausgelöst haben, berichte und in der ich – im Kontext einer knappen Darstellung wesentlicher Etappen in der Geschichte der Rechtspositivismen – systematisch argumentiere, ist die eines modifizierten Rechtspositivismus, der Elemente sowohl der 11 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
Reinen Rechtslehre Hans Kelsens als auch von Gustav Radbruchs Positivismuskritik aufnimmt und zugleich zu beiden Theorien auf Distanz geht. Kelsen ist mit dem Ausschluss übergesetzlicher Gerechtigkeitsforderungen noch in zu großer Nähe zu der im älteren Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts aufgestellten These, das Recht müsse auf die von der Legislative positivierten Gesetze reduziert werden und entziehe sich moralischer Wertung. Und Radbruch ist noch in zu großer Ferne von der Vorstellung, die Begründung übergesetzlicher Normen bedürfe keines Rückgriffs auf das Naturrecht, sondern finde ihren Bezugspunkt im positiven Recht der die Menschenwürde-Norm konkretisierenden Menschenrechte, d. h. in Normen, in denen zum einen der Pluralismus nicht nur des Rechts, sondern auch ethischer Konzepte und moralischer Intuitionen anerkannt ist und in denen diese Anerkennung zum anderen kein außerjuridisches, sondern ein gegenüber partikulären Ethiken und Moralen neutrales menschenrechtliches Prinzip ist. Dieser naturrechts- und metaphysikkritische Rechtspositivismus, für den ich plädiere, setzt der richterlichen Auslegung von Rechtsnormen nach der Erfahrung der ›unbegrenzten Auslegung‹ im Nationalsozialismus enge Grenzen. Wenn Richter in ihrer ›freien Urteilsbildung‹ auf die Geltung über- bzw. vorpositiven, als ›objektive Wertordnung‹ missverstandenen Rechts Anspruch erheben, sind dem Subjektivismus und Dezisionismus Tür und Tor geöffnet, vor allem in einer Rechtsprechung, die sich an die in der Gesellschaft tatsächlich oder vermeintlich herrschenden Wertvorstellungen anpasst. Die Folgen des Rechtspositivismus, für den ich plädiere, bestehen (i) in der Wahrung der Gewaltenteilung und in dem gegen subjektive richterliche Willkür gerichteten Rechtsschöpfungsverbot, das freilich die Fortbildung des Rechts durch verfassungskonforme Lückenschließung zulässt; sie bestehen (ii) in der Forderung nach einer Rechtsordnung, in der es den nicht-justiziablen Fall nicht geben darf (kein Rechtsverweigerungsverbot für Richter), und (iii) im Verzicht darauf, die Rechtsauslegung von privaten Weltanschauungen und Moralen abhängig zu machen. Die positive Funktion dieses Rechtspositivismus besteht darin, dass er im Interesse der Rechtssicherheit die Rechtsprechung an das in der Verfassung normierte Recht und an die Gesetze bindet, die mit der Verfassung konform sind. Ein Rechtspositivismus, der die richterliche Gesetzesbindung vom Vorrang der demokratischen Verfassung her versteht, verlangt nicht mehr einen vom Prinzip ›Gesetz ist Gesetz‹ diktierten blinden Gehorsam. Im Rahmen der 12 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
Bindung an ›Recht und Gesetz‹ berücksichtigt er auch die Bindung an die Grundsätze der Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit, kurz: an ›richtiges‹, d. h. ›gerechtes Recht‹. Nach dem Unrecht gibt es – wie etwa Entwicklungen seit dem ›Arabischen Frühling‹ zeigen – für den Umgang mit den in Diktaturen begangenen Verbrechen kein Patentrezept. Es können aber vier Prinzipien identifiziert werden, ohne die es keine Lösung des Problems geben kann: (i) Das Rückwirkungsverbot ist ein zu schützendes Rechtsgut; es darf nur bei den in den Nürnberger Prinzipien bzw. im Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof genannten Verbrechen aufgehoben werden. (ii) Die einzig mögliche Grundlage eines gerechten Umgangs mit dem Unrecht ist der demokratische Rechtsstaat mit seiner strikten Bindung der Justiz an Recht und Gesetz. (iii) Die normative Grundlage der Beurteilung des Unrechts kann nicht in privaten Moralen und privaten Gerechtigkeitskonzeptionen gefunden werden; sie besteht vielmehr in den positiv-rechtlichen Normen der Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte, des ius cogens und des Völkerstrafrechts als Maßstäben der Strafverfolgung. (iv) Nach Diktaturen besteht eine wesentliche Aufgabe aller Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft in der Aufklärung über die Legitimität strafrechtlicher Normen und in der Bildung eines Moralbewusstseins der Individuen, das sie befähigt, Schuld anzuerkennen, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sowie zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden und die Täter einer gerechten Strafe zuzuführen, damit die Opfer nicht erneut verletzt werden. Ob man für eine rechtspositivistische oder für eine naturrechtliche Konzeption optiert, hängt von der an rechtspraktischen Problemlösungen orientierten Wahl einer Rechtstheorie ab. Mein Plädoyer zielt aus Gründen der Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert auf einen inklusiven Rechtspositivismus, den ich auf der Grundlage der Würdenorm des Art. 1 GG und der im internationalen Recht positivierten Menschenrechte begründe. Dieser Rechtspositivismus verlangt nach einer bestimmten Qualifikation aller Rechtsetzung: Recht muss seine Geltung als gerechtes Recht beanspruchen. Über die Alternative ›Rechtspositivismus vs. Naturrecht‹ kann rechtstheoretisch entschieden werden. Rechtspraktisch ist das Problem damit aber nicht gelöst. Denn niemand kann gezwungen werden, auf naturrechtliche Geltungsbegründungen zu verzichten. Rechtspositivismus oder Naturrecht? Dies ist und bleibt angesichts 13 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Vorbemerkung
des Pluralismus der Moralen und der Rechtsverständnisse eine offene Frage. Die hier vorgelegte Studie ist aus über zehn Jahren Forschung, Lehre und öffentlichen Vorträgen zu Problemen des Rechts und des Staates entstanden, vor allem aus meinen Vorlesungen am Institut für Philosophie der Universität Bremen in den Jahren 1998 bis 2003 und aus meinen Vorlesungen im Rahmen der Deutschen Abteilung ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris) in den Jahren 2003 bis 2011. Zu den rechtstheoretischen Prämissen, von denen ich ausgehe, verweise ich auf zwei zuvor erschienene Bücher: Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive (2013) und Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen (2014). In dem hier vorliegenden Buch, das mit den beiden zuvor genannten eine Einheit bildet und in dem ich aus diesen einige überarbeitete Passagen aufnehme, zitiere ich ausführlich – um aus Gründen der Fairness die Überlegungen und Argumente Dritter nicht paraphrasierend auszunutzen, sondern diese selbst zu Wort kommen zu lassen. Lilienthal bei Bremen, im Februar 2015
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Kapitel 1 Nach dem Unrecht
Nach Terrorsystemen und Diktaturen, nach Kriegen und Revolutionen stehen alle Gesellschaften vor der moralischen und juristischen Frage, wie man mit denen umgehen soll, die Unrecht begangen haben. 1 Man steht dabei scheinbar vor einer Alternative: Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden. Es bieten sich drei Möglichkeiten der Lösung des Problems an, Gerechtigkeit zu üben und Rechtssicherheit zu garantieren: (i) Die Strafverfolgung nach Aufhebung des Rückwirkungsverbots nulla poena sine lege praevia gemäß dem nach 1945 entwickelten Völkerstrafrecht, in dem das Rückwirkungsverbot nicht mehr nur individuelle Verbrechen betrifft, sondern auch verbrecherische politische Systeme und Organisationen. 2 Als die Zulässigkeit einer Strafverfolgung von Organisationen im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher seitens der Verteidiger der Angeklagten bestritten wurde, erklärte Thomas S. Dodd als Ankläger der Vereinigten Staaten: »Sie haben geltend gemacht, daß das in dem Statut vorgesehene Verfahren auf eine Kollektiv-Bestrafung hinausläuft, daß die Idee, eine Organisation für verbrecherisch zu erklären, einzigartig im Recht sei und daß der Grundsatz ›nulla poena sine lege‹ durch unser Verfahren verletzt würde. […] Aber ich möchte dem Gerichtshof gegenüber noch einmal betonen, daß wir keine Kollektiv-Verurteilung von Einzelpersonen anstreben. Wir suchen eines zu erreichen, und nur eines: Daß diese Organisationen, welche zusammen Zur ›Ahndung rechtsförmigen Staatsunrechts nach dem Wechsel des Regimes‹ vgl. Hofmann 2008, S. 109–120. 2 Als solche wurden in dem im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof (Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946) verkündeten Urteil eingestuft: das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Geheime Staatspolizei (Gestapo), der Sicherheitsdienst (SD) sowie die Schutzstaffel (SS). Nicht verurteilt wurden die angeklagte Reichsregierung, der Generalstab sowie das Oberkommando der Wehrmacht (OKW). 1
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1 · Nach dem Unrecht
Deutschland zu einem Polizeistaat gemacht und diese Verbrechen begangen haben, in der Geschichte als das gekennzeichnet werden, was sie waren, als das, was sie wert sind – Organisationen, deren Ziele, Zwecke und Tätigkeiten grundsätzlich verbrecherisch waren und die offen alle Grundsätze der Anständigkeit und des Rechts aller Kulturvölker verletzten.« 3 Weiter erklärte er: »[K]einesfalls darf der Nazismus durch diese Hintertür entschlüpfen, die er sich selbst offengelassen hat; keinesfalls darf er in geheimen und nicht angezeigten Organisationsgebilden weiterleben, um einen neuen Überfall auf die Zivilisation vorzubereiten. Dadurch, daß diese Organisationen für verbrecherisch erklärt werden, wird dieser Gerichtshof nicht nur an das deutsche Volk, sondern an die Völker der ganzen Welt eine Warnung aussprechen. Die Menschheit soll wissen: Verbrechen bleiben nicht straflos, weil sie im Namen einer politischen Partei oder eines Staates begangen worden sind, über Verbrechen wird nicht hinweggesehen, weil sie zu umfangreich sind; Verbrecher werden nicht straflos davonkommen, weil ihrer zu viele sind.« 4 Im Nürnberger Urteil hieß es: »Im Statut ist ebenfalls vorgesehen, daß der Gerichtshof im Prozeß gegen ein Mitglied einer Gruppe oder Organisation (in Verbindung mit irgendeiner Handlung, derentwegen der Angeklagte verurteilt wird) erklären kann, daß die Gruppe oder Organisation, deren Mitglied der Angeklagte war, eine verbrecherische Organisation war.« 5 (ii) Amnestiegesetze, wie sie 1949 und 1954 in Deutschland – nicht zuletzt unter fragwürdiger Berufung auf das Rückwirkungsverbot – mit dem Ziel verabschiedet wurden, die Entnazifizierung 6 zu beenden und NS-Täter in die Gesellschaft zu integrieren. In den drei Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947, Bd. 22, S. 305. Zit. n.: Der Nürnberger Prozeß. Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Mit einer Einführung von Christian Zentner, 2. Ausgabe, Directmedia: Berlin 2004, Digitale Bibliothek Band 20. Im Folgenden: Der Nürnberger Prozeß. 4 Ebd., S. 307. 5 Der Nürnberger Prozeß, Bd. 1, S. 189. 6 Gemäß Kontrollratsdirektive Nr. 24: Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Bestrebungen der Alliierten feindlich gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen, vom 12. 1. 1946 und gemäß Gesetzen in westdeutschen Ländern wie dem Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. 3. 1946 (Regierungsblatt für Württemberg-Baden 1946, S. 71). 3
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Nulla poena sine lege – Das Rückwirkungsverbot
Westzonen wurde über die 2,5 Millionen Deutschen, deren Verfahren bis zum 31. 12. 1949 durch Spruchkammern entschieden waren, wie folgt geurteilt: 54 % Mitläufer, 34,6 % Verfahrenseinstellungen, 0,6 % wurden als NS-Gegner anerkannt, 1,4 % Hauptschuldige und Belastete. Am 10. 4. 1951 hat der Deutsche Bundestag bei nur zwei Enthaltungen das ›Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen‹ verabschiedet. 7 Es ermöglichte mit Ausnahme der Gruppen 1 (Hauptschuldige) und 2 (Belastete) die Rückkehr in den öffentlichen Dienst. Das Entnazifizierungsschlussgesetz wurde am 11. 5. 1951 verkündet und trat am 1. 7. 1951 in Kraft. (iii) Wahrheits- und Versöhnungskommissionen mit dem problematischen, im Rahmen der ›Ubuntu‹-Strategie den Opfern ›von oben‹ verordneten Ziel des Verzeihens und der Versöhnung mit den Tätern, so in Südafrika nach dem Ende der Apartheid. 8
Nulla poena sine lege – Das Rückwirkungsverbot In der modernen Rechtskultur findet sich zum Problem der Rechtssicherheit eine scheinbar klare Antwort: nulla poena sine lege. Sie wurde im Kampf gegen Fürstenwillkür und für Rechtssicherheit erstmals in Art. 8 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 kodifiziert: »Das Gesetz darf nur im strengen und offensichtlichen Sinne notwendige Strafen verhängen, und niemand kann bestraft werden, wenn nicht aufgrund eines Gesetzes, das vor dem Vergehen
Art. 131 GG lautet: »Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln. Entsprechendes gilt für Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes können vorbehaltlich anderweitiger landesrechtlicher Regelung Rechtsansprüche nicht geltend gemacht werden.« 8 Vgl. D. Tutu, Keine Zukunft ohne Versöhnung, Düsseldorf 2001. Vgl. auch C. B. Koné, De la réconciliation terrestre. Essai sur la citoyenneté réhabilitée, Frankfurt/ M. 2010; ders., Médiation et gestion des conflits. Essais sur les fins et les moyens pacifiques de sortie de crise, Frankfurt/M. et al. 2011. 7
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beschlossen, öffentlich gemacht und legal angewendet wurde.« 9 In Deutschland fand dieses Prinzip seinen Weg über das Bayerische Strafgesetzbuch (StGB) von 1813 in das Preußische StGB von 1851 und von dort in das StGB des Deutschen Reiches von 1871. Die Garantiefunktion des Strafrechts umfasst vier normative Prämissen: (i) das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa), (ii) das Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta), (iii) das Verbot, Gewohnheitsrecht zuungunsten von Tätern anzuwenden (nulla poena sine lege scripta), und (iv) das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia). Art. 103 Abs. 2 des deutschen Grundgesetzes (GG) und § 1 des derzeitigen Strafgesetzbuchs enthalten die gleichlautende Formulierung: »Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.« Diese aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) folgende Norm zielt nicht nur auf Rechtssicherheit. Das Rückwirkungsverbot 10 gilt zugleich als Gebot der Gerechtigkeit. Genau dies trifft aber nicht immer zu. Am Beispiel der westdeutschen Geschichte nach dem Terror des Nationalsozialismus ist zu zeigen, dass und warum es aus Gründen der Gerechtigkeit Grenzen des Rückwirkungsverbots geben muss. Dieses Beispiel ist kein Rezept für die Gegenwart nach der Befreiung von Diktaturen. Im Gegenteil: Es zeigt, wie sich die Alternative ›Gerechtigkeit oder Rechtssicherheit‹ mit einer anderen Alternative überschneidet: Legalität oder Opportunität. 11 Aus Gründen der Opportunität im ›Kalten Krieg‹, im Interesse der Westintegration der jungen Bundesrepublik Deutschland und angesichts der Pläne zu deren Wiederbewaffnung setzte der amerikanische Hohe Kommissar für Westdeutschland J. J. McCloy – nicht »La Loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires, et nul ne peut être puni qu’en vertu d’une Loi établie et promulguée antérieurement au délit, et légalement appliquée« (meine Übers.). Radikaler ist dies in in Art. 14 der ›Jakobinerverfassung‹ von 1793 formuliert: »Ein Gesetz, welches Vergehen, die schon vor seiner öffentlichen Bekanntmachung begangen wurden, bestrafen wollte, wäre Tyrannei; einem Gesetz rückwirkende Kraft zu geben, wäre Verbrechen.« 10 Hier ist eine Unterscheidung zu beachten: Von ›echter‹ Rückwirkung wird gesprochen, wenn ein Gesetz nachträglich Tatbestände der Vergangenheit betrifft, d. h. Rechtsfolgen rückwirkend eintreten sollen. Von ›unechter‹ Rückwirkung wird gesprochen, wenn ein Gesetz nicht vergangene, sondern zukünftige Tatbestände betrifft und damit eine bisherige Rechtsposition verändert wird. 11 Vgl. hierzu allgemein Frei 1996; vgl. zur Justiz Osterloh/Vollnhals 2011; Raim 2013; Görtemaker/Safferling 2013. 9
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Nulla poena sine lege – Das Rückwirkungsverbot
zuletzt auf Drängen der Adenauer-Regierung – 1951 zahlreiche Strafen herab; die meisten der in den Nürnberger Nachfolgeprozessen Verurteilten wurden bis 1955 aus der Haft entlassen. Solange es in der deutschen Bevölkerung nach 1945 kaum ein Bewusstsein von Schuld gab, sondern deren Verdrängung, konnten sich Politik und Justiz bei der Strafverfolgung von Nazi-Tätern weitgehend blind stellen. Bis 2005 wurden 172.000 Ermittlungsverfahren durchgeführt; es kam zu 17.000 Anklagen und 15.000 Hauptverhandlungen. Das Ergebnis waren 5.000 Freisprüche, 2.000 Einstellungen und nur 6.600 Verurteilungen. 12 Das schützenswerte Rechtsgut ›keine Strafe ohne zur Zeit der Tat bestehendes Gesetz‹ wird dann fragwürdig, wenn es die Täter schützt und die Opfer verletzt. »Tatsächlich gab es in der frühen Bundesrepublik die Tendenz, nationalsozialistische Untaten juristisch zu bagatellisieren oder nicht zu ahnden. Die Statistik jedenfalls spricht eine klare Sprache. Nachdem sechs Millionen Juden und 500.000 Roma und Sinti ermordet wurden, 200.000 psychisch behinderte Menschen dem Anstaltsmord zum Opfer fielen, drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zu Tode gebracht wurden, 32.000 Oppositionelle von den Militärgerichten und der politischen Strafjustiz aufs Schafott geschickt wurden, wurden 6.201 Personen als sogenannte Gehilfen zu einer Zeitstrafe verurteilt. Lediglich 167 Personen wurden als überzeugte nationalsozialistische Täter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Missverhältnis von Staatsverbrechen und ihrer Ahndung ist evident – und es stand im dramatischen Gegensatz zum 1949 verabschiedeten Grundgesetz.« 13 Die Ahndung der NS-Verbrechen stieß auf erbitterten Widerstand. »So entschied die Regierung Adenauer 1952, die Bestimmung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die die Ahndung der NS-Verbrechen völkerrechtlich erst ermöglichte, außer Kraft zu setzen. […] Mit einem Wort: Die Strategie der Bundesregierung lief darauf hinaus, den NS-Staat in einen Rechtsstaat umzudeuten – mit weitreichenden Folgen für die Rechtsprechung. So erklärte das (auch von der Mehrheit der SPD-Fraktion mitgetragene) Straffreiheitsgesetz von 1954 Delikte befehlsausführender Gewalttäter in der Zeit vom 1. Oktober 1944 bis zum 31. Juli 1945 zwar nicht für rechtmäßig, hob aber die Strafsanktion insbesondere für Tötungsdelikte auf – sofern eine Strafe bis zu drei Jahren Gefängnis zu erwar12 13
Vgl. Rüping/Jerouschek 2011, Rn. (Randnummer) 315. Perels 2013, No 5, S. 38.
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ten war. Die juristische Konstruktion für das Straffreiheitsgesetz stammte im Wesentlichen von Werner Best, unter Hitler SS-Obergruppenführer und Justiziar des Reichssicherheitshauptamts.« 14 In Deutschland kam es erst 43 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus zu einem ›Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege‹. 15 Wie auch nach dem Ende anderer Diktaturen war die Zeit nach 1945 die Zeit der Entlastungslegenden. Man behauptete: »Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtswissenschaft noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft.« 16 Tätern wurde nicht selten mehr Verständnis entgegengebracht als ihren Opfern: Viele, die das Unrecht in Politik und Justiz zu verantworten hatten, wurden im Rahmen der sich nun durchsetzenden Justizpolitik 17 rehabilitiert; »fanatischen Nationalsozialisten« räumte man »die Möglichkeit der Rechtsblindheit basierend auf politischer Verblendung« ein 18: Zwei Richter, die im April 1943 die Todesstrafe Ebd. Zu den Straffreiheitsgesetzen vgl. Frei 1996, S. 29–53. Zu W. Best vgl. Sandkühler 2013, S. 160 f. 15 ›Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 (BGBl. I S. 2501), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. September 2009 (BGBl. I S. 3150) geändert worden ist‹ : »§ 1 Durch dieses Gesetz werden verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren werden eingestellt. § 2 Entscheidungen im Sinne des § 1 sind insbesondere 1. Entscheidungen des Volksgerichtshofes, 2. Entscheidungen der aufgrund der Verordnung über die Einrichtung von Standgerichten vom 15. Februar 1945 (RGBl. I S. 30) gebildeten Standgerichte, 3. Entscheidungen, die auf den in der Anlage genannten gesetzlichen Vorschriften beruhen.« 16 E. Schmidt, Unabhängigkeit der Rechtspflege. In: Tagung deutscher Juristen, Bad Godesberg 30. 9./1. 10. 1947. Reden und Vorträge, Hamburg 1947, S. 231. Vgl. hierzu Lahusen 2001, S. 7 ff.; Schumann 2008, S. 143 f. 17 Zu ›Rechtsordnung und Justizpolitik 1945–1949‹ vgl. Stolleis 1994, S. 247–274. 18 Schumann 2008, S. 240. »Nicht ein einziger Richter des Volksgerichtshofes ist jemals für seine Beteiligung an den NS-Verbrechen verurteilt worden. Viele Jahre lang hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes es abgelehnt, die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile als Rechtsbeugung zu verurteilen, mit der Begründung, dass gerade der Fanatismus und die ideologische Verbohrtheit der hieran beteiligten 14
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Nulla poena sine lege – Das Rückwirkungsverbot
gegen einen Angeklagten verhängt hatten, »der während eines Krieges Deutschlands mit den Anhängern des Weltjudentums die deutsche Rassenehre in den Schmutz zu treten wagte«, wurden 1950 vom Landgericht Kassel vom Vorwurf der Rechtsbeugung mit der Begründung freigesprochen: »Die Gesetze, die damals galten, waren verbindlich für die Gerichte, ihre Anwendung kann für sich noch keine Rechtsbeugung darstellen. […] Die Anwendung des Blutschutzgesetzes ist damals ohne Zweifel zu Recht erfolgt.« 19 Methodische ›Korrektheit‹ 20, Konformität mit dem Gesetz, Befehlsnotstand usf. wurden zu Topoi der Selbstentlastung und Entlastung. 21 Der NS-Marinerichter und spätere baden-württembergische Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger, der noch bis 1945 Todesurteile zu verantworten hatte, sagte: »Was damals Rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein.« 22 In diesem Sinne wurde es auch möglich, dass von 69 Richtern am Bundesgerichtshof (BGH) 27 der NSDAP angehört hatten. »Von den übrigen 42 Bundesrichtern […] müssen elf als NS-Justizverbrecher eingeordnet werden.« 23 Kein Zufall, dass der BGH 1956 befand: »In Richter und Staatsanwälte sie daran hinderte, die Verurteilungen als vorsätzlichen Verstoß gegen das Recht zu verstehen. Je mehr also der beteiligte Richter oder Staatsanwalt von dem NS-Gedankengut erfüllt war, desto weniger konnte ihm der Vorwurf gemacht werden, das Unrecht zu erkennen, an dem er beteiligt gewesen war« (Benda 2005). 19 Zit. n. Frei 2010. 20 Schumann 2008, S. 153 ff. 21 »Schon Mitte 1948 gab es in der Britischen Zone »unter den Landgerichtsräten und Landgerichtsdirektoren 80 % bis 90 % ehemalige Parteimitglieder. […] Die Solidarität unter Juristen, der Hinweis auf ›hohe fachliche Qualifikation‹ und der Antikommunismus – als einziges legitimes Traditionselement der NS-Weltanschauung – waren insgesamt stärker als die Leitlinie, daß Richter mit nationalsozialistischer Vergangenheit nicht eingestellt werden sollten« (Stolleis 1994, S. 261). Artikel IV des Kontrollratsgesetzes Nr. 4 vom 20. Oktober 1945 zur ›Umgestaltung des Deutschen Gerichtswesens‹ blieb de facto wirkungslos: »Zwecks Durchführung der Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens müssen alle früheren Mitglieder der Nazipartei, die sich aktiv für deren Tätigkeit eingesetzt haben, und alle anderen Personen, die an den Strafmethoden des Hitlerregimes direkten Anteil hatten, ihres Amtes als Richter und Staatsanwälte enthoben werden und dürfen nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden.« 22 Affäre Filbinger: Was Rechtens war … In: Der Spiegel, 15. 5. 1978. Filbinger hatte 1935 die Nürnberger Rassengesetze in einem Beitrag für eine Studentenzeitschrift mit folgenden Worten begrüßt: »Erst der Nationalsozialismus schuf die geistigen Voraussetzungen für einen wirksamen Umbau des deutschen Rechts. Schädlinge am Volksganzen […] werden unschädlich gemacht« (zit. nach Wette 2006, S. 18). 23 Schumann 2008, S. 193.
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einer Zeit, in der der Bevölkerung pausenlos eingehämmert wurde, Recht ist, was der Führer befiehlt, können auch Richter und Staatsanwälte dem damaligen Rechtsdenken erlegen sein.« Kein Zufall auch, dass – mit Ausnahme weniger Mitglieder von in der Endphase des NS-Regimes tätigen Standgerichten – kein NS-Richter verurteilt wurde. 24 Diesem ›Rechtsdenken‹ erlagen Richter auch weiterhin. Mit Bezug auf das NS-Reichsbürgergesetz, dem zufolge ›Zigeuner‹ keine Reichsbürger mehr waren, sondern als ›artfremd‹ anzusehen sein sollten, hieß es 1956 in einem BGH-Urteil: »Daraus darf aber nicht geschlossen werden, daß alle Maßnahmen, die von den natsoz. Gewalthabern gegen Zigeuner in der Verfolgungszeit ergriffen wurden, solche sind, die in dem nach § 1 Abs. 1 BEG notwendigen Sinn aus Gründen der Rasse ergriffen wurden. […] Faßt man zunächst den Runderlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei v. 8. 12. 1938 […] ins Auge, dann läßt gerade er jedoch erkennen, daß trotz des Hervortretens rassenideologischer Gesichtspunkte nicht die Rasse als solche der Grund für die darin getroffenen Anordnungen bildet, sondern die bereits erwähnten asozialen Eigenschaften der Zigeuner, die auch schon früher Anlaß gegeben hatten, die Angehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unterwerfen. Es wird einleitend nicht nur auf die rassenbiologischen Erkenntnisse, sondern auch auf die bei der Bekämpfung der Zigeunerplage gesammelten Erfahrungen hingewiesen, die es angezeigt erscheinen ließen, die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen.« 25
Die Nürnberg-Klausel, die Aufhebung des Rückwirkungsverbots und die Revolutionierung des Völkerstrafrechts Entsprechend der Moskauer ›Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa‹ vom 30. Oktober 1943 verhandelten anlässlich der Konferenz von San Francisco im Mai 1945 diplomatische Ver-
Vgl. hierzu Benda 2005. BGH LM Nr. 16 zu § 1 BEG, Bl. 422. Zit. n. Bundesministerium der Justiz, Die Rosenburg. 2. Symposium: Die Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess. Vorträge gehalten am 5. Februar 2013 im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Nürnberg-Fürth.
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Die Nürnberg-Klausel
treter Frankreichs, Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten über die Einsetzung eines Internationalen Militärgerichtshofs zur Aburteilung der europäischen Kriegsverbrecher. Im Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 wurde das ›Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse‹ unter Einschluss des ›Statuts für den internationalen Militärgerichtshof‹ unterzeichnet. Im Nürnberger Hauptprozess 26 – er dauerte vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 – wurde an 218 Tagen verhandelt. Das Sitzungsprotokoll umfasst 16.000 Seiten. Von der Anklage wurden 2.360 Beweisdokumente vorgelegt, von der Verteidigung 2.700. Das Gericht hörte 240 Zeugen und prüfte 300.000 eidesstattliche Erklärungen. 27 Hauptverteidiger traten auf, unterstützt von 54 Assistenten. Am 30. September 1946 wurde das Urteil verkündet, in dem die Angeklagten nach den vier Gesichtspunkten der Anklageschrift als schuldig oder nichtschuldig klassifiziert wurden. Zum Tode durch den Strang wurden zwölf Angeklagte verurteilt, zu lebenslänglicher Haft zwei und zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren vier Angeklagte; drei Angeklagte wurden freigesprochen. 27 Ein Beispiel kann hier genügen, um verständlich zu machen, warum Unrechtserfahrungen den Ausgangspunkt dieses Prozesses und der mit ihm eingeleiteten Revolutionierung des Völkerstrafrechts bildeten: »Die zur Ausrottung angewendeten Methoden in Konzentrationslagern waren [u. a.]: schlechte Behandlung unter dem Vorwand pseudowissenschaftlicher Experimente (Unfruchtbarmachung von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück, Studium der Entwicklung von Gebärmutterkrebs in Auschwitz, von Typhus in Buchenwald, anatomische Untersuchungen in Natzweiler, Herzinjektionen in Buchenwald, Verpflanzung von Knochen und Entfernung von Muskeln in Ravensbrück usw.).« 28 In Auschwitz wurde »in den Lagerakten eine statistische Übersicht des Lagerkommandanten gefunden […]. Diese Übersicht ist von dem stellvertretenden Lagerkommandanten, Vgl. Weinke 2010. In Tokio wurde vor dem ›Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten‹ vom 3. Mai 1946 bis 12. November 1948 wegen »Verschwörung gegen den Weltfrieden« (Klagegründe 1 bis 36), »Mord« (Klagegründe 37 bis 52) und »Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Klagegründe 53 bis 55) verhandelt. Es wurde 7-mal die Todesstrafe und 16-mal eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, u. a. gegen mehrere japanische Ministerpräsidenten. Vgl. Maga 2001. 28 Der Nürnberger Prozeß, Bd. 2, S. 60. 26 27
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Sella, unterschrieben. Darin befindet sich eine Rubrik ›Für Experimente bestimmte Gefangene‹. In dieser Rubrik heißt es: ›Frauen unter Experiment: 15. Mai 1944 400, 15. Juni 1944 413, 19. Juni 1944 348 usw.‹« 29 Es wurde »die Wirkung von verschiedenen chemischen Präparaten verschiedener deutscher Firmen studiert. Ein deutscher Arzt, Dr. med. Valentin Erwin, hat ausgesagt, daß es einen Fall gegeben hat, wo für solche Experimente die Vertreter der chemischen Industrie Deutschlands – Glauber, ein Frauenarzt von Königshütte, und Gevel, ein Chemiker, – bei der Lagerverwaltung 150 Frauen gekauft haben.« 30 Die Korrespondenz der Firma BAYER mit dem Kommandanten des KZ Auschwitz belegt dieses Verbrechen: »Bezüglich des Vorhabens von Experimenten mit einem neuen Schlafmittel würden wir es begrüßen, wenn Sie uns eine Anzahl von Frauen zur Verfügung stellen würden. […] Wir erhielten Ihre Antwort; jedoch erscheint uns der Preis von RM 200,– pro Frau zu hoch. Wir schlagen vor, nicht mehr als RM 170,– pro Kopf zu zahlen. Wenn Ihnen das annehmbar erscheint, werden wir Besitz von den Frauen ergreifen. Wir brauchen ungefähr 150 Frauen. […] Wir bestätigen Ihr Einverständnis. Bereiten Sie für uns 150 Frauen im bestmöglichsten Gesundheitszustand vor, und sobald Sie uns mitteilen, daß sie soweit sind, werden wir diese übernehmen. […] Erhielten den Auftrag für 150 Frauen. Trotz ihres abgezehrten Zustandes wurden sie als zufriedenstellend befunden. Wir werden sie bezüglich der Entwicklung der Experimente auf dem Laufenden halten. […] Die Versuche wurden gemacht. Alle Personen starben. Wir werden uns bezüglich einer neuen Sendung bald mit Ihnen in Verbindung setzen.« 31 Ebd., Bd. 8, S. 345. Ebd., S. 345 f. 31 Dieses Dokument belegt neben vielen anderen die Menschenversuche, die im Auftrag der IG-Farben durchgeführt wurden. Das Dokument aus der Korrespondenz der Firma BAYER mit dem Kommandanten des KZ Auschwitz, das der Anklagebehörde bei den Nürnberger Prozessen vorlag, wurde von der Zentralkommission zur Untersuchung der Naziverbrechen in Polen veröffentlicht: Jan Sehn, Konzentrationslager Oswiecim-Brzezinka – Auschwitz-Birkenau, Warszawa 1957, S. 89 f., Fn. 2; Nürnberger Dokumente NJ. 7184. Giorgio Agamben hat im Erschrecken über den ›Muselmann‹, den lebenden Toten im Konzentrationslager, die These vertreten, Auschwitz bedeute »das Ende und den Zusammenbruch jeder Ethik der Würde und der Angleichung an eine Norm« (Agamben 2003, S. 60): »Tatsächlich hat sich der Muselmann in eine Zone des Menschlichen begeben – denn ihm einfach das Menschsein abzusprechen, würde bedeuten, das Verdikt der SS zu akzeptieren, seinen Gestus zu wiederholen –, in der nicht nur Hilfe, sondern auch Würde und Selbstachtung nutzlos ge29 30
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Die Nürnberger Prozesse wurden von 1945 bis 1949 gegen die Hauptkriegsverbrecher und andere zur Zeit des Nationalsozialismus Verantwortliche – wie z. B. Juristen, Mediziner, Diplomaten, Ministerialbeamte – durchgeführt. 32 Von besonderer Bedeutung war der vom 15. November 1947 bis zum 13. April 1949 durchgeführte ›Wilhelmstraßenprozess‹ (The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et al., der vorletzte und umfangreichste der zwölf Nachfolgeprozesse) gegen führende Angehörige des Auswärtigen Amts und anderer Ministerien (Reichsministerium [RM] für Ernährung und Landwirtschaft, Reichsfinanzministerium, RM für Rüstung und Kriegsproduktion, RM für Volksaufklärung und Propaganda, Reichsinnenministerium) sowie weiterer nationalsozialistischer Dienststellen (Reichssicherheitshauptamt/SS-Hauptamt) in der Berliner Wilhelmstraße, dem NS-Machtzentrum in der ›Topografie des Terrors‹. Erstmals ließ das Gericht Überprüfungsanträge der Verteidiger zu, obwohl die Urteile laut Statut weder durch Revision noch durch Berufung angefochten werden konnten. Einer der drei Richter wandte in einem Sondervotum gegen die Anklage ein, sie konstruiere eine Schuld für Verbrechen, die von Personen verübt wurden, auf die die Angeklagten keinen Einfluss gehabt hätten und für die sie nicht verantwortlich seien. Für 17 Verurteilte stellte die Verteidigung Anträge wegen ›Rechts- und Tatsachenirrtümern‹, die aufgrund der ›Berichtigungsbeschlüsse‹ vom 12. Dezember 1949 in 3 Fällen zu Strafminderungen führten. 33
worden sind. Wenn es aber eine Zone des Menschlichen gibt, in der diese Begriffe keinen Sinn haben, dann kann es sich bei ihnen um keine genuin ethischen Begriffe handeln. Denn keine Ethik darf sich anmaßen, einen Teil des Menschlichen auszuschließen« (ebd., S. 55). 32 Nach dem Hauptprozess fanden vor amerikanischen Militärgerichten zwölf weitere große Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher statt. Angeklagt waren insgesamt 185 Personen: 39 Ärzte und Juristen (Fall I und III), 56 Mitglieder von SS und Polizei (Fall IV, VIII und IX), 42 Industrielle und Manager (Fall V, VI und X), 26 militärische Führer (Fall VII und XII) und 22 Minister und hohe Regierungsvertreter (Fall II und XI). 33 Vgl. Das Urteil im Wilhelmstraßen-Prozess. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere, mit abweichender Urteilsbegründung, Berichtigungsbeschlüssen, den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, einem Verzeichnis der Gerichtspersonen und Zeugen. Einführungen von Robert M. W. Kempner und Carl Haensel, Schwäbisch Gmünd 1950. Zu einer knappen informativen Darstellung vgl. C. Steur, Der Wilhelmstraßenprozess. In: Die Wilhelmstraße 1933–1945. Aufstieg und Fall des NS-
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Diese und weitere seit 1945 von der amerikanischen Militärjustiz gegen Verantwortliche für Verbrechen in Konzentrationslagern durchgeführte Prozesse 34 haben Rechtsgeschichte geschrieben und das Völkerrecht wie auch das Völkerstrafrecht revolutioniert. Der Staats- und Völkerrechtler Hermann Jahrreiß erklärte als stellvertretender Verteidiger von Alfred Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht: »Soweit das Statut dieses alles mit seinen Vorschriften stützt, statuiert es grundsätzlich Neues, wenn man mit dem Herrn britischen Hauptankläger am geltenden Völkerrecht mißt. Das, was – von Europa kommend – schließlich die ganze Welt umfaßt hat und Völkerrecht heißt, ist seinem Wesen nach ein Recht der Nebeneinanderordnung, coordination, souveräner Herrschaftsverbände. Messen wir die Vorschriften des Statuts an diesem Recht, so muß gesagt werden: Die Vorschriften des Statuts negieren die Grundlagen dieses Rechts, sie nehmen das Recht eines Weltstaates vorweg. Sie sind revolutionär. Vielleicht gehört ihnen im Hoffen und Sehnen der Völker die Zukunft.« 35 Erstmals boten nationale Gesetze keinen absoluten Schutz vor Strafverfolgung. Das anerkannte justizielle Grundrecht des Rückwirkungsverbots wurde für bestimmte Verbrechen außer Kraft gesetzt. Im ›Statut für den internationalen Militärgerichtshof‹ heißt es: »Die folgenden Handlungen, oder jede einzelne von ihnen, stellen Verbrechen dar, für deren Aburteilung der Gerichtshof zuständig ist. Der Täter solcher Verbrechen ist persönlich verantwortlich: (a) Verbrechen gegen den Frieden […]; (b) Kriegsverbrechen: […]; (c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Nämlich: Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, Regierungsviertels/The Rise and Fall of the Nazi Government Quarter, Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2014, S. 175–177. 34 Der Dachau-Hauptprozess war der erste Kriegsverbrecherprozess der United States Army in der amerikanischen Besatzungszone. Er fand vom 15. 11. 1945 bis zum 13. 12. 1945 im früheren Konzentrationslager Dachau statt. Ihm schlossen sich 121 Nebenverfahren mit etwa 500 weiteren Angeklagten zwischen dem 11. 10. 1946 und dem 11. 12. 1947 an. Zu erwähnen sind ferner u. a. der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess im Jahre 1958 gegen zehn Gestapo-, SD- und Polizeiangehörige, die zwischen Juni und September 1941 mehr als 5.500 jüdische Kinder, Frauen und Männer im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatten, und vor allem die Auschwitz-Prozesse, sechs Strafprozesse gegen Mitglieder der Lagermannschaft des Vernichtungslagers Auschwitz vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main in den Jahren 1963–65, 1965/66 und 1967/68 sowie drei Nachfolgeprozesse in den 1970er Jahren. 35 Der Nürnberger Prozeß, Bd. 17, S. 521. Hervorh. v. mir.
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begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.« 36 Von großen Teilen der damaligen deutschen Öffentlichkeit wurde dies als ›Siegerjustiz‹ wahrgenommen und von vielen Juristen aus drei Gründen kritisiert 37: wegen des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot, wegen der Einführung der im Völkerrecht zuvor nicht normierten Organisationsverbrechen und wegen der Weigerung der Alliierten, gemäß dem Tu-quoque (Auch-du)-Prinzip auch Völkerrechtsverletzungen der Siegermächte zur Sprache kommen zu lassen. War die deutsche Öffentlichkeit zunächst von den Informationen über NS-Verbrechen schockiert, 38 so änderte sich die Stimmung schon bald bis hin zu mehrheitlicher Ablehnung der Strafverfahren, die als ungerecht wahrgenommen wurden. Auch die evangelischen und katholischen Kirchen machten sich zum Sprachrohr der Angeklagten und ihrer Verteidiger. Das 1949 dem Hohen Kommissar McCloy überreichte ›Memorandum by The Evangelical Church in Germany on the Question of War Crimes Trials before American Military Courts‹ wurde vom Prozessarchiv des in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse angeklagten Chemiekonzerns IG Farben 39 gesponsert. Ebd., Bd. 1, S. 11 ff. Hervorh. v. mir. Diese Kritik wurde später auch anlässlich des Eichmann-Prozesses in Jerusalem laut. Vgl. hierzu G. Bach, Der Prozess gegen Adolf Eichmann. In: Bundesministerium der Justiz (Hg.), Die Rosenburg. Unabhängige Wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. 2. Symposium: Die Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess. Vorträge gehalten am 5. Februar 2013 im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Nürnberg-Fürth. http:// www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/DE/Die_Rosenburg_2_Symposium.pdf. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 38 Breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung waren die NS-Verbrechen nicht im Detail bekannt, bis die Rundfunksender in Deutschland zweimal täglich vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher berichteten und die Tageszeitungen Zeugenaussagen und Kommentare veröffentlichen. 39 Das Urteil betraf »a) die Rolle der I.G. bei dem Sklavenprogramm des Dritten Reiches, b) die Verwendung von Giftgas, das von der I.G. geliefert war, bei der Ausrottung von Konzentrationslagerinsassen, c) die Lieferung von giftigen Chemikalien der I.G. für verbrecherische medizinische Versuche an versklavten Personen, und d) die gesetzeswidrige und unmenschliche Handlungsweise der Angeklagten in Zusammen36 37
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Kurz nach dem Gnadenerlass McCloys äußerte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer im April 1951 im Deutschen Bundestag zur Frage der Kriegsverbrecher: »Ich bitte diese Gefangenen, und zwar alle, und ihre Angehörigen, davon überzeugt zu sein, daß die deutsche Bundesregierung alles tut, was in ihrer Kraft steht, um das Los der Gefangenen zu erleichtern und ihnen baldmöglichst die Freiheit wieder zu verschaffen. Aber in diesen Dingen kommt man viel weiter, wenn man nicht zu viel darüber redet. Damit kein falscher Eindruck, auch nicht im Ausland, entsteht, möchte ich folgendes hinzufügen: Die Kriegsverbrecher, diejenigen, die wider die Gesetze der Menschlichkeit oder gegen die Regeln der Kriegführung verstoßen haben, verdienen nicht unser Mitleid und unsere Gnade. Wenn ich eben davon gesprochen habe, daß die Bundesrepublik alles tut, was in ihrer Macht steht, so kann sie sich natürlich nicht für diejenigen einsetzen, die wirklich schuldig sind. Aber der Prozentsatz derjenigen, die wirklich schuldig sind, ist so außerordentlich gering und so außerordentlich klein, daß – das möchte ich auch in diesem Zusammenhang sagen – damit der Ehre der früheren deutschen Wehrmacht kein Abbruch geschieht. […] Niemand darf die Berufssoldaten wegen ihrer früheren Tätigkeit tadeln und sie, soweit sie im öffentlichen Dienst unterzubringen sind, bei gleicher persönlicher und fachlicher Eignung hinter anderen Bewerbern zurücksetzen. Das Kapitel der Kollektivschuld der Militaristen neben den Aktivisten und Nutznießern des nationalsozialistischen Regimes muß ein für allemal beendet sein.« 40 Für die restaurative politische Mentalität in dieser Zeit sprechen Konrad Adenauers wiederholte Ehrenerklärungen für die Waffen-SS. In einem offiziellen, mit Briefkopf des Bundeskanzlers versehenen Brief schrieb er am 17. Dezember 1952 an den SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der Waffen-SS Paul Hausser: »Sehr geehrter Herr Generaloberst! Einer Anregung nachkommend, teile ich mit, daß die von mir in meiner Rede vom 3. Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag abgegebene Ehrenerklärung für die Soldaten der früheren Deutschen Wehrmacht auch die Angehörigen der Waffen-SS umfaßt, soweit sie ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschland gekämpft haben. Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochhang mit dem Werk Auschwitz der I.G.« (Das Urteil im I.G.-Farben-Prozess. Der vollständige Wortlaut, Offenbach am Main 1948, S. 107). 40 Adenauer 1967, S. 94–96.
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achtung bin ich Ihr Adenauer«. 41 Im Oktober 1955 wiederholte Adenauer in einem Brief an den FDP-Abgeordneten und früheren General der Panzertruppe der Wehrmacht Hasso von Manteuffel: »Ich weiß schon längst, daß die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren. Aber solange wir nicht die Souveränität besitzen, geben die Sieger in dieser Frage allein den Ausschlag, so daß wir keine Handhabe besitzen, eine Rehabilitierung zu verlangen. […] Machen Sie einmal den Leuten deutlich, daß die Waffen-SS keine Juden erschossen hat, sondern als hervorragende Soldaten von den Sowjets gefürchtet war.« 42 Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde nach angelsächsischem Strafprozessrecht auf eine angesichts der zu beurteilenden Gräueltaten geradezu überraschend faire Weise geführt. Der amerikanische Hauptankläger Justice R. H. Jackson stellte fest: »Wir haben […] für die Angeklagten einen Internationalen Gerichtshof geschaffen und haben die Bürde auf uns genommen, uns an einem verwickelten Verfahren zu beteiligen, um ihnen ein gerechtes und leidenschaftsloses Verhör zu gewähren. Ein besserer Schutz kann, soviel wir wissen, keinem Menschen gegeben werden, dessen Verteidigung wert ist, angehört zu werden. Sind diese Männer die ersten, die als Kriegsführer einer besiegten Nation sich vor dem Gesetz zu verantworten haben, so sind sie auch die ersten, denen Gelegenheit gegeben wird, im Namen des Rechts ihr Leben zu verteidigen.« 43 Bezüglich des Rückwirkungsproblems führte er aus: »Daß jedermann den Schutz genießt, sich auf das Gesetz verlassen zu können, das zur Zeit der Tat gilt, ist der Grund, weshalb wir Gesetze mit rückwirkender Kraft für ungerecht halten. Aber diese Männer können nicht beanspruchen, daß solch ein Grundsatz, der in manchem Rechtssystem Gesetze mit rückwirkender Kraft verbietet, auch für sie wirksam sein müsse. Sie können nicht beweisen, daß sie sich jemals in irgendeiner Lage auf das Völkerrecht gestützt oder im geringsten darum gekümmert hätten.« 44 Seitens der Anklage wurde betont: »Die Märtyrervölker appellieren an die Gerechtigkeit der Zit. n.: http://www.terra-kurier.de/Adenauer1.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2014. 42 Zit. n.: http://www.gelsenzentrum.de/deutsche_nazi_karrieren.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2014. 43 Der Nürnberger Prozeß, Bd. 2, S. 119. 44 Ebd., S. 170. 41
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zivilisierten Nationen und verlangen von Ihrem Hohen Gerichtshof, das nationalsozialistische Reich in der Person seiner überlebenden Führer zu verurteilen. Die Angeklagten sollen sich über die Anklagen, die gegen sie erhoben werden, nicht wundern! Sie sollen sich nicht auf das Prinzip der Rückwirkung berufen, dessen Bestand entgegen ihrem Willen von den demokratischen Gesetzen garantiert ist. Das Kriegsverbrechen ist im Völkerrecht sowie im nationalen Recht aller modernen Zivilisationen bekannt. Die Angeklagten wußten, daß die Eingriffe in die Unverletzlichkeit der physischen Person, in das Eigentum und in das menschliche Leben feindlicher Staatsangehöriger Verbrechen waren, für die sie sich vor einer internationalen Justiz zu verantworten haben würden.« 45 Man werde – dessen war sich die Anklage bewusst – »behaupten, daß die Rechtsprechungsbefugnis dieses Hohen Gerichtshofs nicht bestünde, daß das Internationale Strafgesetz noch nirgendwo schriftlich niedergelegt gewesen wäre, als die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten begingen, und daß sie demgemäß wegen des Grundsatzes des Verbots der Rückwirkung der Strafgesetze zu keiner wie auch immer gearteten Strafe verurteilt werden könnten«. 46 Die Verteidiger hoben in ihren Plädoyers auf die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Rückwirkungsverbot ab. Der zu Hermann Görings Pflichtverteidiger bestellte Dr. Otto Stahmer fragte: »Darf ein Strafverfahren, das Gerechtigkeit verwirklichen will, Rechtsbegriffe zur Anwendung bringen, die den Angeklagten und dem Rechtsdenken ihres Volkes völlig fremd sind und immer fremd gewesen sind?« Es werde »eine Tat, die zu ihrer Zeit kein Crimen war, mit Rückwirkung zu einem Crimen gemacht«. 47 Stahmer machte geltend: »Ein Rechtssatz, der die Verantwortlichkeit der Mitverschwörer auf Fälle ausdehnt, die von ihrer Schuld nicht umfaßt sind, ist dem deutschen Recht fremd. Mag er dem anglo-amerikanischen Recht angehören oder nicht, es würde seine Anwendung in unserem Prozeß jedenfalls Taten unter Strafe stellen, die bisher straflos waren. Das widerspräche auf das deutlichste dem Grundsatz ›nullum crimen sine lege praevia‹«. 48
45 46 47 48
Ebd., Bd. 5, S. 463 f. Ebd., S. 601. Ebd., Bd. 17, S. 552. Ebd., S. 556. Vgl. S. 547 f.
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Göring selbst hat aber auf Befragen seines Verteidigers eingeräumt, das NS-Regime habe seine Ziele »selbstverständlich mit allen Mitteln«, auch ungesetzlichen, erreichen wollen: »Der Begriff ›ungesetzlich‹ ist hier vielleicht zu klären: Wenn ich eine Revolution anstrebe, so mag sie für den bestehenden Staat eine ungesetzliche Aktion sein. Gelingt sie mir, so ist sie Tatsache und damit legal und Gesetz geworden.« 49 Er war sich des ›crimen‹ bewusst. Dr. Martin Horn, Verteidiger von Ribbentrops, führte aus: »Die politischen Strafbegriffe des Statuts normieren neue Rechtssätze, die als Keim einer Weltrechtsordnung aufgefaßt werden müssen. Zu der Zeit, als sich die inkriminierten Vorgänge abspielten, fehlte Herrn von Ribbentrop das Bewußtsein, daß es eine derartige Weltrechtsordnung gäbe.« Weiter argumentierte er: »Die Jurisdiktion der Siegermächte über deutsche Staatsangehörige wegen ihrer mit der Politik zusammenhängenden Handlungen kann also nicht auf dem Boden des bisherigen Völkerrechts begründet werden. Das Statut verläßt deshalb die zwischenstaatliche Rechtsordnung. Außerdem setzt es sich in Widerspruch zu fundamentalen strafrechtlichen Grundsätzen. […] Eine Tat könnte […] nur dann mit Strafe belegt werden, wenn sie nach deutschem Recht zur Zeit ihrer Begehung bereits strafbar war.« 50 Auch der Verteidiger von Wilhelm Frick, der von 1933 bis 1943 Reichsminister des Inneren war, verlangte, es sei »zu prüfen, ob das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen ein so wichtiges Rechtsprinzip ist, daß es nicht verletzt werden sollte. Ich brauche vor diesem Gericht nicht die Gründe darzulegen, aus denen dieses Rechtsprinzip allgemeine Anerkennung gefunden hat in allen Kulturstaaten als Voraussetzung und als ein grundlegendes Gebot der Gerechtigkeit.« 51 Die Ankläger wiesen die Verteidigungs-Argumente zurück. Der Brite Sir Hartley Shawcross erklärte: »Über das Recht der Kriegsverbrechen braucht wenig gesagt zu werden, denn das Recht ist vollkommen klar und wird nicht angezweifelt. Hier handelt es sich um Verbrechen, die in ihrem Ausmaß furchtbarer sind, als alles bisher Bekannte, aber gleichwohl fallen sie deutlich unter die Vorschriften des bereits bestehenden Völkerrechts und eindeutig unter die legitime Zuständigkeit eines nationalen oder eines internationalen Gerichts49 50 51
Ebd., Bd. 9, S. 297. Ebd., S. 653. Ebd., Bd. 18, S. 182.
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hofs. Hier gibt es keine Rückwirkung, keine Frage der Gesetzgebung mit rückwirkender Kraft, noch kann hier auch nur im entferntesten von einer Neuerung in den Bestimmungen des Statuts die Rede sein, wonach diejenigen, die die höchste Verantwortung für diese furchtbaren Taten tragen, auch persönlich verantwortlich sein sollen. […] Mord hört nicht auf, Mord zu sein, nur weil die Opfer sich auf das Zehnmillionenfache vermehrt haben. Verbrechen hören nicht auf, Verbrechen zu sein, nur weil sie einen politischen Grund haben.« 52 Der sowjetische Ankläger, Generalleutnant R. A. Rudenko, betonte den Gesetzesstatus des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs: »Die aus Furcht vor der Verantwortung oder im besten Falle aus Unverständnis über die rechtliche Natur der internationalen Justiz vorgebrachte Berufung auf den Grundsatz: ›nullum crimen sine lege‹, beziehungsweise den Satz: ›Das Gesetz hat keine rückwirkende Kraft‹ verliert jegliche Bedeutung angesichts dieses einen grundlegenden und entscheidenden Umstandes, daß nämlich das Statut des Gerichtshofs vorhanden und wirksam ist, und daß alle seine Vorschriften bedingungslose und bindende Wirkung haben.« 53 Im Nürnberger Urteil hieß es dann: »Seitens der Angeklagten wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es ein grundlegendes Prinzip allen Rechtes – des internationalen wie des nationalen – sei, daß es keine Bestrafung eines Verbrechens ohne vorher bestehendes Gesetz geben könne. ›Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege‹. […] Zunächst muß bemerkt werden, daß der Rechtssatz nullum crimen sine lege keine Beschränkung der Souveränität darstellt; sondern allgemein ein Grundsatz der Gerechtigkeit ist. Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu strafen, die unter Verletzung von Verträgen und Versicherungen Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben, ist offenbar unrichtig, denn unter solchen Umständen muß der Angreifer wissen, daß er unrecht hat, und weit entfernt davon, daß es nicht ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre es vielmehr ungerecht, wenn man seine Freveltat straffrei ließe.« 54 Ebd., Bd. 19, S. 521. Ebd., Bd. 7, S. 168. Vgl. ebd., Bd. 19, S. 646: »Die Gesetzgebung aller zivilisierten Völker sieht die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Morde, Folterungen, Gewalttaten, Raub und so weiter vor. Demnach sind die Versuche der Angeklagten und ihrer Verteidiger, sich hinter dem Grundsatz ›nullum crimen sine lege‹ zu verbergen, gescheitert. Sie werden wegen Handlungen angeklagt, die von der zivilisierten Menschheit auch früher als Verbrechen erkannt wurden.« 54 Ebd., Bd. 1, S. 244 f. 52 53
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Der prominente, von den Nazis seines Amtes enthobene sozialdemokratische deutsche Rechtspolitiker und Rechtstheoretiker Gustav Radbruch hat den Nürnberger Hauptprozess als wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Weltrechts gewürdigt: »Sein Wert für die Zukunft des Völkerrechts ist in drei neuen Gedanken enthalten. 1. Es hat der Erkenntnis zum Durchbruch verholfen, daß das Völkerrecht sich verpflichtend nicht nur an die Staaten wende, sondern auch an die einzelnen Staatsmänner und Staatsbürger und hat damit die Entwicklung des Völkerrechts aus einem internationalen Recht zu einem Weltrecht entscheidend gefördert. 2. Es hat den alten Typen völkerrechtlichen Unrechts, den Kriegsverbrechen, zwei neue Typen an die Seite gestellt: das Verbrechen der Herbeiführung eines Angriffskrieges und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In dem völkerrechtlichen Interventionsrecht und der internationalen Gerichtsbarkeit über Humanitätsverbrechen ist ein weiterer Schritt vom Völkerrecht zum Weltrecht zu erblicken, die Erkenntnis, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch wenn sie gegen eigene Volksgenossen begangen werden, die ganze Menschheit angehen. 3. Schließlich hat der Nürnberger Prozeß zum Schutz gegen solches völkerrechtliches Unrecht von Staatsmännern und anderen Personen auch ein Völkerstrafrecht geschaffen.« 55 Völkerrechtlich verankert wurden die sieben ›Nürnberger Prinzipien‹ im Juli 1950 durch die im November 1947 eingerichtete ›International Law Commission‹ (ILC) der Vereinten Nationen 56: ›Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nuremberg Tribunal and in the Judgment of the Tribunal‹ : »Principle I. Any person who commits an act which constitutes a crime under international law is responsible therefor and liable to punishment. Principle II. The fact that internal law does not impose a penalty for an act which constitutes a crime under international law does not relieve the person who committed the act from responsibility under international law. Principle III. The fact that a person who committed an act which constitutes a crime under international law acted
Radbruch 1959, S. 111 f. UN-Generalversammlung, Resolution 174 (II); weitere Resolutionen: 485 (V) vom 12. Dezember 1950, 984 (X) vom 3. Dezember 1955, 985 (X) vom 3. Dezember 1955 und 36/39 vom 18. November 1981. Zum Statut der ›International Law Commission‹ vgl. http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/statute/statute_e.pdf. Abruf überprüft am 12. 1. 2015.
55 56
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as Head of State or responsible Government official does not relieve him from responsibility under international law. Principle IV. The fact that a person acted pursuant to order of his Government or of a superior does not relieve him from responsibility under international law, provided a moral choice was in fact possible to him. Principle V. Any person charged with a crime under international law has the right to a fair trial on the facts and law. Principle VI. The crimes hereinafter set out are punishable as crimes under international law: (a) Crimes against peace: (i) Planning, preparation, initiation or waging of a war of aggression or a war in violation of international treaties, agreements or assurances; (ii) Participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the acts mentioned under (i). (b) War crimes: Violations of the laws or customs of war which include, but are not limited to, murder, ill-treatment or deportation to slave-labour of for any other purpose of civilian population of or in occupied territory; murder or ill-treatment of prisoners of war, of persons on the Seas, killing of hostages, plunder of public or private property, wanton destruction of cities, towns, or villages, or devastation not justified by military necessity. (c) Crimes against humanity: Murder, extermination, enslavement, deportation and other inhuman acts done against any civilian population, or persecutions on political, racial or religious grounds, when such acts are done or such persecutions are carried on in execution of or in connection with any crime against peace or any war crime. Principle VII. Complicity in the commission of a crime against peace, a war crime, or a crime against humanity as set forth in Principle VI is a crime under international law.« In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 wurde in Art. 7 Abs. 2 festgelegt, dass das Rückwirkungsverbot die Bestrafung einer Tat nicht ausschließt, die »im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war«. 57
Auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthält in Art. 15 eine inhaltsgleiche Bestimmung. Wie in der EMRK bestimmt in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Artikel II-109, das Rückwirkungsverbot schließe nicht aus, »dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war«.
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Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK am 5. Dezember 1952 ratifiziert, zur Nürnberg-Klausel jedoch folgenden Vorbehalt erklärt, der als Ausdruck der problematischen ›Vergangenheitspolitik‹ in der jungen Bundesrepublik Deutschland 58 zu verstehen ist: »Gemäß Artikel 64 der Konvention macht die Bundesrepublik Deutschland den Vorbehalt, dass sie die Bestimmung des Artikels 7 Abs. 2 der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird. Die letztgenannte Vorschrift lautet wie folgt: ›Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.‹ (BGBl. II, 1954, 14).« 59 Auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 GG war Art. 7 (2) EMRK gar nicht anwendbar. Die mit den Kriegsverbrecherprozessen etablierten Rechtsprinzipien haben ihren Kontext in der massenhaften Erfahrung des Unrechts, des Terrors, des Krieges, des Holocausts. Das deutsche Volk, das auch unter diesem Unrecht gelitten, aber in seiner Mehrheit den Nationalsozialismus durch Schweigen oder Aktivität unterstützt hatte, hatte nach 1945 nicht die moralische Kraft, ein neues, gerechtes Rechtssystem zu schaffen. Sein Gerechtigkeits- und Rechtsbewusstsein war so nachhaltig unterminiert, dass es in seiner Mehrheit die Ahndung von NS-Verbrechen für eine Verletzung der Gerechtigkeit hielt.
Vgl. zum Umgang mit der NS-Vergangenheit: Deutscher Bundestag, Drucksache 17/8134, 14. 12. 2011. 59 De facto wurde der Vorbehalt – nicht aber das dem Vorbehalt zugrunde liegende Prinzip – am 14. Juli 2000 aufgehoben, als die Bundesregierung erklärte: »Dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Artikel 15 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte keinen Vorbehalt eingelegt hat, führt aber nicht zu einer Abweichung von der Rechtslage nach Artikel 7 Abs. 2 EMRK, gegen den die Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt erklärt hat. Denn beide Bestimmungen erlauben in den genannten Fällen eine rückwirkende Bestrafung, schreiben sie aber nicht vor. Diese Normen eröffnen den Vertragsstaaten also die bloße Möglichkeit der Durchbrechung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Voraussetzung einer solchen Durchbrechung ist allerdings, dass von dieser Möglichkeit im innerstaatlichen Recht auch Gebrauch gemacht wird. Der Bundesrepublik Deutschland steht es demnach auch ohne Vorbehalt frei, eine rückwirkende Bestrafung in diesen Fällen nicht vorzusehen« (Deutscher Bundestag, Drucksache 14/3892: ›Innerstaatliche Umsetzung von Menschenrechtsstandards‹). 58
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Deutsche Exil- und Widerstandsgruppen zum Rückwirkungsverbot Demgegenüber hatten Exilgruppen 60 und Widerstandsgruppen in Deutschland klare Pläne für eine Bestrafung der NS-Täter nach dem Sturz des Regimes entwickelt. 61 »Carl Goerdeler hatte sich schon Anfang 1941 in einem für die Engländer bestimmten Friedensplan und in der zusammen mit Generaloberst Ludwig Beck verfaßten Denkschrift ›Das Ziel‹ für eine Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrecher als erste Aufgabe eines neu zu errichtenden Rechtsstaates ausgesprochen. […] Die Widerstandsgruppe [um Goerdeler] plante, die während der NS-Herrschaft begangenen Verbrechen ausschließlich durch deutsche ordentliche Gerichte aburteilen zu lassen. Sie wandte sich sowohl gegen ein Gericht der Sieger als auch gegen eine internationale Gerichtsbarkeit und betonte die Notwendigkeit einer Bestrafung durch das deutsche Volk zur Wiederherstellung von ›Recht, Gerechtigkeit und Anstand‹ und der ›Achtung und Selbstachtung‹ des deutschen Volkes.« 62 Im Unterschied zu naturrechtlich motivierten Plänen des Kreisauer Kreises optierte die Goerdeler-Gruppe für die Rückkehr zum Rechtspositivismus: »Es ist nicht die Sache des Richters, neues Recht zu schaffen; er hat das Recht anzuwenden und dies auf das Peinlichste zu tun. Das Gesetz soll kein starres Buchstabenrecht, aber es muß fest und klar sein. Es war ein Verbrechen gegen das Volk und gegen die Richter, diesen verschwommenen Begriff und eine angebliche Weltanschauung als Richtschnur zu geben. Es ist unerträglich, daß Menschen verurteilt werden, die nicht wissen konnten, daß ihr Tun strafbar war.« 63 1943 hatte der Jurist Paulus van Husen für den ›Kreisauer Kreis‹ Grundsätze für die Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrecher ausgearbeitet. Aus der Diskussion über die zukünftige Strafverfolgung, die Berücksichtigung des Grundsatzes ›nulla poena sine lege‹ und die Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht entstanden mit aktiver Beteiligung von Helmuth James von Moltke drei Schriftsätze: ›Deutsche Beteiligung an der Bestrafung von Schandtaten‹, ›Bestrafung von Rechtsschändern‹ und ›Instruktionen für Verhandlungen 60 61 62 63
Vgl. z. B. das Prager Manifest der emigrierten Sozialdemokraten vom 28. 1. 1934. Vgl. van Roon 1967. Schindler 1996, S. 123 f. Zit. n. ebd., S. 124 f.
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Deutsche Exil- und Widerstandsgruppen zum Rückwirkungsverbot
über die Bestrafung von Rechtsschändern durch die Völkergemeinschaft‹. 64 Hier hieß es: »Unter der nationalsozialistischen Herrschaft sind zahlreiche Verletzungen des Rechts begangen worden. Sie sind nach Art, Ausmaß und Willensrichtung schwerwiegend und verabscheuenswert. Ihre Bestrafung ist zur Wiederaufrichtung der Herrschaft des Rechts und damit des inneren und äußeren Friedens ein dringendes Gebot.« 65 Van Husens vorrangige Orientierung und Motivation war das Naturrecht, auf dessen Grundlage er für die rückwirkende Einführung eines neuen Straftatbestandes plädierte: »Als Rechtsschänder ist zu bestrafen, wer wesentliche Grundsätze des göttlichen und natürlichen Rechts, des Völkerrechts oder des in der Gemeinschaft der Völker überwiegend übereinstimmenden positiven Rechts in einer Art bricht, die erkennen läßt, daß er die bindende Kraft dieser Rechtssätze freventlich mißachtet. Rechtsschänder ist auch, wer den Befehl zu einer rechtsschändenden Handlung gibt, in verantwortlicher Stellung dazu auffordert oder allgemeine Lehren oder Weisungen rechtsschändender Art erteilt.« 66 Die Mehrheit der Kreisauer verteidigte aber im Interesse der Wiederherstellung der Rechtssicherheit das Rückwirkungsverbot 67: Im Dokument ›Bestrafung von Rechtsschändern‹ heißt es: »Der rückwirkenden Anwendung des neuen Straftatbestandes der Rechtsschändung steht der Grundsatz nulla poena sine lege entgegen. Die rein strafprozessuale Bestimmung der Acht wird von diesem Bedenken nicht betroffen. Der Grundsatz nulla poena sine lege ist seit dem 18. Jahrhundert Gemeingut des europäischen Strafrechts geworden. Er ist historisch entstanden in Abwehr gegen absolutistische Staatswillkür. Einer grundsätzlichen sittlichen Forderung entspricht er nicht, ganz gleich, von welcher Strafrechtsmethode man ausgeht. […] Auch ist zu beachten, daß die Kreise, aus denen die Täter stammen, den Grundsatz leugnen, und ihn abgeschafft haben. Die Rückkehr zu fester Rechtsanwendung und die Wiedererweckung der Rechtssicherheit und Rechtsüberzeugung verlangen jedoch, auch gegen die Rechtsschänder bei dem Grundsatz zu beharren, dem Straftatbestand also die Rückwirkung zu versagen. Daraus folgt, daß
Abgedruckt in Anhängen bei Schindler 1996, S. 203 ff. Zur Rolle van Husens vgl. ebd., S. 49 ff., 108 ff. 65 Zit. n. ebd., S. 109. 66 Zit. n. ebd., S. 204. 67 Vgl. ebd., S. 121 f. 64
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Taten, die vor dem Erlaß dieses Gesetzes begangen worden sind, auf Grund der neuen Bestimmung nicht bestraft werden können. Eine Strafe kann also nur verhängt werden, sofern der Angeklagte auch Straftaten begangen hat, die nach den zur Zeit der Tat geltenden Bestimmungen mit Strafe bedroht waren. Der Grundsatz nulla poena steht aber der rein deklaratorischen Feststellung der Rechtsschändung durch das Gericht auch für die rückwirkenden Fälle nicht im Wege. Diese Anwendung der neuen Bestimmung als lex imperfecta ist eine wertvolle Stütze für die Wiedererweckung des Rechtsbewußtseins und wird als gewisse Sühne empfunden werden.« 68 Die Pläne der Kreisauer gaben einer Bestrafung durch deutsche Gerichte Vorrang vor Gerichten der Siegermächte bzw. anderen internationalen Institutionen des Strafrechts. Van Husen räumte aber auch ein, »daß dem Interesse der Völkergemeinschaft an der Bestrafung Vorrang gegenüber der innerstaatlichen Bestrafung zukomme. Die deutschen Gerichte sollten demnach nur eine subsidiäre Kompetenz erhalten. Aufgrund der Ablehnung einer ›Siegerjustiz‹ sprach er sich für ein gemeinsames Völkergericht aus, dem die Rechtsschänder auszuliefern seien.« 69 Das geeignete Organ sei der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag. Nach 1945 wurde das Problem der Rückwirkung zwar kontrovers diskutiert, 70 aber die Entscheidung über das nun geltende Recht lag bei den Siegermächten. Im Potsdamer Abkommen wurde vereinbart: »All Nazi laws which provided the basis of the Hitler regime or established discrimination on grounds of race, creed, or political opinion shall be abolished. No such discriminations, whether legal, administrative or otherwise, shall be tolerated.« 71 »The judicial system will be reorganized in accordance with the principles of democracy, of justice under law, and of equal rights for all citizens without distinction of race, nationality or religion.« 72
Ebd., S. 207. Ebd., S. 112. 70 Vgl. z. B. Radbruch 1947d; v. Mangold 1848. Zu Stimmen, die sich für Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot aussprachen – wie z. B. 1947 August Wimmer, 1937 aus dem Richterdienst entlassen, seit 1951 Senatspräsident am Oberlandesgericht Köln, in ›Die Bestrafung von Humanitätsverbrechen und der Grundsatz »nullum crimen sine lege«‹ (Wimmer 1947) – vgl. Bahlmann 2008. 71 Potsdamer Abkommen, Abschn. A, iv, 4. 72 Ebd., A, iv, 8. 68 69
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Gesetze des Alliierten Kontrollrats Die Regierungsgewalt in Deutschland wurde vom ›Alliierten Kontrollrat‹ übernommen. 73 In der ›Proklamation des alliierten Oberbefehlshabers Eisenhower Nr. 1, Abschn. I‹ hieß es für die Amerikanische Zone: »In den deutschen Gebieten, das von Streitkräften unter meinem Oberbefehl besetzt ist, werden wir den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus vernichten, die Herrschaft der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beseitigen, die NSDAP auflösen sowie die grausamen, harten und ungerechten Rechtssätze und Einrichtungen, die von der NSDAP geschaffen worden sind, aufheben.« Bereits Ende August 1945 wurden mit dem ›Kontrollratsgesetz Nr. 1 betreffend die Aufhebung von NS-Recht‹ nationalsozialistische Gesetze aufgehoben 74: »Art. I. 1. […] Gesetze politischer Natur oder Ausnahmegesetze, auf welchen das Nazi-Regime beruhte, werden hierdurch ausdrücklich aufgehoben, einschließlich aller zusätzlichen Gesetze, Durchführungsbestimmungen, Verordnungen und Erlasse«. Die Alliierten erließen im Dezember 1945 entsprechend den Nürnberger Prinzipien das nun für die Rechtsprechung in Deutschland verbindliche ›Kontrollratsgesetz Nr. 10‹ zur »Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen
Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrates. Aufstellung des Kontrollrats, vom 30. August 1945: »An das Deutsche Volk! Die Oberbefehlshaber der stehenden Streitkräfte in Deutschland der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Provisorischen Regierung der Französischen Republik verkünden hiermit gemeinsam als Mitglieder des Kontrollrats folgendes: I. Laut Bekanntmachung vom 5. Juni 1945 ist die oberste Regierungsgewalt in bezug auf Deutschland von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreiches und der Provisorischen Regierung der Französischen Republik übernommen worden. II. Kraft der obersten Regierungsgewalt und der Machtbefugnisse, die damit von den vier Regierungen übernommen wurden, ist der Kontrollrat eingesetzt und die oberste Machtgewalt in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes angehen, dem Kontrollrat übertragen worden. III. Alle Militärgesetze, Proklamationen, Befehle, Verordnungen, Bekanntgaben, Vorschriften und Direktiven, die von den betreffenden Oberbefehlshabern oder in ihrem Namen für ihre Besatzungszonen herausgegeben worden sind, verbleiben auch weiterhin in diesen ihren Besatzungszonen in Kraft.« 74 Zur Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat vgl. Etzel 1992 und Stolleis 1994, S. 252 ff. 73
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die Menschlichkeit schuldig gemacht haben«. 75 In diesem Gesetz, das für Radbruch ein Beispiel für ›übergesetzliches Recht‹ war, 76 wurde ausgeführt: »Ohne Rücksicht auf seine Staatsangehörigkeit oder die Eigenschaft, in der er handelte, wird eines Verbrechens nach Maßgabe von Ziffer 1 dieses Artikels für schuldig erachtet, wer a) als Täter oder b) als Beihelfer bei der Begehung eines solchen Verbrechens mitgewirkt oder es befohlen oder begünstigt oder c) durch seine Zustimmung daran teilgenommen hat oder d) mit seiner Planung oder Ausführung in Zusammenhang gestanden hat oder e) einer Organisation oder Vereinigung angehört hat, die mit seiner Ausführung in Zusammenhang stand. […] Wer eines der vorstehend aufgeführten Verbrechen für schuldig befunden und deswegen verurteilt worden ist, kann mit der Strafe belegt werden, die das Gericht als angemessen bestimmt. […] Die Tatsache, daß jemand eine amtliche Stellung eingenommen hat, sei es die eines Staatsoberhauptes oder eines verantwortlichen Regierungsbeamten, befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen und ist kein Strafmilderungsgrund. […] Die Tatsache, daß jemand unter dem Befehl seiner Regierung oder seines Vorgesetzten gehandelt hat, befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein Verbrechen; sie kann aber als strafmildernd berücksichtigt werden. […] In einem Strafverfahren oder einer Verhandlung wegen eines der vorbezeichneten Verbrechen kann sich der Angeklagte nicht auf Verjährung berufen, soweit die Zeitspanne vom 30. Januar 1933 bis zum 1. Juli 1945 in Frage kommt. Ebensowenig steht eine vom Naziregime gewährte Immunität, Begnadigung oder Amnestie der Aburteilung oder Bestrafung im Wege.« Es ging nach 1945, wie das Militärregierungsgesetz Nr. 1 belegt, um die »Beseitigung des ideologischen Kernbestands durch Gesetzgebung in Form von offenen, jederzeit zu erweiternden Katalogen« und um die »Lenkung des aus praktischen Erwägungen nicht vollIn Kraft getreten am 24. Dezember 1945. Die in den drei offiziellen Sprachen abgefassten Originaltexte dieses Gesetzes wurden von General J. T. McNarney, Feldmarschall B. L. Montgomery, Armeekorps-General L. Koeltz und G. Schukow, Marschall der Sowjetunion, unterzeichnet. Für die Bundesrepublik Deutschland wurde das Gesetz geändert durch Art. 2 des Gesetzes Nr. A-37 der Alliierten Hohen Kommission vom 5. Mai 1955 (ABl. AHK S. 3267) und aufgehoben durch Erstes Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. I, S. 437), jedoch ohne Aufhebung der bisherigen Rechtsauswirkungen des Gesetzes. Vgl. zu einer zeitgenössischen Reaktion auf dieses Kontrollratsgesetz Graveson 1947. 76 Radbruch 1990, S. 96. 75
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Deutsche Exil- und Widerstandsgruppen zum Rückwirkungsverbot
ständig austauschbaren Justizpersonals durch Verpflichtung auf eine neue Wertordnung« 77, um »die Grundsätze und Lehren der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei aus dem deutschen Recht und der Verwaltung innerhalb der besetzten Gebiete auszurotten, um für das deutsche Volk Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen und den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz wiedereinzuführen«. 78 Die Gesetze und Proklamationen der alliierten Siegermächte haben nur in den Anfangsjahren nach 1945 praktische Wirkung entfaltet. Gegen sie wurde immer wieder das Rückwirkungsverbot ins Feld geführt. So bestritt die Verteidigung auch noch in dem am 20. Dezember 1963 in Frankfurt/M. eröffneten und am 20. August 1965 abgeschlossenen Auschwitz-Prozess 79 gegen 22 wegen Mordes bzw. Beihilfe zum Mord Angeklagte, der gegen viele Widerstände maßgeblich vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer durchgesetzt wurde – er war 1933 selbst in Haft genommen worden –, jegliche Rechtsgrundlage der Anklage. Der bereits in Nürnberg tätige Verteidiger Hans Latenser erklärte: »[V]on allen Bedenken ist das größte Bedenken das, daß es sich dabei um ein Gesetz handelt, das gegen das Prinzip verstößt, daß niemand wegen einer Tat bestraft werden darf, die nicht bereits zur Zeit ihrer Begehung ein Verbrechen war. Geht man von diesem grundlegenden Rechtssatz aus, dann konnte [man] im Artikel 6 [des Statuts für den internationalen Militärgerichtshof], der ja all die Straftatbestände enthält, eine Bestrafung wegen Planens und Führens eines Angriffskriegs nur dann aussprechen, wenn diese Tatbestände schon vor Erlaß des Londoner Abkommens und des Status eine völkerrechtlich strafbare Handlung waren. Diese Frage ist aber ganz klar zu verneinen.« 80 Der die in der DDR lebenden Auschwitz-Opfer vertretende Nebenklagevertreter Friedrich Karl Kaul wies die These, »daß in der Nazizeit die Strafbarkeit des Mordes, soweit er an bestimmten Kategorien von Menschen begangen wurde, suspendiert« gewesen sei, und die hierauf gründende These zurück, »daß die von den hier AngeklagStolleis 1994, S. 252. MilRegG Nr. 1, Mi1RegABI Nr. 1, S. 11. 79 Der Auschwitz-Prozeß. Tonbandmitschnitte, Protokolle, Dokumente. Hg. v. Fritz Bauer Institut Frankfurt am Main und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Directmedia Publishing, Berlin 2004. 80 Ebd., S. 34616. (166. Verhandlungstag, 10. 06. 1965). Vgl. hierzu die Replik von Nebenklagevertreter Henry Ormond, ebd., S. 36510 f. und S. 36532. 77 78
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ten begangenen Massenmorde zur Tatzeit nicht strafbar gewesen seien, so daß die jetzt von der Staatsanwaltschaft und den Vertretern der Nebenklage verlangte Sühne der Verbrecher gegen das in § 2 des Strafgesetzbuches festgelegte Prinzip ›nulla poena sine lege‹, keine Strafe ohne Gesetz, verstoße«. Er vertrat die Auffassung 81: »Selbst wenn also die partielle Aufhebung des Tötungsverbotes zum Nachteil bestimmter Bevölkerungsgruppen und in der Absicht zu deren Vernichtung durch NS-«, in Klammern: ›ungerechtes‹, »Gesetz, erfolgt wäre, würde dieses Gesetz nicht nur in seiner eventuell nur mittelbaren Gebotsnorm, sondern auch in der Aufhebung der Verbotsnorm nichtig sein und würde nicht nur für die Opfer-, sondern auch für die Täterseite der alte Rechtszustand fortgelten und ein Rückwirkungsverbot den Tätern nicht zugute kommen.« 82 Der BGH hat jedoch in seinem Urteil im Revisionsverfahren 83 die Auffassung der Staatsanwaltschaft und von Nebenklägern als Beschwerdeführern zurückgewiesen, »die Angeklagten Mulka und Höcker seien« – gem. Haager Landkriegsordnung, Kontrollratsgesetz Nr. 10, Art. 6 des Statuts für den internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – »Täter eines Kriegsverbrechens und eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit« und folglich »nicht Gehilfen zum Mord, sondern Mittäter eines Kriegsverbrechens nach Völkerrecht«: »Diese Ansicht der Beschwerdeführer widerspricht […] der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs […]. Zur wirksamen Ahndung solcher Taten kommt, da das Völkerrecht jedenfalls keine unmittelbar eingreifende Strafdrohung kennt, nur die Vorschrift des § 211 StGB in Betracht, und zwar mit der Modifikation, die der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches vorschreibt. Die Rechtsauffassung der Nebenkläger bedeutet aber praktisch eine ›Erweiterung‹ des § 211 StGB, nämlich einen Ausschluß der Beihilfe. Das würde zu ungerechter Beurteilung und Bestrafung desjenigen führen, der in ganz untergeordneter Funktion und widerwillig nur das ausführte, was als Mindestes im Befehl verlangt wurde. Zu der Rechtsansicht der Nebenkläger führt auch keine völkerrechtliche Bindung. Im Ge-
Gestützt auf J. Baumann, Rechtmäßigkeit von Mordgeboten? In: Neue Juristische Wochenschrift, Jg. 17, 1964, H. 31. 82 Zit. n. ebd., S. 1405, in Der Auschwitz-Prozeß, S. 36424 (179. Verhandlungstag, 29. 7. 1965). 83 BGH vom 20. 2. 1969, 2 StR 280/67. 81
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Zur rechtstheoretischen Debatte über das Rückwirkungsverbot
gensatz zum Grundsatz der Nichtrückwirkung (Art. 103 GG) haben die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht verfassungsrechtlichen Charakter […]. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob das – aufgehobene – Kontrollratsgesetz Nr. 10 oder das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs einen allgemeinen Rechtssatz im Sinne der Ausführungen der Nebenkläger enthalten haben. Er würde angesichts des Art. 103 GG mangels Anerkennung in der Bundesrepublik (und in vielen anderen Staaten) nicht zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG gehören.« 84
Zur rechtstheoretischen Debatte über das Rückwirkungsverbot Die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Aufhebung bzw. Einschränkung des Rückwirkungsverbots haben Rechtspositivisten unterschiedlich beantwortet. Hans Kelsen hat 1944 in Peace Through Law betont: »Es gibt keine Regel im allgemeinen Gewohnheitsrecht, die den Erlass von Normen mit rückwirkender Kraft verbietet.« 85 Weniger eindeutig äußert sich H. L. A. Hart in seiner Auseinandersetzung mit Radbruch in The Concept of Law: »So lautet auch die Frage, vor die die Gerichte des Nachkriegsdeutschland gestellt wurden: ›Müssen wir die bestrafen, die böse Dinge taten, welche damals durch böse Regeln erlaubt waren?‹ Diese Fragen stellen sehr verschiedene Probleme der Moral und Gerechtigkeit, die wir unabhängig voneinander betrachten müssen: Man kann sie nicht durch eine ein für alle Mal ausgesprochene Weigerung lösen, böse Gesetze als für jeden Zweck gültig anzuerkennen. Das hieße, zu grob mit schwierigen und komplexen moralischen Problemen umzugehen. Ein Begriff des Rechts, der es erlaubt, die Ungültigkeit der Gesetze von deren Immoralität zu unterscheiden, befähigt uns, die Kompliziertheit und Vielfältigkeit dieser verschiedenen Probleme zu erkennen; während ein engeres Rechtskonzept, das den ungerechten Regeln die Rechtsgültigkeit abspricht, uns dieser Tatsache gegenüber blind macht. Es mag Zit. n. Der Auschwitz-Prozeß, S. 39950 f. Kelsen 1944, S. 87. Zur Frage der Rückwirkung äußert er sich positiv auch in Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 13. [Die beiden Auflagen von Kelsens Reiner Rechtslehre werden zitiert mit (RR I 1934) und (RR II 1960).] Dieser Auffassung hat z. B. auch Julius Stone in Legal Controls of International Conflicts bekräftigt: »Es gibt eindeutig keinen völkerrechtlichen Grundsatz, der die Maxime verkörpert, dass es im Strafrecht keine Rückwirkung geben darf« (Stone 1959, S. 369).
84 85
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zugestanden sein, daß die deutschen Denunzianten, die aus selbstsüchtigen Zwecken andere Leute durch ungeheuerliche Gesetze bestrafen ließen, etwas taten, was die Moral verbot; aber dennoch verlangt die Sittlichkeit in gleicher Weise, daß der Staat nur diejenigen bestrafen sollte, deren Übeltat zur Tatzeit vom Staat verboten war. Dies ist das Prinzip nulla poena sine lege. Wenn überhaupt dieses Prinzip angetastet werden soll, um das, was man für ein größeres Übel als die Opferung des Prinzips hält, abzuwenden, dann ist es entscheidend, daß die in Frage stehenden Probleme klar identifiziert werden. Ein Fall von rückwirkender Strafe sollte nicht wie eine gewöhnliche Bestrafung für eine zur Tatzeit unrechtmäßige Handlung aussehen. Für die einfache positivistische Doktrin, daß moralisch ungerechte Regeln dennoch Gesetz bleiben, kann zumindest geltend gemacht werden, daß sie wenigstens nicht die Wahl zwischen Übeln bemäntelt, die nun einmal in extremen Umständen getroffen werden muß.« 86 Auf vergleichbarer rechtstheoretischer Grundlage hat auch John Rawls in A Theory of Justice auf dem Rückwirkungsverbot bestanden: »Der Grundsatz, daß es kein Vergehen ohne einschlägiges Gesetz gibt (nullum crimen sine lege), und die davon abgeleiteten Forderungen folgen ebenfalls aus dem Gedanken des Gesetzessystems. Dieser Grundsatz fordert, daß Gesetze bekannt und ausdrücklich bekanntgemacht sein müssen, daß ihre Bedeutung klar bestimmt sein muß, daß Vorschriften dem Wortlaut wie dem Geist nach allgemein sein müssen und nicht zur Schädigung bestimmter, womöglich namentlich aufgeführter Menschen (Proskription) dienen dürfen, daß jedenfalls die schwereren Vergehen genau beschrieben sein müssen, und daß Strafgesetze nicht rückwirkend gelten dürfen. Diese Forderungen liegen im Begriff der Steuerung des Verhaltens durch öffentliche Regeln. Denn sind beispielsweise die Gebote und Verbote nicht eindeutig, so weiß der Bürger nicht, wie er sich verhalten soll. Und es kann gelegentliche Proskriptionen und rückwirkende Gesetze geben, jedoch nicht als durchgängige Eigenschaft des Systems, sonst muß dieses einen anderen Zweck haben. Ein Tyrann kann Gesetze ohne Ankündigung ändern und seine Untertanen demgemäß bestrafen (wenn man das so nennen kann), weil es ihm Spaß macht, zu beobachten, wie lange sie brauchen, die neuen Regeln aus den verhängten Strafen zu erschließen. Doch das wäre kein Gesetzessystem, denn 86
Hart 2011, S. 248 f.
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Der Internationale Strafgerichtshof
es könnte nicht zur Steuerung des sozialen Verhaltens durch Schaffung einer Grundlage für berechtigte Erwartungen dienen.« 87
Der Internationale Strafgerichtshof Das Völkerstrafrecht folgt solchen Warnungen nicht. Die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs war eine Folge der grundlegenden Veränderungen im Rechtssystem nach 1945, d. h. der Entwicklung des auf den Schutz der grundlegenden Menschenrechte verpflichteten ius cogens und des Völkerstrafrechts. 88 Zu diesen Veränderungen gehört auch die – im internationalen Rechtssystem nicht durchgängig geltende 89 – Einschränkung des Prinzips nulla poena sine lege; es gilt nicht mehr uneingeschränkt. Der Grund liegt in der Erfahrung, dass politische Führer sich bisher darauf hatten berufen können, sie hätten aufgrund von ›Gesetzen‹ gehandelt und seien persönlich keiner Verbrechen schuldig, und dass sich Kriegsverbrecher in Militär, Polizei und Terrorverwaltung auf einen ›Befehlsnotstand‹ beriefen. So erklärte z. B. beim Nürnberger Prozess der ehemalige Generalfeldmarschall Albert Kesselring auf die Frage »Ist es richtig, daß im absoluten Führerstaat, der in Deutschland bestand, ein Widerspruch gegen einen höchsten Befehl unmöglich war?« zum ›Befehlsnotstand‹ : »In dieser Form will ich diese Frage nicht verneinen. Man konnte gegen eine Auffassung seine eigene Auffassung absolut vertreten. Wenn aber diese eigene Auffassung dann durch den Entscheid Rawls 1979, S. 269. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26. Juni 2002 (BGBl. I S. 2254) gilt gem. § 1 »für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für die in ihm bezeichneten Verbrechen auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist«. Gem. § 5 verjähren die »Verfolgung von Verbrechen nach diesem Gesetz und die Vollstreckung der wegen ihnen verhängten Strafen« nicht. Als »Straftaten gegen das Völkerrecht« gelten »Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (§§ 6, 7) und »Kriegsverbrechen« (§§ 8–12). 89 Vgl. Art. 11 des Römischen Statuts: Gerichtsbarkeit ratione temporis: »(1) Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich nur auf Verbrechen, die nach Inkrafttreten dieses Statuts begangen werden. (2) Wird ein Staat nach Inkrafttreten dieses Statuts dessen Vertragspartei, so kann der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit nur in Bezug auf Verbrechen ausüben, die nach Inkrafttreten des Statuts für diesen Staat begangen wurden, es sei denn, der Staat hat eine Erklärung nach Artikel 12 Absatz 3 abgegeben.« 87 88
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hinfällig geworden war, dann wurde der absolute Gehorsam gefordert, dessen Vollzug unter Umständen durch das Strafgesetz verlangt oder sichergestellt wurde. Eine Auflehnung gegen diesen Befehl oder gegen einen Befehl ist nach unserer Kenntnis der Persönlichkeit und des Verhaltens von Adolf Hitler ausgeschlossen gewesen beziehungsweise hätte zu nichts geführt.« 90 Der britische Stellvertretende Hauptankläger Sir David Maxwell-Fyfe fragte während des Nürnberger Prozesses den vormaligen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht: »Ich verstehe Sie also, daß Sie wissentlich verbrecherische oder rechtswidrige Befehle ausgeführt und weitergegeben haben. Fasse ich damit richtig zusammen?« Keitel antwortete: »Ich darf noch sagen, daß ich nicht der inneren Überzeugung war, hiermit kriminell zu werden, weil es das Staatsoberhaupt selbst war, das für uns alle Mächte der Gesetzgebung an sich vereinigte, und infolgedessen bin ich nicht der Überzeugung gewesen, selbst damit verbrecherisch zu werden.« 91 Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs lautet Art. 22, Nullum crimen sine lege: »(1) Eine Person ist nur dann nach diesem Statut strafrechtlich verantwortlich, wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Tat den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt. (2) Die Begriffsbestimmung eines Verbrechens ist eng auszulegen und darf nicht durch Analogie erweitert werden. Im Zweifelsfall ist die Begriffsbestimmung zugunsten der Person auszulegen, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten.« Es folgt dann aber: »(3) Dieser Artikel bedeutet nicht, dass ein Verhalten nicht unabhängig von diesem Statut als nach dem Völkerrecht strafbar beurteilt werden kann.« Mit dem Verständnis der Menschenrechte, ihrer Unteilbarkeit und Universalität hat sich das Völkerstrafrecht verändert. Während sich Staatsverbrecher aufgrund ihrer Immunität bis zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen der internationalen Strafverfolgung entziehen konnten, ist inzwischen nach dem ›Weltrechtsprinzip‹ das nationale Strafrecht auch auf Tatbestände ohne Bezug zum Inland anwendbar, wenn sich die zu verfolgende Straftat gegen international geschützte Rechtsgüter richtet. Dies gilt vor allem bezüglich völker90 91
Der Nürnberger Prozeß, Bd. 9, S. 225. Ebd., Bd. 11, S. 33.
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strafrechtlich relevanter Taten. In der Präambel des Römischen Statuts heißt es, der Gerichtshof werde eingerichtet, weil »die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und […] ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss«; die Vertragsstaaten seien »entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen«. Gem. Art. 5 Abs. 1 ist die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs »auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich in Übereinstimmung mit diesem Statut auf folgende Verbrechen: a) das Verbrechen des Völkermords; b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit; c) Kriegsverbrechen d) das Verbrechen der Aggression«. 92 Im Bereich der Staatenimmunität sind trotz gewisser – vor allem von der internationalen Gerichtsbarkeit ausgehender – Aufweichungen des aus dem römischen Recht stammenden und in Art. 2 (1) der Charta der UN 93 festgeschriebenen völkerrechtlichen Grundsatzes Par in parem non habet imperium (Gleiche haben keine Macht über Gleiche) bei Menschenrechtsverletzungen nur in den schwersten völkerstrafrechtlich normierten Fällen Fortschritte zu verzeichnen. 94 Gleichwohl ist eine Erosion der Staatenimmunität unverkennbar. Dies zeigt sich z. B. bei der Festlegung in Art. 27 des Römischen Statuts zur ›Unerheblichkeit der amtlichen Eigenschaft‹ : »(1) Dieses Vgl. hierzu die am 9. 9. 2002 beschlossenen Erläuterungen ›Elements of Crimes‹ : Official Records of the Assembly of States Parties to the Rome Statute of the International Criminal Court, First session, New York, 3–10 September 2002 (United Nations publication, Sales No. E.03.V.2 and corrigendum), part II.B. 93 Art. 2 (1) der UN-Charta: »Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.« 94 Das Problem der Staatenimmunität wurde bereits im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher erörtert; seitens der Ankläger wurde betont: »In gewissem Sinn befaßt sich dieses Verfahren nicht mit einer Bestrafung des deutschen Staates. Es befaßt sich mit der Bestrafung von Einzelpersonen. Aber es mag befremdend erscheinen, wenn Einzelpersonen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden für Handlungen des Staates, wenn diese Handlungen selbst keine Verbrechen gewesen sind. Die Ansicht, daß das Völkerrecht strafrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten ausschließe, ist völlig unbegründet und ebenso die Ansicht, daß die Staaten, weil sie auf Grund ihrer Souveränität keinem Zwang unterworfen werden können, immer legal handeln« (Der Nürnberger Prozeß, Bd. 19, S. 516). 92
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Statut gilt gleichermaßen für alle Personen, ohne jeden Unterschied nach amtlicher Eigenschaft. Insbesondere enthebt die amtliche Eigenschaft als Staats- oder Regierungschef, als Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments, als gewählter Vertreter oder als Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut und stellt für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund dar. (2) Immunitäten oder besondere Verfahrensregeln, die nach innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.«
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Kapitel 2 Gustav Radbruch – Nationalsozialismus, gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht
Die nach 1945 für das deutsche Rechtssystem wegweisende These, das Nazi-Regime habe durch Willkür ein Vakuum der Gerechtigkeit und des Rechts geschaffen und die Gerechtigkeit verlange nach Rechtsnormen, die eine Bestrafung der Täter ermöglichten, geht auf Gustav Radbruch zurück. Es ging ihm um die Entlegitimierung der NS-Rechtsordnung, die er auf umstrittene Weise mit seiner Kritik am Rechtspositivismus verband. In einem schon am 12. September 1945 erschienenen Zeitungsartikel ›Fünf Minuten Rechtsphilosophie‹ wurde der Zusammenhang seiner Argumente deutlich: »Erste Minute Befehl ist Befehl, heißt es für den Soldaten. Gesetz ist Gesetz, sagt der Jurist. Während aber für den Soldaten Pflicht und Recht zum Gehorsam aufhören, wenn er weiß, daß der Befehl ein Verbrechen oder ein Vergehen bezweckt, kennt der Jurist, seit vor etwa hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben sind, keine solche Ausnahmen von der Geltung des Gesetzes und vom Gehorsam der Untertanen des Gesetzes. Das Gesetz gilt, weil es Gesetz ist, und es ist Gesetz, wenn es in der Regel der Fälle die Macht hat, sich durchzusetzen. Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung (wir nennen sie die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes das Recht der Macht gleich, nur wo die Macht ist, ist das Recht. Zweite Minute Man hat diesen Satz durch einen anderen Satz ergänzen oder ersetzen wollen: Recht ist, was dem Volke nützt. Das heißt: Willkür, Vertragsbruch, Gesetzwidrigkeit sind, sofern sie nur dem Volke nützen, Recht. Das heißt praktisch: was den Inhaber der Staatsgewalt gemeinnützig dünkt, jeder Einfall und jede Laune des Despoten, Strafe ohne Gesetz und Urteil, gesetzloser Mord an Kranken sind Recht. Das kann heißen: der Eigennutz der Herrschenden wird als Gemeinnutz angesehen. Und so hat die Gleichsetzung von Recht und vermeintlichem oder angeblichem Volksnutzen einen 49 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
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Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt. Nein, es hat nicht zu heißen: alles was dem Volke nützt, ist Recht, vielmehr umgekehrt: nur was Recht ist, nützt dem Volke. Dritte Minute Recht ist Wille zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber heißt: ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maße alle messen. Wenn die Ermordung politischer Gegner geehrt, der Mord am Andersrassigen geboten, die gleiche Tat gegen die eigenen Gesinnungsgenossen aber mit den grausamsten, entehrendsten Strafen geahndet wird, so ist das weder Gerechtigkeit noch Recht. Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, z. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen. Vierte Minute Gewiß, neben der Gerechtigkeit ist auch der Gemeinnutz ein Ziel des Rechts. Gewiß, auch das Gesetz als solches, sogar das schlechte Gesetz, hat noch immer einen Wert – den Wert, das Recht Zweifeln gegenüber sicherzustellen. Gewiß, menschliche Unvollkommenheit läßt im Gesetze nicht immer alle drei Werte des Rechts: Gemeinnutz, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, sich harmonisch vereinigen, und es bleibt dann nur übrig abzuwägen, ob dem schlechten, dem schädlichen oder ungerechten Gesetze um der Rechtssicherheit willen dennoch Geltung zuzusprechen, oder um seiner Ungerechtigkeit oder Gemeinschädlichkeit willen die Geltung zu versagen sei. Das aber muß sich dem Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß. Fünfte Minute Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann. In der Sprache des Glaubens aber sind die gleichen Gedanken in zwei Bibelworten niedergelegt. Es steht einerseits geschrieben: Ihr sollt gehorsam sein der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat. Geschrieben steht aber an50 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
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dererseits auch: ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen – und das ist nicht etwa nur ein frommer Wunsch, sondern ein geltender Rechtssatz. Die Spannung aber zwischen diesen beiden Worten kann man nicht durch ein drittes lösen, etwa durch den Spruch: Gebet dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist –, denn auch dieses Wort läßt die Grenzen im Zweifel. Vielmehr: es überläßt die Lösung der Stimme Gottes, welche nur angesichts des besonderen Falles im Gewissen des Einzelnen zu ihm spricht.« 1 1946 hat Radbruch in ›Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht‹ die berühmt gewordene ›Radbruchsche Formel‹ 2 entwickelt, bei deren Rezeption der durchaus rechtspositivistische Kern oft verkannt wurde: »Keineswegs ist Recht alles das, ›was dem Volke nützt‹, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt. […] der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist«. Die darauf folgende Vorbehaltsklausel enthält dann eine klare Begrenzung der Gültigkeit positiven Rechts: »es sei Radbruch 1945. Die unter ›Fünfte Minute‹ formulierten beiden Anfangssätze finden sich wörtlich auch in der ›Ersten Stellungnahme nach dem Zusammenbruch 1945‹ in Radbruch 1957, S. 105. 2 »Gemeinhin versteht man [unter der Formel] lediglich die Unerträglichkeitsthese, also die Aussage, daß Rechtsnormen der Rechtsnatur entbehrten, wenn sie zu fundamentalen Anforderungen der Gerechtigkeit in unerträglichem Gegensatz stünden.« Dreier hält es für notwendig, sie »weiter [zu] fassen und nicht nur diese normativ-geltungstheoretische Aussage, sondern auch die von Radbruch gelieferte kausalanalytische Erklärung für das Versagen der Juristen im Dritten Reich in die Untersuchung ein[zu]beziehen. Denn seine Formulierung des Rechtsbegriffs steht in untrennbarem Zusammenhang mit seiner Schuldzuschreibung an den Positivismus. Die Radbruchsche Formel hat also nach meinem Verständnis zwei Aspekte: einen deskriptiven und einen normativen. Die deskriptive kausalanalytische Frage betrifft die tatsächliche Bedeutung des Rechtspositivismus beim Niedergang der Weimarer Republik und der Rolle der Juristen im Dritten Reich. Es handelt sich hierbei um eine originär rechtssoziologische Frage, wenn man unter Rechtssoziologie ganz allgemein die Forschung nach den gesellschaftlichen Entstehungsursachen der Rechtsentwicklung und den Einflüssen des Rechts auf das Sozialleben versteht. Die Radbruchsche Unerträglichkeitsthese hingegen ist eine geltungstheoretische Aussage über den Begriff des Rechts, eine rechtsethische Geltungslehre, eine rechtsphilosophische – keine rechtssoziologische – These« (Dreier 1991, S. 118 f.). Zu einer positiven Würdigung der Radbruchschen Formel vgl. Vest 2006 und Haldemann 2005, S. 176: »What makes Radbruch’s Formula ultimately so attractive is that it provides a sound balance between legal certainty or security and the rights of the victims.« 1
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2 · Gustav Radbruch
denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat. […] wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung des positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges Recht‹, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur«. 3 Radbruchs Schlussfolgerung: »Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, zum Beispiel Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen […]. Das aber muss sich dem Bewusstsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muss«. 4 Und ein Jahr später schrieb Radbruch: »Wir haben einsehen müssen, daß es ein Unrecht in der Form des Gesetzes gibt, ein ›gesetzliches Unrecht‹, und daß nur an dem Maßstab eines übergesetzlichen Rechts ermessen werden kann, was Recht ist, mag man dieses Recht über allen Gesetzen nun Naturrecht, göttliches Recht oder Vernunftrecht nennen.« 5 An anderer Stelle heißt es, »Gerechtigkeit fordere, daß ihr widersprechende positive Satzungen als rechtsungültig anzusehen seien«; »Rechtssicherheit [kann nicht] die Gegenforderung stellen […], daß gesetztes Recht trotz seiner Ungerechtigkeit als gültig anerkannt werde«. 6
Nationalsozialistische Rechtsideologie Mit seiner Formulierung »Keineswegs ist Recht alles das, ›was dem Volke nützt‹, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt« wandte sich Radbruch gegen einen zentralen Topos des NS-Regimes, wie er Radbruch 2003b, S. 215 f.; Hervorh. v. mir. Diese Aussage stammt aus dem in Radbruch 2003b nicht abgedruckten ersten Teil des Aufsatzes und wird deshalb aus Hoerster 2003, S. 46, zitiert. 5 Radbruch 1947c, S. 5. Zur Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts nach 1945 vgl. Laage 1989. 6 Radbruch 1959, S. 113 f. 3 4
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Nationalsozialistische Rechtsideologie
von dem im April 1933 zum ›Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz und für die Erneuerung der Rechtsordnung‹ ernannten Hans Frank 1934 in der ›Deutschen Juristenzeitung‹ unter dem Titel ›Die Einwirkung des nationalsozialistischen Ideengutes auf das deutsche Rechtsleben‹ propagiert worden war: »Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was ihm schadet, ist Unrecht.« 7 Damit verbunden war der Anspruch Hitlers, alleiniger Herr über das Recht zu sein. Am 13. Juli 1934 hatte er nach den Morden an SA-Führern erklärt: »Wenn mir jemand entgegenhält, weshalb wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation, und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr.« 8 Hitler »duldete keine rechtliche Fessel. Seine persönliche Vorstellung von Recht ist in einer Rede vor Parteiführern im September 1928 enthalten: ›Es gibt nur ein Recht in der Welt, und dieses Recht liegt in der eigenen Stärke.‹ Diese These wiederholt Hitler in einer geheim gehaltenen Rede am 23. November 1937 vor dem politischen Führernachwuchs auf der ›Ordensburg‹ Sonthofen. ›Es ist nun so, daß das letzte Recht immer in der Macht liegt.‹« 9 Hitlers Mein Kampf hatte die Irrwege vorgezeichnet, die in der Zeit der Agonie der Weimarer Republik und von 1933 bis 1945 Juristen auf Seiten der Sieger gegangen sind. 10 Hitlers Pamphlet 11 war frontal gegen Rechtsstaat, Demokratie und Parlamentarismus, gegen Marxismus und ›internationales Judentum‹ gerichtet und propagierte als Alternative den ›rassisch‹ homogenen ›völkischen‹ Führerstaat: Frank 1935, S. XVI. In: Völkischer Beobachter, 14. Juli 1934. 9 Zit. n. Rüthers 2005 [1968], S. 105. 10 Dreier 2001, S. 16 f., zählt zur Gruppe derer, die sich auf die Seite des NS-Regimes stellten, neben E. Forsthoff C. Schmitt, O. Koellreutter und J. Heckel sowie unter den Jüngeren G. A. Walz, E. R. Huber, Th. Maunz, U. Scheuner, H. Krüger und G. Küchenhoff. Andere wahrten Distanz und wichen »vom stets besonders politischen Staatsrecht auf andere, unverfänglichere Themengebiete aus oder verstummten vernehmbar«; Dreier zählt zu dieser Gruppe »Triepel, Smend, Thoma und vor allem Anschütz« sowie »Bühler, Giese, Laforet und Laun«. Zu Heinrich Triepel vgl. Herrera 2002. 11 1925 erschien der erste Band, im Dezember 1926 der zweite, bis 1945 wurde der Text mehrfach verändert und erweitert; die 851.–855. Auflage erschien 1943; die Gesamtauflage betrug über 10 Mio. Exemplare. Die Behauptung, es habe doch niemand Mein Kampf gelesen, gehört zur Selbstentlastungsstrategie in Deutschland nach 1945: ›Man hat es nicht gewusst‹. 7 8
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»Die Demokratie des heutigen Westens ist der Vorläufer des Marxismus, der ohne sie gar nicht denkbar wäre. Sie gibt erst dieser Weltpest den Nährboden, auf dem sich dann die Seuche auszubreiten vermag. In ihrer äußeren Ausdrucksform, dem Parlamentarismus, schuf sie sich noch eine ›Spottgeburt aus Dreck und Feuer‹, bei der mir nur leider das ›Feuer‹ im Augenblick ausgebrannt zu sein scheint.« 12 Die »grundsätzliche Erkenntnis«, die Hitler hervorhob, bestand darin, »daß der Staat keinen Zweck, sondern ein Mittel darstellt. Er ist wohl die Voraussetzung zur Bildung einer höheren menschlichen Kultur, allein nicht die Ursache derselben. Diese liegt vielmehr ausschließlich im Vorhandensein einer zur Kultur befähigten Rasse. […] Der heutige Staat beispielsweise kann als formaler Mechanismus sehr wohl noch soundso lange Zeit sein Dasein vortäuschen, die rassenmäßige Vergiftung unseres Volkskörpers schafft jedoch einen kulturellen Niedergang, der schon jetzt erschreckend in Erscheinung tritt.« 13 Der Staat sei das »Gefäß« mit »der Rasse als dem Inhalt«. 14 Aufgrund ›rassischen‹ Nebeneinanders fehle »dem deutschen Volk jener sichere Herdeninstinkt, der in der Einheit des Blutes begründet liegt und besonders in gefahrdrohenden Momenten Nationen vor dem Untergang bewahrt, insofern bei solchen Völkern dann alle kleineren inneren Unterschiede sofort zu verschwinden pflegen und dem gemeinsamen Feinde die geschlossene Front einer einheitlichen Herde gegenübertritt. In dem Nebeneinander unserer unvermischt gebliebenen rassischen Grundelemente verschiedenster Art liegt das begründet, was man bei uns mit dem Wort Überindividualismus bezeichnet. In friedlichen Zeitläuften mag er manchmal gute Dienste leisten, alles in allem genommen aber hat er uns um die Weltherrschaft gebracht.« 15 Eine »Weltanschauung«, die »unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben« bestrebt sei, müsse »logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volk sichern. Damit baut sie nicht auf dem Gedanken der Majorität, sondern auf dem der PerHitler 1943, S. 85. Ebd., S. 431. Diese ›grundsätzliche Erkenntnis‹ zitierte E. R. Huber 1937 in seinem Buch Verfassung (S. 66) und 1939 in Verfassungsrecht des Grossdeutschen Reiches (S. 163). 14 Hitler 1943, S. 434; vgl. S. 433–437. 15 Ebd., S. 437. 12 13
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sönlichkeit auf. Wer heute glaubt, daß sich ein völkischer, nationalsozialistischer Staat etwa nur rein mechanisch durch eine bessere Konstruktion seines Wirtschaftslebens von anderen Staaten zu unterscheiden hätte, also durch einen besseren Ausgleich von Reichtum und Armut oder durch mehr Mitbestimmungsrecht breiter Schichten am Wirtschaftsprozeß oder durch gerechtere Entlohnung, durch Beseitigung von zu großen Lohndifferenzen, der ist im Alleräußerlichsten steckengeblieben und hat keine blasse Ahnung von dem, was wir als Weltanschauung zu bezeichnen haben.« 16 Der »Nat.-Soz. Wandel« dürfe »logischerweise nicht einmal bei der Verfassung des Staates haltmachen«, sondern müsse »auch die gesamte übrige Gesetzgebung, ja das allgemeine bürgerliche Leben durchdringen […]. Solch eine Umwälzung kann und wird nur stattfinden durch eine Bewegung, die selbst bereits im Geiste dieser Gedanken aufgebaut ist und somit in sich selbst schon den kommenden Staat trägt.« 17 Wolle man versuchen, »das ideale Bild eines völkischen Staates in die reale Wirklichkeit zu überführen«, dann müsse man, »unabhängig von den bisherigen Mächten des öffentlichen Lebens, nach einer neuen Kraft suchen, die gewillt und fähig ist, den Kampf für ein solches Ideal aufzunehmen. Denn um einen Kampf handelt es sich hierbei, insofern die erste Aufgabe nicht heißt: Schaffung einer völkischen Staatsauffassung, sondern vor allem: Beseitigung der vorhandenen jüdischen.« 18 Diese Ideologie wurde maßgeblich für die Rechtskonzeption im NS-Regime. Unter ›nationalsozialistischem Recht‹ kann verstanden werden: »1. in einem engen Sinne das von der nationalsozialistischen Ideologie besonders geprägte Recht (Rassengesetzgebung, Ehe- und Familienrecht, Erbhofrecht, Arbeitsrecht), 2. alles unter der Herrschaft des Nationalsozialismus neu geschaffene und die ältere Rechtsordnung überlagernde Gesetzes- und Richterrecht, 3. die gesamte zwischen 1933 und 1945 geltende, praktizierte und gelehrte Rechtsordnung«. 19 Charakteristisch für das NS-Recht war »allerdings auch, daß die Veränderungen nur zum Teil solche der Gesetzgebung waren. Der ›Gesetzgeber‹ – eine disparate Addition von parallel arbeitenden Gesetzgebern (Hitler und die Reichskanzlei, Ministerien, Parteikanz16 17 18 19
Ebd., S. 497; vgl. S. 500. Ebd., S. 503. Ebd., S. 504 f. Stolleis 1994, S. 12.
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lei, SS, Sonderbevollmächtigte, Gauleiter) – produzierte zwar eine Fülle von Normen, aber gleichzeitig wurde auch das geltende positive Recht durch millionenfache Einzelentscheidungen von Verwaltung und Justiz im Alltag fortentwickelt. In diesen Entscheidungen setzte sich durch, was Richter und Verwaltungsbeamte für richtig hielten. Daß sie hierbei teilweise ohne Gesetz arbeiteten, teilweise das (stets interpretationsbedürftige) Gesetz weit auslegten, ja das Gesetz ›überholten‹ oder ihm vorauseilten, ist heute in der Forschung längst anerkannt. Ins allgemeine Bewußtsein wurde diese richterliche Aktivität durch das Buch ›Die unbegrenzte Auslegung‹ von Bernd Rüthers (1968) gehoben. Damit war, mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, auch die lange vertretene Verteidigungsthese der Justiz, sie sei wegen des erlernten Rechtspositivismus gewissermaßen Opfer des NS-Gesetzgebers geworden, widerlegt.« 20 Die Morde an Führern der SA wurden durch das ›Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr‹ vom 3. Juli 1934 nachträglich ›legalisiert‹, dessen einziger Artikel lautete »Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens«. Hierzu lieferte Carl Schmitt, der ›Kronjurist des Dritten Reiches‹ 21, die Rechtfertigung der »richterlichen Handlungen des Führers«, der »den Treuebruch seiner Unterführer gesühnt hat«. 22 Unter dem Titel Der Führer schützt das Recht schrieb er: »Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […] Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, […] sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. […] Das Ebd., S. 9. Hermann Heller bezeichnete Carl Schmitt 1934 in seiner Staatslehre als den »einflußreiche[n] Advokat[en] des deutschen Fascismus« (Heller 1983 [1934], S. 234; vgl. S. 19, 315). Die rechtspolitische Auseinandersetzung Hellers mit Schmitt gipfelte bereits 1932 im Prozess vor dem Staatsgerichtshof ›Preußen contra Reich‹ ; durch eine auf Art. 48 Abs. 1 und 2 der Weimarer Reichsverfassung gestützte Not-Verordnung des Reichspräsidenten ›betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen‹ vom 20. Juli 1932 (RGBl. I S. 377) hatte der Reichspräsident v. Hindenburg den Reichskanzler v. Papen zum Reichskommissar für das Land Preußen eingesetzt und das Land unter Reichskontrolle gebracht (›Preußenschlag‹); Heller vertrat die SPD-Landtagsfraktion, Schmitt war einer der Vertreter des Reiches; zu seiner Position vgl. Schmitt 1933, S. 196 f. 22 Schmitt 1940, S. 202. 20 21
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Verfassungsrecht mußte dann […] zur Magna Charta der Hoch- und Landesverräter werden. […] In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. […] Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt.« 23 Die »Tat Adolf Hitlers« war für Schmitt der Beleg dafür, »daß der heutige deutsche Staat die Kraft und den Willen hat, Freund und Feind zu unterscheiden«. Die Zeit, »wie damals im Jahre 1919 nieder[zu]fallen und unsere politische Existenz den Götzen des Liberalismus [zu] opfern«, war für ihn vorbei. 24 Der 1933 der NSDAP beigetretene Nationalsozialist Carl Schmitt hatte schon am 20. Juni 1933 in seiner unter dem Titel ›Reich – Staat – Bund‹ gehaltenen Kölner Antrittsvorlesung 25 den »unter der Ebd., S. 200 f. Ebd., S. 203. So auch Koellreutter 1938, S. 19, zum ›nationalsozialistischen Rechtsstaat‹ : »Die Weltanschauung des Nationalsozialismus stellt sich in bewussten Gegensatz zu der Auffassung des Individualismus und ist in diesem Sinne bewusst ›antiliberal‹.« »Der Nationalsozialismus hat die Formen des ideenmässig erstarrten liberalen Rechtsstaates zerstört. Der Individualismus, an dem sich die Staats- und Rechtsidee des liberalen Rechtsstaates orientierte, war schon im Erleben des Weltkrieges geistig überwunden worden« (ebd., S. 40). Seinen antiliberalistischen Affekt hatte Schmitt schon 1925 gegenüber R. Smend zum Ausdruck gebracht: »Gott behüte uns vor der Restauration des Liberalismus, die im Anzug ist, und deren, in den Schafspelz des Pluralismus gekleideter Prophet Laski zu werden scheint! Wie wird Kelsen gackern, um seine Identität mit ihm zu beweisen!« (C. Schmitt an R. Smend, 14. September 1925. In: Mehring 2010, S. 49). Kaufmann 1983, S. 6, hat betont, es habe Fragen gegeben, »bei denen die Rechtsphilosophen in der Tat fast mit einer Stimme sprachen. Dazu gehört ganz obenan die Ablehnung des Liberalismus, die in einer Weise erfolgte, daß es geradezu nach einer Pflichtübung aussah. Zu unzähligen Malen wurde dem Liberalismus das ›Versagen‹ bescheinigt – so z. B. Otto Koellreutter –, wurde er für ›erledigt‹ erklärt – so Ernst Forsthoff –, wurde ihm ›Staatsfremdheit‹ attestiert – so Heinrich Herrfahrdt –, wurde vor einem ›Rückfall in die Ideologie des liberalen Rechtszeitalters‹ gewarnt – so Erik Wolf –, nicht zu vergessen natürlich, daß Carl Schmitt schon lange zuvor dem ›liberalen‹ juristischen Normativismus den Kampf angesagt hatte.« 25 Carl Schmitt wurde 1933 an der Universität Köln der Nachfolger des ihm verhassten Hans Kelsen, der für ihn zeitlebens der Gegner war: »Ich bin schon wieder vitalen Genüssen zugänglich, so dem Vergnügen über die naive Dummheit, mit der Kelsen in den jüngst erschienenen ›Philosophischen Grundlagen (!) der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus‹ besonders im 2. Teil seine intellektuelle, moralische und kulturelle Powerteh entwickelt und aus der Dunstwolke von Methodologie und Betriebsamkeit als kleiner Moritz süß lächelnd hervortritt« (C. Schmitt an R. Smend, 1. August 1928. In: Mehring 2010, S. 73). Noch in seinem Glossarium-Eintrag vom 23 24
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politischen Führung Adolf Hitlers entstandene[n] neue[n] Staat der nationalen Revolution« 26 gefeiert: Die »große politische Gefahr [des] Föderalismus« sei behoben und der »Länderparlamentarismus, die schlimme Wurzel des Parteienbundesstaates […], abgeschafft«. Diese »Lösung des großen Problems des alten Gegensatzes von Reich, Staat und Bund« sei kein »bloßer glücklicher Handstreich […], sondern eine wohldurchdachte konstruktive Lösung, die nur im engsten Zusammenhang mit der Gesamtkonstruktion der neuen Einheit besteht. Diese ruht auf drei Säulen: dem staatlichen Behördenapparat, der staatstragenden Parteiorganisation und einer ständischen Sozialordnung.« 27 Die mit dem Machtantritt Hitlers und der NSDAP entstandene Lage begrüßte Schmitt mit den Worten: »Politische Verantwortung und politische Ehrlichkeit sind jetzt wieder möglich, nachdem sie im System des liberalen Verfassungsstaates sinnlos und unmöglich geworden waren.« 28 Diese Rede war kein Ausdruck von Opportunismus, sondern des seit den 1920er Jahren entwickelten, gegen die ›Begriffsjurisprudenz‹ gerichteten Staats- und Verfassungsdenkens, das sich der Bedeutung der Begriffe als »Ausdruck scharf und und präzis herausgearbeiteter Gegensätze und Freund-Feind-Konstellationen« bewusst war. 29 Das Freund-Feind-Theorem hatte Konsequenzen für die immer offener nationalsozialistische Bestimmung des Rechts 30 im Staat. Das Recht solle zwar nicht dazu dienen, »den Gegner zu disqualifizieren oder zu demoralisieren«; strukturell habe es – »sei es das private, sei es das öffentliche Recht« – »als solches – am sichersten im Schatten einer großen politischen Dezision, also z. B. im Rahmen eines stabilen Staatswesens – seinen eigenen relativ selbständigen Kreis«. Aber funktional gesehen könne es »wie jede Sphäre menschlichen Lebens und Denkens, sei es zur Unterstützung, sei es zur Widerlegung einer anderen Sphäre verwertet werden«. »Vom Standpunkt des politischen Denkens«, betonte Schmitt, sei es »selbstverständlich und we11. 6. 1948 ist der vom NS-Regime exilierte Kelsen für ihn einer der »Vernichter, Ausrotter, Ausradierer und Zertreter«, und er erinnert ihn an die »kleinen Gehilfen in den Höllen des Hieronymus Bosch« (Schmitt 1991, S. 161 f.). Zur Auseinandersetzung zwischen Kelsen und Schmitt vgl. van Ooyen 2003, S. 161–192. 26 Schmitt 1933, S. 197. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 197 f. 29 Ebd., S. 191. 30 Vgl. hierzu auch Schmitt 1934d.
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der rechtswidrig noch unmoralisch, auf den politischen Sinn solcher Verwertungen von Recht oder Moral zu achten und insbesondere gegenüber der Redewendung von der ›Herrschaft‹ oder gar der Souveränität ›des‹ Rechts immer einige nähere Fragen zu stellen: erstens, ob ›Recht‹ hier die bestehenden positiven Gesetze und Gesetzgebungsmethoden bezeichnet, die weiter gelten sollen; dann bedeutet die ›Herrschaft des Rechts‹ nämlich nichts anderes als die Legitimierung eines bestimmten status quo, an dessen Aufrechterhaltung selbstverständlich alle ein Interesse haben, deren politische Macht oder ökonomischer Vorteil sich in diesem Recht stabilisiert.« 31 Die »Berufung auf das Recht« könne zweitens »bedeuten, daß ein höheres oder richtigeres Recht, ein sogenanntes Natur- oder Vernunft-Recht dem Recht des status quo entgegengesetzt wird; dann ist es für einen Politiker selbstverständlich, daß die ›Herrschaft‹ oder ›Souveränität‹ dieser Art Recht die Herrschaft und Souveränität der Menschen bedeutet, die sich auf das höhere Recht berufen können und darüber entscheiden, was sein Inhalt ist und wie und von wem es angewandt werden soll.« In Schmitts Sicht hatte »Hobbes diese einfachen Konsequenzen politischen Denkens mit großer Unbeirrtheit gezogen und immer wieder betont, daß die Souveränität des Rechts nur die Souveränität der Menschen bedeutet, welche die Rechtsnormen setzen und handhaben, daß die Herrschaft einer ›höheren Ordnung‹ eine leere Phrase ist, wenn sie nicht den politischen Sinn hat, daß bestimmte Menschen auf Grund dieser höheren Ordnung über Menschen einer ›niederen Ordnung‹ herrschen wollen.« Der »Betrachter politischer Phänomene kann, wenn er konsequent bei seinem politischen Denken bleibt, auch in dem Vorwurf der Immoralität und des Zynismus immer wieder nur ein politisches Mittel konkret kämpfender Menschen erkennen«. 32 Schmitts Fazit, das 1933 in letzter Konsequenz zur Legitimierung nationalsozialistischen Unrechts geführt hat, lautet: »Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich also theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird.« 33
31 32 33
Ebd., S. 66. Ebd., S. 66 f. Ebd., S. 67.
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Schmitt war kein Mitläufer, sondern ein aktiver antisemitischer Ideologe des NS-Regimes. Es war allzu deutlich, dass ›der Jude‹ für ihn der ›Feind‹ war. Dabei mag der Eindruck persönlichen Misserfolgs eine Rolle gespielt haben: In einem Brief an R. Smend 34 schrieb er 1925: »Ich fühle mich in meinem Beruf isoliert, für einen in allen seinen Instinkten orthodoxen Menschen ist das ein schlimmer Zustand. Dazu das ästhetische Ekelgefühl vor der triumphierenden Demokrasserie, die lächerliche Situation, daß Wittmayer, Stier-Somlo, Mendelssohn Bartholdy und Nawiasky – 4 Juden gegen einen Christen – in sämtlichen Zeitschriften über mich herfallen, und niemand merkt, um was es sich handelt.« 35 Schmitt notierte am 30. 10. 1925 in seinem Tagebuch: »Fakultätssitzung, furchtbar aufgeregt wegen der Berufung von Mendelssohn Bartholdy, sah die Gemeinschaft der Juden«. Er nannte Mendelssohn Bartholdy später »einen ›widerlichen, feigen, dilettantischen Juden‹« 36. Ein Ausdruck seiner Einstellung während der NS-Zeit war die im Oktober 1936 unter seiner Leitung durchgeführte Tagung ›Das Judentum in der Rechtswissenschaft‹ 37, bei der er sich zu Hitlers Mein Kampf bekannte und dazu aufforderte, jüdische Autoren in der juristischen Literatur nicht mehr zu zitieren oder zumindest als Juden zu kennzeichnen: »Was der Führer über die jüdische Dialektik gesagt hat, müssen wir uns selbst und unseren Studenten immer wieder einprägen, um der großen Gefahr immer neuer Tarnungen und Zerredungen zu entgehen. Mit einem nur gefühlsmäßigen Antisemitismus ist es nicht getan; es bedarf einer erkenntnismäßig begründeten Sicherheit. […] Wir müssen den deutschen Geist von allen Fälschungen befreien, Fälschungen des Begriffes Geist, die es ermöglicht haben, dass jüdische Emigranten den großartigen Kampf des Gauleiters Julius Streicher als etwas ›Ungeistiges‹ bezeichnen konnten.« 38 Zu R. Smend als Antipoden Hans Kelsens in der staatstheoretischen Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre vgl. Malowitz 2011. 35 C. Schmitt an R. Smend, 21. Mai 1925. In: Mehring 2010, S. 44. 36 Ebd. 37 Vgl. hierzu Busse 2000. 38 Das Judentum in der deutschen Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer im NSRB am 3. und 4. 10. 1936, H. 1, Berlin 1936, S. 29 f. Schmitt sprach hier u. a. von der »Wiener Schule des Juden Kelsen« (ebd., S. 30). Streicher war von 1925–1940 NSDAP-Gauleiter für Mittelfranken. Er hatte 1923 die Zeitung ›Der Stürmer‹ gegründet. Nach 1933 erreichte das auch in öffentlichen Schaukästen ausgehängte Hetzblatt, mit dem in einer Mischung aus sexuellen Obsessionen und Warnungen vor einer ›jüdisch-bolschewis34
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Der Verlust der Fähigkeit oder des Willens, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, hatte auch Folgen für die juristische Methodenlehre: In ›Nationalsozialismus und Rechtsstaat‹ schrieb Schmitt 1934: »Das gesamte heutige deutsche Recht, einschließlich der weitergeltenden, positiv nicht aufgehobenen Bestimmungen muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein. […] Jede Auslegung muß eine Auslegung im nationalsozialistischen Sinne sein.« 39 Damit war die von Rechtspositivisten wie Hans Kelsen geforderte strikte Bindung der Richter an das Gesetz 40 hinfällig. Es begann die Zeit der ›unbegrenzten Auslegung‹ 41, die sich im Wesentlichen auf ideologische Generalklauseln 42 stützen konnte. »In der Zeit des Nationalsozialismus […]«, bilanziert Horst Dreier, »wurde jede Art eines als verengend und nicht-völkisch verunglimpften Positivismus von den herrschenden Machthabern wie von den systemkonformen Juristen zugunsten sehr viel offenerer, auf jeden Fall nicht-positivistischer Konzepte verdammt. Die beschämendsten Rechtsakte waren denn auch nicht solche, die sich einer buchstabengetreuen Umsetzung des wie auch immer inhaltlich geprägten positiven Gesetzesrechts, sondern der Uminterpretation des oft unverändert weitergeltenden Rechts im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie verdankten.« 43 Ernst Fraenkels 1938 verfasster Analyse des NS-Staates als tischen Weltverschwörung‹, mit Skandalgeschichten über ›Rassenschande‹ zwischen jüdischen Männern und ›arischen‹ Frauen, ein aggressiver Antisemistismus propagiert wurde, Auflagen von bis zu 500.000 Exemplaren. Bei den Nürnberger Prozessen wurde Streicher wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. 39 Schmitt 1934, 5.717. Koellreutter schrieb 1934: »Es ist selbstverständlich, daß für die Auslegung der nationalsozialistischen Gesetzgebung die politische Weltanschauung des Nationalsozialismus allein maßgebend sein kann.« Freisler forderte 1936 »die Durchdringung der Berufsarbeit des fertigen Rechtswahrers mit nationalsozialistischer Grundanschauung«, um »das Nebeneinander der weltanschaulichen Betrachtung und der juristischen Wertung« zu vermeiden (zit. n. Koch 1985, S. 24). 40 Vgl. hierzu systematisch Rüßmann 1990 und in diesem Buch S. 131–141. 41 Vgl. Rüthers 2005. Vgl. auch ders. 1988. 42 Hierzu gehörte z. B. die Einführung der Generalklausel ›gesundes Volksempfinden‹ in § 2 StGB: »Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.« 43 Dreier 2008, S. 136 ff.
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›Doppelstaat‹ zufolge ersetzte das NS-Regime den ›Normenstaat‹ durch den ›Maßnahmenstaat‹ : »Unter ›Maßnahmenstaat‹ verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter ›Normenstaat‹ verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.« 44 Kennzeichen des Maßnahmenstaates seien »die Konterkarierung des Normenstaates durch offene Illegalität […], die (Selbst)Restriktion durch Zurücknahme (gerichtlicher) Kontroll- und Überprüfungsmöglichkeiten […], schließlich die Inkorporation der Gerichte in den Maßnahmenstaat«. 45 Im NS-Regime wich das »machtlose Recht […] der rechtlosen Macht, die faktische Maßnahme siegt[e] über die vorgängige rechtliche Entscheidung«. 46 Dreier bilanziert: »Die Gerichte wirk[t]en hier als Organ und Instanz des Maßnahmenstaates. An die Stelle des (möglichen oder faktisch verunmöglichten) Rechtsschutzes [trat] die aktive Beförderung der Logik des NS-Systems.« 47 Roland Freisler, der spätere Präsident des ›Volksgerichtshofs‹, schrieb 1938 in seinem Buch Nationalsozialistisches Recht und Rechtsdenken: »Wir sind eben aus der Zeit des Positivismus heraus, in der man meinte, im Gesetz sei die Lebensordnung vollständig ausgesprochen«. 48 Und weiter: »Die Eigenart des Rechtsdenkens des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, seine zu Formalismus und Positivismus drängende, also entwicklungsfeindliche Wesensart, die Fraenkel 2012, S. 49. Zit. n. Dreier 2012, S. 281. Die Ohnmacht der Jurisprudenz im Maßnahmenstaat hat Fraenkel im Rückblick 1961 sowohl den Rechtspositivisten als auch den Naturrechtsvertretern angelastet: »Es lassen sich für den Rechtspositivismus zahlreiche logische Argumente anführen, die nur schwer zu widerlegen sind. Und doch leidet der Rechtspositivismus an einem Mangel. Wenn die Anwendung der Gesetze nicht nur in Ausnahmefällen, sondern immer wieder und wieder mit dem in Widerspruch gerät, was unser Gewissen, unser instinktives Rechtsgefühl als recht und billig ansieht, dann […] tritt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Gesetzgeber und dem Gesetzesunterworfenen in Erscheinung, das sich auf die Dauer als untragbar erweist. […] Die starren Rechtspositivisten, die dem Naturrecht jegliche Bedeutung absprechen, und die unkritischen Naturrechtler, die glauben, das positive Recht mit einer großen Handbewegung beiseite schieben zu können, machen es sich beide Male zu leicht« (Fraenkel 1961, S. 3 f.). 45 Dreier 2012, S. 282. 46 Ebd., S. 284. 47 Ebd., S. 294. 48 Freisler 1938, S. 84 44
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Schwierigkeiten, in denen sich Rechtslehrer und Rechtsprechung befanden, führen zu einer weitgehenden Entfremdung vom Volk«. 49 Nationalsozialistische Funktionäre konnten sich mit dieser Einstellung in den 1930 und 1940er Jahren in Übereinstimmung mit Rechtstheoretikern wissen: »So schreibt Larenz: ›Die Erneuerung des deutschen Rechtsdenkens ist ohne eine radikale Abkehr vom Positivismus und Individualismus nicht denkbar.‹ Und Lange feiert die Lösung aus den ›Fesseln des Gesetzespositivismus‹, der zu einem ›Verzicht auf schöpferische Umgestaltung im Rechtsleben‹ führe und ›die Verantwortungsfreudigkeit des Richters durch eine zu starre Auffassung seiner Bindung an das Gesetz‹ lähme«. 50 In einem unter dem Titel Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat veröffentlichten Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Erneuerung des bürgerlichen Rechts in Breslau hat H. Lange 1934 behauptet: »Der leere Positivismus begnügte sich mit der formellen Rechtskraft des Gesetzes, er kümmerte sich nicht um das Recht.« 51 Demgegenüber könne sich der Nationalsozialismus »nicht wie der Gesetzespositivismus mit der formellen Rechtskraft des Gesetzes begnügen, mit der ›Faktizität des Normativen‹. Das Gesetz ist für ihn nicht mehr Selbstwert; wie der Staat nur eine Form des Volkes ist, so ist das Gesetz nur eine solche des Rechts. Der Nationalsozialismus hat so die Technik des Gesetzesdenkens zur Ethik des Rechtsempfindens emporgeführt; er hat gegen den hohlen Positivismus dem höheren Wert des Rechts, der um Anerkennung und Gleichberechtigung rang, zum Siege verholfen.« 52 W. Schönfeld sah sich als »Vorkämpfer gegen den Positivismus«, den er als »Drachen« und »Schlange« denunzierte. In einer juristischen Dissertation hieß es 1935: Der Nationalsozialismus »erlöst uns von dem nüchternen Rechtspositivismus Kelsens«. 53 Kelsen wurde nicht nur für nationalsozialistische Rechtstheoretiker zu dem Gegner, und dies nicht erst nach 1933. 54 R. Smend bescheinigte Kelsens Staatslehre schon 1928, sie verfolge das Ziel, »geistige Wirklichkeit möglichst weitgehend in Fiktion, Illusion, Ver-
Ebd., S. 43. Ott 2008, S. 1090. 51 Lange 1934, S. 3. 52 Ebd., S. 20 f. 53 Zit. n. Wittreck 2008, S. 2. 54 Insgesamt zu Kelsens Kritikern vgl. Korb 2010. Zur nationalsozialistischen Kritik an Kelsen vgl. Englard 1999. 49 50
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schleierung und Betrug aufzulösen«. 55 O. Koellreutter beklagte 1929, Kelsen habe »weder ein Verhältnis zur Nation noch zum Staate«. 56 E. v. Hippel bezeichnete 1931 Kelsens Methode als »undeutsch«, »intellektuell, substanzlos, ja destruktiv«. 57 Für C. Schmitt gehörte er 1931 zu den »Zeloten eines blinden Normativismus«. 58 K. Larenz kritisierte 1935 Kelsens »auf die Spitze getriebenen juristischen Nominalismus, der jede sittlich-geistige Substanz des Rechts und des Staates leugnet und mit seinem rücksichtslosen Formalismus alle tieferen Bindungen des Einzelnen an überpersönliche Werte zerstört, die Gemeinschaft auflöst«. 59 Die Reine Rechtslehre sei – so der Jurist C. H. Ule 60 1940 – die »Ausgeburt eines fremdrassigen, wurzellosen Intellektualismus«. 61 O. Koellreutter, einer der führenden Staatsrechtslehrer des ›Dritten Reiches‹, schrieb 1938: »Wenn sich der Nationalsozialismus gerade auf dem Gebiete des Rechts gegen den Positivismus wendet, so ist das ein Ausdruck seiner allgemeinen weltanschaulichen Haltung.« Der Rechtspositivismus sei »nur der Ausdruck einer allgemeinen geistigen Haltung gewesen ist. Auch er wollte die bloße Rechtstechnik zum Selbstzweck machen, und auch er sah in der dogmatischen Ausgestaltung das eigentliche Wesen rechtlicher Gestaltung. Das erklärte sich daraus, dass das individualistische Denken eine im Gemeinschaftsleben wurzelnde Staats- und Rechtsidee folgerichtig gar nicht kennen konnte.« 62 Die Macht bilde »eine notwendige Grundlage der Beziehungen von Staat und Recht. Ein ›reines‹ Recht gibt es nicht. Die ›reine‹ Rechtslehre, die den Staat seines politischen Wesens berauben und Staat mit positiver Rechtsordnung gleichsetzen wollte, verzichtete auf die Erkenntnis jeder Staats- und Rechtsidee und kennzeichnet sich als der Ausdruck eines radikalen, liberalen Individualismus, für den jede politische Gemeinschaftsbildung Ausdruck bloßer Smend 1968 [1928], S. 204. Koellreutter 1929, S. 140. 57 V. Hippel 1931, S. 1175. 58 Schmitt 1931, S. 30. Dieser und die beiden folgenden Belege sind zit. n. der Einleitung von M. Jestaedt in Kelsen 2008. Zur Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Kelsen vgl. die Beiträge in Diner/Stolleis 1999. 59 Larenz 1935, S. 49 f. 60 1950 Senatspräsident am OVG Lüneburg, 1951 Honorarprofessor in Göttingen, von 1955 bis 1972 Prof. für Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. 61 Ule 1940, S. 201. 62 Koellreutter 1938, S. 25 f. 55 56
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Nationalsozialistische Rechtsideologie
Gewalt und damit eines bösen Prinzips ist. Der Hauptvertreter der ›reinen‹ Rechtslehre ist der Jude Hans Kelsen.« 63 Der nationalsozialistische Staat sei »ein Rechtsstaat, weil in ihm die Rechtsidee aufs engste mit der Staatsidee verbunden ist, denn beide führen sich auf dieselbe Quelle, nämlich auf die Volksgemeinschaft zurück. Der in der Staatsidee zum Ausdruck kommende politische Wert und der in der Rechtsidee zum Ausdruck kommende Rechtswert gehen im völkischen Staate, für den das Volk die entscheidende politische Größe ist, eine unlösliche Verbindung ein. Staat und Recht sind völkische Lebensmächte. Das Volk als politische Größe gibt seinem eigensten Wesen in der Staats- und Rechtsgestaltung Ausdruck. Sinn und Wesen des Rechtsstaats ergeben sich aus diesem Zusammenklang von Staat und Recht und der Orientierung dieser Lebensmächte am Volke.« 64 In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass Carl Schmitt versucht hat, sich in einem autobiografischen Gespräch im Nachhinein zum ›Positivisten‹ zu stilisieren, und zwar aus dem einzigen Grund, die Legalität des NS-Ermächtigungsgesetzes 65 und des NS-Regimes zu behaupten: »Der Februar, Reichstagsbrand, und [es] kam also das Ermächtigungsgesetz, nun, vom 24. März. Damit begann natürlich für mich als Juristen ’ne völlig neue Situation als Positivist. Möchte gerne wissen, was Kelsen, der ja überzeugter Positivist ist, was der gemacht hätte. Ich weiß es genau. Er hat sich ja sogar geäußert immer früher. Hat immer betont, in dem Augenblick wo diese, ich möchte sagen, wo dieser Würfel gefallen ist, gibt es für einen positivistischen Juristen, das heißt für einen wissenschaftlichen (das war für ihn identisch) Juristen überhaupt keine Frage. Da kann er weggehen. Aber dass das, was dann geschieht, Recht ist im Sinne dessen, womit der Jurist sich zu beschäftigen hat wie der Mathematiker mit seinen Zahlen, darüber ist gar nicht zu diskutieren, sonst gibt’s keine Rechtswissenschaften. […] Nun bin ich kein Positivist im Sinne von Kelsen. Aber es gibt andererseits [schmunzelt] auch kein anderes als positives Recht. Da sehen Sie mal, diese Frage ist nicht so schnell zu beantworten. Und die steckt hinter der Frage der Legalität der Machtergreifung. Und das hängt alles mit diesem unheimlichen Problem des poEbd., S. 12. Ebd., S. 6. Vgl. hierzu M. Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus. In: ders. 1994, S. 94–125. 65 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. 3. 1933, RGBl I, 141. 63 64
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2 · Gustav Radbruch
litischen Mehrwertes, wenn ich mal so sagen darf, der rein formallegalen Macht und des Machtbesitzes zusammen.« 66 Dass diese ›Legalität‹ mit ›Inkorrektheiten‹ belastet war, hat Schmitt nicht berührt: »Oder ist legal legal, denn da sind kleine Ungenauig … Inkorrektheiten vorgekommen, auch beim Ermächtigungsgesetz. Die Legalität in dem Sinne der effektiven Durchsetzung und Durchsetzbarkeit dessen, was dieses Regime macht, das heißt, indem sich in summa, pauschal und global alles fügt: Die Steuerzahler zahlen weiter ihr Geld, die Eisenbahnen laufen weiter, die Polizei funktioniert weiter, die Armee weiß, wem sie zu gehorchen hat etc. Die Legalität in diesem Sinne ist unbestreitbar; nun, wenn man sich auf diesen positiven, positivistischen Standpunkt stellt.« 67 Dieser ›Positivismus‹ passte sehr gut zu Schmitts nationalsozialistischer Kritik am Rechtspositivismus: »Die heranwachsenden Generationen – dessen können alle Jahrgänge der deutschen Juristen gewiß sein – werden durch eine andere Schule gehen als die eines abstrakten Normativismus.« Schmitt drohend: »[W]enn ein Teil der deutschen Juristen das nicht versteht, auch als rechtswissenschaftliches Problem nicht versteht, wird es ihm nichts nützen, sich auf die zusammenschmelzende Eisscholle eines krampfhaften Normativismus und Positivismus alter Art zurückzuziehen. Er wird untersinken im Strom der Geschichte.« Schmitt triumphierend: »Je mehr sich die alte abstrakte Gesetzes-Jurisprudenz selbst ad absurdum führt, mag sie sich nun positivistisch oder rein wissenschaftlich gebärden, um so freier wird unsere neue Ordnung wachsen.« 68
66 67 68
Hertweck/Kisoudis 2010, S. 91 f. Ebd., S. 95 f. Zit. n. Rüthers 1988, S. 62 f.
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Kapitel 3 Eine Gründungslegende – Positivismuskritik und Naturrechtsrenaissance
Die nationalsozialistische Unrechtsordnung hatte eine ihrer ideologischen Quellen in einem strikten Antipositivismus. 1 Dass dies nach 1945 verdrängt wurde, gehört zu den Paradoxien der vermeintlichen Stunde Null. Der Antipositivismus wurde zum Gründungsmythos, zur Gründungslegende der westdeutschen Republik, 2 nicht zuletzt der Rechtstheorie. »Die Opfer der Diktatur ernteten mit ihrer erfolg-
Ott 2008, S. 1090: »Der Justizapparat wurde von seinen liberalen Mitgliedern gesäubert, und die heranwachsenden Richter erzog man zu einem streng obrigkeitsstaatlichen Denken. Dadurch waren sie monarchistisch geprägt und gegen die Weimarer Republik eingestellt. […] Das nationalsozialistische Rechtsdenken war denn auch anti-demokratisch, anti-liberalistisch und anti-positivistisch. Auch sei hingewiesen auf die bei den Nationalsozialisten beliebte Verfahrensweise, in ihre Gesetze zahlreiche Generalklauseln einzufügen wie das berüchtigte ›gesunde Volksempfinden‹ in § 2 Satz 1 des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 28. Juni 1935 (Reichsgesetzblatt 1935 I, 839).« 2 Zur Auseinandersetzung mit der Positivismuslegende als Gründungsmythos vgl. Reifner 1983; Rottleuthner 1987; Walther 1988; Dreier 1991; Füßer 1992; Wittreck 2008; Kramer 2008; Maschke 2012. Im Gegensatz zu diesen Autoren hierzu übernimmt in der englischsprachigen Literatur K. Yang die Legende: »[I]t is hard to deny that legal positivism, in its strict insistence on the division of law and morality, permitted the legal profession to rationalise to themselves and others their interpretation and application of laws that they might have, upon reflection, considered to be grotesque. Sufficed to say, while legal positivism may not have been the sole cause in the German legal profession’s lack of resistance, it nonetheless is a relevant one. In insisting on the validity of law independent of its moral content, or indeed to a higher order, positivism held that it was not for legal scholars to be concerned with right and wrong or good and bad, but merely to clarify, conceptualize and explain the authoritative legal precepts. Arguably, this ›unwillingness to enquire into the morality of law by judges, lawyers and legal scholars led to an easy capture of the legal system by the Nazis and facilitated its modification to meet evil Nazi goals‹« (Yang 2012, S. 250 f.). »The Nazi’s cruelty, upon donning the vestures of statutes, rendered German justice helpless. Legal positivism not only offered no theoretical legal resource for the German legal profession to resist Nazi arbitrariness, it may have assisted in legitimizing Nazi rule« (ebd., S. 257). 1
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3 · Eine Gründungslegende
reichen Verbreitung Schuldvorwürfe, während die Legitimationsbeschaffer des NS-Regimes an ihren materialen, substanzhaften Positionen und ihrer Verurteilung des Rechtspositivismus strukturell festhielten oder sich zu Naturrechtsaposteln wandelten. Die Positivismuslegende ist eine überaus erfolgreiche Desinformationskampagne, die aus den Opfern Täter und aus den Tätern Opfer machte.« 3 Dies war nicht zuletzt bei exkulpierenden Urteilen in Prozessen nach 1945 zu beobachten, in denen Richter – zumal Richter an Sondergerichten 4 – nicht zur Verantwortung gezogen wurden: Der »Mythos von der Ursächlichkeit des Rechtspositivismus mit seinem angeblichen Verbot, ein noch so problematisches Gesetz auf seine Übereinstimmung mit übergeordneten Gerechtigkeitsvorstellungen zu überprüfen, ist nicht haltbar. Von einer bedingungslosen Anerkennung der vom staatlichen Gesetzgeber erlassenen Normen konnte schon in der Justizpraxis der Zeit der Weimarer Republik nicht die Rede sein. Noch weniger lässt sich das tatsächliche Verhalten der Richter im Dritten Reich mit einer positivistischen Verbildung vereinbaren. Wie […] Todesurteile und eine Fülle anderer Gerichtsentscheidungen der Jahre 1933–1945 zeigen, sind die Gerichte oftmals geradezu ›einhundertfünfzigprozentig‹ über die nationalsozialistische Gesetzeslage hinausgegangen.« 5 »Die bei den Nationalsozialisten beliebte Technik, in ihre Gesetze massenhaft Generalklauseln einzufügen (z. B. das berüchtigte ›gesunde Volksempfinden‹ in § 2 Satz 1 des StGB in der Fassung vom 28. 6. 1935, wodurch eine beliebige Ausdehnung der Strafbarkeit erreicht wurde, die offene Außerkraftsetzung des Grundsatzes von ›nulla poena sine lege‹ (StGB § 2 Satz 2 in der Fassung vom 28. 6. 1935), die zahllosen Eingriffe in Strafverfahren gegen SS- und SA-Leute, die Massentötungen von Patienten in Heilund Pflegeanstalten auf Grund des geheimen Euthanasiebefehls vom 1. 9. 1939 des Führers – dies alles hätte man gerade unter gesetzesDreier 2008, S. 138. »Für die Umsetzung der Positivismuslegende in die Gerichtspraxis mit dem Ziel einer möglichst hohen Freispruchquote sorgte nicht zuletzt der Aufsatz eines zeitweise bei der Staatsanwaltschaft Dortmund mit Rechtsbeugungsverfahren befassten Staatsanwalts. Er vertrat den Standpunkt, dass ein staatliches Gesetz niemals dadurch seine bindende Kraft verliere, dass es etwas für Recht erkläre, was vom Standpunkt der Ethik nicht Recht sein dürfe« (Kramer 2007, S. 169). Kramer bezieht sich auf: Siegfried Schlösser, Strafrechtliche Verantwortlichkeit ehemaliger Richter am Sondergericht, NJW 1960, S. 943 ff. 5 Kramer 2007, S. 169. 3 4
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positivistischen Gesichtspunkten auf das entschiedenste zurückweisen können!« 6 Zu fragen ist – so U. Reifner –, »ob die Positivismusschuldthese insgesamt nicht mehr Erkenntnis verhindert als sie an Realität der damaligen Zeit erklärt«: »Bereits die Einordnung des Gesetzespositivismus als wissenschaftlicher Position als Wegbereiter des NS-Systems ist kaum haltbar. Die glühendsten Verfechter des neuen autoritären Staates im öffentlichen Recht, Carl Schmitt, Ernst Forsthoff, Theodor Maunz u. a., kamen aus Schulen, die den Positivismus ablehnten, während die hervorragendsten Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus wie Gerhard Anschütz, Richard Thoma und Hans Kelsen deutliche Distanz zum NS-Regime zeigten. […] Von einer Vorherrschaft des Positivismus in der Weimarer Zeit kann daher weder in der Wissenschaft noch in der Praxis gesprochen werden.« 7 Es ist »Merkwürdiges zu berichten, geradezu Paradoxes: Als die Juristen, und zwar nicht nur die aus der NS-Zeit belasteten, nach 1945 nach einer Erklärung für die vielen Todes- und anderen Unrechtsurteile suchten, bezogen sie sich auf eben jene anfangs erwähnte laienhafte Vorstellung von der Arbeitsweise des Juristen, wonach der Richter die Entscheidung allein im Gesetz findet, ohne eigene Wertung und Gestaltung. Anders als sie damals judiziert hatten, hätten die Richter nur entscheiden können, wenn sie dem Gesetz offen den Gehorsam verweigert hätten. […] Ursächlich gewesen sei allein der Gesetzespositivismus. […] Den damaligen Juristen sei von ihrer ›positivistischen‹ Ausbildung her eine Überprüfung des Gerechtigkeitsgehalts von Gesetzen aber unmöglich gewesen.« 8 Die Wirksamkeit der antipositivistischen Legende in der Rechtswissenschaft ist nichts, worüber man sich wundern müsste: »Jede wissenschaftliche Disziplin verfügt über einen Gründungsmythos: eine große Erzählung über ihren historischen Ort, ihre Genese und insbesondere ihre Gegner. […] Die Gründungserzählung der bundesdeutschen Rechtsphilosophie stammt von dem Heidelberger Rechtslehrer Gustav Radbruch. […] [Sein] vernichtende[s] Urteil über den Rechtspositivismus […] leitet nun – so das zweite Kapitel der GrünOtt 1976, S. 188 f. Für die Außerkraftsetzung des Rückwirkungsverbots plädierte z. B. Schmitt 1934b, S. 226; er wandte sich gegen den »gradezu fetischistischen Fanatismus«, mit dem das »normativistische Dogma des Satzes ›nulla poena sine lege‹ von manchen Juristen vertreten worden ist«. 7 Reifner 1983. 8 Kramer 2008, S. 143. 6
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dungserzählung – eine Gegenbewegung der Rückbesinnung auf das Naturrecht ein. […] Die vielzitierte Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit, also die bis in die sechziger Jahre andauernde prominente Stellung namentlich des neuscholastischen Naturrechts katholischer Prägung, ist in dieser Perspektive die unmittelbare Reaktion auf die Erfahrung des NS-Unrechtsregimes. Dieses wiederum wird auf das Schuldkonto des Rechtspositivismus gebucht. […] Der […] Vorwurf firmiert heute aus guten Gründen als ›Positivismuslegende‹ und darf als wissenschaftlich widerlegt gelten.« 9 Radbruch hat 1946 geschrieben: »Der Positivismus hat […] mit seiner Überzeugung ›Gesetz ist Gesetz‹ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.« 10 Unter »dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und Wittreck 2008, S. 1 ff. Radbruch 2003, S. 215. »›Positivismus‹ zählt eindeutig zu den Negativ-Formeln der Nationalsozialisten. Sollte dann etwa die anti-positivistische Propaganda der Nazis die angeblichen Juristen-Positivisten wehrlos gemacht haben? Um die Radbruch-These überhaupt sinnvoll interpretieren zu können, muß man sich wiederum auf die Ebene von Einstellungen und Verhaltensweisen begeben. Hier ist ja auch die Teil-These von der ›Wehrlosigkeit‹ der Juristen korrekt plaziert. Mit ihr könnte einmal gemeint sein, daß die Juristen über keine Kriterien verfügten, um zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können (alles was der Gesetzgeber formell korrekt erlassen hatte, war anzuwenden); es könnte aber auch bedeuten, daß Juristen zwar über solche Kriterien verfügten, aber zu schwach waren, um mit ihrem Gewissen oder ihrer rechtsphilosophischen Überzeugung gegen den Gesetzgeber aufzutreten. Nachdem die Phase der juristischen Selbst-Rechtfertigungen nach 1945 […] abgeklungen war, ist dieses Bild eines getäuschten, wertblinden oder wehrlosen Juristenstandes durch Untersuchungen des Verhaltens von Juristen und ihrer Standesorganisationen nach 1933 gründlich zerstört worden. Statt Wertblindheit finden wir die üppigsten Beschwörungen von Recht und Gerechtigkeit bei den Rechtsphilosophen, einen wahren Wertetaumel angesichts der nationalen Revolution und des ›deutschen Rechtsstaates Adolf Hitlers‹ […]. Statt Wehrlosigkeit finden wir Anbiederungsversuche in Form von Loyalitätserklärungen seitens des Vorstandes des Deutschen Richterbundes (bereits am 19. 3. 1933, vier Tage vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes) und eine gehässige Erleichterung angesichts der Auflösung des Republikanischen Richterbundes. […] Durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. 4. 1933 und die folgenden Verordnungen gelang die Ausschaltung politisch und rassisch mißliebiger Mitglieder des Rechtsstabes […]. Der große Rest brachte eine autoritär-nationalkonservative Einstellung mit, auf der die neuen Machthaber bauen konnten. Statt Wehrlosigkeit sollte man eher von Widerspruchslosigkeit reden – Widerspruchslosigkeit aufgrund von Sympathie, Einverständnis oder ›um schlimmeres zu verhindern‹« (Rottleuthner 1987, S. 383 f.). B. Lahusen (2009) kommentiert die »Behauptung, die Juristen seien gegenüber den nationalsozialistischen Gesetzen ›wehrlos‹ so: »Vom
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des übergesetzlichen Rechts« werde nun überall »der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen«. 11 Ein Jahr später betonte Radbruch: »[J]a noch für die nachträgliche rechtliche Bereinigung der Wirkungen solchen gesetzlichen Unrechts entstehen aus dem noch weiterlebenden Positivismus immer neue Schwierigkeiten.« Der Positivismus stehe hilflos vor der Frage des Rückwirkungsverbots: »Soll es bei den Maßnahmen bleiben, die auf Grund der Nürnberger Rassengesetze verhängt worden sind? […] Haben wir ein Urteil als rechtsgültig hinzunehmen, durch das der nationalsozialistischen Judikatur entsprechend das Hören eines feindlichen Senders als Hochverrat mit dem Tode bestraft wurde?« 12 Im Interesse der Erneuerung des Rechts müsse sich die Rechtswissenschaft »wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist«. 13 Bereits in seiner ›Ersten Stellungnahme nach 1945‹ hatte Radbruch unter der Überschrift ›Rechtsphilosophische Besinnung‹ betont: »Befehl ist Befehl, heißt es für den Soldaten. Gesetz ist Gesetz, sagt der Jurist. Während aber für den Soldaten Pflicht und Recht zum Gehorsam aufhören, wenn er weiß, daß der Befehl ein Verbrechen oder Vergehen bezweckt, kennt der Jurist, seit vor etwa hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben sind, keine solche Ausnahmen von der Geltung des Gesetzes und von dem Gehorsam der Untertanen des Gesetzes. Das Gesetz gilt, weil es Gesetz ist, und es ist Gesetz, wenn es in der Regel der Fälle die Macht hat, sich durchzusetzen. Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Autor war das wohl nur als Hinweis auf die philosophische Dumpfheit seiner Zeitgenossen gedacht, die sich, autoritär geprägt und ohne jedes echte Rechtsstaatsbewusstsein, dem ›Führer‹ begeistert ergeben hatten. Doch die Juristen lasen Radbruch selbstverständlich anders: Sie erklärten sich nicht nur in ihrer rechtstheoretischen, sondern vor allem in ihrer rechtspraktischen Arbeit zu wehrlosen Opfern eines verbrecherischen Gesetzgebers, dessen Vorgaben sie nur unter äußerem Zwang und gegen ihre inneren Überzeugungen vollzogen hätten. Dass viele Juristen gläubige Nazis gewesen und ihre Bluturteile häufig von keinem Gesetz und keiner Verordnung gedeckt waren, verschwand hinter der Legende vom legislativen Befehlsnotstand.« 11 Radbruch 2003, S. 215. 12 Radbruch 1959, S. 113 f. 13 So in Radbruch 1966 [1947].
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Geltung (wir nennen sie die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes das Recht der Macht gleich: nur wo die Macht ist, ist das Recht.« 14
Rechtssicherheit und Gerechtigkeit Radbruch betonte beides – die Rechtssicherheit verbürgende Funktion des Gesetzes und den Maßstab der Gerechtigkeit: »Gewiß, auch das Gesetz als solches, sogar das schlechte Gesetz hat noch immer einen Wert – den Wert, das Recht Zweifeln gegenüber sicherzustellen. Gewiß, menschliche Unvollkommenheit läßt im Gesetze nicht immer alle drei Werte des Rechts: Gemeinnutz, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, sich harmonisch vereinigen, und es bleibt dann nur übrig, abzuwägen, ob dem schlechten, dem schädlichen oder ungerechten Gesetze um der Rechtssicherheit willen dennoch Geltung zuzusprechen oder um seiner Ungerechtigkeit oder Gemeinschädlichkeit willen die Geltung zu versagen sei. Das aber muß sich dem Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß.« 15 1947 hat Radbruch das ihm zeitlebens wichtige Thema des »Widerstreit[s] zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit« wieder aufgenommen: »Die Rechtssicherheit fordert zwar die Anwendung positiven Rechts, selbst wenn es unrichtig ist, aber die gleichmäßige Anwendung unrichtigen Rechts, seine Anwendung morgen wie heute, auf den einen wie auf den anderen, entspricht eben jener Gleichheit, die das Wesen der Gerechtigkeit ausmacht, nur daß hier – an der Gerechtigkeit gemessen – das Unrecht auf alle gleichmäßig gerecht verteilt wird, so daß die Wiederherstellung der Gerechtigkeit zunächst eine ungleichmäßige Behandlung begründet, also Ungerechtigkeit. Da also die Rechtssicherheit eine Form der Gerechtigkeit ist, ist der Widerspruch von Gerechtigkeit zur Rechtssicherheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst. Dieser Konflikt kann deshalb nicht eindeutig entschieden werden. Die Frage ist 14 15
Radbruch 1957a, S. 105. Ebd., S. 106.
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Rechtssicherheit und Gerechtigkeit
eine Maßfrage: Wo die Ungerechtigkeit positiven Rechtes ein solches Maß erreicht, daß die durch das positive Recht verbürgte Rechtssicherheit gegenüber dieser Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht fällt: in einem solchen Fall hat das ungerechte positive Recht der Gerechtigkeit zu weichen. In der Regel aber wird die Rechtssicherheit, die das positive Recht gewährt, eben als eine mindere Form der Gerechtigkeit, die Geltung auch ungerechten positiven Rechts rechtfertigen.« 16 Bezüglich der ›Erneuerung des Rechts‹ erklärte er: »Wir müssen von Gesetzlosigkeit und Willkür wieder zurück zur Herrschaft des Gesetzes, von dem Unrechtsstaat zum Rechtsstaat. Die Idee des Rechtsstaates, des an seine eigenen Gesetze gebundenen Staates, früher so selbstverständlich und unbewußt wie die Lebensluft, muß dem deutschen Volke wieder bewußt gemacht und anerzogen werden. […] Die unter den deutschen Juristen herrschende Auffassung: der Positivismus, der jedem ordnungsmäßig entstandenen Gesetze den Charakter des Rechts und die Geltung zugestand, war solchen ungerechten und verbrecherischen Gesetzen gegenüber wehrlos. Wir müssen uns wieder besinnen auf die Menschenrechte, die über allen Gesetzen stehen, auf das Naturrecht, das gerechtigkeitsfeindlichen Gesetzen die Geltung versagt.« 17 Radbruch hat freilich nicht näher erklärt, welchem Positivismus seine Kritik gelten sollte. 18 ›Den‹ Rechtspositivismus hat es nicht gegeben, vielmehr eine »außerordentliche Verschiedenartigkeit. Sie ist so groß, daß man berechtigte Zweifel haben kann, ob überhaupt eine Radbruch 1959 [1947], S. 32 f. Ebd., S. 108. Zum Naturrecht bei Radbruch vgl. Neumann 1993 und 2008. 18 1947 hat Radbruch unter dem Titel »Juristischer Positivismus« geschrieben: »1. Der juristische Positivismus ist diejenige Richtung in der Rechtswissenschaft, die aus positivem Recht mit rein intellektuellen Mitteln ohne eigene Wertung die Antwort auf jede juristische Frage finden zu können meint. Dieser juristische Positivismus ist nicht allein durch logische Grundsätze bestimmt, sondern vor allem durch Rechtsgrundsätze. 1. Es gilt für den Richter das Rechtschöpfungsverbot. Die Rechtschöpfung soll nach der Gewaltenteilungslehre allein der Volksvertretung vorbehalten bleiben. Montesquieu kann sich nicht genug tun, die völlig unschöpferische, rein reproduzierende Aufgabe des Richters in krassen Wendungen zu fordern. Das Urteil solle niemals etwas anderes enthalten als den genauen Text des Gesetzes, der Richter solle nur der Mund sein, der die Worte des Gesetzes ausspricht, ein unbeseeltes Wesen, das weder dessen Geltung noch dessen Strenge mildern kann. Der Richter spreche nur aus, was das Gesetz für diese Tat verhängt hat, und dazu brauche er nichts als seine Augen. […] 2. Für den Richter gilt aber auch das Rechtsverweigerungsverbot […]« (Radbruch 1959 [1947], S. 78). 16 17
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echte Einheit vorliegt, die man im affirmativen Sinne juristischen Positivismus nennen kann.« 19 Es spricht viel dafür, dass es Radbruch nicht um eine Kritik an der – von ihm selbst immer in rechtspositivistischer Perspektive bekräftigten – richterlichen Gesetzesbindung ging, sondern um jene ältere gesetzespositivistische Lehre nach dem Muster Austins und Bergbohms, die er bereits 1919 in seinen Kieler Vorlesungen kritisiert hatte: »Der juristische Positivismus ist die juristische Erscheinungsform des realpolitischen, des machtpolitischen Zeitalters. Recht ist dem juristischen Positivismus wesentlich gleich Gesetz, gleich Staatswille. Der Unterschied von Recht und Macht, von Recht und Willkür erscheint aufgehoben: mit der Macht des Staates geht das Recht unzertrennlich Hand in Hand und jede Willkür des Staates wird in der Form des Gesetzes zum Recht. Rechtswissenschaft – Götzendienst gegenüber der Macht. Neben dem vom Staate erzeugten Recht wird widerwillig noch das von der Gesellschaft erzeugte Gewohnheitsrecht geduldet und auch hier jede gewohnheitsrechtliche Willkür ohne Bedenken als Recht anerkannt. […] Der Jurist aber ist für diese Auffassung nicht sowohl Diener der Gerechtigkeit, als blinder Vollstrecker des Staatswillens, als Philologe des Gesetzestextes.« 20 H. L. A. Hart hat Radbruchs Kritik an der der Trennung von Recht und Moral geschuldeten ›Wehrlosigkeit‹ der Juristen im NSRegime aus gutem Grund auf den älteren Rechtspositivismus Benthams und Austins bezogen: Diese Kritik sei »less an intellectual argument against the Utilitarian distinction than a passionate appeal supported not by detailed reasoning but by reminders of a terrible experience. For it consists of the testimony of those who have descended into Hell, and, like Ulysses or Dante, brought back a message for human beings. Only in this case the Hell was not beneath or beyond earth, but on it; it was a Hell created on earth by men for other men. This appeal comes from those German thinkers who lived through the Nazi regime and reflected upon its evil manifestations in the legal system. One of these thinkers, Gustav Radbruch, had himself shared the ›positivist‹ doctrine until the Nazi tyranny, but he was converted by this experience and so his appeal to other men to discard Viehweg 1971, S. 110. Radbruch 2004, S. 33. In ebendiesem Sinne hat Radbruch auch schon in seiner Rechtsphilosophie (31932) vom »wertblinden Rechtspositivismus« gesprochen (Radbruch 2003, S. 23). 19 20
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
the doctrine of the separation of law and morals has the special poignancy of a recantation. What is important about this criticism is that it really does confront the particular point which Bentham and Austin had in mind in urging the separation of law as it is and as it ought to be. These German thinkers put their insistence on the need to join together what the Utilitarians separated just where this separation was of most importance in the eyes of the Utilitarians; for they were concerned with the problem posed by the existence of morally evil laws.« 21
Naturrecht vs. Rechtspositivismus Radbruchs – aus seiner Kritik am Rechtspositivismus folgender – Rekurs auf das Naturrecht war nach 1945 keine Ausnahme, sondern in Übereinstimmung mit einem verbreiteten common sense, wie ihn z. B. Helmut Coing 1947 in Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts zum Ausdruck brachte: »Daß die Rechtswissenschaft sich vom Positivismus befreien und wieder einer an die Rechtsidee gebundenen Auffassung vom Recht zuwenden müsse, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden, die man sich beinahe scheut auszusprechen. Es ist auch verständlich, daß die Erschütterungen unserer Zeit, wo sie nicht zu Verzweiflung und Skepsis gegenüber dem Recht überhaupt führen, zu naturrechtlichen Überzeugungen drängen; sie allein scheinen gegenüber den Ansprüchen der politischen Macht und der nackten Gewalt dem Recht einen Halt zu gewähren.« 22 Zu einem vorsichtigeren Urteil ist A. Verdross 1953 in seinem Aufsatz ›Was ist Recht? Die Krise des Rechtspositivismus und das Naturrecht‹ gekommen. Zwar stellte auch er fest, in der Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert sei das »positive Recht vollständig von der sittlichen Ordnung losgelöst und als eigengesetzlich hingestellt, also als eine ›Welt für sich‹ betrachtet« worden. 23 Auch sei es »nachweisbar unrichtig, daß, wie der Rechtspositivismus behauptet, ein Naturrecht wegen der allgemeinen Veränderlichkeit der menschlichen Verhältnisse unmöglich sei. Gewiß sind die menschlichen Ver21 22 23
Hart 1958, S. 616. Hervorh. v. mir. Coing 1947, S. 7. Vgl. hierzu Mohnhaupt 2001. Verdross 1953, S. 587.
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3 · Eine Gründungslegende
hältnisse im allgemeinen variabel. Daneben gibt es aber auch einige unveränderliche Faktoren, die das Naturrecht fundieren.« Da »aber nur gewisse Grundzüge der menschlichen Natur konstant« blieben, »während im übrigen eine große Verschiedenheit der menschlichen Verhältnisse nach Zeit und Ort« bestehe, könnten »nur einige leitende naturrechtliche Grundsätze konstant sein […]. Die Ausarbeitung eines allgemeingültigen Naturrechtssystems, wie es die Naturrechtslehre der Aufklärungszeit versucht hat, ist daher unmöglich. Die naturrechtlichen Prinzipien müssen somit immer und überall durch das positive Recht den besonderen Verhältnissen angepaßt werden.« 24 Repräsentativer aber waren Verurteilungen des Rechtspositivismus, wie sie H. Welzel in Naturrecht und materiale Gerechtigkeit propagiert hat: Er habe »seinen ›scharfkantigen Rechtsbegriff‹« durchgesetzt: »Für mehrere Juristengenerationen galt ›unumstößlich die Wahrheit, daß die Rechtsmacht (oder nach anderen Terminologien: der Gesetzgeber, der Staat, die souveräne Macht) jeden beliebigen Rechtssatz setzen kann‹ – sogar den absolut unsittlichen!« 25 Der Rechtspositivismus habe die Vernunft »zum technischen und instrumentalen Verstand destruiert. Für das Recht bedeutet diese Destruktion seine Auslieferung an die bestehende Macht«. 26 Diese Schuldzuschreibung hat M. Kriele noch in jüngerer Zeit geteilt: »Für den konsequenten Rechtspositivismus« könne es einen Unrechtsstaat »nicht geben. Ein Staat möge nach unseren moralischen Vorstellungen ein ungerechter Staat sein, aber darauf komme es nicht an: Jeder Staat sei ein Rechtsstaat, möge er selbst Auschwitz angerichtet haben. Das jedenfalls soll nach dem Rechtspositivismus die Perspektive des Juristen ausmachen. Denn die Alternative sei die Rechtsunsicherheit, die durch die Pluralität und Relativität der Naturrechtslehren ausgelöst würde.« 27 Die Naturrechtsrenaissance 28 verweist auf eine weitere Paradoxie des Neubeginns nach 1945: »Die totale Perversion des Rechts im Nationalsozialismus wurde zunächst – irrig – allein dem Rechtspositivismus, also dem Gehorsam gegenüber jeglichem staatlichen Recht angelastet. Es schien nahezuliegen, die Gewähr für die Nichtwieder-
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Ebd., S. 593. Wetzel 1962, S. 183. Ebd., S. 246. Kriele 2003, S. 6. Siehe hierzu in diesem Buch Kapitel 3.
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
holbarkeit solcher Perversionen im christlich verstandenen Naturrecht zu suchen […]. Die Erneuerung des christlichen Naturrechts in der öffentlichen Diskussion hat Gesetzgebung und Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland in ihren Anfangsjahren maßgeblich beeinflußt. Das ist verständlich. Beachtenswert ist allerdings, daß nicht wenige der Autoren, die gleich nach 1945 christliches Naturrecht verkündeten, noch wenige Jahre zuvor die national-sozialistische ›völkische Rechtserneuerung‹ und ein Naturrecht aus ›Blut und Boden‹ propagiert hatten.« 29 Ein Beispiel ist Ernst Forsthoff. Der Schüler Carl Schmitts hatte 1933 sein Buch Der totale Staat mit dem Ziel veröffentlicht, »aus dem Sinn der Geschichte, aus den Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Ereignissen der neuesten Zeit heraus das Ziel der nationalsozialistischen Revolution in dem totalen Staat zu fixieren«. 30 1947 klang es so: »Überwindung des Positivismus – das ist die Formel, mit der sich das Anliegen der Rechtserneuerung in Kürze bezeichnen läßt. Die Gleichsetzung des Rechts mit den staatlich gesetzten (positivierten) Rechtsnormen findet heute in Deutschland schwerlich mehr einen wissenschaftlich ernst zu nehmenden Verfechter. Insoweit ist der Positivismus in der Tat überwunden. Offen ist jedoch, was an seine Stelle treten soll – ein neuer Rechtsidealismus, das Naturrecht oder eine in anderer Weise ethisch vertiefte Rechtsanschauung?« 31 Ein zweites Beispiel ist der in der Nachkriegs-Jurisprudenz nicht minder prominente Hermann von Mangoldt, der 1939 in einem Aufsatz Rassenrecht und Judentum der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung die »gesicherte Reinerhaltung des Blutes« und die Verfolgung »hoher ethischer Ziele« bescheinigt hatte. 32 Während der Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Ausarbeitung des Grundgesetzes unterstützte er als Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen die Forderung, »daß wir zum Naturrecht zurück müßten. Dieser Ruf: Zurück zum Naturrecht! besagt: Vor dem geschriebenen Gesetz gibt es Rechtssätze, die, ohne geschrieben zu sein, allgemein bindenden Charakter haben.« 33 Ein drittes – wenn auch
29 30 31 32 33
Rüthers/Fischer/Birk 2011, S. 264 f. Forsthoff 1933, S. 29. Forsthoff 1966 [1947/48], S. 73. V. Mangoldt 1939. Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, bearb. v.
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3 · Eine Gründungslegende
hinsichtlich des Naturrechts weniger eindeutiges – Beispiel ist Theodor Maunz 34, 1948 im Herrenchiemseer ›Vorbereitenden Verfassungskonvent‹ juristischer Mitarbeiter des Bevollmächtigten für das Land Baden, Paul Zürcher (Präsident des Badischen Staatsgerichtshofs), von 1957 bis 1964 als CSU-Mitglied bayerischer Kultusminister (nach Bekanntwerden seiner Schriften aus der NS-Zeit zurückgetreten), 1958 Mitbegründer des maßgeblichen Grundgesetzkommentar ›Maunz/Dürig‹ ; während des NS-Regimes Propagandist des ›Führerstaates‹, veröffentlichte er bis zu seinem Tod 1993 anonym in der rechtsradikalen ›National-Zeitung‹. Die Verbindung von Positivismuskritik und Naturrechtsrenaissance hat Schule gemacht. Die Nachkriegslegende fand und findet – so Ingeborg Maus – immer wieder Anhänger: »Bis heute finden sich noch Anhänger jener Nachkriegslegende, die besagt, es sei die Gesetzestreue der deutschen Richter, ihr rechtspositivistisches Verständnis der Anwendung des Rechts gewesen, das ihre Willfährigkeit im NSSystem bedingt habe.« 35 So hat z. B. M. Kriele nicht nur betont, »die W. Werner, München 1993, S. 40. H. v. Mangoldts These lautete, »daß die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur gegeben sind« (ebd., S. 63). 34 »Maunz war Vernunftrepublikaner und Rechtsstaatler, als dies am Ende der Weimarer Republik noch zum traditionellen Verhaltenskodex gehörte, er war Nationalsozialist, solange es die anderen waren und noch ein bißchen mehr und länger, dann wieder naturrechtlich garnierter Rechtspositivist, Demokrat und Föderalist, je nach Zeit und Umgebung, so wie das Chamäleon oder die Wechselblütler die Gabe besitzen, Farbe und Temperatur der Umgebung anzupassen. Letzteres natürlich nur innerhalb einer gewissen Bandbreite. Man darf annehmen, daß die von Maunz in der NationalZeitung anonym geschriebenen Artikel seine wirkliche, tiefinnerste Meinung wiedergeben. Er schrieb anonym, und er war als Emeritus den Zwängen enthoben, irgendjemandem nach dem Munde reden zu müssen. Daß er diese tiefinnerste Meinung unter strikter Geheimhaltung publizierte, spricht weniger für ein rudimentäres Unrechtsbewußtsein als für ein fein entwickeltes Sensorium dafür, wieviel man der Öffentlichkeit und der Kollegenschaft zumuten konnte. Seine Witterung für Tabus ließ ihn auch hier den zu erwartenden Konflikt scheuen. Maunz blieb sich treu: In der NSZeit an den Sonntagen ›heimlich‹ in die Messe, in der Bundesrepublik an den Montagen ›heimlich‹ zu den Rechtsradikalen. Doppelleben als Optimierungsstrategie« (Stolleis 1994, S. 311). 35 Maus 2004, S. 846. Tsatsos 1964, S. 28, behauptete: »Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte kann man ohne nähere Begründung behaupten, daß der Rechtspositivismus versagt hat. In der Zeit des Totalitarismus hat er einer bedenklichen Passivität der Juristen gegenüber der Willkür des Staates nicht nur moralisch Vorschub geleistet, sondern sie sogar wissenschaftlich begründet.« Tsatsos würdigt allerdings auch die »Verdienste des Rechtspositivismus«: »Im Rechtspositivismus ist ein enormes Gedankengut enthalten; auch historisch-politisch hat der Rechtspositivis-
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nationalsozialistische Katastrophe [habe] ein Tor aufgestoßen, durch das der Naturrechtsgedanke plötzlich ins Blickfeld kam und wieder ernst genommen wurde« 36, sondern auch: »[D]er Rechtspositivismus [hat] die Zerstörung der Weimarer Republik theoretisch rechtfertigen und vorbereiten können.« 37 Auch A. Kaufmann hat behauptet, »der klassische Rechtspositivismus [habe] versagt […]. Der Rechtspositivismus […] brachte zwar die großen Gesetzgebungswerke des ausgehenden 19. Jahrhunderts hervor, weil den damaligen Gesetzgeber noch ein starkes moralisches Bewusstsein leitete, in den Diktaturen unserer Zeit jedoch ist diese Voraussetzung nicht mehr ohne weiteres gegeben; Schandgesetze sind nicht mehr nur Kathederbeispiele, sondern Wirklichkeit geworden, der rein formale Gesetzesbegriff hat versagt.« 38 Auch für E.-W. Böckenförde war es selbstverständlich, in einem Atemzug vom »Zusammenbruch des NS-Regimes und dem Fiasko des Rechtspositivismus« zu sprechen. 39 J. Hruschka hat noch anlässlich der Berliner Mauerschützenprozesse den konsequenten Rechtspositivismus als zynische Rechtfertigungsideologie diktatorischer Herrschaftssysteme bezeichnet. 40 Und G. Hirsch, seinerzeit Präsident des Bundesgerichtshofes, glaubte 2006 feststellen zu können: »[D]er Positivismus als bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Gesetz ist überwunden«. 41 So lebt die Legende der Identifizierbarkeit von Rechtspositivismus und ›bedingungslosem‹ Gesetzesgehorsam fort, obwohl »der Rechtspositivismus auf einem ganz anderen Weg als die Naturrechtslehre zu der gleichen Schlussfolgerung mus Bedeutendes geleistet. Das zu verkennen, ist für den historisch geschulten Juristen unmöglich. Der Rechtspositivismus hat die Präzision des juristischen Denkens gefördert. Dadurch hat er dazu beigetragen, aus der Auslegung eine Wissenschaft zu entwickeln, die es an Exaktheit mit den Naturwissenschaften, sogar mit der Mathematik aufnehmen kann, ohne den Vergleich scheuen zu müssen und ohne an Tiefsinn Einbuße zu erleiden. Der Rechtspositivismus konnte die systematische Einheit jeder Rechtsordnung aufrechterhalten und gerade deswegen eine allen Rechtsordnungen entsprechende Denkmethode entwickeln« (ebd., S. 33 f.). Weit polemischer strickt Brumlik 2005 an der Legende der »Wehrlosigkeit des wissenschaftlichen Rechtspositivismus gegenüber nationalsozialistischen Staatsverbrechen«. 36 Kriele 2003, S. 6. 37 Kriele 1979, S. 126. 38 Kaufmann 2011a, S. 81. 39 Böckenförde 1989, S. 23. Auch in Böckenförde 2011a, S. 191. 40 Hruschka 1992, S. 667. 41 G. Hirsch, Zwischenruf – Der Richter wird’s schon richten. In: ZRP 2006, S. 161. Vgl. zur Kritik B. Rüthers, Zwischenruf aus der methodischen Wüste: ›Der Richter wird’s schon richten‹(?). In: JZ 2006, S. 958 ff.
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kommen [konnte] wie diese, nämlich zur Verneinung einer moralischen Pflicht des Gehorsams gegenüber einem ungerechten Gesetz«. 42 Für die positivismuskritische Naturrechtsrenaissance in der Nachkriegszeit hat Kriele eine in historischer Hinsicht nicht unplausible Erklärung gegeben: »Die nationalsozialistische Katastrophe hat einen Blick in derart dunkle Abgründe eröffnet, daß Schock und Entsetzen eine therapeutische Wirkung auslösten: das Erwachen eines klaren Unrechtsbewußtseins.« 43 Es gab nach 1945 historisch-politische Gründe für eine Verortung von Recht und Verfassung in Christentum und Naturrecht. Doch in rechtssystematischer Hinsicht trägt die historische Erklärung nicht. Aus gutem Grund hat das BVerfG auf eine bestimmte weltanschauliche Orientierung des Grundgesetzes verzichtet: »Das GG lässt […] offen und kann nicht entscheiden, ob es Naturrecht überhaupt gibt.« 44 Zwar hat es immer Gegenpositionen gegeben, aber die antipositivistische Konjunktur hat sich erst in jüngerer Zeit abgeschwächt. So hat etwa Michael Herdegen auf die anti-juridische Funktion der Berufungen auf das Naturrecht abgestellt: Die »neue Naturrechtslehre richtet sich im Kern gegen eine im säkularen Verfassungsstaat völlig banale These: nämlich die Annahme, dass die Leitbegriffe der Verfassung wie die Menschenwürde Begriffe des positiven Rechts sind. Der Angriff auf diese schlichte Erkenntnis dient – zuweilen ausdrücklich – dem Ziel, bestimmte Deutungsmuster der Spannbreite juristischer Exegese zu entziehen.« 45 Baratta 1968, S. 330. Kriele 2003, S. 163. 44 Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 21. Das BVerfG hat bereits in einem Urteil des Ersten Senats vom 29. Juli 1959 aus Anlass der Frage, »ob die Einheit der Familie die primäre Zuständigkeit des Vaters für die Konfliktentscheidung notwendig fordert«, darauf hingewiesen, dieses Problem sei »vielfach auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellungen erörtert worden«. Es hat festgestellt: »Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr bestrittenen Fragen des Verhältnisses ›Naturrecht und Geschichtlichkeit‹, ›Naturrecht und positives Recht‹ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht« (BVerfGE 10, 59 [79]). 45 Herdegen 2008, S. 58 f. 42 43
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
Radbruchs Position zur Legitimität des Rechts und seine Positivismuskritik haben auch in der deutschen Judikatur Wirkung gezeigt. Dies zeigt z. B. die folgende Entscheidung des BVerfG: »Nationalsozialistischen ›Rechts‹vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde.« 46 »Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein Verfassunggeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann.« 47 »[E]inmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird«. 48 Die Rezeption der ›Radbruchschen Formel‹ war freilich nicht unproblematisch, weil diese als Ausdruck der Naturrechtsrenaissance – der Idee ›ewigen Naturrechts‹ – nach 1945 missverstanden wurde. 49 Radbruch selbst bestand in seiner Lehre vom übergesetzlichen Recht auf einer engen Beschränkung der Aufhebung des Rückwirkungsverbots: »Ihre Anwendung findet ihre Grenze in den völlig singulären
BVerfGE 23, 98, Leitsatz 1. BVerfGE 23, 98 (30). 48 BVerfGE 23, 98, Leitsatz 3 und ebd. (31). 49 »Mit seiner These hat aber Radbruch einer teilweise verzerrten Deutung und Rezeption der Weimarer Debatte Aufschub geleistet, so wie er kompromittierten Juristen Argumente geliefert hat, um sich reibungslos der ›Naturrechtsrenaissance‹ anzuschließen. Die Positivismus-These und der Gebrauch des Begriffs ›Naturrecht‹ haben außerdem eine verzerrte Rezeption der Radbruchschen Rechtsphilosophie gefördert, die wiederum die Verschiebungen der Fronten in der Rechtslehre dokumentiert. Sie haben erstens das falsche Klischee von der ›Wandlung des positiven Saulus zum Paulus des Naturrechts‹ genährt, wobei verkannt wurde, dass die Radbruchsche Formel eigentlich bereits in seinen früheren Gedanken über den Rechtsbegriff, die Gerechtigkeit und die ›Schandgesetze‹ angelegt war, und dass also höchstens von einer, wenn auch entscheidenden, Akzentverschiebung die Rede sein kann. Zweitens sollte man mit der Bezeichnung ›Naturrechtslehre‹ besonders vorsichtig umgehen. Radbruch hat zum Beispiel nie behauptet, dass Naturrecht positives Recht breche. Im Gegenteil: er hat immer wieder den begrenzten Anwendungsbereich seiner ›Formel‹ betont« (Le Bouëdec 2011, S. 209). 46 47
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Verhältnissen der zwölf Nazi-Jahre«. 50 Er warnte vor dem extensiven Gebrauch seiner ›Formel‹ : »Es darf nicht verkannt werden – gerade nach den Erlebnissen jener zwölf Jahre –, welche furchtbaren Gefahren für die Rechtssicherheit der Begriff des ›gesetzlichen Unrechts‹, die Leugnung der Rechtsnatur positiver Gesetze mit sich bringen kann.« Man habe sich »durch ›formaljuristische‹ Erwägungen gegen die Versuchungen zu wappnen, welche sich begreiflicherweise […] leicht ergeben können. Wir haben die Gerechtigkeit zu suchen, zugleich die Rechtssicherheit zu beachten, da sie selber ein Teil der Gerechtigkeit ist.« 51 Um 1947 hat Radbruch unter dem Eindruck des »Miterleben[s] zweier historischer Ereignisse: der nationalsozialistischen Diktatur und der Niederlage und Besetzung Deutschlands« den Entwurf eines Nachworts zu seiner Rechtsphilosophie verfasst; er belegt, in welchem historischen und rechtspolitischen Kontext er für eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot plädiert hat: »Der Nationalsozialismus hat schlechthin gegen alle Prinzipien des Rechts verstoßen und alle nur möglichen Arten des Unrechts zur Erscheinung gebracht. Er hat aus dem Rechtsstaat, den er vorfand, in der vollen Bedeutung dieses Wortes einen ›Unrechtsstaat‹ gemacht. Die gefährlichste Form des Unrechts ist das Unrecht, das die Form des Gesetzes annimmt, das ›gesetzliche Unrecht‹. Will man eines unter unzähligen Beispielen, so denke man an die Nürnberger Rassengesetze. Kein Unbefangener wird dem Inhalt dieser Gesetze den Ehrennamen ›Recht‹ gewähren. Während aber das inhaltlich schlechteste Gesetz regelmäßig doch noch einen Rechtswert behält: die durch die Form des Gesetzes gewährleistete Rechtssicherheit, hat die nationalsozialistische Gesetzgebung gerade diesen Wert nicht erfüllt und nicht erfüllen wollen.« 52 Radbruchs Überlegungen zum Rückwirkungsverbot gingen vom Problem der strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen aus: »Juristisch zur Verantwortung gezogen wurden nach der Niederlage deutsche Staatsangehörige durch deutsche Gerichte, durch die GeRadbruch 1947d, Spalte 136. Radbruch 1990, S. 90, 93. Vgl. Radbruch 1966 [1947], S. 2 f.: »Freilich, diese Begriffe des übergesetzlichen Rechts und des gesetzlichen Unrechts bringen gerade für die von uns so dringend geforderte Rechtssicherheit schwere Gefahren mit sich. Es ist zu wünschen, daß der Gesetzgeber solches gesetzliches Unrecht durch Gesetz aufhöbe und es so dem Richter ersparte, es für unrechtmäßig und ungültig erklären zu müssen.« 52 Radbruch 2003a, S. 194. 50 51
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richte der Siegerstaaten, insbesondere den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und die Gerichte der einzelnen Besatzungsmächte, endlich in dem deutschen Denazifizierungsverfahren. In allen drei Zusammenhängen entstand das schwere Problem, ob sich Strafen rechtfertigen lassen für Verhaltensweisen, die zur Zeit ihrer Begehung nicht unter Strafrecht standen. Auf der einen Seite stand die von Feuerbach aufgestellte Formel: nulla poena sine lege praevia [keine Strafe ohne vorheriges Gesetz], und zwar mit umso größerer Autorität, weil sie vom nationalsozialistischen Staat beiseite geschoben war und ihre Wiederherstellung durch die Gesetzgebung der Besatzungsmächte sie zu einem Symbol des erneuerten Rechtsstaats gemacht hatte. Auf der anderen Seite stand die Unmöglichkeit, jene nationalsozialistischen Gesetze, welche die Strafbarkeit für offenkundige Verbrechen, z. B. den Anstaltsmord, ausgeschlossen hatten, nach der Beseitigung des Nationalsozialismus als wahres Recht anzuerkennen.« 53 »So entstand für die deutschen Gerichte die Frage, ob fanatische oder böswillige Denunzianten, welche Gegner des Nationalsozialismus schwerer Bestrafung durch eine nationalsozialistisch gefärbte Justiz zugeliefert hatten, nunmehr, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, wegen Mordes oder Freiheitsentzugs bestraft werden können. Zu ihrer Bestrafung kann man nur durch die Erwägung gelangen, daß die damalige Straflosigkeit ›gesetzliches Unrecht‹ darstelle. […] Die gleiche Frage taucht in noch quälenderem Maße gegenüber der Nürnberger Gerichtsbarkeit der Besatzungsmächte auf. […] Aber nicht nur Zuständigkeit und Prozeß der Gerichtshöfe der Besatzungsmächte, vielmehr auch das von ihnen angewandte materielle Recht fordert eine übergesetzliche Rechtfertigung. Freilich ist der Satz nullum crimen sine lege, welcher der Anwendung dieses Rechts auf vorbegangene Straftaten entgegenstehen soll, eine Forderung nicht der Gerechtigkeit und also des Naturrechts, sondern nur der Sicherheit des positiven Rechts, um derentwillen so unter Umständen sogar auf die Gerechtigkeit, nämlich auf die Bestrafung strafwürdigen Unrechts, verzichtet werden muß. […] Das Völkerrecht aber kann, solange es noch keinen völkerrechtlichen Gesetzgebungsapparat gibt, nur in der allmählichen Fortbildung des Rechts von einem Fall zum anderen wirksam werden, gerade auch in der Rechtsprechung Internationaler Gerichtshöfe. Aber selbst wenn wir dem Prin53
Ebd., S. 200 f.
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zip nulla poena auch für das Völkerrecht anerkennen, würde dies kein entscheidender Einwand gegen die Nürnberger Rechtsprechung sein. In unserem jetzigen Zusammenhange ist es nicht nötig, den (durchaus möglichen) Beweis zu führen, daß die Tatbestände des Gerichtsstatutes wie des Kontrollratsgesetzes 10: Herbeiführung eines Krieges, Kriegsverbrechen, Unmenschlichkeitsverbrechen, schon nach deutschem Recht strafbar waren, ebenso wenig dafür, daß diese Handlungen schon vor Statut und Kontrollratsgesetz völkerrechtliche Verbrechen gewesen seien. Uns genügt, daß zum mindesten die Unmenschlichkeitsverbrechen nach einem jedem Menschen bewußten übergesetzlichen, natürlichen Recht ein schweres Unrecht darstellen. Verschuldetes Unrecht ist aber, wie Kant gezeigt hat, mit Strafwürdigkeit identisch, und solchen zu dienen, die trotz erkennbarer Strafwürdigkeit sich auf mangelnde positive Strafbarkeit berufen, kann nicht wohl der Sinn des Prinzips nulla poena sein.« 54 Bei Radbruchs als Antwort auf den Nationalsozialismus zu verstehender Naturrechtskonzeption sind zwei Faktoren zu berücksichtigen: (i) das, was er bereits in seiner Rechtsphilosophie ein ›Naturrecht mit wechselndem Inhalt‹ genannt hat: »Von ihrem Anbeginne bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war alle Rechtsphilosophie Naturrechtslehre. Gewiß begreift die Bezeichnung Naturrecht Erscheinungen grundverschiedener Art in sich. Das Naturrecht der Antike kreiste um den Gegensatz von Natur und Satzung, das Naturrecht des Mittelalters um den Gegensatz von göttlichem und menschlichem Recht, das Naturrecht der Neuzeit um den Gegensatz zwischen Rechtszwang und Einzelvernunft. Bald dient das Naturrecht einer tieferen Befestigung des gesetzten Rechts, bald gerade umgekehrt dem Kampfe gegen das gesetzte Recht. Aber in allen seinen Formen ist es durch vier, zu verschiedenen Zeiten freilich verschieden betonte Wesenszüge gekennzeichnet: Es liefert inhaltlich bestimmte rechtliche Werturteile. Diese Werturteile sind entsprechend ihrer Quelle – Natur, Offenbarung, Vernunft – allgemeingültig und unwandelbar. Sie sind der Erkenntnis zugänglich. Sie gehen, einmal erkannt, widersprechendem gesetzten Rechte vor: Naturrecht bricht positives Recht.« 55 Was aber bleibt angesichts der Historizität der Naturrechtsidee an Natur und von der mit dem Naturbegriff verknüpften Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit? »Will man für das demnach 54 55
Ebd. Radbruch 2003, S. 21 f. Hervorh. v. mir.
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
nur durch die Einheitlichkeit der kategorialen Form gekennzeichnete ›richtige Recht‹ dennoch den Namen Naturrecht festhalten, so muß man es dem unwandelbaren Naturrecht alten Stils […] als ein ›Naturrecht mit wechselndem Inhalt‹ oder, wie man wohl gesagt hat, als ›Kulturrecht‹ gegenüberstellen. Wäre […] richtiges Recht, gleichviel ob Naturrecht alten Stils oder Naturrecht mit wechselndem Inhalt, entgegen der relativistischen Auffassung eindeutig erkennbar, so wäre der Schluß unvermeidlich, daß von ihm abweichende Satzung vor ihm erbleichen müßte wie der entlarvte Irrtum vor der enthüllten Wahrheit.« 56 Zu berücksichtigen ist (ii), in welchem Geiste er wogegen – gegen den Machtstaat – und wofür – für Gerechtigkeit – naturrechtlich argumentiert hat. Was Radbruch unter ›Naturrecht‹ und dessen Funktion verstanden hat, hat er im Kontext der neukantianischen Strömung mit Ernst Cassirer geteilt, der 1932 in der Juristischen Gesellschaft Hamburg einen Vortrag ›Vom Wesen und Werden des Naturrechts‹ gehalten hatte. 57 Mit Bedauern stellte Cassirer fest, es gebe »heute viele Juristen, die das Naturrecht nur mit äußerstem Mißtrauen betrachten, die es als einen Fremdling und Eindringling ansehen, den sie am liebsten aus den Grenzen der strengen Wissenschaft des Rechts ganz herausweisen möchten«. 58 Diese Juristen übersähen, gegen welche Gegner sich das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts gerichtet habe: »Zwei Hemmnisse waren zu überwinden, und zwei mächtige Gegner galt es zu besiegen, wenn dieses Ziel erreicht, wenn die große systematische Aufgabe, die das Naturrecht sich stellte, zur Durchführung und zur geschichtlichen Verwirklichung gelangen sollte. Auf der einen Seite verlangte die immanente Begründung des Rechts die Loslösung von der theologischen Dogmatik; auf der anderen Seite mußte die reine Rechtssphäre gegenüber der staatlichen Sphäre bestimmt und klar abgegrenzt und in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert gegenüber dem Staatsabsolutismus geschützt werden. Der Kampf um die Begründung des Naturrechts vollzieht sich in dieser doppelten Frontstellung. Er muß ebensowohl gegen die Herleitung des Rechts aus einem schlechthin irrationalen, der menschlichen Vernunft unzugänglichen und undurchdringlichen göttlichen Willen wie gegen den Leviathan ›Staat‹ durchgeführt 56 57 58
Ebd. Cassirer 2004 [1932]. Ebd., S. 203.
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werden.« 59 Diese »Grundüberzeugung, aus der das Naturrecht erwachsen ist«, müsse mehr bleiben als »nur noch eine geschichtliche Erscheinung und eine geschichtliche Erinnerung«. 60 Von ebendieser Grundüberzeugung habe sich der ältere Rechtspositivismus verabschiedet: »Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts sah vielfach nur noch mit Spott, ja mit Verachtung auf die Probleme, die von ihm gestellt worden waren, herab.« Doch die »Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit, in der sich der Positivismus des 19. Jahrhunderts wiegte, [habe man inzwischen] längst eingebüßt«. Die naturrechtliche Grundüberzeugung sei angesichts der die Republik von Weimar bedrängenden Probleme nach wie vor aktuell: »Wieder brennt uns das Feuer auf den Nägeln, wieder ringen wir um die Entscheidung der gleichen geistigen und rechtlichen Grundfragen, um die es in der Epoche des Naturrechts ging. Die Gesinnung zum mindesten, aus der heraus Hugo Grotius ein allgemeines Völkerrecht forderte, der Nachdruck, mit dem er als erster für internationale Schiedsgerichte eintrat: dies alles fühlen wir heute zu tief mit, als daß wir dieses Streben, auch wo es seinem Ausdruck nach in den Begriffsformen der Zeit gebunden blieb, nur vornehm von oben herab betrachten und mitleidig belächeln könnten. Mag das Naturrecht die Fragen, die es sich stellte, nicht bewältigt haben; mag es sie vielfach mit unzureichenden Mitteln in Angriff genommen haben: Das eine wird man sagen dürfen, daß diese Fragen, falls sie überhaupt einmal ihrer Lösung entgegengeführt werden sollen, nur im Geiste des Naturrechts werden gelöst werden können – in jenem Geist, den Kant einmal in den lapidaren Satz zusammengefaßt hat, daß, wenn die Gerechtigkeit untergehe, es keinen Wert mehr habe, daß Menschen auf Erden leben. […] Das Naturrecht setzt mit einer Kritik des Machtstaatsgedankens ein – und es bahnt sich erst durch diese Kritik den Weg zu seiner eigenen Position.« 61 Das »öffentliche Gewissen« – so Cassirers Fazit – könne »sich niemals beim geschriebenen Recht allein beruhigen – es richtet zugleich nach anderen Maßstäben, die es den ungeschriebenen Gesetzen […] entnimmt. Dem Naturrecht sollte man, wie immer man im einzelnen über dasselbe urteilen mag, stets Dank wissen, daß es die Ehrfurcht vor diesen
59 60 61
Ebd., S. 207 f. Ebd., S. 221. Ebd., S. 221 ff.
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
›ungeschriebenen Gesetzen‹ besessen und daß es sie der Rechtswissenschaft tief eingepflanzt hat.« 62 Das Naturrecht, das Radbruch als ›Kulturrecht‹ verstand, war nicht mehr von Gott gegeben, sondern von Menschen gemacht. »[D] ie Begründung vorstaatlicher Rechte der Individuen im prozeduralen N[aturrecht] der Aufklärung [hatte] den Sinn«, den Übergang der »Ressource der überpositiv-rechtlichen Argumentation von der gesellschaftlichen Basis an die Staatsapparate« zu verhindern. »Die unhistorische und unsoziologische Konstruktion eines ›Naturzustands‹ war tatsächlich nicht an der Deskription von Gesellschaftsordnungen, sondern an der Begründung einer Rechtsordnung interessiert, in der die hypothetische ›Natur‹ des Menschen und die ihr angemessenen Rechte allen politischen Institutionen vorhergingen. Ihr eigentliches Geschäft war die Aussage über die Allokation des naturrechtlichen Arguments: Aus dem vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte folgt, dass kein überpositiv-rechtliches Argument jemals von Seiten der Staatsapparate gegen die Individuen geltend gemacht werden kann, sondern dass der Durchgriff auf überpositives Recht ausschließlich denen zukommt, die nicht politische Funktionäre, sondern ›nur‹ Menschen sind.« 63 Auch Max Weber hat dies nicht anders gesehen: »›Naturrecht‹ ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim sind: die spezifische und einzig konsequente Form der Legitimität eines Rechts, welche übrigbleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen. Das Naturrecht ist daher die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen. Berufung auf ›Naturrecht‹ ist immer wieder die Form gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legi-
Ebd., S. 227. Maus 2010, Sp. 1747. Zu ›Rechtspositivismus und Überpositivität des Rechts heute‹ vgl. Olivet 1989.
62 63
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timität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten.« 64 In welchem Verständnis Radbruch das Naturrecht nach 1945 historisiert und kontextualisiert hat, zeigt sich in seiner Auffassung der »Humanität als Rechtsbegriff«: »Der Begriff der Humanität ist zu einem Rechtsbegriff geworden, und zwar an drei Stellen der Rechtsordnung: 1. In den Menschenrechten als der Garantie, der zur Pflichterfüllung unerläßlichen äußeren Freiheit und damit der Menschenwürde. […] 2. In den ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹, wie sie in dem Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes und im Kontrollratsgesetz Nr. 10 umschrieben werden. An beiden Stellen wird der neue Verbrechensbegriff nur mit Namen genannt und durch einige Beispiele belegt, aber noch nicht als Tatbestand ausgestaltet. Die neuen Bestimmungen bedeuten Ermächtigung für die Gerichte, durch die Rechtsprechung die einzelnen Arten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit tatbestandsmäßig auszuprägen. […] Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird aufgefaßt als Verbrechen gegen die Menschheit: auch soweit dieses Verbrechen sich gegen eigene Staatsangehörige oder Staatenlose wendet, entsteht ein völkerrechtliches Interventionsrecht, vor allem das Recht der Aburteilung durch internationale Gerichte. Die Menschheit übernimmt die Gemeinbürgschaft für die Menschlichkeit der Staatsführung in jeder Nation. 3. Auch im innerstaatlichen Strafrecht muß der Gedanke der Humanität zum Ausdruck kommen. Die einseitige Betonung des Zweckgedankens verstößt gegen jenen Kantischen Grundsatz, daß jeder Mensch als ein Selbstzweck geachtet werden müsse. […] Es bleibt eine der wichtigsten Aufgaben der künftigen Strafrechtswissenschaft, die Strafrechtsprobleme vom Gedanken der Humanität aus neu durchzudenken.« 65 In Rechnung zu stellen ist, dass Radbruch seine Naturrechtsforderung unmittelbar nach 1945 und vor der Verrechtlichung jener Menschenrechte 66 erhoben hat, die über lange Zeit in Form naturWeber 1976 [1922], S. 497. Radbruch 1959 [1947], S. 97 f. 66 1947 hat Radbruch erklärt, »daß diese Rechte (Menschenrechte) absoluter Natur sind, nicht zwar, wie sie in dieser oder jener Fassung positiv-rechtlichen Gehalt gefunden haben, wohl aber, wie sie notwendig sind, um sittliche Pflichterfüllung zu ermöglichen. Damit ist in gewissem Umfange der Liberalismus als notwendiger Einschlag in jeder, auch in einer demokratischen oder sozialistischen, sogar auch in einer autoritären Auffassung nachgewiesen. […] Die völlige Leugnung der Menschenrechte entwe64 65
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
bzw. vernunftrechtlicher Ansprüche hatten formuliert werden müssen – als Oppositions-Strategie gegen Willkür und Entrechtung. Radbruchs Forderung nach übergesetzlichem Recht ist im Zuge der Rechtsentwicklung nach 1945 in den positivierten Menschenrechten so erfüllt worden, dass eine vor-positive naturrechtliche Begründung nicht länger notwendig ist. »Seit die Grundrechte auch den Gesetzgeber binden, seit damit der Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht aufgehoben oder jedenfalls entscheidend relativiert wurde, sind die relevanten moralischen Fragen, die sich um Freiheit und Gleichheit und Menschenwürde stellen, als verfassungsrechtliche, grundrechtliche Fragen rekonstruierbar«. 67 Auf dieser Spur war im Prinzip auch schon Radbruch, wenn er das von ihm geforderte Naturrecht mit den Menschenrechten identifizierte: »Wir müssen uns wieder besinnen auf die Menschenrechte, die über allen Gesetzen stehen, auf das Naturrecht, das gerechtigkeitsfeindlichen Gesetzen die Geltung versagt.« 68 Die ›Radbruchsche Formel‹ und seine Rechtspositivismus-Kritik stehen unter dem moralischen und politischen Schock des bis 1945 begangenen ›gesetzlichen Unrechts‹. Es spricht wenig dafür, dass er bis Mitte der 1930er Jahre begründete Auffassungen nach 1945 radikal aufgegeben hätte. Dazu gehört auch die Verteidigung dessen, was er 1934 unter dem Titel ›Der Relativismus in der Rechtsphilosophie‹ über Naturrecht und Rechtspositivismus gesagt hatte: »In einer Zeit wie der unseren gehört Mut dazu, sich zum Relativismus zu bekennen. Wir sind in eine Zeit angeblich absoluter Werte eingetreten. Von der Höhe dieser Werte herab bezeugt man dem Relativismus ganz allgemein Geringschätzung, ja Verachtung. Das Bild des lächelnden Skeptikers hat aufgehört, das Ideal des Weisen darzustellen. Man sieht im Relativismus einen Mangel an Überzeugung, einen Mangel an Charakter. Um solche Mißverständnisse zu zerstreuen, soll hier gezeigt werden, daß der Relativismus keineswegs einen Mangel an Überzeugung bedeutet, vielmehr selbst eine starke, ja aggressive Oberzeugung darstellt. Die Lehre des Relativismus hat sich entwickelt als Gegenspiel zur Doktrin des Naturrechts. Das Naturrecht der vom überindividualistischen Standpunkt (›Du bist nichts, Dein Volk ist alles‹) oder vom transpersonalen Standpunkt (›Eine Statue des Phidias wiegt alles Elend der Millionen antiker Sklaven auf‹, Treitschke) aber ist absolut unrichtiges Recht« (Radbruch 1947e, S. 28). 67 Schlink 2003, S. 4. 68 Radbruch 1959 [1947], S. 108. Zu den Menschenrechten vgl. Radbruch 1947a.
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3 · Eine Gründungslegende
beruht auf einem bestimmten methodischen Prinzip, nämlich auf der Auffassung, daß es eine eindeutige, erkennbare und beweisbare Idee des gerechten Rechts gebe. Die Widerlegung dieser These ist aus zwei Wurzeln hervorgegangen, deren eine der Erfahrungswissenschaft, deren andere der Erkenntnistheorie angehört. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung haben eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Rechtswirklichkeit aufgedeckt, in der keine Tendenz eines einheitlichen Ideals spürbar ist. Andererseits hat Kants Kritizismus uns bewiesen, daß zwar die Formen der Kultur und des Rechts absolut und allgemeingültig seien, ihr Inhalt aber von empirischen Gegebenheiten abhänge und deshalb völlig relativ sei. Der rechtsphilosophische Relativismus geht also von der These aus, daß jede inhaltliche Auffassung des gerechten Rechts nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Lage der Gesellschaft und eines bestimmten Systems der Werte gültig sei. Die sozialen Umstände sind unendlich wandelbar, die Zahl der Wertsysteme ist dagegen beschränkt. Es ist deshalb möglich, ein vollständiges System der Wertungen aufzustellen, die in einer bestimmten sozialen Lage möglich sind. Aber es ist unmöglich, zwischen diesen Möglichkeiten auf eine wissenschaftliche, beweisbare und unwiderlegliche Weise zu entscheiden, die Wahl zwischen ihnen ist nur durch eine Entscheidung möglich, die aus der Tiefe des individuellen Gewissens geschöpft wird. Das bedeutet, daß der Relativismus einen Verzicht seitens der theoretischen Vernunft darstellt – aber einen um so stärkeren Appell an die praktische Vernunft, eine Grenze des wissenschaftlichen Denkens –, aber nicht eine Feigheit oder Lässigkeit des moralischen Willens. Der Relativismus enthält also zugleich den Aufruf zum Kampf gegen die Überzeugung des Gegners, deren Unbeweisbarkeit er nachweist, und die Mahnung zur Achtung vor der Überzeugung des Gegners, deren Unwiderlegbarkeit er zeigt: Entschlossenheit zum Kampf auf der einen Seite, Duldsamkeit und Gerechtigkeit des Urteils auf der anderen – das ist die Moral des Relativismus. […] Der Relativismus ist nicht ein bloßer und reiner Agnostizismus, er ist mehr: eine ergiebige Quelle sachlicher Einsicht. Vor allem ist der Relativismus die einzig mögliche Grundlage für die verpflichtende Kraft des positiven Rechts. Gäbe es ein Naturrecht, eine eindeutige, erkennbare und beweisbare juristische Wahrheit, so wäre auf keine Weise einzusehen, warum positives Recht, das mit dieser absoluten Wahrheit in Widerspruch stünde, verpflichtende Kraft haben sollte – es müßte verschwinden wie der entlarvte Irrtum vor der entschleierten Wahrheit. Die verbindliche Kraft positiven 90 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Naturrecht vs. Rechtspositivismus
Rechts kann nur auf eben die Tatsache gegründet werden, daß das richtige Recht weder erkennbar noch beweisbar ist. Weil ein Urteil über die Wahrheit oder Falschheit der verschiedenen Rechtsüberzeugungen unmöglich ist, weil es auf der anderen Seite eines einheitlichen Rechts für alle Rechtsgenossen bedarf, ist der Gesetzgeber vor die Notwendigkeit gestellt, den gordischen Knoten, welchen die Wissenschaft nicht auflösen kann, mit einem Schwerthieb zu zerhauen. Weil es unmöglich ist, festzustellen, was gerecht ist, muß man festsetzen, was rechtens sein soll. An Stelle eines Aktes der Wahrheit, welcher unmöglich ist, wird ein Akt der Autorität notwendig. Der Relativismus mündet aus in den Positivismus.« 69 In der Rezeption der ›Radbruchschen Formel‹ und bei seiner Kritik am Rechtspositivismus sind diese Aspekte oft übersehen worden. 70 Vor nahezu 65 Jahren »hat Walter Jellinek […] die wohl nur halb scherzhaft gemeinte Frage aufgeworfen, ob die Kennzeichnung als ›Rechtspositivist‹ den Tatbestand der Beleidigung erfülle. Zwanzig Jahre später notierte Ernst Forsthoff, der Positivismus sehe sich ›seit etlichen Jahrzehnten in die Rolle des bewährten Prügelknaben moderner Rechtsdogmatiker und billiger Besserwisserei verwiesen‹. An Befunden dieser Art hat sich seitdem kaum etwas Durchgreifendes geändert. Denn nach wie vor ist ›der‹ Rechtspositivismus Gegenstand heftiger Angriffe und vernichtender Kritik. […] Teils wird ihm praktisch der Untergang der Weimarer Republik und der Weg in den Totalitarismus vorgehalten und zugerechnet und vom ›schmerzlichen Anschauungsunterricht‹ gesprochen, den Hitler den Anhängern dieser offenkundig besonders irrigen und fehlgeleiteten Lehre erteilt habe – oder der Vorwurf geht pauschal dahin, er sei eine zynische Rechtfertigungsideologie diktatorischer Herrschaftssysteme.« 71 Doch derartige Thesen, wie sie z. B. auch H. Welzel bei seiner Apologie des Naturrechts aufgestellt hat, das ›Dritte Reich‹ habe »den Radbruch 1957c [1934], S. 79 ff. Vgl. zu Radbruchs rechtsphilosophischem Relativismus Pauly 2011a. 70 Vgl. hierzu vor allem Dreier 1991. 71 Dreier 2011, S. 61 f. »Wenn hierzulande jemand als ›Rechtspositivist‹ bezeichnet wird, schwingt darin meist ein Vorwurf mit: Es gilt als rückständig, ja geradezu borniert, das Recht zunächst einmal juristisch, mithin nicht politisch oder moralisierend zu betrachten. In der Tat basiert der Rechtspositivismus auf der begrifflichen Unterscheidung zwischen Recht und Moral, und das erscheint verdächtig« (Meier 2005, S. 430). 69
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3 · Eine Gründungslegende
Rechtspositivismus beim Wort genommen« 72, sind in rechtshistorischer Hinsicht unhaltbar – sie sind Legende und Ausdruck eines Vorurteils: »Der Rechtspositivismus war weder der Steigbügelhalter des Nationalsozialismus noch sein willfähriger Handlanger. Nicht die formale Neutralität rechtspositivistischer Lehren und eine dem korrespondierende Disposition zur strikt gesetzesorientierten Rechtsanwendung haben die bekannte Entwicklung ermöglicht, sondern die Instrumentalisierungsfähigkeit des Juristenstandes für wertbezogene Zwecksetzungen sowie die in Lehre und Wissenschaft weitgehend längst vollzogene Abkehr vom Ideal des Rechtspositivismus.« 73 Diese Zurückweisung der Positivismuslegende hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr durchgesetzt: »Der Positivismus konnte schon deshalb nicht für die ›Auflösung der demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur der Weimarer Verfassung‹ verantwortlich gewesen sein, weil die große Mehrheit der Weimarer Staatsrechtslehrer Antipositivisten waren und die wenigen Positivisten zu den Verteidigern dieser Verfassung gehörten. […] Noch abstruser ist die Behauptung, der Positivismus habe dem ›Einbruch nationalsozialistischer Rechtsauffassungen‹ den Weg geebnet. Der Nationalsozialismus sicherte die Konformität des Rechtsstabs in der Konsolidierungsphase nicht mit Hilfe der Sachlichkeit des Positivismus, sondern vor allem durch eine quasi-naturrechtliche Bindung der Rechtsanwender an die nationalsozialistische Ideologie. […] Die nationalsozialistische Auffassung des Rechts war das gerade Gegenteil des positivistischen Rechtsdenkens.« 74 Auch A. Baratta »bezweifelt die heute noch vertretene Auffassung, daß das nationalsozialistische Rechtsdenken aus dem dem Geiste des Rechtspositivismus her stamme«. 75 H. Rottleuthner stellt fest: »Die so genannte Positivismus-These – von Gustav Radbruch nach 1945 aufgebracht –, nach der die deutschen Juristen durch die Auffassung ›Gesetz ist Gesetz‹ widerstandsWelzel 1966a, S. 323. Dreier 1991, S. 134. Für Österreich stellt Dvořák 2013, S. 16, fest: »Es ist bezeichnend, dass es gerade die Vertreter des Rechtspositivismus unter den österreichischen Juristen waren, die die Maßnahmen des Dollfußregimes (von der Ausschaltung des Parlaments bis zur Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs) als Verfassungsbrüche brandmarkten, während Anhänger konservativer Naturrechtslehren sie durchaus rechtfertigten.« 74 Neumann 2010. 75 Baratta 1968, S. 327; vgl. auch S. 340–343. 72 73
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Naturrecht vs. Rechtspositivismus
los gegenüber dem gesetzlichen Unrecht des NS gemacht worden seien, gilt heute als falsch. […] Zur Erklärung der Konformität der Juristen im NS wird heute eher ein Bündel von Faktoren angeführt: sie haben vor allem aus Überzeugung mitgemacht und darüber hinaus vorauseilenden Gehorsam geübt. Sicherlich spielte ab einer schwer zu bestimmenden Zeit auch die Angst vor Positionsverlust eine Rolle. Beachten sollte man allerdings ein hohes Maß an Berufszufriedenheit. Die Karrierechancen waren gut – auch durch Ausschluss jüdischer Richter. Der Geschäftsanfall sank, ohne dass die Planstellen reduziert wurden; die Bezüge stiegen leicht. Auch die verbliebenen Rechtsanwälte profitierten vom Ausschluss ihrer jüdischen Kollegen. Erstmals erhielten nach 1936 Referendare und Assessoren Bezüge; für diese wurden auch feste Anstellungsfristen statt unbegrenzter Wartezeiten eingeführt.« 76 Und doch erwies sich die »nicht zuletzt auch aus Gründen der eigenen moralischen Entlastung zusammengestrickte PositivismusLegende, die unter Ausblendung der historischen Fakten den Repräsentanten der positivistischen Richtung und insbesondere Kelsen eine Mitverantwortung für die vermeintliche ideologische Wehrlosigkeit des Juristenstandes der Weimarer Republik gegenüber dem Nationalsozialismus zuschob, […] sich trotz ihrer inhaltlichen Haltlosigkeit als ebenso langlebig wie wirkmächtig«. 77 »Noch im Jahre 1994 schloss ein Öffentlichrechtler seine Besprechung der ›Lebenserinnerungen‹ von Gerhard Anschütz mit dem böswilligen Satz: ›Sein Positivismus hat zur Auflösung der demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur der Weimarer Verfassung beigetragen und damit dem Einbruch nationalsozialistischer Rechtsauffassungen den Weg geebnet‹.« 78 Bezieht man derartige Kritiken auf einen Rechtspositivismus, wie ihn Rottleuthner in Müller 2005. Malowitz 2011, S. 92. Auch Kervégan 2008, S. 44, betont, »dass der Rechtspositivismus keineswegs wehrlos war gegen die Terrorordnung totalitärer Staaten, indem er implizit davon überzeugt war, dass die Herrschaft des Gesetzes nur insofern berechtigt ist, als das Gesetz die öffentliche Vernunft irgendwie verkörpert. Eine öffentliche Vernunft, die weder öffentlich, noch vernünftig sei: das war für die Theoretiker des Rechtspositivismus unvorstellbar. Rechtspositivismus bedeutet also keine blinde Verehrung der Macht, sondern die nüchterne Überzeugung, dass in Ermangelung von unbestreitbaren ethischen und politischen Wahrheiten (bzw. Normen) die abstrakte und formale Prozeduralität des Rechts der einzige Weg zum friedlichen Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft ist.« Zur These der Wehrlosigkeit der Juristen vgl. auch Rottleuthner 1987. 78 Neumann 2012, S. 3. Das Zitat: C. H. Ule, Gerhard Anschütz. Ein liberaler Staats76 77
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3 · Eine Gründungslegende
Hans Kelsen 79 begründet hat, dann zeigt sich, wie unberechtigt sie waren.
Kelsens Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats Die Staatsrechtslehre in der Weimarer Zeit 80 war polarisiert in der Konfrontation mit dem Normenpositivismus und »in Auseinandersetzung mit der und um die neue Verfassung des Deutschen Reiches von 1919«; »die Einnahme einer wissenschaftstheoretischen Position [war] oftmals mit einer bestimmten politischen Option verbunden«. Auf der einen Seite stand die »normlogische Schule unter der Führung H. Kelsens«. Sie bemühte sich »um ›den Nachweis, daß es für die Staatsrechtswissenschaft gar keinen Gegensatz zwischen einer Soziallehre und Rechtslehre vom Staat geben könne, weil der Staat allein kraft seiner Rechtsordnung existiere und somit mit dieser identisch sei‹«. 81 Kelsen hat – anders als Gustav Radbruch 82, aber auch als Rudolf
rechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. In: Der Staat 33 (1994), S. 111. 79 Vgl. Dreier 1993, Hart 1998, Dreier 2011. 80 Zur Staatsrechtsdebatte dieser Zeit vgl. Kervégan 2002, Gangl 2011. 81 Kelsen bezog sich hier kritisch auf die Unterscheidung in G. Jellineks Allgemeiner Staatslehre zwischen der das historische Sein des Staates betreffenden ›sozialen Staatslehre‹ und der ›Allgemeinen Staatsrechtslehre‹ als Normwissenschaft, deren Gegenstand die Rechtsnormen sind, die in diesem Sein zum Ausdruck kommen sollen. Beide Theoriebereiche betreffen dasselbe Objekt, den Staat mit seiner ›sozialen und rechtlichen Seite‹. Vgl. Jellinek 1914, S. 11; vgl. hierzu zu Lembcke 2014, zu Kelsens Kritik an Jellinek vgl. van Ooyen 2003, S. 28–39, Neumann 2012, S. 152 ff. 82 In der Auseinandersetzung mit Kelsens »Lehre von der Identität von Staat und Recht« hat Radbruch in seiner Rechtsphilosophie (Radbruch 1999, S. 169 ff.) festgestellt, die »Identitätslehre«, der zufolge »jeder Staat Rechtsstaat wäre«, habe »rein definitorisch-analytische Bedeutung, aber keinerlei rechtsphilosophisch-politischen Gehalt« (ebd., S. 170). Radbruch sah zwischen dem »Normativbegriff des Rechts« und dem »Wirklichkeitsbegriff des Staates […] keineswegs Identität, sondern umgekehrt schärfste Spannung«: »Die Norm ›Recht‹ ist für die Wirklichkeit ›Staat‹ in gewissem Sinne eine inadäquate Norm, denn auch die Idee des Rechts ist nicht mit der Staatsidee identisch, das Recht neben dem Staatszwecke einer Idee dienstbar, die mit dem näheren Staatszweck in Kollision geraten kann: der Rechtssicherheit, und einer zunächst staatsfremden Idee: der Gerechtigkeit« (ebd., S. 171). Der Staat, der zur Gesetzgebung unter der Bedingung berufen ist, »daß er sich durch seine Gesetze selbst für gebunden halte«, wird »an sein positives Recht gebunden durch überpositives,
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Kelsens Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats
Smend 83 und auch als Carl Schmitt – seine Auffassung von der Identität von Recht und Staat 84 immer wieder vertreten. Im Vorwort zur 2. Auflage seiner zunächst 1911 erschienenen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1923) schrieb er: »Wenn die ›Hauptprobleme‹ im Anschluß an eine allgemein verbreitete Vorstellung das Recht als Willen des Staates bezeichnen und sohin den Rechtssatz als hypothetisches Urteil über den Willen des Staates zu eigenem Verhalten charakterisieren, so kann damit nichts anderes gesagt sein, als daß der Rechtssatz in der logischen Form der Bedingung und Folge zwei Tatbestände miteinander verknüpft und daß in der Behauptung, der Folgetatbestand sei vom Staate gewollt, nur die Zurechnung zum Staate als der Einheit des Inbegriffes aller Rechtssätze, die Beziehung auf die Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt. […] Daß der Staat die Rechtsfolge ›will‹, bedeutet nur, daß dieser Tatbestand in der Einheit eines Systems von Rechtssätzen, bzw. rechtlich qualifizierten Tatbeständen begriffen wird. Das ist der eigentliche Sinn der Reduktion der Begriffe ›Staat‹ oder ›Staatswille‹ auf die Bedeutung von ›Ordnungseinheit‹, ›Zurechnungs-‹ oder ›Beziehungspunkt‹.« 85 Kelsen räumte aber jetzt ein, seine frühere Darstellung aus dem Jahre 1911 habe »dem Mißverständnis Vorschub geleistet«, als ob »in dem Satze, das Recht sei Wille des Staates, wie dies die herrschende Lehre meint, irgendeine Begriffsbestimmung des Rechtes gelegen, mit dem ›Vom Staate Gewollt-Sein‹ irgend ein objektives Kriterium natürliches Recht, durch denselben naturrechtlichen Grundsatz, auf den die Geltung des positiven Rechts selber allein gegründet werden kann« (ebd.,S. 173). 83 Smends Integrationslehre zufolge konstituiert sich die staatliche Ordnung »nicht primär durch das Recht, sondern durch einen ›geistigen Wirkungszusammenhang‹, der alle Glieder des Staates erfasst und der das Fundament der Gemeinschaft bildet. Dieses geistige Fundament und damit das eigentlich integrierende Moment der Smendschen Staatlehre bildet eine objektivistisch verstandene Wertordnung. Sie wird im Staat und seinen Institutionen symbolisch repräsentiert und wirkt als sinngebender Einheitsfaktor in zweifacher Weise: Zum einen steht sie als Einheit gegen die pluralistische Bedrohung der Gemeinschaft. Zum anderen steht sie aber auch in theoretischer Hinsicht als eine ›geistig-materielle Substanz‹ gegen die dem Positivismus und insbesondere Kelsen vorgeworfene Auflösung des Staates in eine rein formell begriffene Rechtsordnung.« (Schulz 2014, S. 147). 84 Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 319 f. Zu Kelsens Staatstheorie vgl. H. Dreier 1990, Neumann 2012, S. 152 ff.; vgl. auch van Ooyen 2003: »Kelsens positivistische Rechts- und Staatstheorie ist eine politische Theorie der pluralistischen Demokratie« (ebd., S. 18). 85 Kelsen 1923, S. X.
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des Rechtes, ein Wesensmerkmal des Gesamttatbestandes Recht gegeben sei«. 86 Wenn Kelsen das Recht und den Staat identifiziert hat, dann war dies (i) kritisch gegen das »naturrechtliches Vorurteil« gewendet, man könne oder müsse den Staat durch das Recht legitimieren, 87 und (ii) gegen die These vom ›Staat als vorrechtlichem Machtphänomen‹. Liest man Kelsens Identifizierung von Recht und Staat spiegelverkehrt – und so richtig –, dann ergibt sich, dass es ihm um die gesollte Identität von Staat und Recht als Grundlage einer rechtsstaatlichen Demokratie ging. So gelesen erschließt sich erst Kelsens Strategie: Die »Relativierung des Staatsbegriffs« durch Identifizierung mit dem Recht sollte »die erkenntnismäßige Einheit alles Rechtes« sicherstellen und damit »eine nicht unwesentliche Voraussetzung für die organisatorische Einheit einer zentralisierten Weltrechtsordnung« schaffen. 88 Gegen Kelsen wandte sich Hermann Heller, auch er einer der wenigen Staatsrechtslehrer, die sich vorbehaltlos für die Weimarer Republik und die Demokratie eingesetzt und vor der drohenden Diktatur gewarnt haben 89: »Heute findet [der] Glaube an eine entleerte Nomokratie, die Utopie des ewigen Friedens durch endgültige Vergesetzlichung aller Individualität nur noch wenige Anhänger. In Reinkultur bildet er den nicht leicht erkennbaren Untergrund der reinen Rechtslehre Kelsens und seiner Schule, die in jedem Staat einen Rechtsstaat und als Ideal der Demokratie die ›Führerlosigkeit‹ erkennen.« Polemisch und zu Unrecht hat Heller den Satz angefügt: »Die leeren Abstraktionen dieses nomokratischen Denkens tragen nicht wenig dazu bei, gerade unter einer nach sittlichen Begründungen suchenden und wirklichkeitshungrigen Jugend den Diktaturgedanken zu befördern.« 90
Ebd. 1928 schrieb Kelsen: »Indem der Staat als eine normative Ordnung, d. h. als ein System von Normen begriffen wird, die sprachlich in Sollsätzen, logisch in hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden, ist er prinzipiell in dieselbe Sphäre gerückt, in der das Recht begriffen wird. Damit ist der Staat in demselben Sinne wie das Recht als ein ›Wert‹ der ›Wirklichkeit‹, als ein ›Sollen‹ dem ›Sein‹ entgegengesetzt« (Kelsen 1928a, S. 75). 87 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 320. 88 Ebd., S. 154. 89 Vgl. Müller 1992. 90 Heller 1971 [1930], S. 45. Heller bezog sich auf Hans Kelsens Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 79. 86
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Kelsens Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats
Doch Kelsen hatte bereits 1920 in Sozialismus und Staat geschrieben: »Demokratie ist […] an sich nur ein formales Prinzip, das der jeweiligen Anschauung der Mehrheit die Herrschaft verschafft, ohne daß damit die Gewähr gegeben ist, daß gerade diese Mehrheit das absolut Gute, Richtige erreicht. Aber die Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie ihrem innersten Wesen nach eine Minorität nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und – in konsequenter Verfolgung des demokratischen Gedankens – schützt. Die Relativität des Wertes, den ein bestimmtes politisches Glaubensbekenntnis aufrichtet, die Unmöglichkeit, für ein politisches Programm, für ein politisches Ideal bei aller subjektiven Hingebung, bei aller persönlichen Überzeugung Gültigkeit zu beanspruchen, zwingt gebieterisch zu einer Negation auch des politischen Absolutismus.« 91 Diese Demokratie sei – so Kelsen 1933 in Staatsform und Weltanschauung – »ein dem Führerideal, weil dem Autoritätsprinzip überhaupt nicht günstiger Boden«. 92 Bereits vor 1933 hatte Kelsen 1932 in einem unter dem Titel ›Verteidigung der Demokratie‹ erschienenen Aufsatz feststellen müssen: »In den Kreisen der Staatsrechtslehrer […] versteht es sich heute beinahe von selbst, von Demokratie nur mit verächtlichen Worten zu sprechen, [es] gilt als modern, die Diktatur – direkt oder indirekt – als das Morgenrot einer neuen Zeit zu begrüßen. Und diese Wendung der ›wissenschaftlichen‹ Haltung geht Hand in Hand mit einem Wechsel der philosophischen Front: Fort von der jetzt als Flachheit verschrieenen Klarheit des empirisch-kritischen Rationalismus, diesem geistigen Lebensraum der Demokratie, zurück […] zum Kultus eines nebulosen Irrationalen, dieser spezifischen Atmosphäre, in der seit je die verschiedenen Formen der Autokratie am besten gediehen sind. Das ist die Parole von heute.« 93 Erkenne man – so betonte Kelsen 1934 in der 1. Auflage seiner Reinen Rechtslehre – »als die wesentliche Funktion der Rechtsnorm, daß sie den Menschen zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet […], dann ergibt sich als der entscheidende Gesichtspunkt, von Kelsen 1965 [1920], S. 161. Vgl. ebd., S. 27: »Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung gleichermaßen achtet.« 92 Kelsen 1933, S. 20. 93 Zit. n. Dreier 2001, S. 10. 91
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3 · Eine Gründungslegende
dem aus die Erzeugung der Rechtsnorm zu beurteilen ist: ob der durch die Rechtsnorm zu verpflichtende Mensch, der Normunterworfene, an der Erzeugung dieser ihn verpflichtenden Norm beteiligt ist oder nicht«. 94 Die Staatsform, die dem Rechnung trägt, ist jene, in der der Staat als »eine Rechtsordnung« bestimmbar ist. Kelsen betonte zwar: »Wo ich mich für Demokratie ausgesprochen habe, habe ich solches Werturteil nie als Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis ausgegeben, sondern offen und ehrlich als Konsequenz einer jenseits aller Wissenschaft liegenden subjektiven Grundwertung.« 95 Aber an seiner auch theoretisch begründeten Verteidigung der Demokratie 96 ließ er keinen Zweifel aufkommen: Demokratie sei ein hoffnungsloses Unterfangen, »wenn man von der Annahme ausgeht, daß eine Erkenntnis absoluter Wahrheit, daß eine Einsicht in absolute Werte möglich ist. Denn was kann es gegenüber der alles überragenden Autorität des Absolut-Guten anderes geben als den Gehorsam derer, denen es das Heil bringt, den bedingungslosen und dankbaren Gehorsam gegenüber demjenigen, der, im Besitz des Absolut-Guten, dieses weiß und will; ein Gehorsam, der freilich in demselben Maße nur auf dem Glauben darauf beruhen kann, daß die autoritäre Person des Gesetzgebers im Besitze des Absolut-Guten sei, als eine Erkenntnis desselben der großen Menge der Normunterworfenen versagt bleibt. An diesem Punkte« – fügt Kelsen hinzu – »an dem die Demokratie jede Aussicht auf Rechtfertigung verloren zu haben scheint, gerade an diesem Punkte muß ihre Verteidigung einsetzen.« 97 Deshalb bietet es sich an, Kelsens Rechtspositivismus als demokratischen Positivismus zu würdigen: »Unter Positivismus versteht man, dass zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, keine notwendige Beziehung besteht; das heißt, dass die rechtliche Geltung eines Gesetzes nicht damit zusammenhängt, wie der Inhalt dieses Gesetzes ausfällt. Für ›demokratischen Positivismus‹ trifft dies, abgesehen von seiner Festlegung auf demokratische Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 107. Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 143: »Die Beteiligung der Normunterworfenen an der Gesetzgebung, das ist der Erzeugung genereller Rechtsnormen, ist das wesentliche Merkmal der demokratischen, zum Unterschied von der autoritären Staatsform«. 95 Kelsen in Juristische Wochenschrift, 1929, S. 1066. 96 Vgl. hierzu Dreier 1990, 1993, 1997, 1999. 97 Kelsen 1981 [1929], S. 100. Zum »Relativismus«, den »der demokratische Gedanke voraussetzt«, vgl. ebd., S. 101. 94
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Kelsens Verteidigung des demokratischen Rechtsstaats
Rechtserzeugung, ebenfalls zu: Er motiviert den Respekt vor inhaltlich beliebigen rechtlichen Normen und Entscheidungen mit dem Respekt für eine nichtbeliebige Rechtsquelle. Die Funktion eines solchen Positivismus liegt nun nicht darin, die Begründungsbedürftigkeit oder Begründungsfähigkeit von Gesetzen abzuwehren. Vielmehr soll ausgeschlossen werden, dass bei der Anwendung von Gesetzen in Justiz und Verwaltung und beim Regierungshandeln Spielräume geltend gemacht werden, die mit einer demokratischen Programmierung der staatlichen Instanzen nicht verträglich sind.« 98 Seit der Beseitigung der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 und der Entlassung republikanischer und jüdischer Rechtslehrer wie G. Radbruch, H. Kelsen und H. Heller hatte sich auch die Funktion der Rechtswissenschaft grundlegend verändert; sie wurde »diktatorisch homogenisiert« 99. Nach dem bereits in der Weimarer Republik beginnenden Siegeszug des Nationalsozialismus hatten Verteidiger des demokratischen Rechtsstaates in Deutschland bis 1945 keine Zukunft mehr; was ihnen blieb, war der erzwungene Rückzug und das Exil. Bei Ernst Jünger war 1930 zu lesen: »Im gleichen Maße, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbar werden und wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.« 100 1933 hetzte ›Die Deutsche Studentenschaft‹ unter dem Titel Wider den undeutschen Geist: »Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke. […] Es klafft ein Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum. […] Unser gefährlichster Widersacher ist der Jude, und der, der ihm hörig ist. […] Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter.«
Niesen/Eberl 2006, S. 4, haben den Begriff ›demokratischer Positivismus‹ nicht auf Kelsen bezogen. Sie nennen die »interne Verknüpfung zwischen Rechtsstaat und Demokratie« als Grund dafür, »die Rechtstheorien von Maus und Habermas als demokratischen Positivismus ein[zu]führen«. 99 Schumann 2008, S. 126. 100 E. Jünger, Über Nationalismus und Judenfrage. In: Süddeutsche Monatshefte 27 (1930), S. 844 ff. 98
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Kapitel 4 Was heißt Rechtspositivismus?
Was Recht ist, ist eine empirische Frage; es geht um die Faktizität von Rechtsnormen. 1 Was Recht nicht sein soll, ergibt sich (i) daraus, dass es gegen die Normen der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde und der Menschenrechte sowie gegen Grundrechtsnormen der Verfassung und damit gegen allgemein anerkannte verrechtlichte 2 moralische Normen verstößt, und (ii) aus Erfahrungen mit Krisen wie jener in der Weimarer Republik, 3 bei deren Lösung das Recht versagt hat, und mit der Unangemessenheit von Rechtsnormen an die Bedürfnisse der Normadressaten, aus Akzeptanzverlust und allgemeiner Nichtbefolgung der Normen. 4 Vgl. Hofmann 2008a, S. 17–23. Verrechtlichung setzt den Staat voraus. Der Kampf für die Rechte, die jedem Menschen ›von Natur aus‹ zukommen sollten, war jedoch primär ein Kampf für Abwehrrechte gegen den Staat und für Freiheit durch Recht. Die Rechte soll der Staat garantieren – ein Circulus vitiosus? Dies ist die Ausgangslage für den normativen Status und die kritische Funktion der Rechts- und Staatstheorie: Das Recht soll den Staat zähmen; der Staat soll die Willkür von Individuen und Gruppen zu Lasten Dritter unterbinden. Auf die potenzielle Bedrohung der Freiheitsrechte durch den Staat antworten der Rechtsstaat und das Internationale Recht in Form der Verrechtlichung. Verrechtlichung ist zum einen eine Form der Kritik der Macht, und zwar innerhalb des Staates. Verrechtlichung ist zum anderen eine Antwort darauf, dass Menschen geneigt sind, sich auch dann subjektiv moralisch ›berechtigt‹ zu fühlen, wenn sie unter Missachtung der Rechte Dritter handeln – wie z. B. Politik und Militär in völkerrechtlich nicht legitimierten und ›Kollateralschäden‹ bei Zivilisten verursachenden Kriegen unter Missachtung des Völkerstrafrechts. 3 Zur Krise und zum juristischen Krisendiskurs in der Weimarer Republik vgl. Kervégan 2002. 4 Dass unter ›Akzeptanz‹ mehr zu verstehen ist als ›Gehorsam aus Gewohnheit‹ betont H. L. A. Hart: »Damit wir sagen können, daß sie [die Normadressaten] eine Verpflichtung haben oder anerkennen, das zu tun, was X sagt, müssen sie mehr als eine gewohnheitsmäßige Gehorsamshaltung gegenüber X einnehmen. Hinzukommen muß mindestens, daß sie 1. die Worte von X im großen und ganzen als Maßstab richtigen Verhaltens akzeptieren, so daß Abweichungen von diesem Maßstab (anders als bloße Abweichungen von einer gängigen sozialen Verhaltensweise – wie etwa der 1 2
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4 · Was heißt Rechtspositivismus
Das Recht und Rechte als »normative Relationen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten« 5 stammen letztlich aus zwei Quellen: (i) aus etwas, das gesollt, aber selbst noch nicht rechtsförmig ist; gesollt und zu verrechtlichen sind die individuellen, in moralische Einstellungen integrierten Ansprüche auf Achtung und Schutz der Menschenwürde und von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit; weil aber (ii) aus diesem Sollen – dessen Adressat in erster Linie Dritte sind und bei dem unterstellt wird, dass es im wohlverstandenen Eigeninteresse aller liegt – nicht zwangsläufig ein entsprechendes Verhalten und Handeln aller gegenüber allen folgt, werden moralische Ansprüche an das Recht delegiert. Das moralische Sollen begründet als solches nur den Wunsch bzw. die Hoffnung, dass alle gegenüber den jetzt lebenden Menschen und letztlich auch gegenüber den zukünftigen Generationen entsprechend ihren moralischen Ansprüchen und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen handeln. Weil diese Hoffnung oft enttäuscht wird, verbindet sie sich mit der transindividuellen Idee, es müssten für alle gleiche Bedingungen ihrer Realisierbarkeit geschaffen werden: Möglichkeitsbedingungen, die mehr zu verbürgen geeignet sind, als angesichts der moralischen Schwäche der allein auf sich gestellten Individuen erwartet werden könnte – Möglichkeitsbedingungen der Herrschaft des Rechts 6: »Durch vernünftiges Recht eine vernünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen – diese Hoffnung ist ein Grundelement der politischen Tradition unserer modernen westlichen Gesellschaften.« 7 Sitte, Tee oder Kaffee zu trinken) einen Anlaß für Kritik bilden, und daß sie 2. die Worte von X im allgemeinen als Grund für ihr eigenes Handeln, für ihre Verhaltenserwartungen gegenüber anderen sowie für die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen bei Abweichungen anführen« (Hart 2002, S. 52). 5 Sieckmann 1995, S. 165: »Rechte sollen als normative Relationen zwischen verschiedenen Rechtssubjekten in bezug auf einen Gegenstand definiert werden. Ihr Inhalt ist, daß jemand (der Rechtsträger a) gegenüber einem anderen (dem Adressaten des Rechts b) ein Recht auf etwas (z. B. den Vollzug einer Handlung H) hat. Diesem Recht korreliert eine Verpflichtung des Rechtsadressaten gegenüber dem Träger des Rechts auf den Vollzug dieser Handlung. Die Struktur des Rechts kann mit RabH notiert werden, die der korrespondierenden Verpflichtung mit ObaH.« 6 Der Begriff ›Herrschaft des Rechts‹ klingt strukturalistisch und so, als ginge es um die Aufhebung des Begriffs ›Rechtssubjekt/Rechtsperson‹ in der Perspektive einer Autopoiese und Selbstreferenzialität des Rechts; dies ist nicht beabsichtigt. Gemeint ist, was bereits in der ›Constitution of Massachusetts‹ (1780) in Art. XXX formuliert worden war: »government of laws, and not of men«. 7 Peters 1991, S. 12.
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Was Recht ist, ergibt sich aus dem in historischen, sozialen und politischen Räumen jeweils anerkanntem Gewohnheitsrecht, aus dem, was als Recht im Staat positiviert ist, und aus richterlicher Rechtsprechung. Das Jeweils der Zeitlichkeit und Kontextualität des Rechts lässt eine allgemeine substanztheoretische, die Besonderheiten von Rechtssystemen und Rechtskulturen vernachlässigende Definition nicht zu. Denn ›Recht‹ bezeichnet »eine Menge von Regeln, Prinzipien, Grundbegriffen und anderen symbolischen Elementen, die für eine Rechtsgemeinschaft Gültigkeit haben«. 8 Das Wort ›Recht‹ wird in mehreren Bedeutungen gebraucht: »Erstens, in Wendungen wie ›der Begriff des Rechts‹ bezeichnet er einen Allgemeinbegriff zur Klassifikation eines bestimmten Typs von Normen, die wir im Unterschied zu Bräuchen, sittlichen Normen, Konventionen, moralischen Normen, als Rechtsnormen bezeichnen. ›Recht‹ bezeichnet hier ein allgemeines Merkmal eines Normtyps. Zweitens bezeichnen wir mit dem Ausdruck ›Recht‹, in der Wendung ›das Recht‹, eine Rechtsordnung im objektiven Sinne eines Inbegriffs von Gesetzen, Verordnungen, rechtskräftigen Urteilen, Gewohnheitsrechten und Rechtsgedanken (ungeschriebenes Recht). Mit Wendungen wie ›das deutsche Recht‹, ›das englische Recht‹ usw. beziehen wir uns auf die objektive Rechtsordnung einer bestimmten (politisch konstituierten) Gruppe von Menschen. In der dritten Bedeutung bezeichnet der Ausdruck ›Recht‹ eine Befugnis, die jemand (aufgrund des objektiven Rechts) hat, d. h. subjektives Recht. Subjektive Rechte sind in der rechtswissenschaftlichen Terminologie Herrschaftsrechte […], Ansprüche […] und Gestaltungsrechte«. 9 Der klassischen Typologie N. W. Hofelds in Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning (1919) zufolge sind vier Rechtstypen zu unterscheiden: »The first is a claim-right held by person A against another person B. It is […] equivalent to (i. e. it exists if and only if) B has a duty to A in respect of the content of the claim, for example, that he be off A’s property. The claim-right can be negative (to non-interference) or positive (to some contribution). The right is directional, that is, directed towards someone (possibly many people), and entails that the latter have a correlative and di-
8 9
Ebd., S. 23. Hervorh. v. mir. Mohr 1996, S. 35.
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rectional duty to the rightholder. Hence, if B owes something to A and B fails in his duty, he may not merely act wrongly, he may wrong A. No one else may have any duty to A, for example, to see to it that B performs his duty to A, or even not to interfere with what A has from B. In virtue of this, a claim-right that A has need not involve what is known as a restriction (or constraint) on interference by (any) others with that to which A has a claim.« 10 Bei der kontrovers beantworteten Frage nach dem Status und nach der Funktion des Rechtspositivismus geht es um die »Selbstreflexion der Rechtswissenschaft als Deutungswissenschaft«; reflektiert werden »die Ordnungsansprüche, die vom Rechtspositivismus ausgehen. Dieser muss sich in jeweils unterschiedlichen Kontexten bewähren und trägt somit je nach Epoche ein sehr unterschiedliches Gesicht. Immer geht es jedoch um die zentrale Frage der Rechtsgeltung, um die Geltungsressourcen des einfachen und des Verfassungsrechts, um die Umwelt des Rechts und vor allem sein Verhältnis zur Demokratie, zu sozio-moralischen Ressourcen und um seine Selbstreferentialität.« 11 Sofern es nicht um andere Formen der Konfliktlösung, sondern um Recht geht, kann man von Kants funktionstheoretischer Beantwortung der Frage »Was ist Recht?« ausgehen: »Das Recht ist […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« 12 Unter ›Rechtspositivismus‹ soll im Folgenden verstanden werden »jede Theorie, die unter Vermeidung metaphysischer Annahmen (d. h. insbesondere der Existenz Gottes, eines Ideenreiches, einer vernünftigen Weltordnung, einer unveränderlichen Natur des Menschen oder einer teleologisch bestimmten Natur) den Begriff des Rechts mit Hilfe empirischer Merkmale bestimmt, die jeweils veränderlich sind.« 13
So die Zusammenfassung in Kamm 2002, S. 477. Schmidt 2014a, S. 9 f. 12 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 230. Siehe hierzu in diesem Buch S. 169–172. 13 Ott 1992, S. 108. 10 11
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Die rechtspositivistische These der Trennung von Moral und Recht Mit der antimetaphysischen Stoßrichtung von Rechtspositivismen sind zwei Prinzipien verbunden: (i) die Absage an die Begründung des Rechts aus naturrechtlich verstandenen Moralnormen und (ii) die These der Trennung von Recht und Moral. Diese These ist der Stein des Anstoßes für alle, die von einer notwendigen Verbindung von Recht und Moral ausgehen. Die Feststellung der Positivität des Rechts entbindet nicht von der Geltungsfrage, d. h. von der Frage, worauf »sich in einer pluralistischen und fragmentierten Gesellschaft bei der Vielzahl heterogener Individual- und Gruppeninteressen eine nicht nur auf der staatlichen Zwangsgewalt beruhende, für alle verbindliche (legitime) Ordnung« gründet. 14 Die zentrale Frage, mit der rechtspositivistische Theorien nach dem Unrecht konfrontiert werden, lautet: »Sollen Gesetze, die verfahrensmäßig korrekt zustande gekommen sind, auch dann noch als ›positiv‹ geltendes Recht angesehen werden, wenn sie eklatant gegen moralische Grundsätze verstoßen?« 15 Von Kritikern wird die Trennungsthese 16 oft so rekonstruiert, dass die Gegenargumente 17 scheinbar plausibel sind: »Alle positivistischen Theorien vertreten die Trennungsthese. Diese sagt, daß der Begriff des Rechts so zu definieren ist, daß er keine moralischen Elemente einschließt. Die Trennungsthese setzt voraus, daß es keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen dem Recht und der Moral, zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert, oder zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, gibt. […] Ihnen allen gemeinsam ist, daß das, was Recht ist, ausschließlich davon abhängt, was gesetzt und/oder wirksam ist. Eine wie auch immer beschaffene inhaltliche Richtigkeit spielt keine Rolle.« 18 Diese Rekonstruktion ist aber unzutreffend und ein Teil der Positivismuslegende: Rechtspositivisten müssen den Be-
Rinken 2007, S. 25 f. Peters 1991, S. 93. 16 Vgl. zum Verständnis dessen, was die Trennungsthese bedeutet und was sie nicht bedeutet, u. a. Green 2008. 17 Zum positivistischen Rechtsbegriff und zu Einwänden gegen ihn vgl. Dreier 1986. 18 Alexy 2011, S. 15; vgl. ders. 1990, S. 9. 14 15
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griff des Rechts keineswegs so definieren, dass er ›keine moralischen Elemente einschließt‹. 19 R. Dworkin, der eine Verbindungsthese vertritt, hat in seiner ›prinzipientheoretischen‹ Kritik 20 am Rechtspositivismus erklärt, »daß die zentralen Aussagen der Rechtstheorie, die ich als PositivisIch teile die von Mohr 2008, S. 140 f., vorgeschlagene »Differenzierung des Moralbegriffs. Man muß unterscheiden zwischen: (1) konkreten moralischen Wertüberzeugungen, die wie Gesetze bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben bzw. verbieten und die für die inhaltliche Ausgestaltung von Rechtsnormen relevant werden können, und (2) übergreifenden Bewertungsmaßstäben für die Richtigkeit von Rechtsnormen, die lediglich festlegen, welchen normativen Gestaltungsspielraum es für die betreffende Rechtsordnung gibt; sie explizieren die Forderung der Legitimität und Gerechtigkeit von Normen und Rechtsordnungen als ganzen. […] Die Trennung zwischen Recht und Moral, die der Rechtspositivismus fordert, muß auf den ersten Moralbegriff beschränkt werden. Die Entmoralisierung des Rechts in diesem Sinne erlaubt die Entlastung der Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft von weltanschaulichen, moralischen und religiösen Bekenntnissen. Dies ist die Grundlage für die Ablehnung des Fundamentalismus. Das heißt aber nicht, daß Recht in einem moralischen Vakuum operierte. Es ist immer mit einer Pluralität von Moralen konfrontiert, sowohl intrakulturell als auch interkulturell. […] Bei der Frage der Bewertung von Recht können wir weder einfach eine Moral als einem Recht zugrundeliegend behaupten und naturrechtlich argumentieren, noch können wir Argumente mit Berufung auf überpositive Kriterien einfach als moralisch und damit nicht rechtgeltungsrelevant ablehnen. Rechtsgrundsätze wie der Grundsatz der Rechtssicherheit oder das Prinzip der faktischen demokratischen Legitimation sind etwas anderes als Moral oder Recht. Es ist etwas Komplexeres, eine Art Amalgam aus beidem. Selbst für den Rechtssicherheitsgrundsatz, den der Positivismus so stark macht, ist keine Begründung möglich, die lediglich auf intern rechtssystematische Argumente und nicht auf moralische Prinzipien rekurriert.« 20 »Das Prinzipienargument besagt, daß allen entwickelten Rechtssystemen Prinzipien immanent sind, die kraft ihrer Struktur und/oder ihrer Geltungsbegründung den positivistischen Rechtsbegriff sprengen« (Dreier 1986, S. 892). ›Prinzipien‹ »entziehen sich nach ihm einem grundnormfähigen Identifikationskriterium. Näherhin lassen sich bei Dworkin […] nach ihrer Geltungsbegründung mindestens vier Arten von Prinzipien unterscheiden: erstens Prinzipien, die in der Verfassung oder in den Gesetzen eines Rechtssystems ausdrücklich statuiert sind, zweitens Prinzipien, die nicht ausdrücklich statuiert sind, aber kraft eines ›institutional support‹ in Gesetzen, Präjudizien, Rechtsgewohnheiten und dogmatischen Lehrmeinungen als rechtlich geltend qualifiziert werden können, drittens Prinzipien, die keine hinreichend belegbare institutionelle Stützung haben, aber gleichwohl, weil Bestandteil der ›political‹ oder ›community morality‹, präjudizienüberwindende Kraft haben können und insofern kraft ihres Inhalts rechtlich gelten, und viertens Prinzipien, die durch die Verfassung des Systems oder durch seine moralisch-politischen Basisprinzipien als legitime Gründe richterlichen Entscheidens ausscheiden und damit von der Rechtsgeltung ausgeschlossen sind« (ebd., S. 893). Zu Dworkins Prinzipientheorie vgl. auch Sieckmann 2014, S. 176 f. 19
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mus bezeichnet habe, sich im Irrtum befinden und aufgegeben werden müssen«. 21 Er nennt u. a. folgende Merkmale als dessen »Schlüsselaussagen«: »(a) Das Recht einer Gemeinschaft ist eine Menge besonderer Regeln, mit deren Hilfe die Gemeinschaft direkt oder indirekt bestimmt, welches Verhalten von der Staatsgewalt bestraft oder erzwungen werden wird. Diese besonderen Regeln lassen sich durch besondere Kriterien angeben und unterscheiden, durch Tests, die nicht mit ihrem Inhalt, sondern mit ihrer Herkunft oder der Weise zu tun haben, auf die sie angenommen oder entwickelt wurden. Mit Hilfe dieser Herkunftstests kann man gültige Rechtsregeln von unechten Rechtsregeln (Regeln, die Anwälte und prozessierende Parteien fälschlicherweise als Rechtsregeln vorbringen) sowie von anderen Arten gesellschaftlicher Regeln (die im allgemeinen unter der Bezeichnung ›moralische Regeln‹ alle in einen Topf geworfen werden) unterscheiden, die die Gemeinschaft befolgt, aber nicht durch Staatsgewalt durchsetzt. (b) Die Menge dieser gültigen Rechtsregeln stellt ›das Recht‹ erschöpfend dar; wenn daher ein Fall nicht eindeutig von einer solchen Regel abgedeckt wird (weil es keine Regel gibt, die angemessen erscheint, oder weil diejenigen Regeln, die angemessen erscheinen, vage sind, oder aus irgendeinem anderen Grund), dann kann dieser Fall nicht durch ›Anwendung des Rechts‹ entschieden werden.« 22 Hart, gegen dessen rechtspositivistische Position sich Dworkin wendet, 23 hat im ›Postscriptum‹ von 1994 zu The Concept of Law (1961) zu den Differenzen geschrieben: »Der größte fundamentale Unterschied im Hinblick auf die Verbindungen von Recht und Moral zwischen der in diesem Buch entwickelten Rechtstheorie und Dworkins Theorie betrifft die Identifizierung des Rechts. Nach meiner Theorie können die Existenz und der Inhalt von Rechtsnormen durch Rückgriff auf die sozialen Quellen des Rechts (zum Beispiel Gesetzgebung, richterliche Entscheidungen, soziale Bräuche) ohne Bezug zur Moral identifiziert werden, es sei denn, das Recht hat selbst moralische Kriterien für die Identifizierung von Rechtsnormen in sich aufgenommen. In Dworkins interpretationistischer Theorie ist jeder
Dworkin 1984 [1978], S. 91. Zur Anti-Kritik an Dworkins These, dass Individuen ›moralische Rechte‹ gegen den Staat haben, vgl. Kervégan 2008, S. 45, und ders. 2010. Zur Auseinandersetzung mit Dworkin vgl. auch Dreier 1986. 22 Dworkin 1984 [1978], S. 45 f. 23 Zur Debatte zwischen Dworkin und Hart vgl. u. a. Shapiro 2007. 21
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Rechtssatz, der eine Aussage über das macht, was in einem konkreten Fall Recht ist, notwendigerweise mit einem moralischen Urteil verknüpft, denn gemäß seiner holistischen Interpretationstheorie sind Rechtssätze nur dann wahr, wenn sie zusammen mit anderen Prämissen aus jener Menge von Prinzipien gefolgert werden, die sowohl auf das ganze Recht passen, das mit Bezug auf die sozialen Quellen des Rechts identifiziert wurde, als auch die beste moralische Rechtfertigung für das Recht liefern. Diese allumfassende holistische Interpretationstheorie hat daher eine doppelte Funktion: sie dient sowohl dazu, Recht zu identifizieren, als auch dazu, eine moralische Rechtfertigung für es zu liefern.« 24 In der Auseinandersetzung wird oft unreflektiert die Annahme einer einzigen einheitlichen Theorie namens ›der Rechtspositivismus‹ 25 vertreten. Damit aber bleiben die Differenzierungen 26 unberücksichtigt, die sich in der Theorieentwicklung seit dem älteren Rechtspositivismus 27 ergeben haben, so z. B. der wesentliche Unter-
Hart 2011, S. 352. Hart unterscheidet innerhalb rechtspositivistischer Positionen folgende Prämissen: »Der Ausdruck ›Positivismus‹ wird in der zeitgenössischen anglo-amerikanischen Literatur verwendet, um eine oder mehrere der folgenden Behauptungen zu bezeichnen: 1. Gesetze sind Befehle von Menschenwesen; 2. es gibt keine notwendige Verbindung von Recht und Moral oder von Recht, wie es ist, und Recht, wie es sein sollte; 3. die Analyse bzw. das Studium der Bedeutungen von Rechtsbegriffen ist ein bedeutendes Studium, das man von den historischen Untersuchungen, den soziologischen Untersuchungen und der kritischen Würdigung des Rechts mittels der Moral, der sozialen Ziele und Funktionen usw. unterscheiden sollte (obwohl beides miteinander nicht konfligiert); 4. ein Rechtssystem ist ein ›geschlossenes logisches System‹, in dem die korrekten Entscheidungen streng logisch aus vorherbestimmten Rechtsregeln deduziert werden können; 5. moralische Urteile können nicht wie Tatsachenaussagen aufgestellt werden, nämlich nicht mit rationalen Argumenten oder aufgrund von Beweisen (›der Nichtkognitivismus in der Ethik‹). Bentham und Austin vertraten die Meinungen (1), (2) und (3), aber nicht (4) und (5); Kelsen vertrat die Meinungen (2), (3) und (5), aber nicht (1) und (4). Die Behauptung (4) wird häufig den ›analytischen Juristen‹ zugeschrieben, aber offenbar ohne guten Grund« (ebd., S. 309). 26 Kaufmann 2010 unterscheidet innerhalb des Rechtspositivismus zwischen methodologischem, etatistischem und psychologischem sowie soziologischem Positivismus. Zur Kritik am Pauschalbegriff ›der Rechtspositivismus‹ vgl. Dreier 2011, S. 63: »Offenbar faßt man unter diesem schlagwortartigen Sammelbegriff ganz unterschiedliche Aussagen und Aspekte, die teils wirkungsgeschichtlicher, teils geltungstheoretischer, teils methodologischer Natur sind.« 27 Siehe hierzu in diesem Buch S. 155 ff. 24 25
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schied zwischen einem ›exklusiven‹ 28, moralische Einflüsse auf das Recht ausschließenden und einem ›inklusiven‹ 29 Rechtspositivismus, der die These einer strikten Trennung von Recht und Moral so abmildert, dass moralische Einflüsse zwar nicht notwendigerweise, aber doch möglicherweise wirksam sind. N. Hoerster fordert eine »strikte Unterscheidung« der folgenden fünf Thesen als »unabdingbare Voraussetzung jeder kritischen Würdigung des Rechtspositivismus«: »1. Der Begriff des Rechts ist inhaltlich neutral zu definieren (Neutralitätsthese). 2. Der Begriff des Rechts ist durch den Begriff des Gesetzes zu definieren (Gesetzesthese). 3. Die Anwendung des Rechts erfolgt im Wege wertungsfreier Subsumtion (Subsumtionsthese). 4. Die Maßstäbe richtigen Rechts sind subjektiver Natur (Subjektivismusthese). 5. Die Normen des Rechts sind in jedem Fall zu befolgen (Befolgungsthese).« Die als ›Trennungsthese‹ verstandene Neutralitätsthese sei »gewissen Mißverständnissen ausgesetzt«; sie besage »nämlich keineswegs, daß in die Rechtsordnung einer Gesellschaft keine moralischen Werte oder Überzeugungen Eingang finden oder Eingang finden sollen. Der Rechtspositivismus nimmt weder zu faktischen noch zu normativpolitischen Fragen der Entstehung des Rechts Stellung.« 30 Hinsichtlich der Frage, was den Rechtspositivismus wirklich kennzeichnet, kommt Hoerster zu folgendem Schluss: »Von den fünf genannten Thesen, die dem Rechtspositivismus häufig ohne Unterschied von seinen Gegnern zugeschrieben werden, werden die – in der Tat abwegigen – Thesen 2, 3 und 5 von Anhängern des Rechtspositivismus gar nicht vertreten. Vertreten werden von den Anhängern des Rechtspositivismus allerdings These 1 und nicht selten auch These 4. Da jedoch auch diese beiden Thesen logisch voneinander unabhängig sind, müssen auch sie getrennt auf ihre Begründetheit hin untersucht werden. Auch empfiehlt es sich, wegen dieser gegenseitigen Un»Exclusive positivism denies, whereas inclusive positivism accepts, that there can be instances where determining what the law is, follow from moral considerations about that which it is there to settle« (Marmor 2002, S. 104). 29 »The Separability Thesis, at the most general level, denies that there is necessary overlap between law and morality. While the Separability Thesis thus implies that there are no necessary moral criteria of legal validity, it leaves open the question of whether there are possible moral criteria of validity. Inclusive legal positivists (also known as soft positivists and incorporationists) believe there can be such criteria; that is, they believe there are conceptually possible legal systems in which the criteria for legal validity include (or incorporate) moral principles« (Himma 2002, S. 125). 30 Hoerster 2012, S. 70 f. 28
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abhängigkeit der beiden Thesen die Lehre des Rechtspositivismus allein durch These 1 (die Neutralitätsthese), die jedenfalls die Kernthese aller ›Rechtspositivisten‹ darstellt, zu definieren.« 31
Recht und Moral Die Neutralitätsthese »ist das Produkt eines wesentlichen Merkmals der Moderne, und zwar der Ausdifferenzierung der normativen Systeme« 32: »Ethik und Recht machen zwei unabhängige Normenbereiche aus, deren jeder eigene Geltungskriterien und autonome Konsistenz (Geschlossenheit) besitzt. Es besteht gleichwohl ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen: in der Ethik gibt es keine ›positive‹ Normen, insofern sich keine festgestellte und einzige Grundnorm, folglich keine selbstständige und alleingültige Normenordnung aufzeigen lässt. Dem Recht gegenüber – das natürlich nur unter gewissen Bedingungen als geltendes Recht, d. h. als Recht überhaupt gilt – gibt es verschiedene ethische Normensysteme, deren jedes einen relativen Geltungsanspruch erheben darf. Deswegen muss man die strikte Unterscheidung beider Normenkomplexe festhalten.« 33 Detlef Horster hat vorgeschlagen, Recht und Moral 34 so zu unterscheiden: »1. Das Recht verzichtet auf eine rechtliche Gesinnung, weil es sich bei seiner Durchsetzung auf äußeren Zwang verlassen kann. 2. Im Recht gelten Normen und in der Moral Werte. Normen gelten absolut, Werte sind subjektiv geteilte Präferenzen. 3. Gesetze kommen durch Beschluss des Parlaments zustande. 4. Sie gelten ab einem bestimmten Datum. Undenkbar ist, daß moralische Werte zu einem bestimmten Datum in Kraft gesetzt werden könnten. 5. Im Recht gilt ein bis ins einzelne geregelter Vorrang bestimmten Rechts vor anderem. Stehen hingegen moralische Werte gleichrangig nebeneinander, ist die individuelle Entscheidung der Betroffenen gefordert.« 35 Ebd., S. 78. Vgl. auch Hoerster 1970, 1986, 1987 und ›Zur Verteidigung der rechtspositivistischen Trennungsthese‹ (Hoerster 1990). 32 Kervégan 2008, S. 24. 33 Ebd., S. 40. So auch die Akzentuierung in Kervégan 2010c, S. 249. Vgl. auch ders. 2010a und 2010b. 34 Vgl. hierzu die Beiträge in Sandkühler 2010 und ders. 2010a. Zur Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von Moral und Recht vgl. Kervégan 2010a. 35 Horster 2002, S. 12. 31
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Es geht um eine analytische Unterscheidung mit normativen Konsequenzen, nicht aber darum, moralische Implikationen des Rechts zu bestreiten. Das Ziel ist vielmehr, das Recht vor den Ansprüchen partikulärer privater Moralen zu schützen und eine Ethisierung des Rechts zu vermeiden, die darin besteht, »dass rechtliche Normen immer mehr durch ethische, außerrechtliche Standards ergänzt, zum Teil auch ersetzt werden« 36. Das damit verbundene Problem besteht darin, dass es – im Unterschied zur normativen Allgemeinheit und Verbindlichkeit des positiven Rechts – in pluralistischen Gesellschaften die eine von allen Norm-Adressaten akzeptierte Ethik nicht gibt; vielmehr konkurrieren (private) Ethiken miteinander um Anerkennung. Welche Ethik sollte dann zur Orientierung des Rechtssystems privilegiert werden? Wenn durch die »Ethisierung des Rechts […] Defizite des positiven Rechts und auch der Rechtssetzung bewältigt werden sollten, könnte dies auch bedeuten, dass dem Recht nicht mehr zugetraut wird, seine Mängel, Unzulänglichkeiten und (Gerechtigkeits-)Lücken innerhalb des eigenen Systems zu lösen. Es könnte bedeuten, dass […] das Recht Konkurrenz bekommt. Mit dieser Konkurrenz würde wiederum die Verrechtlichung zurückgenommen werden und damit auch alle ihre Vorteile wie die Vorhersehbarkeit von Rechtsregeln und die klaren Möglichkeiten und Methoden der (auch gerichtlichen) Durchsetzbarkeit.« 37 Dieses Problem stellt sich auch immer dann, wenn das positive Recht Konkurrenz durch die Inanspruchnahme des ›Sittengesetzes‹ – etwa durch das BVerfG oder den BGH – bekommt. »Anders als bei der Schranke der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ und den ›Rechten anderer‹ stellt sich bei dem überaus interpretations- und ausfüllungsbedürftigen Begriff des ›Sittengesetzes‹ die Frage, ob eine unmittelbare Geltung, d. h. eine freiheitsbegrenzende Wirkung ohne autorisierenden Akt der Gesetzgebung denkbar ist. Wie der Begriff des Naturrechts verweist der Begriff des Sittengesetzes auf einen Normenkomplex, welcher nicht erst durch positiv-rechtliche Kodifizierung entsteht, sondern von der Verfassung als gegeben vorausgesetzt wird […]. Die faktische Schwierigkeit, wenn nicht gar Unmöglichkeit der – empirischen – Ermittlung der das Sittengesetz ausmachenden allgemeinen Wertvorstellungen, die Gefahr des Einflusses subjekti-
36 37
Vöneky et al. 2013, S. V. Ebd., S. VII.
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ver Präferenzen des Rechtsanwenders sowie die bereits vorgenannte zeitliche Komponente (d. h. die Kontingenz eines einmal angenommenen, aber dem gesellschaftlichen Auffassungswandel unterworfenen Sittengesetzes) machen deutlich, wie schwer mit dem Begriff des Sittengesetzes objektiv, d. h. ohne Willkür zu operieren ist.« 38 Die Schwierigkeiten einer Verweisung auf außerrechtliche Normen »legen es nahe, dass sittliche Vorstellungen der Allgemeinheit grundsätzlich nur dann freiheitsbegrenzende Funktion entfalten können, wenn diese durch eine positive Umsetzung des Gesetzgebers konkretisiert sind. Eine unmittelbare Geltung von nicht positiv normierten sittlichen Vorstellungen als Schranke eines Freiheitsgrundrechts würde das die parlamentarische Demokratie maßgeblich formende Normsetzungsmonopol des Staates in Frage stellen, auf die willkürbegrenzende Kraft des Gesetzes verzichten.« 39 In genau diesem Sinne hat Kelsen in Was ist Gerechtigkeit? (1953) gefordert, angesichts des faktischen Pluralismus und Relativismus das Recht von Gerechtigkeitsvorstellungen 40 zu entlasten: »Wenn die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns irgend etwas lehren kann, ist es die Vergeblichkeit des Versuches, auf rationalem Wege eine absolut gültige Norm gerechten Verhaltens zu finden, d. h. aber eine solche, die die Möglichkeit ausschließt, auch das gegenteilige Verhalten für gerecht zu halten. Wenn wir aus der geistigen Erfahrung der Vergangenheit irgend etwas lernen können, ist es dies, daß die menschliche Vernunft nur relative Werte begreifen kann, und d. h. daß das Urteil, mit dem etwas für gerecht erklärt wird, niemals mit dem Anspruch auftreten kann, die Möglichkeit eines gegenteiligen Werturteils auszuschließen. Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal. Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenkonflikte. Für deren Lösung stehen nur zwei Wege zur Verfügung: entweder das eine InteDi Fabio, GG Art. 2. In: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 69. Erg.lfg. 2013, Rn. 45. 39 Ebd., Rn. 46. 40 Zum Problem der Gerechtigkeit vgl. auch Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 12 ff.: »In ihrem eigentlichen, von dem des Rechts verschiedenen Sinne bedeutet ›Gerechtigkeit‹ […] einen absoluten Wert. Sein Inhalt kann durch die Reine Rechtslehre nicht bestimmt werden.« Kelsen wandte sich sowohl gegen den ontologischen Dualismus von Gerechtigkeit und Recht als auch gegen den naturrechtlichen Rekurs auf ›Gerechtigkeit‹ und sagte, die Frage, was Gerechtigkeit sei, führe zu Leerformeln wie »Jedem das Seine« (Kelsen 1985 [RR I 1934], S. 14). Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 60–71. 38
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resse auf Kosten des anderen zu befriedigen, oder einen Kompromiß zwischen beiden herbeizuführen. Es ist nicht möglich, zu beweisen, daß nur die eine, nicht aber die andere Lösung gerecht ist.« 41 Dies war der Grund für Kelsen frühere Aussage: »Gäbe es Gerechtigkeit in dem Sinne, in dem man sich auf ihre Existenz zu berufen pflegt, wenn man gewisse Interessen gegen andere durchsetzen will, dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich.« 42 Bezüglich der Unterscheidung von Recht und Moral ging es Kelsen zunächst einmal um ein Methodenproblem: »Die methodische Reinheit der Rechtswissenschaft wird […] nicht nur dadurch gefährdet, daß die Schranke, die sie von der Naturwissenschaft trennt, nicht beachtet, sondern – viel mehr noch – dadurch, daß sie nicht oder nicht deutlich genug von der Ethik geschieden, daß zwischen Recht und Moral nicht klar unterschieden wird.« 43 Was er zweitens nicht zu akzeptieren bereit war, war – in der Perspektive der Rechtswissenschaft, die »das Recht als Zwangsordnung« zu analysieren habe 44 – die These, »daß das Recht seinem Wesen nach ein moralisches Minimum darstelle, daß eine Zwangsordnung, um als Recht angesehen werden zu können, eine Minimalforderung der Moral erfüllen müsse. Denn mit dieser Forderung setzt man eine absolute, inhaltlich bestimmte Moral oder doch einen allen positiven Moralsystemen gemeinsamen Inhalt«. 45 Eine solche absolute Moral konnte angesichts der Pluralität moralischer Intuitionen und im Rahmen der diese Plu-
Kelsen 2000, S. 49. »Gerechtigkeit«, betont auch M. Walzer, »ist kein absoluter, sondern ein relativer Begriff, dessen je konkreter Inhalt in Relation steht zu bestimmten sozialen Zielen und Sinngehalten« (Walzer 1992, S. 440). Weil Gerechtigkeit »ein menschliches Konstrukt« ist, kann sie auf unterschiedliche Weise hergestellt werden: »Die Fragen, die die Theorie der distributiven Gerechtigkeit aufwirft, lassen eine breite Skala von Antworten zu, in der auch Raum ist für kulturelle Diversität und politische Alternativen. Es geht nicht nur um die Erfüllung eines singulären Prinzips oder Prinzipiensystems in unterschiedlichen historischen Konstellationen. Niemand dürfte bestreiten, daß es eine Vielfalt moralisch statthafter Implementationen gibt.« Die »Prinzipien der Gerechtigkeit [sind] ihrerseits in ihrer Form selbst pluralistisch«. Die Unterschiede leiten sich her »aus den unterschiedlichen Bedeutungen der Sozialgüter selbst – dem unvermeidbaren Resultat eines historischen und kulturellen Partikularismus« (ebd., S. 30). 42 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 15. 43 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 61. 44 Ebd., S. 64. 45 Ebd., S. 68. 41
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ralität berücksichtigenden »relativistischen Wertlehre« 46 nicht unterstellt werden. Zur »Trennung von Recht und Moral« schrieb Kelsen: »Nimmt man an, daß das Recht seinem Wesen nach moralisch ist, dann hat es keinen Sinn, unter Voraussetzung eines absoluten Moralwertes die Forderung zu stellen, daß das Recht moralisch sein soll. Eine solche Forderung ist nur dann sinnvoll, und die dabei vorausgesetzte Moral stellt nur dann einen Wertmaßstab für das Recht dar, wenn die Möglichkeit eines unmoralischen, moralisch schlechten Rechtes zugegeben, wenn also in die Definition des Rechtes nicht das Element eines moralischen Inhalts aufgenommen wird. Wenn eine Theorie des positiven Rechts die Forderung erhebt, Recht und Moral im allgemeinen und Recht und Gerechtigkeit im besonderen von einander zu unterscheiden, nicht miteinander zu vermengen, so richtet sie sich gegen die traditionelle, von den meisten Juristen für selbstverständlich gehaltene Anschauung, die voraussetzt, daß es nur eine, allein gültige, das heißt aber: absolute Moral und sohin eine absolute Gerechtigkeit gebe.« 47 Kelsens Trennungsthese zielte also nicht darauf ab, jeglichen Einfluss von Moral auf das Recht zu leugnen; es ging ihm vielmehr darum, den Anspruch einer privilegierten, sich absolut setzenden Moral auf das Recht zurückzuweisen: »Die Forderung einer Trennung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit bedeutet, daß die Geltung einer positiven Rechtsordnung von der Geltung dieser einen, allein gültigen, absoluten Moral, ›der‹ Moral, der Moral par excellence, unabhängig ist. Setzt man nur relative Moralwerte voraus, dann kann die Forderung, das Recht solle moralisch, und das heißt: gerecht sein, nur bedeuten, daß die Gestaltung des positiven Rechts einem bestimmten unter den vielen möglichen Moralsystemen entsprechen soll; womit jedoch nicht die Möglichkeit der Forderung ausgeschlossen wird, daß die Gestaltung des positiven Rechts einem anderen Moralsystem entsprechen soll und diesem möglicherweise tatsächlich entspricht, während es einem von diesem verschiedenen Moralsystem widerspricht. Erhebt man auch unter Voraussetzung bloß relativer Werte die Forderung, Recht von Moral im allgemeinen und Recht von Gerechtigkeit im besonderen zu trennen, so bedeutet diese Forderung nicht etwa, daß Recht mit Moral, Recht 46 47
Ebd., S. 69. Ebd., S. 68 f. Hervorh. v. mir.
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mit Gerechtigkeit nichts zu tun habe, daß der Begriff des Rechtes nicht unter den Begriff des Guten falle. […] Es versteht sich von selbst, daß eine bloß relative Moral nicht die – bewußt oder unbewußt – geforderte Funktion leisten kann, einen absoluten Maßstab für die Bewertung einer positiven Rechtsordnung zu liefern. Ein solcher Maßstab ist eben nicht im Wege wissenschaftlicher Erkenntnis zu finden. Das bedeutet aber nicht, daß es überhaupt keinen Maßstab gebe. Jedes Moralsystem kann als ein solcher Maßstab dienen.« 48 Die Argumentationskette Kelsens zur Trennung von Recht und Moral ist – zusammengefasst – folgende: (i) Es gelten in Gesellschaften ganz unterschiedliche, einander widersprechende Moralsysteme; (ii) es gibt deshalb nur relative Moralwerte; (iii) die Forderung, Normen müssten gerecht sein, um als Recht angesehen zu werden, kann nur bedeuten, dass diese Normen etwas enthalten müssen, was allen Gerechtigkeitssystemen gemeinsam ist; (iv) allen gemein ist nur, dass sie Normen sind, die ein bestimmtes Verhalten als gesollt setzen. (v) »Dann ist, in diesem relativen Sinne, jedes Recht moralisch, konstituiert jedes Recht einen – relativen – moralischen Wert. Das heißt aber: die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral ist keine Frage nach dem Inhalt des Rechts, sondern eine Frage nach seiner Form«; (vi) wenn das Recht per definitionem moralisch ist, »dann hat es keinen Sinn, unter Voraussetzung eines absoluten Moralwertes die Forderung zu stellen, dass das Recht moralisch sein soll«. (vii) Die Schlussfolgerung besteht in der Trennungsthese: »Die unter Voraussetzung einer relativistischen Wertlehre erhobene Forderung, Recht und Moral und somit Recht und Gerechtigkeit zu trennen, bedeutet […], daß, wenn eine Rechtsordnung als moralisch oder unmoralisch, gerecht oder ungerecht bewertet wird, damit das Verhältnis der Rechtsordnung zu einem von vielen möglichen Moralsystemen und nicht zu ›der‹ Moral ausgedrückt und sohin nur ein relatives, kein absolutes Werturteil gefällt wird«. 49 Dementsprechend fragt die Reine Rechtslehre als Rechtswissenschaft »nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem ›idealen‹, ›richtigen‹ Recht«. 50 »Rechtswissenschaft ist Erkenntnis, nicht Gestaltung des Rechts.« 51 Wenn man – so Kelsen bereits 1928 – etwas im positiven Sinne 48 49 50 51
Ebd. Hervorh. v. mir. Ebd., S. 66–69. Ebd., S. 112. Ebd., S. 75, Fn.
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Recht und Moral
für rechtens erkläre, dann wolle man zwar zum Ausdruck bringen, dass es irgendwie ›richtig‹ bzw. ›gerecht‹ sei. »Wenn aber dennoch die Möglichkeit offenbleiben muß, daß etwas, was nur positiv rechtens ist – von irgendeinem Standpunkt – unrichtig, ungerecht ist, so kann die mit dem Gedanken des positiven Rechtes gemeinte ›Richtigkeit‹, ›Gerechtigkeit‹ nur eine relative sein. ›Relativ‹, das heißt: ein durch einen positiven Rechtssatz statuiertes Verhalten gilt als ›gesollt‹ und sohin als ›richtig‹, ›gerecht‹ nur unter einer Voraussetzung, deren ›Richtigkeit‹, ›Gerechtigkeit‹ selbst aber nicht sichergestellt ist. Und in diesem Sinne muß jeder Inhalt, wenn er positives Recht ist, als ›richtig‹, ›gerecht‹ gelten.« 52 Dieser letzte Satz erregt nach wie vor Anstoß. Doch Kelsen hatte für diese These gute Gründe. Er führte einen Kampf gegen die Ideologisierung der Rechtswissenschaft und gegen jede auf ›absolute Normen‹ gestützte Instrumentalisierung des Rechts zu partikulären Zwecken: Er lehnte es in der Reinen Rechtslehre »insbesondere ab, irgendwelchen politischen Interessen dadurch zu dienen, daß sie ihnen die Ideologien liefert, mittels deren die bestehende gesellschaftliche Ordnung legitimiert oder disqualifiziert wird. Dadurch tritt sie zu der traditionellen Rechtswissenschaft in schärfsten Gegensatz«. 53 Kelsen führte diesen Kampf aufgrund der Erfahrung der Instrumentalisierung der Rechtswissenschaft und der weitgehend auf dem rechten Auge blinden und so der ›konservativen Revolution‹ zuarbeitenden Justiz in der Weimarer Republik. 54 In Kelsens Selbstbeschreibung im Vorwort 1934 zur Reinen Rechtslehre hieß es entsprechend, er habe es unternommen, »eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie […] gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußten Rechtstheorie zu entwickeln«. 55 Es ging ihm darum, das Recht vor Interessen zu bewahren, »die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten«. 56 Deshalb konzipierte er die Reine Rechtslehre als »eine Theorie des positiven Rechts. Des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung. Sie ist
52 53 54 55 56
Kelsen 1928, S. 11. Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 17; vgl. S. 36 f. Vgl. hierzu Hannover/Hannover-Drück 1987. Kelsen 1985 (RR I 1934), S. IX. Ebd., S. XI.
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allgemeine Rechtslehre […] Als Theorie will sie ausschließlich ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.« 57 Das Recht sollte nicht zu beliebiger Legitimierung von Staatsordnungen missbraucht werden können: »Die These, daß das Recht seinem Wesen nach moralisch ist, das heißt: daß nur eine moralische Gesellschaftsordnung Recht ist, wird von der Reinen Rechtslehre nicht nur darum abgelehnt, weil diese These eine absolute Moral voraussetzt, sondern auch darum, weil sie in ihrer tatsächlichen Anwendung durch die in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft herrschende Jurisprudenz auf eine unkritische Legitimierung der diese Gemeinschaft konstituierenden staatlichen Zwangsordnung hinausläuft. […] Eine solche Legitimierung des positiven Rechts mag, trotz logischer Unzulänglichkeit, politisch gute Dienste leisten. Rechtswissenschaftlich ist sie unzulässig. Denn die Rechtswissenschaft hat das Recht nicht zu legitimieren, hat die von ihr nur zu erkennende und zu beschreibende normative Ordnung überhaupt nicht – weder durch eine absolute noch durch eine relative Moral – zu rechtfertigen.« 58 Kelsen hatte für die Trennungsthese und für den Wertrelativismus noch ein weiteres Motiv – die Bekräftigung der Autonomie individueller Moral. Dies wird in dem unter dem Titel ›Das Problem der Gerechtigkeit‹ erschienenen Anhang zur 2. Auflage der Reinen Rechtslehre deutlich: »Daß das Problem einer absoluten Gerechtigkeit in dem Sinne besteht, daß Menschen das Bedürfnis haben und vermutlich immer haben werden, ihr Verhalten als absolut gut, absolut gerecht zu rechtfertigen, soll nicht geleugnet werden: auch nicht, daß der relativistische Rechtspositivismus keine solche Rechtfertigung liefern kann. […] Die Abkehr vom Rechtspositivismus und die Rückkehr zur Naturrechtslehre kann auch nicht damit begründet werden, daß jener zum Unterschied von dieser keine Maßstäbe für die Bewertung des positiven Rechts liefere und uns daher im Stich läßt, wenn die entscheidende Frage auftaucht, ob eine positive Rechtsordnung aufrecht erhalten, reformiert oder mit Gewalt beseitigt werden soll. […] Daß uns dieser Relativismus im Stich läßt, bedeutet, daß er uns zum Bewußtsein bringt, daß die Entscheidung der Frage an uns liegt, weil die Entscheidung der Frage, was gerecht und was ungerecht 57 58
Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 1. Ebd., S. 70.
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ist, von der Wahl der Gerechtigkeitsnorm abhängt, die wir zur Grundlage unseres Werturteils nehmen und daher sehr verschieden beantwortet werden kann; daß diese Wahl nur wir selbst, jeder einzelne von uns, daß sie niemand anderer, nicht Gott, nicht die Natur und auch nicht die Vernunft als objektive Autorität für uns treffen kann. Das ist der wahre Sinn der Autonomie der Moral.« 59 Diesen Aspekt hat H. Dreier hervorgehoben: »Kelsens bewusst kritische Dissoziation von Recht und Gerechtigkeit schafft die Möglichkeit einer neutralen Wiedergabe und Systematisierung effektiver Zwangsordnungen. Dabei wird das Recht ganz nüchtern als – möglicherweise fehlerhaftes – Menschenwerk bedeutet, um so einer ›falschen Ethisierung des Rechts‹ […] entgegenzuwirken. Die damit verbundene strikte Trennung von Recht und Moral soll den Blick für schlechtes, wertwidriges, unsittliches Recht schärfen, nicht trüben. Indem das Recht ganz neutral als effektive Zwangsordnung gefasst wird, kann die autonome Moral der Individuen als Kritik- und Reflexionspotential der heteronomen Verhaltensregeln fungieren. Ob der jeweiligen staatlichen Ordnung zu folgen oder gegen sie zu revoltieren sei, überlässt Kelsen demzufolge dem selbstverantwortlichen Urteil des Einzelnen. Eine objektive Pflicht zum Gesetzesgehorsam gibt es gerade nicht. So führt die Unmöglichkeit objektiv-praktischer Legitimation einer Rechtsordnung zur Bedeutungssteigerung der Einzelmoral. Nicht das positive Recht als solches, sondern die eigene Anschauung vom Wert oder vom Unwert des Rechts wird absolut gesetzt.« 60 Kelsens auf die Moral, nicht aber auf das Recht bezogener ›Wertrelativismus‹ wurde zum Vorwand des Vorwurfs, zur Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus beigetragen zu haben. Doch selbst M. Kriele, der diese Kritik am Rechtspositivismus teilt, musste einräumen, »dass gerade das positivistische Prinzip legalen Gesetzesgehorsams den Juristen oft auch die Möglichkeit gab, sich auf den Wortlaut der Gesetze zu berufen, um sich gegen Uminterpretationen aus dem Geist der nationalsozialistischen Weltanschauung oder des gesunden Volksempfindens wenigstens eine zeitlang zu sperren«. 61 Zu Recht hat W. Bauer in ›Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie‹ betont: »Für diejeni59 60 61
Kelsen 1960, S. 442. Vgl. hierzu Baratta 1968, S. 335 f. Dreier 2008, S. 141. Kriele 1990b, S. 155.
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gen […], welche auch nach der Ablösung der alten Staatsform Anhänger der bis dahin herrschenden Richtung blieben und am normativistischen Rechtspositivismus festhielten, war die loyale Einstellung zur Republik und zur verfassungsmäßigen Ordnung über jeden Zweifel erhaben, trotz oder besser wegen ihrer Bejahung des Relativismus.« 62 Weder die Trennungsthese noch der Wertrelativismus bedeuten, dass in rechtspositivistischer Perspektive der faktische Einfluss der Moral auf das Recht geleugnet würde. Wie bereits Kelsen betont dies auch H. L. A. Hart: »The law of every modern state shows at a thousand points the influence of both the accepted social morality and wider moral ideals. These influences enter into law either abruptly and avowedly through legislation, or silently and piecemeal through the judicial process.« 63 Kein Rechtspositivist werde leugnen, »daß die Stabilität von Rechtsordnungen teilweise auf derartigen Übereinstimmungen mit der herrschenden Moral beruht. Wenn dies mit der These einer notwendigen Verbindung von Recht und Moral gemeint sein soll, so ist nichts dagegen einzuwenden.« 64 Die rechtspositivistische These der Trennung von Recht und Moral »besagt, dass bei einem Widerspruch zwischen dem positiven, formell gültigen Recht und bestimmten moralischen Grundsätzen und Wertungen das Recht dadurch seinen Rechtscharakter nicht verliert. Das ist die sog. Trennungs- oder Neutralitätsthese. Bei ihr ist freilich wichtig, dass mit der Qualifizierung als Recht eben noch nichts über die Dignität und Befolgungswürdigkeit der entsprechenden positiven Normen ausgesagt wird. Die Einstufung der Normen als Recht wird von der Frage, ob es sich dabei um richtige und gerechte oder unsittliche und verwerfliche Regelungen handelt, getrennt. Für eine solche Trennung lässt sich insbesondere der Gedanke der Zweckmäßigkeit und Klarheit anführen. Außerdem kann man das Recht im Grunde nur dann als unsittlich, ungerecht oder moralwidrig kritisieren, wenn man es vorher als Recht identifiziert hat.« 65 Die unter dem Titel ›Recht und Moral‹ zu beantwortende Frage nach möglichen Normenbegründungen in pluralistischen Gesellschaften lautet: »Kann eine Rechtsgesellschaft ohne Rekurs auf mo62 63 64 65
Bauer 1968, S. 215 f. Hart 1961, S. 199; so auch ders. 2002, S. 65. Hart 2002, S. 66. Dreier 2008, S. 147.
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Recht und Moral
ralische und politische ›substanzielle‹ Wahrheiten bestehen? Ist ein wertneutraler Positivismus fähig, die rechtliche […] Kohärenz einer pluralen Gesellschaft zu garantieren?« 66 Die rechtspositivistische Antwort ist angesichts des Pluralismus moralischer Intuitionen und Ansprüche so klar wie plausibel: »[N]ur das Recht gewährt Rechte«. 67 Die Annahme, dass »ein moralbehafteter Rechtsbegriff im praktischen Rechtsleben den Vorzug verdient, […] wäre sicher dann gerechtfertigt, wenn die Verwendung eines solchen Rechtsbegriffs der einzige oder doch der geeignetste Weg wäre, die Berücksichtigung wichtiger Moral- und Gerechtigkeitsforderungen im praktischen Rechtsleben sicherzustellen. Dies ist aber in Wahrheit nicht der Fall; es gibt im Prinzip einen sehr viel wirksameren Weg, das gewünschte Ziel zu erreichen. Dieser Weg besteht darin, die betreffenden Forderungen von vornherein zum Bestandteil der geltenden Rechtsordnung zu machen. Das kann prinzipiell auf zweierlei Weise geschehen. Erstens kann man die Forderungen (vollständig oder teilweise) im einzelnen in die Rechtsordnung aufnehmen. Diesen Weg hat unsere eigene Rechtsordnung beispielsweise insoweit gewählt, als sie in ihrer geschriebenen Verfassung, dem Bonner Grundgesetz, einen Katalog individueller Grund- und Freiheitsrechte enthält, die man sämtlich wohl auch als wichtige Forderungen der Moral ansehen kann. Zweitens kann man in die Rechtsordnung an bestimmten Punkten durch Verwendung einer Generalklausel einen generellen Verweis auf gewisse Prinzipien bzw. Anschauungen der Moral oder der Gerechtigkeit aufnehmen. […] Die rechtspositivistische These wird von ihren Gegnern manchmal so verstanden, als ob sie der Möglichkeit, moralische Forderungen ins Recht aufzunehmen, einen Riegel vorschiebe oder zumindest Grenzen setze. Das aber ist ein Mißverständnis. Für den Rechtspositivisten ist die Frage, inwieweit das Recht moralischen Ansprüchen genügt, eine Frage, die auf dem Boden der jeweiligen Rechtsordnung zu beantworten ist.« 68 In dieser Perspektive, die G. Radbruch in seiner Kritik am Rechtspositivismus nicht gewählt hat, steht die »Möglichkeit einer Rechtsnorm, nach der unmoralische Gesetze kein gültiges Recht sind, […] keineswegs im Widerspruch zur rechtspositivistischen Lehre«. 69 66 67 68 69
Kervégan 2010a, S. 1665. Kervégan 2008, S. 52. Hoerster 1987, S. 186. Ebd., S. 186 f.
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Dies trifft auf Kelsens Rechtspositivismus zu, nicht aber auf den älteren Rechtspositivismus, 70 der sich mit den ›Fakten‹ (Rechtsnormen als Befehlen) begnügt und eine weit radikalere Trennungsthese propagiert hatte. Obwohl sich Rechtspositivisten auf die ›Tatsächlichkeit‹ eines nicht weiter ableitbaren autoritativen (staatlichen) Wollens 71 konzentrieren, beschränken sie sich längst nicht mehr – wie noch im Gesetzespositivismus Austins 72 – auf deskriptive Sätze über das bestehende Recht – ein Recht, das aufgrund seiner Faktizität auch schon als ›richtiges Recht‹ Geltung hätte. Dies erst wäre eine Apologie des jeweiligen Status quo. Das Recht wird als System von Normen aufgefasst, die auf die tatsächliche Willensbildung und -bekundung im Rahmen staatlicher Gewalt zurückzuführen sind. Als ›Tatsache‹ kann nur der Ursprung des Rechts aufgefasst werden. Was bei der Rechtssetzung entsteht, sind Normen, nach deren Geltungsgründen zu fragen ist. Auch im Rechtspositivismus bleibt Problem der Geltung des Rechts bestehen: Unter ›Rechtsgeltung‹ ist nicht nur die »Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, die erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungen wird«, zu verstehen, sondern »auch die Legitimität der Regel selbst, die eine Befolgung der Norm aus Achtung vor dem Gesetz jederzeit möglich macht«. 73
Kelsens Konzeption der ›Grundnorm‹ Kelsen hat die Frage »Warum gilt eine Norm, was ist ihr Geltungsgrund?« 74 mit der Konzeption der Grundnorm beantwortet. Der Siehe hierzu in diesem Buch S. 155 ff.. Auch G. Radbruch ist angesichts der Frage, wie es zu begründen sei, dass der Inhalt des Rechts etwas Geltendes, Gesolltes, Verpflichtendes sei, zu keiner anderen Auffassung gekommen: »Die Frage der Geltung des Rechts ist die Frage der ›Normativität des Faktischen‹ […]: Wie kann aus einem Faktum eine Norm, wie kann aus dem Rechtswillen des Staates oder der Gesellschaft ein rechtliches Sollen hervorgehen, das doch, wie es scheint, ein Wollen, wenn es von der Macht begleitet ist, zwar ein Müssen, aber niemals ein Sollen hervorrufen kann? […] Aber auf der Suche nach dem Grunde dieser Geltung stößt die juristische Geltungslehre mit Notwendigkeit irgendeinmal auf die Tatsächlichkeit eines nicht weiter ableitbaren autoritativen Wollens« (Radbruch 1963, S. 174). 72 Zu Austin vgl. in diesem Buch S. 157–161. 73 Habermas 1994, S. 49. 74 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 196. 70 71
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Kelsens Konzeption der ›Grundnorm‹
1. Auflage der Reinen Rechtslehre zufolge handelt es sich um eine »hypothetische Grundlage. Unter der Voraussetzung, daß sie gilt, gilt auch die Rechtsordnung, die auf ihr beruht. […] In der Grundnorm wurzelt letztlich die normative Bedeutung aller die Rechtsordnung konstituierenden Tatbestände.« Die Grundnorm ist »die transzendental-logische Bedingung« der »Methode positiver Rechtserkenntnis«. 75 In der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre (1960) stellte Kelsen fest: »[D]ie die Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Suche nach der Ursache einer Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muß bei einer Norm enden, die als letzte, höchste vorausgesetzt wird. Als höchste Norm muß sie vorausgesetzt sein, da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müßte. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden. Eine solche als höchste vorausgesetzte Norm wird hier als Grundnorm bezeichnet. […] Alle Normen, deren Geltung auf eine und dieselbe Grundnorm zurückgeführt werden kann, bilden ein System von Normen, eine normative Ordnung. Die Grundnorm ist die gemeinsame Quelle für die Geltung aller zu einer und derselben Ordnung gehörigen Normen, ihr gemeinsamer Geltungsgrund. Daß eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Ordnung gehört, beruht darauf, daß ihr letzter Geltungsgrund die Grundnorm dieser Ordnung ist. Diese Grundnorm ist es, die die Einheit einer Vielheit von Normen konstituiert, indem sie den Grund für die Geltung aller zu dieser Ordnung gehörigen Normen darstellt.« 76 Die als ›transzendental-logische Bedingung‹ der ›Methode positiver Rechtserkenntnis‹ eingeführte Grundnorm ist de facto die Verfassung, die nicht nur die Normunterworfenen verpflichtet, sondern auch die normsetzende Autorität: Die »Normen, deren Geltungsgrund in Frage steht«, gehen von einer Autorität aus, »das heißt: von jemandem, der fähig, das heißt kompetent ist, gültige Normen zu setzen; diese Norm verleiht der normsetzenden Persönlichkeit die Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 66 f. Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 196–221. Bereits 1928 hatte Kelsen in Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus betont, dass die Grundnorm »selbst eine normative Rechtfertigung durch eine höhere Norm nicht aufweist und daher nur eine hypothetische Gültigkeit vermittelt« (Kelsen 1928, S. 14). 76 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 197. 75
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›Autorität‹, Normen zu setzen. Die Tatsache, daß irgendjemand irgendetwas befiehlt, ist kein Grund, den Befehl als gültige, das heißt für den Normadressaten verbindliche Norm anzusehen. Nur eine kompetente Autorität kann gültige Normen setzen; und nur auf einer zur Normsetzung ermächtigenden Norm kann solche Kompetenz beruhen. Dieser Norm ist die zur Normsetzung ermächtigte Autorität ebenso unterworfen wie die zum Gehorsam gegenüber den von ihr gesetzten Normen verplichteten Individuen.« 77 Kelsen forderte eine radikale Wert-Indifferenz der Grundnorm und damit auch der Verfassung: Welchen Inhalt eine »Verfassung und die auf ihrer Grundlage errichtete staatliche Wertordnung hat, ob diese Ordnung gerecht oder ungerecht ist, kommt dabei nicht in Frage; auch nicht, ob diese Rechtsordnung tatsächlich einen relativen Friedenszustand innerhalb der durch sie konstituierten Gemeinschaft garantiert. In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht transzendenter Wert bejaht.« 78 Diese Erklärung folgte – durchaus konsequent – aus dem für die Rechtswissenschaft maßgeblichen rechtspositivistischen Prinzip der Unterscheidung zwischen dem Recht, das ist, und dem Recht, das sein soll. Doch die Folgerung, »daß die Ordnung der Sowjetrepublik ganz ebenso als Rechtsordnung begriffen werden soll wie die des faschistischen Italien oder die des demokratisch-kapitalistischen Frankreich«, ging weit über die ›formale‹ Bestimmung des Rechts hinaus. 79 Wenn Kelsen behauptete, »die Tatsache, daß der Inhalt einer wirksamen Zwangsordnung als ungerecht beurteilt werden kann«, sei »jedenfalls kein Grund, die Zwangsordnung nicht als Rechtsordnung gelten zu lassen« 80, dann mag dies aus Kohärenz-Gründen seiner Theorie verständlich sein, zeigt aber auch die Grenzen eines Rechtspositivismus, dem der Maßstab der menschenrechtlichen Grundlegung des Rechts noch fehlt. Kelsen in Hoerster 2002, S. 25. In dieser Frage gibt es eine Übereinstimmung zwischen Kelsen und Radbruch. Für Radbruch haben Rechtsnormen »die Natur von Maßstäben […], an denen das Zusammenleben der einzelnen gemessen wird, nicht von Befehlen, die sich an die einzelnen richten«; Rechtsnormen sind in erster Linie »Bewertungsnormen«, nicht »Bestimmungsnormen«. Die Norm wird erst zum Imperativ, wenn es darum geht, Verhalten im Recht nicht nur zu beurteilen, sondern dem Recht »gemäßes menschliches Verhalten auch herbei[zu]führen, ihm widersprechendes menschliche Verhalten [zu] verhindern« (Radbruch 1999, S. 45). 78 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 204. 79 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 64. 80 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 51. 77
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Die Norm als ›Deutungsschema‹
Die Norm als ›Deutungsschema‹ : Zur juristischen Methoden- und Auslegungslehre Die Rechtsnormen bilden den Gegenstand der Rechtswissenschaft. Es ist für jeden wissenschaftstheoretisch geschulten Rechtspositivisten trivial, dass auch Rechts-›Tatsachen‹ interpretationsabhängig und ihre Bedeutungen kontextabhängig sind. »Die Norm« – so Kelsen – »fungiert als Deutungsschema.« 81 Doch im Unterschied zur weltanschaulich bzw. religiös bedingten Offenheit, ja Beliebigkeit naturrechtlicher Begründungen von Rechten und Verständnissen von Rechtssätzen gehören die ›Deutungsschemata‹ für Rechtspositivisten nicht zu einem ›freien Spiel‹ möglicher Rechtsauslegungen; vielmehr sind sie an Deutungsregeln gebunden. Alle Rechtssätze und rechtlich relevanten Sachverhalte, Tatbestände und Texte sind interpretationsbedürftig. 82 Doch weit stärker als im Rahmen kontrovers debattierter philosophischer und geisteswissenschaftlicher Auslegungslehren sind praktizierende Juristen an die Regeln und Normen einer weitgehend anerkannten juristischen Methodenlehre 83 bzw. Hermeneutik 84 und so an Regelwerke/OrdEbd., S. 3. Vgl. Alexy 1995, S. 71–92. 83 Vgl. u. a. Zippelius 2006. Zur Rechtsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode vgl. Häberle 1989. Hassemer 2007, S. 219, äußert einen Vorbehalt: »Die juristische Methodenlehre gilt als Brücke zur Sicherstellung einer Bindung des Richters an das Gesetz und damit zur Gewährleistung der Gewaltenteilung im Rechtsstaat. Diese Brücke trägt nicht wirklich. Die Regeln der Methodenlehre sind zwar vernünftig und in kodifizierten Systemen gar zwingend; sie werden der Komplexität richterlichen Handelns aber nicht gerecht. Richterliche Pragmatik folgt einem System von Regeln, die eine Bindung des Richters an das Gesetz befördern wollen, die Ordnung schaffen und sanktioniert sind.« 84 »Eine eindeutige Entscheidung auch bei Unvollkommenheit des Gesetzes zu finden, dient der Rechtswissenschaft die juristische Hermeneutik. Seltsam nur, daß sie ihr die Auslegungsmittel jeweils paarweise zur Verfügung stellt, ohne anzugeben, welches der beiden entgegengesetzten Auslegungsmittel jeweils anzuwenden sei, ob grammatische oder logische, ob extensive oder restriktive Interpretation, ob Analogie oder argumentum e contrario. Zwischen diesen Auslegungsmitteln hat der Richter zu wählen, entweder mit Hilfe der ratio legis (durch Konstruktion) oder mit Hilfe der ratio iuris (aus dem System). Nicht zu leugnen ist, daß der Jurist aus den Gesetzen mehr entnehmen kann, als von seinen Verfassern bewußt hineingelegt worden ist. In diesem Sinne ist ›das Gesetz klüger als der Gesetzgeber‹, ist die juristische Auslegung nicht lediglich Nachdenken eines Vorgedachten – wie die philologische –, sondern zu Ende Denken eines Gedachten. So weist die Auslegungslehre des Positivismus über 81 82
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4 · Was heißt Rechtspositivismus
nungen gebunden, wie z. B. die Strafprozessordnung (StPO) die strafrechtliche Praxis reguliert. Es werden in der Regel vier Auslegungsmethoden unterschieden: (i) die philologische Auslegung zur Feststellung des Wortsinns; (ii) die systematische Auslegung des Normenzusammenhangs; (iii) die historische Auslegung der Absichten des Gesetzgebers 85 und (iv) die teleologische Auslegung der Zwecke des Gesetzes. Der naturrechts- und metaphysikkritische Rechtspositivismus hat der Interpretation von Rechtsnormen und Rechtstexten enge Grenzen gesetzt. In der Auslegung stoßen Juristen auf die semantische Offenheit von Rechtsvorschriften, vor allem dann, »wenn es dem Gesetzgeber nicht gelungen sein sollte, das zu sagen, was er hatte sagen wollen (sprachliche Fehlleistung), oder wenn das, was der Gesetzgeber sagte und sagen wollte, nicht mit dem zusammenpaßt, was er erreichen wollte (teleologische Fehlleistung)«. 86 Lassen Normen nicht klar erkennen, was gesollt ist, werden Lücken durch Rechtsfortbildung geschlossen. 87 Konkrete Lebenssachverhalte und Tatbestände können nicht immer eindeutig unter die abstrakt-generell gefasste Rechtsnorm subsumiert werden. Wenn eine Rechtsnorm unbestimmte Rechtsbegriffe oder gar Generalklauseln enthält, sind Umfang und Inhalt der verwendeten Rechtsbegriffe durch eine der Subsumtion vorausgehende Auslegung zu klären. Dabei darf aufgrund der Hierarchie der Rechtsnormen im demosich selbst hinaus: da keine Rechtsordnung nach einem einzigen einheitlichen Zweck geschaffen ist, verbergen sich bereits in der Anwendung der ratio iuris eigene Wertungen des Richters« (Radbruch 1959, S. 78 f.). 85 Vgl. hierzu aber einschränkend BVerfGE 2 BvH 2/52 vom 21. 5. 1952 (53): »Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.« 86 Rüßmann 1990, zit. n. http://ruessmann.jura.uni-sb.de/rw20/people/ruessmann/ Wieacker/frame.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2014. 87 »Auslegung des Gesetzes im engeren Sinn (bis zur Grenze des möglichen Wortsinnes) und Fortbildung des Rechts durch gesetzeskonforme Lückenergänzung und Konkretisierung der leitenden Prinzipien sind zwei ineinander übergehende Stufen desselben Verfahrens« (Larenz 1974, S. 32).
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Die Norm als ›Deutungsschema‹
kratischen Rechtsstaat (niederrangiges) Gesetzes-Recht dem (höherrangigen) Verfassungs-Recht nicht widersprechen – eine der wichtigsten der aus dem nationalsozialistischen Unrecht gezogenen Lehren. Dies bestimmt zum einen die Regel der verfassungskonformen Auslegung: Gibt es mehrere Auslegungsmöglichkeiten, so muss diejenige gewählt werden, die den normativen Vorgaben der Verfassung entspricht. Und zum anderen sind die staatlichen Gerichte gem. Art. 100 Abs. 1 GG zur Normenkontrolle verpflichtet, wenn sie der Überzeugung sind, ein Gesetz sei verfassungswidrig. »Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt.« Leitsatz 2 des Beschlusses des Ersten Senats des BVerfG vom 16. Dezember 2014 lautet: »Ein Fachgericht, das entgegen Art. 100 Abs. 1 GG die Vorlage zur Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht unterlässt, weil es in nicht vertretbarer Weise die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Gesetzes annimmt, verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).« 88 In der Begründung wird ausgeführt: »Beide Ziele, die Wahrung der Autorität des Gesetzesgebers und die Erhaltung der Rechtssicherheit, sind von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren eines Staates, der sich gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG nach den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit konstituiert hat. Die Bedeutung der mit der Vorlageverpflichtung verfolgten Verfassungsziele rechtfertigt es, bei Verletzung einer unmittelbar dem Schutz dieser Grundsätze dienenden verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschrift wie Art. 100 Abs. 1 GG im Regelfall nicht von einem bloßen Rechtsanwendungsfehler, sondern von einem Entzug des gesetzlichen Richters auszugehen. Bezogen auf die Rechtsanwendung als solche muss kein besonders
88
BVerfGE 1 BvR 2142/11. Vgl. ebd. (30).
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schwerer Fehler des Fachgerichts vorliegen, damit eine entgegen Art. 100 Abs. 1 GG unterlassene Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zugleich als eine Missachtung der Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen ist. Entscheidend ist, ob die Rechtsanwendung im konkreten Fall – hier das Absehen von einer Vorlage mittels einer verfassungskonformen Auslegung – sachlich vertretbar ist.« 89 Das Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes überzeugt sein; der bloße Zweifel daran ist kein hinreichender Grund für eine Normenkontrolle: »Die Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, dass das Fachgericht an der Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes nicht nur zweifelt, sondern – vorbehaltlich einer verfassungskonformen Auslegung – von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist.« 90 Im Rechtssystem kommt neben der Legislative den unabhängigen Richtern eine zentrale Rolle zu. Die Rechtsprechung ist gem. Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG nur »an Gesetz und Recht gebunden«. Dies bedeutet, dass Richter bei der Anwendung von Gesetzen zugleich auf das Recht und den verfassungsmäßigen Grund des Rechts – den Schutz der Menschenwürde und die Gerechtigkeit – verpflichtet sind. Das BVerfG hat mit Verweis auf Veränderungen von Gerechtigkeitsvorstellungen die Kompetenz der Richter zur ›schöpferischen Rechtsfindung‹ bejaht, selbst contra legem: »Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, ›Recht‹ zu sprechen, verfehlen will.« 91 Hiermit verbinden sich allerdings dann Probleme, wenn Richter in ihrer prinzipiell ›freien‹ Urteilsbildung auf die Geltung überpositiven Rechts Anspruch erheben. Die »Frage nach dem Bindungs- und Geltungsanspruch des überpositiven Rechts gegenüber dem positiven Gesetz bereitet […] im Rahmen des GG Schwierigkeiten. Denn so deutlich die Absicht des Verfassungsgebers war, mit der Formulie89 90 91
Ebd., (79). Ebd., (82). BVerfGE 1 BvR 112/65 vom 14. 2. 1973 (42).
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Die Norm als ›Deutungsschema‹
rung von Gesetz und Recht zum Ausdruck bringen zu wollen, dass das positive Gesetz nicht ohne Rücksicht auf prinzipielle Gerechtigkeitsansprüche auskommen soll, so deutlich ist zugleich, dass der Rückgriff auf Gerechtigkeitsvorstellungen, die gegenüber Exekutive und Legislative Bindungs- und Geltungswirkung beanspruchen, das Rechtserzeugungssystem des GG mit der damit verbundenen demokratischen Legitimation auszuhebeln vermag. Die zentrale Frage lautet demnach, ob und wieweit unter dem GG Exekutive und Judikative neben dem Gesetz an davon zu unterscheidende Rechtssätze bzw. Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden sind.« 92 Hillgruber bezieht hierzu in seiner Kommentierung von Art. 97 GG eine klare Position: In Anbetracht der »Entstehungsgeschichte ist nicht erkennbar, dass mit der Formel ›Gesetz und Recht‹ auch überpositives Recht zum Entscheidungsmaßstab für den Richter erhoben werden sollte. Die verbreitete und auch vom BVerfG kolportierte These, die ›sibyllinische Formel‹ des Art. 20 Abs. 3 GG stelle eine ausdrückliche Absage an einen engen und strikten Gesetzespositivismus dar, ist danach nicht haltbar. Es dürfte sich vielmehr um eine nur aus stilistischen Gründen gewählte Tautologie handeln, die inhaltlich nichts anderes als die Bindung des Richters an die gesamte Rechtsordnung (einschließlich des Verfassungsrechts) zum Ausdruck bringt und daher sinnidentisch mit der Unterworfenheit unter das Gesetz (im materiellen Sinne) nach Art. 97 Abs. 1 GG ist. Alles andere wäre auch widersinnig; denn die rechtsprechende Gewalt und der Richter, der sie ausübt, können schlechterdings nicht verschiedenen Bindungen unterliegen. Doch selbst wenn man die Formel ›Gesetz und Recht‹ in Art. 20 Abs. 3 GG nicht als Tautologie oder Pleonasmus abtun will, vielmehr annimmt, der Verfassunggeber habe damit angesichts des nationalsozialistischen Unrechts in Gesetzesform auf einen möglichen, krassen Widerspruch zwischen dem positiven Gesetz und fundamentalen materiellen Gerechtigkeitsanforderungen hinweisen und eine äußerste Grenze für die Bindung des Richters an das positive Recht bezeichnen wollen, macht das Grundgesetz selbst ein Ausweichen auf ›überpositives Recht‹ entbehrlich.« 93
Herzog/Grzeszick, GG Art. 20. In: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 70. Erg.lfg 2013, Rn. 65. 93 Hillgruber, Art. 97 GG. In: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 70. Erg.lfg 2013, Rn. 37 f. 92
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Zu ›Gesetzesbindung und Auslegung‹ stellt Hillgruber fest: »Die Annahme, der Richter sei in der Wahl seiner Auslegungsmethode frei, ist mit der bestehenden Gesetzesbindung unvereinbar. Die Methode der Rechtsgewinnung muss ihrem Erkenntnisgegenstand adäquat sein: Wie das Recht, so die Auslegung. Jede verfassungstreue Methodenlehre muss daher von der verfassungsrechtlich angeordneten Gesetzesbindung des Richters ausgehen. ›Das bedeutet die Grundentscheidung für einen juristischen Positivismus‹.« 94 Zu welchem juristischen Positivismus? Zu Kelsens Rechtspositivismus gewiss nicht. Er schrieb in seiner Reinen Rechtslehre zur Auslegungsmethodik: »Die übliche Theorie der Interpretation will glauben machen, daß das Gesetz, auf den konkreten Fall angewendet, stets nur eine richtige Entscheidung liefern könne und daß die positivrechtliche ›Richtigkeit‹ dieser Entscheidung im Gesetz selbst begründet ist. Sie stellt den Vorgang dieser Interpretation so dar, als ob es sich dabei um einen intellektuellen Akt des Klärens oder Verstehens handelte, als ob der Interpret nur seinen Verstand, nicht aber seinen Willen in Bewegung zu setzen hätte und als ob durch eine reine Verstandestätigkeit unter den vorhandenen Möglichkeiten eine dem positiven Recht entsprechende, im Sinne des positiven Rechts richtige Auswahl getroffen werden könnte. […] Es gibt schlechthin keine – als positiv-rechtlich charakterisierbare – Methode, nach der von mehreren sprachlichen Bedeutungen einer Norm nur die eine als ›richtig‹ ausgezeichnet werden könnte; vorausgesetzt natürlich, daß es sich um mehrere mögliche, das heißt im Zusammenhang mit allen anderen Normen des Gesetzes oder der Rechtsordnung mögliche Sinndeutungen handelt. Es ist trotz aller Bemühungen der traditionellen Jurisprudenz bisher nicht gelungen, den Konflikt zwischen Wille und Ausdruck in einer objektiv gültigen Weise zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden. Alle bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu einem einzig richtigen Resultat.« 95 Ebd., Rn. 56. Der damalige Präsident des Bundesgerichtshofes Prof. Dr. Günter Hirsch hat sich dagegen am 3. Dezember 2003 in einer Ansprache ›Der Richter im Spannungsverhältnis von Erster und Dritter Gewalt‹ zu einer weitreichenden Erklärung verstanden: »Diese Verpflichtung der Dritten Gewalt auf ›Gesetz und Recht‹ ist keine bloße Tautologie. Sie befreit den Richter vom bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber und erteilt damit dem reinen Gesetzespositivismus eine Absage.« Vgl. Hirsch 2012, S. 205–208. 95 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 95 f. 94
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Die Norm als ›Deutungsschema‹
In Kelsens Verständnis ist der rechtsanwendende Interpret »ein Rechtsschöpfer«, der »bei dieser Funktion relativ frei« ist 96: »Rechtsanwendung ist zugleich Rechtserzeugung.« 97 Die Unterstellung, der Rechtspositivismus führe zu einer Rechtsanwendungs-Mechanik und mache den Richter zum Rechtsanwendungs-Automaten, ist nicht haltbar. Auch H. L. A. Hart hat darauf verwiesen, »daß die offene Struktur des Rechts ein weites Feld bietet für die schöpferische Tätigkeit, die manche ›Gesetzgebung‹ nennen«, und wie Kelsen betont: »Weder bei der Auslegung positiver Gesetze noch bei der Anwendung von Präzedenzfällen finden sich die Richter vor die Alternative gestellt, entweder eine blinde und willkürliche Wahl zu treffen oder eine ›mechanische‹ Deduktion aus Regeln mit vorausbestimmter Bedeutung vorzunehmen.« 98 Ihre Wahl werde vielmehr sehr häufig »von der Annahme geleitet, daß der Zweck der Regeln, die sie auslegen, vernünftig ist, daß also die Regeln keine Ungerechtigkeit bezwecken und keine moralischen Prinzipien verletzen sollen«. Das Problem besteht darin, dass Richter oft vor der »Wahl zwischen moralischen Werten« stehen, nicht aber bloß vor der »Anwendung eines einzigen herausragenden moralischen Prinzips«. Es sei »verrückt zu glauben, daß da, wo der Sinn eines Gesetzes in Zweifel steht, die Moral stets eine klare Antwort anzubieten habe«. 99 Das Problem, dass die Gründe und Begründungen 100 für bestimmte Entscheidungen, den Tatbestand einer Norm in Richtung auf den Sachverhalt zu präzisieren, – mit Ausnahme des Vorliegens von Legaldefinitionen, mit denen der Gesetzgeber die Auslegung einer Norm selbst festlegt 101 – oft nicht den Gesetzen selbst entnom-
Ebd., S. 98. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 240. 98 Hart 2011, S. 240. 99 Ebd. 100 Zur juristischen Begründungslehre vgl. Alexy et al. 2003. 101 Ein spezielles Problem stellt die ›authentische Interpretation‹ dar. Hierzu hat das BVerfG (1 BvR 2530/05 vom 21. 7. 2010 (73)) erklärt, die in der Begründung eines Gesetzesentwurfs »in Anspruch genommene Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation« sei »für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichtes ein noch relativiert sie die verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Zur verbindlichen Auslegung einer Norm ist letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen, die gemäß Art. 92 GG den Richtern anvertraut ist.« 96 97
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men werden können, ist allerdings mit Kelsens und Harts Annahmen noch nicht gelöst. Auslegung ist zwar unumgänglich. Aber wie kann die Beliebigkeit ›unbegrenzter Auslegung‹ verhindert werden? Hart äußert in diesem Kontext eine Überzeugung, die wohl als normatives Postulat verstanden werden muss: Richter träfen »eine Wahl, die weder zufällig noch mechanisch ist; und gerade hier zeigen sich die charakteristischen richterlichen Tugenden […]. Diese Tugenden sind: Unparteilichkeit und Neutralität bei der Abwägung von Alternativen, Berücksichtigung der Interessen aller, die betroffen sein werden, und ein Interesse dafür, anerkennbare allgemeine Prinzipien als eine vernünftige Basis für weitere Entscheidungen zu entwickeln. Weil eine Vielfalt solcher Prinzipien stets möglich ist, kann ohne Zweifel nicht bewiesen werden, daß eine Entscheidung uneingeschränkt korrekt ist: aber man kann sie als das vernünftige Produkt einer aufgeklärten unparteiischen Wahl akzeptabel machen. Hier haben wir das ›Abwägen‹ und ›Ausgleichen‹, welches für das Bemühen, zwischen widerstreitenden Interessen Gerechtigkeit walten zu lassen, so charakteristisch ist.« 102 Um eine ›unbegrenzte Auslegung‹ wie im NS-Regime zu verhindern bzw. Beliebigkeit zumindest einzuschränken, enthält das prozeduralisierte Rechtssystem Regeln, um richterliche Entscheidungen von subjektiven Wertungen so weit wie möglich frei zu halten. Das BVerfG hat allerdings erklärt: »Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter aber nicht Halt zu machen. Seine Bindung an das Gesetz […] bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Interpretation ist Methode und Weg, auf dem der Richter den Inhalt einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung erforscht, ohne durch den formalen Wortlaut begrenzt zu sein.« 103 Das BVerfG hat ferner festgestellt: »Zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter der verschiedenen, insbesondere der systematischen und der teleologischen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen. Sie stehen zur grammatischen Auslegung im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. Dabei kann gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz und ihr sachlich-logischer
102 103
Hart 2011, S. 240. BVerfGE 8, 210 (220 f).
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Zusammenhang mit anderen Vorschriften den Sinn und Zweck der Norm, also ihre wahre Bedeutung, freilegen.« 104 Angesichts der faktischen Rolle des BVerfG im Rechtssystem meint R. Schmidt feststellen zu können, »der Positivismus [sei] von den Juristen über die Gesetze zu den Gerichten, genauer: zum Verfassungsgericht übergegangen. Das Recht gilt nicht so, wie die Juristen es in ein wissenschaftliches System einbauen oder der demokratische Gesetzgeber es aus seinem freien Willen und dem Machtanspruch des (demokratischen) Staates setzt, sondern so wie das Verfassungsgericht es deutet. Kurz: der Rechtspositivismus hat eine Entwicklung genommen vom wissenschaftlichen Juristen-Positivismus über den staatlichen oder demokratischen Gesetzespositivismus hin zum Verfassungsgerichtspositivismus«. 105
Die Bindung der Richter an Gesetz und Recht »Recht ist für den Richter die Gesamtheit der Normen, nach denen er Fälle zu entscheiden hat. Das bedeutet: Der Rechtsbegriff des Richters ist kein empirischer, sondern ein normativer Begriff. Er definiert die Kriterien, nach denen der Richter eine Norm als eine solche identifiziert, die in dem Rechtssystem, dem er unterworfen ist, rechtlich gilt und also rechtlich verbindlich ist. Zwar kennt der Richter die Unterscheidung zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein 104 BVerfGE 8, 210 (220 f.); vgl. 35, 263 (278 f.). Strafgerichte werden durch § 244 Abs. 2 StPO »zur Erforschung der Wahrheit« verpflichtet. »Das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts schließen es […] aus, die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsitze der Strafzumessung in der Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll, zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts au stellen« (BVerfGE, Urteil v. 19. 3. 2013, 1068 (105)). Allerdings ist die »Antwort des Rechts auf die Frage nach dem wahren Sachverhalt und seiner Ermittlung ziemlich komplex. Das gilt schon deswegen, weil die Erfassung der Lebenswelt im Zusammenhang rechtlich angeleiteter Verfahren von vornherein normativ begrenzt ist. Wenn nach der ›Wahrheit‹ gesucht wird, dann entsteht als Ergebnis dieser Bemühungen stets eine Sachverhaltsbeschreibung, die aufgrund ihres Bezugs auf rechtliche Normen immer eine Konstruktion darstellt […]. Aber das bedeutet nicht, dass auf den Wahrheitsanspruch solcher Sachverhaltsbeschreibungen verzichtet wird« (Thier 2014, S. 249). 105 Schmidt 2014a, S. 29 f.
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sollte. Aber sie fällt für ihn mit der Unterscheidung zwischen dem rechtlich geltenden und dem nur moralisch geltenden Recht zusammen. Mit anderen Worten: Der Rechtsbegriff des Richters ist der des rechtlich geltenden Rechts. In der rechtlichen Geltung liegt, für den Richter wie für den Juristen überhaupt, wie Kelsen sagt, ›die spezifische Existenz einer Norm‹. Die Ausdrücke ›existierendes Recht‹, ›positives Recht‹ und ›rechtlich geltendes Recht‹ sind, in juristischer Sicht, synonym.« 106 In diesem Sinne kann der Rechtspositivismus insofern als rechtstheoretischer Fortschritt bewertet werden, als seine Folgen bestehen: (i) in der Wahrung der Gewaltenteilung und in dem gegen subjektive richterliche Willkür gerichteten Rechtsschöpfungsverbot für die richterliche Gewalt, das freilich die Fortbildung des Rechts durch verfassungskonforme Lückenergänzung nicht ausschließt. 107 Dagegen hat das BVerfG im ›Soraya-Urteil‹ 1973 die richterliche Bindung an ›Recht und Gesetz‹ unter Berufung auf die ›fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‹ zugunsten von ›Recht und Gesetz‹ sehr viel weitergehend interpretiert, um eine Barriere gegen einen ›engen Gesetzespositivismus‹ zu errichten: »Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an ›Gesetz und Recht‹ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des mögliDreier 1986, S. 894. Die Undurchführbarkeit des Rechtsschöpfungsverbots angesichts der Lückenhaftigkeit von Gesetzen und der Notwendigkeit subjektiver richterlicher Interpretation betonen Kaufmann/Hassemer/Neumann 2010, S. 78 und 116. 106 107
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chen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den ›fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft‹.« 108 Als rechtstheoretischer Fortschritt kann der Rechtspositivismus ferner insofern bewertet werden, als seine Folgen (ii) in der Forderung nach Geschlossenheit (Vollständigkeit) der Rechtsordnung bestehen, in der es den nicht-justiziablen Fall nicht geben darf (kein Rechtsverweigerungsverbot für Richter), und (iii) in der Forderung auf den Verzicht darauf, die Rechtsauslegung von privaten Weltanschauungen und Moralen abhängig zu machen; doch auch der Rechtspositivist weiß, dass diese Forderung in der richterlichen Praxis nur schwerlich vollständig erfüllt werden kann – auch Richter sind Menschen mit oft nicht bewusst reflektierten Überzeugungen und moralischen Präferenzen. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Prinzip der richterlichen Bindung an Gesetz und Recht preisgegeben werden dürfte. »Ein Jurist, der mit der Bindung an das vom Gesetzgeber Gesagte und Gewollte (Zwecke) bei der Rechtsanwendungstätigkeit ernst macht, kann einen weiten Bereich seiner Begründungsaufgaben
108 BVerfGE 34, 269 (39). So auch bereits Reichel 1915, S. 142: »Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewusst abzuweichen dann, wenn jene Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, dass durch Einhaltung derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Ausserachtsetzung.«
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mit zwar bisweilen außerordentlich komplexen, aber doch solchen Verfahren erledigen, die ihn der Eigenwertung entheben. Er stößt erst dann an die Grenzen solcher Tätigkeit, wenn er für seine Einzelfallentscheidung Prinzipien- und Zielkonflikte im Wege sog. Güterabwägung bewältigen muß.« 109 Die positive Funktion des Rechtspositivismus besteht schließlich (iv) darin, dass er im Interesse der Rechtssicherheit die Rechtsprechung an das in der Verfassung normierte Recht und an die Gesetze bindet, die mit der Verfassung konform sind. 110 Ein Rechtspositivismus, der die richterliche Gesetzesbindung vom Vorrang der demokratischen Verfassung her versteht, verlangt nicht mehr einen vom Prinzip ›Gesetz ist Gesetz‹ diktierten blinden Gehorsam. Im Rahmen der Gesetzesbindung berücksichtigt er auch die Bindung an Grundsätze der Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit, kurz: an ›richtiges‹, d. h. ›gerechtes Recht‹. Rechtspositivisten waren – anders als diejenigen, die einem radikalen Gesetzespositivismus 111 Tribut zollten – auch von 1933 bis 1945 keineswegs gezwungen, alles gesetzte Recht (etwa die ›Rassen‹-Gesetzgebung) als ›richtiges Recht‹ anzuerkennen bzw. zu legitimieren. Zweifellos zutreffend ist G. Radbruchs Darstellung, »die Machthaber der zwölfjährigen Diktatur [hätten] dem Unrecht, ja dem Verbrechen die Form des Gesetzes gegeben. Sogar der Anstaltsmord soll durch ein Gesetz untergründet gewesen sein, freilich in der monströsen Form eines unveröffentlichten Geheimgesetzes.« 112 Doch einer polemischen Einstellung geschuldet ist der Folgesatz: »Die überkommene 109 Rüßmann 1990, zit. n. http://ruessmann.jura.uni-sb.de/rw20/people/ruessmann/ Wieacker/frame.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 110 Vgl. hierzu Fn. 88 ff. 111 Hochhuth 2001, S. 237, macht diesen Unterschied nicht: »Rechtspositivismus muss im echt gewaltenteiligen Rechtsstaat daher wortlautgebundener Gesetzespositivismus sein. Die Dogmatik, die die Sätze des Gesetzes verknüpft, Regel-AusnahmeVerhältnisse feststellt, Widersprüche auflöst usf. gehört dazu, und damit auch die unvermeidliche systemintern kritische Aufgabe der Rechtswissenschaft gegenüber dem Gesetz. Hierdurch bleiben, im Rahmen der übergeordneten Verfassung, hinreichende Spielräume zur Lösung unvorhergesehener Konstellationen. Jedoch muss etwas ausgesondert werden, was oft mit Rechtspositivismus verwechselt wird, aber nur ein soziologischer Fehlschluss ist, nämlich die Praktiker-Romantik: – Sie verweigert sich den möglicherweise unbequemen, im eigenen Milieu schwer durchsetzbaren Anordnungen des Gesetzes mit dem Hinweis auf eine andere ›Praxis‹. – Eine Praxis, die sich gerade dadurch perpetuiert. Sie ist Betriebs- oder Milieupositivismus, und hat mit dem Gesetz nichts zu tun.« 112 Radbruch 1966 [1947], S. 2.
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Auffassung des Rechts, der seit Jahrzehnten unter den deutschen Juristen unbestritten herrschende Positivismus und seine Lehre ›Gesetz ist Gesetz‹, war gegenüber einem solchen Unrecht in der Form des Gesetzes wehrlos und machtlos; die Anhänger dieser Lehre waren genötigt, jedes noch so ungerechte Gesetz als Recht anzuerkennen.« 113 Diese These vom blinden Rechtsgehorsam enthält einen Grundfehler; er liegt »in der Vermengung von zwei ganz unterschiedlichen Fragen: der einen Frage, wie das positive Recht inhaltlich ausgestaltet ist, was also das Objekt der Rechtswissenschaft bildet; und der anderen Frage, ob man diesem so beschriebenen Recht auch Gehorsam leisten oder ob man dagegen revoltieren sollte. Die Rechtsgeltungsfrage ist mit der Rechtsgehorsamsfrage eben nicht identisch. Nur die Vermengung beider führt zu dem bekannten Vor-Urteil dem Rechtspositivismus gegenüber.« 114 Nicht anders hat dies H. L. A. Hart gesehen. Er räumte ein, es sei »unmöglich, Radbruchs leidenschaftlichen Aufruf an das deutsche Rechtsbewußtsein, sich den Forderungen der Moral zu öffnen, sowie seine Klage, daß dieses in der deutschen Tradition zu wenig geschehen ist, ohne Sympathie zu lesen«. In der Sache aber kritisierte er Radbruch: »Andererseits liegt eine außerordentliche Naivität in der Ansicht, die Unempfänglichkeit für moralische Forderungen und die Unterwürfigkeit gegenüber der Staatsgewalt könnten in einem Volk wie dem deutschen aus dem Glauben erwachsen sein, Gesetz sei Gesetz, auch wenn es den moralischen Mindestanforderungen widerspreche. Diese furchtbare Geschichte gibt vielmehr Anlaß, die Frage zu untersuchen, warum das dem Schlagwort ›Gesetz ist Gesetz‹ beigelegte Gewicht und die Unterscheidung von Recht und Moral in Deutschland einen so unheilvollen Charakter annahmen, während sie anderswo, etwa bei den Utilitaristen selbst, mit den aufgeklärtes113 Ebd.; vgl. hierzu Kramer 2008, S. 143. Rottleuthner 1987, S. 381, stellt zur These, »daß der Positivismus die herrschende Lehre in der Weimarer Zeit gewesen sei«, fest, sie könne »nur so verstanden werden: In ihrer großen Mehrzahl waren die Juristen Vertreter des Positivismus in seiner autoritären Variante – aber gerade nicht in dem Sinne, daß sie sich jedem Gesetzgeber gegenüber konform verhalten hätten. Aufgrund ihrer aus dem Kaiserreich überkommenen autoritär-konservativen Einstellung verhielten sie sich reserviert bis ablehnend dem neuen parlamentarisch-republikanischen Gesetzgeber gegenüber, der nicht dem Bild des monarchistischen Machtstaates entsprach.« 114 Dreier 2011, S. 66.
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ten Einstellungen eines Liberalismus einhergingen. Doch hinter Radbruchs ganzer Darstellung der Fragen, die sich aus der Existenz moralisch untragbarer Gesetze ergeben, verbirgt sich etwas Beunruhigenderes als bloße Naivität. Man tritt ihm, glaube ich, nicht zu nahe mit der Feststellung, daß seine Argumentation verrät, daß er die geistige Botschaft des Liberalismus, die er dem Juristenstand zu vermitteln sucht, nur halb verstanden hat. Denn alles, was er sagt, beruht auf dem Mißverständnis, daß mit der Anerkennung einer Norm als einer gültigen Norm des Rechts auch schon die moralische Frage ›Soll man dieser Rechtsnorm Gehorsam leisten?‹ entschieden ist. Zweifellos ist die wahrhaft liberale Antwort auf jeden zweifelhaften Gebrauch des Schlagworts ›Gesetz ist Gesetz‹ oder der Unterscheidung zwischen Recht und Moral: ›Nun gut; aber das entscheidet die Frage nicht. Recht ist nicht Moral; laß es nicht die Moral verdrängen‹.« 115 Anders als Radbruch es gesehen hat, bildete der Rechtspositivismus »insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik keineswegs die innerhalb der Richterschaft wie in der Zunft der Rechtswissenschaftler vorbehaltlos dominierende Sichtweise oder Grundhaltung; vielmehr lässt sich ein dramatisches Erstarken von Richterrecht und naturrechtlichen oder anderen nicht-positivistischen Positionen verzeichnen. In der Zeit des Nationalsozialismus wiederum wurde jede Art eines als verengend und nicht-völkisch verunglimpften Positivismus von den herrschenden Machthabern wie von den systemkonformen Juristen zugunsten sehr viel offenerer, auf jeden Fall nicht-positivistischer Konzepte verdammt.« 116 B. Rüthers hat nachgewiesen, »daß die Verfechter der nationalsozialistischen Rechtserneuerung diese nicht mit der bis dahin in der Rechtsphilosophie stark vertretenen Lehre des Gesetzespositivismus zu erreichen suchten. Dieser wurde vielmehr als leerer ›Normativismus‹ und ›Formalismus‹ abgetan. Die neuen Rechtsinhalte sollten aus ganz anderen, zusätzlichen Rechtsquellen erschlossen werden. Der Gesetzespositivismus galt dabei als ein lästiges Hindernis. Das neue Rechtsdenken sollte ›jenseits von Naturrecht und Positivismus‹ angesiedelt sein. Die festgeschlossen vollzogene Abkehr vom Positivismus ging vor allem auf die Programmschrift Carl Schmitts zur völkischen Rechtserneuerung mit dem Titel ›Über die drei Arten des rechtswis-
115 116
Hart 1971 [1958], S. 42 f. = Hart 1958, S. 617 f. Dreier 2008, S. 136.
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senschaftlichen Denkens‹ zurück[:] ›Das völkische Rechtsdenken […] beläßt vor allem das Gesetz nicht in seiner isolierten Stellung, sondern stellt es in den Gesamtzusammenhang einer Ordnung hinein, deren Grundgedanken übergesetzlicher Natur, weil in der Wesensart, Sitte und Rechtsanschauung des Volkes angelegt sind‹. Der eigentliche, höchst aktuelle politische Sinn dieser konzentrierten literarischen Angriffe auf den vermeintlich überholten Normativismus und Positivismus lag darin, die Gesetzesbindung der Richter im neuen Staat zu relativieren. Die aus der Weimarer Zeit und früher überkommenen, fortgehenden-Gesetze sollten vom Richter unter den Aspekten der neuen politischen Wertvorstellungen von Fall zu Fall überprüft und je nach der Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung angewendet oder als obsolet zurückgewiesen werden können.« 117 So lautete auch der zweite der 1936 im Auftrag des Reichsministers Hans Frank von Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch und Siebert formulierten ›Leitsätze über Stellung Aufgaben des Richters‹ : »Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere im Parteiprogramm und in den Äußerungen des Führers ihren Ausdruck findet«. 118 Dieses Prinzip wurde auch in den Leitsätzen des ›Reichsjuristenführers‹ Hans Frank vom 14. Januar 1936 geltend gemacht: »Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere in dem Parteiprogramm und den Äußerungen unseres Führers ihren Ausdruck findet. Gegenüber Führerentscheidungen, die in die Form eines Gesetzes oder einer Verordnung gekleidet sind, steht dem Richter kein Prüfungsrecht zu. Auch an sonstige Entscheidungen des Führers ist der Richter gebunden, sofern in ihnen der Wille, Recht zu setzen, unzweideutig zum Ausdruck kommt.« 119 Franz Schlegelberger, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, sagte in einer Rede am 23. April 1941: »Der Richter soll Recht sprechen im Namen des Volkes. Hat sich die Weltanschauung in einem Volke so grundlegend und mit so gefestigter Kraft gewandelt, wie in Deutschland nach dem Siege der Bewegung, so kann der RichRüthers 1988, S. 27. Zit. n. ebd. 119 H. Frank in Deutsche Rechtswissenschaft 1 (1936), S. 123 f. Zit. n. Stolleis 1994, S. 22. 117 118
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4 · Was heißt Rechtspositivismus
ter getreu seines Amtes nur walten, wenn er von dieser neuen Weltanschauung durchdrungen ist, und es kann keinem Zweifel unterliegen, dass nunmehr jede Norm des geltenden Rechts unter Berücksichtigung der im Parteiprogramm anerkannten Sittenordnung und Weltanschauung und dazu der maßgebenden Willensäußerungen ihres Schöpfers und berufensten Künders, des Führers, auszulegen und anzuwenden ist.« 120 Laut einem offiziellen Bericht erklärte J. Goebbels am 22. Juli 1942 vor Mitgliedern des Volksgerichtshofes: »Der Richter müsse bei seinen Entscheidungen weniger vom Gesetz ausgehen als von den Grundgedanken, daß der Rechtsbrecher aus der Volksgemeinschaft ausgeschieden werde. Im Kriege gehe es nicht so sehr darum, ob ein Urteil gerecht oder ungerecht sei, sondern nur um die Frage der Zweckmäßigkeit der Entscheidung. Der Staat müsse sich auf die wirksamste Weise seiner inneren Feinde erwehren und sie endgültig ausmerzen.« 121 Offensichtlich ist dieser Anspruch auf politische Steuerung der Justiz und sind entsprechende Maßnahmen zumindest von Teilen der Richterschaft abgelehnt worden. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD berichtete am 3. September 1942 in seinen ›Meldungen aus dem Reich Nr. 31: Meldungen zur Steuerung der Strafrechtspflege‹ : »Nach zahlreichen Meldungen aus dem gesamten Reichsgebiet sind diese Maßnahmen in Justizkreisen sehr zwiespältig aufgenommen worden. Der völlige Bruch mit der bis dahin herrschenden Auffassung von der richterlichen Unabhängigkeit, den die Steuerung der Strafrechtspflege bedeutet, sei innerhalb der Richterschaft teilweise sehr ablehnend besprochen worden. In einzelnen Fällen habe dies sogar zu Meinungsäußerungen gegen den nationalsozialistischen Staat geführt, der angeblich die richterliche Unabhängigkeit beseitigen wolle, um die Justiz einem Weisungsrecht politischer Stellen auszuliefern. Ausgangspunkt dieser Einstellung einzelner Richter sei regelmäßig die überkommene Auffassung von der richterlichen Unabhängigkeit gewesen, wonach der Richter ausschließlich dem geschriebenen Gesetz unterworfen war und infolgedessen keinerlei auch noch so allgemein gehaltenen Weisungen etwa der JustizverwalZit. n. Aden 2012, S. 55. Bericht über die Rede des Reichsministers Dr. Goebbels vor den Mitgliedern des Volksgerichtshofs am 22. Juli 1942. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 6 (1958), H. 4: Dokumentation zur Perversion der Strafjustiz im Dritten Reich, S. 438. 120 121
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tung im Bezug auf eine bestimmte einzuhaltende Linie bei der Rechtsprechung zu folgen brauchte.« 122 Die Erwartungen des NS-Regimes wurden aber von Standesfunktionären bereitwillig erfüllt: »Der Richterbundvorsitzende [teilte] nach einer Audienz […] beim Reichskanzler mit: ›Wir legten alles vertrauensvoll in seine Hand. Der Herr Reichskanzler war mit diesen Einführungen offenbar einverstanden und erklärte, dass er die Unabhängigkeit der Richter aufrechterhalten werde, wenn auch gewisse Maßnahmen notwendig seien‹. […] Am 21. April [1933] forderte der Verein Preußischer Richter und Staatsanwälte seine Mitglieder auf, ›sich in die gemeinsame Kampffront Adolf Hitlers einzugliedern und sich dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen anzuschließen‹ […]. Am 23. Mai erklärte schließlich der Reichsvorstand des Richterbundes in einem Telegramm an den ›Reichsjuristenführer‹ Hans Frank ›für sich und die ihm angeschlossenen Landesvereine seinen korporativen Eintritt in den nationalsozialistischen Juristenbund und unterstellt sich der Führung des Herrn Reichskanzlers Adolf Hitler‹. […] Als deutliches Zeichen der vollendeten Gleichschaltung schworen schließlich am 13. Oktober 1933 anlässlich des ersten Juristentages nach Hitlers Machtergreifung, zugleich vierte Jahrestagung des Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen, auf einer imposanten Massenkundgebung vor dem Reichsgericht über 10000 Juristen mit erhobenem rechten Arm, ›bei den Opfern einer volksfremden Justiz und der Seele des deutschen Volkes, dass wir unserem Führer auf seinem Wege als deutsche Juristen folgen werden bis an das Ende unserer Tage‹.« 123 Die allgemeine Formel ›Gesetz ist Gesetz‹ lässt nicht erkennen, dass Richter zumindest in den Anfangsjahren vor der Wahl standen, Gesetze der Weimarer Republik, die noch in Kraft waren, korrekt anzuwenden oder sie als Nationalsozialisten nicht anzuwenden bzw. sie im Sinne des NS-Regimes auszulegen. Diese Art der Auslegung hat B. Rüthers als »Einlegung« bezeichnet: »Der Inhaltswandel der gesamten Rechtsordnung und ihrer Teilgebiete durch die nationale Revolution stand im Mittelpunkt. Die Auslegungsmethode wurde in den Dienst der neuen Rechtsidee genommen. Das erklärte Ziel war 122 Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, 3. September 1942, Meldungen aus dem Reich Nr. 31: Meldungen zur Steuerung der Strafrechtspflege. In: ebd., S. 440. 123 http://www.ag-emmerich.nrw.de/behoerde/gerichtsvorstellung/Geschichte/Dr__ M__ller/index.php. Abruf überprüft am 12. 1. 2014.
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die Durchdringung der Rechtsordnung mit nationalsozialistischem Ideengut.« 124 So erlangte »[d]ie Mißachtung des ursprünglichen gesetzgeberischen Willens durch den weltanschaulich gelenkten Richter […] im Justizalltag des Nationalsozialismus weit größere Bedeutung als das vom Gesetzgeber unmittelbar befohlene Unrecht. Deshalb enthielt die in den fünfziger Jahren verbreitete These, die Richterschaft sei gegenüber dem entfesselten Gesetzgeber wegen ihrer positivistischen Ausrichtung hilflos gewesen, nur eine Teilwahrheit, und sie ist als globale Erklärung geradezu irreführend. Die Richterschaft hatte schon in der Weimarer Republik sehr weitgehend gegen den demokratisch legitimierten Gesetzgeber optiert, so daß die nunmehr propagierte ›Überwindung des engen Normativismus‹ durch Auslegung anhand der Topoi ›konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken‹, ›Wille des Führers‹, ›Bedürfnisse der Volksgemeinschaft‹, ›Gemeinwohl‹, ›Treu und Glauben‹, ›Sittenwidrigkeit‹ oder ›gesundes Volksempfinden‹ keine methodischen Schwierigkeiten mehr machte.« 125 M. Walther hat folgendes Fazit gezogen: »Mit der Berufung auf die unausweichliche Gesetzesbindung der NS-Juristen hat man die Dinge auf den Kopf gestellt. […] Die schmutzigste Arbeit vor Ort war den Richtern überlassen. Sie schöpften die gesetzlichen Entscheidungsspielräume oftmals bis zum Äußersten zum Nachteil der politisch Missliebigen und Unangepassten aus. Nicht selten nahmen sie in vorauseilendem Gehorsam im Wege der Auslegung Gesetzesänderungen vorweg, zu denen sich der nationalsozialistische Gesetzgeber aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung noch nicht oder nie entschließen mochte.« 126 Die Herrschaft des Rechts war nach 1933 ohne offenen Widerstand der Justiz ausgelöscht worden. 127 Ernst Benda hat an die »andere Seite der Tyrannei« erinnert, um zu zeigen, wie sehr es an der offensichtlich möglichen Zivilcourage gefehlt hat: »Unter den wenigen bekannt gewordenen Richtern oder anderen Angehörigen der Justiz, die sich in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft offen dem Unrecht widersetzt haben, ragt der Name von Lothar Kreyssig hervor. Er war beim Amtsgericht Brandenburg/Havel als Vormundschaftsrichter tätig und hatte in die124 125 126 127
Rüthers 2005 [1968], S. 175. Stolleis 1994, S. 23. Walther 1988, S. 143 f. Vgl. zum Versagen von Juristen im ›Dritten Reich‹ Wesel 1983.
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Die Bindung der Richter an Gesetz und Recht
ser Eigenschaft von der ›Euthanasie‹-Aktion erfahren, durch die seit Anfang 1940 aufgrund eines Geheimbefehls Hitlers viele der in Heilund Pflegeanstalten untergebrachten psychisch Kranken von dort in Tötungsstellen verbracht und dort ermordet wurden; die Aktion forderte bis zu ihrer Einstellung […] zehntausende von Toten. Kreyssig untersagte den Leitern der Heil- und Pflegeanstalten in seinem Bereich, betreute Personen ohne seine Zustimmung zu verlegen. In einer an das Reichsjustizministerium gerichteten Denkschrift machte er im Juli 1940 auf die ihm bekannt gewordenen Umstände aufmerksam. Kreyssig war einer von damals etwa 1400 Vormundschaftsrichtern, und von keinem anderen sind ähnliche Proteste oder Gegenvorstellungen bekannt geworden. Kreyssig selbst berichtet über das Gespräch, das im Sommer 1940 auf seinen Protest hin im Reichsjustizministerium stattfand. Sein Gesprächspartner war der damalige Staatssekretär Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, dessen Rolle vor allem in dem Verfahren gegen die am 20. Juli 1944 Beteiligten als schrecklichstes Symbol einer enthemmten, nationalsozialistisch ideologisierten Blutjustiz gilt. Freisler begegnete einem Richter, der im März 1940 in dem gegen ihn eingeleiteten Dienststrafverfahren seine Beobachtung schriftlich niedergelegt hatte, ›daß neben z. B. den Konzentrationslagern nun auch die Heilund Pflegeanstalten vollkommen vom Recht ausgenommen sind‹, und der nach eigener Bekundung meinte: ›nach dem, was ich seit 1933 über die schrittweise Entfernung und Verkehrung von Rechtsetzung und Rechtsübung, über die seuchenhafte Ausbreitung rechtsfreier Räume erlebt hatte, war von den obersten Justizorganen nicht viel zu hoffen‹. […] [D]er Richter, der nach Vermerk des Kammergerichtspräsidenten ›von einer durch den nationalsozialistischen Staat herbeigeführten Rechtsnot des deutschen Volkes‹ gesprochen hatte, wurde nicht etwa bestraft oder verfolgt, sondern lediglich – auch auf eigenen Antrag – unter Beibehaltung der Ruhestandsbezüge in den Ruhestand versetzt; das gegen ihn eingeleitete Dienststrafverfahren wurde eingestellt.« 128 Um zu verstehen, was Rechtspositivismus ist bzw. nicht ist und welcher Rechtspositivismus nach 1945 als Helfershelfer des NS-Terrors denunziert wurde, ist ein Blick in die geschichtliche Entwicklung nützlich.
128
Benda 2005.
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Kapitel 5 Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
Um eine umfassende Geschichte des Rechtspositivismus 1 soll es hier nicht gehen. »Anlass sich mit den Anfängen des Rechtspositivismus im 19. Jahrhundert zu beschäftigen, gibt nicht zuletzt die immer wieder aufkommende Vermutung, dass sich mit der Hinwendung zum Rechtspositivismus das Recht jede Möglichkeit genommen habe, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Die reine Formalität des formalen Rechtsstaats habe den Weg zum Nationalsozialismus geebnet und nur der Bezug zur Sittlichkeit, zum materialen Rechtsstaat könne diesen fatalen Irrtum wieder rückgängig machen. Gerade die Wertordnungs-Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg geht in diese Richtung. […] Doch in Sachen Verantwortung für den Nationalsozialismus haben jüngere Forschungen eindeutig belegt, dass es keinen, weder einen logisch-systematischen noch einen historisch-biographischen Zusammenhang zwischen Rechtspositivismus und nationalsozialistischer Unrechtsdiktatur gibt. Es waren ganz andere Quellen, aus denen sich dieser speiste. Es war vielmehr die Entkoppelung von Rechtsgeltung und Verfahren der demokratischen Rechtsetzung, die den eigentlichen Sündenfall und das Spezifikum des deutschen Sonderwegs ausmachte.« 2 Was nach 1945 pauschal ›dem‹ Rechtspositivismus angelastet wurde, hat Max Weber 1922 mit dem älteren Rechtspositivismus in Verbindung gebracht – Hörigkeit gegenüber den jeweils gerade herrschenden ›legitimen‹ politischen Gewalten. Die »kontinentale Jurisprudenz« habe sich »mit dem bis in die jüngste Vergangenheit im wesentlichen unangefochtenen Axiom von der logischen ›Geschlossenheit‹ des positiven Rechts« begnügt. »Ausdrücklich verkündet ist Es gibt kaum eine monografische Darstellung zur Geschichte des Rechtspositivismus. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Conklin 2001: The Invisible Origins of Legal Positivism: A Re-Reading of a Tradition. 2 Schmidt 2014b, S. 79. 1
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Positivismus in Anlehnung an die Naturwissenschaften
es wohl zuerst von Bentham, im Protest gegen die Präjudizienwirtschaft und Irrationalität des Common Law. Gestützt wurde es indirekt durch alle jene Richtungen, welche alles überpositive Recht, insbesondere das Naturrecht, ablehnten […]. Der Rechtspositivismus ist infolgedessen in vorläufig unaufhaltsamem Vordringen. Das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen hat die Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet […]. Aber eben dieses Absterben seiner metajuristischen Verankerung gehörte zu denjenigen ideologischen Entwicklungen, welche zwar die Skepsis gegenüber der Würde der einzelnen Sätze der konkreten Rechtsordnung steigerten, eben dadurch aber die faktische Fügsamkeit in die nunmehr nur noch utilitarisch gewertete Gewalt der jeweils sich als legitim gebärdenden Mächte im ganzen außerordentlich förderten. Vor allem innerhalb des Kreises der Rechtspraktiker selbst. […] Soweit der Juristenstand heute überhaupt typische ideologische Beziehungen zu den gesellschaftlichen Gewalten aufweist, fällt er – verglichen sowohl mit den Juristen der englischen und französischen Revolutionszeit, wie überhaupt des Aufklärungszeitalters, auch innerhalb der patrimonialfürstlichen Despotien, der Parlamente und Gemeindekörperschaften, bis herab zum preußischen ›Kreisrichterparlament‹ der 60er Jahre [des 19. Jahrhunderts] – viel stärker als je früher in die Waagschale der ›Ordnung‹, und das heißt praktisch: der jeweils gerade herrschenden ›legitimen‹ autoritären politischen Gewalten.« 3
Positivismus in Anlehnung an die Naturwissenschaften als Vorgeschichte des Rechtspositivismus? Nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hat sich für kurze Zeit der Positivismus als Paradigma empirischer Wissenschaften durchgesetzt. Der Weg seiner Entstehung aus der Kritik an der spekulativen idealistischen Philosophie wurde allerdings so weitgehend vergessen, dass man die positivistischen Anfänge vor allem den Naturwissenschaften zuschrieb. Tatsächlich aber entstand er als Gesellschaftstheorie, die sich den Anschein einer naturwissenschaftlichen Fundierung gab. Dies traf nicht zuletzt für die ›philosophie po3
Weber 1980, S. 501 f.
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
sitive‹ Auguste Comtes zu. So schien es nahezuliegen, auch die Entstehung des Rechtspositivismus auf den Comtismus zurückzuführen. Ein Beispiel für diese Genealogie bietet Joachim Ritter: »[D]as Verhältnis, in dem die positivistische Begründung der Wissenschaft zu den nicht in der Methode der exakten Wissenschaft aussagbaren geschichtlichen und geistigen Zusammenhänge der menschlichen Welt steht, wird durch Comtes ›Revolution des Mannesalters‹ und das sie begründende Dreistadiengesetz in einer für den Positivismus im Ganzen repräsentativen Form ausgesprochen. Es wird verständlich, was den Positivismus als Szientismus in der Beschränkung auf wissenschaftliche Aussagen mit dem für ihn ebenfalls durchgängig gültigen Agnostizismus verbindet. Aus Szientismus und Agnostizismus und ihrer Verbindung resultiert die Tendenz, an die Stelle der Religion und an die Stelle der Metaphysik eine ›wissenschaftliche Weltanschauung‹ zu setzen […]. Das erscheint auch darin, daß der Wissenschaftsbegriff des Positivismus in denjenigen Wissenschaften in Anknüpfung und Auseinandersetzung eine Rolle gespielt hat und spielt, zu deren Gegenstand an sich Voraussetzungen gehören, die nicht durch die Methode, die sie als Wissenschaft konstituiert, gesetzt sind. So löst der Positivismus in der Rechtswissenschaft das Recht, um es zum Gegenstand wissenschaftlicher Aussagen zu machen, aus den Zusammenhängen heraus, in denen die Rechtsinstitutionen ihrem Zwecke nach, in ihrer Funktion und in ihrer geschichtlichen Bedingtheit stehen, und beschränkt die Rechtswissenschaft auf die ›tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe‹.« 4 Diese Genealogie des Rechtspositivismus ist insofern historisch nicht haltbar, als »zwischen dem rechtswissenschaftlichen, dem philosophischen und historischen sowie dem naturwissenschaftlichen Positivismus keinerlei Unterscheidung getroffen« wird. 5 Die fehlende Differenzierung wurde immer wieder zum Ausgangspunkt der Kritik: »Bekämpft wird der juristische Positivismus nicht in einzelnen Fehlern oder Theorien, sondern in ihm wird die wissenschaftstheoretische Grundhaltung als solche angegangen, für die er steht: nämlich die Auffassung, daß die Rechtswissenschaft nur dann eine Wissenschaft ist, wenn sie als logisch-empirische Tatsachenwissenschaft
4 5
Ritter 1971, S. 12. Tripp 1983, S. 21 f.
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›Positive‹ Gesellschaftstheorie nach dem Muster der Naturwissenschaft
aufgefaßt und durchgeführt wird.« 6 Mit dieser wissenschaftstheoretischen Kennzeichnung, die nur auf bestimmte seit den 1830er Jahren entwickelte natur- bzw. sozialtheoretische Positivismen zutrifft, sind rechtspositivistische Theorien nicht zu erfassen.
›Positive‹ Gesellschaftstheorie nach dem Muster der Naturwissenschaft Der gesellschaftstheoretische Positivismus hat eine um 1800 beginnende Vorgeschichte. Nahezu gleichzeitig entstanden zwei empirisch orientierte und nach dem Muster der Naturwissenschaft konzipierte Modelle: die physiologisch begründete Ideenlehre namens ›Idéologie‹ und die sich vage an Mathematik und Naturwissenschaft orientierenden kritisch-utopistischen Wissenschaftskonzeptionen der ›Neuerer‹ Saint-Simon und Fourier. Sowohl die Idéologie als auch der ›physicisme‹ als ›neue Wissenschaft vom Menschen‹ waren Meilensteine des Übergangs von der spekulativen Philosophie zu einem antimetaphysischen Modell von Wissenschaft, zu einem Positivismus unter Berufung auf die Objektivität und Exaktheit nomologischer Naturwissenschaften; dieses Modell übernahm auch Auguste Comte. 7 ›Wissenschaft‹ wurde zum Topos der Opposition gegen die Philosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus; Wissenschaftlichkeit sollte rationale Prinzipien der Welterkenntnis und der Weltveränderung garantieren. Die Frage lautete: Wie muß eine Wissenschaft beschaffen sein, die als Motor des Fortschritts operieren kann? Dies war die Frage, auf die auch Saint-Simon, Fourier und Comte eine ›positive‹ Antwort suchten. Die Antworten sollten, obwohl es um Zukunft ging, nicht utopisch sein; deshalb berief man sich auf die ›Gesetzmäßigkeiten der Natur‹.
Saint-Simon und Fourier Saint-Simon stützte das Programm einer ›neuen Wissenschaft‹ auf das Newton’sche Modell der mathematisierten Physik. Das Kennwort dieser Wissenschaft hieß Entdeckung (découverte). Im Gegen6 7
Ebd., S. 10 f. Vgl. hierzu Sandkühler 2002, S. 57–69 und S. 104–107.
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
satz zur spekulativen metaphysischen Philosophie sollte die neue Theorie zwei Dimensionen miteinander verbinden: Sie sollte zugleich als empirische Wissenschaft auf die Beobachtung des Einzelnen und Besonderen – der ›Tatsachen‹ – gegründet und ›allgemeine Wissenschaft‹ sein. Die Ordnung des Wissens stellte sich Sant-Simon – in Anlehnung an Francis Bacon – in der Metapher des ›enzyklopädischen Baumes‹ vor, dessen Stamm der ›physicisme‹ war. Die newtonsche Naturwissenschaft bot ein Modell exakter und objektiver Erkenntnis. Nomologische Aussagen sollten in der ›positiven‹ Gesellschaftswissenschaft in Analogie zur Naturwissenschaft ermöglicht werden. Die Funktion der Analogie bestand darin, für Plausibilität zu sorgen, wo die programmatisch skizzierte, aber unreife Theorie noch nicht über exakte Erklärungen verfügte. Saint-Simon stützte sich auf ontologische Annahmen über die strukturelle Analogie zwischen Elementen unterschiedlicher Systeme, so des Mikrokosmos und des Makrokosmos, der Gesellschaft und der Natur. Saint-Simon ging es dabei um den Übergang von der Negativität der Revolution zur Positivität der Reform, von der ›Kritik‹ zur ›Reorganisation‹. Die Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts – so seine Prämisse – müsse die von den Denkern des 18. Jahrhunderts eingeschlagene revolutionäre Richtung vollkommen verändern; im Gegensatz zur alten Philosophie, die kritisch, ›negativ‹ und revolutionär gewesen sei, müsse die neue ›positive‹ Wissenschaft ›organisierenden Charakter‹ haben und der Reorganisation des moralischen, religiösen und politischen Systems gemäß ›natürlichen‹ Gesetzmäßigkeiten dienen. Charles Fourier war weit weniger ›Re-Organisator‹ als Saint-Simon; seine Kritik am Bestehenden betraf auch den Bestand des Wissens. Die bei Saint-Simon sichtbare und in seiner Schule bis hin zu Auguste Comte zugespitzte Ambiguität – einerseits die Berufung auf die bestehenden Wissenschaften und andererseits die Konstruktion der Zukunft – wollte Fourier überwinden. Als ›Entdecker‹ der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Bewegung wollte er die ›alten‹ Wissenschaften hinter sich lassen. Der ›wirkliche Entdecker‹ habe sich gegen die herrschenden Irrtümer zu stellen und – so die Théorie des quatre mouvements et des destinées générales – zur Entdeckung zu führen, »die die Menschheit vom zivilisierten, barbarischen und wilden Chaos befreien wird«. 8 Ch. Fourier, Théorie des quatres mouvements et des destinées générales. Novelle édition corrigée et augmentée du Nouveau monde amourex (Extraits). Publié pour la
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Saint-Simon und Fourier
Konstitutiv für Fouriers Programm war seit 1803 die Kritik am ›Hochmut‹ von drei Wissenschaften 9 – der Metaphysik, der Politik und der Moral –, die er 1808 um die Kritik an der Ökonomie erweiterte, und vor allem an der Philosophie überhaupt, und zwar wegen ihres methodischen Leichtsinns, wegen des ›simplisme‹ ihrer Erklärungsmethoden 10 und wegen des Zusammenhangs des Elends der bestehenden Zivilisation mit dem »philosophischen Regime«. 11 Fourier betonte in seiner späten Théorie de l’unité universelle (1822) in einer Zwischenbilanz zwölf Grundsätze, zu deren Beachtung die Theorie verpflichtet und bei deren Missachtung die Analyse der Wirklichkeit unmöglich sei: die Vollständigkeit der Forschung, die Würdigung der Erfahrung, das Erschließen des Neuen durch Analogie, die Verbindung von Analyse und Synthese, die Förderung wissenschaftlicher Alternativen, die Reduktion der Mannigfaltigkeit der Triebkräfte auf Gesetze der ›attraction‹, die Suche nach Wahrheit, den Rekurs auf die Natur, die Kritik der Vorurteile, Beobachtung anstelle von Spekulation, Sprachkritik und den Mut, »das Erlernte [zu] vergessen und das menschliche Verständnis von Grund auf [zu] erneuern«. 12 Das neue Wissenschaftsprogramm sollte eine neue gesellschaftliche Ordnung antizipieren. Fragt man nach dem Status von Mathematik und Naturwissenschaften bei Saint-Simon und Fourier und nach ihrer Rolle bei der Begründung des Programms einer neuen Wissenschaft der Gesellschaft, so kann die Antwort nur lauten: keine konstitutive Rolle als Wissenschaften. Der Transfer von Theoremen aus den Wissenschaften der Natur bediente sich mehr oder weniger vager Analogien und Metaphern, deren Funktion es war, der noch unreifen ›science sociale‹ mit der Idee von ›Naturgesetzen der sozialen Bewegung‹ den Charakter einer Gesetzeswissenschaft zuschreiben zu können.
première fois, d’articles et de documents egalement inédits, d’une importante introduction par Madame S. Debout et d’une notice biographique sur l’auteur, Paris 1967, S. 84. 9 Vgl. den Artikel ›Science‹. In: F. Silberling, Dictionnaire de sociologie phalanstérienne. Guide des Œuvres Complètes de Charles Fourier, Paris 1911, S. 396 ff. 10 Ch. Fourier, Le nouveau monde industriel et sociétaire ou invention du procédé d’industrie attrayante et naturelle distribuée en séries passionnées. Préface par M. Butor, Paris 1973, S. 337. 11 Ebd., S. 128. 12 Ch. Fourier, Ökonomisch-philosophische Schriften, hg. v. L. Zahn, Berlin 1980, S. 81–85.
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
Comtes ›Physique sociale‹ Die Versuche, noch fehlendes Wissen über die Gesellschaft durch Anleihen bei den Naturwissenschaften zu ersetzen, konnten entweder durch Ansprüche auf radikale Veränderungen oder vom Interesse an einer Stabilisierung der Gesellschaft durch Revolutionen vermeidende Reformen motiviert sein. Letzteres belegt die Physique sociale Comtes, der nach naturwissenschaftlichen Studien von 1817 bis 1824 Saint-Simons Sekretär war. Gerade seine ›philosophie positive‹ zeigt, wie der Positivismus des frühen 19. Jahrhunderts als gesellschaftstheoretische und gesellschaftspolitische Strategie entstanden ist. Formal betrachtet hat die Physique sociale den von Saint-Simon entwickelten Prinzipien wenig hinzugefügt, ja sie ist kaum von ihnen abgewichen. Bereits 1825 formulierte Comte in seinen Considérations philosophiques sur les sciences et sur les savans 13, die er im saintsimonistischen Organ Le producteur veröffentlichte, die Grundsätze seines Verständnisses der ›positiven‹ Wissenschaften: Die Geltung der allgemeinen Theorie der Gesellschaft sollte durch mathematische Konstruktion und durch Empirie begründet werden. Comte verstand unter ›physique sociale‹ eine Wissenschaft, die das Studium der Gesellschaft zu ihrem Gegenstand haben und gesellschaftliche Phänomene in demselben Geist betrachteten sollte wie astronomische, physische, chemische und physiologische Phänomene. Die Grundthese lautete: Das gesellschaftliche Leben ist unabänderlichen deterministischen Naturgesetzen unterworfen. So sollten nomologische Aussagen, Objektivität und Exaktheit gesichert werden. Dies waren die Ideale einer Theorie, die sich – im Unterschied zum ›kritischen‹ Impetus der Philosophie der Aufklärung – dadurch auszeichnen sollte, dass sie eine ›Ordnung‹ herstellte, in der ›positive Gesetze‹ herrschten, die aus beobachtbaren ›Tatsachen‹ zu gewinnen seien. In Comtes ab 1830 verfassten Cours de philosophie positive bezog sich der Begriff des Positiven zunächst auf natürliche Ordnungen, griff aber direkt über auf die gesellschaftliche Ordnung, deren Erklärbarkeit von ihrer Unveränderbarkeit abhängig gemacht wurde. Es ging um Gesetze stabiler sozialer Systeme. In seinem berühmten späteren Discours sur l’esprit positif aus dem Jahre 1844 formulierte Comte die Forderung, die die ›positive‹ Die deutsche Übersetzung erschien in der Monatsschrift für Deutschland, historisch-politischen Inhalts, Bd. 19, Berlin 1826.
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Comtes ›Physique sociale‹
Theorie der Gesellschaft zu erfüllen habe: »Nicht nur müssen sich unsere positiven Forschungen überall im wesentlichen auf die systematische Beurteilung dessen was ist beschränken, indem sie darauf verzichten, seinen ersten Ursprung und seine letzte Bestimmung zu entdecken; sondern es ist auch wichtig einzusehen, daß dieses Studium der Phänomene, statt irgendwie absolut werden zu können, (im Gegenteil) stets auf unsere Organisation und auf unsere Lage relativ bleiben muß.« 14 Gefordert sei die »ständige Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung«. 15 Nur jene wissenschaftliche Erkenntnis sei als ›positiv‹ anzuerkennen, die sich auf das Gegebene erstrecke, dessen Ordnungsstruktur aufdecke und so »als rationale Basis für die Einwirkung der Menschheit auf die Außenwelt« fungiere. 16 Dies war der Kontext, in dem Comte den Begriff des Positiven definierte: »Zunächst in seiner ältesten und verbreitetsten Bedeutung betrachtet, bezeichnet das Wort positiv das Tatsächliche im Gegensatz zum Eingebildeten: in dieser Hinsicht kommt es voll und ganz dem neuen philosophischen Geiste zu, der auf Grund der ständigen Hingabe unserer Intelligenz an wirklich erreichbare Forschungsobjekte unter dauerndem Ausschluß der unergründlichen Mysterien, mit denen sich vor allem seine Kindheit befaßte, so bezeichnet wird. In einem zweiten, dem vorhergehenden sehr nahestehenden, gleichwohl aber von ihm unterschiedenen Sinn gibt dieser wesentliche Ausdruck den Gegensatz zwischen dem Nützlichen und dem Müßigen an: in der Philosophie erinnert er dann an die notwendige Bezogenheit aller unserer gesunden Theorien auf die ständige Verbesserung unserer individuellen und kollektiven Lebensbedingungen im Gegensatz zu der nichtigen Befriedigung einer unfruchtbaren Neugier. In einer dritten verbreiteten Bedeutung wird dieser glücklich gewählte Ausdruck häufig dazu benützt, den Gegensatz von Gewißheit und Unentschiedenheit zu bezeichnen: er gibt so die typische Fähigkeit einer derartigen Philosophie an, von selbst, anstelle der unbestimmten Zweifel und der endlosen Debatten, die die alte Denkweise hervorbringen mußte, die logische Harmonie im Individuum und die geisti-
14 A. Comte, Discours sur l’Esprit Positif/Rede über den Geist des Positivismus, hg. v. I. Fetscher, Hamburg 1956, S. 29. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 57.
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
ge Vereinigung der gesamten Gattung zu begründen. Eine vierte verbreitete Auffassung, die zu oft mit der vorangehenden verwechselt wird, besteht in der Entgegensetzung von Genauem und Ungewissem: diese Bedeutung erinnert an das ständige Streben des wahrhaft philosophischen Geistes, überall den Grad von Genauigkeit zu erreichen, der mit dem Wesen der Erscheinungen vereinbar ist und mit den Forderungen unserer wahren Bedürfnisse übereinstimmt; während die alte Weise zu philosophieren notwendig zu ungewissen Meinungen führte, weil sie erst auf Grund eines ständigen auf übernatürliche Autorität gestützten Druckes eine unentbehrliche Disziplin zuließ. Schließlich muß noch auf eine fünfte Anwendung besonders aufmerksam gemacht werden, die zwar weniger gebräuchlich, aber im übrigen ebenso umfassend ist wie die anderen, wenn man nämlich das Wort positiv als das Gegenteil von negativ gebraucht. In dieser Hinsicht gibt sie eine der höchsten Eigenschaften der neuzeitlichen wahren Philosophie an, indem sie zeigt, daß diese von Hause aus nicht dazu bestimmt ist, zu zerstören, sondern zu organisieren.« 17 Mit dem Konzept des Positiven war der Zusammenhang zwischen der Modellfunktion einer für sozialtheoretische Ordnungsideale eingesetzten Naturwissenschaft, der Empirie und der Beschränkung der Theorie auf das Bestehende verbunden. Dies wurde zu dem Kennzeichen einer Wissenschaft, die den Fortschritt im 19. Jahrhundert bewirken sollte. Was für Comte zählte, war die Verbindung und Versöhnung der Prinzipien Ordnung und Fortschritt. Auf die Rechtstheorie hatte Comtes Konzeption so gut wie keinen Einfluss. Eine Ausnahme stellt der rechtswissenschaftliche Positivismus in Brasilien 18 dar, wo Comtes Lehre und auch die von ihm gegründete ›positivistische Kirche‹ (église positiviste) mit ihren ›Temples de l’Humanité‹ im 19. Jahrhundert für die Institutionen des Staates prägend wurde – bis hin in die Inschrift ›ordem e progresso‹ in der Nationalflagge.
Ebd., S. 85 und 87. Vgl. zu einer ausführlichen historischen und systematischen Darstellung der Rolle des Rechtspositivismus in Brasilien Vidal de Souza/Mezzaroba 2014.
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Die Krise des Positivismus und die Philosophie der induktiven Wissenschaften
Die Krise des Positivismus und die Philosophie der induktiven Wissenschaften Die ›positiven‹ Wissenschaften waren – so schien es – durch die positivistische Wissenschaftsphilosophie hinreichend interpretierbar. Doch diese Annahme erwies sich schon bald als fragwürdig; die in positivistischer Absicht auf die Naturwissenschaften gesetzten Hoffnungen wurden enttäuscht. Ihr empirizistisches Verständnis der Natur geriet in dem Maße in eine Krise, wie das Verhältnis von Tatsachen und Theorien problematisch wurde. Auch die Frage nach dem Status jener ›natürlichen‹ Entitäten, auf deren ›Gegebenheit‹ sich die Gesellschaftstheorie Comtes berief, konnte mit dem schlichten Hinweis auf das ›Faktische‹ nicht mehr angemessen beantwortet werden. Man musste in der Entwicklung der Physiologie und Physik von Johannes Müller bis Hermann v. Helmholtz, Emil Du Bois-Reymond und Ludwig Boltzmann 19 einsehen, dass es keine Identität zwischen dem Wirklichen und den Aussagen über das Wirkliche gibt. In den Wissenschaften entstand erneut ein Bedarf an philosophischer Epistemologie, und man erinnerte sich an eine fast vergessene Theorie, die schon bald wieder aktuell wurde: die kritische Philosophie Kants. Hatte nicht Kant zwischen empirischer und rationaler Erkenntnis – zwischen der »cognitio ex datis« und der »cognitio ex principiis« 20 – unterschieden und damit eine Lösung auch des Problems der Beziehung zwischen Tatsachen und Theorien sowie zwischen Induktion und Deduktion angeboten? Mit Kant öffnete sich der Blick zurück auf eine noch längere Spur dieser Tradition. Sie führte zu Francis Bacons Projekt der Philosophie der Forschung. Hatte nicht Bacon vor einem zu einfachen Empirismus gewarnt und die Idee der Interpretation der Natur stark gemacht? Das Ergebnis war folgende Einsicht: Alle wissenschaftlichen Theorien beziehen sich auf das für uns Beobachtbare und sind Ausdruck des von uns Sagbaren. Die Erinnerung an Bacon 21 und Kant ist besonders offensichtlich bei William Whewell (1794–1864), dem prominenten Vertreter der Cambridge Inductivists, der sich als physikalischer Astronom, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker einen Namen gemacht hat. Die fundamentale These seiner Philosophie der Naturwis19 20 21
Vgl. hierzu Sandkühler 2002, S. 145–158. Kant, Kritik der reinen Vernunft A 836/B 864; vgl. A 841/B 869. Vgl. Whewell 1967a, Part II, Book XII, Ch. XI: Francis Bacon.
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
senschaften, die er aus der Geschichte der empirischen Wissenschaften ableitete, lautete: Die Wissenschaft entwickelt sich von induktiven Generalisierungen zu hypothetisch-deduktiven Theorien. In seiner History of the Inductive Sciences (1837, 31857) sind ›induktive Wissenschaften‹ durch den folgenden Begriff der Induktion charakterisiert: »by Induction is to be understood that process of collecting general truths from the examination of particular facts, by which such sciences have been formed«. Whewells The Philosophy of the Inductive Sciences erschien 1840 (21847). In beiden Werken stand die Problematik von »Facts and Ideas« im Zentrum des Interesses. Whewell verteidigte das Prinzip der Induktion, doch er räumte explizit ein, dass für die Bildung der Wissenschaft zwei Elemente erforderlich seien – eben ›Facts and Ideas‹ : Wissenschaft gründet in Beobachtung; zur Beobachtung gehört aber intrinsisch die Leistung des Denkens (»inward effort of Thought«); »Sense and Reason« bilden eine unauflösbare Einheit, und keines dieser beiden Elemente kann allein substanzielles allgemeines Wissen begründen: »The impressions of sense, unconnected by some rational and speculative principle, can only end in a practical acquaintance with individual objects; the operations of the rational faculties, on the other hand, if allowed to go on without a constant reference to external things, can lead only to empty abstractions and barren ingenuity.« Tatsachen der Beobachtung sind eine Herausforderung für die Reflexion – »facts to reason upon«. 22 Whewell betonte, »that in all human Knowledge both Thoughts and Things are concerned. In every part of my knowledge there must be some things about which I know, and an internal act of me who know. […] Without Thoughts, there could be no connexion; without Things, there could be no reality.« 23 Bei der Abwägung der Bedeutung des Denkens für die Wahrnehmung kam Whewell zu dem Ergebnis, dass die Akte des Denkens und die Ideen je fünfzig Prozent des Erkennens ausmachen: »they half create«. 24 In J. S. Mills A System of Logic, Ratiocinative and Inductive (1843) stellen sich die Probleme nur wenig anders dar als bei Whewell. Mill beantwortete die für die Wissenschaften entscheidende 22 23 24
Whewell 1967, S. 5 f. Whewell 1967a, S. 17 f. Ebd., S. 25.
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Vom älteren Rechtspositivismus zum Neukantianismus
Frage, wie »Verallgemeinerung aus der Erfahrung« möglich sei, 25 so: Dem »Anscheine nach« sei zwar bei jeder Induktion die Bedingung erfüllt, »daß das, was man für beobachtet hält, auch wirklich beobachtet worden, daß es eine Beobachtung und nicht ein Schluß sei«. Dies sei aber nur scheinbar zutreffend. Denn was man für ein Ergebnis der Beobachtung halte, sei die Mischung aus zehn Prozent Beobachtung und neunzig Prozent Folgerungen 26: »Wir können nicht eine Tatsache beschreiben, ohne mehr als die Tatsache vorauszusetzen. Die Wahrnehmung ist nur die Wahrnehmung eines einzelnen Dinges; aber sie beschreiben, heißt einen Zusammenhang zwischen ihr und jedem anderen Dinge behaupten, dass irgend einer der gebrauchten Ausdrücke entweder bezeichnet oder mitbezeichnet.« 27 Es gibt keine wissenschaftliche Erkenntnis, die nicht zugleich auch »aus der Auslegung von Induktionen« entspringt. 28
Vom älteren Rechtspositivismus zum Neukantianismus Mit dem Neukantianismus war nach 1860 war das Ende der zeitweiligen positivistischen Illusion vollends eingeläutet. In ihm wurden Lösungen von Problemen der Epistemologie und Methodologie formuliert, in denen die Motive der Kritik am ›Mythos des Gegebenen‹, die methodologisch begründete Trennung von Naturwissenschaften und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften sowie von Tatsachen und Werten sowie die Begründung des Pluralismus der Weltverständnisse – unter Einschluss des Relativismus der Wahrheiten – wegweisend wurden. Alle diese Aspekte betrafen auch eine Wissenschaft, die mit dem Thema ›Natur‹ nichts zu tun zu haben schien: die Rechtswissenschaft. Doch noch einmal wurde im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Frage nach der ›Natur‹ der Naturwissenschaften so verhandelt, als böten diese ein methodologisches Modell für die Rechtswissenschaft. Titel wie ›Naturlehre des Rechts‹, ›Naturgesetze des Rechts‹ oder ›Naturwissenschaft des Rechts‹ hatten Konjunktur: »Naturgesetzlichkeit und Naturwissenschaftlichkeit kompensierten so die postnaturrechtliche Kontingenz des positiven 25 26 27 28
Mill 1968, Bd. 2, S. 358 f. Ebd., Bd. 4, S. 2. Ebd., S. 5. Ebd., Bd. 2, S. 331. Hervorh. v. mir.
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Rechts.« 29 Und doch wurde die Rechtswissenschaft nicht auf diesem Wege ›positivistisch‹. K. Larenz’ Charakterisierung des Rechtspositivismus als Auffassung, für die »das Vorbild der ›exakten‹ Naturwissenschaften als maßgebend« angenommen werden müsse, 30 trifft nicht einmal für den älteren Rechtspositivismus im 19. Jahrhundert zu, selbst wenn dessen Empirizitäts- und Wertfreiheitsideale den Anschein einer Analogie zu den Naturwissenschaften erwecken konnten. 31 H. Kelsen hat den Weg zum Positivismus in der Rechtswissenschaft so beschrieben: »Mit dem Sieg des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert setzt eine ausgesprochene Reaktion gegen Metaphysik und Naturrechtslehre ein. Hand in Hand mit dem Fortschritt der empirischen Naturwissenschaften, mit einer kritischen Auflösung der religiösen Ideologie vollzieht sich die Wendung der bürgerlichen Rechtswissenschaft von der Naturrechtstheorie zum Positivismus.« 32 Kelsen verwies kritisch darauf, dass dieser Wandel nicht vollständig war, sondern auch im Rechtspositivismus vor- bzw. überpositive Rechtsbegründungen wirksam geblieben waren: »Das Urteil, daß irgend etwas rechtlich normiert sei, ist niemals ganz frei von der Vorstellung, daß es so gut, so richtig, so gerecht sei. Und in diesem Sinne entbehrt die Begriffsbestimmung des Rechts als Norm und Sollen durch die positivistische Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts tatsächlich nicht eines gewissen ideologischen Elements.« 33 Unter dem Titel ›Rechtsphilosophie‹ schrieb Emil Lask 34 1905: »Hervorragende Juristen wie Merkel und Bergbohm fordern nicht nur eine ›Philosophie des positiven Rechts‹, sondern eine empiristische, eine ›positive‹ Philosophie des Rechts. Was sie mit ihr meinen, läuft auf eine ›allgemeine Rechtslehre‹ hinaus. ›Allgemein‹ ist aber diese Disziplin nur deshalb, weil sie das Recht nicht isoliert läßt, sondern es in die Zusammenhänge mit anderen Kulturfaktoren wie Sitte, Moral, Wirtschaft eingliedert, weil sie ferner als vergleichende Rechtswissenschaft das Gemeinsame aus den Rechtszuständen verschiedener Zeiten und Völker heraushebt und weil sie endlich nur
Kiesow 1997, S. 127. Larenz 1979, S. 40. 31 Zum Zusammenhang von Rechtspositivismus und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert vgl. Tripp 1983. 32 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 19. Hervorh. v. mir. 33 Ebd., S. 21. 34 Zu Lasks Rechtsphilosophie vgl. Mohr 2002. 29 30
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Der ältere Rechtspositivismus
die obersten Begriffe behandelt, die den spezielleren zugrunde liegen und über dem Gegensatz der einzelnen juristischen Disziplinen stehen. Rechtsphilosophie wäre danach lediglich eine ›Sammelstelle für die umherirrenden allgemeinen Rechtsbegriffe und Rechtslehren‹, ein durch Induktion und Abstraktion herausgearbeiteter allgemeiner oder allgemeinster Teil der ganzen Rechtswissenschaft.« 35 Für Lask stand fest: »Die Rechtswissenschaft ist ein Zweig der empirischen ›Kulturwissenschaften‹.« 36
Der ältere Rechtspositivismus Ein positivistischer Begriff des Rechts hat sich zunächst im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert im Rahmen des Utilitarismus und dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet. 37 Mit dem neueren, vor allem durch Hans Kelsens Reine Rechtslehre vertretenen Rechtspositivismus darf der ältere Rechtspositivismus nicht verwechselt werden, den J. Schröder so charakterisiert: »Recht ist nun nur noch die Willensäußerung eines Gesetzgebers oder auch einer nichtorganisierten Rechtsgemeinschaft. Damit wird der voluntaristische Rechtsbegriff des 17./18. Jahrhunderts wieder aufgegriffen, allerdings entfällt der frühere Dualismus von positivem Recht und Naturrecht. Entsprechend umgeformt werden die Begriffe von Gesetz und Gewohnheitsrecht. […] Da das Recht jetzt als willkürliches, zufälliges Produkt des Gesetzgebers erschien, war seine systematische Einheit nicht mehr gewährleistet. Lücken konnten also nicht mehr aus der inneren Vernunft des positiven Rechts (und schon seit langem nicht mehr aus dem Naturrecht) geschlossen werden, sondern nur noch durch den Rechtsanwender selbst. Neues Recht setzt nunmehr also auch der Richter, wenn auch immer nur im einzelnen Fall und ohne präjudizielle Bindung für andere.« 38
35 36 37 38
Lask 1982 [1905], S. 183 f. Ebd., S. 209. Vgl. hierzu Schröder 2008 und 2013. Schröder 2013, S. 40 f.
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Jeremy Bentham und John Austin »At the close of the eighteenth century and the beginning of the nineteenth the most earnest thinkers in England about legal and social problems and the architects of great reforms were the great Utilitarians. Two of them, Bentham and Austin, constantly insisted on the need to distinguish, firmly and with the maximum of clarity, law as it is from law as it ought to be. This theme haunts their work, and they condemned the natural-law thinkers precisely because they had blurred this apparently simple but vital distinction. […] They stood firmly but on their own utilitarian ground for all the principles of liberalism in law and government. No one has ever combined, with such even-minded sanity as the Utilitarians, the passion for reform with respect for law together with a due recognition of the need to control the abuse of power even when power is in the hands of reformers. One by one in Bentham’s works you can identify the elements of the Rechtstaat and all the principles for the defense of which the terminology of natural law has in our day been revived.« 39 Jeremy Bentham (1748–1832) hat mit Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1780), Of Laws in General (1782) und anderen Schriften den älteren Rechtspositivismus auf den Weg gebracht. 40 Seine utilitaristische Rechtstheorie bestreitet (i), »dass es eine notwendige Beziehung zwischen Recht und Moral gebe«; sie behauptet (ii), »eine vollständige Rechtstheorie könne sich auf die Verwendung normativ neutraler Ausdrücke beschränken« und (iii) das Recht sei »eine Frage von Befehl und Gehorsam: Gesetze seien nichts anderes als Befehle eines Souveräns an unbestimmt viele Adressaten«. Als Begründer des Rechtspositivismus gilt Bentham aufgrund der »Fusion der Imperativtheorie des Gesetzes mit der Trennung zwischen rechtlich-institutioneller Geltung und moralischer Normativität«. 41 Er gehöre »der Familie der normativen Positivisten an, deren Mitglieder aus normativen Gründen zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, unterscheiden – die die Unterscheidung zwischen Recht und Moral aus normativen Gründen ziehen,
39 40 41
Hart 1958, S. 594 f. Hervorh. v. mir. Vgl. z. B. Hardy 2012. Niesen 2014, S. 37.
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Jeremy Bentham und John Austin
und die sich aus normativen Gründen um eine empirisch-wertfreie Sprache in der Rechtstheorie bemühen.« 42 P. Niesen betont, dass »sich die scharfe Profilierung einer positivistischen Rechtslehre bei Bentham nicht der Abgrenzung von der Moral, sondern vielmehr […] anderen Faktoren verdankt: erstens der Abgrenzung von Common Law, zweitens der Abgrenzung vom Naturrecht, insbesondere von der Theorie natürlicher Rechte, sowie drittens dem Bestreben um eine weitgehend deskriptiv-soziologische, wissenschaftlich respektable Rechtslehre« 43. Bentham hielt das Common Law zwar für Recht, aber für schlechtes Recht, und vertrat die Auffassung, Rechte könne es »nur auf der Basis von Gesetzen geben, die ihnen Wirksamkeit verschaffen« 44: »Written law is the law for civilized nations: traditionary law, for barbarians: customary law, for brutes.« 45 Die Annahme natürlicher unantastbarer Rechte – wie der in Frankreich verkündeten Menschenrechte – sei »rhetorischer Unsinn, Unsinn auf Stelzen«. 46 Die Befehlstheorie des Rechts hat Bentham als Verfechter eines »Demokratische[n] Gesetzespositivismus« 47 im Rahmen einer Theorie der Volkssouveränität konzipiert: »Die Vollmachten der Legislative beruhen […] letztlich auf deren demokratischer Autorisierung: ›In einem freien Land mit einer Verfassung wie der französischen ist der Wille des Gesetzgebers der Wille des Volkes; die Stimme eines Gesetzgebers also zu jeder beliebigen Zeit die Stimme des Volkes für diese Zeit.‹ Worauf baut Bentham sein Vertrauen in die parlamentarische Gesetzgebung als einzig alternativer, zulässiger Rechtsquelle zu Gewohnheits- und Naturrecht? Es ist letztlich das epistemische Versprechen einer ordnungsgemäß ablaufenden deliberativ-demokratischen Gesetzgebung, das Bentham zum Gesetzespositivismus tendieren lässt.« 48 Dass Rechtsnormen als Befehle politischer Machthaber zu verstehen seien, war die These John Austins (1790–1859), der mit The Province of Jurisprudence Determined (1832) den älteren Rechtspositivismus weiterentwickelt hat: »Jede Norm oder Regel (im weitesten, 42 43 44 45 46 47 48
Ebd., S. 40. Ebd., S. 40 f. Ebd., S. 46. Bentham 1970, S. 153. Zit. n. Niesen 2014. Bentham 2013, S. 147. Zit. n. Niesen 2014. Niesen 2014, S. 51 ff. Ebd., S. 53.
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aber noch angemessenen Sinn des Wortes) ist ein Befehl. Oder besser: Normen oder Regeln sind, sofern sie diesen Namen verdienen, eine Besondere Art von Befehlen.« Der Begriff ›Befehl‹ bildet »einen Oberbegriff zu dem Begriff der Norm« und »den Schlüssel zum Verständnis des Rechts wie der Moral […]. Ein Befehl unterscheidet sich von anderen Arten von Wünschen nicht durch die Art und Weise seiner Äußerung. Für ihn sind vielmehr Macht und Entschlossenheit des Befehlenden charakteristisch, im Fall der Nichtbefolgung des Wunsches ein Übel oder einen Schmerz zuzufügen. […] Ein Befehl ist also der Ausdruck eines Wunsches.« 49 Ein Befehl »unterscheidet sich von anderen Ausdrucksweisen eines Wunsches« dadurch, dass er eine Verpflichtung begründet und die Nichtbefolgung Sanktionen nach sich zieht: »Derjenige, an den der Befehl sich richtet, ist von seiten des Befehlenden einem Übel ausgesetzt, sofern er dem Befehl nicht nachkommt. Daß ich einem Übel ausgesetzt bin, wenn ich einem Wunsch nicht Folge leiste, bedeutet, daß ich durch den betreffenden Befehl gebunden oder verpflichtet bin, daß ich einer Pflicht unterliege, dem Befehl zu gehorchen. Wenn ich trotz des drohenden Übels dem Wunsch nicht nachkomme, so kann man von mir sagen, daß ich dem Befehl nicht gehorche oder die durch ihn auferlegte Pflicht verletze. Deshalb sind Befehl und Pflicht wechselseitige Begriffe: Sie umfassen einander beziehungsweise setzen einander voraus. Oder anders ausgedrückt: Wo es eine Pflicht gibt, da wurde ein Befehl gegeben; und wo ein Befehl gegeben wird, da entsteht eine Pflicht.« 50 Das als Folge »der Verletzung einer Pflicht voraussichtlich zu erleidende Übel wird häufig als Sanktion oder als Erzwingungsmittel des Gehorsams bezeichnet. Oder, um es anders auszudrücken, der Befehl oder die Pflicht wird durch die Wahrscheinlichkeit des Übels sanktioniert oder erzwungen. […] Normen und andere Befehle gehen von Höhergestellten aus und verpflichten oder binden Untergebene.« Im Rechtssystem »bedeutet Höherstellung Macht: die Macht, anderen Übel oder Schmerzen zuzufügen und sie sich durch Furcht gefügig zu machen« 51. Für Austin waren die »Ziele oder Zwecke, wozu Rechtsordnungen existieren sollen, sowie das Maß, in dem ihre unterschiedlichen Ausgestaltungen diesen Zwecken dienen, […] in diesem Zusammen49 50 51
Austin 1987, S. 15. Ebd. Ebd., S. 15 f.
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Jeremy Bentham und John Austin
hang ohne Bedeutung. Die charakteristische Eigenschaft einer Rechtsnorm, die sie von anderen Normen unterscheidet, läßt sich folgendermaßen umschreiben: Jede Rechtsnorm, das heißt jede Norm im eigentlichen und engeren Sinne, wird von einer souveränen Person oder Körperschaft erlassen und richtet sich an eines oder mehrere Mitglieder jener unabhängigen politischen Gemeinschaft, in der die normsetzende Person oder Körperschaft souverän ist oder an der Spitze steht. Anders formuliert: Rechtsnormen werden von einem Monarchen oder einer souveränen Personengruppe gegenüber Individuen erlassen, die dem Monarchen beziehungsweise der Personengruppe untergeben sind. […] Diese Person oder Körperschaft leistet ihrerseits keiner bestimmten, höhergestellten Instanz gewohnheitsmäßig Gehorsam.« 52 Damit waren zwar Grundlagen für die Trennung von Recht und Moral gegeben, aber der spätere Rechtspositivismus z. B. Kelsens bestand darauf, dass sich auch der Gesetzgeber den von ihm aufgestellten Normen zu unterwerfen habe. H. L. A. Hart hat 1958 in seinem berühmt gewordenen, der Trennungsthese gewidmeten Aussatz ›Positivism and the Separation of Law and Morals‹ (i) bestritten, dass Bentham und Austin die Trennung von Recht und Moral so radikal behauptet hätten, wie ihnen dies von Rechtspositivismus-Kritikern unterstellt worden sei: »In view of later criticisms it is also important to distinguish several things that the Utilitarians did not mean by insisting on their separation of law and morals. They certainly accepted many of the things that might be called ›the intersection of law and morals.‹ First, they never denied that, as a matter of historical fact, the development of legal systems had been powerfully influenced by moral opinion, and, conversely, that moral standards had been profoundly influenced by law, so that the content of many legal rules mirrored moral rules or principles. It is not in fact always easy to trace this historical causal connection, but Bentham was certainly ready to admit its existence; so too Austin spoke of the ›frequent coincidence‹ of positive law and morality and attributed the confusion of what law is with what law ought to be to this very fact. Secondly, neither Bentham nor his followers denied that by explicit legal provisions moral principles might at different points be brought into a legal system and form part of its rules, or that courts might be legally bound to decide in accordance 52
Ebd., S. 18 f.
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with what they thought just or best. Bentham indeed recognized, as Austin did not, that even the supreme legislative power might be subjected to legal restraints by a constitution and would not have denied that moral principles […] might form the content of such legal constitutional restraints. Austin differed in thinking that restraints on the supreme legislative power could not have the force of law, but would remain merely political or moral checks; but of course he would have recognized that a statute, for example, might confer a delegated legislative power and restrict the area of its exercise by reference to moral principles. What both Bentham and Austin were anxious to assert were the following two simple things: first, in the absence of an expressed constitutional or legal provision, it could not follow from the mere fact that a rule violated standards of morality that it was not a rule of law; and, conversely, it could not follow from the mere fact that a rule was morally desirable that it was a rule of law.« 53 Hart hat (ii) zu Recht darauf bestanden, dass die drei dem frühen Rechtspositivismus zugeschriebenen Merkmale – die Trennungsthese, der analytische Zugang zu Rechtsnormen und die Imperativtheorie – keineswegs in ihrer Gesamtheit behauptet werden mussten bzw. behauptet wurden: »We must remember that the Utilitarians combined with their insistence on the separation of law and morals two other equally famous but distinct doctrines. One was the important truth that a purely analytical study of legal concepts, a study of the meaning of the distinctive vocabulary of the law, was as vital to our understanding of the nature of law as historical or sociological studies, though of course it could not supplant them. The other doctrine was the famous imperative theory of law – that law is essentially a command. These three doctrines constitute the utilitarian tradition in jurisprudence; yet they are distinct doctrines. It is possible to endorse the separation between law and morals and to value analytical inquiries into the meaning of legal concepts and yet think it wrong to conceive of law as essentially a command. One source of great confusion in the criticism of the separation of law and morals was the belief that the falsity of any one of these three doctrines in the utilitarian tradition showed the other two to be false; what was worse was the failure to see that there were three quite separate doctrines in this tradition. The indiscriminate use of the label ›positivism‹ to de53
Hart 1958, S. 598 f. Hervorh. v. mir.
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Karl Bergbohm
signate ambiguously each one of these three separate doctrines […] has perhaps confused the issue more than any other single factor.« 54
Karl Bergbohm Wie bei Austin 55 blieb auch in K. Bergbohms für den älteren Rechtspositivismus repräsentativem, 1892 erschienenen Buch Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen für das Naturrecht kein Platz: »Weil man sich der Täuschung hingiebt, als sei mit dem anrüchigen Namen auch die Sache um allen Einfluß unter den Fachgenossen gekommen, eben deshalb schreibe ich über und gegen das Naturrecht in dem Bewußtsein, hiermit eine Arbeit zu leisten, die früher oder später doch einmal geleistet werden mußte.« 56 Diese Arbeit war gegen »die entfesselte philosophische Spekulation« gerichtet, die »vornehmlich auf dem Gebiete des Rechts und des Staates die schwersten Niederlagen erlitten hat. Und zwar wurde da nicht irgendeine philosophische Richtung durch eine andere besiegt und verdrängt, sondern die ihrer aller und ihrer anmaßlichen Herrschaft Ebd., S. 601. Hervorh. v. mir. Bergbohm würdigt das Verdienst Austins, der zuerst »die allgemeine Rechtstheorie« ausgestaltet habe und »auf diese Weise der Begründer der […] ›Analytical School of Jurisprudence‹ und Vorläufer einer beträchtlichen Litteratur geworden ist, die sich durch große Bestimmtheit bei der Entwicklung und musterhafte Präzision bei der Formulierung der Dogmen auszeichnet« (Bergbohm 1892, S. 13). 56 Ebd., S. 9. Bergbohm räumt ein, »Theorie und Methode der Historischen Schule [hätten] eine gewaltige Umwälzung in der Jurisprudenz hervorgebracht. […] Die Präponderanz des Naturrechts wurde gebrochen, vernichtet ist es nicht worden. Dazu haben es bisher weder Spott und Hohn, noch partielle sachliche Kritik bringen können. Als von mehreren Seiten gleichzeitig ein heftiger Andrang erfolgte, schien es dem Untergang geweiht; bald wurde es todtgesagt. Der Traum des Naturrechts sei ausgeträumt, hieß es; der verhängnisvolle Zwiespalt in der Rechtswissenschaft sei endlich überwunden und niemand suche mehr, seitdem der Rationalismus auf dem Gebiete des Rechts endlich abgethan, nach einem Musterrecht. […] Ja es ist sogar behauptet worden, daß es heute in Deutschland, vielleicht in Europa keinen Juristen mehr gebe, der nicht nach historischer Methode arbeite oder von unhistorischer Forschung für seine Wissenschaft irgendetwas erwarte. Allein diese Leichenreden sind zu früh gehalten worden. Das Naturrecht hat nicht einmal die Namen, unter denen es einst in Blüte gestanden, aufgegeben, geschweige denn aufgehört, sei es pseudonym, sei es anonym sein verwirrendes. Wesen zu treiben. Die Idee eines Rechts außerhalb des positiven –und das ist doch wohl der allein in Betracht kommende Kern der ganzen Lehre – ist vielmehr trotz der Historischen Rechtsschule ununterbrochen gehegt worden« (ebd., S. 109 ff.). 54 55
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überdrüssige eigentliche Hausherrin selber, die nach langer Unterdrückung kräftig außtrebende positive Rechts- und Staatswissenschaft war es, die sie samt und sonders depossedierte und nunmehr von philosophischer Rechts- und Staatslehre überhaupt nichts mehr wissen wollte.« 57 Allerdings habe noch die historische Rechtsschule »entschieden zur Degradation der Rechtswissenschaft beigetragen und den andern Wissenschaften Anlaß gegeben, die heutige positive Jurisprudenz überhaupt nicht mehr für eine echte Wissenschaft, sondern für eine bloße Gesetzeskunde, nach Analogie von Pflanzenkunde im Vergleich zur Botanik u. dgl., anzusehen. Je enger die strengen Juristen ihrerseits das Weichbild der noch durch sie selbst zu bewältigenden Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Allgemeinen Rechtslehre oder wie man es sonst nennen möge, umgrenzten, mit um so mehr Aussicht konnten von jeher die pseudorechtsphilosophischen Gebilde verschiedener Art den vakanten Ehrenplatz in der Rechtswissenschaft für sich in Anspruch nehmen.« 58 Eine Konsequenz von Bergbohms Kritik am Naturrecht bestand in der Trennung der Rechtswissenschaft von ›Idealen‹, d. h. von Moral und Ethik: »Irgendwelche Nachsicht in Beziehung auf die Ansprüche strengster Wissenschaftlichkeit, irgendwelches Zugeständnis rücksichtlich der angeblichen Berechtigung von Idealen im Bereich irgendeines Zweiges ihrer Wissenschaft darf und wird die Jurisprudenz niemals mehr gewähren. Sie wird daher eine Rechtsphilosophie der Zukunft als ein existenzberechtigtes und lebensfähiges Glied einzig und allein in dem Sinne, in welchem ›Vollblutjuristen‹ dieselbe sich überhaupt vorzustellen vermögen, ihrem Organismus angliedern lassen, nämlich als eine Philosophie des positiven Rechts.« 59 Diese Rechtsphilosophie ist, »wie alle Jurisprudenz, eine dreifach gebundene Wissenschaft. Sie ist gebunden durch die gegebenen Objekte: die Institutionen des positiven Rechts; gebunden durch die einzige wissenschaftliche Methode: einerseits stufenweise Abstraktion und Generalisation aus festen Thatsachen empor zu den unmittelbaren Prämissen der Deduktion, andrerseits Verifizierung hypo-
Ebd., S. 5. Ebd., S. 23. 59 Ebd., S. 26 f. Vgl. ebd., S. 35. Als juristische Autoren, die zur ›Philosophie des positiven Rechts‹ beigetragen haben, würdigt Bergbohm u. a. Binding, v. Jhering, Merkel, Bierling, Laband, Jellinek, Bülow, Dahn und Winscheid (ebd., S. 28 f.). 57 58
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Karl Bergbohm
thetischer Sätze rückwärts durch die ganze Stufenfolge der Abstraktionen hinab bis auf rechtliche Thatsachen, gebunden endlich durch das Maß des Fortschrittes der anderen Geisteswissenschaften, namentlich der Psychologie, in welche viele rechtsphilosophische Probleme zuletzt auslaufen. Niemand vermag irgendetwas Gescheites, also auch nichts Philosophisches, über das positive Recht, das einzige, das Objekt eines Wissens sein kann, vorzubringen, der nicht eine entsprechend weite Zone positiver Rechtswissenschaft bis in eine genügende Tiefe beherrscht. […] Niemals endlich wird man ein juristisches Theorem, ein rechtsphilosophisches Dogma aufrechterhalten können, wenn nicht die darin steckenden Induktionen aus den Phänomenen des Rechtslebens auch Schluß für Schluß bei der Kontrolle durch feststehende Sätze der andern Wissenschaften bestätigt werden.« 60 Das Recht, das Bergbohm interessierte, war das »Recht im objektiven Sinne«; bezeichne man es »näher als das ›geltende‹ oder ›positive‹ Recht«, so sei »die häufige Wiederholung dieses Zusatzes angesichts der oftmals sehr nahen Möglichkeit eines Mißverständnisses nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten«. 61 Die vom Rechtspositivisten anvisierte Rechtswissenschaft sollte Wirklichkeits- und Tatsachenwissenschaft sein: »Um den Begriff dessen zu finden, was da ist, muß man von den Einzeldingen ausgehen, die da sind. Um also den Rechtsbegriff zu erfassen, darf man nur von dem Recht ausgehen, das wirklich ist. Auf empirielosem Wege wird man nimmer zum Begriff des Rechts gelangen.« Hieraus folgt, »was den Rechtsnormen eben diesen ihren Charakter gibt: nur was als Recht funktioniert, das ist Recht, sonst nichts; und alles das ist Recht, ohne Ausnahme«. 62 Statt von der ›Rechtsidee‹ oder der ›Rechtsvernunft‹ zu träumen, müsse man umkehren und sich »derjenigen Fraktion der Positivistenpartei an[vertrauen], die alles Recht seinen Ursprung ausschließlich im Staate und durch den Staat nehmen und das ›Gesetz‹ allein als echte Form des Rechts gelten läßt« 63: »Die poEbd., S. 32 f. Ebd., S. 48. 62 Ebd., S. 79 f. »[V]on allem, was sich Jurisprudenz, Rechtslehre, Rechtsphilosophie nennt und auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erhebt, ist jeder Gedanke daran, daß etwas Recht sein könnte ohne positives Recht zu sein und das Recht betreffen könnte ohne im wirklichen Recht Bestätigung zu finden, auf das entschiedenste fernzuhalten« (ebd., S. 118). 63 Ebd., S. 116. Hervorh. v. mir. 60 61
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sitivrechtlichen Normen haben eben diese ihre Eigenschaft durch einen geschichtlichen Vorgang erhalten, ohne den sie überhaupt nicht hätten geltendes Recht werden können. Sie sind entweder aus einem autoritativen Willen entsprungen oder durch Thaten, jedenfalls durch einen objektiv nachweisbaren Werdegang zu dem geworden, was sie sind. Wer ihrer habhaft werden will, kann dies nicht anders als durch Schlußfolgerung aus notorischen oder eigens erhärteten sinnenfälligen Thatsachen, welche den Inhalt des Rechtssatzes und den nächsten Grund seiner Verbindlichkeit zu offenbaren geeignet sind. Das Recht ist allerdings nichts sinnlich Wahrnehmbares, es ist ein Gedankending, aber doch immer ein aus den äußern Thatsachen eines Rechtsbildungsprozesses heraus zu denkendes.« 64 Die Annahme, »daß irgendeine positive Rechtsbestimmung, weil sie ganz zweifellos der Vernunft, der Moral u. s. w. nicht entspricht, auch der Rechtsverbindlichkeit ermangele«, weist Bergbohm zurück: »Wenn es zulässig sein soll, daß Einer das ihm verwerflich scheinende Recht an irgendeinem Punkte durch das seiner Idee entstammende bessere Recht ersetze, ist, da allen Andern eine ähnliche Auslese und Verbesserung offen steht, die ganze positive Rechtsordnung verloren. […] Ziehen wir aus dem allen das Facit. Das Recht, das wirklich als Recht funktioniert, ist in sich widerspruchs- und lückenlos und bildet die Grundlage aller Ordnung unter den Menschen; das angebliche Natur-, Vernunft- und jedes sonstige nichtpositive Recht ist gleichfalls in sich vollständig, bildet aber, sofern es bloße Annahme bleibt, die Quelle arger Gedankenverwirrung und zieht, sowie seine Rechtsnatur ernst genommen wird, die Auflösung der Rechtsordnung, die Anarchie nach sich.« 65 Das Kerntheorem dieses antimetaphysischen und zugleich gegen den ›Subjektivismus‹ 66 naturrechtlicher Ansprüche gerichteten Rechtspositivismus lautet: »Das Dasein alles Rechts besteht darin, daß es Wirkungen auszuüben vermag. Hierin wird das herrlichste ideale Recht von dem jämmerlichsten positiven übertroffen, genau so wie ein Krüppel mehr sieht, hört, leistet als die schönste Statue, Ebd., S. 132. Ebd., S. 405 ff. 66 »In dem Subjektivismus sitzt der unverwüstliche Erreger der ganzen Naturrechtslehre und eben darum öffnet diese sich immer nur solche ›Quellen‹, aus denen im gegebenen Falle stets die gewünschte Norm hergeleitet werden kann, weil ihr Vorhandensein in der ›Quelle‹ von Denkweise und Wunsch des Individuums abhängig ist« (ebd., S. 452). 64 65
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Karl Bergbohm
die blind, taub und unthätig ist. Recht sein heißt jedenfalls soviel wie verbindliche Regel des Lebens sein, ideal sein heißt unverbindlich sein: die Verschmelzung beider Begriffe zu dem einen des idealen Rechts im Sinne der Naturrechtsphilosophen ist unmöglich.« 67 Der Kerngedanke auch des in der deutschen Staatsrechtslehre im späten 19. Jahrhundert vor allem von Carl Friedrich Wilhelm von Gerber und Paul Laband geprägten ›etatistischen Rechtspositivismus‹ war, »das Naturrecht zu verdrängen, die Wissenschaft vom Recht durch wertneutrale Begriffe zu professionalisieren und dem Staat als Gesetzgeber eine uneingeschränkte Autorität zu verleihen« 68, und zwar so weitgehend, dass auch moralischen Anschauungen widersprechendes Recht als geltendes Recht anzusehen war. Für die Rechtswissenschaft galt für Gerber, »dass ihr Gegenstand nur das ›wahrnehmbare‹ Recht, d. h. die positiven Gesetze, sein kann und ihr Ziel nur deren logische und systematische Untersuchung und Ordnung. Wertende, wertbeziehende Betrachtungen, die Bildung und Zuordnung der Begriffe im Hinblick auf die vorgegebenen staatlichen Ordnungsprobleme, ihre Rückbeziehung auf staatstheoretische Erkenntnisse, all das ist ausgeschlossen.« 69 Auch bei Laband stand – wie in der gesamten Begriffsjurisprudenz – die logische Beherrschung des Rechts durch exakte Begriffsbildung im Zentrum des Interesses. Es ging »um pures geltendes Recht, zweckmäßig gegliedert und in einer konzisen, formschönen Sprache dargeboten«. 70 Allerdings war die »Dominanz des Rechtspositivismus dieser radikalen Prägung« nicht von langer Dauer: »Sie stand und fiel mit dem Kaiserreich, mit dem für stabil gehaltenen und dauerhaften Gesetzgeber in der konstitutionellen Monarchie. Doch als das wilhelminische Kaiserreich in die Krise geriet, war auch der Resonanzboden für die Kritiker vorbereitet. So konnten diese schon vor 1900 Boden gutmachen, nach dem Ersten Weltkrieg an Gewicht gewinnen und schließlich kritische Dialoge vorbereiten, in die Rudolf Smend, Hermann Heller und Carl Schmitt die prominentesten Rechtspositivisten wie Gerhard Anschütz und Hans Kelsen verstrickten«. 71 Ebd., S. 436. Hervorh. v. mir. Schmidt 2014b, S. 63. 69 Ebd., S. 69 f. 70 Stolleis 1992, S. 345. Zit. n. Schmidt 2014. 71 Schmidt 2014b, S. 63. »Recht sollte und konnte in dieser neuen Perspektive nur sein, was von den staatlichen Organen mit ihrem legislativen Monopol als Recht 67 68
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Gegen den älteren Gesetzes- und Rechtspositivismus – vor allem gegen die Begriffsjurisprudenz – haben sich im juristischen Methodenstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei – trotz Unterschieden – einander nahe Richtungen gewandt: die Interessenjurisprudenz und die Freirechtslehre.
Interessenjurisprudenz Den Begriff ›Interessenjurisprudenz‹ 72 hat Philipp von Heck in seinem 1905 zum Verhältnis von Gesetz und Richter veröffentlichten Aufsatz ›Interessenjurisprudenz und Gesetzestreue‹ mit der These eingeführt, »daß die Rechtssätze nicht hervorgehen aus Vorstellungen, die sich in dem Gemeinbewußtsein hinsichtlich der juristischen Struktur von Rechtsgebilden entwickelt haben, sondern daß sie hervorgehen aus der Entscheidung angeschauter Interessenkonflikte, entschieden nach dem Werte, den die Rechtsgemeinschaft den beteiligten Interessen beilegt«. 73 In Distanz zur Freirechtslehre, die sich für größere Auslegungsspielräume in der Rechtsprechung einsetzte, plädierte v. Heck hinsichtlich der ›Rechtslücken‹, die aufgrund des zeitlichen Abstands zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung unausweichlich seien, dafür, »daß der Richter auch bei der Ergänzung von Lücken an den mittelbaren Gesetzesinhalt, an diejenigen Werturteile gebunden sein muß, welche das gesetzte Recht enthält«. Es ging ihm darum, »die Gefahren des subjektiven Urteils« und »ungebundene[r] Rechtsschöpfung« abzuwehren, die die notwendige »Gleichbehandlung gleicher Fälle wie die Voraussehbarkeit des Richterspruchs gefährden« könnten. 74 Da sich aber alle Gesetze aufgrund der politischen und sozialen Bezüge des positiven Rechts als »notwendig unbestimmt und lückenhaft« erwiesen, 75 müsse das richterli-
gesetzt wurde. Es ist somit nicht verwunderlich, dass sich diese Entwicklung parallel zur Konzentration der staatlichen Gewalt in Form des Kaiserreiches vollzog und sich auch erst dann wirklich vollziehen konnte, als mit dem neuen Nationalstaat eine Instanz zur Verfügung stand, die zu einer territorial einheitlichen Rechtssetzung in der Lage war« (Schulz 2014, S. 137). 72 Vgl. hierzu Krawietz 1976. 73 Heck 1905, S. 1140 f. Die Zitate habe ich Krawietz 1976 entnommen. 74 Ebd., S. 1142. 75 Heck 1929, S. 473.
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Freirechtslehre
che Urteil »ergänzend eingreifen«: Der Gesetzgeber sei nicht in der Lage, »für alle unendlich mannigfachen und stets wechselnden Lebensaufgaben die jeweils richtige Lösung im voraus zu sehen und vorzuschreiben«. 76 Wesentlich für v. Hecks Konzeption war die Annahme, »daß der Gesetzgeber die menschlichen Interessen nach Werturteilen gegeneinander abgrenzen will und daß der Richter die Aufgabe hat, dieses Endziel durch seine Fallentscheidung zu verwirklichen«. 77 Von den Richtern sei »nicht ein blinder Gehorsam«, sondern »ein suchender, ein ›denkender Gehorsam‹« zu fordern 78: »Was unser Gesetz und unser Leben braucht, das ist ein Richter, der dem Gesetzgeber als denkender Gehilfe zur Seite tritt, der nicht nur die Worte und die Gebote beachtet, sondern in die Absichten des Gesetzgebers eindringt und die Werturteile des Gesetzes auch für die nicht geregelten Sachlagen auf Grund eigener Interessenprüfung verwirklicht«. 79
Freirechtslehre 1906 veröffentlichte Hermann Kantorowicz 80 gegen den Gesetzesund Rechtspositivismus sowie gegen die damit identifizierte Begriffsjurisprudenz und gegen die Unterstellung einer Lückenlosigkeit der Gesetze seine Programmschrift der Freirechtslehre Der Kampf um die Rechtswissenschaft. Den gesetzespositivistischen Richter porträtierte er so: »Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hilfe rein logischer Operationen und einer nur ihm verständlichen Geheimtechnik, die
Heck 1936, S. 141. Heck 1932, S. 106. 78 Ebd., S. 107. 79 Ebd., S. 4. 80 H. Kantorowicz (1877–1940) wurde 1926 als Nachfolger seines Freundes Gustav Radbruch an Kieler Rechtswissenschaftliche Fakultät berufen. Aufgrund des NS-Gesetzes ›zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ wurde er im September 1933 aus seinem Amt entlassen. Vgl. zu Kantorowicz Meyer-Pritzl 2007. 76 77
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vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.« 81 Doch Gesetzeslücken verlangten vom Richter, sich von der formaljuristischen Subsumtionslogik zu lösen, sich – zumindest auch – am ›freien‹, nicht staatlich erlassenen Recht zu orientieren – u. a. an Gewohnheitsrecht, Verkehrssitte, Natur der Sache, Gewissen, Billigkeit, Gerechtigkeit und Rechtsgefühl – und bei seiner Urteilsfindung auch psychologische, soziologische und ökonomische Aspekte zu berücksichtigen. Damit wandte er sich gegen den von der Begriffsjurisprudenz geforderten Formalismus im Recht: »Die formalistische Richtung in der Rechtswissenschaft geht aus von einem formulierten Rechtssatz, meist einem Gesetzestexte; sie fragt: ›wie muss ich diesen Text auslegen, damit ich dem Willen entspreche, der einstens diesen Text formuliert hat?‹ ; diesem Willen entnimmt sie dann – scheinbar rein logisch verfahrend – ein geschlossenes System von Begriffen und Sätzen, aus denen sich die Entscheidung jeder wirklichen oder erdenklichen Rechtsfrage mit Notwendigkeit ergeben soll.« Dem Formalismus setzte Kantorowicz die »finalistische Richtung« entgegen: Diese geht, »statt vom Buch, von dem ›Sinn‹ der Wirklichkeit aus, von den als wertvoll erachteten Zwecken und Bedürfnissen des sozialen, geistigen, sittlichen Lebens; sie fragt: ›wie muss ich das Recht handhaben und gestalten, um den Lebenszwecken zu genügen?‹ ; diesen Zwecken gemäß löst sie nun die unzähligen Zweifel des förmlichen Rechts, füllt sie seine unzähligen Lücken aus. Jene Richtung also sucht zu einer gegebenen Formel einen Sinn, diese zu einem ›aufgegebenen‹ Sinn die Formel.« 82 Die Freirechtslehre wollte jedoch »nicht die Entbindung des Richters vom Gesetz, sondern eine richterliche Rechtsfindung, deren juristische Entscheidungen – statt in Scheingründe der Logik und der Konstruktion gehüllt zu werden – die erfahrbaren Rechtstatsachen und die Verkehrsbedürfnisse mehr als bislang berücksichtigen. Aufgabe des Richters sollte es sein, eine ›billige, den Umständen des einzelnen Falles angepaßte Entscheidung zu finden‹.« 83
81 82 83
Kantorowicz 2002, S. 5. Die Zitate habe ich Meyer-Pritzl 2007 entnommen. Kantorowicz 1970 [1914], S. 1 f. Krawietz 1972, S. 1099.
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Hans Kelsens ›Reine Rechtslehre‹
Hans Kelsens ›Reine Rechtslehre‹ Neukantianische Ideen bildeten eine der wesentlichen philosophischen Grundlagen für Kelsens Projekt einer ›Reinen Rechtslehre‹ 84, deren Grundzüge er bereits in Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911, 21923) entwickelt hatte. Weder mit dem naturwissenschaftlichen Positivismus noch mit den Anleihen des gesellschaftstheoretischen Positivismus bei den Naturwissenschaften hat diese Rechtslehre etwas gemein. Vielmehr bot die Rechtslehre Kants in neukantianischer Interpretation Anknüpfungspunkte.
Mit Kant über Kant hinaus Die neukantianische Bewegung wollte ›mit Kant über Kant hinaus‹. Über Kant hinaus ging sie, indem sie sich von der idealistischen Metaphysik einer substanziellen Vernunft verabschiedete und Begriffe – wie Naturbegriffe, so auch Rechtsbegriffe – funktionstheoretisch verstand. Sie hat gezeigt, wie Kant für das moderne Recht an Bedeutung gewinnt, wenn man auf metaphysische Begründungen verzichtet. In Kants metaphysischer Perspektive war die ›Vernunftidee‹ des Rechts etwas, »was zu den Ideen gezählt werden muß, denen adäquat kein Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, dergleichen eine vollkommene rechtliche Verfassung unter Menschen ist, das ist das Ding an sich selbst«. 85 Der Verzicht auf diese metaphysische Konstruktion stärkt die Geltungsbegründung für das positive Recht. ›Mit Kant‹ konnte die neukantianisch motivierte Rechtstheorie z. B. Kelsens den Vorrang des allgemeinen Rechts vor der partikulären individuellen Moral begründen: Das Recht verlangt die Legalität des Handelns, nicht aber die Moralität der Handlungsabsichten 86 – in Kants Worten: »die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze ohne Rücksicht auf die Trieb-
Zum Folgenden habe ich überarbeitete Passagen übernommen aus Sandkühler 2013, S. 252–271. Zu Kelsens Stellung im Neukantianismus vgl. Holzhey 1986, Müller 1994, Hammer 1998, Alexy et al. 2002, Sandkühler 2002. 85 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 371. 86 Zu Recht betont J.-F. Kervégan: »Tatsächlich kann die Trennungsthese in einer kantischen Perspektive völlig akzeptiert und gerechtfertigt werden« (Kervégan 2010c, S. 250, meine Übers.). 84
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feder derselben«. 87 Beim »kategorische[n] Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei«, liegt dann aus Gründen der Formalität, Allgemeinheit und Universalisierbarkeit der Rechtsnormen der Akzent auf dem Gesetz: »[H]andle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!« 88, nicht aber auf dem gleichlautenden »oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre«. 89 Kant 90 erwartete das Erreichen des Ziels weltbürgerrechtlicher Verhältnisse »nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist«. 91 Der juridische Kosmopolitismus war für ihn keine aus spontaner Moralität quellende Denk- und Verhaltensweise, sondern das Ergebnis der Kultivierung des Menschen. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht heißt es, der Mensch müsse sich »im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, […] der Menschheit würdig […] machen«. 92 Wie Vorarbeiten Zum ewigen Frieden zeigen, verband Kant den Prozess der Kultivierung und Zivilisierung deshalb mit dem Recht, »weil kein allgemeines Princip da ist[,] was Macht hätte[,] ihre Bestrebungen einhellig zu machen (d. i. ohne den moralischen Gesetzen angemessen zu seyn)[,] und einer des anderen Absicht vernichtet[,] d. i. weil das Böse sich selbst immer im Wege ist. Also stimmt die Natur negativ zu dem [,] was das Rechtsgesetz vorschreibt[,] zusammen[,] d. i.[,] es zwingt zu einem Analogon der moralischen Gesetze[,] z. B. in Errichtung einer staatsbürgerlichen Gesellschaft, dem Völkerrecht.« 93 Im Handeln sollen die Freiheiten aller »nach einem allgemeinen Gesetze« koexistieren; die Forderung nach Grenzen der Freiheit besagt nicht, »daß ich […] meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist«. 94 87 88 89 90 91 92 93 94
Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 219. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Zu Kants Rechtstheorie vgl. Sandkühler 2013b. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 333. Ebd., S. 325. Kant, Nachlass, AA XXIII, S. 172. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA VI, S. 231.
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Mit Kant über Kant hinaus
Wären die Menschen von Natur aus gut und wären die Verhältnisse, in denen sie leben, Verhältnisse guten Lebens, dann wäre der mit dem Recht unmittelbar verbundene Zwang nicht notwendig. Der Zwang – so Kant – ist notwendig als »Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit«. Kurz: »mit dem Rechte [gibt es] zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen«. 95 Der Zustand öffentlicher Gerechtigkeit, auf den Kant abhob, ist öffentliches Recht, »ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio), bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden«. 96 Einen Schritt konnten die an Rechtsfunktionen interessierten Neukantianer nicht mit Kant machen: den des Apriorismus. Für Kant war es »nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig macht«, sondern dies liege »a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen«. 97 Der Staat, der durch Verrechtlichung Freiheit garantieren sollte, war für Kant »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori nothwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend, (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.« 98 Was neukantianisch motivierte Rechtstheoretiker – auch Rechtspositivisten wie Kelsen – mit Kant teilen konnten, war, dass der Staat als »ein repräsentatives System des Volks« gedacht war, das »nicht bloß den Souverän« repräsentiere, »sondern es ist dieser selbst; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste 95 96 97 98
Ebd., S. 232. Ebd., S. 311. Ebd., S. 312. Ebd., S. 313.
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Gewalt, von der alle Rechte der Einzelnen […] abgeleitet werden müssen«. 99 Kants Forderung lautete: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.« 100 Diese Verfassung entspricht dem »angebornen, zur Menschheit nothwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte« auf Freiheit und, aus ihm abgeleitet, auf Gleichheit, von dem Kant in Zum ewigen Frieden sprach: Die »äußere (rechtliche) Freiheit« ist die »Befugniß, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können«. Die »äußere (rechtliche) Gleichheit in einem Staate« ist »dasjenige Verhältnis der Staatsbürger, nach welchem Keiner den andern wozu rechtlich verbinden kann, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können«. 101
Kelsen: Sein, Sollen und Zurechnung Im neukantianischen Kontext wurde für Kelsen das Sein/Sollen-Problem 102 zentral: Natur ist ›Sein‹, sie kennt kein ›Sollen‹. Kelsen bezog sich auf Hermann Cohen: Ihm – vor allem dessen Ethik des reinen Willens (1904) – habe er »den entscheidenden erkenntnis-theoretischen Gesichtspunkt« für den richtigen Begriffsgebrauch von ›Recht‹ zu verdanken. 103 Cohen hatte erklärt: »[W]enngleich das Sollen freilich auch auf eine Art von Sein ausgehen muß, so ist dieses Sein doch von so grundverschiedener Art, daß vor Allem durch den Gegensatz zum Sein der Natur das neue Sein, das Sein des Sollens zur Formulierung kommen« muss. 104 ›Sein der Natur vs. Sollen‹ war bereits bei Cohen gleichbedeutend mit ›Kausalität vs. Normativität‹. Die Rechtswissenschaft hat es nicht mit Ursache-Wirkung-Beziehungen zu tun, sondern mit Bedingungen; Bedingungen kann man »nicht in solchen Funktionen [Kausalität] ausdrücken und berechnen, welche die Ethik für den Begriff des Wollens, welche die Rechtswissenschaft für den
Ebd., S. 341. Ebd., S. 349. 101 Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 353 Anmerkung. 102 Vgl. hierzu Schmidt 2014b, S. 104 ff. 103 Kelsen 1923, S. XVII. 104 Cohen 1981, S. 13. Vgl. S. 24: Cohen qualifizierte die Frage nach der »Art von Sein« des Sollens als methodische und wahrheitstheoretische Frage. 99
100
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Kelsen: Sein, Sollen und Zurechnung
Begriff der Handlung braucht. […] So wird die Bedingung zum eigentlichen Grundbegriffe des Rechts.« 105 Wenn die Idee der Kausalität aus der Rechtswissenschaft eliminiert wird, kommt einem alten Rechtsbegriff neue Bedeutung zu: dem der Zurechnung; diese kann »für den Verbrecher selbst, und in ihm für den sittlichen Menschen« nicht »von der Schuldfrage abgetrennt werden«. 106 Der »Akt des Zurechnens« rückt als ›zuschreibende Deutung‹ ins Zentrum des Interesses. Der Abschied von kausalen Erklärungen und das Zurechnungskonzept machen den Abstand der Rechtswissenschaft zur Naturwissenschaft aus. In seinen Hauptproblemen der Staatsrechtslehre nahm Kelsen zu »dem fundamentalen Gegensatze zwischen Sollen und Sein« – er ist »ein formal-logischer« 107 – so Stellung: »So wie im Urteil des Naturgesetzes wird auch im Rechtssatz an eine bestimmte Bedingung eine bestimmte Folge geknüpft; nur daß hier an die Stelle des Kausalnexus, der dort die Folge an die Bedingung bindet, ein anderes Verknüpfungsprinzip tritt. Das Soll drückt den Sinn aus, in dem der Rechtssatz den einen Tatbestand als Bedingung mit dem anderen als Rechtsfolge vereinigt.« 108 ›Naturgesetz‹ und ›Norm‹ werden nicht ontologisch unterschieden, sondern methodologisch entsprechend einer Perspektivenwahl: »Dieser Gegensatz […] beruht auf einer Verschiedenheit des Standpunktes, von welchem aus man die Objekte betrachtet.« 109 Hier ist der neukantianische ›Ton‹ bei Kelsen gut hör105 Ebd., S. 180 f. Es geht Cohen im strengen Sinne um das »Urteil der Bedingung«, und er kritisiert die »Verschrumpfung der Bedingung zum Umstand« als für die Rechtswissenschaft verhängnisvoll. 106 Ebd., S. 368. 107 Kelsen 1923, S. 8. In der 2. Aufl. der Reinen Rechtslehre heißt es lapidar: »Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben« (Kelsen 1992 [RR II 1960], S. 5). 108 Kelsen 1923, S. VI. In Sozialismus und Staat (1920) heißt es im Kontext der Logik und Urteilslehre: »Dieser prinzipielle Unterschied zwischen normativer, speziell ethisch-politischer, und kausalwissenschaftlicher, speziell naturwissenschaftlicher oder naturwissenschaftlich orientierter ›soziologischer‹ Theorie ist nur die Konsequenz des unüberbrückbaren Dualismus von Sollen und Sein, der unumstößlichen Einsicht, daß aus dem Sein nicht auf ein Sollen, aus dem Sollen nicht auf ein Sein geschlossen werden darf« (Kelsen 1965, S. 19 f.). Kelsen grenzt in der 2. Auflage der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923) die »reine Rechtslehre als Theorie des positiven Rechts« gegen die »Ansprüche einer sogenannten ›soziologischen‹ Betrachtung [ab], die sich des Rechts wie eines Stückes naturgegebener Wirklichkeit nach kausalwissenschaftlicher Methode bemächtigen will« (Kelsen 1923, S. V). 109 Dies entspricht dem Veto, das W. Windelband 1894 in seiner Straßburger Rekto-
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bar. Auch das Naturgesetz liegt »keineswegs in den Objekten, sondern ist lediglich eine gedankliche Formel zu deren einheitlicher Zusammenfassung«. 110 In seiner späteren Schrift Vergeltung und Kausalität (1941) nahm Kelsen aus den gleichen Motiven wie zuvor 1937 Ernst Cassirer, auf den er sich ausdrücklich bezieht, 111 den quantenmechanischen Indeterminismus 112 als Bestätigung seiner Zurückweisung des Kausalitätsprinzips. 113 Das Antecedens der Rechtsfolge ist eine Rechtsbedingung, nicht aber eine Ursache: »Die Beziehung der Strafe auf das Delikt […] hat keine kausale, [sie] hat eine normative Bedeutung.« In einer Variante: »Sagt das Naturgesetz: Wenn A ist, so muß B sein, so sagt das Rechtsgesetz: Wenn A ist, so soll B sein«. 114 In einem kausalen Erklärungsmodell müsste die Unrechtsfolge (Sanktion) mit Notwendigkeit vom Delikt verursacht werden. Zur Bezeichnung der Verknüpfung der Rechtsbedingungen mit der Rechtsfolge im Rechtssatz (in seiner Grundform: dem Gesetz) verwandte Kelsen in der Reinen Rechtslehre den Zurechnungs-Begriff: Er habe als »die der Kausalgesetzlichkeit der Natur korrespondierende spezifische Gesetzlichkeit des Rechts […] die Zurechnung erkannt«. 115 Im Unterschied zur Ethik wird allerdings nicht gefragt,
ratsrede ›Geschichte und Naturwissenschaft‹ gegen eine ontologische Klassifikation der Wissenschaften nach Gegenständen – ›Natur‹ oder ›Geist‹ – eingelegt hat. In Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft hat auch H. Rickert 1899 das Prinzip der Perspektivität betont: »Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle« (H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 6/71926, S. 81). 110 Kelsen 1923, S. 5 f. 111 Kelsen 1982, S. 316, bezieht sich auf Cassirers Die Begriffsform im mythischen Denken. 112 Zu einer veränderten Auffassung zum Indeterminismus vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 100. 113 Kelsen 1982, S. 260 f. Hier begründet Kelsen auch seine These, das Kausalprinzip entstamme historisch dem Vergeltungsprinzip; das Naturgesetz war »ursprünglich ein – den Willen Gottes ausdrückenes – Rechtsgesetz« (ebd., S. 273). In Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 88, ist dieses Theorem wieder aufgenommen. 114 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 22 f. Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 80; ebd., S. 93, heißt es präziser: »Das Prinzip der Kausalität besagt, daß, wenn A ist, so B ist (oder sein wird). Das Prinzip der Zurechnung besagt, daß, wenn A ist, B sein soll.« 115 Kelsen 1923, S. IX. Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 79. In der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre (1960) führt Kelsen eine Differenzierung zwischen ›Zurechnung‹ und ›Zuschreibung‹ ein; zur Begründung vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 154 Fn.
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Kelsen in Nähe zum Wiener Kreis?
»was das Subjekt getan oder unterlassen hat, sondern lediglich, was gesollt war und wer gesollt hat«. Die (›zentrale‹) Zurechnung erfolgt nicht zur Person, sondern »zu einem außerhalb der Welt tatsächlichen Geschehens gedachten normativen Konstruktionspunkte« 116, d. h. zur Rechtsnorm. In einer anderen Formulierung: Die Rechtsordnung enthält »in ihren Rechtssätzen jene Zurechnungsregeln, auf Grund deren gewisse menschliche Handlungen nicht den physisch Handelnden, sondern einem hinter ihnen gedachten gemeinsamen Punkte zugerechnet werden«. 117 Am Sein/Sollen-Problem und am Problem der Kausalität bzw. Zurechnung zeigt sich, warum positivistische Rechtstheoretiker in der Tradition des Neukantianismus für eine strikte methodologische Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft plädiert haben.
Kelsen in Nähe zum Wiener Kreis? In Kelsens Selbstverständnis war »[d]ie Reine Rechtslehre […] die Theorie des Rechtspositivismus«. 118 Wenn er sie in der 1. Aufl. als »Fortentwicklung von Ansätzen, die sich schon in der positivistischen Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts ankündigen« 119, bezeichnete, dann war damit aber keine methodologische Anleihe bei den Naturwissenschaften gemeint: »Indem das Recht, soweit es Gegenstand einer spezifischen Rechtswissenschaft ist, als Norm bestimmt wird, wird es gegen die Natur, und die Rechtswissenschaft gegen die Naturwissenschaft, abgegrenzt.« 120 Kelsen teilte mit dem älteren Rechtspositivismus lediglich die antimetaphysische Einstellung. In diesem Sinne hatte er in Die philosophischen Grundlagen der NaturrechtsKelsen 1923, S. 73 f. Ebd., S. 699. Vgl. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 85 f.: Die »mit dem Wort ›sollen‹ ausgedrückte Verknüpfung von Bedingung und Folge [wird] als ›Zurechnung‹ bezeichnet«; »die Unrechtsfolge wird dem Unrecht zugerechnet, sie wird aber nicht durch das Unrecht – als ihre Ursache – bewirkt«. 118 Kelsen 1985 (RR I 1934), S. 25. 119 Ebd. 120 Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 60. »Indem die reine Rechtslehre das Recht gegen die Natur abgrenzt, sucht sie die Schranke, die die Natur vom Geist trennt. Rechtswissenschaft ist Geistes-, nicht Naturwissenschaft. […] man wird nicht leugnen können, daß das Recht als Norm eine geistige und keine natürliche Realität ist« (Kelsen 1985 [RR I 1934], S. 12). 116 117
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5 · Elemente einer Vorgeschichte und Geschichte des Rechtspositivismus
lehre und des Rechtspositivismus (1928) den »juristischen Positivismus« als »Theorie des positiven Rechts« in die Nähe der »Erkenntnistheorie der wissenschaftlichen Weltanschauung« – d. h. des ›Wiener Kreises‹ – gerückt. 121 In der Tat gab es zwischen Otto Neuraths, Hans Hahns und Rudolf Carnaps Programm-Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, das 1929 anlässlich einer Tagung des Wiener Kreises in Prag vorgetragen worden war, und Kelsens Rechtstheorie Übereinstimmungen. 122 In diesem Manifest wurde beklagt, dass metaphysisches und theologisierendes Denken in Leben und Wissenschaft auf dem Vormarsch seien; dies werde aber konterkariert durch ›antimetaphysische Tatsachenforschung‹, mit der in allen Erfahrungswissenschaften der Geist ›wissenschaftlicher Weltauffassung‹ aufblühe. Als Quellen der ›logisch-empiristischen‹ Bewegung wurden die Aufklärung, der Empirismus, der Utilitarismus und der englische Liberalismus erwähnt. Im Sinne der Methodik der logischen Analyse sei strikt zwischen auf empirisch Gegebenes zurückführbaren Sätzen und metaphysischen Behauptungen zu unterscheiden, deren Existenz mit den Mitteln der Logik kritisierbar und mittels der Psychoanalyse oder der historisch-materialistischen Theorie des ›ideologischen Überbaus‹ erklärbar sei. Verworfen wurden der Apriorismus und die neukantianische Annahme, das Denken könne ohne Erfahrungsmaterial aus sich selber zu Erkenntnissen führen 123 oder zumindest von gegebenen Sachverhalten aus durch deduktives Schließen zu neuen Inhalten gelangen: »Etwas ist ›wirklich‹ dadurch, dass es eingeordnet wird dem Gesamtgebäude der Erfahrung.« 124 Für den logischen Empirismus gab es »keine Philosophie als Grund- oder Universalwissenschaft neben oder über den verschiedenen Gebieten der einen Erfahrungswissenschaft; es gibt keinen Weg zu inhaltlicher Erkenntnis neben dem der Erfahrung; es gibt kein Reich der Ideen, das über oder jenseits der Erfahrung stände.« 125 Mit diesem logisch-positivistischen Prinzip konnte sich Kelsen in Übereinstimmung sehen. Nicht zustimmen wollte er aber der AufKelsen 1928, S. 62 ff. Vgl. hierzu Jabloner/Stadler 2001. 123 1902 hatte H. Cohen in seiner Logik der reinen Erkenntnis geschrieben: »Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst.« 124 Neurath/Hahn/Carnap 1979, S. 90. 125 Ebd., S. 99. 121 122
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lösung der Unterscheidung von Tatsachen und Werten, wie sie aus Moritz Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre (21925) folgte. Aus Gründen der Verteidigung des empirischen Status von Wissenschaft hatte Schlick einen ontologischen Einheitsgrund favorisiert: »Es gibt nur eine Wirklichkeit, und alles, was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach.« 126 Interessiert an einer »einheitlichen, wahrhaft befriedigenden Weltanschauung«, ließ sich Schlick von der »Überzeugung« leiten, dass »alles Sein überhaupt insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu einem Monismus. Es gibt nur eine Art des Wirklichen – das heißt für uns: wir brauchen im Prinzip nur ein System von Begriffen zur Erkenntnis aller Dinge des Universums«. 127 Schlick folgerte hieraus 1930 in seinen Fragen der Ethik, dass auch Normen als Tatsachen zu verstehen seien. In der 2. Auflage seiner Reinen Rechtslehre (1960) setzte sich Kelsen deshalb im Kontext seiner Auffassung, eine »objektiv gültige Norm, die ein bestimmtes Verhalten als gesollt setzt«, konstituiere »einen positiven oder negativen Wert« 128, kritisch mit Schlick auseinander: »Werturteile, die aussagen, daß ein tatsächliches Verhalten einer als objektiv gültig angesehenen Norm entspricht und in diesem Sinne gut, das ist wertvoll, ist, oder einer solchen Norm widerspricht und in diesem Sinne böse (schlecht), das ist wertwidrig, ist, müssen von Wirklichkeitsurteilen unterschieden werden, die ohne Beziehung zu einer als objektiv gültig angesehenen Norm, und das heißt letzten Endes: ohne Beziehung zu einer vorausgesetzten Grundnorm aussagen, daß etwas ist und wie es ist.« 129 Schlick, »der Begründer der philosophischen Schule des logischen Positivismus«, behaupte in Fragen der Ethik, »daß eine Norm (er hat dabei speziell eine moralische Norm im Auge) ›durchaus nichts anderes ist als eine bloße Wiedergabe einer Tatsache der Wirklichkeit, sie gibt nämlich nur die Umstände an, unter denen eine Handlung oder eine Gesinnung oder ein Charakter tatsächlich als ›gut‹ bezeichnet, das heißt als sittlich gewertet werden.‹ […] Das Ur126 127 128 129
Schlick 1979, S. 275. Ebd., S. 364. Kelsen 1992 (RR II 1960), S. 17. Ebd.
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teil, das aussagt, daß ein Verhalten einer Norm entspricht, sei daher ein Tatsachen-Urteil.« Kelsen hielt dies für falsch: »Das ist darum unrichtig, weil der Sinn der sittlichen Bewertung, das ist des Urteils, daß ein Verhalten gut ist, nicht die Behauptung einer Tatsache der Wirklichkeit, das heißt eines Seins, sondern eines Sollens ist. Wenn die Norm die Umstände angibt, unter denen ein Verhalten gut ist, so bestimmt sie nicht, wie ein Verhalten tatsächlich ist, sondern wie es sein soll. Die Norm ist nicht ein Begriff oder, wie Schlick auch sagt, eine Definition. Der Begriff von etwas sagt aus, daß, wenn etwas die in der Definition des Begriffes bestimmten Qualitäten hat, es unter diesen Begriff fällt, das heißt dasjenige ist, was der Begriff bezeichnet; und wenn es diese Qualitäten nicht hat, es nicht unter diesen Begriff fällt, das heißt nicht ist, was der Begriff bezeichnet. Dar Begriff sagt nicht aus, daß etwas die in der Definition bestimmten Qualitäten haben soll.« 130 Im Kapitel ›Recht und Moral‹ der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre ging Kelsen noch einmal auf Schlick ein: »Da Schlick die Norm nur als ›Wiedergabe einer Tatsache der Wirklichkeit‹ mißdeutet […], behauptet er […], daß die Ethik eine Tatsachenwissenschaft sei und daß, selbst wenn sie ›eine Normwissenschaft wäre‹, sie nicht aufhörte, ›eine Wissenschaft von Tatsachen zu sein. Sie hat es durchaus mit Wirklichem zu tun‹. […] Es ist richtig, daß ›Wertungen‹, das sind die Akte, mit denen ein Verhalten als einer Norm entsprechend oder widersprechend beurteilt wird, ebenso wie die Akte, mit denen Werte konstituierende Normen gesetzt werden, Seins-Tatsachen sind. Aber die Normen, die durch diese Akte gesetzt sind und in den Wertungsakten angewendet werden, sind keine Seinstatsachen, sondern Sinngehalte, und zwar der Sinn der die Normen setzenden Akte. Dieser Sinn ist ein Sollen. […] Der Versuch des logischen Positivismus, die Ethik als empirische Tatsachenwissenschaft darzustellen, resultiert offenbar aus der durchaus legitimen Tendenz, sie aus dem Bereich metaphysischer Spekulation auszuschalten. Dieser Tendenz ist aber Genüge geleistet, wenn die Normen, die den Gegenstand der Ethik bilden, als Sinngehalte empirischer, von Menschen in der Welt der Wirklichkeit gesetzter Tatsachen und nicht als Befehle transzendenter Wesenheiten erkannt werden. Sind die Normen der Moral so wie die Normen des positiven Rechts der Sinn empirischer Tatsachen,
130
Ebd., Fn.
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kann die Ethik ebenso wie die Rechtswissenschaft als empirische Wissenschaft – im Gegensatz zu metaphysischer Spekulation – bezeichnet werden, auch wenn sie nicht Tatsachen, sondern Normen zum Gegenstand hat.« 131 Die von Kelsen behauptete Übereinstimmung mit der ›Erkenntnistheorie der wissenschaftlichen Weltanschauung‹ ist aus einem zweiten Grund mit Vorsicht zu sehen: Mit der von R. Carnap radikalisierten physikalistischen Konzeption der ›Einheitswissenschaft‹ konnte sich die Rechtstheorie nicht solidarisieren. 1930/31 hatte Carnap im ersten Band der Zeitschrift Erkenntnis nicht nur erklärt, die ›neue Logik‹, mit deren Methode sich jeder »Satz der Wissenschaft« als »sinnvoll bewähren kann«, führe »zur ›Ausschaltung der Metaphysik‹«; sie fordere darüber hinaus auch im Sinne des »Behaviourismus« oder »methodischen Materialismus« (›Methode der Begriffsableitung‹) die Aufstellung eines »Stammbaums der Begriffe (Konstitutionssystem)«, von dem aus »jeder Satz der Wissenschaft sich rückübersetzen läßt in einen Satz über das Gegebene« (›methodischer Positivismus‹); und deshalb könnten die psychologischen und die sozialwissenschaftlichen Begriffe auf »die physischen, d. h. die Begriffe, die sich auf raum-zeitliche Vorgänge beziehen«, rückübersetzt werden. 132 In Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft vertrat Carnap 1931 erneut die Auffassung, »daß die Wissenschaft eine Einheit bildet: alle Sätze sind in einer Sprache ausdrückbar, alle Sachverhalte sind von einer Art, nach einer Methode erkennbar«. 133 Die empirisch gewonnenen Protokollsätze seien in der Sprache der Physik zu schreiben, die, um »Sprache der Gesamtwissenschaft sein zu können«, nicht nur »eine intersubjektive, sondern auch eine universale Sprache sein« müsse. 134 Ihre Universalität für alle Wissenschaftsgebiete sei denkbar und möglich, »denn alle Gebiete sind Teile der Einheitswissenschaft, der Physik«. 135 Diese dem Neukantianismus diametral entgegengesetzte These war mit Kelsens Rechtspositivismus nicht kompatibel.
131 132 133 134 135
Ebd., S. 60 f., Fn. Carnap 1930/31, S. 24 f. Carnap 1931, S. 432. Ebd. S. 448. Ebd. S. 465.
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Herbert Lionel Adolphus Harts Konzeption des Rechts H. L. A. Harts 1961 erschienenes Buch The Concept of Law kann als die derzeit repräsentative und einflussreichste Version des neueren Rechtspositivismus gelten. Der Zweck seines Buches sei, »das Verständnis von Recht, Zwang und Moralität als zwar verschiedenen, aber miteinander verbundenen sozialen Phänomenen zu fördern«. 136 Harts soziologisch interessierte Rechtstheorie 137 belegt, wie unsinnig es ist, ›dem‹ Rechtspositivismus vorzuwerfen, er bestreite pauschal einen Zusammenhang von Recht und Moral. Es geht – wie Hart immer wieder betont hat – gar nicht darum, den faktischen Einfluss der Moral auf das Recht zu leugnen: »Das Recht jedes modernen Staates zeigt tausendfaltig den Einfluß, den sowohl die akzeptierte Sozialmoral als auch die moralischen Ideale haben. Diese Einflüsse brechen entweder abrupt und ausdrücklich durch die Vermittlung der Legislative oder stillschweigend und in kleinen Stücken durch die Rechtsfindung in das Recht ein. In manchen Systemen […] enthalten die letzten Kriterien der Rechtsgültigkeit ausgesprochenerweise Prinzipien der Gerechtigkeit oder substantielle moralische Werte; in anderen Systemen […], wo es keine formalen Beschränkungen der Kompetenz der obersten Legislative gibt, entspricht die Gesetzgebung nicht weniger skrupulös der Gerechtigkeit oder Moral. Alle anderen Weisen, in denen das Recht die Moral widerspiegelt, sind Legion und noch lange nicht genügend untersucht: Positive Gesetze können bloß eine rechtliche Hohlform sein, deren Begriffe ausdrücklich verlangen, mit Hilfe moralischer Prinzipien ausgefüllt zu werden; der ganze 136 Hart 2011, S. 9. In seinem ›Postscriptum‹ aus dem Jahre 1994 schreibt Hart: »Die Zielsetzung dieses Buches war es, eine sowohl allgemeingültige wie auch deskriptive Theorie dessen zu liefern, was das Recht ist. Die Theorie ist allgemeingültig in dem Sinne, als sie nicht an ein einzelnes Rechtssystem oder eine Rechtskultur gebunden ist, sondern vielmehr versucht, eine erläuternde und klärende Darstellung des Rechts als komplexer sozialer und politischer Institution mit einem regelgeleiteten (und in diesem Sinne ›normativen‹) Aspekt zu geben. […] Meine Darstellung ist deskriptiv in dem Sinne, daß sie ethisch neutral ist und keine Rechtfertigungsabsichten besitzt: Sie versucht nicht, auf ethischen oder anderen Grundlagen die Formen und Strukturen meiner allgemeingültigen Rechtsdarstellung zu rechtfertigen oder zu kommentieren, obwohl ein deutliches Verständnis dieser Formen und Strukturen, wie ich glaube, die entscheidende Voraussetzung für eine brauchbare moralische Kritik des Rechts ist« (ebd., S. 317). 137 »Abgesehen von seiner analytischen Aufgabe kann dieses Buch aber auch als ein Versuch in deskriptiver Soziologie angesehen werden« (ebd.).
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Spielraum der an sich einklagbaren Verträge kann durch Bezug auf Begriffe der Moral und der Fairneß eingeengt werden; die Verantwortlichkeit für ziviles und kriminelles Unrecht mag den herrschenden Ansichten über moralische Vorwerfbarkeit angepaßt werden.« 138 Hart stellt deshalb fest: »Kein ›Positivist‹ könnte leugnen, daß dies Tatsachen sind oder daß die Stabilität der Rechtssysteme zum Teil auf solchen typischen Übereinstimmungen mit der Moral beruht. Wenn dies das ist, was als notwendige Verbindung von Recht und Moral gemeint ist, sollte man deren Existenz anerkennen.« 139 Noch einmal: Man könne, so Hart, »ernsthaft nicht bestreiten, daß die Entwicklung des Rechts, zu allen Zeiten und in allen Gegen-
Ebd., S. 240. Ebd. »Die Behauptung, daß es zwischen Recht und Moral eine notwendige Verbindung gibt, hat viele wichtige Varianten, die sich nicht alle durch Klarheit auszeichnen. Es gibt viele mögliche Interpretationen der Schlüsselbegriffe ›notwendig‹ und ›Moral‹, die sowohl von den Befürwortern als auch von den Kritikern nicht immer sorgfältig unterschieden wurden. Die klarste Interpretation (vielleicht deshalb, weil sie der extremste Ausdruck dieses Standpunktes ist) ist diejenige, die sich mit der thomistischen Tradition des Naturrechts verbindet. Sie enthält eine zweifache Behauptung: 1. daß es gewisse Prinzipien der wahren Moral oder Gerechtigkeit gibt, welche durch die menschliche Vernunft ohne Hilfe der Offenbarung gefunden werden können, obwohl diese Prinzipien göttlichen Ursprungs sind; 2. daß die von Menschen gemachten Gesetze, welche diesen Prinzipien widersprechen, nicht gültig sind. ›Lex injusta non est lex.‹ Andere Varianten dieses allgemeinen Standpunktes betrachten den Status der Prinzipien der Moral und auch die Konsequenzen aus dem Konflikt zwischen Gesetz und Moral auf andere Weise. Einige davon begreifen Moral nicht als unwandelbares Verhaltensprinzip oder als etwas, das der Vernunft zugänglich ist, sondern als Ausdruck einer menschlichen Verhaltenseinstellung, die von Gesellschaft zu Gesellschaft oder von Individuum zu Individuum variiert. Theorien dieser Art behaupten gewöhnlich, daß selbst ein Konflikt des Rechts mit den fundamentalsten Voraussetzungen der Moral nicht genügt, um einer Regel ihren Rechtsstatus zu nehmen; sie interpretieren die ›notwendige‹ Verbindung von Recht und Moral gerade umgekehrt. Sie fordern für die Existenz eines Rechtssystems, daß es eine weitverbreitete, wenn auch nicht notwendig universale Anerkennung einer moralischen Verpflichtung gibt, das Recht zu achten, obwohl diese Verpflichtung in besonderen Fällen durch eine stärkere moralische Verpflichtung, einzelnen moralisch verwerflichen Gesetzen nicht zu gehorchen, aufgehoben werden kann« (ebd., S. 184 f.). Im ›Postscriptum‹ von 1994 betont Hart, »daß, obwohl es viele verschiedene kontingente Verbindungen zwischen Recht und Moral gibt, es keine unbedingte bzw. notwendige begriffliche Verbindungen zwischen dem Inhalt von Recht und Moral gibt und daß daher moralisch schändliche Vorschriften als Rechtsregeln oder Rechtsprinzipien gültig sein können. Ein Aspekt dieser Art der Trennung von Recht und Moral ist, daß es Berechtigungen und Verpflichtungen geben kann, die keinerlei moralische Rechtfertigung oder Kraft haben« (ebd., S. 351). 138 139
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den, sowohl von der konventionellen Moral und den Idealen einer bestimmten sozialen Gruppe als auch durch Formen aufgeklärter moralischer Kritik, die einzelne Individuen vorbrachten, deren sittlicher Horizont die allgemein anerkannte Moralität transzendierte, tief beeinflußt wurde.« Hieraus könne man aber nicht ableiten, dass »ein Rechtssystem eine besondere Konformität mit der Moral oder Gerechtigkeit aufweisen muß oder daß es zumindest auf einer weit verbreiteten Überzeugung beruhen muß, daß es eine moralische Verpflichtung gibt, der es zu gehorchen hat. Obwohl nun wiederum dieser Satz, im gewissen Sinne, wahr sein kann, folgt nicht daraus, daß die Kriterien der Rechtsgültigkeit eines bestimmten Gesetzes, das von einem Rechtssystem verwendet wird, stillschweigend, wenn nicht explizit, einen Bezug zu Moral oder Gerechtigkeit enthalten müssen.« 140 Hart geht es deshalb darum, »zwischen den Regeln des Rechts und den Regeln der Moral zu unterscheiden und beider Voraussetzungen zu differenzieren. Diese Unterschiede sind mindestens ebenso wichtig wie die auch vorhandenen Ähnlichkeiten.« 141 In Auseinandersetzung mit Rechtspositivismen von Austin bis Kelsen hat Hart seine Theorie primärer und sekundärer Regeln entwickelt. Er kritisierte, »daß die Elemente, aus denen die Theorie konstruiert wurde, d. h. die Vorstellungen von Befehlen, Gehorsam, Gewohnheiten und Drohungen, allein nicht – und auch nicht durch ihre Kombination – die Idee einer Regel erbringen können, ohne die es hoffnungslos ist, selbst die elementarsten Formen des Rechts zu erhellen«. Es ging ihm um den »Begriff einer Regel, die definiert, wie Gesetze zu geben seien. Denn nur in Übereinstimmung mit einer solchen Regel haben Gesetzgeber überhaupt eine offizielle Eigenschaft und sind eine besondere Persönlichkeit im Gegensatz zu ihnen selbst als privaten Individuen.« Er forderte, »zwei verschiedene, wenngleich miteinander verbundene Regeltypen zu unterscheiden, wenn wir der Kompliziertheit eines jeden Rechtssystems gerecht werden wollen. Durch die Regeln des einen Typs, den wir durchaus als den grundlegenden oder den primären Typ betrachten können, werden menschliche Wesen dazu angehalten, gewisse Handlungen zu tun oder zu unterlassen, ob sie dies wünschen oder nicht. Die Regeln des anderen Typs sind in einem Sinn parasitär oder sekundär gegenüber 140 141
Ebd., S. 218. Ebd., S. 19.
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denen des ersten: Denn sie bestimmen, daß menschliche Wesen, indem sie gewisse Dinge tun oder sagen, neue Regeln des ersten Typs einführen, alte aufheben oder modifizieren und auf verschiedene Arten deren Vorkommen bestimmen bzw. deren Wirkung kontrollieren. Die Regeln des ersten Typs auferlegen Pflichten; die Regeln des zweiten Typs übertragen öffentliche oder private Befugnisse. Die Regeln des ersten Typs betreffen Handlungen als physische Bewegungen oder Veränderungen; die Regeln des zweiten Typs bieten die Voraussetzungen für Tätigkeiten, die nicht nur zu physischen Bewegungen und Veränderungen führen, sondern ebenfalls Pflichten und Verpflichtungen schaffen oder variieren.« 142 An anderer Stelle erläuterte Hart im Kontext seiner Kritik an der »einfachen Imperativ-Theorie«: »Um die wichtigsten Grundzüge des Rechts als eines Mittels zur sozialen Kontrolle erklären zu können, hielten wir es für notwendig, Elementarbegriffe einzuführen, die nicht aus den Vorstellungen von Ordnung, Drohung, Gehorsam, Gewohnheit und Allgemeinheit entnommen werden können. Zuviel von dem, was wirklich für das Recht charakteristisch ist, erscheint in falscher Perspektive, wenn man es nur mit diesen einfachen Ausdrücken erklären will. Daher hielten wir es für notwendig, zwischen der Vorstellung einer allgemeinen Gewohnheit und der einer sozialen Regel zu unterscheiden sowie den internen Aspekt der Regeln zu betonen, welcher sich in deren Verwendung als eines leitenden und kritischen Verhaltensstandards manifestiert. Dann unterschieden wir zwischen primären Verpflichtungsregeln und sekundären Erkenntnis-, Änderungs- und Entscheidungsregeln.« Das Hauptthema von The Concept of Law sei, »daß die meisten entscheidenden Rechtshandlungen und die meisten Vorstellungen, die das Gerüst der Jurisprudenz bilden, nur mit Bezug auf einen dieser Regeltypen oder auf beide erklärt werden können, daß ihre Verbindung füglich als das ›Wesen‹ des Rechts betrachtet werden kann, obwohl nicht immer alle zusammen vorkommen, wo das Wort ›Recht‹ korrekt gebraucht wird. Daß wir der Einheit von primären und sekundären Regeln diesen zentralen Platz zuweisen, rechtfertigen wir nicht damit, daß sie lexikalisch zusammengehören, sondern damit, daß wir mit ihnen viel erklären können.« 143
142 143
Ebd., S. 100 f. Ebd., S. 183.
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Kapitel 6 Der Rechtspositivismus als Sündenbock
Die Denunziation des Rechtspositivismus im Nationalsozialismus fand und findet ihr Nachspiel in Vorurteilen, Legenden und ideologischen Polemiken – vor allem in katholisch-kirchlichen und politischen Äußerungen, aber auch in der Rechtswissenschaft. Drei Beispiele zur Illustration: (i) Nicht im Horizont einer Religion der Nächstenliebe, sondern politischer Ideologie im Kampf um Interpretationshoheit und Macht haben sich militante Katholiken gegen den Rechtspositivismus gewandt. Die erschütternden Belege waren und sind Legion. In einem von der Katholischen Schriftenmission 1947 in Linz veröffentlichten Text denunzierte F. Kindler den Rechtspositivismus als den ›ersten Kriegsverbrecher‹. 1 Noch 1998 ließ sich der belgische katholische Priester Mgr. Michel Schooyans, Professor an der Université catholique de Louvain, im Vorwort zu seinem gegen die Möglichkeit der Abtreibung gerichteten Buch Ethik, Leben, Bevölkerung zu folgender Infamie hinreißen: »Wo der Positivismus herrscht, ist das Recht kein Bollwerk gegen die Tyrannei mehr, sondern wird zur Waffe, mit der sich jeder beliebige Machtmißbrauch ›rechtfertigen‹ läßt. Es ist nicht ohne Pikanterie, daß Hans Kelsen, Vater des Rechtspositivismus, dem von ihm ideologisch konstruierten System schließlich selbst zum Opfer fiel. Als Jude mußte er eiligst aus dem Dritten Reich fliehen, um der Vernichtung zu entgehen, die er selbst theoretisch zu ›legitimieren‹ geholfen hatte, indem er die formaljuristischen Grundlagen legte, die das Recht in den Dienst des Willens des Stärkeren stellten. Schlimmer noch: Seiner eigenen Theorie zufolge konnte man sich gegen den Mutwillen der sich Bahn brechenden Totalitarismen fortan nicht mehr auf das Recht berufen, geschweige denn auf die Menschenrechte. […] Dieser Positivismus hat weitreichende politische Rückwirkungen. Er untergräbt die Tradition der westlichen Zivilisa1
Kindler 1947.
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tion, die auf der Geltung der Grundrechte des Menschen für alle menschlichen Wesen beruht.« 2 (ii) Als Rainer Robra, Staatsminister und Chef der Staatskanzlei in Sachsen-Anhalt, 2010 im Landgericht Stendal die Wanderausstellung ›Anwalt ohne Recht‹ eröffnete, rechnete er Roland Freisler, Hans Frank, Franz Schlegelberger 3 und Carl Schmitt zu den ›Rechtspositivisten‹ : »All diese furchtbaren Juristen einte das Bekenntnis zum Rechtspositivismus, aber nicht nur diese. Hatte nicht auch Hans Kelsen, österreichischer Jude und einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, in seiner ›Reinen Rechtslehre‹ postuliert: ›Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein‹, sofern die Norm nur gesetzmäßig zustande gekommen sei. Die Gefährlichkeit dieser These hat Kelsen selbst später schicksalhaft erlebt. Er war wie viele andere Gelehrte zur Emigration gezwungen […]. Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen sich viele Juristen, aber bei weitem nicht nur sie, abermals auf die Position des Rechtspositivismus zurück. Sie hätten sich lediglich im Rahmen des damals geltenden Rechts bewegt oder vielmehr danach handeln müssen.« 4 (iii) Rudolf van Hüllen, von 1987 bis 2006 Referent und Referatsleiter in den Abteilungen Linksextremismus und Linksterrorismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz, erklärt, die Richter am BVerfG hätten sich mit dem KPD-Verbotsurteil »ein beachtliches Stück vom Rechtspositivismus emanzipiert, jener deutschen Rechtstradition, die besagt, das Unrecht nur sein kann, was formal unter den abstrakt-generellen Tatbestand einer geschriebenen Verbotsnorm subsumierbar ist. Rechtspositivismus schafft zwar Rechtsklarheit, oft aber unter Verlust dessen, was man altmodisch Jurisprudenz nennt. Im Staatsschutzrecht bedeutet dies z. B.: Eine terroristischen Aktionsformen gegenüber aufgeschlossene extremistische Organisation, die zentnerweise Semtex und Gelamon bunkert, kommt heute davon, wenn ihr nicht die konkrete Planung zu bestimmbaren und zeitnah bevorstehenden terroristischen Anschlägen nachgewiesen wird. Ordentliche Rechtspositivisten, Paragraphenreiter und Scholastiker – sie siedeln besonders gern in den Senaten von Verwaltungs-
Schooyans 1998, S. 1. Hervorh. v. mir. Vgl. Aden 2012. 4 http://www.stk.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung/ StK/STK/Reden_CdS_2009_und_2010/Wanderausstellung_Landgericht_brf.pdf. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 2 3
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gerichten – werden stets auf Harmlosigkeit erkennen, wenn die Organisation förmlich erklärt, sie habe das Zeugs mit botanischen Hilfsmitteln verwechselt und eigentlich nur den Rasen ihrer Parteizentrale sprengen wollen.« 5 Solche Beispiele lassen sich in Vielzahl belegen. Da wird auf ein Urteil des Landgerichts Köln verwiesen, »das erstmals die Strafrechtswidrigkeit der religiös motivierten Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen männlichen Kleinkindes bejaht hat«, und mit dem Nachsatz kommentiert: »Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen.« 6 Das Mittelstandslexikon bietet die ›Information‹ : »Verhängnisvoller Irrweg deutscher Rechtskultur war der Kelsen-Rechtspositivismus – dramatisch-teuflisch demonstriert in den Nürnberger Rassengesetzen und Carl Schmitts Diktum ›Der Führer spricht Recht‹. In Gesetz- und Amtsblättern veröffentlichter Rassenwahn und tödliche Schikane, war ›gesetzliches Unrecht‹ abgesegnet und exekutiert von einer großen Mehrheit damaliger deutscher Juristen und Beamten. An solcher legal-bürokratischer Wahnsinnstaten ist der deutsche Obrigkeitsstaat in seinem antiwestlichen antiparlamentarischem Sonderweg buchstäblich verfault, ad absurdum geführt.« 7
Katholische Kritik am Rechtspositivismus Besonders hartnäckig halten sich Vorurteile und Legenden über ›den‹ Rechtspositivismus in Kreisen der katholischen Kirche. »Die programmatische Leitidee im deutschen Katholizismus nach 1945 hieß ›Wiederverchristlichung des Einzelnen, der Familie, der Gesellschaft‹. Dieses umfassende Konzept christlicher Weltzuwendung […] ging von der Vorstellung aus, daß das neuzeitliche Autonomiestreben des Menschen und der damit einhergehende Säkularisierungsprozeß größtenteils, wenn nicht ausschließlich, eine Fehlentwicklung gewesen sei.« 8 Van Hüllen 2006, S. 12. Matthias Drobinski, Wenn Richter zu Schiedsrichtern der Religion werden. In: Süddeutsche Zeitung, 26. Juni 2012. 7 http://www.bvmw.de/fileadmin/download/DFNM/…/Gerechtigkeit.doc. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 8 Baadte 1986, S. 97 f. 5 6
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Die deutschen Bischöfe sahen ihre Idealvorstellungen in der Verfassung von Rheinland-Pfalz verwirklicht; sie haben »diesem Verfassungstext in ihrem Hirtenbrief vom 27. April 1947 uneingeschränkt zugestimmt. Im einzelnen sahen sie darin folgende christliche Forderungen verwirklicht: ›Gott ist als Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft im Vorspruch der Verfassung angerufen. Die Freiheit und die Würde der menschlichen Person sind gesichert. Gegen jede Staatsallmacht ist eine Schranke errichtet. Das Leben des Menschen ist für unantastbar erklärt; auch Eingriffe in die persönliche Unversehrtheit und Verbrechen gegen das keimende Leben sind verboten. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung ist gewährleistet. Ehe und Familie sind als die naturgegebene Grundlage der menschlichen Gesellschaft und als Gemeinschaften eigenen natürlichen Rechts unter den Schutz des Staates gestellt. Das natürliche Erziehungsrecht der Eltern ist anerkannt. Freiheit und Rechte der Kirche sind gewährleistet. In den Bestimmungen über die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung ist den Forderungen der christlichen Gesellschaftslehre, wie sie vor allen Dingen in den Sozial-Enzykliken der Päpste niedergelegt sind, weitgehend Rechnung getragen.‹« 9 Auf das 1949 verkündete Grundgesetz aber reagierten die Bischöfe mit Ablehnung; sie erklärten in ihrem ›Hirtenwort zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland‹ vom 20. Mai 1949: »Wir können dieses Grundgesetz, das es an der Anerkennung eines so wesentlichen und unveräußerlichen Grundrechts – wie das Elternrecht – fehlen läßt, nur als vorläufiges betrachten.« Sie drohten: »Mit dieser Ablehnung unserer Forderungen ist uns ein Kampf aufgezwungen, der zu verhindern gewesen wäre […], wenn man unseren ernsten Mahnungen Gehör geschenkt hätte.« »Man fühlte sich« – so erinnert sich E.-W. Böckenförde – »als Opfer und auch als Sieger. In kirchlichen Kreisen war die Auffassung, jetzt müsse eine neue Grundlage der Ordnung geschaffen werden, und das könne nur das Christentum sein mit einer Renaissance des christlichen Naturrechts. Das führte unweigerlich zu Spannungen mit den Prinzipien der Demokratie. Der Hirtenbrief war ja im Frühjahr 1949 schon entworfen, in dem die deutschen Bischöfe das Grundgesetz ablehnten, weil das konfessionelle Elternrecht nicht gewährleistet war. Adenauer hat es irgendwie hinbekommen, daß der Brief 9
Ebd., S. 109 f.
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6 · Der Rechtspositivismus als Sündenbock
zurückgezogen wurde. Aber da merkt man, daß es in diesem Bereich kaum Kompromißbereitschaft gab und daß die Demokratie dem Naturrecht untergeordnet wurde.« 10 »Die politisch-programmatischen Aktivitäten des deutschen Katholizismus artikulieren sich nach 1945 vor allem in den Unionsparteien CDU und CSU. Angesichts des Umstands, dass der Rechtspositivismus der Weimarer Zeit die Rechtsentartungen des nationalsozialistischen Staates so sehr begünstigt hatte, gab es – weit über den katholischen Raum hinaus – eine Rückbesinnung auf die Rechts- und Sittlichkeitsgrundsätze des (christlichen) Naturrechts.« 11 Katholische Plädoyers für das Naturrecht sind – anders als im Protestantismus 12 – in aller Regel die Grundlage für vehemente Kritik am Rechtspositivismus. Das ›Civitas Institut. Für das christliche Gemeinwesen‹ fordert: »Ein wirklicher ›antifaschistischer Kampf‹ müßte sich […] entschlossen gegen diese gottesverachtende Lehre, die auch als ›Rechtspositivismus‹ bezeichnet wird, wenden. Es müßte mit aller Deutlichkeit gezeigt werden, daß die Würde des Menschen darauf beruht, daß der Mensch am göttlichen Verstand teilhat und auf Grund dieser Teilhabe Gut und Böse erkennen kann; daß er mit seinem freien Willen sich entschließt, das Gute zu tun und das Böse zu meiden; daß Gut und Böse objektiven Charakter haben und nicht Produkte der menschlichen Willkür, der menschlichen Entscheidung, der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Der Mensch findet durch seinen Verstand ein objektives Gesetz in der Welt vor, das völlig von ihm unabhängig ist: das Naturrecht.« 13 Im katholischen Religionsunterricht indoktriniert Studiendirektor Rupert Pfeiffer am Hans-Carossa-Gymnasium in Landshut, es habe »im Kommunismus und auch in der DDR nur Staatsbürgerrechte und keine Menschenrechte [gegeben]. Diese Staatsbürgerrechte sind Ausfluss des den totalitären Staat prägenden Rechtspositivismus, nach dem allein der Staat ethisch verbindliches Recht setzt. Ein Gosewinkel 2011, S. 325. Uertz 2005. 12 So stellt z. B. Bäumlin 1987, Sp. 2814, in Evangelisches Staatslexikon fest: »Nicht die (für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat eintretenden) Rechtspositivisten, sondern die Vertreter des ›materiellen R[echtsstaats]‹ sind es gewesen, die – soweit Rechtsdogmatik überhaupt dazu beiträgt, Geschichte zu machen – der Rechtsideologie des Nationalsozialismus den Weg bereitet haben.« 13 http://www.civitas-institut.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 965:der-wahre-antifaschismus. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 10 11
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Marxistische Kritik am Rechtspositivismus
solches Recht aber ist (wie auch seiner Zeit im Nationalsozialismus mit z. B. der damals erfolgten Einschränkung der Bürgerrechte der Juden) letztlich reine Willkür!« 14 In einer 2007 gehaltenen Predigt zum Verhältnis von Kirche und Nationalsozialismus heißt es: »Die Justiz huldigte dem teuflischen Rechtspositivismus, demzufolge der Staat über Gott steht. Das Credo der Rechtspositivisten lautet: Alle Gewalt geht gerade nicht von Gott, sondern nur vom Menschen aus. Dementsprechend verhängten Roland Freisler und seine Justizgenossen Kerker- und Todesstrafen gegen rechtschaffene Kleriker«. 15 In einem Sammelband Die Seele Europas. Papst Benedikt XVI. und die europäische Identität schreibt der Theologe Prof. em. Dr. Siegfried Wiedenhofer: »Mit der Herrschaft des Positivismus wurde die metaphysische Vernunft obsolet und die Unterscheidung von Recht und Unrecht durch die Gesichtspunkte der Autorität (Rechtspositivismus) oder Nützlichkeit (Utilitarismus) ersetzt. Friede und Gerechtigkeit werden brüchig, die Gewalt ist nicht mehr eindämmbar. Selbst die Grundrechte verlieren ihre universale Bedeutung. Der Relativismus, der eng mit dem Positivismus verbunden ist, wird konsequent verwirklicht entweder zum Nihilismus oder zum Totalitarismus (ob in der Form des politischen Messianismus wie im Marxismus oder in der Form des politisch-religiösen Anarchismus oder in der Form des Terrorismus oder in der Form der organisierten Kriminalität).« 16
Marxistische Kritik am Rechtspositivismus Einen durchaus vergleichbaren ideologisch motivierten Prozess gegen den Rechtspositivismus vor allem Hans Kelsens hat auch der Marxismus-Leninismus geführt. »Recht entsteht auf der Grundlage von Klassenunterschieden und -widersprüchen; es drückt den Willen der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse aus, dessen Inhalt in materiellen Lebensbedingungen dieser Klasse wurzelt. Der Klassencharakter des Rechts besteht darin, daß in ihm nur der Wille jener Klasse zum Ausdruck 14 15 16
http://members.landshut.org/rupfei/q12–1.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. http://www.kirchenlehre.com/p_071202.htm. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. Wiedenhofer 2011.
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kommt, die staatlich herrscht. Die herrschende Klasse verleiht ihrem Willen allgemeinen Ausdruck, indem sie ihn in Form des Staatswillens zum Gesetz erhebt. […] Recht selbst ist eine politische Erscheinung, die eine spezifische Form staatlicher Machtausübung verkörpert. […] Es gibt kein unpolitisches Recht.« 17 Das De-facto-Zutreffen dieses Ideologems, das dem defizitären Status des Rechts in den ›realsozialistischen‹ Staaten entsprach, ist bekannt. Der klassentheoretischen ideologiekritischen Grundlage hat sich die – in verschiedenen Variationen des einen Themas auftretende – marxistische Rechtstheorie im Werk von Marx und Engels sowie von Lenin vergewissert. 18 Hierauf hat sie auch die vermeintliche Plausibilität ihrer an Vehemenz nicht zu überbietenden Kritik am Rechtspositivismus, vor allem Kelsens, gestützt. Karl Marx hatte seine Kritik an den Rechtsverhältnissen und Staatsfunktionen in der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft nicht in juristischer, sondern politischer und ökonomischer Perspektive entwickelt. Das Problem der Beziehung zwischen Staat und Recht thematisierte der – eher unwillig – als Jurist ausgebildete Marx 19 nur am Rande; er fragte suggestiv: »Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?« 20 Er bilanzierte: »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.« 21 Ja, er ging einen Schritt weiter: »[A]lles Recht [ist] Recht der Ungleichheit«. 22 Seine Rechtskritik ist nicht nur aus der zeitbedingten, politisch-ideologiekritisch interessierten Identifizierung des bestehenden Rechts mit dem bestehenden Staat zu erklären; der tiefere Grund war systematischer Art: Die Kritik der politischen Ökonomie verlangte geradezu danach, sich mit dem Recht als ›Überbau‹ und deshalb als ideologischem Phänomen zu befassen. In seinem VorInstitut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR 1975, S. 78. 18 Vgl. hierzu Sandkühler 2013a. 19 In Zur Kritik der politischen Oekonomie (1859) gab Marx die Selbstauskunft: »Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb« (Marx 1969, S. 7). 20 Marx 1962, S. 18. 21 Ebd., S. 20. 22 Ebd., S. 21. 17
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wort Zur Kritik der politischen Oekonomie (1859) erklärte Marx, seine »Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie« habe zu dem Ergebnis geführt, dass die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse »die ökonomische Struktur der Gesellschaft« bilde, »die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.« 23 Diese erkenntnisleitende Konzeption hat zu einem strukturellen Defizit der Marx’schen Befassung mit dem Recht geführt: Rechtsformen interessieren ihn, sofern sie mit ökonomischen Formen nicht nur korrelierbar sind, sondern auf diese reduziert werden können. Dies macht einerseits die Stärke seiner angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert nicht unbegründeten Rechtskritik aus; andererseits hatte aber das reduktionistische Verfahren in rechtstheoretischer und rechtspraktischer Hinsicht negative Folgen sowohl in der Entwicklung des Marxismus als auch für die Rechtsstaatlichkeit im ›realen Sozialismus‹. Es gab zwei Grundfehler: (i) die Verwechslung von Genesis und Geltung des Rechts; die historische und ökonomische Erklärung der Rechtsgenese ist rechtshistorisch und rechtssoziologisch durchaus von Interesse; aber über die Geltung von Rechtsnormen besagt sie nichts; (ii) die Reduktion des Rechts auf ›basale‹ ökonomische und Klassenverhältnisse; dass das Recht die Funktion haben kann (und soll), ein Mittel gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen – Ungleichheit, Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung – zu sein, ist in Marx’ Konzeption nicht zu erkennen. Marx folgend, 24 haben F. Engels und K. Kautsky 1887 in ihrer Ebd., S. 8 f. Diesem Ansatz entsprechen alle Thematisierungen von Rechtsformen in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58) und in Das Kapital; es geht Marx immer darum, Rechtsformen als ›Ausdruck‹, als abhängige Variablen ökonomischer Formen zu analysieren. 24 »Die Arbeiterklasse, die durch die Verwandlung der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische alles Eigentums an den Produktionsmitteln entkleidet wurde und durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise stets in diesem erblichen Zustand der Eigentumslosigkeit wieder erzeugt wird, kann in der juristischen Illusion der Bourgeoisie ihre Lebenslage nicht erschöpfend zum Ausdruck bringen. Sie kann diese Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die Dinge ohne juristisch gefärbte Brille in ihrer Wirklichkeit anschaut. Hierzu aber verhalf ihr Marx mit seiner materialistischen Geschichtsauffassung, mit dem Nachweis, daß alle juristischen, politischen, philosophischen, religiösen etc. Vorstellungen der Menschen in letzter Instanz aus ihren wirtschaftlichen Lebensbedingungen, aus ihrer Weise zu 23
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Schrift Juristen-Sozialismus die von nun an im Marxismus maßgebliche Kritik an der ›neuen Weltanschauung‹ geübt, »die die klassische der Bourgeoisie werden sollte«, an der »juristische[n] Weltanschauung. Sie war eine Verweltlichung der theologischen. An die Stelle des Dogmas, des göttlichen Rechts trat das menschliche Recht, an die der Kirche der Staat. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die man sich früher, weil von der Kirche sanktioniert, als durch die Kirche und das Dogma geschaffen vorgestellt hatte, stellte man sich jetzt vor als auf das Recht begründet und durch den Staat geschaffen. Weil der Austausch von Waren auf gesellschaftlichem Maßstab und in seiner vollen Ausbildung, namentlich durch Vorschußund Kreditgeben, verwickelte gegenseitige Vertragsverhältnisse erzeugt und damit allgemein gültige Regeln erfordert, die nur durch die Gemeinschaft gegeben werden können – staatlich festgesetzte Rechtsnormen –, deshalb bildete man sich ein, daß diese Rechtsnormen nicht aus den ökonomischen Tatsachen entsprängen, sondern aus der formellen Festsetzung durch den Staat. Und weil die Konkurrenz, die Grundverkehrsform freier Warenproduzenten, die größte Gleichmacherin ist, wurde Gleichheit vor dem Gesetz der Hauptschlachtruf der Bourgeoisie. Die Tatsache, daß der Kampf dieser neu aufstrebenden Klasse gegen die Feudalherrn und die sie damals schützende absolute Monarchie, wie jeder Klassenkampf, ein politischer Kampf, ein Kampf um den Besitz des Staates sein, um Rechtsforderungen geführt werden mußte, trug dazu bei, die juristische Weltanschauung zu befestigen.« 25 Aufgrund der Orientierung auf die Klassenfunktion des Rechts komme »[i]n den theoretischen Untersuchungen von Marx […] das juristische Recht, das immer nur die ökonomischen Bedingungen einer bestimmten Gesellschaft widerspiegelt, nur in ganz sekundärer Weise in Betracht; dagegen in erster Linie die geschichtliche Berechtigung, die gewisse Zustände, Aneignungsweisen, Gesellschaftsklassen für bestimmte Epochen haben«. 26 Es bedarf keines Kommentars, dass so im Marxismus kein Weg zu der Gerechtigkeit sichernden Funktion des Rechts und des Rechtsstaates ausgeschildert werden konnte. In der späteren Entwicklung nach Lenin hat E. Paschukanis 1929 produzieren und die Produkte auszutauschen, abgeleitet sind« (Engels, F./K. Kautsky, Juristen-Sozialismus [1887]. In: MEW Bd. 21, S. 494). 25 Ebd., 492 f. 26 Ebd., S. 501.
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im Vorwort zur zweiten russischen Auflage seiner Allgemeinen Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe seine »Ueberzeugung« zu begründen versucht, »daß die Verteidigung der sogenannten abstrakten Grundlagen der Rechtsordnung die allgemeinste Form der Verteidigung bürgerlicher Klasseninteressen ist«. 27 Lenins Konzept des ›Absterbens des Staates‹ wurde auf das Recht übertragen: »Das Absterben von Kategorien des bürgerlichen Rechts wird unter diesen Bedingungen das Absterben des Rechts überhaupt bedeuten, d. h. das Verschwinden des juristischen Moments aus den Beziehungen der Menschen zueinander.« 28 Damit war auch das Stichwort für die Kritik am Rechtspositivismus gefallen: »Endlich drückt der extreme Formalismus der normativen Schule (Kelsen) zweifellos die allgemeine Dekadenz des bürgerlichen wissenschaftlichen Denkens der jüngsten Zeit aus, das sich in fruchtlosen methodologischen und formal-logischen Spiegelfechtereien erschöpft und mit der eigenen vollständigen Loslösung von der realen Wirklichkeit Staat macht.« 29 Diese Fehldeutung wurde im Marxismus-Leninismus immer wieder aufgenommen, so z. B. in P. E. Nedbailos Einführung in die allgemeine Theorie des Staates und des Rechts (Gegenstand, System und Funktion der Wissenschaft): »Ebenso wie in der Philosophie gab sich der Positivismus in der Jurisprudenz mit konkreten empirischen Forschungen zufrieden. Bezeichnend für ihn war auch das dogmatische Herangehen an die Untersuchung des geltenden (positiven) Rechts. Die ganze Verallgemeinerung des Rechtsmaterials lief auf seine formal-logische Bearbeitung hinaus, ohne irgendwelche sozialökonomische Erklärungen seines Wesens, der Ursachen seiner Entstehung und Entwicklung, ohne eine allgemeine Wertung. Recht ist, was im Gesetz steht, und nicht mehr. Das Gesetz jedoch ist Ausdruck des freien Willens des Staates. Dabei wurde der Staat als eine juristi-
Paschukanis 21969 [1929], S. 10. Paschukanis’ Überzeugung hat Korsch 1969 [1930], S. VI, kritisiert: »Seine ganze ›Kritik der juristischen Grundbegriffe‹ und daraus entwickelte ›allgemeine Rechtslehre‹ erschöpft sich in der Aufstellung und allseitigen Entwicklung der Formel, daß nicht nur die wechselnden Inhalte der jeweils geltenden Rechtsverhältnisse und Rechtsnormen, sondern auch die Rechtsform selbst in allen ihren Erscheinungsformen einen ›ganz ebenso‹ fetischistischen Charakter hat wie die Warenform der politischen Ökonomie.« 28 Ebd., S. 34. 29 Ebd., S. 43. 27
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sche Person betrachtet, die selbständig und unabhängig von der Klassenstruktur der Gesellschaft existiert.« 30 Auch U. Cerroni, der von Kant ausgegangen war und den ökonomistischen Reduktionismus kritisierte, 31 hat sich in Marx und das moderne Recht vorgenommen, »die Antinomien [zu] untersuchen, in denen sich die reine und normative Theorie von Hans Kelsen bewegt, in der die Erkenntnisse und die systematischen Konstruktionen der analytischen Rechtswissenschaft von Austin und des deutschen öffentlichen Rechts zur Vollendung gebracht werden. […] Als Ausgangspunkte wählen wir uns zwei grundlegende und gleich wichtige Prinzipien der Lehre Kelsens […]: 1. Das Recht ist ausschließlich Normsystem, das heißt System von Hypothesen oder technischen Imperativen, die der Staat sanktioniert. […] 2. Alle Fragen nach der moralischen Legitimität oder der Gerechtigkeit der Norm und nach der geschichtlichen Wirksamkeit der Ordnung fallen aus der logischwissenschaftlichen Problematik der juristischen Disziplinen heraus; jede Einmischung von außen verfälscht die Reinheit und Autonomie des Rechts und entspringt außerwissenschaftlichen ideologischen Interessen.« 32 Kelsens Reine Rechtslehre habe sich »so – wie auch die Kants – in eine Theorie des modernen Rechtsstaats auf[gelöst], dessen Wesen in der scheinbaren Vollständigkeit der Rechtsordnung liegt, und der sich gleichzeitig von der Volkssouveränität und von der menschlichen Materialität der modernen bürgerlichen Gesellschaft abwendet, um dann post festum den kruden Individualismus und die rohe Materialität der vollendeten Tatsache zu sanktionieren.« 33 Im deutschsprachigen Bereich haben sich vor allem Marxisten in Veröffentlichungen in der DDR in ihrer Rechtspositivismus-Kritik überboten. W. R. Beyer behauptete zu Kelsens Theorie, »daß diese Lehre bewußt gegen die um die Jahrhundertwende aufkommende Soziologie und die ›Pseudorechte der Sozialisten‹ […] auftrat und dann mit der Erstarkung des ersten sozialistischen Staates, der Nedbailo 1972, S. 78. »Kant und Marx waren die Ausgangspunkte meiner Forschung zum Recht, und hierin lagen zwei verschiedene Linien kritischer Reflexion: die der Unzufriedenheit mit der kantischen Unterscheidung zwischen Recht und Moral und die gleiche Unzufriedenheit mit der vulgärmarxistischen Identifizierung von Recht und Ökonomie« (Umberto Cerroni [Roma]. In: Doxa. Cuadernos de Filosofía del Derecho Núm. 1, 1984, S. 61. Meine Übers. aus d. Italienischen). 32 Cerroni 1974 [1962], S. 47. 33 Ebd., S. 50. 30 31
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UdSSR, als bürgerliches Gegengewicht in der Staats- und Rechtslehre arbeitete, um mit ihrer damals (gegenüber anderen bürgerlichen Strömungen) geradezu auffallenden Gedankenschärfe völkerrechtlich und im internationalen Rechtsverkehr gegen die UdSSR als Waffe zu dienen«. 34 Die signifikantesten marxistischen Polemiken gegen Kelsen stammen aus der Feder des Rechtstheoretikers Hermann Klenner. In Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre (1972) behauptete er, »daß sich hinter der subjektiven Gegnerschaft zwischen den rechtsphilosophischen Positivisten und ihren naturrechtlichen, aber auch pragmatischen Kollegen von derselben Fakultät objektiv ein arbeitsteiliges Operieren gegen ein und denselben Gegner: die Arbeiterklasse, verbirgt«. 35 Der Rechtspositivismus habe nicht gesehen, dass das Recht »ein Produkt der menschlichen Gesellschaft auf einer vorübergehenden Stufe ihrer Entwicklung [sei], solange sie in Klassen gespalten ist. Als in dieser Gesellschaft geltendes System staatlich garantierter Verhaltensregeln widerspiegelt es objektiv-reale Verhältnisse, deren Regelung seine soziale Funktion ist. Sein Inhalt ergibt sich (direkt oder indirekt) aus den materiellen Lebensbedingungen der herrschenden Gesellschaftsklasse. Es befindet sich in einem Wechselverhältnis zur Ökonomik: einerseits bedingen – und erzwingen letztlich – die Produktionsverhältnisse ein ihnen gemäßes Recht, andererseits ist das Recht ein notwendiges Instrument zur Stabilisierung und Entwicklung dieser Verhältnisse. Mit diesen von der Geschichte bestätigten Fundamentalthesen einer marxistisch-leninistischen Rechtstheorie ist zugleich die wissenschaftliche Unhaltbarkeit des Positivismus dargelegt worden, seine nur mit ihm selbst zu beseitigende Eigenschaft, die Wirklichkeit in allen wichtigen Beziehungen falsch widerzuspiegeln. Positivistische Rechtsphilosophie ist Idealismus: sie bietet Betrachtungen, die das wirkliche Recht, wie es sich in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft herausgebildet hat, wie es sich mit ihr evolutionär und revolutionär entwickelt, überhaupt nicht erreichen. Positivistische Rechtsphilosophie ist Metaphysik: sie bietet Betrachtungen, die das Recht von seinen Wurzeln und WirBeyer 1972, S. 1039. Klenner 1972, S. 12. So auch Klenner 1988, S. 363: »Positivistische und klerikalnaturrechtliche Rechtsphilosophien sind […] bei allen sie trennenden Meinungsdifferenzen Komplementärtheorien: es handelt sich bei ihnen um sich zwar logisch widersprechende, funktional aber um sich ergänzende Konzeptionen, die nur in ihrer Gesamtheit den Anforderungen an eine bürgerliche Rechtsideologie entsprechen.«
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kungen getrennt, gleichsam ungeboren und kastriert, das heißt aber, so wie es nicht ist, zum Wissenschaftsobjekt erklären. Positivistische Rechtsphilosophie lehrt ein gesellschaftsentfremdetes, inhaltloses, ein leeres Recht.« 36 Wer wie Kelsen »die Frage nach dem materiellen Geltungsgrund des Rechts aus der wissenschaftlichen Diskussion ausschalten« wolle, der helfe »objektiv, die reale Genesis des Rechts zu verschleiern«, und artikuliere »Interessen, denen an einer Abschirmung des Rechts vor dem wissenschaftlichen und tatkräftigen Zugriff anderer gelegen ist. Und das sind nun einmal in der heutigen Zeit die Klasseninteressen der Bourgeoisie.« 37 Auch Klenner zollt dem Lieblingsthema katholisch-naturrechtlicher Kelsen-Kritik Tribut: »Die von der Reinen Rechtslehre für die gesamte Rechtsordnung philosophisch verbrämte radikale Trennung von Rationalität und Humanität hat ganz sicher dazu beigetragen, daß der deutsche Imperialismus die dominierende Rolle der Rechtssicherheit (gleich welchen Inhalts) bis hin zur wohlorganisierten Friedhofsruhe in halb Europa dann auch praktisch gestalten konnte.« Klenner räumt zwar ein, es sei naiv, anzunehmen, »daß die Richter und Staatsanwälte der Weimarer Republik in ihrer Mehrheit Anhänger der Reinen Rechtslehre Kelsens« gewesen seien »und deshalb willig auch Hitler Handlangerdienste leisteten. Den juristischen Praktikern war normalerweise ohnehin höchstens in der Stunde ihres ersten Staatsexamens der rechtsphilosophische Neopositivismus als System geläufig.« Und doch folgt ein ›Aber‹ : »Aber die Haltung, zu der die Studenten, Referendare und Assessoren von den positivistischen Professoren erzogen worden waren, als gesinnungslose Gesetzes- und Befehlsvollstrecker zu dienen, hat Machtantritt und Machtausübung der terroristischen Monopoldiktatur begünstigt.« 38 Klenner hat betont, »daß die marxistische Kritik an der positivistischen Rechtstheorie eine Totalkritik ist«. 39 Kelsens »angeblich von allem Politisch-Ideologischen gereinigte und daher angeblich Reine Rechtslehre ist tatsächlich eine Theorie imperialistischen Charakters. Denn Kelsens Variante eines rechtsphilosophischen Neopositivismus widerspiegelt grundlegende Bedürfnisse des regierenden Monopol36 37 38 39
Klenner 1972, S. 13 f. Ebd., S. 39. Ebd., S. 50. Klenner 1976, S. 47.
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kapitals, indem er a) die Unterordnung des Volkes unter den vorhandenen Staatsapparat bei gleichzeitiger Vortäuschung demokratischer Verhältnisse rechtfertigt und b) die Regulierungsbestrebungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus bei gleichzeitiger Verschleierung des Klassencharakters der Gesellschaftsordnung begünstigt.« 40 Zu den wenigen marxistischen Rechtstheoretikern in der DDR, die eine andere Einstellung zum Rechtspositivismus hatten, gehörte U.-J. Heuer. In einem Interview zu seinem 2002 erschienenen Buch Im Streit. Ein Jurist in zwei deutschen Staaten sagte er zum Thema ›Kampf um das Recht‹ : »Im 12. Kapitel ›Immer noch Rechtspositivist?‹ […] ziehe ich die Schlussfolgerung, dass es auch heute sowohl der Verteidigung des geltenden Rechts gegen seine Verletzung bedarf, eines Kampfes, der auch juristisch zu führen ist, als auch des Bewusstseins, dass nur Macht Machtmissbrauch wirklich zu verhindern vermag. Ein materiell fundierter Rechtspositivismus innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wie das Bemühen, sie zu verändern und historisch zu überwinden, kann allemal durch marxistische Analyse untermauert und weiterentwickelt werden.« 41 In Auseinandersetzungen, die mit Klenners Polemiken gegen Kelsen geführt wurden, sind mehrere Argumente geltend gemacht worden. A. Kulenkampff hat zu Recht eingewandt, Kelsen habe nie bestritten, sondern immer vertreten, »daß, welche Rechtsnormen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort gelten, politisch, ökonomisch, ideologisch bedingt ist. Nicht der Sozialbezug des Rechts wird in Abrede gestellt, sondern daß diesen zu erforschen Aufgabe der Rechtswissenschaft sei. Wenn Kelsen die Bewertung des Rechts im Sinne seiner Rechtfertigung oder Kritik der Rechtsphilosophie und die Erkenntnis der kausalen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen dem Recht als sozialem Phänomen und anderen sozialen Phänomen der Rechtssoziologie zuweist, so ist darin ein Vorschlag zur wissenschaftlichen ›Arbeitsteilung‹ zu sehen.« 42 P. Römer hat sich gegen Klenners These gewandt: »Wohl als Individuum, nicht aber als Wissenschaftler hat Kelsen auch nur den geringsten Beitrag im Kampf gegen den Faschismus leisten können«. Er hat geltend ge-
Ebd., S. 49 f. http://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/reprints/interview_uwe_jens_ heuer/. Abruf überprüft am 12. 1. 2015. 42 Kulenkampff 1977, S. 515; vgl. entsprechend Kulenkampff 1978. Zur Auseinandersetzung mit H. Klenner vgl. auch Rottleuthner 1975. 40 41
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macht, »daß es sicherlich unrichtig ist, wenn in der bundesrepublikanischen Lehre nach 1945 das Einordnen der Juristen in den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat und ihr problemloses Funktionieren innerhalb dieses Apparates zurückgeführt wird auf eine angeblich positivistische Grundhaltung dieser Juristen. Der Positivismus, […] erst recht der Positivismus Kelsenscher Prägung war in der Weimarer Republik nicht mehr die vorherrschende Lehre. Vor allem aber ging der Kampf innerhalb der nationalsozialistischen Lehre ganz entschieden und eindeutig gegen den Liberalismus und den Positivismus […]. Im Gegenteil hätte eine positivistische Beurteilung bereits der ›legalen‹ Machtergreifung sowie der zahllosen rechtlosen Gewaltmaßnahmen eher zu einer Opposition gegen den Nationalsozialismus führen können.« 43 Zu Kelsen hebt Römer hervor, »dass innerhalb des bürgerlich-liberalen und des sozialdemokratischen Lagers Kelsens Verteidigungslinie der Weimarer Demokratie die am meisten realistische war. Die These, Kelsen habe in seinen politischen Schriften keinerlei Beitrag zur Verhinderung und Bekämpfung des Nationalsozialismus geleistet, läßt sich m. E. nur dann halten, wenn man der Auffassung ist, daß ausschließlich die marxistische Klassenkampftheorie in der Lage war, einen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus zu leisten, und daß alle anderen politischen Auffassungen und Zielsetzungen im Vergleich damit bestenfalls mit Null anzusetzen sind.« 44
Römer 1987, S. 148. Römers Aufsatz findet sich auch in ders., Hans Kelsen, Köln 2009. 44 Ebd., S. 145 f.; vgl. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932). In: ders., Demokratie und Sozialismus, Wien 1967, und hierzu Sandkühler 2013, S. 383–387. 43
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Kapitel 7 Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
Konrad Adenauer erklärte am 24. März 1946 in einer Rede in der Aula der Kölner Universität zu den Zielen der neu gegründeten CDU: »Die Auffassung von der Vormacht, von der Allmacht des Staates, von seinem Vorrang vor der Würde und der Freiheit des einzelnen widerspricht dem christlichen Naturrecht. Wir wollen die Grundsätze des christlichen Naturrechtes wiederherstellen. Nach der dem Programm der CDU zugrunde liegenden Auffassung ist die Person dem Dasein und dem Range nach vor dem Staat. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze als ihre Orientierung. Freiheit der Person ist nicht Schrankenlosigkeit und Willkür, sie verpflichtet jeden beim Gebrauche seiner Freiheit, immer eingedenk zu sein der Verantwortung, die jeder einzelne für seine Mitmenschen und für das ganze Volk trägt.« 1 Er drückte damit einen im Westen Deutschlands nach 1945 weit verbreiteten Konsens aus, dessen Zeuge auch die rechtswissenschaftliche und rechtsphilosophische Literatur dieser Zeit ist 2 – einen Konsens zugunsten des Naturrechts und zuungunsten des Rechtspositivismus. In: H.-P. Schwarz (Hg.), Konrad Adenauer. Reden 1917–1967, Stuttgart 1975, S. 82. Hier eine Auswahl aus Aufsätzen: G. Radbruch, Die Erneuerung des Rechts. In: Die Wandlung, Eine Monatsschrift, 2. Jg., 1947; A. Süsterhenn, Das Naturrecht. In: Die Kirche in der Welt, 1. Jg., 1947; Karl Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts. In: Forschungen und Fortschritte, 21./23. Jg., 1947; O. Veit, Der geistesgeschichtliche Standort des Naturrechts. In: Merkur, Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, 1. Jg., 1947; E. Wolf, Naturrecht und Gerechtigkeit. In: Evangelische Theologie, 2. Jg., N.F., 1947/48; E. Forsthoff, Zur Problematik der Rechtserneuerung. In: Zeitwende, 18. Jg., 1947/48; E. Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts. In: Universitas, Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst Literatur, 3. Jg., 1948; H. Coing, Um die Erneuerung des Naturrechts. In: Universitas, 3. Jg., 1948; F. A. von der Heydte, Existentialphilosophie und Naturrecht. In: Stimmen der Zeit, Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart, 143. Bd., 1948/49; H.-H. Schrey, Naturrecht und Gottesgerechtigkeit. In: Universitas, 5. Jg., 1950; J. Thyssen, Das Problem des Naturrechts. In: Philosophisches Jahrbuch, 65. Jg., 1957; H. Weinkauff, Das Naturrecht in evan1 2
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
Die ›Naturrechtsrenaissance‹ nach 1945 3 erweckte – so M. Stolleis in seiner Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland – »vordergründig den Eindruck eines prinzipiellen wertphilosophischen Neubeginns, diente aber eher der Camouflage methodischer Kontinuitäten und der Neubenennung eines Antipositivismus, der besonders intensiv gerade nach 1933 propagiert worden war.« 4 »Vertreter des Naturrechts bekämpften den rechtswissenschaftlichen Positivismus als Hauptschuldigen, wobei meist verdrängt wurde, daß man sich dabei mit veränderten politischen Vorzeichen von neuem der Argumente bediente, mit denen auch der Nationalsozialismus den Positivismus bekämpft hatte.« 5 Auch F. Wittreck deckt in Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht. Affinität und Aversion »Parallelen von nationalsozialistischer Rechtslehre und Naturrecht« auf: Er fragt »nach solchen zeitgenössischen Autoren, die versuchen, materielle Vorgaben für das Recht des neuen Reiches aus der ›Natur‹ oder anderen biologisch getönten, auf jeden Fall aber unverfügbaren Ordnungsmustern abzuleiten«, und berichtet über »Figuren, die sich in teils frappanter Weise an die naturrechtliche Terminologie anschmiegen: Ubiquitär ist die Redeweise vom ›lebensgesetzlichen‹ oder ›naturgesetzlichen‹ Rechte, vom ›ewigen Volksrechte‹, von ›natürlichen Gesetze[n] der Rasse und des Volkstums‹ (Erik Wolf), ›rechtsbestimmende[n]‹ ›Tatsachen des Lebens‹ oder ›metarechtlichen Lebenstatbeständen‹ (Heinrich Gerland). […] Auch der nach dem Krieg beliebte Begriff vom ›übergesetzlichen Recht‹ begegnet bereits 1935 in der Deutschen Richterzeitung in einem Beitrag zum Reichserbhofgesetz (näher präzisiert als das ›übergesetzliche volksverbundene Recht‹). […] Gemeinsam ist gelischer Sicht. In: Zeitwende, 23. Jg., 1951/52; A. F. Utz, Naturrecht im Widerstreit zum positiven Gesetz. In: Neue Ordnung in Kirche, Staat, Gesellschaft, 5. Jg., 1951; J. Ebbinghaus Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht. In: Archiv für Philosophie, 4. Bd., 1952; G. del Vecchio, Vom Wesen des Naturrechtes. In: Universitas, 7. Jg., 1952; A. Verdroß, Was ist Recht? Die Krise des Rechtspositivismus und das Naturrecht. In: Wort und Wahrheit, Monatsschrift für Religion und Kultur, 8. Jg., 1953; H. Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus. In: Festschrift für Hans Niedermeyer, Göttingen 1953; H. Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl. In: Archiv für die civilistische Praxis, 153. Bd., 1954. Zu Rückblicken auf die ›Naturrechtsrenaissance‹ vgl. u. a. Kühl 1990, Kaufmann 1993, Faller 1995. 3 Zu einer minutiösen rechtshistorischen Rekonstruktion der ›Naturrechtsrenaissance‹ und zur »Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner« vgl. Foljanty 2013. 4 Stolleis 2012, S. 208. 5 So auch Stolleis 1994, S. 13 f.
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
allen genannten Autoren, daß sie die Existenz eines Corpus an objektiven Regeln postulieren, die dem menschlichen Gesetzgeber voroder übergeordnet sind und im weitesten Sinne aus der ›Natur‹ abgeleitet werden. Damit aber erweisen sich die zentralen Phrasen der völkischen oder ›rassegesetzlichen‹ Rechtslehre als strukturell naturrechtlich, auch wenn sie diesen Begriff meiden oder gar brüsk zurückweisen mögen Die geschilderte mehrheitliche Absage an das Naturrecht erweist sich als protestatio facto contraria.« 6 An die Stelle des Rechtspositivismus nach dem Muster z. B. Hans Kelsens traten einerseits »kirchliche Soziallehre, Naturrecht oder – mehrheitlich – das verfassungsrechtlich garantierte ›Wertsystem‹« und andererseits die Praxis eines ›staatsrechtlichen Positivismus‹«: »Das Paradox schien zu sein, dass sich über einen praktizierten staatsrechtlichen Positivismus ein rhetorischer Antipositivismus gelegt hatte. Die Wiener Schule schien in Deutschland wie ausgelöscht, eine Neuauflage von Kelsens ›Allgemeiner Staatslehre‹ (1925) gab es nicht. Auch die 1934 in den Niederlanden erschienene und im Deutschland der Nachkriegszeit praktisch unbekannte ›Staatslehre‹ von Hermann Heller erfuhr erst 1961 eine zweite Auflage, der dann 1963 eine dritte folgte. […] Die Gründe für die fehlende Präsenz der seinerzeit in scharfem theoretischem Gegensatz stehenden Kelsen und Heller in der Nachkriegszeit sind ganz unterschiedlich. Die gemeinsame jüdische Herkunft, die sie in den Tod bzw. die Vertreibung führte, sowie die gemeinsame politische Option für einen demokratischen Sozialismus – das waren ungünstige Merkmale in der bundesdeutschen Atmosphäre der fünfziger Jahre.« 7 E. Topitsch hat die folgenden Gründe für den restaurativen ›Geist der Zeit‹ nach 1945 genannt: »Die Schrecken der kaum überstandenen Vergangenheit und die Drohungen einer unheilschwangeren Zukunft ließen das Verlangen nach Sicherheit, Trost und Erbauung gewaltig ansteigen und aus der Furcht vor dem Kommunismus erwuchs das Bedürfnis nach einer möglichst durchschlagskräftigen ›Gegenideologie‹. Diese Tendenzen wurden in Deutschland und Österreich dadurch gewaltig verstärkt, daß die Vertreter der aufklärerischen Ideen durch den Nationalsozialismus meist ins Exil ge-
6 Wittreck 2008, S. 43 ff. Wittreck bezieht sich zu E. Wolf auf dessen Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate (Freiburg 1934, S. 27). 7 Stolleis 2012, S. 200.
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zwungen worden waren, während die Konservativen, die dem damaligen Regime distanziert oder ablehnend gegenüberstanden, im Lande bleiben konnten und daher nach dem Zusammenbruch des Hitlerreiches als erste und nicht selten als einzige zur Stelle waren, wodurch sie der Neuordnung in vieler Hinsicht das Gepräge gaben. So erhielt das deutsche Geistesleben der zweiten Nachkriegszeit seinen vielbesprochenen restaurativen Charakter, der sich besonders in der Philosophie und politischen Theorie bemerkbar machte. Mit Vorliebe griff man auf Traditionen zurück, die angeblich als philosophia perennis die unerschütterliche Grundlage abendländischer Gemeinschaft und Gesittung gebildet hatten. […] Nur im Zeichen der ewigen Natur- und Schöpfungsordnung, der absoluten Werte und Ideen oder der substantiellen Sittlichkeit könne – so wurde immer wieder betont – das Abendland vor dem von außen und innen herandrängenden ›Nihilismus‹ gerettet werden.« Diese Behauptung ist für Topitsch »der Ausdruck einer Geisteshaltung, welche die altehrwürdigen Traditionen der Naturrechtsspekulation und Sozialmetaphysik jeder grundsätzlichen Kritik entzogen wissen möchte. Gerade eine solche will aber Kelsen üben.« 8 Nimmt man spätere, weiterhin mit der Positivismuslegende operierende Verteidiger des Naturrechts aus, sollte es bis in die 1960er Jahre dauern, dass »die Ächtung des Positivismus« nach und nach überwunden wurde: »[A]ls die ersten Arbeiten über Kelsen Gehör fanden, setzte sich allmählich auch theoretisch die Einsicht durch, dass der Positivismus die der Demokratie angemessene Rechtstheorie sein könnte.« 9 Anders die Jahre nach 1945: »Naturrechtslehren haben vor allem dann Konjunktur, wenn es um Vergangenheitsbewältigung durch das Recht geht.« 10 In H. Rommens 11 zunächst 1936 erschienenem Buch Die ewige Wiederkehr des Naturrechts hieß es in der 2. Auflage 1947: »Der Genius der Rechtswissenschaft konnte sich nicht lange in der Dürre des Positivismus halten.« 12 Ebenfalls 1947 schrieb K. Larenz: »Es ist noch nicht lange her, da galt es der deutschen Rechtswissenschaft als
Topitsch 1989, S. 11 f. Ebd., S. 608 f. 10 Renzikowski 1995, S. 341. 11 Der Sozialethiker H. Rommen musste 1938 in die USA emigrieren. 12 Rommen 1947, S. 140. 8 9
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ausgemacht, daß der ›Traum des Naturrechts‹ ausgeträumt sei. Man verstand dabei unter dem ›Naturrecht‹ ein ideales Normensystem, das, auf dem Wege vernünftiger Schlußfolgerungen gewonnen, schlechthin allgemeingültig und unabänderlich sei.« 13 In demselben Jahr sekundierte H. Coing in seinem ›Versuch zur Neugründung des Naturrechts‹ 14: »Daß die Rechtswissenschaft sich vom Positivismus befreien und wieder einer an die Rechtsidee gebundenen Auffassung vom Recht zuwenden müsse, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden, die man sich beinahe scheut auszusprechen. Es ist auch verständlich, daß die Erschütterungen unserer Zeit, wo sie nicht zu Verzweiflung und Skepsis gegenüber dein Recht überhaupt führen, zu naturrechtlichen Überzeugungen drängen; sie allein scheinen gegenüber den Ansprüchen der politischen Macht und der nackten Gewalt dem Recht einen Halt zu gewähren.« 15 In Grundzüge der Rechtsphilosophie bekräftige Coing 1950: »Die Rechtsidee ist das sittliche Ziel, dessen Verwirklichung jede Rechtsordnung dienen soll. Die Vorstellung von einem Naturrecht geht über die der Rechtsidee hinaus. Das Naturrecht soll nicht nur ein bestimmter sittlicher Inhalt sein, der in der Sozialordnung verwirklicht werden soll, sondern der Umriß einer Rechtsordnung, welche den sittlichen Forderungen der Rechtsidee genügt. Gegenüber der Rechtsidee – als reinem sittlichem Gehalt – soll das Naturrecht ein System von Rechtssätzen bestimmten Inhaltes sein, in denen die Rechtsidee Gestalt gewinnt und dadurch anwendbar wird. Den allgemeinen Inhalt der sittlichen Werte, welche die Rechtsidee in sich begreift, wandelt das Naturrecht in eine Reihe bestimmter Rechtssätze um, welche, im sozialen Leben verwendbar, Gesetzgebung und Judikatur als Vorbild dienen können. Im Naturrecht wird die Rechtsidee praktikabel; sie wird in Grundsätze umgeformt, die in Gesetzen und Urteilen Verwendung finden können. Achte die sittliche Würde des Mitmenschen! Das ist eine ethische Forderung. Alle Gewalt, die Menschen über Menschen gegeben wird, muß inhaltlich begrenzt und kontrollierbar sein; das ist ein Satz des Naturrechts.« 16 Geradezu selbstverständlich war für H. C. Nipperdey 1954 die
13 14 15 16
Larenz 1966 [1947], S. 27. Vgl. hierzu Mohnhaupt 2001. Coing 1947, S. 7. Coing 1950, S. 151.
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Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG »ein naturrechtliches Elementarprinzip, […] vorstaatliches, überpositives Recht«. 17 Nur wenige haben – wie der Jurist und Rechtsphilosoph Erwin Riezler (1873–1953) – in der Zeit um 1950 »die scheinbar verlorene Position nicht ganz kampflos räumen« wollen. 1951 schrieb er unter dem Titel ›Der totgesagte Positivismus‹ : »Unter den Juristen schwimmt der Positivist heute gegen den Strom. Zugleich gilt er vielen als ein minderwertiges Mitglied seiner Zunft. Er ist der bloße Rechtstechniker gegenüber dem Juristen, der seinen Forschungsund Wirkungskreis von der hohen Warte rechtsphilosophischen Denkens überschaut und beherrscht und ihn in Beziehung zu setzen versteht zu den über die Paragraphenjurisprudenz erhabenen und von ihr unberührten tieferen Grundlagen des Rechts, die in einem unveränderlichen Ethos und zugleich in einer humanitären und sozialen Politik wurzeln. Der Positivist verhält sich zum wahren Juristen etwa wie der Maurer zum Architekten, der Dentist zum Zahnarzt. Es wird uns versichert, der ›öde‹ Positivismus sei jetzt überlebt, ja er sei schon tot. Das ›Naturrecht‹ ist wieder einmal auferstanden.« 18 Diese ›Auferstehung‹ belegt auch der Staatsrechtslehrer und Grundgesetz-Kommentator G. Dürig mit der These, die Würdenorm des Art. 1 (1) GG liefere »in der Staatseinrichtung […] den wertausfüllenden Maßstab für alles staatliche Handeln; denn er bestimmt und beschränkt Staatszweck und Staatsaufgabe, und er bestimmt und beschränkt die Legitimität von Staat und Recht aus den Werten personaler Ethik«. 19 Er erläuterte in einer Fußnote: »Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wertfundierung streiten. Man kann auch sagen, daß Art. 1 I das ›Naturrecht neuzeitlicher Prägung‹ rezipiert habe. […] Niemals ist es jedoch unjuristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet. […] Die christliche Naturrechtsauffassung umspannt stets auch die gültige profane Lehre. […] Sollte irgendwo das profane Naturrecht zu Abweichungen vom christlichen führen, so ist im Zweifel nichts anderes als die Überprü-
Nipperdey 2008 [1954], S. 190; vgl. S. 195. Riezler 1966 [1951], S. 239. 19 Dürig, Art. 1 Abs. 1. In: Maunz/Dürig, Kommentar z. GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 15; Hervorh. v. mir. 17 18
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fung auf historische Abfälschungen nötig, um wieder auf die gemeinsame christliche Wurzel zu stoßen.« 20
Naturrecht und positives Recht bei Entstehung des Grundgesetzes 21 Als »Gegenprogramm zur totalitären Mißachtung des Individuums« 22 bedeutete das Grundgesetz in normativer Hinsicht eine rechts- und gesellschaftspolitische Zäsur: Es war das Signal »eines entschiedenen ›Neubeginns‹, dass Menschenwürde und Grundrechte nicht nur erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte optisch an der Spitze der Verfassung standen, sondern möglichst umfassend umgesetzt werden sollten. Der Rechtsstaat mit seiner klaren Bindung an ›Recht und Gesetz‹ sollte lückenlos sein.« 23 Nachdem die Londoner Alliierten-Außenministerkonferenz im Dezember 1947 gescheitert war, trafen die westlichen Alliierten mit den Benelux-Staaten von Februar bis Juni 1948 zur ›Londoner SechsMächte-Konferenz‹ zusammen, bei der die Gründung eines Weststaates ohne die sowjetische Besatzungszone beschlossen wurde. 24 Am 1. Juli 1948 beriefen die Westalliierten die Ministerpräsidenten der Länder in den Westzonen zu einer Konferenz ein und übergaben ihnen die sogenannten ›Frankfurter Dokumente‹ 25, die vehemente Kritik auslösten, so z. B. in einer ›Denkschrift des Deutschen Büros für Friedensfragen‹, einer Dokumentationsbehörde der MinisterpräEbd., Fn. zu Rn. 15. Die letzten beiden Hervorh. v. mir. Ich greife in diesem und in den beiden folgenden Abschnitten auszugsweise zurück auf Sandkühler 2014. 22 Dreier in ders. 2004, Art. 1 I, Rn. 40. 23 Stolleis 2012, S. 156. 24 Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 1: Vorgeschichte, bearb. v. J. V. Wagner, Boppard am Rhein 1975. Zum Schlusskommuniqué vom 7. Juni 1948 vgl. ebd., S. 1–17. 25 Vgl. ebd., S. XXV–XXVII. Zu den den Ministerpräsidenten von den Militärgouverneuren am vom 1. Juli 1948 vorgelegten ›Grundzügen‹ des Besatzungsstatuts vgl. Frankfurter Dokument Nr. III, in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. 33–36. Die Ministerpräsidenten berieten vom 8.–10. Juli 1948 in Koblenz über die Frankfurter Dokumente (vgl. ebd., S. 60–142) und legten als Antwort auf das Frankfurter Dokument Nr. III ›Leitsätze für ein Besatzungsstatut‹ vor (ebd., S. 148–150). Zur verärgerten Reaktion der Militärgouverneure auf die Koblenzer Beschlüsse vgl. ebd., S. 163–171; es wurde geltend gemacht, dass sie das Londoner Sechs-Mächte-Abkommen u. a. dadurch gefährdeten, dass statt von der geforderten ›Verfassung‹ nur von einem ›Grundgesetz‹ die Rede sei (ebd., S. 167). 20 21
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sidenten von Bayern, Hessen, Württemberg-Baden und Bremen vom 5. Juli 1948: »Bei der Beurteilung der Frankfurter Vorschläge muß davon ausgegangen werden, daß das Besatzungsstatut auf unser öffentliches Leben und unsere Meinung eine unmittelbarere Wirkung haben wird als die ›Verfassung‹. Wenn das Besatzungsstatut so ausfällt, daß das deutsche Volk es als das Mittel zur rechtlichen Konsolidierung einer als lästig empfundenen Fremdherrschaft ablehnt, so wird es die Verfassung nur als ein Anhängsel des Besatzungsstatuts und als einen ›Importartikel‹ betrachten können. Besatzungsstatut und ›Verfassung‹ sollten deshalb im vollen Licht der Öffentlichkeit ausgearbeitet werden. Die vorgeschlagene Lösung krankt an dem Hauptfehler des Versailler Vertrags: Die Alliierten, unter sich uneinig, brauchen die Zustimmung des deutschen Volkes zu ihren Vereinbarungen, können sich aber nicht entschließen, von Anfang an mit uns zu verhandeln. Dadurch, daß es uns gestattet wird, einige Retuschen zu einem bereits festliegenden Text vorzuschlagen, von denen die Hälfte zurückgewiesen werden wird, kann eine deutsche Mitarbeit nachträglich nicht konstruiert werden.« 26 Die Ministerpräsidenten wurden von den Alliierten zur Einberufung einer ›Verfassunggebenden Versammlung‹ mit dem Ziel der Ausarbeitung einer ›demokratischen Verfassung‹ mit Garantien der ›individuellen Rechte und Freiheiten‹ 27 aufgefordert. Doch sie befürchteten negative Konsequenzen für die deutsche Einheit und stimmten nach kontroversen Beratungen nur der Bildung eines ›Parlamentarischen Rats‹ mit der Aufgabe zu, »a) ein Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebiets der Westmächte und ein Wahlgesetz für eine demokratische Vertretung auszuarbeiten, b) ein Wahlgesetz für eine auf allgemeinen und direkten Wahlen beruhende trizonale Volksvertretung zu erlassen.« 28 Die Ministerpräsidenten kamen überein, über das GG nicht durch Volksabstimmung (Referendum), sondern durch Abstimmung in den Landtagen entscheiden zu lassen. Die Entscheidung, das GG ohne Volksabstimmung in Kraft zu setzen, stand in Kontrast zur Aussage der später beschlossenen Präambel, »das Deutsche Volk«
Ebd., S. 37. Frankfurter Dokument Nr. I, in: ebd., S. 30 f. 28 Ebd., S. 123. Zur Rechtsgrundlage – »Schaffung eines Modellgesetzes für die Errichtung des Parlamentarischen Rates« – vgl. ebd., S. 283–290. 26 27
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Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹
habe sich »kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben«.
Der vorbereitende ›Verfassungskonvent‹ Den Beratungen des Parlamentarischen Rates ging ein ›Verfassungskonvent‹ voraus, dem laut Beschluss einer Konferenz der Ministerpräsidenten vom 21./22. Juli 1948 die Aufgabe übertragen wurde, »einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, der dem Parlamentarischen Rat als Vorlage dienen soll«. 29 Dieser ›Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen‹ befasste sich im Plenum und in drei Unterausschüssen vom 10. bis 23. August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee mit dem Entwurf zu einem GG »für einen Bund deutscher Länder«. Jedes Land entsandte einen Delegierten 30 und hochrangige Mitarbeiter in den mit Verfassungsexperten besetzten Konvent. Die – zu vielen Problemen kontroversen 31 – Beratungen begannen nicht in einer verfassungspolitischen ›Stunde Null‹ ; bereits zuvor hatte es in Parteien wie SPD und CDU Der Parlamentarische Rat, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. P. Buchter, Boppard am Rhein 1981, S. IX. 30 Die Bevollmächtigten der Länder waren: Baden: Paul Zürcher, Freiburg i. Br., Präsident des Badischen Staatsgerichtshofs; Bayern: Josef Schwalber, München, Staatssekretär; Bremen: Theodor Spitta, Bürgermeister; Hamburg: Wilhelm Drexelius, Senatssyndikus (Staatssekretär); Hessen: Hermann Louis Brill, Wiesbaden, Staatssekretär; Niedersachsen: Justus Danckwerts, Hannover, Ministerialrat; Nordrhein-Westfalen: Theodor Kordt, Professor für Völkerrecht und Diplomatie in Bonn; Rheinland-Pfalz: Adolf Süsterhenn, Koblenz, Justiz- und Kulturminister; SchleswigHolstein: Fritz Baade, Professor am Kieler Institut für Weltwirtschaft; WürttembergBaden: Josef Beyerle, Stuttgart, Justizminister; Württemberg-Hohenzollern: Carlo Schmid, Tübingen, Justizminister. 31 Neben verfassungsrechtlichen und staatsorganisatorischen Detailfragen (ZweiKammer-System, Stellung eines Bundespräsidenten etc.) wurde um eine föderale Staatsstruktur mit weitreichenden Spielräumen für die Länder bzw. um eine zentralistische Struktur gerungen. Carlo Schmid bilanzierte nach dem Ende des Konvents: »Die Mitglieder des Ausschusses waren […] zunächst Techniker des Verfassungsrechtes. Sie hatten aber auch eine wichtige politische Funktion zu erfüllen. Diese bestand in der Aufgabe, deutlich zu machen, durch welche Grundvorstellungen die politische Auseinandersetzung heute bestimmt wird. Neben Parteistandpunkten, die im wesentlichen in einer verschiedenen Beurteilung des spezifischen Gewichts des Faktors ›Land‹ und des Faktors ›Zentralgewalt‹ zum Ausdruck kamen, machten sich auch, zum Teil über eine Parteizugehörigkeit der Länderdelegierten hinweg, sehr verschiedene Standpunkte der einzelnen Länder geltend, die in dem Verlangen nach mehr 29
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sowie in einzelnen Ländern – wie etwa Bayern 32 – verschiedenste Überlegungen und Entwürfe zu einer neuen Verfassung gegeben. 33 Dem Vorschlag des Konvents zufolge sollte nach der Einigung darüber, dass »die aufzunehmenden Grundrechte im wesentlichen auf die klassischen Individualrechte zu beschränken seien« 34, ›Art. A‹ des Grundgesetzes lauten: »(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.« 35
Der Parlamentarische Rat 1948–1949 Dem am 1. September 1948 konstituierten Parlamentarischen Rat gehörten unter Leitung von Konrad Adenauer (CDU) 65 stimmberechtigte Abgeordnete der westlichen Besatzungszonen und fünf nicht stimmberechtigte Abgeordnete aus Berlin (West) an: CDU/CSU und SPD (je 27 Abgeordnete), FDP (5), KPD, Zentrumspartei und Deutsche Partei (DP) (je 2). Im Parlamentarischen Rat trafen Gegner und Opfer des Nationalsozialismus auf Abgeordnete mit NS-Vergangenheit aufeinander: Hermann Höpker-Aschoff (FDP, Chefjurist der Haupttreuhandstelle Ost), Hans-Christoph Seebohm (DP, Mitbegründer der Egerländer Bergbau AG, einer ›Auffanggesellschaft‹ zur Übernahme jüdischen Eigentums), Paul Binder (CDU, Arisierungsexperte der Dresdner Bank), Adolf Blomeyer (CDU, Reiter-SA), Lambert Lensing (CDU, SA) und Hermann von Mangoldt (CDU). In der 2. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen berichteten Anton Pfeiffer und Carlo Schmid über den Herrenchiemsee-Verfassungskonvent, 36 dessen Ergebnisse Carlo Schmid als »Arbeitshiloder weniger Föderalismus zum Ausdruck kamen« (Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. CXXIX). 32 Zum ›Bayerischen Entwurf eines Grundgesetzes für den Verfassunskonvent‹ vgl. ebd., S. 1–34. Es handelte sich um eine Art Staatsorganisationsgesetz ohne Nennung der Würdenorm und von Grundrechten. Dieses Defizit wurde durch eine ›Ergänzung zu den Bayerischen Leitgedanken für die Schaffung eines Grundgesetzes‹ behoben: »Die Freiheitsrechte gewährleisten Menschenwürde […]«. Vgl. ebd., S. 44. 33 Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. XXVIII f. 34 So im Bericht des mit Grundsatzfragen befassten Unterausschusses I, ebd., S. 216. 35 Ebd., S. 217. 36 Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 3–9.
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fe« und als ein »Memorandum« bezeichnete, das »keine Vorlage« sei und »überhaupt keinen offiziellen Charakter« habe. 37 Anlässlich der Festsetzung der Beratungsthemen und nach dem Vorschlag von Schmid, sich zunächst »dem Kapitel zu[zu]wenden, dem das logische Prius zukommt: den Grundrechten«, warf Theodor Heuss folgende »Vorfrage« auf: »Sollen die Grundrechte einen deklaratorischen oder aber einen juristisch verbindlichen Charakter haben? Darüber müßte man sich von Anfang an klar sein. Die Frage ist: Soll es sich bei den Grundrechten um Bekenntnisse handeln, zu denen wir uns hier zusammenfinden, oder wollen wir dem Staatsbürger im bürgerlichen Leben praktisch-juristische Handhaben geben, die einklagbar sind?« Es entspann sich eine längere Debatte: »Zinn: Ich meine, man sollte von allem absehen, was deklaratorischen Charakter, was den Charakter eines Bekenntnisses hat. Wir sollten uns darauf beschränken, nur jene Grundrechte aufzuführen, die reale Bedeutung haben. Auf diese Weise kommen wir am schnellsten voran. Vors. Dr. von Mangoldt: […] Zunächst müssen wir uns über den Umfang der Grundrechte klar werden. Sollen wir uns auf einen kurzgefaßten Katalog beschränken? Sollen wir nur gewisse Grundsätze in die Präambel aufnehmen? Oder sollen wir einen besonderen Grundrechtsteil schaffen? Man kann darüber streiten. Die einzelnen Grundrechte haben eine lange Geschichte, und man wird bei dem einen oder anderen Grundrecht wohl auf Einzelheiten eingehen müssen. Dr. Bergsträsser: Über die personellen klassischen Grundrechte liegt viel Material vor, das einer unmittelbaren Bearbeitung durchaus zugänglich ist. Man denke an das Recht auf Freiheit und Gleichheit. Außerdem liegt uns der Herrenchiemseer Bericht als Leitfaden vor. Ferner haben wir die übrigen Verfassungen zur Hand, neuerdings auch den Entwurf der UNO [zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte]. Die Formulierungen dürften zum großen Teil nicht strittig sein. Überdies sind die personellen Grundrechte mit den übrigen Fragen der Verfassung nicht unmittelbar verzahnt, dürften also schnell klärungsreif sein. […] Dr. Schmid: Auch ich halte es für unnötig, über die Frage der Grundrechte umfassende Vorbesprechungen zu pflegen. Es tritt ja einigermaßen klar zutage, wo es sich im einzelnen Falle um ein echtes Grundrecht handelt, also um ein konkretes Recht, oder nur um eine Deklamation. Ich halte es überhaupt für sinnwidrig, Deklamationen und Deklarationen in die Verfassung aufzunehmen. Wohl aber ist es 37
Ebd., S. 6.
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praktisch notwendig, einen Katalog jener Grundrechte aufzustellen, die bindendes Recht für die Gerichte sind und auf die sich der einzelne Bürger berufen kann, um einen konkreten Rechtsanspruch einzuklagen oder umgekehrt einen Eingriff des Staates in seine Freiheitssphäre abzuwehren. Man kann sich auch darüber verständigen, ob es sich verlohnt, die sogenannten Lebensordnungen, diese ›unechten‹ Grundrechte in den Katalog aufzunehmen. Ich meine, für unsere Verfassung ist das nicht notwendig. Sie ist nur ein Notdach, und zudem ist ein Drittel des Volkes zur Bestimmung dieser Lebensordnungen noch nicht zugelassen. […] Vors. Dr. von Mangoldt: So einfach liegt die Frage doch nicht. Wenn man von den Grundrechten spricht, dann ist die Garantie der Grundrechte in diesem unserem Staatswesen von wesentlicher Bedeutung. Sofort erhebt sich die Frage: Inwieweit können wir in diesem Staat die Grundrechte überhaupt garantieren? Diese Frage hängt mit der Staatsform unmittelbar zusammen. Es besteht die Gefahr, daß der Vorwurf, den man wegen der Festlegung der Grundrechte in den Verfassungen der süddeutschen Länder erhoben hat, in gleicher Weise uns gegenüber auftauchen wird, daß Freiheiten festgelegt werden, die praktisch nicht durchführbar sind, weil sie von der Stellungnahme der Besatzungsmacht abhängen. Vielleicht wäre es sogar zweckmäßig, besonders zu erklären, daß die Garantie der im Katalog aufgeführten Grundrechte weitgehend von dem Ermessen der Besatzungsmächte abhängig ist. Es gibt ja nichts Schlimmeres in unserer ganzen Entwicklung, als wenn man den Mangel an Vertrauen in das neue Recht noch verschärft.« 38 Strittig war neben der Frage, ob man in das zu schaffende GG nur die ›klassischen‹ Grundrechte (negative Freiheitsrechte bzw. Abwehrrechte) aufnehmen solle oder auch soziale und wirtschaftliche Grundrechte, vor allem eine zweite Frage: Sollten die Grundrechte im Sinne des Naturrechts als vorstaatliche bzw. vorverfassungsrechtliche Rechte verstanden und begründet werden oder als Normen positiven Verfassungsrechts? 39 Der Liberale Th. Heuss glaubte »nicht an die von Natur aus eigenen Rechte«. An seine Frau schrieb er am 23. 9. 1948, er habe »die Genugtuung, das antistaatliche ›Naturrechts‹-Gerede enttarnt zu haben«. 40 Auch H. v. Mangoldt räumte ein, »daß mit dem Naturrecht 38 39 40
Ebd., S. 9 f. Vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. 821; Isensee-Kirchhof 2012, § 204, S. 21 f. Heuss 2007, S. 409.
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allein […] bei der praktischen Verwirklichung der Rechte des einzelnen sehr wenig anzufangen ist«. 41 Als Berichterstatter vertrat der Hessische Minister für Justiz August Zinn (SPD) in der 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen die These, man könne die Grundrechte »in einem gewissen Umfang in das Staatsgrundgesetz aufnehmen, wenn man sie als vorverfassungsmäßiges Recht ansieht. Nach den Exzessen der staatlichen Macht in den vergangenen 12 Jahren haben auch die klassischen Grundrechte wieder eine evidente Bedeutung erlangt. […] Dabei kann es sich allerdings nur um einen beschränkten Kreis von Grundrechten, um die sogenannten klassischen Grundrechte handeln: das allgemeine Freiheitsrecht, das Recht der persönlichen Freiheit, das Recht der Gewissens- und Glaubensfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, alles Rechte, die seither allgemeine Anerkennung gefunden haben.« 42 H. v. Mangoldt nahm das Thema ›vorverfassungsmäßige Rechte‹ unter dem Titel ›Naturrecht‹ auf 43: Es sei »richtig ausgeführt worden, daß die Grundrechte vielfach als Rechte anzusehen sind, die vor der Verfassung stehen. In der allgemeinen Aussprache im Plenum wurde wiederholt gefordert, daß wir zum Naturrecht zurück müßten. Dieser Ruf: Zurück zum Naturrecht! besagt: Vor dem geschriebenen Gesetz gibt es Rechtssätze, die, ohne geschrieben zu sein, allgemein bindenden Charakter haben. Vielfach hat man die Grundrechte nicht in die Verfassungen aufgenommen, weil man sagte, diese ungeschriebenen Rechtssätze lebten unmittelbar im Volke, im Volksbewußtsein, seien Allgemeingut, und deshalb brauche man sie nicht zu fixieren. Gerade die jüngere Vergangenheit hat uns aber gezeigt, wie notwendig es ist, solche Grundrechte dem Volke ins Gedächtnis zurückzurufen, indem man sie in der Verfassung verankert. Man hat in der allgemeinen Aussprache im Plenum mehrfach gesagt, in den Grundrechten sei etwas festgelegt, was dem Naturrecht angehöre; damit verankre man etwas, was vorverfassungsrechtlich sei. Ich möchte nun gern die Auffassung des Ausschusses feststellen, ob es sich empfiehlt, die vorverfassungsrechtlichen Grundrechte von den anderen zu trennen. […] Wir müssen uns nun entscheiden, ob wir im Hinblick auf die ErfahDer Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 68 und 72–75. Ebd., S. 35. Hervorh. v. mir. 43 H. v. Mangoldts These lautete, »daß die Grundrechte auf vorstaatlichen Rechten beruhen, die von Natur gegeben sind« (ebd., S. 63). 41 42
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rungen der jüngeren Vergangenheit solche vorverfassungsrechtlichen Sätze aufnehmen wollen. Ich würde die Frage bejahen und in dieser Richtung keine Schranke annehmen. Erhebt sich Widerspruch? – Dann darf ich das als zweiten Beschluß des Ausschusses feststellen.« 44 H. v. Mangoldts Interpretation der Grundrechte stieß bei Th. Heuss auf Widerspruch: »Man hat heute viel vom Vorverfassungsrecht, von Naturrecht gesprochen. Wir sollten das nicht allzu stark betonen. Ich habe vor dem Naturrecht allen ihm gebührenden Respekt. Aber das Naturrecht ist wohl mehr eine moralisch-pädagogische These. Man kann ein Naturrecht nicht einklagen. Man muß auch die naturrechtlichen Grundpositionen in eine Form bringen, die zwar nicht die Enge, wohl aber die Klarheit des Juristischen hat. Wir werden bei zahllosen Formulierungen vor der Frage stehen, wie die Ordnung im einzelnen zu gestalten ist. Wir werden die Juristen, den Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die Verwaltung ansprechen; gleichzeitig wollen wir aber auch den Bürger als solchen ansprechen. Wir stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen juristischer Formulierung und moralisch-politischer Deklaration. Es gilt, die Dinge zu konkretisieren.« 45 In diesem Kontext und erst in der 3. Ausschusssitzung tauchte der Begriff ›Menschenwürde‹ auf. Th. Heuss erklärte: »Ich habe mir als Art. 1 ausgedacht: Die Würde des menschlichen Wesens steht unter dem Schutz staatlicher Ordnung. Das ist Proklamation, Deklaration und Rechtssatz.« 46 In der 4. Sitzung lag folgende von Bergstraesser, Zinn und v. Mangoldt vorbereitete Formulierung vor: »Art. 1 Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaften an. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltungs- und Rechtspflege auch in den Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden.« 47 H. v.
Ebd., S. 40; »keine Schranke annehmen« bedeutet, bestimmte Grundrechte nicht unter Gesetzesvorbehalt zu stellen. 45 Ebd., S. 44; vgl. ebd., S. 72. 46 Ebd., S. 52. 47 Ebd., S. 62, Fn. 3. Einer vom Allgemeinen Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates in erster Lesung formulierten Fassung zufolge sollte Art. 1 lauten: »Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist heilige Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 578). Die in zweiter Lesung 44
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Mangoldt erläuterte: »Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird.« 48 In der Debatte pro oder contra Naturrecht wandte C. Schmid ein: »Mir liegt daran, folgendes klarzulegen. Es handelt sich nicht darum, daß wir, von einem philosophischen Naturrechtsdenken ausgehend, sagen: da der Mensch wesensmäßig durch das und das determiniert ist, ergeben sich daraus die und die natürlichen Rechte. Vielmehr müssen wir von einem historischen Naturrechtsbegriff, der nur scheinbar eine contradictio in adjecto ist, ausgehen und sagen: In dieser Sphäre der geschichtlichen Entwicklung sind wir Deutsche nicht bereit, unterhalb eines Freiheitsstandards zu leben, der den Menschen die und die und die Freiheiten als vom Staate nicht betreffbar garantiert.« 49 In dieser Debatte begründete Th. Heuss seine vielzitierte Formulierung zur ›Menschenwürde‹ als »nicht interpretierte These« 50: »Der erste Satz muß sozusagen das Ganze decken. Ich habe da vor mir selber ein Gefühl der Unsicherheit. Ich möchte bei der Formung des ersten Absatzes von der Menschenwürde ausgehen, die der Eine theologisch, der Andere philosophisch, der Dritte ethisch auffassen kann. Ich bin so zu folgender Fassung gekommen: Die Würde des menschlichen Wesens steht im Schutze der staatlichen Ordnung.« 51 Adolf Süsterhenn (CDU, Justiz- und Kultusminister von Rheinland-Pfalz) erklärte: »Wir müssen wieder zurück zu der Erkenntnis, daß der Mensch nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist. […] Höchstwert ist für uns die Freiheit und die Würde der menschlichen Persönlichkeit. Ihnen hat der Staat zu dienen, indem er die äußeren Voraussetzungen und Einrichtungen schafft, die es dem Menschen ermöglichen, seine körperlichen und geistigen Anlagen zu entwickeln, seine Persönlichkeit innerhalb der durch die natürlichen Sittengesetze gegebenen Schranken frei zu entfalten. Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einangenommene Fassung lautete: »Die Würde des Menschen steht unter dem Schutz der staatlichen Ordnung« (ebd., S. 784). 48 Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 64. 49 Ebd., S. 67. 50 Ebd., S. 72. Zu den weiteren Debatten über die Menschenwürdenorm in der 22., 23. und 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vgl. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 584–604 und 910–913. 51 Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 67.
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zelnen und der innerstaatlichen Gemeinschaften durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern. Der Staat darf nicht Selbstzweck sein, sondern muß sich seiner subsidiären Funktion gegenüber dem Einzelmenschen und den verschiedenen innerstaatlichen Gemeinschaften stets bewußt bleiben. Das ist aber nur möglich, wenn wir uns endgültig von dem Geiste des Rechtspositivismus abwenden, wonach der in ordnungsmäßiger Form zustandegekommene staatliche Gesetzesbefehl immer Recht schafft ohne Rücksicht auf seinen sittlichen Inhalt. Der Staat ist für uns nicht die Quelle allen Rechts, sondern selbst dem Recht unterworfen. Es gibt […] vor- und überstaatliche Rechte, die sich aus der Natur und dem Wesen des Menschen und der verschiedenen menschlichen Lebensgemeinschaften ergeben, die der Staat zu respektieren hat. Jede Staatsgewalt findet ihre Begrenzung an diesen natürlichen, gottgewollten Rechten des einzelnen, der Familien, der Gemeinden, der Heimatlandschaften und der beruflichen Leistungsgemeinschaften. Es ist die Aufgabe des Staates, diese Rechte zu schützen und zu wahren.« 52 Süsterhenn erklärte in der Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 20. Oktober 1948 »Die alten Naturrechtslehrer der Scholastik haben einmal von der sogenannten vis directiva, der Direktionskraft, der sozialpsychologischen und sozialpädagogischen Wirkung eines guten Gesetzes gesprochen. Ich bin der Meinung, wir müssen auch dieses Verlangen haben, daß eine solche volkspädagogische, sozialpsychologische dirigierende Kraft von dem Gesetz auszugehen hat, das wir hier schaffen wollen. […] Deshalb sind wir der Meinung, daß sowohl in der Präambel wie auch in dem wesentlich mit der Präambel zusammengehörigen Artikel 1. eine solche metaphysische Verankerung der ewigen menschlichen Freiheitsrechte erfolgen müßte, eine Verankerung, die etwa in der Weise geschehen könnte, daß zu dem Artikel 1 der Grundrechte […] der Zusatz hinzugefügt wird: Die Würde des Menschen ist begründet in ewigen, von Gott gegebenen Rechten.« 53 Süsterhenns Redebeiträge ließen sich als Plädoyers für die katholische Verfassungs- und Staatslehre und für das Naturrecht als
Ebd., S. 55. Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 185. Th. Heuss antwortete darauf, man müsse vorsichtig sein, »diese sehr diesseitigen Werke zu stark im Metaphysischen verankern zu wollen, weil man sich selber dann in eine quasi Nichtverantwortung begibt« (ebd., S. 196).
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Gegengewicht zum Rechtspositivismus verstehen. 54 Bereits 1947 hatte er sich zum Thema »Verdrängung und Wiedererwachen des Naturrechts« gegen einen »metaphysik- und naturrechtsfeindlichen Positivismus« gewandt, gegen die »Herrschaft des Rechtspositivismus […], der im Staat die einzige Quelle des Rechtes erblickte, durch Trennung von Recht und Sittlichkeit den Rechtsgedanken inhaltlich aushöhlte, jede metajuristische Begründung des Rechts verneinte und sich in einem staatsomnipotenten Normativismus erschöpfte.« 55 Hermann von Mangoldt bilanzierte in der 42. Sitzung des Hauptausschusses am 18. Januar 1949: »In den Grundrechten sollte […] das Verhältnis des einzelnen zum Staate geregelt werden, der Allmacht des Staates Schranken gesetzt werden, damit der Mensch in seiner Würde wieder anerkannt werde. Dabei wurden diese Rechte als vorstaatlich betrachtet, und zwar je nach dem weltanschaulichen Standpunkt als von Gott gegebene und angeborene oder als naturgegebene und unveräußerliche Rechte.« 56 Noch in der Zehnten Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 wurde in den Beratung zum GG in 3. Lesung seitens der CDU im Kontext der Probleme des Staatskirchenrechts und des Elternrechts für eine enge Verbindung von Christentum, Naturrecht und Staat plädiert. In Auseinandersetzung mit Th. Heuss erklärte der CDU-Abgeordnete Finck im Kontext der Grundrechte-Debatte, es handele sich »um nichts anderes als um die Begegnung zwischen Christentum und Staat, um die Berührung von Religion und Politik, von Staat und Kirche, die Berührung der Staatsrechte mit den elementarsten, natürlichen und unserer Ansicht von Gott gegebenen Menschenrechten. […] Es ist eine Naturnotwendigkeit und geschichtliche Tatsache: Staat und Kirche begegnen sich, seit es einen Staat und seit es eine Kirche, seit es Religion und Politik gibt.« 57 Deshalb gelte es, den Kampf weiterzuführen »für ein neues,
Süsterhenn 1950 hat vom »Durchbruch des Naturrechts in der deutschen Verfassungsgesetzgebung nach 1945« gesprochen. Zu denen, deren Grundrechtsverständnis sich auf die Prinzipien des christlichen Naturrechts gründete, gehörte auch die CDUAbgeordnete Helene Weber, die enge Kontakte zu den Interessenvertretern der katholischen Kirche beim Parlamentarischen Rat wie z. B. zu Prälat Wilhelm Böhler, dem Beauftragten von Joseph Kardinal Frings, Erzbischof von Köln, pflegte. 55 Süsterhenn 1962 [1947], S. 16. 56 Zit. n. Otto 1971, S. 7. 57 Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 573. 54
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verbessertes Grundgesetz im Sinne eines christlichen Staatsgrundgesetzes«. 58 Im Parlamentarischen Rat hat Carlo Schmid derartigen Forderungen widersprochen: »Die große Begeisterung für das Naturrecht, die sich heutzutage überall manifestiert, ist eine Gegenbewegung gegen die absolute Abneigung des deutschen juristischen Positivismus gegen das Naturrecht, den man für die Rechtsverleugnung unter dem Naziregime überhaupt verantwortlich macht, wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ›Naturrecht‹ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen, ist eine gefährliche Sache. […] Wenn wir an dem Satz von dem naturgegebenen Recht festhalten, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit jedermann freistellen, zu sagen, Naturrecht, wie ich es auffasse.« 59 In der Tat darf man nicht unterstellen, »es sei den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht bewußt gewesen, daß sie mit ›Naturrecht‹ und ›überpositivem Recht‹ dasselbe sagten, dabei aber nicht dasselbe meinten. Gewiß: Angesichts der gewollten Überwindung des Nationalsozialismus und des staatsrechtlichen Positivismus, der in fast übertriebener Weise für alles Elend der Rechtsordnung verantwortlich gemacht wurde, war man sich einig. Auch die Berufung auf unveräußerliche Menschenrechte und damit auf die universellen Natur- und Menschenrechtskonzeptionen der Aufklärung erschien nahezu selbstverständlich. Bis in die Formulierungen hinein wurde aber deutlich, daß das Naturrecht sich eben aus unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Quellen speist, die sich vereinfachend mit ›christlichabendländisch‹ einerseits und ›säkulares Vernunftrecht‹ andererseits kennzeichnen lassen. Beide waren im Parlamentarischen Rat hoch präsent – und das war den Mitgliedern auch bewußt.« 60 Wo es um das Naturrecht ging, stand immer auch Kritik am Rechtspositivismus im Hintergrund: »Erzählt wird […] die Geschichte der ›Wiederkehr‹ des Naturrechts vor allem, um das Scheitern seines Antipoden, des ›Positivismus‹ zu erklären. Gerade dafür benötigt
Ebd., S. 576. Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/1, S. 64 f. Zur Konzeption eines nationalsozialistischen ›völkischen‹, auf ›Gemeinschaft‹ statt auf ›Gesellschaft‹ abhebenden Naturrechts vgl. H. H. Dietze, Naturrecht in der Gegenwart, Bonn 1936. 60 Hufen 1999, S. 1506. 58 59
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man die ›Figur‹ der Wiederkehr: Während man sonst gerne vom ›ewigen‹ Problem des Naturrechts spricht, inszeniert man jetzt 1945 als Menetekel des Positivismus mit anschließendem Wiederkehr-Finale.« 61 Dies wurde bereits im Bericht des Herrenchiemsee-Verfassungskonvents an den Parlamentarischen Rat zur Verortung der Grundrechte in der historischen Situation deutlich: »Der berechtigte Gesetzesglaube der Frühzeit wich auf Grund der Erfahrungen, die man mit einer steuerlosen oder sogar in den Dienst des Verbrechens gestellten Gesetzgebungsmaschine gemacht hat, dem heutigen tiefen Mißtrauen gegen einen bloßen Gesetzespositivismus.« 62 Endgültig beschlossen 63 wurde die über die ersten Normierungen in Landesverfassungen hinausgehende Formulierung 64, die mit Winkler 2005. Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. 512. Für Zajadlo 1987, S. 218, belegt die »Genese der normativen ›antipositivistischen‹ Lösungen des Grundgesetzes« eine »gewisse Hinwendung des Verfassunggebers zu Naturrechtsvorstellungen. Der Topos ›Überwindung des Rechtspositivismus‹ steht selbstverständlich nicht direkt im Grundgesetz, weil er – als ein Ganzes betrachtet – keine normative Kategorie bildet. Andererseits kommt ihm zugleich eine bestimmte normative Kraft zu, da: (1) sein Inhalt aus konkreten Normen besteht (insbesondere Art. 1, 19 Abs. 2, 20 Abs. 3,79 Abs. 3); (2) er zu den sog. ›hintergründigen Konstitutionsprinzipien‹ gehört. […] Im ersten Fall haben wir es mit direkt geltenden Normen des Grundgesetzes, im zweiten dagegen höchstens mit Auslegungsanforderungen des sog. ›Geistes der Verfassung‹ zu tun. Beide Aspekte treffen sich jedoch auf dem Boden der Genese des Grundgesetzes.« 63 Das GG wurde im Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 mit 53 Ja- bei 12 NeinStimmen angenommen. Sechs Abgeordnete der CSU, die Abgeordneten der DP, der Zentrumspartei sowie der KPD votierten mit ›Nein‹. Die Militärgouverneure, mit denen zähe Verhandlungen stattgefunden hatten (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Bd. 8: Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen, bearb. v. M. F. Feldkamp, Boppard am Rhein 1995), genehmigten das GG am 12. Mai 1949 (vgl. ebd., S. 264–269) mit einigen in einem Schreiben der Militärgouverneure an Konrad Adenauer vom 12. Mai 1949 formulierten Vorbehalten, vor allem im Hinblick auf den Sonderstatus Berlins sowie den Vorrang des am 12. Mai 1949 von den drei Militärgouverneuren und Oberbefehlshabern förmlich verkündeten ›Besatzungsstatuts‹ vor der deutschen Gesetzgebung, das die Abgrenzung der Befugnisse und Verantwortlichkeiten zwischen der künftigen deutschen Bundesregierung und der Alliierten Hohen Kommission regelte. 64 Diese Formulierung entspricht der vom Allgemeinen Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates am 13. Dezember 1948 vorgelegten Fassung (Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/2, S. 876), den vom Fünfer-Ausschuss für die dritte Lesung des GG im Hauptausschuss eingebrachten Änderungsvorschlägen (Der Parlamentarische Rat, Bd. 7, S. 298) sowie der vom Hauptausschuss in vierter Lesung angenommenen Fassung (5. Mai 1949, ebd., S. 532). 61 62
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dem GG am 23. Mai 1949 in Kraft trat: »Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.« Das GG ist ein normatives Gegenprogramm, in erster Linie gegen den Nationalsozialismus, aber unter den Bedingungen des beginnenden ›Kalten Krieges‹, der deutschen Teilung und der sich abzeichnenen Eigenstaatlichkeit der DDR auch gegen den ›Bolschewismus‹, gegen ›den Russen‹, gegen ›Pankow‹ – für Konrad Adenauer und die CDU, aber auch für die Sozialdemokratie und die Liberalen das Sinnbild des Bösen schlechthin. Das GG war trotz seines Kompromisscharakters und trotz des Fehlens detaillierter sozialer Grundrechte als Programm das Signal für einen wirklichen Neubeginn nach 1945. Doch der mit ihm verbundene Geltungsanspruch traf auf eine Faktizität, in der seine Akzeptanz auf Hindernisse stieß. Nicht nur, dass seine Legitimität und Repräsentativität von radikal föderalistischen Kreisen wie in Bayern, von noch bestehenden nationalistischen Parteien, von katholischen Organisationen und Institutionen sowie von Kommunisten bestritten wurde, die den ›Weststaat‹ als Instrument der ›imperialistischen USA‹ ablehnten; und nicht nur, dass das GG – wie zuvor die Nürnberger Prozesse – als Werk der Siegermächte denunziert wurde. Die eigentlichen Barrieren bestanden in der Mentalität großer Teile der Bevölkerung, für die Pluralismus, Parlamentarismus, Republik und Demokratie keine verinnerlichten Werte waren, die Weimarer Republik nichts als Scheitern bedeutete und ›unter Hitler nicht alles schlecht war‹. In dieser Situation wurde die Politik des ›Schlussstrichs unter die Vergangenheit‹ in dem Maße mehrheitlich hingenommen oder begrüßt, wie das Schreckgespenst des Bolschewismus mobilisiert werden konnte und der zum ›Wirtschaftswunder‹ führende materielle Wiederaufbau als der eigentliche Neubeginn gefeiert wurde. Ein typisches Beispiel für die fortgesetzte Polemik gegen den Rechtspositivismus bietet der katholische Theologe J. Messner, der eng mit dem seit 1933 diktatorisch regierenden österreichischen E. Dollfuß (1933–1938) und dessen ständestaatlicher Konzeption liiert war. Er beantwortete noch 1974 im Kontext seiner Begründung 218 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
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der »Renaissance des Naturrechts« die Frage, »wie ein hochzivilisiertes Volk wie das deutsche unter die Herrschaft einer Regierung geraten konnte, die sich in Verbrechen gegen die Menschenrechte in besonderer Weise hervortat«, umstandslos so: »Kein anderer Grund ist dafür denkbar, als daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Rechtspositivismus, der keine Grundlage natureigener Menschenrechte anerkennen wollte, Rechtsqualität nur dem aus menschlicher Setzung entstammenden Recht zuerkannte, mit dieser Akzentsetzung die Rechtswissenschaft fast völlig beherrschte und auch im allgemeinen Rechtsbewußtsein eine ideologisch-pragmatische Rechtsauffassung (›Recht ist, was dem Volk nützt‹) begründen half.« 65 Solchen Verteidigern des Naturrechts war der Gedanke fremd, den B. Rüthers et al. so formuliert haben: »Wer sich in einem totalitären Unrechtsstaat auf Naturrechte beruft, rechtfertigt damit seinen revolutionären Widerstand. Wer in freiheitlich-demokratischen Systemen auf das Naturrecht rekurriert, der setzt es für den Herrschaftsanspruch seiner Minderheit über den Willen der Mehrheit ein. Das Naturrecht rechtfertigt im Extremfall den Einsatz von Gewalt gegen die bestehende Ordnung mit juristischen Argumenten. Darin liegen die politischen Chancen und Risiken dieser Argumentationsfigur.« 66 Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945 war verbunden mit dem gängigen – Selbstentlastung anzeigenden – Fehlurteil, der Rechtspositivismus habe mit seiner Naturrechtskritik die Weimarer Republik wehrlos gemacht und die nationalsozialistische Diktatur begünstigt. Dies war ein Fehlurteil, weil gerade Gegner der Weimarer Republik und Propagandisten einer nationalsozialistischen Rechtswissenschaft und Justiz antipositivistische Positionen vertreten hatten. Nicht der Rechtspositivismus, sondern »die Gegnerschaft zum formalistischen Positivismus [hat] zur Delegitimierung ›Weimars‹ beigetragen«. 67 Stolleis hat gute historische Gründe für sein Fazit: »Positivistische Methodik konvergierte nicht immer, aber doch oft, mit Zustimmung zur Republik. Feindschaft gegenüber dem Positivismus konvergierte oft mit Feindschaft gegenüber der Republik«. 68
65 66 67 68
Messner 2004, S. 219; entsprechend auch ebd., S. 228 und 298. Rüthers/Fischer/Birk 2011, S. 257. Vollrath 1998, S. 48 Stolleis 1994, S. 133 f.
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Naturrecht in der Rechtsprechung nach 1945 Das Naturrecht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für längere Zeit auch in der Rechtsprechung zum favorisierten Mittel der Wahl gegen den Rechtspositivismus 69: Ab 1946 bekannten sich Rechtslehre und Rechtsprechung mehrheitlich – oft unabhängig von der konkreten Prüfung eines NS-Gesetzes – zur Radbruchsehen Lehre vom übergesetzlichen Recht und gesetzlichen Unrecht. Die Radbruchsche Verleugnungsthese fand – fast wörtlich – Eingang in die sogenannte Kernbereichstheorie des BGH: »Im Bewußtsein aller zivilisierten Völker [besteht] ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner sonstigen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. […] Der Senat hat deshalb […] ausgeführt, daß Anordnungen, die die Gerechtigkeit nicht einmal anstreben, die den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsamen Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich mißachten, kein Recht schaffen und daß ein solchen Anordnungen entsprechendes Verhalten Unrecht bleibt.« 70 G. Roellecke ist im Rückblick zu einem so harten wie zutreffenden Urteil gekommen: »Geistig verwirrt behaupteten Rechtsprechung und Rechtslehre ein Naturrecht, das nicht mehr war als ein Negativ der Barbarei.« 71 Am »Anfang der Bundesrepublik« hat »neben dem Recht eine Art Gegenideologie stehen [müssen]: das Naturrecht«. 72 »Eine Erklärung für die verhältnismäßig breite Anerkennung naturrechtlicher Prinzipien in Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland liegt einerseits in dem Wunsche, nach der tiefen Erschütterung des Rechtsbewußtseins in einem gewaltsamen Regime wieder zu festen Grundlagen des Rechts zu gelangen, und andererseits in dem Bedürfnis, Handlungen der Vergangenheit im Lichte elementarer rechtlicher Sätze zu würdigen und sogar strafrechtlich zu beurteilen. Es mag sein, daß mit einer Festigung der Verhältnisse die Neigung zum Naturrecht eine Schwächung erfährt« (Scheuner 1950/51, S. 606). Zur »Abkehr vom Rechtspositivismus in der Rechtsprechung der Nachkriegszeit 1945–1963« vgl. Geiger 1981. Zur Naturrechtsidee in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nach 1945 vgl. Faller 1995; vgl. auch Schneider 1956. 70 Rüthers/Fischer/Birk 2011, S. 264 f. Die zitierte BGH-Entscheidung: BGHSt 3, 357 (362 f.) v. 19. 12. 1952. 71 Roellecke 1995, S. 80. 72 Roellecke 1995a, S. 101. 69
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H. Weinkauff, der langjährige Präsident des BGH und zuvor von 1932–1937 Direktor am Landgericht München I, ab 1935 Hilfsrichter am Reichsgericht, 1937 zum Reichsgerichtsrat ernannt, hat noch 1960 in ›Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes‹ erklärt: »Als der BGH 1950 seine Rechtsprechung aufnahm, traf er, wie vor ihm andere deutsche Gerichte […], nach dem Zusammenbruch, in seiner täglichen Praxis wiederholt auf die naturrechtliche Frage, und zwar nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des zeitlichen Geltungsbereiches des Bonner Grundgesetzes. Die naturrechtliche Frage stellt sich einem Gericht dann, wenn das positive Recht, das es auf einen Fall anwenden soll, klar zu einem grob ungerechten Ergebnis führen würde. Sie stellte sich naturgemäß besonders häufig in der politisch und rechtlich aufgewühlten und weithin steuerlosen Zeit nach 1945, in die das vom nationalsozialistischen Machthaber gesetzte krasse Unrecht noch mannigfach hineinwirkte, in der aber auch das von den Besatzungsbehörden oder in ihrem Auftrage von deutschen Stellen gesetzte Recht, etwa wegen seines Schematismus oder seines Strafcharakters, nicht ganz selten die naturrechtliche Frage aufwarf.« 73 Für den die Rechtsprechung in der Nachkriegszeit beherrschenden »›Rückfall‹ in das Naturrecht, die plötzliche Berufung auf einen vor dem Hintergrund des Rechtspositivismus längst für tot erklärten Normenbereich jenseits aller menschlichen Verfügbarkeit« hat G. Sprenger eine plausible Erklärung gegeben: »Zweifellos war diese neue Rechtsprechung von dem Schrecken diktiert, den die beispiellose Perversion von Recht durch die nationalsozialistische Willkürherrschaft in den Jahren von 1933 bis 1945 hervorgerufen hatte. Man wird dabei von einer Sprachnot ausgehen dürfen, in der die Richter sich bei der Suche und der Kennzeichnung einer neuen unerschütterlichen Grundlage für das Recht befanden. In der Zielrichtung mag Einigkeit bestanden haben: Weg von einem Recht, das menschlicher Willkür überlassen war – was daraus werden konnte, hatte die gerade erst überwundene Zeit gezeigt – weg von allem Subjektiven, hin zu einem objektiven, überzeitlichen Maß, einem Maß, an das der Mensch nicht heranreichte: So kam es, dass man sich in diesen ersten Jahren eines Neuanfangs hinsichtlich der Legitimation von Recht auch nicht vor einem öffentlichen Bekenntnis zum Göttlichen scheute.« 74 73 74
Weinkauff 1966 [1960], S. 554. Sprenger 2006, S. 25.
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Der Münchner Juraprofessor Erwin Riezler berichtete 1951 über ein Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 13. November 1945 mit Erstaunen, »mit welcher Leichtigkeit und Bedenkenlosigkeit dieser Umwandlungsprozeß [zum Naturrecht] heute nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis manchmal als vollzogen betrachtet wird«. Das Gericht hatte sich mit der Frage zu befassen, »wie die Rechtsakte, die im ›Dritten Reich‹ auf Grund der damaligen Gesetze, welche aus rassischen Gründen eine unterschiedliche Behandlung von Vermögen vorsahen, jetzt zu behandeln seien. In dem Urteil wird ohne weitere Begründung davon ausgegangen, daß dafür die ›naturrechtliche Lehre‹ maßgebend sei, und ausgeführt: ›Nach der naturrechtlichen Lehre gibt es Rechte des Menschen, die auch der Staat durch seine Gesetzgebung nicht aufheben kann. Zu diesen Rechten gehört das Recht des Menschen auf persönliches Eigentum. Der Staat kann zwar Teile des Privateigentums für Zwecke der Gemeinschaft in Artspruch nehmen, z. B. in Form von Steuern, aber niemals das Privateigentum von Menschen oder bestimmter Gruppen von Menschen, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen, aufheben. Die Gesetze, die das Eigentum der Juden dem Staat für verfallen erklärten, stehen daher mit dem Naturrecht in Widerspruch und waren schon zur Zeit ihres Erlasses nichtig.‹« Riezler fragte befremdet: »Wie kommt das Gericht dazu, die ›naturrechtliche Lehre‹ als die für seine Entscheidung maßgebende Rechtsquelle anzusehen, ohne darauf einzugehen, ob diese Lehre im geltenden Recht eine Verwirklichung gefunden hat?« 75 In einem Verfahren des Landgerichts Frankfurt/M. zu Verbrechen in der ›Euthanasie‹-Anstalt Hadamar wurden am 21. 3. 1947 zwei der Angeklagten zum Tode verurteilt. 76 Anlässlich der Prüfung der Frage, ob die Angeklagten an die Rechtmäßigkeit ihrer Taten glaubten durften, führte das Gericht aus: »Hier endet der Rechtspositivismus, weil der Staat niemals die alleinige Quelle allen Rechts ist und nie willkürlich bestimmen kann, was Recht oder Unrecht ist. Es gibt ein über den Gesetzen stehendes Recht, das allen formalen Gesetzen als letzter Maßstab dienen muss. Es ist das Naturrecht, das der
Riezler 1966 [1951], S. 245. Staatsarchiv Sigmaringen Wü 29/3 T 1 Nr. 1759/03/06. Urteil des Landgerichts Frankfurt wegen Euthanasie gegen Dr. Adolf Wahlmann, Dr. Hans Bodo Gorgaß, Irmgard Huber u. a. (Februar/März 1947). Siehe auch: https://sites.google.com/site/ euthanasiestiftung/juristische-aufarbeitung. Abruf überprüft am 11. 06. 2015.
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menschlichen Rechtssatzung unabdingbare und letzte Grenzen zieht. Es gibt letzte Rechtssätze, die so tief in der Natur verankert sind, dass sich alles, was als Recht und Gesetz, Moral und Sitte gelten soll, im letzten nach diesem Naturrecht, diesem über den Gesetzen stehenden Recht, auszurichten hat. Diese letzten Rechtssätze im Naturrecht sind zwingend, weil sie unabhängig vom Wandel der Zeit und vom Wechsel menschlicher Anschauungen durch die Jahrtausende gegangen sind und über alle Zeiten hinweg den gleichen Bestand und die gleiche Gültigkeit besitzen. […] Einer dieser in der Natur tief und untrennbar verwurzelten letzten Rechtssätze ist der Satz von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und dem Recht des Menschen auf dieses Leben, das der Staat als Kulturnation nur fordern darf auf Grund eines Richterspruchs oder im Kriege. Die Gesetze Adolf Hitlers über die sogenannte ›Euthanasie‹ verstiessen aber in krasser Form gegen diesen letzten Naturrechtssatz, missachteten das Recht von der Heiligkeit des menschlichen Lebens und stellten sich damit ausserhalb jeden Rechts. Diese Gesetze verstiessen gegen alle Grundsätze von Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Moral und lösten die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens auf, weil sie den einen Teil zum Leben und den anderen zum Tode bestimmten. Sie richteten sich deshalb nicht mehr nach den ewigen Normen des Naturrechts aus und konnten wegen ihres elementaren Unrechtsgehaltes niemals zur Würde und Wirkung des Rechts gelangen.« 1950 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung festgestellt: »Der Bayerische Verfassunggeber faßt die elementaren Grundrechte als dem positiven Recht vorausliegende, allen Menschen zustehende natürliche Rechte auf, die die Staatsgewalt beschränken und für sie eine unübersteigbare Schranke bilden.« 77 In einer weiteren Entscheidung hieß es: »Jedes Tätigwerden öffentlicher Organe in Bayern ist grundsätzlich verfassungsgebunden […]. Ausnahmen von der Verfassungsgebundenheit sind nur möglich, wenn die Ermächtigungsgrundlage überverfassungsmäßiges Recht darstellt und darüber hinaus ausdrücklich zu bestimmten Grundrechtsbeschränkungen ermächtigt. Eine Ermächtigung darf nicht ausgeübt werden, soweit Inhalt, Zweck und Ausmaß der damit erteilten Verordnungsgewalt nicht hinreichend vom ermächtigenden, überverfassungsmäßigen Gesetzgeber selbst genau festgelegt und begrenzt
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Bayer. Verfassungsgerichtshof: Nr. 2, VerwRspr 1950, 3.
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sind.« 78 Die Negativfolie für die naturrechtliche Argumentation war auch hier die Positivismus-Kritik: »Vor allem aber ist angesichts der ungeheueren Diskriminierungen und der vielfachen ungerechten und willkürlichen Gewaltlösungen, die der positive Gesetzgeber in der jüngsten Vergangenheit in das Gewand des Gesetzes gekleidet hat, der Gesetzespositivismus im allgemeinen Bewußtsein so sehr erschüttert und die Erkenntnis, daß auch der positive Gesetzgeber nicht souveräner Herr seiner Entschlüsse, sondern an Recht und Gerechtigkeit gebunden und durch das gegenseitige Spiel der staatlichen Einrichtungen in diesen Schranken zu halten ist, so allgemein geworden« 79, dass dies als herrschende Lehre anzusehen sei. Mit wörtlicher Übernahme der Positivismus-Kritik des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs hat 1950 auch der Hessische Staatsgerichtshof in einer Auslegung des Gleichheitssatzes formuliert, es komme »auch praktisch die überpositive Natur des Gleichheitssatzes zur Geltung, als eben, wie schon Immanuel Kant gelehrt hat, das Gegenteil von Willkür die Gerechtigkeit ist«. 80 In einem Urteil des Zweiten Senats des BVerfG zum Südweststaat vom 23. Oktober 1951 lautete der 27. Leitsatz: »Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.« In der Urteilsbegründung hieß es: »Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des ›pouvoir constituant‹. Sie schafft die neue, für den werdenden Staat verbindliche, mit besonderer Kraft ausgestattete Verfassungsordnung. Mit dieser besonderen Stellung ist es unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden. Sie ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze und – als verfassunggebende Versammlung eines werdenden Gliedes des Bundesstaates – an die Schranken, die die Bundesverfassung für den Inhalt der Landesverfassungen enthält (Art. 28 Abs. 1 GG).« 81 Einen bemerkenswert ›rechtspositivistischen‹ Kontrast hierzu bildet das Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 17. Dezember 78 79 80 81
Bayer. Verfassungsgerichtshof: Nr. 42 VerwRspr 1950, 179. Ebd.; vgl. hierzu Faller 1995, S. 3 ff. Hess. Staatsgerichtshof: Nr. 68, VerwRspr 1950, 299. BVerfGE 1, 14 (151). Hervorh. v. mir.
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Naturrecht in der Rechtsprechung nach 1945
1953 zum Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen vom 11. Mai 1951; es ist nur als Ausdruck eines politisch motivierten Pragmatismus bezüglich der NSZeit zu verstehen: »Die durch die nationalsozialistische Gesetzgebung herbeigeführte Umgestaltung des hergebrachten Beamtenverhältnisses in ein neuartiges, einer Partei verpflichtetes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis kann auch nicht etwa mit der Erwägung als irrelevant betrachtet werden, daß sie auf einem Rechtsbruch beruhe und daher nach Beseitigung der nationalsozialistischen Herrschaft als rechtlich nicht vorhanden angesehen werden müsse. Zwar mag das hier, wie auf manchen anderen Gebieten, vom Nationalsozialismus gesetzte Recht in einem höheren, philosophischen Sinne ›Unrecht‹ darstellen. Aber es würde eine in hohem Grade unrealistische Betrachtungsweise sein, diesen Gedanken positiv-rechtlich dahin auszubauen, daß dieses (formale) Recht ex post als nichtig und die dadurch bewirkte Umwandlung des Beamtenverhältnisses als nicht vorhanden betrachtet würde. Ein solche Auffassung würde übersehen, daß es auch eine ›soziologische‹ Geltung von Rechtsvorschriften gibt, die erst dort bedeutungslos wird, wo solche Vorschriften in so evidentem Widerspruch mit den alles formale Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit treten, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht spräche. Diese äußerste Geltungsgrenze ist hier nicht erreicht; die nationalsozialistischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiete des Beamtenrechts sind nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen, die sich das ›Dritte Reich‹ selbst geschaffen hatte, formell ordnungsmäßig erlassen worden, sie sind von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft hingenommen worden (von den unmittelbar Betroffenen weithin sogar mit innerer Zustimmung) und haben jahrelang unangefochten bestanden. Die hiermit geschaffenen rechtserheblichen Tatsachen und namentlich auch Rechtszerstörungen lassen sich nicht als nur tatsächliche Behinderungen der Geltung des ›wirklichen Rechts‹ beiseite schieben und nachträglich wieder ungeschehen machen. […] In gleicher Weise behandelt auch die gesamte Gesetzgebung zur Wiedergutmachung und Rückerstattung die in einem höheren Sinne rechtswidrigen Akte des Nationalsozialismus nicht als von Anfang an nichtig, sondern gibt den Betroffenen lediglich Ausgleichsansprüche«. 82 82
BVerfGE 3, 58 (191).
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
Anders argumentierte der Erste Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1953 zur Gleichberechtigung von Mann und Frau 83 unter expliziter Berufung auf G. Radbruch 84, die Norm einer Verfassung könne »dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeitspostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet«. 85 Es liege »im Wesen des pouvoir constituant, daß er von seinen eigenen Grundsatznormen Ausnahmen statuieren kann, die nach der Regel vom Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen Norm zu beachten sind. Die ausnahmslose Geltung des darin zum Ausdruck kommenden Grundsatzes, daß der ursprüngliche Verfassungsgeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde aber einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann, daß also, soll die praktische Rechtsübung solchen geschichtlich denkbaren Entwicklungen nicht ungewappnet gegenüberstehen, in äußersten Fällen die Möglichkeit gegeben sein muß, den Grundsatz der materialen Gerechtigkeit höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck kommt. Auch ein ursprünglicher Verfassungsgeber ist der Gefahr, jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, nicht denknotwendig entrückt.« 86 An die Stelle eines ›wertungsfreien Gesetzespositivismus‹ trat nun häufig der Wertbegriff ›Sittengesetz‹ : »In den gerichtlichen EntBVerfGE 3, 225. Ebd., (21). 85 Ebd., Leitsatz 2. 86 Ebd., (20). Vgl. aber BVerfGE 10, 59 (79). In seinem Urteil vom 29. Juli 1959 zur elterlichen Gewalt hat sich der Erste Senat zur naturrechtlichen Orientierung vorsichtiger verhalten: »Die Frage, ob die Einheit der Familie die primäre Zuständigkeit des Vaters für die Konfliktentscheidung notwendig fordert, ist vielfach auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellungen erörtert worden. Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr bestrittenen Fragen des Verhältnisses ›Naturrecht und Geschichtlichkeit‹, ›Naturrecht und positives Recht‹ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht.« 83 84
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Naturrecht in der Rechtsprechung nach 1945
scheidungen, in denen es um die Fortgeltung einzelner Normen aus der Zeit des Nationalsozialismus ging, wurden die vertrauten Instrumente juristischer Methodik zur Begründung des jeweiligen Ergebnisses herangezogen. Man argumentierte mit Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm, wies auf die Folgen eventueller Nichtgeltung hin oder zog ausländische Rechtsordnungen heran, in denen es vergleichbare Normen gab. Am wenigsten methodisch gesichert, aber auch für ein breiteres Publikum einsichtig war die Argumentation mit dem ›Sittengesetz‹, mit Prinzipien des Naturrechts und den wiederhergestellten Grundsätzen des Rechtsstaats.« 87 Auf die übergesetzlichen »Normen des Sittengesetzes«, das als ›natürliche‹ Instanz verstanden wurde, hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem berüchtigten Urteil vom 17. Februar 1954 zur »Kuppelei gegenüber Verlobten« 88 berufen. Als Leitsatz wurde formuliert: »Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz oder durch hinterlistige Kunstgriffe dem Geschlechtsverkehr Verlobter Vorschub leistet oder wer als Vater, Mutter oder Vormund, Geistlicher, Lehrer oder Erzieher dem Geschlechtsverkehr Verlobter Vorschub leistet oder ihn entgegen seiner Rechtspflicht zur Gegenwirkung duldet, fördert eine grundsätzlich gegen die geschlechtliche Zucht verstoßende Handlung.« Es könne, so heißt es im Urteil, »nicht zweifelhaft sein, daß die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlechter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die gesollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) festlegen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln. ›Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Um seinetwillen und um der personhaften Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt.‹« 89 H. Weinkauff hat noch 1960 in ›Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes‹ derartige Positionen verteidigt: »Was die naturrechtliche Grundlegung des Staates angeht, Stolleis 1994, S. 268 f. BGHSt. 6, 46 ff. (12 f.) BGH, 17. 02. 1954 – GSSt 3/53 Großer Senat für Strafsachen. 89 BGHSt. 6, 46 ff. (12, 13). 87 88
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
so spricht die Rechtsprechung des BGH dem Staate vor allem die Aufgabe zu, die elementaren Beziehungen der Rechtsgenossen rechtlich zu regeln, und zwar nach den Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit, also die Aufgabe, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen. […] Bei dieser ihm aufgegebenen Setzung des positiven Rechtes ist der Staat aber an die übergreifenden Normen der Naturrechtsordnung gebunden, gegen die er nicht verstoßen darf. Verstößt er klar gegen sie, so ist das von ihm gesetzte Recht nichtig.« 90 1968 betonte er, man habe »nicht zu fragen: ›Was folgt logisch aus einem übergeordneten Rechtsbegriff?‹, sondern: ›Welche rechtlich-sittlichen Sollsätze, welche Rechtswerte, regieren den offengebliebenen Einzelfall?‹« 91 Auch bei Weinkauff ist die Kritik am Rechtspositivismus die Kehrseite des Plädoyers für das Naturrecht: »Wenn irgend etwas aus dem Schicksal und dem Versagen des Rechts und der Justiz unter dem Nationalsozialismus mit Gewißheit gefolgert werden kann, so ist es das, daß der Rechtspositivismus in Verbindung mit dem Pluralismus der Wertvorstellungen vor der totalitären Rechtsverwüstung schmählich versagt hat und vor jeder neuen solchen Bedrohung wiederum ebenso schmählich versagen wird. Die Erarbeitung einer Grundlage des Rechtes, die jenseits von Rechtspositivismus und Wertpluralismus liegt, mit anderen Worten: die Erarbeitung einer naturrechtlichen Grundlage des Rechtes, ist daher das A und O jeder wirklichen Erneuerung von Recht und Gericht«. 92 Die Richter der Weimarer Republik seien »auch – und das ist für ihre Begegnung mit dem staatlich gesetzten nationalsozialistischen Unrecht entscheidend wichtig – vollständig in dem Vorstellungskreis des sogenannten Rechtspositivismus« befangen gewesen. »Die Richter – und nicht nur die Richter, sondern die deutschen Juristen schlechthin – waren kraft ihrer Erziehung fast ausnahmslos und mit einer geradezu naiven Selbstverständlichkeit Rechtspositivisten.« 93 Mit dieser historisch nicht haltbaren Behauptung verbunden hat Weinkauff die tatsächliche Integration der Justiz ins NS-Regime zu verharmlosen versucht: »Es gab gewiß im Rechtsstand und im Richtertum eine Anzahl echter, überzeugter Nationalsozialisten, obwohl 90 91 92 93
Weinkauff 1966 [1960], S. 573 f. Weinkauff 1968, S. 23. Ebd., S. 182. Ebd., S. 28 f.
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Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
ihre Zahl, gemessen an der Gesamtzahl, verhältnismäßig gering gewesen sein wird. Man kann sie nur schätzen; aber wahrscheinlich ist die Zahl von 10 Prozent zu hoch gegriffen, und innerhalb dieser Gruppe gab es wiederum erhebliche Unterschiede.« 94
Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹ Das Bundesverfassungsgericht hat 1958 das GG wertrealistisch definiert: Es sei keine »wertneutrale Ordnung«, sondern als eine auf alle Bereiche des Rechts ausstrahlende »objektive Wertordnung«. Mit Sätzen im ›Lüth-Urteil‹ 95 hat es Verfassungsrechtsgeschichte geschrieben und eine noch immer anhaltende Kontroverse ausgelöst. Der erste Leitsatz des Urteils lautet: »Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.« Das BVerfG räumte zwar ein: »Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.« Doch zwischen den Aussageteilen »in erster Linie Abwehrrechte« und »aber auch eine objektive Wertordnung« gibt es ein Spannungsverhältnis, das zu Lasten des subjektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte nicht problematisiert wurde. Darin, »daß das Grundgesetz […] in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat«, komme »eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck«. »Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich Ebd., S. 171. Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG vom 15. Januar 1958, BVerfGE 7, 198. Im Verfahren ging es um die Zulässigkeit eines Boykottaufrufs des Hamburger Senatsdirektors Erich Lüth gegen die Nachkriegs-Wiederaufführung des von Veit Harlan als Drehbuchverfasser und Regisseur verantworteten antisemitischen, 1940 als NS-Propaganda erstaufgeführten Films ›Jud Süß‹.
94 95
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auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.« 96 Im Urteil zum Verbot der ›Sozialistischen Reichspartei‹ vom 23. Oktober 1952, das im Lüth-Urteil wertrealistisch verschärft worden ist, war zunächst nur die Rede von »oberste[n] Grundwerte[n] des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates« 97 und von einer ›wertgebundenen Ordnung‹ : »Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.« 98 Im KPD-Verbotsurteil vom 17. August 1956 wandte sich das BVerfG u. a. gegen die marxistisch-leninistische These, die Diktatur des Proletariats repräsentiere die »objektiven Interessen des Volkes […], und zwar so, wie die maßgebende Arbeiterklasse diese sieht; denn für die Arbeiterklasse allein wird der Besitz eines unwiderlegbaren Wissens um diese Interessen beansprucht«. 99 Hierzu stand die Behauptung eines Systems ›absoluter Werte‹ in bemerkenswertem Kontrast: »Wenn das Grundgesetz so einerseits noch der traditionellen freiheitlich-demokratischen Linie folgt, die den politischen Parteien gegenüber grundsätzliche Toleranz fordert, so geht es doch nicht mehr so weit, aus bloßer Unparteilichkeit auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertsystems überhaupt zu verzichten. Es nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen, die in den politischen Parteien Gestalt gewonnen haben, gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb
96 97 98 99
BVerfGE 7, 198 (204). BVerfGE 2, 1 (37). BVerfGE 2, 1 (37–38). Hervorh. v. mir. BVerfGE 5, 85 (519).
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Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen.« 100 Auch dem ›Elfes-Urteil‹ vom 16. Januar 1957 zufolge hat das »Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die die öffentliche Gewalt begrenzt.« 101 Nach fünfzig Jahren ›Werte-Judikatur‹ scheint sich ein Wandel im Werteverständnis des BVerfG anzudeuten, u. a. im Urteil zum ›Luftsicherungsgesetz‹ vom 15. Februar 2006, in dem Begriffe wie ›objektive Wertordnung‹, ›Wertsystem‹ oder ›absolute Werte‹ nicht mehr vorkommen. Der strenge Wertrealismus wurde modifiziert. Einerseits wird dem in der Gesellschaft faktisch existierenden Pluralismus subjektiver Werteinstellungen stärker Rechnung getragen, und andererseits wird die allgemein verpflichende Normativität des Rechts vor Wertrelativismus bzw. Wertsubjektivismus geschützt. Spiegelt sich hierin ein Überzeugungswandel bei Richterinnen und Richtern zu einem liberaleren Verständnis des Grundgesetzes? Wurde an der von I. Maus beklagten »Rematerialisierung des Naturrechts im 20. Jahrhundert« Abstriche gemacht? Das 20. Jahrhundert – so ihre Bilanz – sei »seit seinem Beginn durch die Herausbildung von juristischen Interpretationsmethoden gekennzeichnet, die es der Justiz und den exekutivischen Apparaten ermöglichen, der Bindung an geschriebenes Recht so weitgehend zu entkommen, dass ihre Art der Rechtsanwendung faktisch Rechtssetzung ist.« Dies finde sich »ganz spezifisch auf Seiten der konservativen bis rechtskonservativen Staatsrechtslehre der Weimarer Republik«; es habe »der Beschränkung des gerade demokratisierten Gesetzgebers« gedient. 102 Es finde sich wieder in der Rechtsprechung des BVerfG, die das Terrain markiere, »auf dem der Gegensatz zwischen ›höherem‹ Recht und positivem Recht heute ausgetragen wird. Die allgemeine Renaissance des N[aturrechts] nach 1945, die mit Verweisen auf den angeblichen Rechtspositivismus des NS-Systems betrieben wurde, muss allerdings als Wiederkehr des Gleichen bzw. als lineare Fortsetzung der nationalsozialistischen Rechtsdoktrinen bezeichnet werden«. Mit der nach 1945 zu beobachtenden Zuwendung höchstinstanzlicher Gerichte zum Naturrecht sei das geschriebene Verfassungsrecht »in einem Ausmaß entwertet, dass es genau die Funktion nicht mehr übernehmen kann, für die man im 18. Jh. kämpfte, nämlich den Bürgern 100 101 102
Ebd., (246). Hervorh. v. mir. BVerfGE 6, 32 (32). Hervorh. v. mir. Maus 2010, Sp. 1747.
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
einen Maßstab an die Hand zu geben, an dem sie das Handeln der Staatsapparate prüfen konnten«. 103 Völlig anders beurteilt R. Wahl ›Lüth und die Folgen‹ : »Die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte ist die spektakulärste Neuerung des deutschen Staatsrechts nach 1945; sie verdient eine juristische Entdeckung genannt zu werden. Vom Bundesverfassungsgericht und der Staatsrechtslehre zur gesamten Hand entwickelt, ist sie zu einem Markenzeichen des deutschen Staatsrechts der Gegenwart geworden. […] Zu ihren Folgen gehören die Allgegenwart der Verfassung im politischen Diskurs und in der gesamten Rechtsordnung, ein gewaltiger Verrechtlichungsschub und die Verfassungsabhängigkeit der gesamten Rechtsordnung. Was die objektive Dimension der Grundrechte nach deutscher Lehre bewirkt hat, ist: die Neugeburt der Rechtsordnung aus dem Geist der Grundrechte.« 104 Mit der »Lüth-Rechtsprechung« sei das »deutsche Bundesverfassungsgericht […] das Exempel eines Verfassungsgerichts geworden, das nach einer Wende von einem diktatorischen oder autoritären Regime zur Demokratie Motor der neuen Ordnung geworden ist«. 105 Zu einem derart euphorischen Urteil ist K. Hesse in Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland nicht gekommen. Die Rechtsordnung sei nicht »in einem von menschlichem Sein und menschlichem Wirken losgelösten, in sich und für sich bestehenden übergeschichtlichen Recht oder in den Objektivierungen einer vorfindlichen ›Wertordnung‹ vorgegeben«; vielmehr müsse sie »als geschichtliche Ordnung durch menschliches Wirken geschaffen werden, in Geltung gesetzt, bewahrt und fortgebildet werden«. 106 Als der schärfste Kritiker der Annahme ›übergesetzlicher Normen‹ und der ›Werte-Judikatur‹ des BVerfG ist E.-W. Böckenförde 107 hervorgetreten, selbst von 1983 bis 1996 Verfassungsrichter: »Das Bundesverfassungsgericht geht in einem seiner ersten Urteile davon aus, einer verfassunggebenden Versammlung, die im Besitz des pou-
Ebd., Sp. 1747b. Wahl 2005, S. 373 f. 105 Ebd., S. 384. 106 Hesse 1995, Rz. 13. Zur Kritik des Topos ›objektive Wertordnung‹ vgl. u. a. auch Vesting 1994, Hofmann 2003, S. 11–14, Cremer 2003, S. 195–223. 107 Es soll hier nicht interessieren, in welchem Maße Böckenförde mit seiner Kritik seinem Mentor Carl Schmitt gefolgt ist. 103 104
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Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
voir constituant sei, könnten nicht von außen Beschränkungen auferlegt werden, sie sei aber ›an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze gebunden‹ […]. In einer wenig späteren Entscheidung (BVerfGE 3, 225 [232 f.]) wird auf dieser Grundlage davon gesprochen, daß auch dadurch, ›daß der Gesetzgeber des Grundgesetzes in seine Grundentscheidungen Normen einbezogen hat, die vielfach als übergesetzlich bezeichnet werden‹, diese Normen nicht ihren besonderen, d. h. übergesetzlichen Charakter verlieren. Sie stünden daher in ihrer Einzelausgestaltung nur insoweit zur Disposition des Verfassunggebers, als nicht ›letzte Grenzen der Gerechtigkeit‹ überschritten würden.« In diesen Thesen bleibe »unklar, welche Art von Recht und rechtlicher Geltung mit den überpositiven Rechtsgrundsätzen und der postulierten Bindung an sie gemeint ist. Das eigentliche Problem wird dadurch verdeckt. Eine rechtliche Geltung in dem Sinne, daß die Befolgung einer bestehenden Bindung rechtlich-verfahrensmäßig eingefordert werden kann, setzt die Zugehörigkeit zur positiven Rechtsordnung, hier also zur geltenden Verfassung, bereits voraus.« 108 Für Böckenförde »drängt sich die Vermutung auf, daß die Frage inhaltlicher Bindungen der verfassunggehenden Gewalt, durch die Willkürakte des pouvoir constituant verhindert werden sollen, falsch gestellt wird, wenn sie als Frage nach einer einforderbaren Bindung an ein vorausliegendes Recht formuliert wird. Eine solche Frage wäre vielleicht möglich im Rahmen einer Verbindlichkeit beanspruchenden Weltauffassung und Weltdeutung, die Gott als Grund und Quelle des Rechts begreift, sei es unmittelbar über göttliche Stiftung und Offenbarung, sei es mittelbar über die von Gott geschaffene und mit eigenem Vernunfttelos ausgestattete ›Natur‹. Ist diese Weltauffassung und Weltdeutung in ihrer Verbindlichkeit indes aufgegeben, und das ist immer dann der Fall, wenn der Begriff der verfassunggebenden, konstituierenden Gewalt mit dem Attribut der Souveränität für das Volk in Anspruch genommen wird, kann ein der verfassunggebenden Gewalt vorausliegendes, sie vorab bindendes Recht nicht mehr geltend gemacht werden.« 109 Böckenförde begründet seine »Zweifel an der Möglichkeit einer Wertbegründung des Rechts« triftig so: »Das Wertdenken ist (1) in
108 109
Böckenförde 2011b, S. 116. Ebd., S. 117.
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seinem Ansatzpunkt nicht als Rechtsbegründung, sondern als Begründung individuellen ethisch-sittlichen Handelns im Rahmen rechtlicher Ordnung konzipiert worden; ihm fehlt (2) eine rationale, auf diskursive Vermittlung angelegte Grundlage, die indes gerade für die Rechtsbegründung, soll das Recht Friedensordnung sein und bleiben, unerläßlich ist; in der Rechtspraxis öffnet (3) der Rückgriff auf Werte als Grundlage des Rechts – wegen des Fehlens einer rationalen Begründung der Werte – die Schleuse für das Einströmen methodisch nicht kontrollierbarer subjektiver Meinungen und Anschauungen der Richter und Rechtslehrer sowie der vorherrschenden zeitigen Tageswerte und -wertungen der Gesellschaft in die Auslegung, Anwendung und Fortbildung des Rechts.« 110 Die These, »die Rechtsordnung selbst sei eine Wert(e)ordnung und müsse sich als solche darstellen; nur dann sei sie wirklich Recht und nicht bloß eine willkürliche Zwangsordnung«, habe »in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik bis in unsere Tage hinein eine breitgefächerte Akzeptanz gefunden. Die Wertbegründung des Rechts erschien (und erscheint noch) als eine Form der Abkehr vom Rechtspositivismus, die nicht zur Rückkehr zu dem oder einem Naturrecht nötigt.« 111 Man habe nach 1945 »vor allem in Deutschland, in der Gemeinsamkeit vorhandener Wertüberzeugungen eine neue Homogenitätsgrundlage zu finden« gesucht. De facto habe aber der Rekurs auf die Werte einem anderen Positivismus das Feld geöffnet – dem »Positivismus der Tageswertungen« und einem Subjektivismus, »die, je für sich objektive Geltung verlangend, die Freiheit eher zerstören als fundieren«. 112 Das »Rationalitätsdefizit der Wertbegründung« wird – so Böckenförde – »in der Rechtspraxis nicht etwa ausgeglichen oder aufgearbeitet, vielmehr bildet sich ein Begründungs-Anschein heraus. Die Berufung auf Werte und den Wertcharakter des Rechts gibt sich als Begründung für etwas aus, das damit in der Sache nicht begründet wird, jedoch der weiteren Begründung enthebt. Das öffnet einerseits eine Schleuse für das Einströmen wertbezogener subjektiver Auffassungen der Richter, Rechtslehrer und sonst an der Rechtsbildung Beteiligter in die Rechtsordnung als geltendes Recht, andererseits für die Sanktionierung der je zeitigen Wertauffassungen, die in der Ge110 111 112
Böckenförde 2013a, S. 81 f. Ebd., S. 67. Böckenförde 2013b, S. 112 f.
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Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
sellschaft tatsächlich vorherrschend sind oder vorherrschend scheinen.« 113 Diese Kritik halte ich für plausibel. Fraglich ist, ob sie noch heute durchgängig gerechtfertigt ist. Denn das BVerfG hat Entscheidungen getroffen, in denen frühere wertrealistische GG-Auslegungen und umfassende Verpflichtungen der Bürgerinnen und Bürger auf bestimmte Werte deutlich abgeschwächt worden sind. Ein Beispiel ist der Beschluss des Ersten Senats vom 4. November 2009 zur Verfassungsbeschwerde gegen ein Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts, welches das versammlungsrechtliche Verbot einer für den 20. August 2005 angemeldeten Rudolf Heß-Gedenkkundgebung in Wunsiedel zum Gegenstand hatte. 114 Die beiden Leitsätze lauten: »§ 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent. 2. Die Offenheit des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für derartige Sonderbestimmungen nimmt den materiellen Gehalt der Meinungsfreiheit nicht zurück. Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.« Die mit dem Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuchs vom 24. März 2005 in das Strafgesetzbuch eingeführt und mit Wirkung zum 1. April 2005 in Kraft getretene Vorschrift des § 130 Abs. 4 StGB lautet: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der 113 Böckenförde 2013a, S. 87. Vgl. Böckenförde 2011c, S. 175: »Die Berufung auf eine Wertordnung oder eine Wertabwägung ist also keine Begründung dessen, wofür sie sich als Begründung ausgibt. Vielmehr verdeckt sie anderweitig getroffene Kollisionsund Abwägungsentscheidungen, die dadurch einen rationalen Schein erhalten und der wirklichen Begründung enthoben sind. Praktisch gesehen bedeutet sie eine Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus.« 114 BVerfGE 124, 300.
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.« Das BVerfG hat seine Entscheidung, das Verbot der Rudolf HeßGedenkkundgebung verstoße nicht gegen das mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht, »seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten«, abweichend von Entscheidungen in den 1950er und 1960er Jahren begründet: »Meinungen sind durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt […]. Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend […]. Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird«. 115 Weiter wird im Beschluss festgestellt: »Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.« 116 Selbst »die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung [falle] nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG heraus. Den hierin begründeten Gefahren entgegenzutreten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art. 7 GG zu.« 117 In Bezug auf das nationalsozialistische Regime in den Jahren zwischen 1933 und 1945 erlaube »Art. 5 Abs. 1 und 2 GG jedoch auch Eingriffe durch Vorschriften, die nicht den Anforderungen an ein allgemeines Gesetz entsprechen. Angesichts des einzigartigen Unrechts und des Schreckens, die diese Herrschaft unter deutscher Verantwortung über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der für die Identität der Bundesrepublik Deutschland prägenden Bedeutung dieser Vergangenheit, können Äußerungen, die dies gutheißen, Wir-
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Ebd., (49). Ebd. Hervorh. v. mir. Ebd., (50).
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Das Grundgesetz als ›objektive Wertordnung‹
kungen entfalten, denen nicht allein in verallgemeinerbaren Kategorien Rechnung getragen werden kann«. 118 Anstelle einer naturrechtlichen Begründung stützt sich diese Entscheidung auf die historische Unrechtserfahrung der NS-Zeit, die politischen Antworten auf diese Erfahrung und auf das aus ihr mit ›gegenbildlicher‹ Bedeutung mit rechtspolitischen Mitteln entstandene GG: »Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte […], insbesondere auch des Parlamentarischen Rates […], und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. nur Art. 1, Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 GG). Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden und ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen. Die endgültige Überwindung der nationalsozialistischen Strukturen und die Verhinderung des Wiedererstarkens eines totalitär nationalistischen Deutschlands war schon für die Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit durch die Alliierten ein maßgeblicher Beweggrund und bildete – wie etwa die Atlantik-Charta vom 14. August 1941, das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 und das Kontrollratsgesetz Nr. 2 zur Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen vom 10. Oktober 1945 zeigen – eine wesentliche gedankliche Grundlage für die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948, in denen die Militärgouverneure die Ministerpräsidenten aus ihren Besatzungszonen mit der Schaffung einer neuen Verfassung beauftragten. Auch für die Schaffung der Europäischen Gemeinschaften sowie zahlreiche internationale Vertragswerke wie insbesondere auch die Europäische Menschenrechtskonvention ging von den Erfahrungen der Zerstörung aller zivilisatorischen Errun-
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Ebd., (52).
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7 · Die ›Renaissance des Naturrechts‹ nach 1945
genschaften durch den Nationalsozialismus ein entscheidender Impuls aus. Sie prägen die gesamte Nachkriegsordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkergemeinschaft bis heute nachhaltig.« 119
119
Ebd., (65).
238 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Kapitel 8 Rechtspositivismus oder Naturrecht? Eine offene Frage
Ob man für eine rechtspositivistische oder für eine naturrechtliche Konzeption plädiert, hängt von der an rechtspraktischen Problemlösungen orientierten Wahl einer Rechtstheorie ab. Mein Plädoyer zielt aus Gründen der Unrechtserfahrungen im 20. Jahrhundert auf einen inklusiven Rechtspositivismus, den ich auf der Grundlage der Würdenorm des Art. 1 GG und der im internationalen Recht positivierten Menschenrechte begründe. Dieser Rechtspositivismus macht sich vom blinden Gehorsam gegenüber der Formel ›Gesetz ist Gesetz‹ frei und verlangt nach einer bestimmten Qualifikation aller Rechtsetzung: Recht muss seine Geltung als gerechtes Recht beanspruchen. Über die Alternative ›Rechtspositivismus vs. Naturrecht‹ kann rechtstheoretisch entschieden werden. Rechtspraktisch ist das Problem damit aber nicht gelöst. Denn niemand kann gezwungen werden, auf naturrechtliche Geltungsbegründungen zu verzichten. Und de facto wird auch nicht darauf verzichtet bei • Verständnissen des Art. 1 GG und der Menschen- und Grundrechte, die von kulturellen (weltanschaulichen, religiösen) Präferenzen geprägt sind, etwa vom Katholizismus bzw. vom Islam oder von politischen Fundamentalismen (wie Rechtsradikalismus, Islamismus, rechtskonservative Tea-party-Bewegung), • weltanschaulichen, religiösen, rechtsethischen bzw. juridischen Interventionen zu Fragen der Sexualmoral, der Abtreibung, der Sterbehilfe, der Reproduktionsmedizin, des Klonens etc., • kontroversen völkerrechtlichen Begründungen ›humanitärer Interventionen‹ und der ›responsibility to protect‹, • Kontroversen über das Nulla-poena-Prinzip bei der Behandlung von Straftätern in Diktaturen, • Kontroversen in der juristischen Methodenlehre zur Gesetzesauslegung, so über die Bedeutung der richterlichen Bindung an ›Recht und Gesetz‹,
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8 · Rechtspositivismus oder Naturrecht?
der Instrumentalisierung höchstrichterlicher Rechtsprechung, so z. B. der Besetzung des Supreme Court of the United States nach weltanschaulichen Präferenzen und politischen Machtverhältnissen. Im Folgenden soll es um nicht mehr als einen knappen Problemabriss zu einigen der genannten Kontroversen gehen. De facto ist die Frage ›Rechtspositivismus oder Naturrecht?‹ eine offene, hinsichtlich des Begriffs des Rechts 1 jeweils kontextuell in Wissenskulturen 2, Politiken und Rechtskulturen 3 zu beantwortende Frage. Von dieser Kontextualität und von der damit verbundenen epistemischen und praktischen Relativität (Relationalität) sehen sich im Unterschied zu rechtspositivistischen Rechtskonzeptionen heutige, auf die mittelalterliche Philosophie und nicht auf die in der Zeit der Aufklärung konzipierten ›natürlichen Menschenrechte‹ zurückgehende metaphysische Naturrechtsphilosophien entlastet: Das Recht ist als ›natürliches Recht‹ ›ewiges Recht‹. 4 •
Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht Der Satz im Grundgesetz über die ›Unantastbarkeit der Menschenwürde‹ ist ein unbedingt bindender Rechtssatz und die Grundnorm für die ›nachfolgenden Grundrechte‹. 5 Dieser Rechtssatz kann zwar je Vgl. Dreier 1986, von der Pfordten 2011. Vgl. Sandkühler 2014. 3 Vgl. Mohr 2008, S. 137 f., zur »Kontroverse zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus«, zur »Frage danach, ob die letzten Geltungsgründe von Rechtsnormen bzw. Rechtsordnungen insgesamt moralische (naturrechtliche) oder rechtliche (positive) Normen sind«. Mohr plädiert für ein Konzept, das »sowohl an der Grundidee der demokratischen Legitimation von positivem Recht durch Verfahren als auch an der Idee der Kritisierbarkeit des Rechts vor dem Forum der ›praktischen Vernunft‹« festhält (ebd.). Diese Theorie, die »nicht auf eine abstrakte Moralbegründung angewiesen« ist, beansprucht »[g]egen den Rechtspositivismus […], kritische Maßstäbe der Vernünftigkeit von Gesetzen und Urteilen vor dem Hintergrund des gesamten normativen Kontextes einer Rechtskultur anzulegen. Insofern ist für sie die Positivität einer Norm durch ihre Kodifizierung keine hinreichende Bedingung ihrer Akzeptabilität bzw. Anwendbarkeit. Gleichzeitig fordert sie (gegen naive Naturrechtsvorstellungen) für jede Kritik an einer Norm oder Entscheidung, daß sie sich auf die normativen Grundlagen der betroffenen Rechtskultur selbst beziehe« (ebd., S. 139). Vgl. zum Begriff ›Rechtskultur‹ auch Mohr 2011. 4 Vgl. Leichsenring 2013. 5 Vgl. hierzu ausführlich Sandkühler 2014. 1 2
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
nach weltanschaulichen Präferenzen unterschiedlich verstanden und begründet werden, 6 doch keine Begründung entbindet von der Befolgung der Verfassungsnorm. Art. 1 GG bedarf als Rechtssatz keiner außerrechtlichen Begründung, etwa durch Metaphysik oder Naturrecht. Würden religiöse und weltanschauliche Ansprüche auf Deutungshoheit im Recht akzeptiert, widerspräche dies der Neutralität, zu der Recht und Staat in der pluralistischen Demokratie verpflichtet sind. »Mit der Verbürgung der Menschenwürde ist die Aufoktroyierung von Würdekonzeptionen unvereinbar.« 7 Zu Recht betont Hasso Hofmann: »Die Ausübung individueller und kollektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit im religiös-weltanschaulich neutralen Staat setzt die Akzeptanz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und die Profanität seiner Moral ebenso voraus wie die Aufnahme des Anerkennungspostulats für andere in die eigene religiöse Verkündung. Aktivitäten jenseits dieser Grenze können dem fundamentalen Ordnungsanspruch des Staates nicht durch Berufung auf die Freiheit von Religion und Weltanschauung entzogen werden.« 8 Das GG hat – wie alle Verfassungen, die eine Würdenorm kennen – auf eine bestimmte weltanschauliche Würdedefinition verzichtet; es bemüht weder den Begriff einer in Gottesebenbildlichkeit gründenden ›Natur des Menschen‹ noch das Naturrecht. 9 Das BVerfG hat – hierauf sei noch einmal hingewiesen – bereits in einem Urteil des Ersten Senats vom 29. Juli 1959 aus Anlass der Frage, »ob die Einheit der Familie die primäre Zuständigkeit des Vaters für die Konfliktentscheidung notwendig fordert«, darauf hingewiesen, diese Frage sei »vielfach auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellungen erörtert worden«. Es hat festgestellt: »Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr bestrittenen Fragen des Verhältnisses ›Naturrecht und Geschichtlichkeit‹, ›Naturrecht und positives
6 7 8 9
Vgl. hierzu Kapitel 7 in diesem Buch. Pieroth/Schlink 1994, Rn. 385. Hofmann 2008a, S. 27. Vgl. Kunig in v. Münch/Kunig, GG-K I, 6. Aufl. 2012, Rn. 21.
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8 · Rechtspositivismus oder Naturrecht?
Recht‹ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht.« 10 Mit der Naturrechtsproblematik im GG hat sich E.-W. Böckenförde anlässlich der Neukommentierung von Art. 1 GG durch Michael Herdegen im GG-Kommentar Maunz/Dürig auseinandergesetzt, in der die Abwägungsresistenz der Würdenorm bestritten wird. Böckenförde verneint die Frage, ob »die Ablösung der Menschenwürdegarantie von ihrem vor-positiven Fundament, ihr Verständnis als ›rein staatsrechtlicher Begriff‹, wie Herdegen sagt, nicht eine Notwendigkeit, die Befreiung zum positiven Recht aus den Fesseln naturrechtlicher oder objektiver Wertordnungsargumentation, die nicht mehr konsensfähig ist«, sei. Böckenförde fragt aber auch, ob das »Verfassungsgericht heute noch mit dem Begriff Mensch oder Menschenwürde so naturrechtlich-ontologisch umgehen kann, als seien diese keine menschlichen kulturellen Schöpfungen, sondern platonische Ideen, die jedem Wandel von Denken und Verstehen der Menschen und dem Wandel ihrer Entscheidungen über den Bedeutungswandel von Begriffen unzugänglich sein sollen«. Die Antwort ist eindeutig: »Ich schätze das Naturrecht und naturrechtliches Denken sehr, aber es ist nicht aus sich heraus Teil und Inhalt des geltenden positiven Rechts, sondern gehört in den Bereich der Rechtsethik, der Kritik und eventuell Delegitimierung des positiven Rechts und der Anstöße zur Änderung und Verbesserung dieses Rechts.« 11 Diese Antwort des Katholiken Böckenförde wird in offiziellen Verlautbarungen des Vatikans nicht geteilt.
Religion und Naturrecht: Die katholische Kirche Für ein naturrechtliches Rechtsverständnis plädiert vor allem die katholische Kirche. Dies zeigt z. B. das Instrumentum laboris 12 der Außerordentlichen Bischofssynode zu den ›Pastoralen Herausforderungen der Familie‹, das eine »Problemanzeige hinsichtlich des NaBVerfGE 10, 59 (79). Böckenförde 2004, S. 1222 f. 12 Bischofssynode, III. außerordentliche Generalversammlung. Die pastoralen Herausforderungen im Hinblick auf die Familie im Kontext der Evangelisierung: Instrumentum laboris, Vatikanstadt 2014. Kapitel III, Nr. 20–30. http://www.vatican.va/ roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20140626_instrumentum-laboris-fa milia_ge.html. Abruf überprüft am 4. 2. 2015. Vgl. hierzu Goertz 2014. 10 11
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
turrechts heute« enthält: In den vor der Synode eingeholten Antworten und Bemerkungen von Katholiken »erscheint heute in den verschiedenen kulturellen Kontexten das Konzept des ›Naturrechts‹ als solches sehr schwierig, wenn nicht gar unverständlich. Es handelt sich um einen Ausdruck, der verschieden interpretiert oder einfach nicht verstanden wird. […] Aus den Antworten und Bemerkungen geht außerdem hervor, dass das Adjektiv ›natürlich‹ dazu neigt, manchmal im Sinne einer subjektiven Bedeutung als ›spontan‹ interpretiert zu werden. Die Menschen neigen dazu, das Gefühl und die Emotionalität stärker zu bewerten; diese Dimensionen erscheinen als ›authentisch‹ und ›originär‹ und es ist daher ›natürlich‹, sie zu befolgen. Die zugrundeliegenden anthropologischen Vorstellungen berufen sich einerseits auf die Autonomie der menschlichen Freiheit, die nicht notwendiger Weise an eine objektive natürliche Ordnung gebunden ist, und andererseits auf das menschliche Streben nach Glück, das als Verwirklichung der eigenen Wünsche verstanden wird. Von daher wird das Naturrecht als überwundenes Erbe empfunden. Heute stellt, nicht nur im Westen, sondern zunehmend in allen Teilen der Welt, die wissenschaftliche Forschung eine ernstzunehmende Herausforderung für die Vorstellung von Natur dar. Wenn sich die Evolution, die Biologie und die Neurowissenschaft mit der traditionellen Idee des Naturrechtes befassen, kommen sie zu dem Schluss, dass es nicht ›wissenschaftlich‹ ist.« 13 Beklagt wird auch, »der Begriff der Menschenrechte [werde] allgemein als ein Verweis auf die Selbstbestimmung des Subjektes verstanden, nicht mehr als in der Idee des Naturrechts verwurzelt. Diesbezüglich weisen viele darauf hin, dass die Gesetzgebung in zahlreichen Ländern damit beschäftigt ist, Situationen zu regeln, die im Gegensatz zu traditionellen Bestimmungen des Naturrechts stehen (zum Beispiel die In-vitro-Fertilisation, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, die Manipulationen am menschlichen Embryo, die Abtreibung, usw.). In diesem Zusammenhang stößt man auf die wachsende Verbreitung der als gender theory bezeichneten Ideologie, entsprechend der das gender jedes Individuums nur das Ergebnis von Bedingungen und sozialen Bedürfnissen ist. Auf diese Weise hört es auf, eine Entsprechung in der biologisch bedingten Sexualität zu haben.« 14 13 14
Ebd., Nr. 21 f. Ebd., Nr. 23.
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8 · Rechtspositivismus oder Naturrecht?
Wie in zahlreichen anderen vatikanischen Verlautbarungen ist auch in Instrumentum laboris der Rechtspositivismus der Gegenspieler, für den »das, was vom staatlichen Gesetz – das immer mehr vom Positivismus bestimmt wird – geregelt wird, in der allgemeinen Mentalität auch moralisch akzeptabel wird. Das, was ›natürlich‹ ist, wird zunehmend nur vom Individuum und von der Gesellschaft bestimmt, den einzigen Richtern über die ethischen Entscheidungen.« Deshalb sieht sich die katholische Kirche mit »dem Verlust der Bedeutung von ›Naturrecht‹« konfrontiert. 15 Die Deutsche Bischofskonferenz sprach in ihrer Zusammenfassung der Antworten der Gläubigen deutscher Diözesen offen aus, »dass selbst unter den Gläubigen die lehramtlich als verbindlich geltenden naturrechtlichen Normen im Bereich von Sexualität, Ehe und Familie kaum rezipiert werden. ›Faktisch stehen die Einstellungen von einer Mehrheit der Menschen zu wichtigen Fragen von Ehe und Familie im Widerspruch zu einem Naturrecht traditioneller Prägung‹.« 16 Diese über die deutsche Situation hinaus verallgemeinerbare realistische Einschätzung dürfte der Grund für ein um so stärkeres kirchliches Engagement für die Prinzipien des Naturrechts sein. Die beim Vatikan angesiedelte ›Internationale theologische Kommission‹ veröffentlichte im Jahre 2009 einen entsprechenden Text unter dem Titel ›Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz‹. 17 Den Argumentationshorizont bildet die These, seit Jahrzehnten sei »die Frage der ethischen Grundlagen des Rechts und der Politik in bestimmten Sektoren der gegenwärtigen Kultur ausgeklammert worden. Unter dem Vorwand, dass jeder Anspruch auf eine objektive und universale Wahrheit Quelle von Intoleranz und Gewalt sei und dass allein der Relativismus den Pluralismus der Werte und die Demokratie erhalten könne, rechtfertigt man den Rechtspositivismus, der es ablehnt, sich auf ein objektives, ontologisches Kriterium für das Gerechte zu beziehen.« In dieser Perspektive sei »der letzte Horizont des Rechts und der sittlichen Norm die geltende Gesetzgebung, die definitionsgemäß gerecht ist, weil sie den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt«. Damit sei der Weg Ebd., Nr. 24 f. Goertz 2014, S. 509. 17 http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_con_ cfaith_doc_20090520_legge-naturale_ge.html. Abruf überprüft am 4. 2. 2015. 15 16
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
»offen für die Willkür der Macht, für die Diktatur der zahlenmäßigen Mehrheit und für die ideologische Manipulation, zum Schaden des Gemeinwohls«. Der Rechtspositivismus sei »offenkundig unzureichend, denn legitim handeln kann der Gesetzgeber nur innerhalb gewisser Grenzen, die aus der Würde der menschlichen Person hervorgehen, und im Dienst der Entwicklung des authentisch Menschlichen. Der Gesetzgeber kann also die Festlegung dessen, was menschlich ist, nicht äußerlichen und oberflächlichen Kriterien überlassen, wie es zum Beispiel geschähe, wenn er alles aus sich heraus legitimierte, was im Bereich der Biotechnologien realisierbar ist. Kurz, er muss auf ethisch verantwortliche Weise handeln. Weder kann die Politik von der Ethik absehen noch die zivilen Gesetze und die Rechtsordnung von einem höheren Moralgesetz.« 18 ›Dem‹ Rechtspositivismus wird das ›natürliche Sittengesetz‹ entgegengesetzt: »Das natürliche Sittengesetz (lex naturalis) drückt sich als Naturrecht (jus naturale) aus, sobald man die Beziehungen der Gerechtigkeit zwischen den Menschen bedenkt: Beziehungen zwischen den physischen und sittlichen Personen, zwischen den Personen und der öffentlichen Gewalt, Beziehungen aller zum positiven Gesetz. Wir gehen von der anthropologischen Kategorie des natürlichen Sittengesetzes zur juridischen und politischen Kategorie der Organisation des Gemeinwesens über. Das Naturrecht ist das innewohnende Maß des Ausgleichs zwischen den Gliedern der Gesellschaft. Es ist die Regel und das innere Maß der interpersonalen und der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. […] Das Recht ist nicht willkürlich: die Anforderung der Gerechtigkeit, die sich aus dem natürlichen Sittengesetz herleitet, geht der Formulierung und dem Erlass des Rechts voraus. Es ist nicht das Recht, das darüber entscheidet, was gerecht ist. Auch die Politik ist nicht willkürlich: die Normen der Gerechtigkeit sind nicht nur das Ergebnis eines zwischen Menschen geschlossenen Vertrags, sondern gehen zunächst aus der Natur der Menschen selbst hervor. Das Naturrecht ist die Verankerung der menschlichen Gesetze im natürlichen Sittengesetz. Es ist der Horizont, nach dem der menschliche Gesetzgeber sich in seinen Entscheidungen richten muss, wenn er in seiner Sendung zum Dienst am Gemeinwohl Normen erlässt. In diesem Sinne gibt er dem natürlichen Sittengesetz die Ehre, das dem Menschsein des Menschen innewohnt. Wenn demgegenüber das Naturrecht negiert wird, dann 18
Ebd., Nr. 7.
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schafft allein der Wille des Gesetzgebers das Gesetz. Dann aber ist der Gesetzgeber nicht mehr der Interpret dessen, was gerecht und gut ist, sondern maßt sich das Vorrecht an, oberstes Kriterium des Gerechten zu sein.« 19 Die Schlussfolgerung lautet: »Das positive Recht muss sich bemühen, die Anforderungen des Naturrechts umzusetzen. Dies geschieht entweder in der Weise der Schlussfolgerung (das Naturrecht verbietet den Mord, das positive Recht untersagt die Abtreibung) oder in der Weise der Festlegung (das Naturrecht schreibt vor, die Schuldigen zu bestrafen, das positive Strafrecht legt die Strafen fest, die für jede Kategorie von Straftaten anzuwenden sind). Insofern sie sich wahrhaft vom Naturrecht, also vom ewigen Recht herleiten, verpflichten die positiven menschlichen Gesetze im Gewissen. Im entgegengesetzten Fall verpflichten sie nicht. […] Die Naturrechte sind Maßstäbe für die menschlichen Beziehungen, vorgängig zum Willen des Gesetzgebers. Sie sind gegeben, sobald Menschen in Gemeinschaft leben. Was von Natur aus gerecht ist, vor jeder gesetzlichen Formulierung, das ist das Naturrecht.« 20 In diesem Sinne hat auch Papst Benedikt XVI. immer wieder zugunsten des Naturrechts interveniert: »Immer wenn das Naturrecht und die Verantwortlichkeit, die es einschließt, geleugnet werden, wird auf dramatische Weise der Weg zum ethischen Relativismus auf individueller Ebene frei und der Weg zum staatlichen Totalitarismus auf der politischen Ebene. Die Verteidigung der allgemeinen Menschenrechte und der Grundsatz vom absoluten Wert und Würde der Person erfordern ein Fundament. Ist dieses Fundament nicht gerade das Naturrecht mit seinen unverbrüchlichen Werten, auf die es verweist?« 21 In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 hat Benedikt XVI. erklärt: »In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine
Ebd., Nr. 88 f. Ebd., Nr. 91 f. 21 Benedikt XVI., Das Naturrecht ist das Fundament der Menschenrechte und der Menschenwürde. Zweite Katechese zum heiligen Kirchenlehrer Thomas von Aquin (2010); http://www.zenit.org/de/articles/das-naturrecht-ist-das-fundament-der-men schenrechte-und-der-menschenwurde. Abruf überprüft am 4. 2. 2015. 19 20
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Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. […] Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.« Auch in dieser Rede bildete der Rechtspositivismus – erwähnt wurde Hans Kelsen – das zu verwerfende Gegenbild: »Das positivistische Konzept von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganzes ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne 247 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
8 · Rechtspositivismus oder Naturrecht?
Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen.« 22
Bioethik, Naturrecht und Rechtspositivismus Zu den Problemen, über die heftig gestritten wird und zu denen vor allem seitens des offiziellen Katholizismus restriktive Lösungen verlangt werden, gehören die Probleme der Bioethik 23, die unmittelbar das Leben und Sterben aller Menschen betreffen. 24 Die Bioethik wird »üblicherweise als Zweig der sog. angewandten Ethik angesehen, so dass Antworten auf spezielle bioethische Fragen aus einer allgemeinen Theorie des moralisch richtigen Handelns abgeleitet werden sollten. Nun gibt es freilich eine Vielzahl konkurrierender ethischer Theorien«, die sich auf den Utilitarismus, die Goldene Regel oder auf eine Ethik der Menschenwürde berufen. 25 W. Lenzen erklärt, ungeachtet der Differenzen zwischen den ethischen Theorien könne »als oberster Grundsatz die folgende Verallgemeinerung des ›Nonmaleficence‹-Gedankens angenommen werden […]: Die Handlung H einer Person P ist jedenfalls dann moralisch unbedenklich, wenn durch H niemand anderem geschadet wird.« 26 Diesem Prinzip folgt – allerdings in Verbindung mit der Würdenorm – auch das ›Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin‹ (Oviedo, 4. 4. 1997) 27: Art. 1: »Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens schützen die Würde und die Identität aller menschlichen Lebewesen und gewährleisten jedermann ohne Diskriminierung die Wahrung seiner Integrität sowie seiner sonstigen Grundrechte und Grundfreiheiten im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin. Jede Vertragspartei ergreift in ihrem internen Recht die notwendigen Maßnahmen, um diesem Übereinkommen http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/re de/250244. Abruf überprüft am 4. 2. 2015. 23 Vgl. den enzyklopädischen Artikel Lenzen 2010. 24 Vgl. u. a. Honnefelder 2006. 25 Ebd., S. 302. 26 Ebd. 27 http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/164.htm. Abruf überprüft 5. 2. 2015. Zur Medizinethik vgl. Schöne-Seifert 2007. 22
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
Wirksamkeit zu verleihen.« Art. 2: »Das Interesse und das Wohl des menschlichen Lebewesens haben Vorrang gegenüber dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft.« Wie angesichts der abstrakten Allgemeinheit derartiger normativer Aussagen nicht anders zu erwarten, beginnt der Streit über bioethische Probleme jenseits dieser Normen. Der Streit lässt sich nicht auf Rechtspositivismus oder Naturrecht 28 reduzieren; häufig wird je nach Problemlage und Kompromissnotwendigkeit in Mischungen dieser beiden Positionen argumentiert; doch spielen beide Konzeptionen – zumindest implizit – bei der Politikberatung durch Ethikkommissionen, bei parlamentarischen Entscheidungen und bei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bzw. des Europäischen Gerichtshofs 29 eine wichtige Rolle. Auch in diesem Kontext erhebt die katholische Kirche – naturrechtliche Prinzipien anmahnend – ihre Stimme. In einer Instruktion ›Dignitas Personae. Über einige Fragen der Bioethik‹ beklagt die vatikanische ›Kongregation für die Glaubenslehre‹, es fehle »nicht an Vertretern der Philosophie und der Wissenschaft, welche die fortschreitende Entwicklung der biomedizinischen Technologien mit einer im Grunde eugenischen Perspektive betrachten. In Wirklichkeit hat man den Eindruck, dass einige Wissenschaftler ohne jeglichen sittlichen Anhaltspunkt und im Bewusstsein der Möglichkeiten des technologischen Fortschrittes der Logik der bloß subjektiven Wünsche und dem ökonomischen Druck nachgeben, der auf diesem Gebiet sehr groß ist.« Wenn die Auffassung vertreten werde, »dass die eventuell durch embryonale Stammzellen erreichbaren therapeutischen Ziele verschiedene Formen der Manipulation und der Vernichtung von menschlichen Embryonen rechtfertigen könnten«, seien »im Bereich der Gentherapie, des Klonens und der Verwendung von Stammzellen« Fragen zu klären, »die einer sorgfältigen sittlichen Unterscheidung bedürfen. Man muss zunächst daran erinnern, dass die sittliche Bewertung der Abtreibung auch auf die neuen Formen des Eingriffs auf menschliche Embryonen angewandt werden muss, die unvermeidlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind. Das ist bei der Durchführung von Versuchen an Embryonen gegeben, die auf dem Zu Naturrecht und Bioethik vgl. Siep 2008 und 2013. Zu neueren Entscheidungen des EGMR und EuGH im Bereich der Bioethik vgl. Piskernigg 2012.
28 29
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Gebiet der biomedizinischen Forschung in wachsender Zunahme begriffen sind und in einigen Staaten gesetzlich erlaubt ist. Die Verwendung von Embryonen oder Föten als Versuchsobjekt stellt ein Verbrechen dar gegen ihre Würde als menschliche Geschöpfe, die das Recht auf dieselbe Achtung haben, die dem bereits geborenen Kind und jeder Person geschuldet wird. Die Durchführung von solchen Versuchen stellt immer ein schweres sittliches Vergehen dar.« 30 In einer Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der päpstlichen Akademie für das Leben erklärte Benedikt XVI. im Februar 2010 unter Bezugnahme auf seine Enzyklika Caritas in veritate: »Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat oder ob er von Gott abhängt. Die wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet und die Möglichkeiten technischer Eingriffe scheinen so weit vorangekommen zu sein, daß sie uns vor die Wahl zwischen den zwei Arten der Rationalität stellen: die auf Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Vernunft.« Allein die »Verbindung von Bioethik und natürlichem Sittengesetz« erlaube es, »den notwendigen und unausweichlichen Rückbezug auf die Würde, die das menschliche Leben von seinem ersten Augenblick bis zu seinem natürlichen Ende besitzt, bestmöglich zu vollziehen«. Die Geschichte habe gezeigt, »wie gefährlich und schädlich ein Staat sein kann, der fortlaufend Gesetze über Fragen erläßt, die die Person und die Gesellschaft berühren, wobei er vorgibt, selbst Quelle und Prinzip der Ethik zu sein. Ohne universale Prinzipien, die einen gemeinsamen Nenner für die ganze Menschheit feststellen lassen, darf die Gefahr eines relativistischen Abdriftens auf der Gesetzgebungsebene keinesfalls unterschätzt werden.« 31
http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_ cfaith_doc_20081208_dignitas-personae_ge.html. Abruf überprüft 5. 2. 2015. 31 http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2010/february/documents/ hf_ben-xvi_spe_20100213_acdlife.html. Abruf überprüft 5. 2. 2015. 30
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
Es versteht sich, dass die von katholischer Seite erhobenen restriktiven Forderungen auch in Ethikgremien des pluralistischen laizistischen Staates Gegenstand der Debatte sind. Dies belegen z. B. Diskussionen im deutschen ›Nationalen Ethikrat‹. Der Philosoph Wolfgang van den Daele hob hier auf das »Faktum des ethischen Pluralismus« ab: »Wir sind daran gewöhnt, dass sich die Menschen in Bezug auf ihre Präferenzen im Hinblick darauf unterscheiden, was sie gut finden, was sie wollen, was sie anstreben. Das ist für uns kein Problem. Wir sind ebenfalls daran gewöhnt, dass wir in Bezug auf Werte, Dinge, die man wertvoll findet, die schon mit einem gewissen normativen Anspruche versehen sind, also auf Dinge, die man verwirklichen soll, unterschiedliche Vorstellungen haben. […] Was aber auch im Ethikrat schwerfällt, ist die Relativierung der eigenen Position, die darin liegt, dass es eine andere Moral gibt, die ebenfalls nach außen zu kommunizieren ist. Ich muss auch zugeben, dass diejenigen, die immer nachgeben müssen, weil moralische Positionen unter Liberalismusdruck geraten, die schwierigere Rolle haben, dass sie nämlich sagen müssen: Es gibt unterschiedliche Moral.« 32 Der Verfassungsrechtler Horst Dreier betonte, dass »das Grundgesetz und moderne Verfassungen beim Pluralismus eigentlich nicht zwischen mehr oder minder intensiven moralischen Fragen und anderen Fragen unterscheiden«. Pluralismus umfasse »Werthaltungen, Überzeugungen, aber natürlich auch Überzeugungen moralischer und ethischer Art«. Dreier formulierte hierzu drei Thesen: »These eins: Der Pluralismus ist integraler Bestandteil des freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates. These zwei: In Grenzfällen muss diese Pluralität gleichsam künstlich hergestellt werden. These drei: Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes setzt pluraler Vielfalt in bestimmter Hinsicht Grenzen.« Aus demokratietheoretischer Sicht sei »der Befund einer grundgesetzlichen Garantie und Stabilisierung des Pluralismus eindeutig. Denn sie, die Demokratie, ist eigentlich gar nicht anders zu denken als eine plurale Veranstaltung mit einem breiten Wettstreit an Ideen, Konzepten, Werthaltungen zwischen den Parteien, der wiederum begleitet und unterfangen sein muss von einem steten Prozess freier politischer Willensbildung und offener
32 Nationaler Ethikrat. Wortprotokoll. Niederschrift über den öffentlichen Teil der Sitzung 23. März 2006 in Berlin, S. 2 f. http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/wort protokoll-2006–03–23.pdf. Abruf überprüft am 12. 06. 2015.
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Kommunikation, was wiederum nur heißen kann: von einer pluralen gesamtgesellschaftlichen Diskussion.« 33 Gegenüber diesen eher formalen rechtsstaatlichen Bestimmungen machte der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff – ohne expliziten Rekurs auf das Naturrecht, dessen offizieller katholisch-kirchlicher Propagierung er skeptisch gegenübersteht 34 – materiale wertethische Prinzipien geltend: »Pluralismus als Vielfalt – das ist ein positiver Wert, der gerade auch die demokratische Lebenseinstellung kennzeichnet. Aber wenn es sich um moralischen Pluralismus handelt, dann kann sich darin ein für die Demokratie überlebenswichtiges Problem verbergen, nämlich dann, wenn der moralische Pluralismus nicht nur Konzeptionen des guten Lebens betrifft, sondern im strikten Sinn die engere Gerechtigkeitsmoral, die das ethische Fundament ist, auf dem die Demokratie selber aufruht.« Mit der Pluralität der Vorstellungen vom guten Leben könne sich »eine staatliche Gemeinschaft leicht abfinden. Da ist Einheitlichkeit der Lebensvollzüge gar nicht unbedingt erstrebenswert. Da kann man sich auch einfach mit dem Postulat der Toleranz und der gleichberechtigten Achtung voreinander helfen. Dann gilt eben: Jeder muss die eigene Lebensführung vor sich selbst verantworten und er trägt auch ihre Risiken.« Dies könne aber nicht mehr gelten, sobald »unterschiedliche moralische Auffassungen nicht nur die eigene Lebensführung, sondern strikte Fragen der Gerechtigkeit betreffen. Gerechtigkeitsfragen sind Ebd., S. 3 f. Vgl. hierzu auch Mohr 2008, S. 137: Mohr betont, auch Pluralisten seien »der Auffassung, daß bestimmte normative Grundorientierungen universalen Geltungsanspruch erheben können und sollen. Dies gilt etwa für die Menschenrechte, aber es gilt auch für einige andere, fundamentale und oft weniger greifbare Normen oder Rechtsgrundsätze als es die Menschenrechte sind. Es sind normative Grundorientierungen, die nicht auf bestimmte Norminhalte, sondern nur die Existenzbedingungen für eine Kooperation von Normautoren und Normadressaten divergierender Moralvorstellungen festlegen.« 34 »Ob man den Begriff Naturrecht überhaupt weiterverwenden soll, halte ich für sehr fraglich. Das erweckt sofort den Verdacht, die Kirche versuche hier unter dem Deckmantel allgemeiner Vernunfteinsicht spezifisch katholische Besonderheiten in die Ethik einzubringen. Deshalb sollte man lieber das, wofür das Naturrecht in der Vergangenheit stand, starkmachen: Nämlich eine Ethik, die am Gedanken der Menschenwürde und der Verantwortung orientiert ist und sich nicht auf partikuläre Traditionen stützt, sondern auf die Vernunfteinsicht des Menschen. Das war der Grundgedanke des Naturrechts, und das kann man entfalten, ohne dass man diese spezifische Begrifflichkeit verwendet.« http://www.katholisch.de/de/katholisch/the men/kirche_2/141006_schockenhoff_naturrecht.php. Abruf überprüft am 6. 2. 2015. 33
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Das Grundgesetz, die Würdenorm und das Naturrecht
dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur eigene Rechte und Handlungsspielräume betreffen, sondern dass es darin immer um die Rechte anderer geht, um fremde Ansprüche, die von den eigenen Handlungen betroffen sind. Solche Gerechtigkeitsfragen lassen sich eben nicht einfach durch liberale Toleranz aus der Welt schaffen. Das ist vielleicht die große Versuchung eines liberalen Ethos – weil es eine schwache Konzeption des guten Lebens vertritt –, anzunehmen, dass das identisch sei mit dem kompromissfähigen Minimalethos, das die Demokratie als solches voraussetzt. Das ist aber ein Irrtum. Das Ethos der Demokratie besteht eben in dem harten Kern der Gerechtigkeitsmoral, während es Konzeptionen des guten Lebens offen lässt, seien sie liberaler oder anderer Auffassung.« 35 In dieser Konzeption steht fraglos fest, was Gerechtigkeit ist. Doch auch die Antworten auf diese Frage sind und bleiben kontextuell und kontrovers. Deshalb sei noch einmal an Hans Kelsens Was ist Gerechtigkeit? erinnert: »Und in der Tat, ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf ist und sohin das Wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.« 36 Angesichts offenkundig heterogener juristischer, moralphilosophischer und bioethischer Stellungnahmen haben B. Gill und M. Dreyer unter dem Titel ›Statt nationalem Ethikrat: Mit dem Dissens leben! Dezentrale Diskursverfahren in der Zivilgesellschaft‹ vorgeschlagen, »den biotechnischen Konflikt als einen Konflikt zwischen unterschiedlichen, in sich begründeten und nicht aufeinander reduzierbaren Weltbildern zu verstehen« – als einen Konflikt, bei dem »sich beide Seiten auf alltagsweltliche Moralvorstellungen« berufen können. »Die Differenz zwischen den Weltbildern ist weder mit überlegenem Wissen, also Expertenkonsens zu überwinden, noch gibt es einen gemeinsamen Maßstab, der einen systematischen Interessen-
35 36
Ebd. Kelsen 2000, S. 52.
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ausgleich ermöglichen würde. Insofern sind also Expertengremien – wie zum Beispiel der Nationale Ethikrat – fehl am Platz.« 37 Nicht weniger radikal fällt Wolfgang Kerstings ›Kritik des genethischen Fundamentalismus‹ aus: »Mit ihren biowissenschaftlichen Fortschritten steht die moderne Zivilisation vor einer Situation, in der die traditionelle Orientierungsleistung der modernen Moral versagt, in der der Autonomiezuwachs des Könnens sich dem Reglement des autonomen Sollens immer mehr entzieht. Die herkömmliche Moral kann das Machtvakuum nicht schließen, das durch die biotechnologische Schicksalsentmachtung entstanden ist. Die neuen Ethiken, die dem Emanzipationszug der Genommedizin hinterherhasten, können sich auf keinerlei Rückendeckung durch moralische Selbstverständlichkeiten verlassen. […] Um die Begriffe des Menschenrechts und der Menschenwürde für die moralische Normierung von Reproduktionsmedizin und Genetik zu nutzen, wird der Anwendungsbereich der rechtsethischen Großprädikate auf das gesamte biologische Entwicklungsstadium des Menschen ausgedehnt. Das führt zur Rückdatierung des Beginns des rechtspersonalen Status auf den Zeitpunkt der Befruchtung. Aber nicht nur wird die Klasse der Menschenrechtssubjekte auf befruchtete Eizellen und Embryonen ausgedehnt, auch die Menschenrechte werden vermehrt. Um Gentechnik, Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik in die Schranken zu weisen, wird ein Recht auf Naturwüchsigkeit, auf Unantastbarkeit der natürlichen Prägung, auf ungeplante Identität, auf Unvollkommenheit dekretiert. Das Menschenrecht wird wieder zum Naturrecht; und reproduktionsmedizinische und gentechnische Handlungen gewinnen die Qualität von peccata contra naturam.« 38
Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht Das Völkerrecht »ist das Recht, das für und zwischen den Subjekten dieses Rechts gilt. Es bildet nach der überwiegend akzeptierten dualistischen Theorie eine eigene (internationale) Rechtsordnung neben
http://epub.ub.uni-muenchen.de/13893/1/gill_13893.pdf, S. 2. Abruf überprüft am 5. 2. 2015. 38 Wolfgang Kersting, Kritik des genethischen Fundamentalismus. In: velbrueck online magazin. http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdfs/26.pdf. Abruf überprüft am 5. 2. 2015. 37
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Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht
den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. Das Völkerrecht ist demgemäß durch eigene Rechtssubjekte, eigene Rechtserzeugungsweisen und eigene Rechtsdurchsetzungsmechanismen charakterisiert. Es beansprucht juridische Verbindlichkeit, die ihm trotz des nach wie vor bestehenden Defizits an institutionalisierten Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten heute nicht mehr abgesprochen wird. Dies schließt den Streit über den Inhalt von Völkerrechtsregeln und sogar die Existenz solcher Normen, soweit sie unkodifiziert sind, nicht aus. Das Völkerrecht beansprucht Universalität, d. h. es will für alle diejenigen gelten, die Adressaten der jeweiligen Norm sind, unabhängig von geografischen und kulturellen Besonderheiten.« 39 Wie nach 1945 im nationalen Verfassungsrecht um natur- oder positivrechtliche Gründe für die Geltung der Grundrechte im demokratischen Rechtsstaat gerungen wurde, wurde auch um Gründe für die Geltung der Normen des Internationalen Rechts und für eine menschenrechtliche Weltordnung gestritten. Nach 1945 gab es eine Tendenz zur Begründung des Völkerrechts aus – durchaus unterschiedlich interpretierten – naturrechtlichen Quellen. 40 Der Staats- und Staatskirchenrechtler Ulrich Scheuner erklärte 1950: »Zugleich mit den tiefgehenden Veränderungen in der Struktur der Völkergemeinschaft, die sich heute anbahnen und die auf eine Starkung der internationalen Solidarität, eine Einschränkung der einzelstaatlichen Souveränität und eine gemeinsame Bekämpfung der Gewalt im internationalen Leben hinzielen, geht eine Wandlung in den allgemeinen Anschauungen über Natur und Grundlage des VölKlein 2010, S. 2912. Völkerrechtssubjekte »sind Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten. Neben die Staaten, deren Zahl sich durch die Dekolonisierung und den Zusammenbruch des kommunistischen Staatensystems 1989/90 deutlich vermehrt hat, sind viele, über die Anzahl der Staaten weit hinausreichende internationale Organisationen getreten, die den Kreis der Völkerrechtssubjekte vermehrt haben. Völker werden als Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechts anerkannt. Die bedeutsamste Veränderung aber ist die Anerkennung der Individuen als Rechtsträger und Verpflichtete auf der internationalen Ebene (Menschenrechte, Völkerstrafrecht); sie werden nicht mehr vollständig durch ihren Heimatstaat mediatisiert. Auch Staatenlose können sich auf genuin eigene Rechte berufen. Ferner sind Nichtregierungsorganisationen zu Akteuren auf der internationalen Bühne geworden« (ebd., S. 2915). 40 Zu verweisen ist z. B. auf H. Lauterpacht, International Law and Human Rights, London 1950; A. Verdross, Völkerrecht, Wien 21950; zur naturrechtlichen Perspektive vgl. S. 30 f.; A. Wegner, Neuaufgegebene Bemerkungen über Naturrecht und Völkerrecht. In: Juristische Rundschau, H. 11/1950; R. v. Laun, Naturrecht und Völkerrecht, Göttingen 1954. Vgl. zur Kritik metajuridischer naturrechtlicher Begründungen im Völkerrecht Doering 2004, S. 5 ff. 39
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kerrechts vor sich. Noch vor 25 Jahren beherrschte der juristische Positivismus in der Völkerrechtslehre das Feld. Heute treten allenthalben naturrechtliche Gedankengänge in Erscheinung, jedenfalls ist die Abkehr von einer positivistischen Einstellung deutlich ausgeprägt. Mit der Herrschaft des Positivismus waren bestimmte Grundauffassungen des 19. Jahrhunderts eng verbunden, die heute den Gegenstand, kritischer Auseinandersetzungen bilden: Die volle staatliche Souveränität, die ausschließliche Qualität der Staaten als Subjekte des Völkerrechts, damit also der Ausschluß der Individuen von jedem nicht durch den Staat vermittelten direkten Zugang zum Völkerrecht, der Krieg als erlaubtes Mittel politischer Streitentscheidung. Seit dem ersten Weltkrieg vollzieht sich eine Abkehr von diesen Anschauungen. […] Das Hervortreten des Naturrechts in der heutigen Völkerrechtslehre beruht auf der Vereinigung verschiedener Strömungen. Es hat seine Gründe im Wandel der theoretischen Anschauungen. Die Rechtslehre und darüber hinaus das philosophische Denken wenden sich ab von einem formalistischen Transzendentalismus und von dem Materialismus einer rein kausal-wissenschaftlichen Denkweise. Sie richten den Blick wieder auf die ontologischen Grundfragen, und mit den Strukturen des Seins treten auch die bleibenden Ordnungen und Institutionen des Rechts wieder in den Kreis der Betrachtung. Aus der empirischen Sphäre kommt das Bedürfnis, in den Erschütterungen der Gegenwart im Naturrecht den festen und unverrückbaren Boden für eine Völkerrechtslehre zu gewinnen, die sich gegenüber der Macht des Staates und ihrem Mißbrauch zu behaupten vermag.« 41 Der Bezugspunkt der Plädoyers dafür, ›im Naturrecht den festen und unverrückbaren Boden‹ für das Völkerrecht zu gewinnen, war – und ist in der katholischen Kirche auch heute 42 – Thomas von Aquins Scheuner 1950/51, S. 556 f. Ulrich Scheuner hatte während des ›Dritten Reiches‹ die Legitimität und Legalität der nationalsozialistischen ›Revolution‹ und des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 bejaht und die nationale Einheit des Volkes durch die Idee des Volkstums und der ›Rasse‹ begründet. 42 Papst Franziskus betonte jüngst: »In dem Masse, in dem die Menschen sich bewusst werden, dass sie Mitverantwortliche des Schöpfungsplanes sind, werden sie auch fähig, sich gegenseitig zu respektieren, statt sich zu bekämpfen und dadurch den Planeten zu schädigen und ärmer zu machen. Auch die Staaten, die als eine Gemeinschaft von Menschen und Völkern konzipiert sind, sind dazu aufgerufen, gemeinsam zu handeln, dazu bereit zu sein, sich untereinander zu helfen durch die Prinzipien und Normen, die das Völkerrecht ihnen zur Verfügung stellt. Eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration ist das Naturrecht, das in das menschliche Herz eingeschrieben ist und 41
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Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht
Summa theologica, in deren ›Drittem Artikel‹ es zur These »Das Völkerrecht fällt nicht mit dem Naturrecht zusammen« heißt: »a) Das wird bestritten. Denn: I. Nur im Naturrecht kommen alle Menschen überein. ›Das Völkerrecht aber,‹ sagt Ulpianus (lib. 9. ff. de jur. et just.), ›ist jenes Recht, dessen alle Menschen sich bedienen.‹ II. Die Knechtschaft unter den Menschen ist mit der Natur gegeben […]. Sie gehört aber zum Völkerrecht […]. III. Das Völkerrecht ist nicht ein positives Recht; also ist es Naturrecht.« 43 Während sich bis heute in verfassungsrechtlichen und rechtsethischen Fragen Naturrecht und Rechtspositivismus weitgehend unversöhnlich gegenüberstehen, ist dies im Völkerrecht – insbesondere bei Fragen nach der Autorität und Legitimität der Rechtsetzung – nicht gleichermaßen festzustellen. 44 Zunächst einmal scheint es »ausgemacht, dass Völkerrecht und Rechtspositivismus sich nicht besonders gut vertragen«. 45 Und es haben sich nur wenige Rechtspositivisten – unter ihnen insbesondere Kelsen und Hart – explizit zum Völkerrecht geäußert, weil dessen Rechtsstatus mangels Zwangsnormen und Sanktions- und Durchsetzungsmechanismen, die denen des Staates vergleichbar wären, nicht ohne Probleme behauptbar war. 46 Auf der anderen Seite scheitern – so M. Herdegen – »[i]n der christlichen Naturrechtslehre wurzelnde oder von bestimmten anthropologischen Prämissen geprägte vernunftrechtliche Ableitungen der Völkerrechtsordnung […] daran, dass sich der universelle Geltungseine Sprache spricht, die alle verstehen können: Liebe, Gerechtigkeit, Friede, Elemente, die nicht voneinander zu trennen sind. Wie die Menschen sind auch die Staaten und die internationalen Institutionen aufgerufen, diese Werte in einem Geist des Dialogs und des gegenseitigen Zuhörens aufzunehmen und zu pflegen. Auf diese Weise wird das Ziel, die Menschheitsfamilie zu ernähren, erreichbar« (Visita del Santo Padre Francesco alla sede della FAO in Roma in occasione della seconda Conferenza Internazionale sulla Nutrizione, 20. 11. 2014). http://press.vatican.va/content/salastampa/it/ bollettino/pubblico/2014/11/20/0864/01861.html#Traduzione%20in%20lingua% 20tedesca. Abruf überprüft am 6. 2. 2015. 43 Thomas von Aquin, Summa theologica. Secunda Pars Secundae Partis Quaestio 57, IIa–IIae q. 57 a. 3 arg. 1–3. 44 Es gibt freilich auch forsche Äußerungen wie diese: »Daß das Völkerrecht weitgehend auf Naturrecht beruht, bedarf keiner vertieften Ausführungen« (Matscher 2000, S. 106). 45 Altwicker 2012, S. 46. 46 Vgl. ebd., S. 47 ff. Andererseits schreibt Herdegen 2014, S. 30, in der Völkerrechtslehre sei »nach wie vor herrschend […] eine positivistische Sichtweise mit der Rückbindung der Völkerrechtsgeltung an die Zustimmung von Staaten: das Konsensprinzip«.
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anspruch des Völkerrechts in einer heterogenen Staatenwelt bewähren muss. Insoweit rückt die Anerkennung völkerrechtlicher Grundwerte doch wieder in die Nähe zu bestimmten Grundprinzipien, welche das Gedankengut der Aufklärung (insbesondere im Hinblick auf den Achtungsanspruch des Einzelnen) von jeder positiven Rechtsordnung einfordert. Jedoch lassen sich jüngere Rechtsentwicklungen auf einen dem Völkerrecht vorausliegenden Wertekanon zurückführen. Dies gilt für zwingende (nicht vertragsdispositive) Standards der Menschenrechte ebenso wie für aufkeimende Anforderungen an die staatliche Binnenstruktur (wie ein Mindestmaß an demokratischen Elementen).« 47 K. Ipsen bietet folgende Darstellung: »Vertreter der Naturrechtslehre ordneten das ius cogens dem jedem gesetzten Völkerrecht (ius dispositivum) vorgegebenen ius necessarium zu. Demgegenüber verneinten die Anhänger des Positivismus […] die Existenz eines ius necessarium, räumten jedoch die Möglichkeit der Nichtigkeit eines Vertrages ein, wenn dieser beispielsweise gegen die guten Sitten verstoße. Einige radikale Positivisten, die als Geltungsgrund des Völkerrechts ausschließlich den Willen der Staaten gelten ließen, gingen so weit zu behaupten, ein völkerrechtlicher Vertrag könne jeden beliebigen Inhalt ohne irgendwelche Einschränkungen haben. In der modernen Diskussion über den Begriff des ius cogens spiegelt sich der Streit zwischen Naturrechtlern und Positivisten zum Teil wider, wenngleich die extremen Positionen nicht mehr vertreten werden. Nach einer vor allem von kontinentaleuropäischen Völkerrechtlern vertretenen neonaturrechtlichen Auffassung gehören dem ius cogens Normen an, die für die Staatengemeinschaft als Ganze von grundlegender Bedeutung sind. Dies seien Normen einer unabhängigen Wertordnung, insbesondere allgemeine Rechtsgrundsätze, in denen Prinzipien der Sittlichkeit, Ethik oder Moral zum Ausdruck kommen. Doch lassen sich gemeinsame Grundwerte oder gar eine entsprechende Grundnorm im Völkerrecht kaum nachweisen.« 48 Auch wenn die Rechtsquellen des Völkerrechts im Paradigmenwechsel zu einem weltrechtlichen Konstitutionalismus 49 nach wie vor Herdegen 2014, S. 29. Ipsen 2004, S. 186 f. 49 »Der bezeichnete Paradigmenwechsel wird heute unter den Begriff der Konstitutionalisierung gefasst. […] Die Beachtung von Grundrechten ist schon lange keine innere Angelegenheit mehr […]. Staatenverbindungen zu supra- und internationalen Organisationen werden nach Kriterien betrachtet, die föderalen Systemen, den Vor47 48
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Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht
nicht unumstritten sind, 50 wurde die These einer strikten Alternativität der natur- bzw. positivrechtlichen Positionen zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch durch die immer stärkere Einbeziehung der zwischen Staaten ausgehandelten Menschenrechtsnormen in den Korpus des Völkergewohnheitsrechts deutlich abgemildert. Denn »the human rights culture comprises many different components, including survivals of the natural law and natural rights traditions. Foundationalism has, however, largely been rejected, or at least the question of the source of human rights is frequently bracketed in order to begin from the assumption that it is now a well-established fact that we have them, and to ask instead what rights we have, and what it means to have them.« 51 Obwohl der naturrechtliche Ansatz nach dem Zweiten Weltkrieg »weite Verbreitung fand – bekannte Völkerrechtler wie die Amerikaner Roscoe Pound und James Brown Scott, die Engländer Hersch Lauterpacht und J. L. Brierly, der Österreicher Alfred Verdross, die Deutschen Ernst Sauer und Rudolf Laun, die Franzosen Louis Le Fur und Paul Reuter beweisen das –, konnte er doch keine befriedigende konstruktive Lösung anbieten. […] Die Neo-Positivisten ›konterten‹ diesen Versuch, indem sie ein abstraktes Normensystem der geschichtlichen Realität gegenüberstellten (Kelsens Grundnorm, von der auch Verdross ausgeht), womit der scharfe Gegensatz zwischen Positivisbildern der neuen Mehrebenengebilde, entsprechen. Die stetig zunehmende Verfestigung internationaler Schiedsgerichtsbarkeit zu obligatorischen Systemen der Streitschlichtung insbesondere im Welthandelsrecht und in regionalen Integrationsräumen stärkt die internationale rule of law als Pendant der Rechtsstaatlichkeit. Zunehmend werden Argumente für eine allmähliche Etablierung des Demokratieprinzips im Völkerrecht vorgebracht. […] Sieht man zum einen auf die Herausbildung des ius cogens und der Normen erga omnes, zum anderen auf die Ansätze einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, werden zwei Wege erkennbar, auf denen ethische Normgehalte auf die internationale Ebene finden. Zum einen geschieht dies nach den traditionellen Mustern völkerrechtlicher Rechtserzeugung, zum anderen durchsetzen ursprünglich innerstaatliche Prinzipien in wachsendem Maße völkerrechtliche Teilordnungen und das universelle Völkerrecht« (Kadelbach 2004, S. 13). Zu einer »brief description of the origin of global constitutionalism, in particular in German international law theory«, vgl. Paulus 2011. Er stellt fest, dass die Forderung nach einem globalen Konstitutionalismus konfrontiert ist »with a fragmented global order that reflects a dismemberment of any unified conception of a single world legal order towards a world of several and distinct actors that self-order their own legal realm without much need for a coherent overarching legal system« (ebd., S. 57). 50 Vgl. zum Folgenden Sandkühler 2013, S. 455–510; vgl. auch Kokott 2000. 51 Boucher 2009, S. 282.
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mus und Naturrecht allmählich abgetragen wurde. Auch die in jüngster Zeit verstärkte Berufung auf die ›rule of law‹ bemüht sich um eine Verbindung beider Ansätze. Einerseits meint sie, den Geltungs- und Verpflichtungsgrund vom Willen und Konsens der Staaten emanzipieren und an unverzichtbare Werte der Staatengemeinschaft knüpfen zu können. Sie verweist dazu auf die wachsende Akzeptanz so genannter Erga-omnes-Normen, d. h. von allgemeinverbindlichen Regeln und Prinzipien im Völkerrecht. Andererseits kann sie jedoch die Verbindlichkeit nicht von der Praxis, d. h. der Akzeptanz und dem Konsens der Staaten abkoppeln. Denn ohne oder gegen die Staatenpraxis gibt es auch keine ›rule of law‹.« 52
Staatenrecht oder Völkerrecht? Das Völkerrecht war im »Zeitalter des Absolutismus, als sich der Souverän mit seinem Staat identifizierte, automatisch zum Recht der Staaten« geworden. Es hat sich als normatives System der Beziehungen zwischen Staaten, als Staatenrecht etabliert: »Ein Recht der Völker war das Völkerrecht zu keiner Zeit. Die irreführende Bezeichnung ›Völkerrecht‹ (law of nations, droit des gens) erklärt sich aus der Übersetzung des lateinischen Ausdrucks ius gentium.« 53 Entstanden als rechtliche Regelung der Beziehungen zwischen Souveränen, war das Völkerrecht zunächst das Recht zum Krieg. Doch bereits Hugo Grotius (1583–1645) hat in seinem epochemachenden Werk De Jure Belli ac Pacis libri tres (Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens, 1625) nicht nur den Krieg und das Recht im Allgemeinen (1. Buch) thematisiert, sondern auch die Frage nach gerechten Gründen eines Krieges aufgeworfen (2. Buch) und das im Kriege geltende Recht (3. Buch) behandelt. Der tatsächliche Zustand der Beziehungen zwischen den Staaten hat allerdings Kant im ›2. Definitivartikel zum ewigen Frieden‹ zu einer realistischen Beurteilung veranlasst, in der er Grotius zu den ›leidigen Tröstern‹ zählt: »Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältniß der Völker unverhohlen blicken läßt (indessen daß sie im bürgerlich-gesetzlichen Zustande durch den Zwang der Regierung sich sehr verschleiert), ist es doch zu verwundern, daß das Wort 52 53
Paech/Stuby 2013, S. 310. Kimminich 1976, S. 11.
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Staatenrecht oder Völkerrecht?
Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können, und sich noch kein Staat erkühnt hat, sich für die letztere Meinung öffentlich zu erklären; denn noch werden Hugo Grotius, Pufendorf, Vattel u. a. m. (lauter leidige Tröster), obgleich ihr Codex, philosophisch oder diplomatisch abgefaßt, nicht die mindeste gesetzliche Kraft hat, oder auch nur haben kann (weil Staaten als solche nicht unter einem gemeinschaftlichen äußeren Zwange stehen), immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs angeführt, ohne daß es ein Beispiel giebt, daß jemals ein Staat durch mit Zeugnissen so wichtiger Männer bewaffnete Argumente wäre bewogen worden, von seinem Vorhaben abzustehen.« 54 Seit der ersten Genfer Konvention ›betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen‹ (1864) 55 entwickelte sich mit den Haager Friedenskonferenzen der Jahre 1899 und 1907 das Kriegsvölkerrecht zum ›humanitären‹ Recht im Krieg. Zugleich wurden normativ – weit weniger aber faktisch – Schritte auf dem Wege zum Recht der Kriegsverhinderung eingeleitet. Anlässlich der 2. Haager Konferenz erklärten 1907 44 Staaten, sie seien »von dem festen Willen beseelt, zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens mitzuwirken, entschlossen, mit allen ihren Kräften die friedliche Erledigung internationaler Streitigkeiten zu begünstigen, in Anerkennung der Solidarität, welche die Glieder der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verbindet, gewillt, die Herrschaft des Rechtes auszubreiten und das Gefühl der internationalen Gerechtigkeit zu stärken«. 56 Um zu verstehen, was ›Völkerrecht‹ als Staatenrecht war bzw. ist und was es immer noch von einer menschenrechtlichen Verfassung der Weltgesellschaft unterscheidet, bietet sich die von John Rawls vorgeschlagene Differenzierung zwischen »the law of peoples and the law of nations, or international law« an: »The latter is an existing, or positive, legal order, however incomplete it may be in some ways, lacking, for example, an effective scheme of sanctions such as normally characterizes domestic law. The law of peoples, by contrast, is a Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 355. Die Bestimmungen der vier Genfer Konventionen von 1949 betreffen die Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde (Genfer Abkommen I), die Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See (Genfer Abkommen II), die Kriegsgefangenen (Genfer Abkommen III) und die Zivilpersonen in Kriegszeiten (Genfer Abkommen IV). 56 Nr. 3702 des Reichs-Gesetzblatts Nr. 2 vom 25. 1. 1910, S. 5 ff. 54 55
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family of political concepts with principles of right, justice, and the common good, that specify the content of a liberal conception of justice worked up to extend to and to apply to international law. It provides the concepts and principles by which that law is to be judged. This distinction between the law of peoples and the law of nations should be straightforward. It is no more obscure than the distinction between the principles of justice that apply to the basic structure of domestic society and the existing political, social, and legal institutions that actually realize that structure.« 57 Die folgenden, nicht erschöpfend aufgeführten (nicht-naturrechtlichen) normativen Prinzipien – »principles of justice between free and democratic peoples« – zeichnen für Rawls ein law of peoples aus: »1. Peoples (as organized by their governments) are free and independent and their freedom and independence is to be respected by other peoples. 2. Peoples are equal and parties to their own agreements. 3. Peoples have the right of self-defense but no right to war. 4. Peoples are to observe a duty of nonintervention. 5. Peoples are to observe treaties and undertakings. 6. Peoples are to observe certain specified restrictions on the conduct of war (assumed to be in self-defense). 7. Peoples are to honor human rights.« 58
Die Revolutionierung des Völkerrechts nach 1945 Die mit den Nürnberger Prozessen nach 1945 eingeleitete Völkerrechtsrevolution hat »die positiv-rechtliche Einbeziehung aller Menschen in eine Rechtsgenossenschaft gleicher und freier Bürger« ermöglicht: »Alle Bewohner der Erde gehören heute zum Inklusionsbereich gleicher Rechte und gleichen Rechts.« 59 Das Völkerrecht und die Menschenrechte 60 sind in diesem Prozess in normativer Hinsicht zu zwei Seiten einer Medaille geworden. Aufgrund der UnrechtsRawls 1993, S. 50 f. Ebd., S. 55. 59 Brunkhorst 2008, S. 15 f. 60 Van Goudoever 2003, S. 34, verweist auf ungelöste Probleme: »Three major remaining problems are sovereignty, effectiveness, and universality. States remain reluctant to surrender their sovereign prerogatives. They have not yet attained consistency in their defense of human rights. And the diversity of humankind has produced heated debates over not only the possibility of core universal rights, but over individual versus collective rights.« 57 58
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Die Revolutionierung des Völkerrechts nach 1945
erfahrung des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts sind sie »komplementäre Bestandteile der Charta der Vereinten Nationen von 1945 geworden. Das bis dahin wertneutrale Völkerrecht wurde in der UN-Charta […] normativ aufgeladen und über die Stabilisierung der internationalen Beziehungen hinaus auf die Wahrung der Menschenrechte ausgerichtet. Entsprechend wurde die Sorge um die Menschenrechte der alleinigen Befugnis der Einzelstaaten entzogen und zu einer internationalen und kollektiven Angelegenheit aller Staaten erklärt.« 61 Die Unterschiede zwischen den beiden Rechtssystemen des Internationalen Rechts »must not cause us to overlook their fundamental unity. That unity is the result of common general principles and the fact that they both have their roots in defending, guaranteeing and safeguarding human rights generally and in situations which require specific treatment. With a common and global approach, but with different procedures according to different situations, current international law aims at constantly ensuring the effective application of human rights through the international law of human rights strictu sensu and international humanitarian law.« 62 Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass Völkerrechts- und Rohloff 2001, S. 44. »Jeder Staat agiert durch seine Repräsentanten sowohl im Entstehungsprozess als auch bei der Verwirklichung internationaler Menschenrechte mit einem bestimmten Vorverständnis, das durch die Erfahrungen in der eigenen nationalen Rechtsordnung geprägt ist. Der Beitritt zu internationalen Menschenrechtsverträgen erfolgt mit dem Bewusstsein, dass diese dem eigenen innerstaatlichen Normensystem nicht widersprechen oder dass dessen Anpassung an die vereinbarte Regelung innenpolitisch unproblematisch ist. Bekanntlich können die Vorverständnisse gerade hinsichtlich der Menschenrechte weit voneinander abweichen. Spricht dies nicht überhaupt gegen den universalen Charakter internationaler Menschenrechte? Denn kann eine Norm universale Geltung beanspruchen, die verschieden verstanden und u. U. unterschiedlich gehandhabt wird? Diese Schwierigkeiten haben in erster Linie die Vertreter einer naturrechtlichen Geltung, also einer Geltung von Menschenrechten, die unabhängig vom Staat zustande kommt und allein in der ›Natur‹ des Menschen begründet ist. Einfacher ist es, wenn die universale Geltung auch des Mindeststandards internationaler Menschenrechte auf Vereinbarung zwischen den Staaten zurückgeführt wird. Unterschiedliche Vorverständnisse werden dann nicht nur plausibel. Vielmehr ist diese Verschiedenheit Voraussetzung dafür, dass universale Geltung als Ergebnis von Vereinbarung entstehen kann. Damit ist dann immer noch nicht erklärt, weswegen die verschiedenen Staaten zur Vereinbarung kommen wollen. Hierfür muss aber nicht eine naturrechtliche Begründung bemüht werden. Gemeinsame Interessen wirtschaftlicher, sozialer, politischer Art oder existenzielles Überlebensinteresse liefern hinreichend Gründe für einen derartigen vereinbarten Grundkonsens« (Paech/Stuby 2013, S. 642). 62 Gros Espiell 2000, S. 356. 61
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Menschenrechtsnormen in der Frage der Reichweite staatlicher Souveränität in einem Spannungsverhältnis zwischen den Polen des Gewaltverbots gem. Art. 2 Abs. 4 und des Nichteinmischungsgebots gem. Art. 2 Abs. 7 der UN-Charta einerseits und der Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zum Schutz der Menschenrechte gemäß der Präambel, Art. 1 Abs. 3 und Art. 55 der Charta andererseits stehen. 63 Gleichwohl hat die Rechtsrevolution das Völkergewohnheitsrecht als zwischenstaatliches, freiwillig ausgehandeltes und jederzeit veränderbares Vertragsrecht durch fundamentale Prinzipien des Internationalen Rechts grundlegend verändert: durch materielle, den Interessen der gesamten Menschheit entsprechende Normen des zwingenden, nicht zur Disposition der Staaten stehenden Völkerrechts (ius cogens) 64 und durch die aus ihnen folgenden Verpflichtungen erga omnes 65 (gegenüber allen). »Schon seit Jahrzehnten wird beobachtet, dass sich das Völkerrecht von einer Ordnung der Koexistenz zu einem Kooperationsrecht wandelt, das nicht nur die Interessen einzelner Staaten, sondern auch Gemeininteressen umfasst. Damit gibt es nicht mehr nur ein kompromissartiges, konkret proVgl. Rohloff 2001, S. 44 f. »Die überkommenen Völkerrechtsquellen sind oft allein nicht mehr in der Lage, den auch international wachsenden Normbedarf zu erfüllen, und bedürfen der Ergänzung durch die Rechtsetzung internationaler Organisationen. Die Quellen verändern sich aber auch selbst. So werden Verträge nicht nur sehr viel zahlreicher abgeschlossen als früher, sondern mit ihnen werden unter angestrebter Einbeziehung möglichst vieler Staaten globale Fragen (z. B. Friedenswahrung, Menschenrechte, Seerecht, Welthandel, Klima) einheitlich zu regeln, also ein gemeinsamer Rechtsstandard zu schaffen gesucht, wie ihn bislang nur das Gewohnheitsrecht bereithielt. Dieses seinerseits entwickelt sich heute schneller als früher, auch wenn die Forderung nach einem ›instant law‹ zurückgewiesen wird. Die Völkerrechtsquellen sind in gewisser Weise eine ›symbiotische Verbindung‹ eingegangen. Die strukturell wichtigste Veränderung liegt in der Ausbildung von Normen zwingenden (peremptorischen) Rechts. Grundsätzlich handelt es sich beim Völkerrecht um dispositives Recht, das von den jeweils beteiligten Völkerrechtssubjekten im Verhältnis untereinander abgeändert werden kann. Bestimmten Normen, die sich als gewohnheitsrechtliche Regeln gebildet haben, wird aber heute der Ius-cogens-Charakter zuerkannt mit der Folge, dass sie weder vertraglich abzuändern sind (bei Kollision vielmehr zur Nichtigkeit solcher Verträge führen) noch durch einseitige Rechtsakte rechtlich tangiert werden können, sondern nur durch eine Norm derselben Normstufe. Allerdings bedarf auch der Ius-cogensCharakter der Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft als Ganzer, was jedoch nicht die notwendige Zustimmung jedes einzelnen Staates verlangt« (Klein 2010, S. 2916). 65 Zum ›zwingenden Völkerrecht‹ vgl. Kadelbach 1992; zu ius cogens und zu Verpflichtungen erga omnes vgl. auch Tams 2005, Orakhelashvili 2006. 63 64
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blemorientiertes Völkerrecht, sondern auch universelle ethische Grundlagen, denen das Handeln der Staaten entsprechen muss. […] Dieser Wandel des Völkerrechts ist nicht nur punktuell, sondern grundsätzlich. Normen, die den Minimalbestand der internationalen Ordnung sichern, bringen besondere Rechtsfolgen hervor, wie in den Normkategorien des ius cogens und der Pflichten erga omnes zum Ausdruck kommt. […] Diese zunächst genuin völkerrechtlichen Normkategorien beginnen inzwischen auch im innerstaatlichen Bereich Wirkungen zu zeigen. […] Klassische Ordnungselemente des Völkerrechts stehen im Widerstreit mit Normgehalten, die in der Vergangenheit Sache der Verfassungsordnungen der Staaten waren. Zugleich hat das Völkerrecht mehr und mehr Normen aufgenommen, die verfassungsrechtlichen Charakter haben und ihrerseits auf staatliches Recht zurückwirken.« 66
Die UNO-Charta und das ›ius cogens‹ Die UN-Charta (1945) bezeichnet die Erhaltung des Friedens als ihr vorrangiges Ziel (Art. 1 Ziff. 1). »Daraus wird für die Staaten die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3) ebenso abgeleitet wie das Verbot militärischer Gewaltanwendung in ihren internationalen Beziehungen (Art. 2 Ziff. 4). Über die vertragliche Bindung durch den Beitritt zur Charta hinaus gilt das Gewaltverbot als auch im Gewohnheitsrecht verankert; es wird als zwingendes Recht (ius cogens) anerkannt.« 67 Den Staaten sind durch peremptory norms of general international law 68 Grenzen ihres Handelns gesetzt, und sie sind unter Androhung von Sanktionen auf die Achtung und den Schutz grundlegender Menschenrechte verpflichtet. 69 Alle Staaten sind einem Kadelbach 2004, S. 11 f. Klein 2010, S. 2915. Zu ›ius cogens‹ vgl. Frowein 1997. 68 Vgl. Hannikainen 1988. 69 Vgl. Klein 1997, ders. 2005 und Fischer-Lescano/Kommer 2009, S. 93–96. Eine allgemein akzeptierte Definition dessen, was im Unterschied zu anderen Menschenrechten ›grundlegende‹ Menschenrechte sind, existiert nicht. Vorausgesetzt wird aber, dass nicht alle Menschenrechte zu den durch das ius cogens geschützten Rechten gehören. Das Verbot von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Angriffskriegen, Versklavung, Rassendiskriminierung und Apartheid sowie Folter stellt derzeit den Kernschutzbereich dar, der im Prozess der Konstitutionalisierung des Völkerrechts weiter auszugestalten bleibt. 66 67
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internationalen System des Rechts unterworfen, in dem bestimmte menschenrechtliche Normen unbedingt gelten; diese können weder durch Vorbehalte zu Menschenrechtskonventionen noch durch nationale Notstands-Regelungen relativiert werden. Während das Völkergewohnheitsrecht den Beitritt von Staaten zu Verträgen voraussetzte, dürfen peremptory norms unabhängig von der Zustimmung zu Verträgen von keinem Staat verletzt werden. Mit ihrer Resolution 56/83 vom 12. Dezember 2001 zur ›Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen‹ 70 hat die UN-Generalversammlung – »betonend, wie wichtig auch weiterhin die Kodifizierung und fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts ist, wie in Artikel 13 Absatz 1 a) der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen« – die 59 Artikelentwürfe (Draft Articles) der UN-Völkerrechtskommission (ILC) zustimmend zur Kenntnis genommen. 71 Sie stellen ›Grundregeln (basic rules) des humanitären Völkerrechts‹ und Bestandteile des ius cogens dar. Darin heißt es: »Artikel 1 Verantwortlichkeit eines Staates für seine völkerrechtswidrigen Handlungen. Jede völkerrechtswidrige Handlung eines Staates hat die völkerrechtliche Verantwortlichkeit dieses Staates zur Folge. Artikel 2 Elemente der völkerrechtswidrigen Handlung eines Staates. Eine völkerrechtswidrige Handlung eines Staates liegt vor, wenn ein Verhalten in Form eines Tuns oder eines Unterlassens a) dem Staat nach dem Völkerrecht zurechenbar ist und b) eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung des Staates darstellt. Artikel 3 Beurteilung der Handlung eines Staates als völkerrechtswidrig. Die Beurteilung der Handlung eines Staates als völkerrechtswidrig bestimmt sich nach dem Völkerrecht. Diese Beurteilung bleibt davon unberührt, dass die gleiche Handlung nach innerstaatlichem Recht als rechtmäßig beurteilt wird. […] Artikel 5 Verhalten von Personen oder Stellen, die hoheitliche Befugnisse ausüben. Das Verhalten einer Person oder Stelle, die kein Staatsorgan […] ist, die jedoch nach dem Recht des betreffenden Staates ermächtigt ist, hoheitliche Befugnisse auszuüben, ist als Handlung des Staates im Sinne des Völkerrechts zu werten, sofern die Person oder Stelle im Einzelfall in dieser Eigenschaft handelt. […] Kapitel III Schwerwiegende Verletzungen von Verpflichtungen, die sich aus zwingenden Normen des allgemeinen UN-Dokument A/56/589 und Corr.1, Ziffer 10. Official Records of the General Assembly, Fifty-sixth session, Supplement No. 589 (A/56/589 and Corr. 1).
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Völkerrechts ergeben. Artikel 40 Anwendungsbereich dieses Kapitels. 1. Dieses Kapitel findet Anwendung auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit, die begründet wird, wenn ein Staat eine sich aus einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts ergebende Verpflichtung in schwerwiegender Weise verletzt. 2. Die Verletzung einer solchen Verpflichtung ist schwerwiegend, wenn sie eine grobe oder systematische Nichterfüllung der Verpflichtung durch den verantwortlichen Staat bedeutet.« 72 Einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des Internationalen Rechts stellt das ›Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge‹ 73 (1969, 1980 in Kraft getreten) dar. Es führt in Art. 53 die Unterscheidung zwischen zwingendem (ius cogens) und abwandlungsfähigem (ius dispositivum) Völkerrecht ein. Die zum ius cogens zählenden Normen genießen einen besonderen Bestandsschutz. Sie sind »unabhängig von der vertraglichen Übernahme aufgrund allgemeinen Völkerrechts für alle Staaten bindend«. 74 Dieses höherrangige internationale Recht bricht nationales Recht, wenn dieses Rechtsprinzipien widerspricht, die zur Werteordnung der Gesamtheit der Staaten gehören. Gemäß dem Wiener Übereinkommen ist jeder Vertrag, der eine Ius-cogens-Norm verletzt, ex tunc (von Anbeginn) null und nichtig. Art. 53 bestimmt zu ›Verträgen im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts (ius cogens)‹ : »Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.« Darüber hinaus gilt gem. Art. 64: »Entsteht eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts, so wird jeder zu dieser Norm im Widerspruch stehende Vertrag nichtig und erlischt.« ILC, Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Annex. UN-Dokument A/RES/56/83 (Vorauskopie des Deutschen Übersetzungsdienstes, Vereinte Nationen, New York). 73 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. II, 1985,S. 927). 74 Pfestroff 2006, S. 31. 72
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8 · Rechtspositivismus oder Naturrecht?
Staaten sind nach Art. 41 Abs. 1 verpflichtet, der schwerwiegenden Verletzung einer Verpflichtung aus einer zwingenden Rechtsnorm kollektiv »mit rechtmäßigen Mitteln ein Ende zu setzen«; nach Art. 41 Abs. 2 darf kein Staat einen Zustand, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Art. 40 herbeigeführt wurde, als rechtmäßig anerkennen. Das ius cogens verbietet Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Angriffskriege, Versklavung, Rassendiskriminierung und Apartheid sowie Folter; es gebietet Grundnormen des humanitären Völkerrechts und das Recht auf Selbstbestimmung. 75 Diese Verbots- und Gebotsliste ist nicht erschöpfend, sondern offen für weitergehende menschenrechtliche Normierung. Bezüglich Zivilpersonen gelten gem. Art. 147 des IV. Genfer Abkommens Verbote mit zwingendem Rechtscharakter: Verboten sind »vorsätzlicher Mord, Folterung oder unmenschliche Behandlung, einschliesslich biologischer Experimente, vorsätzliche Verursachung grosser Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität der Gesundheit, ungesetzliche Deportation oder Versetzung, ungesetzliche Gefangenhaltung, Nötigung einer geschützten Person zur Dienstleistung in den bewaffneten Kräften der feindlichen Macht oder Entzug ihres Anrechts auf ein ordentliches und unparteiisches, den Vorschriften des vorliegenden Abkommens entsprechendes Gerichtsverfahren, das Nehmen von Geiseln sowie Zerstörung und Aneignung von Gut, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt sind und in großem Ausmaß auf unerlaubte und willkürliche Weise vorgenommen werden.« 76 Das zwingende Völkerrecht hat zu einer Prioritätenveränderung von der Dispositionsfreiheit der Staaten in Richtung des menschenDie ILC hat bei der Formulierung von Art. 53 des Wiener Übereinkommens auf Beispiele für den sich aus Ius-cogens-Normen ergebenden Schutzbereich verzichtet, die genannten Fälle aber in ihrem Kommentar zu Art. 50 des Entwurfs (jetzt Art. 53) genannt (ILC, Kommentar zu Art. 50 WKV-E, Y.B. International Law Commission 1966, Vol. II, S. 247 ff.). 76 Die ILC hat allerdings 1969 auch festgestellt, man verfüge über kein einfaches Kriterium, das es erlaube, zu erkennen, ob eine Norm dem ius cogens angehört. »In seinem Atomwaffen-Gutachten von 1996 hatte der IGH festgestellt, daß die ›fundamentalen Regeln (fundamental rules)‹ der Haager und Genfer Abkommen sogar unabhängig von der Ratifikation entsprechender Instrumente von allen Staaten eingehalten werden müssen, weil sie ›unantastbare Grundsätze‹ (›intransgressibles principles‹) des Völkergewohnheitsrechts darstellen. Aber auch hier blieb offen, um welche Einzelbestimmungen es geht« (Pfestroff 2006, S. 32). 75
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rechtlichen Schutzes des Individuums geführt. Es »begrenzt den Raum dessen, was für Staaten politisch möglich ist. Es schlägt Pflöcke in das Feld der internationalen Beziehungen und begrenzt die Spielräume aller ›global players‹. Mit den geltenden völkerrechtlichen Iuscogens-Normen ist Staaten auch eine Grenzmarkierung für das vorgegeben, was sie im politischen Dialog untereinander verabreden können.« 77 Trotz vieler noch bestehender Probleme – nicht zuletzt in Form der Verletzung des Gewaltverbots der UNO-Charta 78, ›humanitärer Interventionen‹ und der problematischen, das Nichtinterventionsgebot und das Gewaltverbot gefährdenden ›Responsibility to protect‹ 79 – gibt es gute Gründe für die Annahme, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zum Prinzip weltrechtlich geregelter internationaler Beziehungen werden kann 80: »It is, of course, true to say that the relations of States should not be equated to the relations of legal Pfestroff 2006, S. 35. Es mehren sich Stimmen, die für eine ›dynamische Auslegung der UN-Charta‹ plädieren und damit eine Lockerung des Gewaltverbots anstreben. Zu ihnen gehört M. Herdegen. Er bestreitet zwar nicht, dass das »völkerrechtliche Gewaltverbot, wie es in Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta umschrieben ist, […] längst als universelles Völkergewohnheitsrecht« gilt. Aber er behauptet: »Auch im Völkergewohnheitsrecht anerkannte Rechtfertigungsgründe für die Anwendung von Gewalt liefern die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nach dem VII. und dem VIII. Kapitel der Charta sowie das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta).« Zwar sei für »die gewaltsame humanitäre Intervention im Dienste elementarer Menschenrechte (wie sie die NATO-Staaten zum Schutz der Zivilbevölkerung im Kosovo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 praktiziert haben) […] die Herausbildung eines gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrundes umstritten«. Dabei sei »jedoch zu beachten, daß in der Staatenwelt und in der Völkerrechtslehre in jüngerer Zeit die Bereitschaft dramatisch zugenommen hat, im Rahmen der UNCharta das Gewaltverbot in eine Abwägung mit elementaren Menschenrechten zu bringen und so in besonders schwerwiegenden Fällen eine humanitäre Intervention zuzulassen. Hier dürfte eine ›dynamische‹ Auslegung der UN-Charta über deren Wortlaut hinaus unmittelbar auf völkergewohnheitsrechtliche Regeln durchschlagen. Denn schon angesichts der Geltung der UN-Charta für fast alle Mitglieder der Staatengemeinschaft beanspruchen die mit der Charta vereinbaren Durchbrechungen des Gewaltverbotes auch im universellen Gewohnheitsrecht Geltung« (Herdegen, in: Maunz/Dürig, Kommentar z. GG, 63. Erg.lfg. 2011, Art. 25, Rn. 26). 79 Vgl. Hierzu ausführlich Sandkühler 2013, S. 487–510. 80 Paulus 2011, S. 56, spricht von der Übertragung des »strongest concept of a legal order to international law, namely constitutional law, in other words, the idea of an all encompassing legal order regulating the spheres of international actors, and thereby not limiting itself to States, but piercing the veil of sovereign statehood to be directly applicable to individual human beings«. 77 78
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persons within domestic law, and that, as a consequence, legal concepts should not be translated too readily from the realm of domestic law to the plane of international relations. At the same time there is no reason to refrain from subjecting international law and the sphere of international organization to analysis in terms of the values of national legal and political systems. It would be absurd if it were not possible to evaluate the workings of the international system in terms of the Rule of Law.« 81 Das Rechtsstaatsprinzip muss auf der internationalen Ebene dem gleichen materialen Prinzip entsprechen, das im Nationalstaat zentral ist: Das Recht muss nicht nur die Rechtssubjekte vor Willkür schützen und Rechtssicherheit garantieren, sondern es muss als ›richtiges Recht‹ den Schutz der Menschenrechte in Gerechtigkeit verwirklichen. Dies gilt nicht nur für die zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch für dem Recht unterworfene Individuen, internationale Organisationen, NGOs, die internationale Gerichtsbarkeit und nicht zuletzt für nationale und transnationale Unternehmen. Das Ziel ist eine Verbesserung der Lage derjenigen, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden. Um dieses Ziel zu erreichen, darf auf die die normative Idee einer in den Menschenrechten gründenden weltrechtlichen Verfassung nicht verzichtet werden. Es handelt sich um eine Verfassung, deren Grundlage die UN-Charta ist. Diese Charta rechtlich vereinter Nationen so zu einer weltrechtlichen Verfassung zu erweitern, dass die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht länger mit dem Friedensgebot und dem Gewaltverbot kollidieren, ist die vorrangige Herausforderung. Diese Verfassung muss dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip auch materiell, d. h. in der Perspektive ›Gleichheit und Gerechtigkeit‹ entsprechen und eine demokratische Weltordnung ermöglichen. Eine solche universelle Konstitutionalisierung darf nicht beim Schutz der bürgerlichen und politischen Menschenrechte Halt machen; sie muss den bisher vernachlässigten Schutz auch der ökonomischen und sozialen Menschenrechte garantieren. In der Perspektive der Gerechtigkeit und des Schutzes der Menschenwürde und der Menschenrechte öffnet sich jener Rechtspositivismus, für den ich in diesem Buch plädiere, in eine ethische Dimension. Wie die Beziehung von Recht und Moral begründet wird, bleibt 81
Brownlie 1998, S. 213.
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Die UNO-Charta und das ›ius cogens‹
angesichts des faktischen Pluralismus der subjektiven Moral- und Rechtsverständnisse eine offene Frage. Nicht offen bleibt aber die Frage der Geltung der Rechtsnormen im pluralistisch verfassten demokratischen Rechtsstaat. Naturrechtliche Argumente können auf der Ebene von Moral und Ethik von Bedeutung sein. Sofern ein Rechtssystem den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht verwirklicht, können sie ein Mittel der Rechtskritik und der Rechtsentwicklung sein. Auf der Ebene der Positivität des Rechts, der Rechtsetzung und der richterlichen Gesetzesauslegung haben sie jedoch als subjektive Präferenzen keinen Vorrang, wenn das objektive öffentliche Recht diese Garantien in seiner Grundnorm – in der Verfassung, wie im Grundgesetz in Art. 1 und in den Art. 1 nachfolgenden und konkretisierenden Grundrechten – enthält. Die Kontrolle über die Verwirklichung dieser Garantien ist eine Aufgabe innerhalb des Rechts, und niemand kann den demokratischen Verfassungsstaat von der Verpflichtung zu weltanschaulicher und religiöser Neutralität entbinden.
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Personenregister
Aden, M. 138, 185 Adenauer, K. 19, 28–29, 187, 199, 208, 217–218 Agamben, G. 24 Alexy, R. 104, 123, 129, 169 Anschütz, G. 53, 69, 93, 165 Austin, J. 75, 107, 120, 156, 158–161, 182, 194 Baadte, G. 186 Bacon, F. 146, 151 Bahlmann, P. 38 Baratta, A. 80, 92 Bauer, F. 41, 118 Bauer, W. 117 Bäumlin, R. 188 Beck, L. 36 Benda, E. 21–22, 140–141 Benedikt XVI. 246 Bentham, J. 75, 107, 143, 156–157, 159–160 Bergbohm, K. 154, 161–164 Best, W. 20 Beyer, W. R. 194 Böckenförde, E.-W. 79, 187, 232–235, 242 Brumlik, M. 79 Brunkhorst, H. 262 Carnap, R. 176, 179 Cassirer, E. 85, 174 Cerroni, U. 194 Cohen, H. 172–173, 176 Coing, H. 75, 199, 203 Comte, A. 145–146, 148–150 Cremer, W. 232
Dodd, T. S. 15 Dollfuß, E. 218 Dreier, H. 51, 53, 61–62, 67–68, 91– 92, 94–95, 97–98, 104–107, 117– 118, 132, 135–136, 205, 240, 251 Dreyer, M. 253 Dürig, G. 204–205, 269 Dvořák, J. 92 Dworkin, R. 105–106 Engels, F. 190–192 Englard, Y. 63 Etzel, M. 39 Faller, H. J. 200, 220, 224 Filbinger, H. 21 Fischer-Lescano, A. 265 Foljanty, L. 200 Forsthoff, E. 53, 57, 69, 77, 91, 199 Fourier, Ch. 145–147 Fraenkel, E. 62 Frank, H. 53, 137, 139, 185 Franziskus 256 Frei, N. 18, 20–21 Freisler, R. 58, 61–62, 141, 185, 189 Frick, W. 31 Füßer, K. 67 Gangl, M. 94 Geiger, W. 220 Gerber, C. F. W. v. 165 Gill, B. 253 Goebbels, J. 138 Goerdeler, C. 36 Göring, H. 31 Graveson, R. H. 40
299 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Personenregister Green, L. 104 Gros Espiell, H. 263 Grotius, H. 260–261 Häberle, P. 123 Habermas, J. 99, 120 Haldemann, F. 51 Hammer, S. 169 Hannover, H. 115 Hardy, H. 156 Hart, H. L. A. 43–44, 74–75, 94, 100– 101, 106–107, 118, 129–130, 135– 136, 156, 159–160, 180–183, 257 Hassemer, W. 123, 132 Hausser, P. 28 Heck, Ph. v. 166–167 Heckel, J. 53 Heller, H. 56, 96, 99, 165, 201 Herdegen, M. 80, 242, 257–258, 269 Herrera, C.-M. 53 Hesse, K. 232 Heuss, Th. 209–210, 212–215 Hillgruber, Ch. 127–128 Himma, K. E. 108 Hippel, E. v. 64 Hirsch, G. 79, 128 Hitler, A. 20, 38, 46, 53–55, 91, 139, 196, 218 Hobbes, Th. 59 Hoerster, N. 52, 108–109, 119, 122 Hofeld, N. W. 102 Hofmann, H. 100, 232, 241 Holzhey, H. 169 Horn, M. 31 Horster, D. 109 Hruschka, J. 79 Huber, E. R. 53–54 Hufen, F. 216 Ipsen, K. 258 Jackson, R. H. 29 Jahrreiß, H. 26 Jellinek, G. 94 Jellinek, W. 91 Jodl, A. 26 Jünger, E. 99
Kadelbach, S. 259, 264–265 Kamm, F. M. 103 Kant, I. 84, 86, 103, 151, 169–172, 194, 224, 260–261 Kantorowicz, H. U. 167–168 Kaufmann, A. 57, 79, 107, 132, 200 Kaul, K. 41 Kautsky, K. 191 Keitel, W. 46 Kelsen, H. 10, 12, 43, 57–58, 60–61, 63–65, 69, 93–99, 107, 111–118, 120–123, 128–129, 132, 154, 165, 171–179, 182, 184–186, 193–198, 201–202, 247, 253, 257 Kersting, W. 254 Kervégan, J.-F. 93–94, 100, 106, 109, 118–119, 169 Kesselring, A. 45 Kiesow, R. M. 154 Klein, E. 255, 264–265 Klenner, H. 195–197 Koellreutter, O. 53, 57, 61, 64 Koné, C. B. 17 Korb, A.-J. 63 Korsch, K. 193 Kramer, H. 67–69, 135 Krawietz, W. 166, 168 Kreyssig, L. 140 Kriele, M. 76, 78–80, 117 Krüger, H. 53 Küchenhoff, G. 53 Kühl, K. 200 Kulenkampff, A. 197 Kunig, Ph. 241 Laage, C. 52 Laband, P. 162, 165 Lahusen, B. 20, 70 Lange, H. 63 Larenz, K. 63–64, 124, 154, 199, 202– 203 Lask, E. 154–155 Le Bouëdec, N. 81 Lüth, E. 229–230, 232 Malowitz, K. 60, 93 Mangoldt, H. v. 77, 208–213, 215
300 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Personenregister Manteuffel, H. v. 29 Marmor, A. 108 Marx, K. 190–192, 194 Maschke, G. 67 Maunz, Th. 53, 69, 78, 204–205, 269 Maus, I. 78, 87, 99, 231 Maxwell-Fyfe, D. 46 McCloy, J. J. 18, 27 Merkel, A. 154, 162 Messner, J. 218–219 Meyer-Pritzl, R. 167–168 Mill, J. S. 152–153 Mohr, G. 102, 105, 154, 240, 252 Müller, U. 93, 96, 169 Nedbailo, P. E. 194 Neumann, V. 92–95, 132 Niesen, P. 99, 156–157 Nipperdey, H. C. 203 Olivet, P. 87 Ott, W. 63, 67, 69, 103 Paschukanis, E. 192–193 Paulus, A. L. 259, 269 Pauly, W. 91 Perels, J. 19 Peters, B. 101, 104 Pfestroff, Ch. 267–269 Radbruch, G. 10, 12, 33, 38, 40, 43, 49, 51–52, 69–74, 81–82, 84–85, 87–89, 91–92, 94, 99, 119–120, 122, 124, 134–136, 167, 199, 226 Raim, E. 18 Rawls, J. 44, 261–262 Reichel, H. 133 Reifner, U. 67, 69 Renzikowski, J. 202 Rickert, H. 174 Riezler, E. 204, 222 Rinken, A. 104 Ritter, J. 144 Roellecke, G. 220 Rohloff, Ch. 263 Römer, P. 197–198 Rommen, H. 202
Rottleuthner, H. 70, 92–93, 135, 197 Rudenko, R. A. 32 Rüßmann, H. 61, 124, 134 Rüthers, B. 53, 56, 61, 66, 77, 79, 136–137, 139–140, 219–220 Saint-Simon, H. de 145–148 Scheuner, U. 53, 255 Schindler, F. 36–37 Schlegelberger, F. 137 Schlick, M. 177–178 Schlink, B. 241 Schmid, C. 207–209, 213, 216 Schmidt, R. 20, 103, 131, 142, 165, 172 Schmitt, C. 53, 56–61, 64–66, 69, 95, 165, 185, 232 Schockenhoff, E. 252 Schönfeld, W. 63 Schooyans, M. 184–185 Schröder, J. 155 Schulz, D. 95, 166 Sehn, J. 24 Shapiro, S. J. 106 Shawcross, H. 31 Sieckmann, J.-R. 101, 105 Smend, R. 53, 57, 60, 63–64, 95, 165 Sprenger, G. 221 Stahmer, O. 30 Stolleis, M. 20–21, 39, 41, 55, 64–65, 78, 137, 140, 165, 200–201, 205, 219, 227 Stone, J. 43 Streicher, J. 60 Süsterhenn, A. 199, 207, 213–215 Thier, A. 131 Thoma, R. 53, 69 Thomas von Aquin 246, 256 Topitsch, E. 201–202 Triepel, A. 53 Tripp, D. 144, 154 Tsatsos, Th. 78 Tutu, D. 17 Ule, C. H. 64, 93 Uretz, R. 188
301 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Personenregister Utz, A. F. 200 van den Daele, W. 251 van Goudoever, A. P. 262 van Hüllen, R. 185–186 van Husen, P. 36, 38 van Ooyen, R. 58, 94–95 van Roon, G. 36 Verdross, A. 75 Vest, H. 51 Vesting, Th. 232 Viehweg, Th. 74 Vöneky, S. 110
Walz, G. A. 53 Walzer, M. 112 Weber, M. 87–88, 142–143, 215 Weinkauff, H. 199, 221, 227–228 Weinke, A. 23 Welzel, H. 76, 91–92, 200 Whewell, W. 151–152 Wiedenhofer, S. 189 Wimmer, A. 38 Windelband, W. 173–174 Winkler, V. 217 Wittreck, F. 63, 67, 70, 200–201 Yang, K. 67
Wagner, H. 205 Wahl, R. 128, 232 Walter, R. 91 Walther, M. 67, 140
Zajadlo, J. 217 Zinn, A. 209, 211–212 Zippelius, R. 123
302 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Sachregister
Abtreibung 184, 239, 243, 246, 249 Abwägung der Menschenwürde 269 Abwehrrechte 100, 210, 229 Amnestiegesetze 9, 16 Antikommunismus 21 Antipositivismus 10, 67, 200–201 Antisemitismus 60 Apriorismus 171 Arbeiterklasse 191, 195, 230 Aufklärung 13, 71, 87, 145, 148, 176, 216, 236, 240, 258 Auschwitz 23–24, 26, 28, 41–43, 76 Auschwitz-Prozess 41 Auslegung 12, 56, 61, 79, 123–125, 128–129, 137, 139–140, 153, 224, 234 Auslegung, unbegrenzte 130 Auslegungsmethoden 124, 130 Autorität 83, 91, 98, 117, 121, 133, 150, 165, 189 Befehl 37, 40, 42, 45, 49, 122, 156, 158 Befehl ist Befehl 71 Befehlsnotstand 21, 45, 71 Befehlstheorie des Rechts 157 Begriffsjurisprudenz 58, 165–168 Besatzungsstatut 205–206 BGH 21–22, 42, 110, 220–221, 227 Bindung des Richters an das Gesetz 123, 132 Bioethik 248–250 Bolschewismus 218 Bourgeoisie 191–192, 196 Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen 139
BVerfG 80–81, 126–127, 129–132, 185, 229, 231, 241 Christentum 246 Christentum und Staat 215 Demokratie 11, 53, 95–99, 103, 111, 117, 187, 198, 202, 218, 232, 241, 244, 251–253 Deutungsregeln 123 Dezisionismus 12, 235 Diktatur 67, 82, 96–97, 134, 219, 230 Drittes Reich 91, 225 Embryonen 249, 254 EMRK 34–35 Entnazifizierung 9, 16 Entnazifizierungsschlussgesetz 17 Entscheidungsregeln 183 Erga omnes 259, 264 Ethik 24, 63, 68, 107, 109–110, 112, 162, 172, 174, 177–178, 184, 204, 244, 248, 250, 252, 258 Ethikrat, nationaler 251, 253 Ethisierung des Rechts 110, 117 Folter 265, 268 Formalismus 62, 64, 136, 168, 193 Freiheit 28, 88–89, 100–101, 103, 170–172, 187, 199, 209, 211, 213, 230, 234 Freiheitliche demokratische Grundordnung 230 Freirechtslehre 166–168 Freund und Feind 57–59
303 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Sachregister Frieden 260 Führer 22, 25, 30, 45, 56, 60, 71, 139, 186 Führerstaat 45, 53 Gehorsam 12, 46, 49–50, 52, 69, 71, 76, 79, 93, 98, 100, 122, 128, 134– 136, 140, 156, 159, 167, 182–183 Gemeinwohl 140, 245 Generalklauseln 61, 67–68, 124 Genfer Konventionen 261 Gerechtigkeit 9–10, 13, 15, 18, 20, 29–32, 35–36, 41, 43, 49–52, 70, 72, 74, 76, 81–83, 85–86, 90, 94, 101, 104, 111–117, 119, 126, 130, 134, 168, 171, 180–182, 186, 189, 192, 194, 199, 218, 220, 223–226, 228, 233, 245, 252–253, 257, 261, 270 Gerichte 21, 36, 38, 43, 53, 62, 68, 82– 83, 88, 210, 231 Gesellschaftstheorie 143, 145, 151 Gesetz ist Gesetz 12, 49, 70–71, 92, 134–135, 139, 239 Gesetz und Recht 126–128, 131–133 Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege 20 Gesetzes-Jurisprudenz 66 Gesetzesbindung 12, 74, 128, 134, 137, 140 Gesetzesgehorsam 79, 117 Gesetzespositivismus 63, 69, 81, 120, 127–128, 131–132, 134, 136, 157, 217, 224, 226 Gesetzgeber 20, 55, 62, 68, 70, 76, 79, 81–82, 87, 89, 91, 123–124, 128– 129, 131, 133, 135, 140, 159, 165, 167–168, 182, 201, 212, 223, 226, 233, 245 Gesetzgebung 32, 40, 46, 55, 61, 77, 83, 94, 98, 106, 110, 129, 157, 166, 180, 203, 212, 217–218, 222, 229 Gesetzliches Unrecht 10, 49, 52, 70, 82–83, 89, 186 Gewaltenteilung 12, 123, 132 Gewaltverbot 264–265, 269–270 Gewohnheitsrecht 264–265, 269
Gleichheit 41, 47, 52, 72, 89, 101, 172, 192, 209, 211, 220, 230, 247, 270 Goerdeler-Gruppe 36 Grundgesetz (GG) 17–18, 35, 43, 80, 111, 126–127, 129, 204–207, 210, 215, 217–218, 224–225, 229, 240– 242, 269 Grundnorm 109, 120–122, 177, 240, 258–259 Grundrechte 34, 78, 89, 185, 189, 205, 208–212, 214–215, 217–218, 223, 229, 232, 240 Gründungsmythos 10, 67, 69 Heil- und Pflegeanstalten 68, 141 Hermeneutik, juristische 123 Herrschaft des Rechts 11, 37, 59, 101, 140 Historische Rechtsschule 162 Holocaust 263 Humanitäre Intervention 269 Humanität 88, 196 Imperativtheorie 156, 160 Individualismus 57, 63–64, 194 Integrationslehre 95 Interessenjurisprudenz 166 International Law Commission (ILC) 33, 266–268 Interpretation, authentische 129 Interpretationsmethoden 128, 231 Ius cogens 13, 45, 258–259, 264–268 Jude, der 10, 60, 65, 99 Judentum 53, 60, 77 Justiz 10, 13, 18–20, 22, 27, 30, 32, 56, 83, 99, 115, 138, 140, 189, 207, 211, 213, 219, 228, 231 Justizpolitik 20 Katholische Kirche 242, 244, 249 Katholizismus 186, 188, 239, 248 Kausalität 172 Klassenkampf 192 Kollektivschuld 28 Konstitutionalisierung des Völkerrechts 259, 265
304 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Sachregister Konstitutionalismus, universeller 259 Kontrollratsdirektive Nr. 24 16 Kontrollratsgesetz Nr. 1 39 Kontrollratsgesetz Nr. 4 21 Kontrollratsgesetz Nr. 10 39, 42–43, 88 Konzentrationslager Dachau 26 Kosmopolitismus, juridischer 170 Kreisauer Kreis 36 Kriegsverbrechen 23, 26, 30–31, 33, 39, 45, 47, 84 Kulturrecht 85, 87 Law of peoples 261 Legalität 10, 18, 65, 120, 169 Legislative 12, 126–127, 157, 180 Legitimität 13, 81, 87, 120, 194, 204, 218 Liberalismus 57, 88, 136, 176, 198 Logischer Positivismus 177 Londoner Viermächte-Abkommen 23 Lückenergänzung 124, 132 Lüth-Urteil 229 Macht 11, 28, 49, 51, 53, 59, 62, 64, 66, 71, 74–76, 93, 100, 120, 158, 184, 197, 199, 203, 211 Majorität 97 Marxismus 11, 53, 189, 191–193 Marxismus-Leninismus 189 Maßnahmenstaat 62 Menschenrechte 12–14, 42, 45–46, 50, 52, 73, 87–89, 100, 157, 184, 188, 209, 216, 219, 239–240, 243, 246–247, 254–255, 258, 262–265, 269–270 Menschenrechtsnormen 264 Menschenrechtsverletzungen 47, 270 Menschenwürde 12–14, 80, 88–89, 100–101, 126, 205, 208, 212–213, 230, 241–242, 246, 248, 252, 254, 270 Menschliche Natur 260 Metaphysik 103, 144, 147, 154, 169, 179, 195, 241 Methoden- und Auslegungslehre 123
Methodenlehre, juristische 61, 123 Militärgerichtshof für den Fernen Osten 23 Moral 43, 59, 90, 104–107, 109, 112– 114, 116–119, 129, 135, 147, 154, 156–158, 162, 164, 169, 178, 180– 182, 223, 241, 251, 254, 258, 271 Moralgesetz 245 Moralität 169–170, 180, 182 Moskauer ›Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa‹ 22 Nationalsozialismus 9–10, 12, 16, 18, 20–21, 25, 35, 39, 49, 55, 57, 61, 63– 65, 76, 82–84, 92–93, 99, 117, 136, 140, 142, 188–189, 198, 200–201, 208, 216, 218, 225, 227–228 Nationalsozialistische Gesetzgebung 82, 225 Nationalsozialistische Weltanschauung 137 Nationalstaat 270 Natur des Menschen 103, 241 Naturgesetz 173–174 Naturrecht 9–10, 12–13, 37, 50, 52, 62, 70–71, 73, 75–77, 80–81, 84– 89, 136, 143, 155, 157, 161–162, 165, 188, 199–201, 203–205, 210– 216, 219–222, 226, 228, 231, 234, 239–246, 248–249, 252, 254, 256– 257, 260 Naturrecht in der Rechtsprechung 220 Naturrechtsphilosophien 240 Naturrechtsrenaissance 67, 70, 76, 78, 80–81, 200 Naturwissenschaft und Recht 112, 153, 173, 175 Naturwissenschaften 79, 143, 145, 147–148, 151–154, 169, 175 Nazismus 16 Neukantianismus 153, 169, 175, 179 Neutralität des Staates 241 Neutralitätsthese 108–109, 118 Normativismus 57, 64, 66, 136, 140, 215
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Sachregister Normativität 120, 156, 172, 231 Normenstaat 62 NS-Recht 39, 55 NS-Regime 10, 31, 55, 58, 62, 69, 74, 130, 228 NS-Verbrechen 19, 27 NSDAP 15, 21, 39, 57, 60 Nulla poena sine lege 9, 15, 17–18, 32, 36–37, 42, 44–45, 68–69, 83 Nullum crimen sine lege 30, 32, 38, 44, 83 Nürnberg-Klausel 22, 35 Nürnberger Prinzipien 13, 33, 39 Nürnberger Prozess 15, 27, 29, 45, 47 Nürnberger Urteil 16, 32 Opportunität 10, 18 Organisationsverbrechen 27 Parlamentarischer Rat 77, 205, 207– 208, 210–217 Parlamentarismus 53–54 Peremptory norms 265–266 Physique sociale 148 Pluralismus 12, 57, 111, 119, 153, 218, 228, 230–231, 244, 251–252, 271 Polizeistaat 16 Positivismus, demokratischer 98 Positivismus, methodischer 179 Positivismuskritik 11–12, 67, 78, 81, 224 Positivismuslegende 67–68, 70, 92– 93, 104, 202 Positivität des Rechts 104 Potsdamer Abkommen 38 Pouvoir constituant 224, 226, 233 Preußenschlag 56 Prinzipientheorie 105 Produktionsverhältnisse 191, 195 Radbruchsche Formel 51, 81, 89 Rasse 22, 54, 200 Rassendiskriminierung 265, 268 Rassengesetze 21, 71, 82 Rassengesetzgebung 55, 77 Recht auf Selbstbestimmung 268
Recht im Krieg 261 Recht und Gesetz 13, 132–133, 205, 223, 239 Recht und Moral 11, 91, 104, 106– 107, 109, 112–114, 118, 135, 156, 178, 180–181, 194 Recht und Unrecht 13, 70, 142, 189 Recht, das ist, und Recht, das sein soll 122 Recht, Geltung des 11–12, 49–50, 52, 71–73, 81, 89, 95, 98, 110–111, 113, 120–121, 126, 132, 156, 185, 191, 224–226, 233 Recht, internationales 263–264, 267 Recht, natürliches 95, 240 Recht, positives 56, 62, 73, 75, 110, 112, 117, 127, 135, 163, 169 Recht, übergesetzliches 40, 49, 51, 71, 200 Recht, überpositives 87, 127, 204 Recht, unrichtiges 52, 89 Rechte, moralische 106 Rechts, Absterben des 193 Rechts, Kontextualität des 102 Rechtsauslegung 12, 133 Rechtsbegriff 76, 81, 88, 104–105, 119, 131, 155, 163, 173, 228 Rechtsbeugung 20–21 Rechtsfolge 95, 173–174 Rechtsfortbildung 124 Rechtsfrieden 9, 15 Rechtsgehorsam 135 Rechtsidee 57, 64, 75, 163, 203 Rechtskritik 190–191 Rechtslücken 166 Rechtsnormen 10, 12, 49, 51, 59, 77, 94, 98, 100, 102, 105–106, 120, 122–124, 126, 157, 159–160, 163, 170, 192–193, 197 Rechtsordnung 10, 12, 20, 31, 49, 53, 55, 62, 64, 79, 87–88, 94–95, 98, 102, 105, 108, 113–117, 119, 121–122, 124, 127–128, 130, 132– 133, 139, 143, 164, 175, 193–194, 196, 203, 216, 232–234, 247, 254– 255 Rechtsphilosophie 49, 69, 74, 81–82,
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Sachregister 84, 89, 94, 136, 154, 161–163, 191, 195, 197, 203 Rechtspositivismus 9–12, 36, 49, 51, 56–57, 62–64, 66, 68–69, 73–76, 78–79, 86–87, 91–93, 98, 100, 103, 105, 107–108, 116–122, 124, 128– 129, 131–136, 141–144, 154–155, 159–160, 164–167, 175, 179–180, 184–186, 188–190, 193–195, 197, 199–201, 214–221, 228, 231, 234 Rechtspositivismus, älterer 12, 107, 120, 142, 153–154, 156–157, 161, 175 Rechtspositivismus, Geschichte des 142 Rechtspositivismus-Kritik 89 Rechtspositivismus-Kritik, katholische 186 Rechtspositivisten 11, 43, 61–62, 104, 109, 119–120, 123, 134, 163, 165, 171, 185, 188–189, 228 Rechtsprechung 12, 19–20, 39, 42, 63, 77, 83, 88, 102, 126, 132, 134, 139, 166, 212, 218, 220–221, 227, 229, 231–232 Rechtsquellen 136–137, 247, 258 Rechtsregeln 106–107, 110, 181 Rechtssatz 240 Rechtsschöpfung 87, 166 Rechtsschöpfungsverbot 12, 132 Rechtssicherheit 9–10, 12, 15, 17–18, 37, 50–52, 72, 82, 94, 105, 125, 133–134, 196, 226, 270 Rechtsstaat 13, 19, 50, 53, 57, 61, 65, 73, 76, 82, 94, 96, 99–100, 123, 134, 142, 205 Rechtsstaatlichkeit 259, 269 Rechtsstaatsprinzip 270 Rechtssubjekte 255, 270 Rechtssystem 10, 29, 35, 45, 49, 107, 126, 130–131, 158, 180, 182 Rechtstatsachen 168 Rechtsunsicherheit 76 Rechtsverweigerungsverbot 12, 73, 133 Rechtswissenschaft 11, 20, 60, 69, 71, 73–75, 87, 99, 103, 112, 114–116,
122–123, 134–135, 137, 144, 153– 154, 161–163, 165, 167–168, 172– 173, 175, 179, 184, 194, 197, 202, 219 Reduktionismus 194 Regeln der Moral 182 Regeln des Rechts 182 Reine Rechtslehre 64, 111, 114–115, 155, 169, 175, 194, 196 Relativismus 89, 91, 97–98, 111, 116, 118, 153, 189, 244, 246 Renaissance des Naturrechts 10, 199, 219, 239 Responsibility to protect 239 Richter 12, 20–22, 36, 56, 61, 67–69, 73, 78–79, 81–82, 93, 123, 125–133, 137–141, 155, 166–168, 185–186, 196, 221, 225, 228, 234 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 46 Rückwirkung 18, 30–32, 37–38, 43 Rückwirkungsverbot 9, 13, 15–18, 27, 30, 34, 36–38, 41–44, 82 Rule of law 160, 259–260 Sanktion 158, 174, 265 Sein und Sollen 173 Sexualität 243–244 Siegerjustiz 27, 38 Sittengesetz 110, 226–227, 244–245, 250 Solidarität 261 Sollen 96 Souverän 171, 260 Souveränität 59, 264 Sozialstaatsprinzip 270 Staat 14, 19, 31, 44–45, 54–56, 58, 64, 76–77, 83, 85, 94–98, 100, 102, 137–138, 163, 165, 171, 173, 188– 190, 192–194, 199–200, 204, 208, 210, 213, 215, 222, 224, 228–229 Staat und Recht 65, 94, 96, 204 Staat, totaler 77 Staatenimmunität 47 Staatenrecht 260–261 Staatsgewalt 49, 106, 132, 135, 214, 223
307 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Sachregister Staatsidee 65, 94 Staatslehre 56 Staatsrecht 53 Staatsrechtslehre 94, 165, 231–232 Staatsrechtswissenschaft 94 Staatstheorie 14, 95, 100 Staatsverbrechen 19, 79 Stammzellen 249 Statut für den internationalen Militärgerichtshof 23 Strafrecht 43, 46, 83, 88 Strafverfahren 27, 30, 40, 68 Strafverfolgung 9–10, 13, 15, 19, 26, 36, 46 Subjektivismus 12, 164, 234 Tatsachen und Werte 153, 177 Tatsachenwissenschaft 144, 163, 178 Toleranz 230, 252–253 Totalitarismus 78, 91, 189, 237, 246 Trennung von Recht und Moral 11, 74, 104, 108, 113–114, 117–118, 159, 181 Trennungsthese 104, 108–109, 113– 114, 116, 118, 120, 159–160 Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin 248 Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 26 UN-Charta 263–265, 269–270 UN-Völkerrechtskommission 266 Unantastbarkeit der Menschenwürde 240, 247 Ungerechtigkeit 13, 50, 52, 72, 129, 191 Universalität 255 Unrecht 9, 13, 15, 20–21, 33, 35–36, 51–53, 61, 71–72, 81–82, 84, 93, 96, 104, 134, 140, 175, 181, 185, 220, 225–226 Unrechtsstaat 50, 76, 82, 219 Utilitarismus 155, 176, 189, 248 Vatikan 242, 244 Verbrechen 9–10, 13, 15, 18–20, 24, 26–27, 30–33, 35–36, 39, 41, 45, 47, 49, 61, 71, 82, 84, 88, 134, 187, 219
Verbrechen gegen den Frieden 26 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 23, 26, 33, 45, 47, 61, 88, 265, 268 Verfassung 12, 54–55, 80, 92–94, 100, 105, 110, 119, 121–122, 125, 134, 157, 169, 171–172, 187, 204– 206, 208–209, 211, 217, 224, 226, 232–233, 261 Verfassungsgerichtspositivismus 131 Verfassungskonvent 78, 207–208 Verfassungsrecht 54, 57, 231 Verfassungsstaat 80, 251 Vernunftrecht 50, 52, 71, 216 Verpflichtungsregeln 183 Verrechtlichung 88, 100, 110, 171 Völkergewohnheitsrecht 264, 266, 269 Völkermord 265, 268 Völkerrecht 10, 26–27, 29, 33, 42, 45– 48, 83, 86, 170, 207, 254, 259–262, 264, 266–268 Völkerrechtslehre 256–257, 269 Völkerrechtsquellen 264 Völkerrechtssubjekte 255 Völkerrechtsverletzungen 27 Völkerstrafgesetzbuch 45 Völkerstrafrecht 9–10, 15, 26, 33, 45– 46, 255 Volksgemeinschaft 65, 138, 140 Volksgerichtshof 20 Waffen-SS 28 Wehrlosigkeit der Juristen 70, 74, 93 Weimarer Reichsverfassung 56 Weimarer Republik 51, 67–68, 78– 79, 91, 93–94, 96, 100, 115, 136, 139–140, 196, 198, 218–219, 228, 231 Weimarer Staatsrechtslehre 60 Weltrecht 33 Weltrechtsordnung 31, 96 Weltrechtsprinzip 46 Wertbegründung des Rechts 233–234 Werte 50, 64, 72, 89, 108–109, 111, 113, 166, 178, 180, 202–203, 218, 230–232, 234
308 https://doi.org/10.5771/9783495807927 .
Sachregister Werte, absolute 98, 230–231 Wertejudikatur 10, 231–232 Wertordnung 12, 41, 95, 122, 229, 231–232, 235 Wertordnung, objektive 229 Wertpluralismus 228 Wertrealismus 231 Wertrelativismus 116–118, 231
Wertsubjektivismus 231 Widerstandsgruppen 36 Wiener Kreis 175–176 Würdenorm 204, 208, 213, 239–242, 249 Zurechnung 95, 172–175 Zurechnungsregeln 175
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