Interdisziplinäre Forschung?: Annäherungen an einen strapazierten Begriff 9783495813362, 9783495489420


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Table of contents :
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Inhalt
Nikolaus Korber: Einleitung
I Klärungen
Manfred Stöckler: Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis
1. Vorbemerkung
2. Beispiele
3. Ein Blick in die Geschichte
4. Begriffsklärungen
4.1 Interdisziplinarität und interdisziplinär
4.2 Interdisziplinarität und Transdisziplinarität
4.3 Was ist eine Disziplin? I
4.4 Was ist eine Disziplin? II
5. Problemdimensionen und Steuerungsprobleme
6. Arten der Interdisziplinarität
6.1 Disziplinäre Moleküle: Universitäre Studienfächer
6.2 Formen der Integration
6.2.1 Addition ohne Wechselwirkung
6.2.2 Integration durch Zulieferung
6.2.3 Problemorientierte Gruppenforschung
6.2.4 „Querschnittsmethoden“
6.2.5 Grenzgebiete: Ergänzende Interdisziplinarität
6.2.6 Vereinheitlichung
7. Abschließende Bemerkungen
7.1 Theoretische Probleme
7.2 Steuerungsprobleme
7.3 Psychologische Probleme
7.4 Die Rolle der Philosophie
Markus Rieger-Ladich: Grünschnäbel, Biertrinker, Kinogänger: Interdisziplinarität als Quelle wissenschaftlicher Reflexivität
II Positionierungen
Günter Rager: Interdisziplinäre Forschung
Gregor Maria Hoff: Interdisziplinäre Forschung
1. Historische Einleitung
2. Die katholisch-theologische Begründungsperspektive interdisziplinärer Forschung im Horizont des 2.&gv;Vatikanischen Konzils
3. Interdisziplinäre Theologie: Diskurse
4. Theologie im cultural turn: eine topologische Perspektive
III Modelle
Karl Heinz Hoffmann: Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften
1. Einleitung
2. Interdisziplinarität in der Lehre
2.1 Bachelor- und Masterstudiengang Computational Science
2.2 Bachelor- und Masterstudiengang Sensorik und kognitive Psychologie
2.3 Vorteile interdisziplinärer Ausbildung
3. Interdisziplinarität in der Forschung
3.1 Anomale Diffusion
3.2 Anomale Diffusion II
3.3 Vorhersage des Abbiegeverhaltens an Kreuzungen
3.4 Hydraulische Energierekuperation in Fahrzeugen
3.5 Zentrum für Sensorik und Kognition
4. Zusammenfassung
Ludger Honnefelder: Interdisziplinarität: Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie
1.
2.
3.
Gregor Nickel: Kurzschlüsse oder fruchtbare wechselseitige Irritationen -
1. Typen von Interdisziplinarität – einige Vorüberlegungen und Beobachtungen
2. Zur Dialogfähigkeit und -bedürftigkeit der Mathematik
3. Georg Cantor – Vom Glanz und Elend unendlicher Mengen
3.1 Ein bisschen Mengenlehre
3.2 Das Aktual-Unendliche
3.3 Inkonsistenzen – Cantors absolut Unendliches
3.4 Cantors theologische Versuche
4. Nikolaus von Kues – Veritas in speculo mathematico
4.1 Begriffliche Differenzierung für die Mathematik
4.2 Mathematik für die Illustration einer Koinzidenz gegensätzlicher Begriffe
4.1 Unterscheidung der Denkformen von Mathematik und Theologie
4.2 Mathematik als theologisches Reflexionsmedium und Spielfeld
5. Bilanz für das interdisziplinäre Wechselspiel von Theologie und Mathematik
Florian Bruckmann: Theologie der Unendlichkeit
1. Zu den Quellen von Mathematik und Theologie
2. Zum (symbolischen) Denken der Unendlichkeit
IV Performative Ebene
Sascha Spoun, Sebastian Weiner: Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität und was daraus für das Studium folgt
1.
2.
3.
4.
5.
Thorsten Wilhelmy: Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität
1) Zur Konjunktur der Interdisziplinarität
2) Praxis des Wissenschaftskollegs
Fazit
Autoren
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Interdisziplinäre Forschung?: Annäherungen an einen strapazierten Begriff
 9783495813362, 9783495489420

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Interdisziplinäre Forschung? Annäherungen an einen strapazierten Begriff Herausgegeben von Gregor Maria Hoff und Nikolaus Korber

GRENZFRAGEN BAND 43 ALBER https://doi.org/10.5771/9783495813362

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Interdisziplinäre Forschung? Annäherungen an einen strapazierten Begriff

https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Grenzfragen Veröffentlichung des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie) Herausgegeben von Gregor Maria Hoff Band 43

https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Interdisziplinäre Forschung? Annäherungen an einen strapazierten Begriff Herausgegeben von Gregor Maria Hoff und Nikolaus Korber Beiträge von Beiträge von Florian Bruckmann Gregor Maria Hoff Karl Heinz Hoffmann Ludger Honnefelder Gregor Nickel Günter Rager Markus Rieger-Ladich Sascha Spoun und Sebastian Weiner Manfred Stöckler Thorsten Wilhelmy

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Interdisciplinary Research? An approximation to a much-used term Interdisciplinary perspectives form part of the standards of scientific research. They determine methods and generate epistemological interests. They influence the organisation and direction of research centres and have long established own institutes with a specifically interdisciplinary orientation. It is the implicitness, with which interdisciplinarity is demanded, that lets us inquire after their institutional requirements and precise working methods.

The Editors: Gregor Maria Hoff is Professor of Fundamental Theology and Ecumenical Theology at the Catholic Theological Faculty at Paris Lodron University in Salzburg. Nikolaus Korber is Professor of Inorganic Chemistry and VicePresident of Study, Teaching and Further Education at Regensburg University.

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Interdisziplinäre Forschung? Annäherungen an einen strapazierten Begriff Interdisziplinäre Perspektiven gehören zu den Standards wissenschaftlicher Forschung. Sie bestimmen Methoden und setzen eigene Erkenntnisinteressen auf. Sie greifen in die Organisation und Ausrichtung von Forschungsstätten ein und haben längst eigene Institute mit spezifisch interdisziplinären Ausrichtungen etabliert. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Interdisziplinarität eingefordert wird, lässt nach ihren institutionellen Bedingungen und konkreten Arbeitsformen fragen.

Die Herausgeber: Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Nikolaus Korber ist Professor für Anorganische Chemie an der Universität Regensburg und dort Vizepräsident für Studium, Lehre und Weiterbildung.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48942-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81336-2

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Inhalt

Einleitung – Interdisziplinäre Forschung – Annäherungen an einen strapazierten Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . Nikolaus Korber

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I Klärungen Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis Wissenschaftsphilosophische Klärungsversuche zur Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Stöckler Grünschnäbel, Biertrinker, Kinogänger Interdisziplinarität als Quelle wissenschaftlicher Reflexivität Markus Rieger-Ladich

19

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II Positionierungen Interdisziplinäre Forschung Die Arbeit des Instituts für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft als Modell . . . . . . . . . . . . . . . Günter Rager

81

7 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Inhalt

Interdisziplinäre Forschung Theologische Ortsbestimmungen Gregor Maria Hoff

. . . . . . . . . . . . .

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III Modelle Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften . . . . . . 107 Karl Heinz Hoffmann Interdisziplinarität Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Ludger Honnefelder Kurzschlüsse oder fruchtbare wechselseitige Irritationen Begegnungen von Mathematik und Theologie bei Nikolaus von Kues und Georg Cantor . . . . . . . . . . . 150 Gregor Nickel Theologie der Unendlichkeit Gedanken zum Blick der Theologie auf die Mathematik Florian Bruckmann

. 188

IV Performative Ebene Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität und was daraus für das Studium folgt . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Sascha Spoun, Sebastian Weiner

8 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Inhalt

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Thorsten Wilhelmy

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

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Einleitung Interdisziplinäre Forschung – Annäherungen an einen strapazierten Begriff Nikolaus Korber

Das Institut für Interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft widmet sich in seinen jährlichen Tagungen und den daraus entstehenden Bänden „Grenzfragen“ seit seiner Gründung dem wissenschaftlichen Diskurs zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Theologie. Bisher wurden dabei vor allem aktuelle Themen und Herausforderungen verhandelt, deren Fokus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wechselte. Für die Jahrestagung 2015 jedoch hatten die Mitglieder beschlossen, mit „Interdisziplinarität“ den zentralen Begriff des Instituts selbst zum Gegenstand zu machen. Angesichts der inflationären Verwendung dieses Schlüsselbegriffs moderner Antrags- und Leitbildprosa erschien es angeraten, sich der Grundlage für die künftige Arbeit des Instituts neu zu versichern. Dies sollte, vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Instituts, im Vergleich mit den Praxen anderer Forschungsinstitutionen und in der philosophischen und theologischen Auseinandersetzung mit der Genese heutiger Auffassungen über interdisziplinäre Forschung geschehen. Aktive Wissenschaftler 1 sehen sich an Hochschulen und Forschungsinstituten, aber vor allem durch die Instrumente der Forschungsförderung, einer ständigen, geradezu normativ vorge-

1

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.

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Nikolaus Korber

brachten Aufforderung zur Interdisziplinarität ausgesetzt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) beispielsweise ist zweifellos die größte deutschsprachige Institution, die sich regelmäßig mit Hilfe von ausgeprägt partizipativen und repräsentativen Strukturen über alle Disziplinen hinweg über die Grundlagen und Ziele von wissenschaftlicher Forschung verständigt. Sie nennt unter den fünf Querschnittszielen ihrer Förderungspolitik die Stärkung der interdisziplinären Forschung an erster Stelle, vor den internationalen Kooperationen zwischen den Forschenden, der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der Gleichstellung von Männern und Frauen in der Wissenschaft und der Vernetzung über die institutionellen Grenzen des Wissenschaftssystems hinaus. In den Denkschriften zum Wissenschaftssystem, seit 1961 als „Grauer Plan“ bekannt und seit 1987 unter dem Titel „Perspektiven der Forschung und ihrer Förderung“ regelmäßig publiziert, nimmt die Betonung des Innovationspotenzials interdisziplinärer Forschung breiten Raum ein. Manchmal gibt es sogar eine gewisse Verengung des Blicks der Funktionsträger. So kann man den ehemaligen DFG-Präsidenten Ernst-Ludwig Winnacker, einen naturwissenschaftlichen Fachkollegen, mit der nicht unproblematischen Aussage zitieren, dass sich der Fortschritt in der Wissenschaft an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen vollziehe, deutlich impliziert ist ein „nur dort“. Die Wissenschaftstheorie hat die Frage des Nutzens der disziplinären Ausdifferenzierung der Wissenschaft, die ja eine historische Realität ist, von Anfang an kritisch begleitet. Jürgen Mittelstraß schreibt in den Konstanzer Universitätsreden 2003: „Unser Wissenschaftssystem ist auf langen institutionellen Wegen auf eine beängstigende Weise unübersichtlich geworden. Das gilt nicht nur im Blick auf das sich immer stärker beschleunigende Wachstum des Wissens in allen wissenschaftlichen Bereichen, sondern auch im Blick auf die organisatorischen und institutionellen Formen der Wissenschaft. Eine Partikularisierung der Disziplinen und Fächer nimmt zu; die Fähigkeit, noch in Disziplinariäten, d. h. in größeren wissenschaftlichen Einheiten zu denken, 12 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Einleitung

nimmt ab.“ 2 Der Titel des Bandes lautet deshalb auch „Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit“ und verwendet damit einen alternativen Begriff, der in mehreren Beiträgen der dokumentierten Tagung eine Rolle spielt. Man kann der Mittelstraß’schen Skepsis gegenüber der Zukunftsfähigkeit disziplinären Denkens eine Beobachtung entgegensetzen, die aus der Erfahrungswelt des Verfassers stammt und die einen kurzen Blick auf historische Entwicklungen im Fach Chemie wirft. Beide Geschichten beginnen in München, dem Tagungsort des Instituts für Interdisziplinäre Forschung. 1912 ist der junge Physiker Max von Laue Privatdozent am Institut von Arnold Sommerfeld. Er möchte gerne die Wechselwirkung der 17 Jahre zuvor entdeckten Röntgenstrahlen mit Kristallen untersuchen, nach seiner Auffassung müsste es aufgrund der Ähnlichkeit zwischen den Atomabständen im Kristall und der Wellenlänge der Röntgenstrahlen Interferenzphänomene geben. Arnold Sommerfeld war zunächst skeptisch, die ersten Beugungsexperimente mussten in einer Art Nacht- und Nebelaktion durchgeführt werden, wurden aber sehr bald danach mit dem Nobelpreis 1914 für Max von Laue belohnt. Die Röntgenbeugung an Einkristallen hat danach ihren Siegeszug durch die Chemie und die Biologie angetreten, insgesamt 29 Nobelpreise wurden für verschiedene Anwendungen und Entdeckungen verliehen, ein vielen präsenter Meilenstein dürfte die Entdeckung der DNA-Struktur durch Watson und Crick 1953 sein. Zu Beginn der wissenschaftlichen Karriere des Verfassers waren Kristallografie und die Einkristallstrukturanalyse gerade dabei, sich aus einem interdisziplinären Kontext zu lösen. Noch in der Wissenschaftlergeneration zuvor war die Arbeit disziplinär geteilt, der Chemiker synthetisierte einen neuen Stoff, und der Kristallograf führte die Messung und vor allem die ohne Computerhilfe sehr aufwendige

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J. Mittelstraß, Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz 2003.

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Nikolaus Korber

Strukturrechnung durch, publiziert wurde gemeinsam und interdisziplinär. Schon zu Beginn der eigenen Forschungstätigkeit des Verfassers allerdings gab es genau ein Einkristallröntgendiffraktometer an der Universität, und das stand im Institut für Anorganische Chemie. Die Chemiker hatten begonnen, selbst Strukturanalysen durchzuführen, ohne die Hilfe von Physikern und Kristallografen, was zunächst sehr skeptisch beäugt wurde und zu einigen Ablehnungen von Publikationen in kristallografischen Journalen führte. Inzwischen ist es der Normalfall geworden, diese Analyse selbst durchzuführen, die Disziplinen Chemie und auch Biologie haben diese, aus einer anderen Disziplin, der Physik, stammende Methode, vollständig internalisiert. Einkristallstrukturanalyse wird im Studium gelehrt und praktisch ausprobiert, und auch die kristallografische Forschung gehört heute zum allergrößten Teil unter das Dach der Disziplinen Chemie und Biologie. Ähnliches lässt sich für eine andere mit München verbundene Entdeckung berichten. Rudolf Mößbauer hat zwar den nach ihm benannten Effekt 1958 am Max-Planck-Institut in Heidelberg entdeckt, wurde aber im gleichen Jahr bei Heinz Maier-Leibnitz an der TU München promoviert und blieb dieser Universität bis zu seiner Emeritierung 1997 verbunden. Auch hier wurde die bahnbrechende Entdeckung schnell mit einem Nobelpreis für Physik geehrt, im Jahr 1961. Der Mößbauer-Effekt gibt Informationen über die genauen chemischen Zustände von Atomen in Stoffen, eine äußerst attraktive zusätzliche Methode für Chemiker, die zuvor auf formale Konzepte und Abschätzungen angewiesen waren. Man benötigt radioaktive Gamma-Strahlen-Quellen, sodass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Physikern zunächst die Regel war. Inzwischen hat sich aber der gleiche Zustand wie bei der Röntgenbeugung eingestellt: Interessierte Chemiker haben sich die Expertise angeeignet und forschen selbst auf diesem Gebiet, praktisch alle heute existierenden MößbauerSpektrometer stehen in Instituten für Anorganische Chemie. Auch hier hat eine Disziplin, die Chemie, ein ursprünglich ein14 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Einleitung

deutig interdisziplinäres Forschungsfeld förmlich aufgesogen und verdaut. Solchen diachronen Entwicklungen, die den Erfolg übergriffiger interdisziplinärer Ansätze belegen, steht im Hier und Jetzt für die meisten Wissenschaftler eine Skepsis gegenüber, die schon Max Weber 1919 in seiner berühmten Rede „Wissenschaft als Beruf“ gegenüber dem Arbeiten jenseits des disziplinären Horizonts äußert: „Alle Arbeiten, welche auf Nachbargebiete übergreifen, wie wir sie gelegentlich machen, … sind mit dem resignierten Bewußtsein belastet: daß man allenfalls dem Fachmann nützliche Fragestellungen liefert, auf die dieser von seinen Fachgesichtspunkten aus nicht so leicht verfällt, daß aber die eigene Arbeit unvermeidlich höchst unvollkommen bleiben muß.“ 3 Dieser Skepsis wird sicher nicht durch die bloße Anstrengung des Begriffs der Interdisziplinarität begegnet, und auch nicht durch oktroyierte strukturelle Maßnahmen an Universitäten und Forschungsinstituten. Was aber hilft, ist die Begegnung mit anderen Wissenschaftlern, die gemeinsame Arbeit an einer frei gewählten Fragestellung, das Einlassen auf die produktive Verunsicherung durch die Differenzen in Sprache und Methode. In diesem Geist hat sich das Institut für Interdisziplinäre Forschung dem durch seinen Namen und Auftrag definierten Thema genähert.

3

M. Weber, Wissenschaft als Beruf. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922.

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I Klärungen

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Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis Wissenschaftsphilosophische Klärungsversuche zur Interdisziplinarität Manfred Stöckler 1. Vorbemerkung Interdisziplinarität ist ein Zauberwort. Es ziert den Namen von zentralen Instituten, ist fast unvermeidlich Element von Projektanträgen und gilt als Kriterium guter Wissenschaft, das keiner weiteren Begründung bedarf. Als die in den 70er Jahren gegründete Universität Bremen in ihrer stürmischen Anfangszeit 31 Hochschullehrerinnen 1 ein gemeinsames Großraumbüro mit einer Fläche von insgesamt 3100 Quadratmetern zuwies, wurde das auch mit der erwünschten „Kooperation, Kommunikation und Interdisziplinarität“ begründet. 2 Auch gegenwärtig werden Interdisziplinarität, Praxisbezug und gesellschaftliche Verantwortung als entscheidende Leitziele der Universität Bremen in Lehre und Forschung genannt. Die fachübergreifende Orientierung wird damit begründet, dass die technischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Probleme vielfältig und oft eng miteinander verknüpft sind, so dass sie nur in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachdisziplinen angemessen bearbeitet werden können. 3 Auch für die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist In1

Das Thema dieses Beitrags erfordert, dass immer wieder von Vertreterinnen und Vertretern einer Disziplin (Biologinnen und Biologen, Philosophinnen und Philosophen) gesprochen werden muss. Aus sprachlichen Gründen nenne ich immer nur die weibliche Form, die Kollegen sind dabei aber immer mit gemeint. 2 P. Meier-Hüsing, Universität Bremen. 40 Jahre in Bewegung, Bremen 2011, 64. 3 http://www.uni-bremen.de/universitaet/profil/leitziele.html (abgerufen am 8. 2. 2017).

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Manfred Stöckler

terdisziplinarität ein wichtiges Kriterium bei Förderentscheidungen. Das oberstes Ziel (auf der ‚ersten Ebene‘) ist dabei die wissenschaftliche Qualität. Auf der zweiten Ebene werden als Querschnittsziele, die in allen Förderprogrammen verfolgt werden (wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung), die folgenden Ziele genannt: Stärkung der interdisziplinären Forschung, der internationalen Kooperationen, der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der Gleichstellung von Männern und Frauen in der Wissenschaft und der Vernetzung über die institutionellen Grenzen des Wissenschaftssystems hinaus. 4 Ein zentrales Argument für die Förderung interdisziplinärer Forschung stützt sich auf die Einschätzung, dass gesellschaftliche Erwartungen an die Wissenschaft in einer komplexen Welt durch eine in herkömmlichen universitären Fachstrukturen organisierte Lehre und eine zunehmend spezialisierter werdende Forschung nicht mehr erfüllt werden können: „Die Probleme dieser Welt kümmern sich nämlich nicht um traditionelle Organisationsstrukturen von Disziplinen und Fakultäten. Umwelt, Klimawandel, Energie, Materialforschung, Life Science und Gesundheit, um nur einige zu nennen, sind problemorientierte Forschungsgebiete, die viele Fächer interdisziplinär verbinden, über traditionelle Fächergrenzen hinausgehen und in neuen Forschungsclustern zusammenwachsen.“ 5 Der explizite Ruf nach Interdisziplinarität ist also einerseits eine Reaktion auf die zunehmende Spezialisierung in den Wissenschaften, eine Spezialisierung, die, wie es scheint, vor solchen Problemen versagt, die die Kooperation verschiedener Disziplinen erfordert. Auf der anderen Seite ist der Ruf nach Interdisziplinarität aber oft zugleich auch eine Kritik an der Entfaltung eines Wissens, das nicht an den gesellschaftlichen Anforderungen und „am 4

http://www.dfg.de/dfg_profil/geschichte/foerderung_gestern_und_heute/aktu elle_strategie/index.html (Abruf 15. 2. 17). 5 K. Mainzer, Geleitwort. Interdisziplinarität und Schlüsselqualifikationen in der globalen Wissensgesellschaft, in: Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, hg. v. M. Jungert / E. Romfeld u. a., Darmstadt 2013, VI-VIII, hier VI.

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Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis

guten Leben“ orientiert ist. Interdisziplinarität wurde seit den 1970er Jahren zum zentralen Begriff einer wissenschaftspolitischen Bewegung, in der sie u. a. auch als eine neue Form der Wissenschaft ausgerufen wurde. 6 Seitdem wird Interdisziplinarität vor allem in politischen und forschungsorganisatorischen Kontexten diskutiert, also eher soziologisch als philosophisch. Generell ist zu beobachten, dass es aus dem Kern der Wissenschaftsphilosophie vergleichsweise wenige Arbeiten zur Interdisziplinarität gibt. Wissenschaftsphilosophische Überlegungen zur Interdisziplinarität müssen mehr als andere Felder der Wissenschaftstheorie Ziele und Werte der Wissenschaften thematisieren. Da es hier weniger um die logische Analyse von Theorien als um die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit und die dafür notwendige Ausbildung geht, muss auch die Praxis der Forschung im Blick bleiben, die in der Wissenschaftsphilosophie zuweilen übersehen wird. Normative Fragen können auch deshalb nicht ausgeblendet werden, weil es auch schlechte Formen von Interdisziplinarität gibt und man für Förderentscheidungen Kriterien haben muss, wie man gute von schlechter Interdisziplinarität unterscheidet, Kriterien, die über das übliche methodologische Instrumentarium der Wissenschaftstheorie hinausgehen. In meinem Beitrag werden folgende Fragen in der Perspektive der Wissenschaftsphilosophie diskutiert: Was kann man unter Interdisziplinarität verstehen (es scheint, dass Interdisziplinarität nicht in einer, sondern in einer Vielfalt von Formen vorkommt)? Sind Disziplinen in sich einheitlich, und wenn ja, in welchem Sinn? Ist interdisziplinäre Arbeit wirklich eine neue Form von Wissenschaft? Unter welchen Bedingungen kann welche Form von interdisziplinärer Forschung die hohen Erwartungen erfüllen? Unter welchen Bedingungen ist ihre besondere Förderung ge6

Vgl. dazu die Hinweise in R. Frodeman, Introduction, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, xxix–xxxix, und in J. C. Schmidt, Towards a philosophy of interdisciplinarity, in: Poiesis & Praxis 5 (2008), 53–69, bes. 54–55.

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Manfred Stöckler

rechtfertigt? Bei der Untersuchung interdisziplinärer Forschung in Vergangenheit und Gegenwart lässt sich im Übrigen viel über die Dynamik von Wissen und Wissenschaft lernen. Im Abschnitt 2 bringe ich Beispiele, die die Vielfalt interdisziplinärer Kooperation zeigen und Material für spätere Begriffsklärungen bereit stellen. Die gleiche Aufgabe hat der Abschnitt 3, der in einem historischen Rückblick die Entstehung und den Wandel von Disziplinen thematisiert. Im Abschnitt 4 versuche ich, Ordnung in die überbordende interdisziplinäre Terminologie zu bringen und den Begriff der Disziplin zu klären, ohne den Interdisziplinarität nicht verstanden werden kann. Im Abschnitt 5 wird thematisiert, was interdisziplinäre Unternehmungen behindert und was sie fördert. Diese praktische und zielorientierte Perspektive wird im Abschnitt 6 durch eine Systematik verschiedener Formen interdisziplinärer Integration vertieft, die eine Grundlage für Kriterien für die Fruchtbarkeit der jeweiligen Kooperationsformen bereit stellt. Im abschließenden Abschnitt 7 wird noch einmal hervorgehoben, dass die Wissenschaftsphilosophie im Feld der interdisziplinären Forschung hauptsächlich eine kritische Funktion hat und damit auch vor Steuerungsfehlern aufgrund von Vorurteilen über die Kooperation von Disziplinen schützen kann.

2. Beispiele Die folgenden Beispiele sind Typen von Unternehmungen, auf die man vielleicht zuerst kommt, wenn man an interdisziplinäre Forschung denkt. Schon an diesen Beispielen wird deutlich, dass sich dahinter durchaus unterschiedliche Formen der Kooperation verbergen. Die Vielfalt interdisziplinärer Forschung lässt auch daran zweifeln, dass sie eine Errungenschaft der 70er Jahre ist. 7 7

Die ersten beiden Beispiele kommen aus meiner näheren geografischen Umgebung. Viele weitere Beispiele findet man bei Gerhard Vollmer, Interdisziplinarität

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Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis

Am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven werden in verschiedenen Forschungsbereichen (Bio-, Geo- und Klimawissenschaft) z. B. Fragen der Meereseisphysik, der marinen Geochemie oder der Integrativen Ökophysiologie untersucht. Gegenstand im Bereich Klimawissenschaften sind die physikalischen und chemischen Vorgänge im System Ozean-Eis-Atmosphäre und ihre Bedeutung für die weltweite Klimaentwicklung. 8 Die verschiedenen Arbeitsgruppen haben einen gemeinsamen Forschungsgegenstand und ein gemeinsames, auch gesellschaftlich wichtiges Ziel. Sie unterscheiden sich in der Ausbildung ihrer Mitglieder und in ihren Methoden, nutzen aber eine gemeinsame Infrastruktur (z. B. Forschungsschiffe) und haben einen intensiven Informationsaustausch (so sind die Ergebnisse der Klimageschichte wichtig zum Test von Klimamodellen). Bei allen Unterschieden im Detail arbeiten hier Forscherinnen, die in einer ähnlichen Denkweise sozialisiert sind und die ihre Ergebnisse leicht integrieren können. Ähnlich strukturiert ist das Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung in Bremen. 9 Dort werden tropische Küstenökosysteme (Mangroven, Seegraswiesen, Korallenriffe) untersucht. Die Erforschung der Auswirkungen von natürlichen Veränderungen und menschlichen Eingriffen soll eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen erlauben und der von Umweltschäden bedrohten Bevölkerung helfen, z. B. durch wissenschaftlich fundierte Politikberatung. In den verschiedenen Abteilungen (u. a. Ökologie, Biogeochemie und Geologie, Sozialwissenschaften) arbeiten Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlichem disziplinärem Hintergrund, mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen, – unerlässlich, aber leider unmöglich? in: Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, hg. v. M. Jungert, / E. Romfeld u. a., Darmstadt 2013, 47–75, bei W. Löffler, Vom Schlechten des Guten. Gibt es schlechte Interdisziplinarität? im gleichen Band, 157–172, und natürlich in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010. 8 https://www.awi.de/forschung/forschungs-programm.html (Abruf: 22. 2. 17). 9 http://www.zmt-bremen.de (Abruf 1. 3. 17).

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Manfred Stöckler

die über die Naturwissenschaften hinausreichen. Ihre Forschungen stützen sich auf Ergebnisse und Kompetenzen der anderen Abteilungen, die Beiträge bleiben methodisch allerdings in dem jeweiligen disziplinären Rahmen. Es gibt auch Typen interdisziplinärer Projekte, in denen grundlegende Voraussetzungen und Methoden der beteiligten Fächer in Frage gestellt werden. Ein Beispiel dafür ist eine große Forschungsgruppe, die sich von 2015–2017 zum Thema „Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen“ am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld zusammengefunden hatte. Mitglieder aus der Psychologie und der Soziologie sowie aus der Biologie, der Philosophie, der Politikwissenschaft und der Ökonomie haben sich u. a. mit folgenden Fragen beschäftigt: Wie wirken sich genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die gesellschaftliche Position und soziale Mobilität von Menschen aus? Müssen wir angesichts der nachgewiesenen genetischen Einflüsse auf Lebenschancen unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit überdenken? 10 Diese Arbeitsgruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass aus verschiedenen Fächern für die gleichen Verhaltensmuster potenziell konkurrierende Erklärungsmodelle ins Spiel kommen. Die Disziplinen übernehmen nicht nur Wissen aus den anderen Disziplinen, sondern müssen sich mit Denkweisen, die aus methodisch jeweils fernliegenden Fächern kommen, und mit unterschiedlichen natur- und sozialwissenschaftlichen Methoden auseinandersetzen. Dazu gehören methodische Fragen zur Identifizierung von Anlage- und Umweltfaktoren, aber auch ethische und sozialpolitische Implikationen. Die Forschungen können nicht mehr vollständig in dem gewohnten methodischen Rahmen durchgeführt werden. Die Beispiele zeigen, dass Interdisziplinarität etwas mit dem Zusammenwirken verschiedener Kompetenzen zu tun hat. Die 10

Vgl. https://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZIF/FG/2015LifeChances/ 22. 2. 17).

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(Abruf

Ziele, Vielfalt und Einheit der Wissenschaften in Theorie und Praxis

Bestimmung der Trennlinie zwischen disziplinärer und interdisziplinärer Forschung wird nun dadurch erschwert, dass auch innerhalb einer Disziplin meistens kein Methoden-Monismus besteht. In der Medizin z. B., einer sehr alten Disziplin, umfasst schon die Ausbildung Wissen aus naturwissenschaftlichen Fächern, anatomische Kenntnisse und viele praktische Fähigkeiten, die in verschiedenen Anwendungsbereichen (Röntgenarzt, Psychiatrie) ganz unterschiedlich sind. Bei der Frage nach der inneren Einheitlichkeit einer Disziplin kommt es offenbar darauf an, was man unter einer Disziplin verstehen will: ein weites Feld wie die Biologie oder einen abgegrenzten Teilbereich wie die Neurophysiologie des Sehsystems. Wenn man den Disziplinenbegriff sehr eng fasst, dann ist auch die Theoretische Physik interdisziplinär, weil in ihr z. T. sehr fortgeschrittene Methoden der Mathematik zum Einsatz kommen. Allerdings würde man Experten, die in der mathematischen Physik Topologische Quantenfeldtheorie betreiben, in der Regel keinen Interdisziplinaritäts-Bonus einräumen. Umgekehrt gibt es Forschungsfelder, die einerseits interdisziplinär sind, in dem Sinne, dass darin Forscherinnen mit verschiedenen Kompetenzen und Methoden arbeiten, andererseits aber die institutionellen Eigenschaften von Disziplinen zeigen: Es gibt eigene Konferenzen, Fachgesellschaften, Zeitschriften und Studiengänge. Ein gutes Beispiel ist die Kognitionswissenschaft. 11 Kognitionswissenschaftlerinnen untersuchen die menschliche Erkenntnis, d. h. Inhalte und Prozesse des Denkens mit Methoden und Einsichten aus der Psychologie, der Philosophie, der Linguistik, den Neurowissenschaften, der Anthropologie und den Computerwissenschaften. Seit Mitte der 50er Jahre entwickelt sich als ein programmatisches Fundament die Auffassung, dass Denken in der formalen Verarbeitung mentaler Repräsentationen besteht (Computer-Analogie). Der Begriff Kognitionswissenschaft (cognitive science) wurde dann Mitte der 70er Jahre geprägt. Inner11

Vgl. für das Folgende P. Thagard, Cognitive Science, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, 234–245.

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halb der neuen Disziplin gibt es verschiedene Formen der Kooperation: 12 So gibt es z. B. die Psychologin, die sich für ihre Forschungen in die Technik von Computermodellierungen eingearbeitet hat. Paul Thagard nennt das eine interdisziplinäre Verknüpfung, weil dabei Forschung an der Schnittstelle zweier unterschiedlicher Disziplinen betrieben wird. Ähnlich wie in der Theoretischen Physik würde man hier vermutlich aber noch nicht von interdisziplinärer Arbeit sprechen. Ein zweites Modell der Kooperation erfordert nach Thagard die Zusammenarbeit verschiedener Individuen unterschiedlicher Herkunft (Psychologie und Linguistik), bei der das jeweilige Wissen zusammengefügt wird, ein gewisses Verständnis für die Denkweise der anderen entwickelt werden muss, der Schwerpunkt der Arbeit aber dennoch in der eigenen Disziplin bleibt. Thagard erwähnt noch eine weitere Kategorie von interdisziplinärem Wissensaustausch, bei dem disziplinäre Forschung durch einzelne Ideen aus anderen Bereichen befruchtet worden ist, ohne dass es eine explizite Kooperation gegeben hätte. Er gibt das Beispiel der Prototypentheorie der Psychologin Eleonor Rosch an, die unter anderem durch Ideen von Wittgenstein (Familienähnlichkeit) angeregt worden war. Die Beispiele zeigen, dass die Abgrenzung einer Disziplin zwar etwas mit Inhalten, Methoden und Institutionen zu tun hat, auf den ersten Blick dafür aber kein einfaches Schema erkennbar ist. Dieses Problem wird uns im folgenden historischen Abschnitt und bei den sich anschließenden Begriffsklärungen noch im Detail beschäftigen.

3. Ein Blick in die Geschichte Interdisziplinarität betrifft zum einen das Verhältnis von verschiedenen Wissensinhalten. Was als Disziplin angesehen wird, ist aber auch von der Organisation der Forschung und der akademischen 12

Vgl. Thagard, Cognitive, 237.

26 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Ausbildung abhängig. Der folgende Blick in die Geschichte soll zeigen, wie sehr die Dynamik von Feldern des Wissens und die Bildung von Disziplinen von historischen Rahmenbedingungen und von wechselnden Erwartungen an die Wissenschaft geprägt ist. Die knappen Überlegungen zur Wissenschafts- und Universitätsorganisation müssen oberflächlich und selektiv bleiben, aber sie können dennoch helfen, Distanz zu gegenwärtigen Moden und Dogmen zu gewinnen und Gesichtspunkte zu sammeln, die für eine Explikation von ‚Disziplin‘ und für die Suche nach Kriterien guter interdisziplinärer Arbeit wichtig sind. Die gegenwärtigen Rufe nach Interdisziplinarität haben etwas mit der Fülle des Wissens und der damit notwendig einhergehenden Spezialisierung zu tun. Aber auch schon die Bildung von Disziplinen ist eine Antwort auf die Zunahme des Wissens. In frühen Phasen der Wissenschaft haben disziplinäre Probleme keine Rolle gespielt. Die Gelehrten der Antike, die wir Vorsokratiker nennen, sind nicht verschiedenen Disziplinen wie Astronomie, Physik, Biologie oder Philosophie zuzuordnen. Ihre Lehre handelt von der Natur, und sie konnten, wie es scheint, das Wissen ihrer Zeit noch überblicken. Allerdings gab es sehr früh schon Experten für Geometrie, Astronomie oder Medizin. Aber immerhin scheint es, jedenfalls inhaltlich, einen unproblematischen Austausch gegeben zu haben, und Aristoteles konnte sowohl über Logik und Physik, über den Himmel, über Raum und Zeit, über Bewegung, als auch über Staatsverfassungen, das Theater und die Freundschaft maßgebende Schriften verfassen. Über viele Jahrhunderte blieb es trotz zunehmender Spezialisierung möglich, ohne sehr langes Eindringen in das jeweilige Fach die Ergebnisse unterschiedlicher Wissensgebiete zu verstehen und weiterhin in ganz verschiedenen Forschungsbereichen eigenständige neue Ergebnisse zu erzielen. Ein Beispiel dafür sind die Beiträge, die Johannes Kepler zur Theorie des Sehens geliefert hat. Zunächst interessieren ihn, den „Mathematiker“, optische Fragen, z. B. das auf dem Kopf stehende Netzhautbild. Bei der detaillierten Untersuchung des Verlaufs 27 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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der Lichtstrahlen im Auge muss er sich aber auf anatomisches Wissen stützen, das er von den Medizinern Felix Platter und Johannes Jessen übernahm. Kepler weist explizit darauf hin, dass er, der noch keine Leiche geöffnet hat, sich in diesen Teilen seiner Theorie nicht auf eigene Erfahrungen berufen kann. 13 Will man das schon interdisziplinäre Zusammenarbeit nennen, oder einfach Forschung, die Erkenntnisse einbezieht, die andere gewonnen haben? G. W. Leibniz wird gerne als letzter Universalgelehrter bezeichnet. Das ist in dem Sinne richtig, dass er umfangreiches Wissen und wegweisende Neuerungen in so unterschiedlichen Gebieten wie der Mathematik, der Physik, der Sprachwissenschaft und der Philosophie fand, eine Rechenmaschine konstruierte und dazu noch Erfindungen für den Bergbau beitrug. Zu diesem Wissen haben aber auch 20.000 Briefe beigetragen, die er von anderen Gelehrten erhalten hat. Ist das eine besondere interdisziplinäre Kooperation oder genial eingesetzte übliche Forschungsmethodik? Gehen wir aber noch einmal einen Schritt zurück und betrachten die Organisation der Fächer an der mittelalterlichen Universität. Sie ist charakterisiert durch die Abfolge der propädeutischen Eingangsphase der sieben freien Künste (artes liberales, u. a. Grammatik, Dialektik/Logik, Arithmetik, Geometrie) und des sich anschließenden Studiums in den Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Diese Einteilung in Fächer orientiert sich an der Anwendung des Wissens und an Bedürfnissen der gesellschaftlichen Praxis. Der Schulbetrieb war vor allem durch die Auseinandersetzung mit überkommenen klassischen Texten geprägt. Verschiedene Entwicklungen führten im 17. und 18. Jahrhundert zu neuen Wissenschaftsidealen (z. B. zu einer neuen Bedeu-

13

D. C. Lindberg, Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt/M. 1987, 328–336, bes. 333.

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tung der Mathematik und von Experimenten) und zu einem gewaltigen Wachstum an Wissen. In der Folge wandelte sich die Rolle der Universitäten und Akademien und es kam zu einer Ausdifferenzierung neuer Disziplinen. 14 Peter Weingart hebt hervor, dass bis 1800 wissenschaftliche Publikationen sich noch an eine große Öffentlichkeit richteten. Danach verlagerte sich die Kommunikation in den Kreis einer kleineren Zahl von Spezialisten, die sich zu Gemeinschaften mit eigenen Fachsprachen und eigenen Zeitschriften entwickelten. 15 So kam es auch an den Universitäten zu einer stärkeren Betonung der Forschung gegenüber der Lehre. Der bisherige „Mix aus Privatgelehrtentum, Akademien bzw. gelehrten Gesellschaften, höfischer Förderung und forschungsinteressierten Universitätsprofessoren sowie Kommunikation über Bücher, allgemeinwissenschaftliche Zeitschriften, Korrespondenz und Reisen“ 16 reichte für die Dynamik des Wissensfortschritts an der Wende zum 19. Jahrhundert nicht mehr aus. Mit der Etablierung der Forschungsuniversität ging eine durchgehende systematische Organisation der Wissenschaft in disziplinären Strukturen einher. „Im 19. Jahrhundert wurde die Disziplinarität zum grundlegenden Prinzip der innerwissenschaftlichen Arbeitsteilung.“ 17 Diese Entwicklung verlief in verschiedenen Ländern nicht ganz einheitlich. Sie unterschied sich auch im Hinblick auf die Fächer. Die Biologie konstituierte sich z. B. später als Astronomie, Physik oder Chemie, und dafür gleich in Subdisziplinen wie

14

Vgl. P. Weingart, A short history of knowledge formations, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, 3–14. 15 Weingart, History, 6. 16 H. Laitko, Disziplinierung und Disziplinarität. Leitlinien der Binnendifferenzierung des Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert, in: Wissen im Wandel. Disziplinengeschichte im 19. Jahrhundert. Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 12, hg. von G. Boeck / H.-U. Lammel, Rostock 2011, 129–149, hier S. 136; vgl. auch R. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt/Main 1984. 17 Laitko, Disziplinierung, 138.

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Botanik und Zoologie (ablesbar an Bildung von Fachgesellschaften). 18 Es ist hier nicht der Ort, um Ausdifferenzierung einzelner Disziplinen im Detail zu verfolgen, auch wenn es reizvoll wäre, z. B. zu untersuchen wie sich im 19. Jahrhundert die Psychologie aus der Philosophie, meiner eigenen Disziplin, ausgegliedert hat, so dass gegenwärtig interdisziplinäre Projekte zwischen beiden Fächern möglich werden. Diese Entwicklung, die auch in der Humboldt’schen Universitätsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkmächtig wurde, war also durch eine Betonung der Forschung und durch die Erwartung geprägt, dass Fortschritt in der Wissenschaft durch die Stärkung von Einzeldisziplinen zu erwarten ist. Gegenwärtige Universitätsreformen betonen dagegen wieder die Ausbildungsfunktion, wobei auch viele anwendungsorientierte Masterstudiengänge mit bunten Mischungen disziplinärer Komponenten eingerichtet werden. Zu ergänzen ist, dass die Spezialisierung innerhalb von Disziplinen wie der Physik weiter zugenommen hat, 19 wobei aber noch weitgehende Übereinstimmung in einem „physikalischen Blick“ auf die Welt besteht, und auch darüber, mit welchen Methoden 18

K. T. Kanz, Die disziplinäre Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert und die biologischen Disziplinen an der Universität Rostock, in: Wissen im Wandel. Disziplinengeschichte im 19. Jahrhundert. Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte12, hg. von G. Boeck / H.-U. Lammel, Rostock 2011,7–24; vgl. auch W. Schreier, M. Franke, A. Fiedler, Geschichte der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin 1845–1900, in: Physikalische Blätter, 51. Jahrgang, Heft 1 (1995) F-9 – F-59, wo neben Details zu den Änderungen des Charakters der Naturwissenschaften im 19. Jh. auch betont wird, dass die naturwissenschaftliche Fundierung der Medizin (z. B. in der physikalischen Physiologie) ein Gründungsanlass dieser Gesellschaft war, was zeigt, dass Interdisziplinarität keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. 19 Weingart, History, 11, weist auf die Sektionen und Arbeitskreise hin, in die sich die Deutsche Physikalische Gesellschaft bis heute aufgeteilt hat (von der Atom- bis zur Umweltphysik, von der Kurzzeitphysik bis zur Physik sozio-ökonomischer Systeme), vgl. auch Laitko, Disziplinierung, 142, zu Untergliederungen der Physik.

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und welchem Wissen zukünftige Physikerinnen in den ersten Jahren ihres Studiums vertraut gemacht werden sollten. Die universitären Disziplinen haben sich im 19. und 20. Jahrhundert auch in anderer Weise weiter entwickelt: In den Überschneidungsbereichen etablierten sich neue Disziplinen wie Biochemie oder Geophysik. 20 Seit dem 2. Weltkrieg ist zu beobachten, dass spezielle Forschungsprojekte wieder aus den Universitäten ausgegliedert und in Großforschungseinrichtungen angesiedelt werden („big science“). 21 Die Ziele solcher Forschungseinrichtungen erfordern erhebliche finanzielle Mittel, die Zusammenarbeit sehr vieler Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlichen Spezialisierungen und häufig auch besondere technische Ausrüstungen. Beispiele sind das 1942 eingerichtete Manhattan Projekt (Los Alamos National Laboratory) mit dem Ziel des Baus einer Atombombe und das europäische Forschungszentrum CERN für experimentelle Teilchenphysik aus den 50er Jahren, das mittlerweile Tausende von permanenten Wissenschaftlerinnen und Gästen beherbergt und einen Jahresetat im Bereich von einer Milliarde Euro hat. Solche Forschungsunternehmungen gehören meist zur angewandten Forschung. Manche von ihnen (wie z. B. CERN) betreiben aber auch Grundlagenforschung. Neben den großen Projekten in den Naturwissenschaften gibt es noch einen anderen Typ von Fragestellung, der eine interdisziplinäre Kooperation notwendig macht: Kann das Wissen über die Welt in einem einheitlichen System zusammengefasst werden? Lässt sich aus den Naturwissenschaften ein übergreifendes Weltbild ableiten? Die zunehmende Spezialisierung hat Folgen für die Frage, ob das Wissen noch als Einheit vorgestellt werden kann und wie es außerhalb der eigenen Disziplin noch kommunizierbar 20

Vgl. Laitko, Disziplinierung, S. 148, allg. zur Genese neuer Disziplinen 144– 146. 21 Der Klassiker dazu ist Derek J. de Solla Price, Little Science, Big Science, New York 1963.

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ist. Die Zunahme des Wissens und seine daraus folgende Ausdifferenzierung hat schon früh zu einer Nachfrage nach orientierender Übersicht über das gesamte Wissen und nach Einführungen in Teilgebiete geführt. Diese Nachfrage wurde in Systemen der Wissenschaftsklassifikation und in Enzyklopädien bedient. 22 Besonders bekannt ist die von Diderot und d’Alembert herausgegebene Encyclopédie, deren Bände ab 1751 erscheinen. Im Vorwort zu diesem monumentalen Werk wird an die Beiträge erinnert, die Francis Bacon (1561–1626) zur systematischen Einteilung der Wissenschaften beisteuerte, und an seine Pläne zur Wissenschaftsorganisation. Die Enzyklopädisten haben das erklärte Ziel, das Wissen ihrer Zeit der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. In dieser Hinsicht ist die Einheit der Wissenschaft eine wichtige Frage, die die Philosophie seit der Neuzeit begleitet. Im 20. Jahrhundert nimmt der Wiener Kreis diese Tradition in seiner Forderung nach einer Einheitswissenschaft auf. Das durchaus auch gesellschaftspolitisch motivierte Ziel, die Menge und die Vielfalt spezialisierten Wissens jedenfalls in relevanten Teilen einer breiten Bevölkerung zugänglich zu machen, führte zu der Forderung nach einer einheitlichen Wissenschaftssprache, in die alles Wissen eingegliedert werden kann. Auf der Grundlage des logischen Empirismus, dem die Mitglieder des Wiener Kreises folgten, entwickelten sich verschiedene Konzeptionen einer Einheit der Wissenschaften. Eine extreme Variante strebt die Einheit der Wissenschaften durch eine Reduktion aller Theorien auf die fundamentale Physik an. 23 Diese Diskussionen waren aber eher prinzipiell-wissenschaftstheoretisch motiviert und weniger an konkreten Problemen der Kooperation verschiedener Wissenschaften ausgerichtet. 22

U. Dierse / H. J. Sandkühler, Art. „Enzyklopädie“, in: Enzyklopädie Philosophie 1, hg. von H. J. Sandkühler, Hamburg 2010, 545–551. 23 M. Stöckler, 42 Jahre danach. Ein neuer Blick auf Oppenheim, Putnam und die Einheit der Wissenschaften, in: Argument und Analyse, hg. v. C. U. Moulines / K.-G. Niebergall, Paderborn 2002, 55–66.

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Unser kurzer historischer Rückblick hat gezeigt, dass die Zunahme des Wissens zu einer Spezialisierung und zur Bildung disziplinärer Gemeinschaften führt. Die institutionelle Ausprägung hängt dann davon ab, ob es um Forschung geht (Bildung von Fachgesellschaften, Fachzeitschriften) oder um die Weitergabe von Wissen (Bildung bestimmter Bündelungen von Wissensbeständen als Fächer in der universitären Ausbildung). Für das 20. Jahrhundert wird zusätzlich wichtig, welche Aufgaben der Wissenschaften noch von Individuen im Alleingang erfüllt werden können und wo die Kooperation zwischen den Fächern über die Kenntnisnahme einschlägiger Schriften hinausgehen muss und so zu Interdisziplinarität im engeren Sinn führt.

4. Begriffsklärungen 4.1 Interdisziplinarität und interdisziplinär Der Begriff „interdisziplinär“ wurde zunächst im Englischen eingeführt und dann in Deutschland vor allem im Kontext der Forschungsorganisation zunehmend verwendet. Er fand mit den Denkschriften H. Schelskys zur Gründung einer ostwestfälischen Universität (Bielefeld) Mitte der 60er Jahre Eingang in die universitäre und wissenschaftspolitische Rhetorik. Eine erste Systematisierung verschiedener Begriffe wie inter-, cross- und transdisziplinär wird E. Jantsch (1972) zugeschrieben. 24 Statt einer Definition von „interdisziplinär“ soll hier zunächst die Frage verfolgt werden, was eigentlich interdisziplinär sein kann. Ich folge hierbei Winfried Löffler, der diese aufschlussreiche Frage diskutiert. 25 Interdisziplinär können soziale Gegenstände wie Tagungen, For24

H. Holzhey, Art. „Interdisziplinär“, Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976) 476–478; H. Völker, Von der Interdisziplinarität zur Transdisziplinarität? in: Transdisziplinarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven, hg. von F. Brand / F. Schaller / H. Völker, Göttingen 2004, 9–28, hier 13. 25 Löffler, Schlechte, 158.

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schungsinstitute und Sammelbände sein, aber auch objektiviertinhaltliche Gegenstände wie Problemstellungen, Untersuchungsansätze oder Forschungsprogramme. Es gibt auch Wissenschaftlerinnen, die man aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Kompetenzen und ihrer Interessen als interdisziplinär bezeichnen kann („interdisziplinäre Persönlichkeiten“, W. Löffler). Interdisziplinarität in dem oben angegebenen sozialen Sinn muss nicht zu inhaltlicher Interdisziplinarität führen. Ein interdisziplinärer Sammelband kann aus Beiträgen bestehen, die zu dem angegebenen Oberthema jeweils disziplinäre Beiträge liefern, die unabhängig voneinander verfasst worden sind und nicht aufeinander Bezug nehmen. Winfried Löffler weist zurecht darauf hin, dass im objektivgegenständlichen Bereich das Wort „interdisziplinär“ eher auf der „Versuchs- und Aktivitätsseite“ der Wissenschaft steht als auf der (im grammatischen Sinn) „Erfolgsseite“. Man spricht von interdisziplinären Forschungsprojekten, aber selten von interdisziplinären Begriffen, Theorien, Beschreibungen oder Erklärungen. 26 Das mag daran liegen, dass Bestände an Wissen und Fähigkeiten hauptsächlich in den Disziplinen angesiedelt sind. Zur Erläuterung seiner Konzeption stellt Winfried Löffler einen paradigmatischen Fall von interdisziplinärer Zusammenarbeit vor, den er mit Hilfe der aristotelischen Unterscheidung von Materialobjekt und Formalobjekt analysiert. Materialobjekte einer Wissenschaft sind die Gegenstände, von denen in dieser Wissenschaft die Rede ist. Das Formalobjekt ist dagegen durch die spezielle Untersuchungsperspektive oder die speziellen Forschungsgesichtspunkte des jeweiligen Fachs mitbestimmt, sie sind Objekte in einem bestimmten Zugriff. „Medizin und Soziologie mögen etwa im Materialobjekt übereinkommen (es ist in beiden Fällen der Mensch), die Formalobjekte sind jedoch verschieden: Es ist hier der Mensch, insofern er in seinen Funktionsweisen beeinträchtigt und heilungsbedürftig ist, und dort der Mensch, in26

Ebd., 161.

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sofern er in gesellschaftlichen Kontextbedingungen wie Gruppen, Normen, Werten, Rollenerwartungen etc. lebt.“ 27 Eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dann zu erwarten, wenn die beteiligten Disziplinen dasselbe Materialobjekt haben und die verschiedenen Formalobjekte in einen Zusammenhang gebracht werden können. Theorien und Erklärungsweisen gehören, so würde ich diesen Vorschlag deuten, den Disziplinen an, die die Formalobjekte bestimmen. Der Anwendungsbezug wird aber durch ein Materialobjekt gegeben. Neben anderen Projekten gibt Winfried Löffler das Beispiel der Zusammenarbeit von „Physikern, Ingenieurwissenschaftlern, Statistikern, Juristen, Zellbiologen, medizinischen Psychologen, Internisten und Sozialmedizinern über die mögliche Schädlichkeit von Mobilfunkmasten und -geräten“ 28 an. Die Lösung eines Problems (die Gefährlichkeit von Mobilfunk als Materialobjekt) benötigt dabei das Zusammenwirken verschiedener Arten, auf dieses Problem zu schauen (verschiedene Formalobjekte und damit verschiedene Disziplinen). Die Plausibilität dieser Überlegungen hängt von der Bestimmung des Begriffs „Disziplin“ ab, auf die wir nach einem Zwischenspiel zurückkommen, in dem „interdisziplinär“ mit konkurrierenden Begriffen verglichen wird.

4.2 Interdisziplinarität und Transdisziplinarität Neben dem Begriff der Interdisziplinarität gibt es verschiedene konkurrierende Begriffe (u. a. Multi-, Pluri-, Cross-, Intra- und Transdisziplinarität), die häufig gleichbedeutend, oft aber auch in (fallweise differierender) Unterscheidung vom Begriff der Interdisziplinarität verwendet werden. 29 Der wichtigste Alternativ27 28 29

Ebd., 162. Ebd., 163. Vgl. dazu die informativen Ausführungen von M. Jungert, Was zwischen wem

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begriff ist die Transdisziplinarität. Als Unterscheidungsmerkmal zwischen Inter- und Transdisziplinarität wird oft der Grad der Integration eingeführt. Der Integrationsgrad ist z. B. gering, wenn Disziplinen, die sich mit einem gemeinsamen Themenbereich beschäftigen, nebeneinander stehen, vielleicht auch voneinander Kenntnis nehmen, ihre Arbeit aber ohne ernsthaften Austausch mit der anderen Disziplin erledigen. Der Grad der Integration ist hoch, wenn die Fächer die Grenzen ihres eigenen Zugangs beachten und bei ihrem Vorgehen Elemente oder auch Vorgehensweisen der anderen Disziplin verwenden. Andere sprechen eher dann von einem Übergang von der Inter- zur Transdisziplinarität, wenn bei der Verknüpfung von theoretischem Wissen praktische Probleme gelöst werden, die der Wissenschaft von außen gestellt worden sind und bei deren Bearbeitung gegebenenfalls auch z. B. betroffene Bürger mitwirken. Da es verschiedene Unterscheidungskriterien und damit verschiedene Bedeutungen von „Interdisziplinarität“ und „Transdisziplinarität“ gibt, will ich im Folgenden immer nur von Interdisziplinarität sprechen, dafür aber verschiedene Formen von Interdisziplinarität unterscheiden, die im Abschnitt 6 genauer untersucht werden. Solche konkreten Unterscheidungen scheinen mir für die Diskussion von Interdisziplinarität hilfreicher zu sein als viele der üblichen eigenwilligen Definitionskunststücke.

und warum eigentlich? Grundsätzliche Fragen der Interdiszplinarität, in: Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, hg. v. M. Jungert / E. Romfeld / T. Sukopp / U. Voigt, Darmstadt 2013, 1–12, bes. 4–7, und die Überlegungen von Th. Sukopp, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte, im gleichen Band: Interdisziplinarität, hg. von M. Jungert u. a., 13–29, bes. 21–25. Vielfältige, z. T. unvereinbare Bestimmungen von Transdisziplinärität dokumentiert Völker, Interdisziplinariät-Transdisziplinarität.

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4.3 Was ist eine Disziplin? I „Wer von Disziplinarität nicht sprechen möchte, sollte über Interdisziplinarität schweigen.“ 30 Was aber ist genau eine Disziplin? Bei der Suche nach einer Antwort ist von der Wissenschaftsphilosophie leider wenig Hilfe zu erwarten. Die Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts war zunächst vor allem mit Problemen der Bestätigung und Widerlegung einzelner Aussagen beschäftigt, dann mit der Analyse von Theorien, vorzugsweise mit den fundamentalen Theorien der Physik und vorzugsweise mit logischen und mathematischen Hilfsmitteln. Erst eine erneute Zuwendung zur Wissenschaftsgeschichte rief die Dynamik von Wissenschaften in Erinnerung und öffnete in den 60er Jahren die Türen für einen weiteren Blick auf die Wissenschaften. Insbesondere das 1962 erschienenen Buch „The Structure of Scientific Revolutions“ von Thomas S. Kuhn 31 verankerte im allgemeinen Bewusstsein, dass Wissenschaften wie die Biologie oder die Physik nicht nur aus (im Idealfall axiomatisierten) Theorien bestehen, sondern darüber hinaus charakterisiert sind durch metaphysische Hintergrundüberzeugungen (wie z. B. Determinismus im Naturgeschehen), spezielle Sichtweisen auf die Welt (z. B. Idealisierungen: die klassische Mechanik kann fast immer die Farbe der bewegten Gegenstände vernachlässigen), exemplarische Problemstellungen und typische Lösungsmethoden (z. B. Differentialgleichungen). Wenn es auch innerhalb der Wissenschaftsphilosophie keine ausführliche und geordnete Diskussion darüber gibt, was eine Disziplin ist, so wird aber schon deutlich, das Disziplinen in den Wissenschaften offenbar komplexe, in sich vielgestaltige Entitäten sind, die nicht allein und meist überhaupt nicht durch zentrale Theorien wie die klassische Mechanik oder die Elektrodynamik identifiziert werden können. Ein solcher Versuch würde schon in 30 31

Sukopp, Interdisziplinarität, 26. deutsch: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967.

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der Physik scheitern, und er wäre natürlich in Fächern wie der Romanistik oder der Ethnologie vollkommen irregeleitet. Wie verhalten sich Fächer zu Disziplinen? Manchmal werden die beiden Begriffe in gleicher Bedeutung verwendet. Ich möchte mich der Sprachregelung anschließen, nach der Fächer kleinere Einheiten einer übergeordneten Disziplin sind. Statistische Physik und Festkörperphysik sind danach Fächer der Disziplin Physik. Heinz Heckhausen kommt nach dieser Sichtweise auf 20–30 Disziplinen, 32 Jürgen Mittelstraß mit Hilfe eines Fächerkatalogs des Hochschulverbands auf eine Zahl von 4000 Fächern. 33 Wann sollte man von einem interdisziplinären Austausch sprechen, schon wenn Anglistinnen sich mit Romanistinnen in Sachen postkolonialer Literatur treffen, oder erst dann, wenn Geistes- und Naturwissenschaften zusammenkommen? Die Kooperation zwischen Fächern ist problemloser, wenn viele Rahmenvorstellungen und methodische Ideale geteilt werden. Schwieriger ist es beim Aufeinandertreffen von großen Disziplinen. Intuitiv gibt es so etwas wie Abstände zwischen Disziplinen (auch zwischen Fächern), die durch ihre Verwandtschaft im Gegenstandsbereich (z. B. Natur, Kultur oder Gesellschaft), in der generellen Methode (z. B. empirisch oder normativ) und in ihren Begriffsbildungen (quantitativ, qualitativ) unterscheiden. Diese Abstände, über deren Metrik wenig Präzises zu finden ist, erleichtern oder erschweren die interdisziplinäre Arbeit, sie scheinen auch auf die Wertschätzung von weiter entfernten Disziplinen einen Einfluss zu haben (die offenbar mit dem Abstand abnimmt). Auch die Fächer sind nicht in sich einheitlich (Ausnahmen sind vielleicht einige Bereiche der reinen Mathematik). Das gilt 32

H. Heckhausen, „Interdisziplinäre Forschung“ zwischen Intra-, Multi- und Chimären Disziplinarität, in: Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie, hg. von J. Kocka, Frankfurt/M. 1987 / 22015, 129–145, hier 130. 33 J. Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie, hg. von J. Kocka, Frankfurt/M. 1987 / 22015, 152–158, hier 152.

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umso mehr für Disziplinen. In fast allen Disziplinen werden auch Resultate andere Bereiche gebraucht und vermittelt, die dann oft „Hilfswissenschaften“ genannt werden. 34 Ein Beispiel sind physikalische Methoden der Altersbestimmung von Materialien in der Archäologie (Radiokarbonmethode mit dem Kohlenstoffisotop 14C). Disziplinen sind komplizierte Gebilde. Deswegen kann Interdisziplinarität als Phänomen nicht durch die folgende, auf den ersten Blick nahe liegende Analogie beschrieben werden: Die einzelnen Fächer oder gar Disziplinen sind in sich einheitlich und jeweils durch Gegenstand und Methode bestimmt. Sie sind Atome des Wissens, die sich im interdisziplinären Geschäft zu nützlichen Wissens-Molekülen verbinden. Um zu sehen, dass diese durchaus noch verbreitete Vorstellung falsch ist, kann man ein interdisziplinäres Unternehmen wie das Medizinrecht anschauen. Das darin enthaltene „Atom“ Medizin ist selbst eine in sich vielfältige Disziplin, die naturwissenschaftliche Elemente mit therapeutischen Zielen verbindet und auf Praxiserfahrung, aber auch auf normativen Elementen beruht. Die Fächer, die sich in interdisziplinären Kooperationen verbinden, können selbst schon interdisziplinär aufgebaut sein. Warum ist Medizin aber dann eine etablierte Disziplin, ein Zentrum für Medizinrecht aber ein gefeiertes interdisziplinäres Unternehmen? Fächer und Disziplinen sind offenbar schon Bündel von Sichtweisen auf die Welt, von Theorietraditionen und Methoden. In der Mathematik hat man z. B. eine strukturelle Sichtweise, arbeitet mit Beweisen und produziert formale Theorien. Welche Elemente zu einem Fach bzw. zu einer Disziplin gebündelt werden, hängt von vielen systematischen und praktischen Anforderungen, aber auch vom Arbeitsmarkt oder anderen gesellschaftlichen Erwartungen ab. Zur theoretischen Physik gehört traditionell eine Menge Mathematik, was aber nicht ausschließt, dass die Physike-

34

Sukopp, Interdisziplinarität, 18.

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rin im Einzelfall eine Mathematikerin zur Lösung einer dornigen partiellen Differentialgleichung zu Hilfe holt. In der Physik hat sich allerdings eine Einstellung zur Mathematik entwickelt, die sich vom Verständnis der Mathematikerinnen etwas unterscheidet (was häufig zu Auseinandersetzungen darüber führt, ob die Vorlesung ‚Mathematik für Physikerinnen‘ von Mathematikerinnen übernommen wird oder lieber im eigenen Fachbereich bleibt). In der Physik dient Mathematik meist als Werkzeug, und im Notfall arbeitet man hier auch mit Theorien, die nicht widerspruchsfrei sind.

4.4 Was ist eine Disziplin? II Kann man angesichts dieser vielfältigen und verwirrenden Beobachtungen noch die Hoffnung haben, gut begründete Kriterien für die Einteilung in Disziplinen zu finden oder ist die vorliegende Disziplinenlandschaft einfach nur ein Ergebnis einer kontingenten historischen Entwicklung? Erhellende Überlegungen zu der Frage, was eine Disziplin ist, habe ich dann doch bei einem Wissenschaftsphilosophen, nämlich bei Lorenz Krüger gefunden. 35 Krüger geht einige Vorschläge durch, wodurch Disziplinen konstituiert sein könnten. Der erste Vorschlag: Disziplinen unterscheiden sich durch ihren Gegenstand. „Von den Sternen handelt die Astronomie, von den Tieren und Pflanzen die Biologie, von China die Sinologie und so fort.“ 36 Aber dieser Vorschlag ist, wie Krüger zeigt, unzureichend. Auch die Geologie und die Politikwissenschaften handeln von China. Tiere und Pflanzen kommen in den Agrarwissenschaften, in der Medizin und in der Pharmazie vor. 35

L. Krüger, Einheit der Welt. Vielheit der Wissenschaft, in: Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie, hg. von J. Kocka, Frankfurt/M. 1987 / 22015, 106–125. 36 Krüger, Einheit, 111.

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Eine Disziplin wird offenbar über ihre Gegenstände hinaus auch durch eine bestimmte Frageperspektive und eine spezifische Problemauswahl bestimmt. 37 Für die Mathematik konnte man früher, als sie noch in Arithmetik und Geometrie zerfiel, zwei Gegenstandsbereiche angeben, Zahlen und den Raum. Heute würde man für die Mathematik keinen Bereich konkreter Gegenstände mehr angeben wollen. Krüger stellt deswegen einen zweiten Vorschlag vor: Disziplinen unterscheiden sich durch ihre Methoden. In der Mathematik werden Theoreme aus Axiomen deduziert, Naturwissenschaften erklären Naturprozesse, Geisteswissenschaften interpretieren und verstehen Sinngebilde. Krüger zeigt anhand der Beispiele, dass Methoden jedoch meist in verschiedenen Disziplinen eingesetzt werden, so dass auch sie sich nicht als Identitätskriterien für Disziplinen eignen. Viele Disziplinen (z. B. die Sportwissenschaft) benutzen verschiedene, ganz unterschiedliche Methoden. Zudem fehlt es im Bereich der Methoden, der sich von der Hermeneutik bis zur C14-Methode zur Altersbestimmung von Gegenständen erstreckt, an einer Ordnungsstruktur, die auf die Disziplinen übertragen werden könnte. 38 Unterschiede in den Methoden können auf der einen Seite zu Kommunikationsproblemen zwischen Wissenschaftlerinnen führen und Hindernisse bei der Lösung spezieller Probleme aufbauen. 39 Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Versuche, die Anwendung bestimmter (oft formaler) Methoden als einen Weg zu einer neuen Einheit der Wissenschaft zu propagieren. Lorenz Krüger diskutiert als einen dritten Vorschlag zur Identifizierung von Disziplinen, dass man sie nach dem mit ihnen verbundenen Erkenntnisinteresse klassifiziert. 40 So ordnete Wilhelm Windelband den Naturwissenschaften die Suche nach allgemei-

37

Ebd., Vgl. die in Abschnitt 4.1 diskutierte Unterscheidung von Material- und Formalobjekt bei Winfried Löffler. 38 Ebd., 112. 39 Ebd., 113. 40 Ebd.

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nen Gesetzmäßigkeiten und den historischen Wissenschaften die Suche nach Individualität zu. Ähnlich unterschied Jürgen Habermas zwischen dem technischen Interesse der Naturwissenschaften, dem praktischen Interesse der historisch-hermeneutischen Wissenschaften und dem emanzipatorischen Interesse der Sozialwissenschaften. Solche Vorschläge enthalten nach Krüger etwas Richtiges. So können u. a. Unterschiede in der Problemstellung und dem Blick auf die Welt die Kooperation zwischen Wissenschaftlerinnen erschweren und in diesem Sinne Probleme der interdisziplinären Kooperation erklären. Andererseits sind diese beiden Einteilungen nach Erkenntnisinteressen noch sehr grobkörnig. Die Naturwissenschaften waren z. B. über lange Phasen ihrer Entwicklung noch nicht durch ihre technische Nützlichkeit bestimmt. Es ist nach Krüger schwer zu sehen, wie dieser Vorschlag zu einer hinreichend feinen und systematischen Klassifikation von Fächern und Disziplinen ausgearbeitet werden könnte. Lorenz Krüger selbst neigt dazu, Disziplinen durch Theorien (in einem weiten Sinn) oder Theorieverbünde zu konstituieren. 41 Theorien haben ihren Gegenstand, aber dieser ist durch Fragestellungen und Absichten mitbestimmt, die wesentlich für die Theorien sind. „Die Wissenschaften versammeln ihre unzähligen Tatsachen, Regeln, auch normativen Tatbestände oder Entscheidungen doch nur, um sie zu ordnen, zu deuten oder zu erklären – so nämlich, dass die nächste durch das Leben herangetragene solche Einzelheit in vorgezeichneter Weise verarbeitbar wird. In diesem schwächsten Sinne zumindest steckt in allen Wissenschaften ein Stück Theorie.“ 42 Disziplinen der Forschung entstehen, wenn Gegenstand, Frageperspektive und Methoden zusammenpassen. Ein Paradigma der Forschung kommt dort zustande, „wo in glücklicher Weise Sache und Forschungsfrage aufeinander passen. Solche Passung

41 42

Ebd., 115. Ebd., 115–116.

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stiftet Forschungstraditionen und damit – gewiss weitere, vornehmlich soziale Bedingungen gegeben – auch Disziplinen.“ 43 Disziplinen sind historische Einheiten, „Individuen, die in der Geschichte der Wissenschaften erwachsen, die in Deszendenzbeziehungen zueinander stehen, Familien bilden, sich auseinanderleben und mit unterschiedlichem Glück neue Verbindungen eingehen können.“ 44 Die Passung zwischen Sache und Fragestellung kann noch nicht gefunden oder schon wieder verloren gegangen sein. Dann entstehen interdisziplinäre Probleme, die nach Krüger Probleme sind, deren Disziplin wir noch nicht gefunden haben. Forschung ist danach von einem Wechselspiel von Disziplinarität und Interdisziplinarität geprägt. 45 Wenn das so ist, dann ist die Vorstellung falsch, dass disziplinäre Forschung durch Interdisziplinarität als der zukunftsweisenden Form von Forschung abgelöst werden sollte. Die dynamische Gliederung in Disziplinen sollte sich an den Zielen der Wissenschaften orientieren. Krüger nennt als Ziele 1. die instrumentelle Effizienz, 2. die Orientierung in der Welt (Einsicht in sachgegebene Zusammenhänge, aber auch in Handlungsmöglichkeiten) und 3. die Selbsterkenntnis und die Selbstbestimmung des Menschen. 46 Alle drei Ziele erfordern in typischer Weise interdisziplinäre Anstrengungen. Aber auch jede einzelne Disziplin kann allen drei Zielen dienen. Es ist naheliegend, dass speziell das dritte Ziel nicht einer Disziplin alleine anvertraut werden kann, sondern tendenziell disziplinäre Grenzen überschreitet. 47 Lorenz Krüger hatte bei seiner Untersuchung vor allem forschungsorientierte Disziplinen im Auge. Eine weitere Quelle von Disziplinbildung ist die Ausbildung. Die Gesellschaft hat Bedarf an Expertinnen mit einer speziellen Mischung von Fähigkeiten 43 44 45 46 47

Ebd., 117. Ebd. Ebd., 119. Ebd., 120. Ebd., 122.

43 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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und Wissensausschnitten. Auf diesen Bedarf reagieren die Universitäten. Es bilden sich Disziplinen, aus denen Ärztinnen und Richterinnen hervorgehen, oder auch neue Fachstrukturen wie Haushalts- und Ernährungswissenschaften. 48 In jedem Fall gibt es Institutionen, die Fächer und Disziplinen stabilisieren: Lehrbücher, Fachgesellschaften, spezielle Journale. Diese sozialen Fakten bilden sich jedoch nicht willkürlich, sondern orientieren sich an methodischen und inhaltlichen Überlegungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Disziplinen Bündel von Weltsichten, Wissensbestandteilen und praktischen Fähigkeiten sind, die sich im Laufe der Geschichte aus unterschiedlichen, z. T. kontingenten Gründen zusammengefunden haben. Wenn zur Bearbeitung einer wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Problemstellung mehrere solcher Bündel notwendig sind, wenn es also eine spezielle Aufgabe erfordert, ist Interdisziplinärität gefragt.

5. Problemdimensionen und Steuerungsprobleme Disziplinäre Strukturen sind eine Reaktion auf die Zunahme der Menge des Wissens, die eine Arbeitsteilung erfordert. Wenn der disziplinäre Zuschnitt nicht mit dem jeweiligen Problemfeld übereinstimmt, wird interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig. Eine solche Kooperation hat aber spezielle Schwierigkeiten zu überwinden. Es ist gut, diese Schwierigkeiten durch besondere institutionelle Förderungen zu kompensieren, aber diese Förderung kann auch zu neuen Problemen der Fehlsteuerung von Wissenschaft führen. Welche Schwierigkeiten behindern das interdisziplinäre Geschäft? Interdisziplinäre Arbeit benötigt Zeit, z. B. um sich in die Literatur eines Feldes einzulesen, mit dem man aus dem Studium 48

Es gibt aber auch Studiengänge, die nicht (oder noch nicht) disziplinbildend waren oder zu Subdisziplinen geführt haben (z. B. Wirtschaftspsychologie).

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nicht vertraut ist. 49 Quantitative Methoden der Leistungsmessung belohnen solche Aktivitäten eher nicht. „A scholar has been defined as someone who knows more and more about less and less … becoming an expert in some narrow niche is often a good way to publish and secure tenure.“ 50 Im Hinblick auf Karrierechancen und Reputation ist interdisziplinäre Arbeit oft nicht lohnend. 51 Interdisziplinarität erfordert in der Regel nicht, in zwei Disziplinen in gleicher Weise zu Hause zu sein, vieles kann im Dialog mit Vertreterinnen anderer Disziplinen geklärt werden. Aber auch dieser Dialog muss organisiert sein, man muss sich Zeit dafür nehmen, und auch den Mut haben, zu zeigen, dass man über Sachverhalte, die für eine Problemlösung wichtig sind, zu wenig weiß und unter Umständen sogar der Denkweise einer Disziplin nicht immer folgen kann. Es gibt auch Fälle, in denen es einer besonderen Offenheit und Toleranz bedarf, die intellektuelle Qualität und die akademische Legitimität einer anderen Disziplin anzuerkennen. 52 Solche Anerkennungsprobleme, machen sich zuweilen auch bei der Begutachtung interdisziplinärer Projekte bemerkbar, wenn Gutachterinnen die Sichtweise ihrer eigenen Disziplin nicht in Frage stellen lassen wollen. Z. B. wird bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder bei Stiftungen schon die Zuordnung eines Antrags zu einer Fachkommission zu einer wichtigen und unter Umständen folgenreichen Entscheidung. All das kann Wissenschaftlerinnen davon abhalten, sich wichtigen interdisziplinären Fragestellungen zuzuwenden. Zu beachten ist außerdem, dass interdisziplinäre Kommunikation ihre besonderen Eigenarten hat. Wichtig sind z. B. Personen, die eine Ausbildung 49

Thagard, Cognitive, 234. Ebd., 238. 51 Vgl. F.-X. Kaufmann, Interdisziplinäre Wissenschaftspraxis. Erfahrungen und Kriterien, in: Interdisziplinarität. Praxis-Herausforderung-Ideologie, hg. von J. Kocka, Frankfurt/M. 1987 / 22015, 63–81, hier 78. 52 Physikerinnen, die in die Philosophie wechseln, hören von ihren Professorinnen dann zuweilen den Satz: „Warum machen Sie das, so schlecht sind sie in der Physik doch gar nicht?“. 50

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in mehreren Disziplinen haben, und so als „Übersetzer“ dienen können. 53 Angesichts solcher Hindernisse sind besondere Förderungen der Interdisziplinarität gerechtfertigt. Allerdings droht stets die Gefahr, dass eine Kooperation nur scheinbar interdisziplinär ist, die Prämien der Interdisziplinarität eingesammelt werden, aber die Lösung des interdisziplinären Problems dennoch nicht erreicht wird, weil Wissensbestände nur nebeneinander gestellt, aber nicht integriert worden sind. Interdisziplinarität wird überwiegend in gemeinsamer Forschung von mehreren Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen realisiert. Gerhard Vollmer gibt aber auch Beispiele für „Interdisziplinarität in einer Person“, in denen Wissenschaftlerinnen in ihrer Forschung Wissen aus verschiedenen Disziplinen verarbeiten, dann aber alleine und auf eigene Rechnung ein Theorie entwickeln und z. B. in einem Buch publizieren. 54 Auch dabei wird es neben „fachfremder“ Lektüre häufig zu Gesprächen und anderen Kontakten gekommen sein. Die Arbeit in großen, eigens dafür gegründeten Instituten oder in speziellen, für bestimmte Projekte und auf Zeit gegründeten Gruppen hat zusätzlich eine eigene Dynamik, über die verschiedentlich berichtet worden ist. 55 Bei größeren Gruppen ist für den Erfolg der Arbeit ein besonderer Organisationsaufwand wichtig. Entscheidend ist eine klare Formulierung des Problems, das bearbeitet werden soll, die Schaffung einer gemeinsamen Basis (Sprache und Methodenverständnis) und eine zumindest vorläufige Einigung über mögliche Problemlösungen. Dabei müssen die Mitglieder der Gruppe in der Regel ihre disziplinäre Identität nicht aufgeben. 56 53

Vgl. Kaufmann, Interdisziplinäre, bes. 66–74. Vollmer, Interdisziplinarität, bes. 53–59. 55 Vgl. Kaufmann, Interdisziplinäre. 56 R. Defila / A. Di Giulio, Managing consensus in interdisciplinary teams, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, S. 482–485. Für große Verbände gibt es eigene Untersuchungen, aus de54

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Generell kann man sagen, dass Gruppengröße und Aufgabenstellung zusammenpassen müssen und insbesondere ‚größer‘ nicht immer ‚besser‘ heißt. Manche Probleme muss man ganz allein lösen, bei anderen muss man im Haufen forschen. Der Nachweis des Higgs-Teilchens erfordert die Kooperation von tausenden von Elektrotechnikerinnen, Physikerinnen, Statistikerinnen. Für die theoretische Beschreibung des Erzeugungsprozesses oder die wissenschaftsphilosophische Bewertung des Higgs-Mechanismus’ kann eine Forscherin in einer entsprechenden Umgebung ausreichen. Freifahrscheine für Interdisziplinarität führen zu fehlerhafter Wissenschaftssteuerung und letztlich zur Fehlallokation von Mitteln der Forschungsförderung. In der Forschungsförderung kann die Anwendung nicht inhaltssensitiver Auswahlkriterien im Einzelfall dazu führen, dass sachlich wichtige Forschungsthemen nicht verfolgt werden, weil sie gerade nicht interdisziplinär oder für eine große Forschergruppe nicht geeignet sind. Hier könnten nachvollziehbare individuelle Ziele von Wissenschaftlerinnen oder auch von Fachbereichen und Universitäten in Konflikt mit den Zielen der Wissenschaft kommen, die wir im letzten Abschnitt kennen gelernt haben. Eine einseitige Belohnung von interdisziplinären Großprojekten kann zu einer sachfremden Einflussnahme auf die Themensetzung in den Wissenschaften und damit zu einer Fehlsteuerung führen.

6. Arten der Interdisziplinarität Die bisherigen Überlegungen legen folgendes Bild nahe: In den Wissenschaften gibt es eine Vielzahl von Wissensbeständen, Theorien, Methoden, Sichtweisen auf die Welt, Kommunikanen Ratschläge und Evaluationsinstrumente hervorgegangen sind, vgl. D. Stokols et al.; Cross-disciplinary team science initiatives: research, training, and translation, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010,471–493, wo insbesondere Projekte mit großer praktischer Bedeutung für das Gesundheitssystem untersucht werden.

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tionsregeln und Wertmaßstäben, die jeweils in der Auseinandersetzung mit konkreten Problemfeldern gebildet und in wechselnden Konfigurationen gebündelt und zusammengefügt werden. Dieser Abschnitt enthält eine Klassifikation verschiedener Arten von Interdisziplinarität, die sich an der Stärke der Verknüpfung zwischen den Komponenten orientiert.

6.1 Disziplinäre Moleküle: Universitäre Studienfächer Wichtige Randbedingungen werden durch die disziplinäre Struktur der Universitäten gesetzt. Welche Kenntnisse und Kompetenzen werden für einen bestimmten Abschluss verlangt? Zu einem Studium der Theoretischen Physik gehört der Erwerb ordentlicher Mathematikkenntnisse, ohne dass dadurch das Fach schon als interdisziplinär gelten würde. Ähnliches gilt für Statistikkenntnisse in einem Wirtschafts- oder in einem Psychologiestudium. Dass man ein Curriculum der Wirtschaftspsychologie, das zu gleichen Teilen betriebswirtschaftliche und psychologische Kenntnisse vermittelt, eher interdisziplinär nennen möchte als ein Medizinstudium, könnte verschiedene Gründe haben. Die Fächervielfalt der vorklinischen Semester hat eine lange Tradition, das Fach Wirtschaftspsychologie ist relativ neu. Ein Grund könnte auch sein, dass in einer intuitiven Vorstellung von der Entfernung verschiedener Fächer Psychologie und Betriebswirtschaft weiter voneinander entfernt sind als Physik, Chemie und Biologie. Die Kriterien einer solchen Abstandsbestimmung zwischen verschiedenen Fächern wären eigens zu untersuchen. Verbreitet ist die Vorstellung, dass Studierende der Geistes- und Naturwissenschaften irgendwie unterschiedlich denken und dass es besonders schwierig ist, beide Zugangsweisen zur Welt in einer Person zu vereinen. Studienfächer sind aber meist keine methodischen Monokulturen (zu den Ausnahmen gehören evtl. Teile der Mathematik). Die Art und Weise, wie sie Kenntnisse und Fähig48 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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keiten bündeln, ist häufig durch die Anforderungen typischer Anwendungen und Berufsbilder bestimmt. Es ist eine eigene Frage, welche Ausbildung gut auf interdisziplinäre Arbeit vorbereitet. Nehmen wir das Beispiel der Europastudien, die in Deutschland in vielen Universitäten angeboten werden. Ist das Studium eines bunten Straußes von Teilgebieten (Sprachen, Geschichte, Politikwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie), das notwendig oberflächlich bleiben muss, eine bessere Voraussetzung als das vertiefte Studium von z. B. zwei Fächern, von denen aus dann die Brücke in andere Fächer geschlagen wird? 57

6.2 Formen der Integration Es gibt in der Literatur eine Reihe von Schemata, die Formen der Interdisziplinarität in unterschiedlicher Weise anordnen. 58 Mein Vorschlag orientiert sich an der Art und der Stärke der Integration der beteiligten Wissensgebiete. Die verschiedenen Formen der Interdisziplinarität unterscheiden sich in ihrer Funktion und in den nötigen Ressourcen, und sie erfordern auch unterschiedliche Beurteilungskriterien. 6.2.1 Addition ohne Wechselwirkung Hierher gehören Unternehmungen (typischerweise Ringvorlesungen), bei denen kein ernsthafter inhaltlicher Austausch zwischen den Beteiligten stattfindet. Eine typische Form ist die Ringvorlesung zu einem vieldeutigen Wort, in denen die Gemeinsamkeit 57

Verschiedene Beiträge zur Institutionalisierung von Interdisziplinarität in der universitären Ausbildung findet man in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, Part 4. 58 Vgl. Jungert, Grundsatzfragen, bes. 5–6, der sich auf eine Einteilung von Heckhausen stützt, und die etwas anders aufgebaute Taxonomie von Julie Thompson Klein, A taxonomy of interdisciplinarity, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, 15–30.

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eher auf der metaphorischen Ebene zu finden ist. Im schlimmsten Fall haben die Vorträge nichts miteinander zu tun, weil die Expertinnen für Parkbänke, Fensterbänke und die Bankenkrise einander nichts zu sagen haben. 59 Weniger karikierende Beispiele hat Winfried Löffler dargestellt und dafür den treffenden Namen „nice-to-know“-Interdisziplinarität geprägt. Ein Beispiel: eine Ringvorlesung „Das Fremde“, an der sich Juristinnen (Einwanderungsrecht), Literaturwissenschaftlerinnen (Literatur im Exil), Sprachwissenschaftlerinnen (Fremdwörter und Sprachmigration), Biologinnen (Einwanderung neuer Pflanzen und Tiere) oder Theaterleute (Verfremdungstechniken) beteiligen. 60 Winfried Löffler handelt solche Unternehmungen zu Recht in der Abteilung „Formen schlechter Interdisziplinarität“ ab, wenn es keinen konkreten gemeinsamen Gegenstand („Materialobjekt“) gibt und die Fragerichtungen und Zugangsweisen („Formalobjekt“) nicht verknüpfbar sind. Er erwähnt zu Recht, dass solche Veranstaltungen als soziale Ereignisse in der Universität dennoch durchaus sinnvoll sein können, z. B. weil sie im Sinne eines Studiums Generale zeigen, wie in anderen Fächern gearbeitet wird, und Verständnis für die Vielfalt der Fächer und ihre jeweiligen Qualitätskriterien wecken oder auch Anregung zu späteren ernsthaften Kooperationen geben. 6.2.2 Integration durch Zulieferung In dieser Form der Interdisziplinarität werden Theorien oder Methoden aus einer Disziplin für spezielle Probleme innerhalb einer anderen Disziplin gebraucht. Ein typisches Beispiel sind physikalische Methoden, die zur Altersbestimmung in der Archäologie eingesetzt werden (C14-Methode, Röntgen-Aufnahme des Turiner Grabtuchs). Der Import dieses Wissens kann durch Lektüre, durch gekaufte Apparate oder durch die Mitarbeit von Vertrete59 60

Echte Beispiele aus dem Universitätsalltag kann ich auf Wunsch mitteilen. Löffler, Schlechte, 164–166.

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rinnen der anderen Disziplin erfolgen. Die grundlegenden Fragestellungen und Herangehensweisen der beteiligten Disziplinen werden dadurch nicht geändert. Wenn die Fragestellung einer der Wissenschaften überwiegt, wird die andere oft „Hilfswissenschaft“ genannt, und manchmal spricht man dann von Hilfsinterdisziplinarität. 61 Ich würde in dieser Kategorie auch Fälle wie Medizinrecht oder Philosophie der Physik unterbringen, in denen juristische bzw. philosophische Fragestellungen auf einen Gegenstandsbereich angewandt werden, dessen Differenziertheit besondere Kenntnisse erfordert. Diese Art des Zusammenfügens von Wissen ist weit verbreitet. In fast allen Disziplinen werden auch Resultate anderer Disziplinen gebraucht und vermittelt. 62 Wenn das Problem (Friedensforschung, Städteplanung) gleichberechtigte Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen mit ihrem Wissen und Perspektiven erfordert, kann von einer besonderen Form von „zusammengesetzter Interdisziplinarität“ gesprochen werden. 63 Dabei ist man aber schon nahe an der nächsten Kategorie, der problemorientierten Gruppenforschung. Eine besondere Gruppenleistung ist die Erstellung eines gemeinsamen Textes, eines Berichts in einer einheitlichen Argumentation statt einer Addition von Beiträgen in einem Sammelband. 64 Wissensintegration durch Zulieferung muss aber nicht an Gruppen gebunden sein, sie kann auch durch einzelne Forscher initiiert werden. Der Philosoph Ian Hacking beschreibt diese Art der Interdisziplinarität, die keine großen Institute und Forschergruppen erfordert, am Beispiel seiner Studien zum statistischen Schließen: „… [Ich habe] zwei Jahre damit zugebracht, mir die Grundzüge der Statistik anzueignen, indem ich die wichtigsten Bücher und Aufsätze las.“ 65 Und weiter: „Fast ein Jahr lang kor61 62 63 64 65

Jungert, Grundsatzfragen, 5. Sukopp, Interdisziplinarität, 18. Jungert, Grundsatzfragen, 5. Sukopp, Interdisziplinarität, 26. I. Hacking, Verteidigung der Disziplin, in: Interdisziplinarität. Theorie, Pra-

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respondierte ich, gewöhnlich via E-Mail, mit einer breiten Palette von Experten, von denen die meisten außerordentlich entgegenkommend waren.“ 66 Hacking nennt das Interdisziplinarität in einem trivialen Sinn, „nämlich im Sinne der Anwendung verschiedener Disziplinen innerhalb der eigenen Disziplin.“ 67 Die Qualität solcher Aktivitäten hängt davon ab, dass die Grenzen des eigenen Wissens realistisch eingeschätzt werden. Die gute Absicht, Aspekte anzusprechen, die über die eigene Disziplin hinausgehen, kann zu der schlechten Folge führen, dass über Dinge gesprochen wird, in denen man sich nicht auskennt. Interdisziplinarität kann unter Selbstüberschätzung beteiligter Personen leiden. 68 6.2.3 Problemorientierte Gruppenforschung Hierher gehören die Beispiele von Großforschungseinrichtungen, die wir am Anfang kennengelernt haben. In diesen Fällen werden die verschiedenen Aspekte eines gemeinsamen Themenfeldes (z. B. Klimaforschung) auf viele Forscherinnen aufgeteilt, die z. T. in ihrer Disziplin arbeiten, z. T. aber auch in engem Austausch mit anderen Gruppen stehen. Oft denkt man an solche großen Unternehmungen, wenn man von interdisziplinärer Forschung redet. Sie sind in der modernen Welt wichtig. Die Menge der Aktivitäten an solchen Instituten enthält Elemente aus vielen Disziplinen, wenn auch oft eine große Zahl der beteiligten Forscherinnen dabei sehr disziplinär arbeiten. 6.2.4 „Querschnittsmethoden“ Verschiedentlich wurde eine besondere Form von interdisziplinärer Einheitsbildung in der Verwendung gemeinsamer Methoden xis, Probleme, hg. von M. Jungert / E. Romfeld / T. Sukopp / U. Voigt, Darmstadt 22013, 193–205, hier 205. 66 Hacking, Verteidigung, 201. 67 Ebd., 199. 68 Vollmer, Interdisziplinarität, 68 f.

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gesehen, in diesem Kontext meistens gemeinsame formale Methoden. Hierzu würde ich den Anspruch verschiedener Systemtheorien rechnen, dass das Denken in Systemen die Vielfalt der Wissenschaften vereinigen kann. 69 Wenn auch solch weitgehende Programme ihre Ziele nicht erreicht haben, so ist doch richtig, dass strukturelle Überlegungen und damit verbundene mathematische Methoden in verschiedenen Bereichen der Wissenschaften auf ganz unterschiedliche Gegenstände angewandt werden können (z. B. die Spieltheorie). 70 Dazu gehören sicher auch die Modellierung und Simulation von Prozessen mit Hilfe von Computern. Im Einzelfall können Erfahrungen mit Simulationen in einem Bereich auf andere Anwendungsgebiete übertragen werden. Das wäre dann ein Beispiel für interdisziplinären Austausch. Richtig ist der Hinweis von Johannes Lenhard, dass die gemeinsame Arbeit z. B. von Ozeanographinnen und Expertinnen für Wolkenbildung an einem gemeinsamen Klimamodell als eine neue Form der interdisziplinären Kooperation angesehen werden kann. 71 Im allgemeinen Fall wird aber die Verwendung gemeinsamer Methoden z. B. aus der Statistik noch nicht als Interdisziplinarität im Sinne einer gemeinsamen fachübergreifenden Forschung gelten können. 72

69

S. Strijbos, Systems thinking, S. 453–470, der u. a. auf das einflussreiche Programm von Ludwig von Bertalanffy hinweist. Weitere Beispiele für Interdisziplinarität im Sinne der Anwendung gleicher struktureller Theorien, und damit verbundene Ansprüche: J. C. Schmidt, Towards a philosophy of interdisciplinarity, in: Poiesis & Praxis 5 (2008), 53–69, insbes. 63–64. 70 Hierher gehören die Forschungen, für die die Deutschen Physikalische Gesellschaft einen Fachverband „Physik sozio-ökonomischer Systeme“ eingerichtet hat. Vgl. auch M. Kuhlmann, Theorien komplexer Systeme. Nicht-fundamental und doch unverzichtbar? in: Wissenschaftstheorie, hg. von A. Bartels / M. Stöckler, Paderborn 2007, 307–328. 71 J. Lenhard, Computation and simulation, in: The Oxford Handbook of Interdisciplinarity, hg. von R. Frodeman, Oxford 2010, 246–258, bes. 256. 72 Jungert, Grundsatzfragen, 5, spricht hier im Anschluss an Heckhausen von Pseudo-Interdisziplinarität.

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6.2.5 Grenzgebiete: Ergänzende Interdisziplinarität Mit dem Begriff „Ergänzende Interdisziplinarität“ wurden Auseinandersetzungen an den Grenzen verschiedener Gebiete mit unterschiedlichen Herangehensweisen bezeichnet, z. B. wenn traditionelle Fragen nach den Strukturen natürlicher Sprachen mit Fragen nach den physiologischen Mechanismen verbunden werden (Psycholinguistik) 73, insbesondere wenn diese Grenzauseinandersetzungen für beide Disziplinen bereichernd sind. Solche Grenzauseinandersetzungen können unter Umständen Disziplinen auch verändern, z. B. weil der universelle Geltungsanspruch eines der Partner zurückgenommen werden muss. Ein Beispiel dafür sind die Diskussionen um genetisch und sozial bedingte Einflüsse auf das menschliche Verhalten. Grenzstreitigkeiten können zu dem Versuch von „unfreundlichen Übernahmen“ 74 führen, wenn etwa beansprucht wird, dass die Neurobiologie gezeigt hätte, dass es keine Willensfreiheit gäbe (ein Beispiel für schlechte Interdisziplinarität aufgrund fehlender Kenntnisse in der unvertrauten Disziplin). Andere Beispiele sind der Anspruch von Soziobiologinnen, die die Ethik biologisieren wollen, oder auch frühere Ideen der Reduktion der gesamten Biologie auf Molekularbiologie. Das ist wohl ein Bereich, in dem die Wissenschaftsphilosophie klärend eingreifen kann, etwa indem sie herausarbeitet, dass man eine einheitliche physikalistische Ontologie durchaus mit einer Vielheit an methodischen Zugängen zur Natur verbinden kann. 6.2.6 Vereinheitlichung Weitere Formen der Interdisziplinarität, die in wissenschaftssoziologisch orientierten Abhandlungen meist nicht erwähnt werden, betreffen Versuche einer umfassenden Vereinheitlichung von Wissen. Die Wissenschaftsphilosophie hat davon insbesondere 73 74

Ebd., 6. Löffler, Schlechte, 169.

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die Einheit der Wissenschaft durch Theorienreduktion untersucht. 75 Dabei gab es subtile Diskussionen über verschiedene Formen logischer Zusammenhänge zwischen Theorien. Gegenwärtig wird auch in der analytisch ausgerichteten Wissenschaftsphilosophie eine methodisch notwendige Pluralität von Methoden und damit eine Autonomie von Wissenschaften wie Biologie und Psychologie akzeptiert. Eine andere Form von Vereinheitlichung des Wissens sind Versuche, naturwissenschaftliches Wissen, Vorstellungen über den Menschen und die Gesellschaft zu einem Weltbild zusammenzuführen. Ein Programm wie der gegenwärtig verbreitete Naturalismus muss Wissen aus verschiedenen Bereichen aufnehmen: Wie weit reicht die Erklärungskraft der evolutionären Psychologie? Wie kann die Mathematik in das Weltbild integriert werden? Wie kann Normativität auf der Grundlage der Natur verstanden werden? Einzelne Teilprobleme sind durchaus Gegenstand der disziplinärer Forschung (etwa der Philosophie der Mathematik oder der Metaethik). Das Zusammenfügen zu einem Weltbild wird dann aber meist in interdisziplinären Gesprächskreisen und typischerweise außerhalb der Universitäten diskutiert, zu denen sich z. B. Theologinnen, Philosophinnen und Naturwissenschaftlerinnen treffen. Dabei werden verschiedene Denkweisen der Disziplinen deutlich, aber meist keine Weltbilder formuliert oder weiterentwickelt. Das bleibt oft mutigen Naturwissenschaftlerinnen überlassen und – auf methodisch sicherer Seite – der Philosophie oder der Theologie. Die Ziele solcher Formen der Interdisziplinarität sind ein Verstehen der Welt, das auf einer möglichst widerspruchsfreien Menge von Wissen beruht. Es ist uns Menschen wichtig, die Menge unserer Überzeugungen von offensichtlichen Widersprüchen möglichst frei zu halten. 75

Ein Beispiel sind die Diskussionen um das Programm von Paul Oppenheim und Hilary Putnam, vgl. M. Stöckler, 42 Jahre danach. Ein neuer Blick auf Oppenheim, Putnam und die Einheit der Wissenschaften, in: Argument und Analyse, hg. v. C. U. Moulines / K.-G. Niebergall, Paderborn 2002, 55–66.

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7. Abschließende Bemerkungen Was ist der Ertrag all dieser von der Wissenschaftstheorie ausgehenden Überlegungen? Ist durch die unterschiedlichen Beispiele, Fallunterscheidungen und begrifflichen Analysen nicht einfach alles noch komplizierter und unübersichtlicher geworden? Eine Lehre ist sicher, dass viele Aspekte der Interdisziplinarität stark kontextabhängig sind, so dass aus Sicht der Wissenschaftsphilosophie darüber wenig Allgemeines gesagt werden kann. Insbesondere hängen die Kriterien für gute und schlechte Interdisziplinarität von den verschiedenen Arten der Kooperation der Disziplinen ab. Aber man kann durchaus auch einige theoretische und praktische Einsichten festhalten, die eher eine kritische Funktion haben, indem sie gängige Vorurteile destruieren, und zugleich anregen, über Ziele und Methoden der Wissenschaften neu nachzudenken.

7.1 Theoretische Probleme Interdisziplinarität und interdisziplinäre Arbeit bedingen einander. Dabei wird der Begriff Disziplin in unterschiedlich weiter Bedeutung gebraucht. Auch Disziplinen im engeren Sinn sind Bündel von Weltsichten, Wissensbestandteilen und praktischen Fähigkeiten, die in einem historischen Prozess aus pragmatischen Gründen zusammengefügt worden sind. Disziplinen haben vor allem auch einen sozialen Charakter, der sich aber den ihnen zugeordneten Gegenständen, Fragestellungen und Lösungsmethoden anpasst. Das Bild, dass die traditionelle Wissenschaft disziplinär sei, die Probleme der Gegenwart aber eine neue, interdisziplinäre Wissenschaft benötigt, ist in systematischer und historischen Hinsicht falsch. Die Disziplinen sind selbst in sich vielfältig, und die fachlichen Kompetenzen, die man in interdisziplinären Kooperationen braucht, werden meist in den einzelnen Disziplinen entwickelt.

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7.2 Steuerungsprobleme Wissenschaft ist nicht schon deshalb gut, weil sie interdisziplinär ist. Sie ist auch nicht allein deshalb gut, weil sie in einem großen Haufen geschieht. „Offensichtlich kommt ‚Interdisziplinarität‘ weder ein Prädikat ‚besonders wertvoll‘ noch umgekehrt Disziplinarität ein Prädikat ‚veraltet und langweilig‘ zu.“ 76 Ob der Zugang disziplinär oder interdisziplinär sein soll, ob besser mehrere oder nur eine Wissenschaftlerin an einem Thema arbeiten, sollte allein davon abhängen, wie das Ziel der Forschung am besten erreicht werden kann. In gleicher Weise können rein quantitative Kriterien zur Beurteilung der Qualität der Forschung zu finanzieller Fehlallokation führen, wenn sie fachspezifische inhaltliche Kriterien außer Acht lassen. Es sollte nicht vorkommen, dass Themen nur deshalb bevorzugt werden, weil sie viele Mittel erfordern.

7.3 Psychologische Probleme Für viele Problemstellungen braucht man Teams, deren Mitglieder aus verschiedenen Disziplinen kommen. Soll diese Zusammenarbeit gelingen, müssen die Beteiligten Respekt vor den Fragestellungen der „Anderen“ und Zeit mitbringen, sich in andere Denkweisen einzufinden. Man braucht immer auch Wissenschaftlerinnen, die sich für viele Dinge interessieren, disziplinär „mehrsprachig“ sind und als Dolmetscherinnen Brücken bauen können. Die fachliche Wertschätzung setzt in der Regel einen persönlichen Kontakt und eine menschliche Wertschätzung voraus („Sie ist zwar Philosophin, aber doch ganz vernünftig“; wahlweise können andere Feindbilder eingesetzt werden: Kulturwissenschaftlerin, Soziologin …). Die Zusammenarbeit großer Gruppen muss gut organisiert werden, insbesondere muss die gemeinsame Aufgabenstellung 76

Sukopp, Interdisziplinarität, 26.

57 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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klar formuliert sein. Die Bereitschaft, sich auf Fragestellungen anderer Disziplinen einzulassen, ist auch bei der Begutachtung interdisziplinärer Forschungsanträge wichtig.

7.4 Die Rolle der Philosophie Die Philosophie ist traditionell mit allen Formen der Interdisziplinarität vertraut. Fast jede philosophische Frage erfordert Wissen über die Welt und die Menschen, d. h. über die Natur und die Gesellschaft und vieles mehr. Philosophinnen sind gewohnt, mit vielen Formen von Wissen umzugehen, auch wenn diese nicht einfach miteinander vereinbar sind. Wer die Philosophie kennt, wird mit ihrem Beitrag zur Analyse der Interdisziplinarität zufrieden sein, auch wenn dieser eher reflektierend und durch den Abbau falscher Vorstellungen bestimmt ist. So formuliert es auch Ian Hacking, wenn er nach seinem lesenswerten Bericht über eigene Erfahrungen zu vielfältigen Formen der Kooperation zwischen den Disziplinen aufruft: 77 „Ich habe nichts Systematisches zu sagen, außer, man hüte sich vor Systemen. Der Brückenschlag zwischen den Disziplinen kann auf verschiedene Weisen erzielt werden, einige davon sind systematisch. Nur zu.“ 78

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Hacking, Verteidigung, 205. Ich danke Svante Guinebert, Thorben Petersen und Anne Thaeder, die durch ihre Kommentare dafür gesorgt haben, dass aus einer früheren Version meines Beitrags ein lesbarer Text geworden ist.

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58 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Grünschnäbel, Biertrinker, Kinogänger: Interdisziplinarität als Quelle wissenschaftlicher Reflexivität 1 Markus Rieger-Ladich

Ludwik Fleck war ein sehr genauer Beobachter. Deutlich wurde dies zunächst in einer medizinischen Studie, die der polnische Arzt und Bakteriologe Mitte der 1930er Jahre vorgelegt hatte – und die bereits vieles von dem vorwegnahm, was etwa 40 Jahre später im Kontext der „Laboratory Studies“ diskutiert wurde (vgl. Knorr Cetina 1981; Latour 2002). Seine Arbeiten zur sog. „Wassermann-Reaktion“, die als Laborstudie avant la lettre gelten können, warfen einen völlig neuen Blick auf die Entstehung der Syphilis. Diese unkonventionellen Studien verdankten sich nicht allein einer intensiven Auseinandersetzung mit epistemologischen Fragen, sondern auch der intimen Kenntnis der alltäglichen Arbeit im Labor und waren als Beiträge zu einer Erkenntnistheorie in vergleichender Absicht angelegt (vgl. Fleck 1980; Hagner 2010). Die Syphilis erschien in der Folge nicht länger als gefährliche „Lustseuche“, als eine „ethisch-mystische Krankheitseinheit“, sondern nun auch als eine „empirisch-therapeutische 1

Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen, die an der Tagung in München teilgenommen haben, und ihren anregenden Diskussionsbeiträgen, insbesondere den Organisator/innen, darüber hinaus auch Thorsten Wilhelmy vom Wissenschaftskolleg Berlin und Stephan Schlak von der Zeitschrift für Ideengeschichte. Für die gründliche Bearbeitung des Manuskripts danke ich einmal mehr Linus Möls. Eine wissenschaftssoziologische und ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit der Idee der Interdisziplinarität habe ich in einem Beitrag für die Zeitschrift für Ideengeschichte vorgelegt (Rieger-Ladich 2016); hier, in dem vorliegenden Beitrag, interessiere ich mich für das Projekt der Interdisziplinarität als Medium der wissenschaftlichen Selbstreflexion. Insbesondere in Kap. 2 knüpfe ich an Überlegungen an, die ich an der genannten Stelle schon publiziert habe.

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Krankheitseinheit“ (Fleck 1980: 8), der es im Rückgriff auf unterschiedliche theoretische Mittel auf die Spur zu kommen galt. Der erkenntnistheoretisch versierte und philosophisch gebildete Arzt, der die Jahre von 1943–45 in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald verbrachte und von den Nationalsozialisten damit beauftragt worden war, einen Impfstoff gegen Fleckfieber zu entwickeln (vgl. Schäfer/Schnelle 1980; Werner/ Zittel 2011), bewies freilich nicht nur in der Arbeit am Mikroskop einen präzisen Blick; er erwies sich auch als unbestechlicher Beobachter der Routinen im Labor und der wissenschaftlichen Praxis. Unempfänglich für die Verlockung, die alltägliche Forschungspraxis zu überhöhen und sie zur Arbeit solitärer Meisterdenker zu stilisieren, wie dies Max Weber in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ unternahm (Weber 2011; dazu: Kaube 2014), beschrieb Fleck das Streben nach Erkenntnis als die „am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen“ und „die Erkenntnis“ selbst als „das soziale Gebilde katexochen“ (Fleck 1980: 58). Fleck stellte daher, parallel zu seinen medizinischen Forschungen, schon sehr früh systematische Beobachtungen der wissenschaftlichen Arbeit – ihrer Organisation, ihres Rhythmus, ihrer Logik – an. Der Band „Denkstile und Tatsachen“, der vor wenigen Jahren erschien und eine Vielzahl wichtiger erkenntnistheoretischer sowie wissenschaftssoziologischer Arbeiten aus seiner Feder präsentiert, stellt daher das Pendant zu dessen bahnbrechender Studie „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ dar, die der jüdische Arzt und Mikrobiologe im Jahr 1933 an den Philosophen und Physiker Moritz Schlick sandte (vgl. Fleck 2011: 9 ff.). Hier, in diesem umfangreichen Sammelband, findet sich eine ganze Reihe überaus scharfsinniger Beiträge Flecks, die den sozialen wie auch den kulturellen Charakter der wissenschaftlichen Praxis erhellen. Die wissenschaftliche Praxis ist demnach Logiken unterschiedlicher Art – sachlicher, sozialer, körperlicher, zeitlicher und ökonomischer – unterworfen; sie folgt keinen zweiwertigen Codes, und sie hat unscharfe Ränder. Wissenschaft gilt Fleck 60 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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denn auch als eine hochgradig kontaminierte Praxis (vgl. RiegerLadich 2016); unter seinem scharfen Blick büßt sie viel von dem Glanz ein, der die Wahrheitssuche traditionell umgab. Aber für Beobachtungen dieser Art ist das wissenschaftliche Personal seiner Zeit, so die Einschätzung Flecks, weitgehend unempfänglich. So virtuos die Angehörigen des wissenschaftlichen Feldes darin sind, Instrumente zu entwickeln, um den Objekten der eigenen Forschung auf die Spur zu kommen, so unbedarft erscheinen sie, wenn es gilt, die eigene wissenschaftliche Tätigkeit zu beobachten – und sie als eine kulturelle und soziale Praxis zu begreifen: „Es ist eine ungewöhnlich interessante Tatsache, wieweit Gelehrte, die ihr ganzes Leben der Aufgabe widmen, Täuschungen von der Wirklichkeit zu unterscheiden, nicht dazu imstande sind, die eigenen Träume über die Wissenschaft von der wirklichen Gestalt der Wissenschaft zu unterscheiden“ (Fleck 2011: 369). Aus diesem Grund – und dieser Befund scheint mir auch noch weitgehend für die Gegenwart zu gelten – muss wissenschaftliche Reflexivität als eine knappe Ressource gelten. Sie ist, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, durchaus keine Selbstverständlichkeit; sie ist eben kein Nebenprodukt, das im Forschungsprozess selbst regelmäßig, gleichsam mitlaufend, erzeugt wird (vgl. Bourdieu 1993; Lynch 2004; Langennohl 2009; Friebertshäuser/Rieger-Ladich/Wigger 2009). Weil dies so ist, zählt die Suche nach Quellen wissenschaftlicher Reflexivität auch weiterhin zu den elementaren und unverzichtbaren Aufgaben der Wissenschaft. Nachdem ich in der Vergangenheit hierzu bereits erste Überlegungen angestellt und den Versuch unternommen habe, eine kleine Typologie von Formen und Quellen wissenschaftlicher Reflexivität zu entwickeln (vgl. Rieger-Ladich 2009), möchte ich in diesem Beitrag der Frage nachgehen, ob interdisziplinäre Arbeitskontexte als eine solche Quelle wissenschaftlicher Reflexivität gelten können. Die gezielte Beförderung wissenschaftlicher Reflexivität wird, nach meinem Eindruck, bei ihrer Organisation und Finanzierung nur in den 61 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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seltensten Fällen als ausdrückliches Ziel benannt; aber es scheint doch manches dafür zu sprechen, dass Reflexivität hier tatsächlich als ein „Nebenprodukt“ gelten kann, das freigesetzt wird, sobald es zur Herausbildung stabiler, intensiv und projektförmig betriebener Arbeitskontexte zwischen Vertreter/innen unterschiedlicher Disziplinen kommt. Die wissenschaftliche Reflexion der wissenschaftlichen Praxis selbst steht dabei, wie bereits erwähnt, häufig nicht im Zentrum; sie wird wohl in der Regel noch nicht einmal ausdrücklich angestrebt, aber sie wird mitunter – das suche ich im Folgenden zu zeigen – von der spezifischen Arbeitsform gleichsam erzwungen. Interdisziplinären Einrichtungen ist ein Moment der Selbstaufklärung wissenschaftlicher Praxis inhärent. Dies wenigstens legen manche Dokumente nahe, die Einblicke in die Charakteristika interdisziplinärer Forschung gewähren (vgl. Bourdieu 2004; Wilhelmy 2016). Bevor ich mich dieser Fragestellung zuwende und die Plausibilität der damit formulierten These zu erweisen suche, sei vorab eingeräumt und nochmals ausdrücklich festgehalten, dass die Stimulanz wissenschaftlicher Reflexivität durchaus nicht der wichtigste Grund sein mag, wenn es um die Zuweisung von Ressourcen und die – häufig: sehr kostenintensive – Organisation interdisziplinärer Forschungsvorhaben geht. Zunächst ist Interdisziplinarität derzeit auch deshalb unerlässlich, weil sie als eine Reaktion auf das sprunghafte Anwachsen von Komplexität und die Konfrontation mit beträchtlichen neuen gesellschaftlichen Herausforderungen gelten muss. Und dies aus dem banalen Grund, dass nichts dafür spricht, dass gesellschaftliche Krisenphänomene, die von den Akteuren des wissenschaftlichen Feldes auch in der Hoffnung erforscht werden, auf diese Weise etwas zu deren Lösung beizutragen, auf das Tableau wissenschaftlicher Disziplinen Rücksicht nehmen. Ernstzunehmende Krisen entstehen völlig unabhängig von der Binnenstruktur des wissenschaftlichen Feldes. Es muss daher auch nicht länger verwundern, dass kaum eine der großen Herausforderungen, die derzeit innerhalb der medialen Öffent62 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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lichkeit besonders intensiv diskutiert werden, in die „Zuständigkeit“ einer einzelnen Disziplin fällt. Ob es um die zerstörerischen Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems geht, um die krasse Ungleichverteilung von Ressourcen, um die veritable ökologische Krise, die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte oder die gezielte Bekämpfung jener Ursachen, die derzeit Millionen von Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und nun auch in Europa Schutz zu suchen (vgl. Crouch 2008; Habermas 2011; Avanessian 2015) – kein einziges dieser Probleme kann mit berechtigter Aussicht auf Erfolg von den Vertreter/innen einer Disziplin bearbeitet werden. Interdisziplinäre Arbeitskontexte sind daher im strikten Wortsinne not-wendig, um auf diese Weise die unterschiedlichen Expertisen zu versammeln und die geforderte Komplexität sowie ausreichende Verarbeitungsressourcen zu erzeugen. Der Historiker Jürgen Kocka hat dies vor wenigen Jahren nüchtern festgehalten: Die „wichtigste Begründung für die Interdisziplinarität ergibt sich aus der leicht erfahrbaren Diskrepanz zwischen Struktur und Reichweite der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen einerseits, der Struktur und Reichweite der zu lösenden Probleme andererseits“ (Kocka 2008: 115). Interdisziplinarität kann daher, mit einer glücklichen Wendung des Wissenschaftssoziologen Peter Weingart (1987), als „List der Institution“ bezeichnet werden. Auch wenn der wiederholt erhobene Vorwurf, dass die fortschreitende Spezialisierung eher zur Vermehrung der Probleme beitrage, statt ihre Lösung zu befördern (vgl. hierzu: Weingart 1987: 159), damit noch nicht entkräftet ist, kann Interdisziplinarität doch – metaphorisch gesprochen – als eine Immunreaktion des Wissenschaftssystems interpretiert werden. Die Idee der Interdisziplinarität gewinnt daher Befürworter nicht zufällig genau in der kritischen Phase der Ausdifferenzierung der Wissenschaft, als die Gefahr wächst, dass sich kaum noch jemand dafür verantwortlich und kompetent fühlt, Phänomene zu untersuchen, die sich der disziplinären Ordnung nicht verpflichtet wissen, die auftreten, ohne dass sie der Zuständigkeit einer Disziplin überantwortet werden können. Interdisziplinarität 63 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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erweist sich, historisch betrachtet, in genau jenem Moment als überaus attraktives Programm, als die wissenschaftsinterne Ausdifferenzierung immer weniger erwarten lässt, auf drängende gesellschaftliche Problemlagen belastbare Antworten zu finden. Und so kommt es in den 1960er und 1970er Jahren zu einer problematischen Ungleichzeitigkeit: Der umfassende Ausbau des Hochschulsystems begünstigt die fortschreitende Spezialisierung und lässt immer kleinere Forschungseinheiten entstehen, während die Bearbeitung gesellschaftlicher Krisenphänomene den Blick auf immer größere Strukturzusammenhänge notwendig macht. Markus Arnold hat die Herausforderung knapp und treffend formuliert: „Wie lassen sich die Rationalitätsgewinne der Spezialisierung bewahren und dennoch die hohen sozialen Kosten der Auflösung einer gemeinsamen Perspektive auf die Probleme der Gesellschaft vermeiden?“ (Arnold 2009: 67). Kein geringer Teil der Anerkennung des interdisziplinären Projekts geht nun, so ist zu vermuten, auf das Wissen um das eigentümliche Auseinanderklaffen von Problemdruck und Problemlösungskompetenz zurück. Aus diesem Sachverhalt speist sich zu weiten Teilen seine Legitimität. Die These, die ich im Folgenden entwickeln will, lautet daher, dass dies eben nur eine Quelle der Legitimität interdisziplinärer Arbeit ist. Diese besondere Form wissenschaftlicher Arbeit leistet nicht allein wichtige Beiträge zur Bearbeitung gesellschaftlicher Krisenphänomene und zur Bewältigung globaler Herausforderungen; Interdisziplinarität trägt darüber hinaus auch ganz maßgeblich dazu bei, dass die wissenschaftliche Praxis selbst in einem anderen Modus betrieben wird. Interdisziplinäre Arbeitskontexte konfrontieren jene, die sich an ihnen beteiligen, mit ganz spezifischen Schwierigkeiten und Zumutungen, die sich freilich – in the long run – als überaus wertvoll und erkenntnisstiftend erweisen. Dies deshalb, weil die Eigentümlichkeiten der interdisziplinären Arbeiten die beteiligten Akteure dazu nötigen, von Beobachtungen erster Ordnung auf solche zweiter Ordnung umzustellen (vgl. Luhmann 1990); sie konfrontieren die Akteure der wissenschaftlichen 64 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Wahrheitsspiele mit dem akademischen Unbewussten sowie den blinden Flecken der eigenen Forschungspraxis (vgl. Bourdieu 2004) und tragen auch auf diese Weise zum Erkenntnisfortschritt bei. Die Zumutungen, welche interdisziplinäre Arbeitskontexte für ihre Akteure bereithalten, werden deutlich in einem Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck, den Annette Vowinckel (2014) im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufgespürt hat. Beide – der zuletzt in Münster lehrende Philosoph wie der lange Jahre in Bielefeld tätige Historiker – können als frühe Protagonisten der Idee der Interdisziplinarität gelten. Sie waren mit ihrer klassisch zu nennenden Bildung dafür prädestiniert und bewegten sich virtuos in ganz unterschiedlichen Wissensgebieten: Sie besaßen intime Kenntnisse nicht nur von der Disziplin des Kollegen, sondern auch von der evangelischen Theologie, der Altphilologie, der Kunst und Literatur (und von jenen Zonen, die zwischen den genannten Disziplinen angesiedelt sind). Blumenberg und Koselleck brachten daher beste Voraussetzungen für das Projekt der Interdisziplinarität mit und zählten in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre fraglos zu ihren wichtigsten und einflussreichsten Unterstützern. Um die Konjunktur der Interdisziplinarität in jener Zeit zu illustrieren und das Engagement der beiden Briefeschreiber zu dokumentieren, erinnere ich in Stichworten hier nur an einige besonders prominente Unternehmen. Als 1963 in Gießen das Projekt „Poetik und Hermeneutik“ gegründet wurde, zählte der kurz zuvor berufene Philosoph Hans Blumenberg zu den vier Gründungsmitgliedern. Gemeinsam mit dem Anglisten Wolfgang Iser, dem Germanisten Clemens Heselhaus sowie dem Romanisten Hans Robert Jauß vereinbarten sie regelmäßige Kolloquien, die von Beginn an institutionell gefördert wurden. Zwischen 1963 bis 1994 fanden 17 Kolloquien statt, deren Ergebnisse in umfangreichen Bänden vorliegen. Dieser Arbeitskontext, der ganz erheblich dazu beigetragen hat, die Geisteswissenschaften zu moderni65 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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sieren und das Gespräch zwischen Philosophie und Nationalphilologen zu befördern (vgl. Kaube 2003), zählte unter jenen Forschungsgruppen, die sich der Interdisziplinarität verschrieben haben, fraglos zu den ambitioniertesten und ausstrahlungsstärksten. Blumenberg war hier, insbesondere in der Gründungsphase, einer der Protagonisten, dem die Gruppe zahlreiche Anregungen verdankte. Er war überdies Mitglied in der „Akademie der Wissenschaft und der Literatur zu Mainz“, engagierte sich Mitte der 1960er Jahre im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und folgte 1965 der Einladung in das Gründungsgremium der ostwestfälischen Reformuniversität. Reinhart Koselleck, der im Jahr 1973 an die Universität Bielefeld wechselte, war kaum weniger engagiert und involviert. Er stand der forcierten Spezialisierung auf immer kleinere Gegenstandsbereiche von Beginn an überaus skeptisch gegenüber und erklärte, dass er „lieber als Laie in der gesamten Geschichte tätig [sei], denn als Spezialist in einem Bereich“ (Langewiesche 2015: 3). Koselleck wandte sich daher schon früh ganz gezielt den Nachbardisziplinen zu und entwickelte auf diese Weise jene charakteristische Form der Begriffsgeschichte, die ihn international bekannt gemacht hat. So ist es auch nur folgerichtig, dass Koselleck, den der Historiker Peter Becker (2009: 92) einen „Grenzgänger zwischen den Fächern“ genannt hat, schon früh am „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ teilnahm wie auch an den Treffen von „Poetik und Hermeneutik“, wo er insbesondere das Gespräch mit Philosophen und Literaturwissenschaftlern schätzte. Und schon bald nach seinem Wechsel an die neugegründete, ostwestfälische Reformuniversität mit der Leitung des 1968 ins Leben gerufenen Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) betraut wurde. Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung, dessen Gründung maßgeblich von Helmut Schelksy vorangetrieben wurde, sollte auf die bereits erwähnte Tatsache der fortschreitenden Spezialisierung – nicht allein von einzelnen Forscher/innen, sondern auch von ganzen wissenschaftlichen Disziplinen, die immer neue 66 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Subdisziplinen ausbildeten – reagieren, die mit dem Ausbau des Hochschulsystems einherging. Schmucklos und nüchtern beschrieb Schelsky die Aufgabenstellung des ZiF in seiner Denkschrift aus dem Jahr 1967: „Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung wird gegründet, um älteren und jüngeren Gelehrten gemeinsam die Gelegenheit zu geben, fachübergreifende und umfassende Problemstellungen ganzer Wissenschaftsbereiche in intensiver Kommunikation zu durchdenken und zu erforschen.“ (Schelsky 1967: 75) Blumenberg und Koselleck müssen also – das sollten die knappen Stichworte zu deren wissenschaftlichem und wissenschaftspolitischem Engagement zeigen – als überaus renommierte und vielfältig involvierte Protagonisten der interdisziplinären Arbeit gelten. Und doch wird in der Korrespondenz, welche die beiden über einen langen Zeitraum hinweg führen, deutlich, dass dieses Engagement von ihnen selbst durchaus nicht durchgängig als Gewinn betrachtet wird. Bisweilen scheint der Ärger über die Begleiterscheinungen und die beträchtlichen „Nebenwirkungen“ den Gewinn der Unternehmungen zu überwiegen. Koselleck etwa ist schon bald nach seinem Wechsel ins Westfälische enttäuscht darüber, dass sich die disziplinübergreifende Zusammenarbeit an der Reformuniversität so schwer bewerkstelligen lässt und die leitende Idee der neugegründeten Universität in der alltäglichen Forschungspraxis kaum einen Widerhall findet (vgl. Asal/Schlack 2009). Die Soziologen, die Juristen, die Linguisten, so die wortreiche Klage Kosellecks, arbeiteten weitgehend isoliert und ließen kein Interesse am disziplinübergreifenden Gespräch erkennen. Allein die Historiker, so seine Beobachtung, versuchten noch, „die Kluft zwischen den Ständen so überbrückbar wie möglich zu halten“ (zit. nach: Vowinckel 2014: 547). Blumenberg ist ungleich schärfer im Ton, wenn er die scientific community und ihre eigentümlichen Rituale kommentiert. In einem undatierten Brief, den er zu Beginn der 1970er Jahre verfasst, schreibt er an den geschätzten Kollegen: „Ich bin […] zu der Einsicht gelangt, dass der Aufwand an 67 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Zeit, Disziplin, freiwilliger Anonymität und Kraft, der zu einem gemeinsamen interdisziplinären Unternehmen […] gehört, auf längere Sicht in keinem angemessenen Verhältnis zum wissenschaftlichen Ertrag steht. Die Behauptung, anstelle der Einsamkeit des wissenschaftlichen Arbeiters sei die fertile Brutwärme des Kollektivs getreten, halte ich für ein Stück zweiter Jugendbewegung.“ Und er fügt an: „Ich habe meinen Tribut an diesen Irrtum – oder: meinen Einsatz auf diese Chance – entrichtet. Wenn ich es genau betrachte, habe ich jetzt gerade ein Jahrzehnt seit meiner Berufung nach Gießen daran gehängt, interdisziplinäre Verständigungen und Händel zu suchen, zu praktizieren und zu verfehlen; und was ich jetzt am dringendsten brauche, ist Konzentration, nicht notwendig monologische, aber doch solche, die nur gleichsam ‚garantierte‘ Partner einbezieht.“ (zit. nach: Vowinckel 2014: 548) Einige Jahre später – die beiden Korrespondenten kommen erneut auf die Mühen der Interdisziplinarität zu sprechen – werden Blumenbergs Kommentare noch bissiger. Hatte er 1974, von der Tagespresse darüber informiert, dass Koselleck die Leitung des Bielefelder ZiF übernommen hat, diesem in freundlichen Worten kondoliert (und auf einen Glückwunsch verzichtet), rechnet er nun mit dem Anliegen der interdisziplinären Forschung kategorisch ab: „Ich habe es einfach satt, mich von irgendwelchen Grünschnäbeln mit gerade mühsam Angelesenem traktieren zu lassen, und das Ganze dann auch noch als ‚Teil eines Diskurses‘ betrachten zu sollen. Dies liest sich vielleicht wie ein Stück Arroganz, ist aber Ausdruck schlichter Ohnmacht und Ungeduld …“ Um dann fortzufahren: „Das verzeihe ich mir gar nicht, so wenig, wie je an Interdisziplinarität geglaubt zu haben oder dafür Schriftstücke verfasst.“ (zit. nach: Vowinckel 2014: 549) Etwas von dieser Enttäuschung über das interdisziplinäre Projekt klingt nach, als Koselleck 1978 nach Tokio eingeladen wird, wo er im Rahmen einer Gastprofessur zum Thema „Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft“ spricht. Koselleck 68 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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berichtet dabei von seinen Erfahrungen als Leiter des ZiF – und lenkt erneut das Augenmerk auf die strukturellen Veränderungen der Universität. Deren Öffnung, die in den 1960er Jahren nicht zuletzt als Reaktion auf die von Georg Picht ausgerufene Diagnose der sog. „Bildungskatastrophe“ betrieben worden war (vgl. Picht 1965) und die er grundsätzlich begrüßt, sowie der damit verbundene starke Anstieg der Studierendenzahlen hätten eine grundlegende Veränderung der Fakultätsstrukturen nach sich gezogen. Die fachübergreifende Verständigung, welche die alten Fakultäten noch geprägt habe, sei unter den Bedingungen der fortschreitenden Ausdifferenzierung und der Bildung immer kleinerer Forschungseinheiten weitgehend verloren gegangen. Die vielleicht fatalste Folge dieser grundlegenden Neuorganisation der Hochschulen bestünde darin, dass der „Gruppenegoismus der Disziplinen“ über die „eigenen Fakultäten institutionalisiert“ worden und der „zwischenfachliche Diskurs“ zum Erliegen gekommen sei (Koselleck 2010: 55). Auch wenn man nun einräumen muss, dass der Ärger und die Verstimmung über die Arbeit in interdisziplinären Unternehmungen bei den beiden Korrespondenten durchaus unterschiedlich motiviert ist – Blumenberg zweifelt nach seinem anfänglichen Engagement auf ganz grundsätzliche Weise an der Sinnhaftigkeit solcher Vorhaben, Koselleck beklagt hingegen die Widrigkeiten bei deren Realisierung und die mangelnde kollegiale Unterstützung –, gewährt ihr Briefwechsel doch interessante Einblicke in einige Besonderheiten der wissenschaftlichen Arbeit überhaupt (und schließlich auch in jene der disziplinübergreifenden Zusammenarbeit). Die durchaus vertraute Klage darüber, dass sich die interdisziplinäre Arbeit so schwer bewerkstelligen lasse, dass sie zeitaufwändig und mühsam sei, dass sie an die Beteiligten überdies hohe Ansprüche an Organisationsgeschick und intellektuelle Beweglichkeit stelle, lenkt die Aufmerksamkeit auf die soziale Verfasstheit von Wissenschaft – und damit auf eine Dimension, die auch für die Forschungen zutrifft, die innerhalb der Grenzen einer Disziplin betrieben werden. 69 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Um nun Wissenschaft als eine soziale und kulturelle Praxis erforschen zu können, hatte der eingangs bereits erwähnte Ludwik Fleck die Begriffe Denkstil und Denkkollektiv entwickelt (vgl. Fleck 1980, 2011). Er rechnete – insbesondere mit Blick auf die Praxis im Labor, die er aus der täglichen Anschauung kannte – nicht länger mit dem heroischen, männlichen Erkenntnissubjekt, das auf individuelle Experimente gestützt und kraft individueller, gedanklicher Arbeit der Wirklichkeit auf die Spur kommt, sondern mit „Denkkollektiven“: Die Denkkollektive gehen hervor aus der Arbeit jener, die sich gemeinsam und dauerhaft einer Forschungsfrage zuwenden. Diese Denkkollektive, die nie völlig unabhängig vom Kenntnisstand und den Narrativen ihrer Zeit operieren, sind in mehrfacher Weise „embedded“ und suchen sich zu stabilisieren: Sie prägen bestimmte Routinen aus; sie etablieren geregelte Abläufe; sie erzeugen Schemata der Wahrnehmung und der Interpretation; sie lassen Konventionen, Gewohnheiten und Überzeugungen entstehen; sie lehren das Sehen – und sie werden schließlich auch nach außen hin erkennbar durch die Ausbildung eines charakteristischen Denkstils (vgl. Fleck 1980: 111 ff.). Denkkollektive bilden somit ein unsichtbares Band, das ihre Mitglieder als Gruppe konstituiert. Sie stabilisieren sich über zirkulierende Ideen, gemeinsame Praktiken, geteilte Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster. Es sind daher weniger die herausragenden Individuen, sondern eben die Denkkollektive, die – so Fleck – als der soziale Träger des Strebens nach Erkenntnis und als Motor des wissenschaftlichen Fortschritts betrachtet werden müssen. Die weit verbreitete, nicht zuletzt von der traditionellen Wissenschaftsgeschichtsschreibung praktizierte Konzentration auf isolierte Forschungssubjekte bedeutet daher, so lässt sich Fleck interpretieren, einen veritablen „Kategorienfehler“ (Ryle 1980) zu begehen. 2 2

Dies gilt auch noch für jene Arbeiten, welche das Augenmerk auf die lange Zeit vernachlässigte Dimension der Konflikte lenken – und dabei fast immer von zwei heroischen Figuren ausgehen. Deren Auseinandersetzungen werden zumeist als

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Vergegenwärtigt man sich das Begriffspaar Denkkollektiv und Denkstil und nimmt probehalber die Perspektive Flecks ein, zeigt sich schnell, dass jene Phänomene, die Blumenberg und Koselleck über viele Jahre hinweg wortreich beklagen, eben kein lästiges Beiwerk des Strebens nach Erkenntnis darstellen; sie sind kein verzichtbares Additum der Wahrheitssuche, das lediglich einer mangelhaften Organisation der wissenschaftlichen Praxis geschuldet wäre. Wissenschaft galt Fleck als soziale Tätigkeit kat’exochen; sie lässt sich grundsätzlich nicht getrennt von ihrer sozialen und kulturellen Dimension betreiben. Auch wenn dieser Traum lange – und besonders intensiv wohl innerhalb der Philosophie – geträumt wurde, sind wir in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere durch die Historische Epistemologie und die Wissenschaftssoziologie eines Besseren belehrt worden (vgl. Bachelard 1993; Latour 2002; Rheinberger 2007). Die soziale und die kulturelle Dimension der Wissenschaft sind unhintergehbar – und auf sie stößt sehr schnell, wer interdisziplinäre Arbeitskontexte zu organisieren unternimmt. Denn bei solchen Veranstaltungen kommt es eben nicht zur Begegnung vereinzelter, solitärer Erkenntnissubjekte, auch wenn dies die Selbstwahrnehmung der Akteure noch immer weitgehend prägen mag (vgl. Etzmüller 2015). Hier stoßen Vertreter/innen des wissenschaftlichen Feldes aufeinander, die unterschiedlichen Denkkollektiven angehören und unterschiedliche Denkstile ausgeprägt haben, die – in einer etwas anderen Diktion – auf unterschiedliche Weise akademisch sozialisiert und in unterschiedlichen diskursiven Kontexten ausgebildet wurden, die folglich unterschiedlichen epistemischen Communities angehören.

Motor des wissenschaftlichen Fortschritts beschrieben: Kurt Flasch (2007) unternimmt dies für die Philosophie, Georg Kneer und Stephan Moebius (2010) zeigen dies für die Soziologie, Rolf Klausnitzer und Carlos Spoerhase (2007) für die Germanistik; Bruno Latour (2002) wiederum arbeitet schon lange an einer konflikttheoretisch inspirierten Variante der Wissenschaftsgeschichte und hat dazu zahlreiche Beiträge vorgelegt.

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Und damit wird deutlich, inwiefern interdisziplinäre Forschungskontexte die wissenschaftliche Selbstbeobachtung zu stimulieren vermögen: Was die interdisziplinäre Zusammenarbeit bisweilen so anstrengend macht, ist eben dies – dass hier bestimmte Denkgewohnheiten nicht länger gelten, dass bestimmte Grundüberzeugungen von den beteiligten Kolleg/innen nicht geteilt werden, dass eingeführte Begriffe und Argumentationsfiguren bei diesen nicht sofort auf ungeteilte Zustimmung stoßen und das beiläufige Kopfnicken auslösen, das für Diskussionen unter Eingeweihten und Fachkolleg/innen typisch ist. Was innerhalb eines Denkkollektivs, das aus einer langjährigen Zusammenarbeit hervorgegangen ist, oder einer epistemischen Community reflexhafte Zustimmung auslöst, was hier als „taken for granted“ gilt, all’ dies also, was die gemeinsame Arbeit doch so spürbar erleichtert, was zu willkommenen Zeiteinsparungen führt und eben auch den argumentativen Aufwand deutlich senkt, kann hier nicht vorausgesetzt werden. Auf die beträchtlichen Annehmlichkeiten, die aus geteilten Überzeugungen hervorgehen, muss in interdisziplinären Projekten daher verzichtet werden. Stattdessen müssen sich die beteiligten Akteure bei der Begegnung mit Vertreter/innen anderer Disziplinen fortwährend „erklären“; sie sind dabei in einer ganz anderen Weise begründungspflichtig. Sie werden hier dazu genötigt, das mühsam auszubuchstabieren und zu erläutern, was sie in hochgradig spezialisierten Diskursen mit den Peers der eigenen Disziplin zumeist nur en passant andeuten müssen. Hierin besteht eine besondere Zumutung – und zugleich eben auch eine besondere epistemologische Chance interdisziplinärer Arbeitskontexte. Sie nötigen die einzelnen wissenschaftlichen Akteure dazu, sich zu erklären – und dies weitgehend ohne Rückgriff auf das in der eigenen Disziplin sedimentierte Wissen und die etablierten Praktiken. Die Teilnehmer/innen eines disziplinübergreifenden Projektzusammenhangs müssen sich fachfremden Kolleg/innen gegenüber verständlich machen und werden dabei fortwährend auf jene Prämissen der eigenen Forschungspraxis gestoßen, die sie den langjährigen Arbeitskolleg/innen gegenüber 72 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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längst nicht mehr explizieren müssen. Sie werden also – ohne dass dies die Kollegin einer Nachbardisziplin, die doch lediglich ihr Interesse signalisiert, intendiert hätte 3 – mit den eigenen Denkvoraussetzungen konfrontiert, mit elementaren Überzeugungen und Hintergrundannahmen, die im Forschungsalltag kaum noch einmal zum Gegenstand gemacht werden. Lässt man sich also auf einen interdisziplinären Arbeitskontext dauerhaft und ernsthaft ein, muss man damit rechnen, nicht allein mit fremden Reflexionsformen und unbekannten Wissensbeständen konfrontiert zu werden; man wird – und dies ist wohl ungleich irritierender und mühsamer – immer wieder auch auf den eigenen Denkstil gestoßen. 4 Thematisch wird in solchen Momenten mithin die eigene 3

Dass das geschenkte Interesse nicht immer auf große Gegenliebe stößt, hat Dirk Baecker gezeigt. Im Rückgriff auf Beobachtungen Michel de Montaignes (und deren Reformulierung durch Niklas Luhmann) hat er das „vergiftete Geschenk“ des ungeteilten Interesses auf treffende Weise reformuliert: „All das nur wegen einer harmlosen Rückfrage: ‚Wie interessant!‘ Auf diese Bemerkung gründen die ersten Intellektuellen der Moderne, die ‚philosophes‘ der französischen Aufklärung ihre Karriere. […]. Die Formel selbst: ‚Wie interessant!‘, leitet eine Praxis des Vergleich, der Reflexion und der Selbstkritik ein, auf die die moderne Kultur gegründet ist und von der die moderne Kultur sich nie wieder erholen sollte. Ob man mit Messer und Gabel ißt, wo man dies doch auch mit Stäbchen tun könnte; ob man auf dem Land wohnt, obwohl man auch in der Stadt wohnen könnte; ob man den einen Beruf wählt, obwohl man auch einen anderen Beruf wählen könnte; ob man gerne Bier trinkt, obwohl Wein für vornehmer gehalten wird; ob man ins Theater geht, obwohl die aufregenderen Sachen sich im Kino abspielen; was immer man tut, man hat die Beobachtung ‚Wie interessant!‘ im Nacken sitzen. Man kann die Beobachtung nicht abweisen, weil sie ja zunächst gar nicht als Kritik, Einwand, Wertung oder Vorwurf daherkommt, sondern ganz im Gegenteil als Geschenk der Aufmerksamkeit für das, was man treibt, denkt und glaubt. Aber dieses Geschenk ist vergiftet. Es ist mit der Beobachtung zweiter Ordnung vergiftet. Und selbst wenn man weiterhin Bier trinkt und ins Theater geht: diese Beobachtung zweiter Ordnung, dieses Wissen darum, dass man dabei beobachtet wird, wie man selbst die Welt beobachtet und sich in ihr anstellt, verläßt einen nicht mehr. Und kurze Zeit darauf stellt man fest, daß man nur noch Gründe sammelt die Dinge so zu treiben, wie man sie zu treiben gewohnt ist, und man kaum noch Zeit hat, sie so zu nehmen, wie sie sind.“ (Baecker 2000: 49). 4 Dass hierzu das wissenschaftliche Studium befähigen sollte, hat David Foster

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wissenschaftliche Praxis – also eine spezifische und voraussetzungsreiche Weise des Sehens, Beobachtens, Auswertens und Interpretierens, des Bewertens, Argumentierens und Schlussfolgerns. Weil diese Praktiken meist hochgradig habitualisiert sind, werden sie im Forschungsalltag, der eben auch von Routinen und den Rückgriff auf tacit knowledge geprägt ist (vgl. Polanyi 1985; Ryle 1985; Löhnhoff 2008), von den Beteiligten meist nicht mehr eigens expliziert und häufig genug nur noch stillschweigend vorausgesetzt. Es zeigt sich daher, dass die Einrichtung interdisziplinärer Arbeitskontexte nicht allein deshalb wertvoll ist, weil sie die über unterschiedliche Disziplinen hinweg verstreuten fachlichen Expertisen thematisch zusammenzuführen und auf die Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen hin zu bündeln vermag (vgl. Arnold 2009; Weingart 1987); diese besondere Organisationsform wissenschaftlicher Arbeit zwingt die wissenschaftlichen Subjekte mit schöner Regelmäßigkeit dazu, die Spielregeln der eigenen wissenschaftlichen Praxis explizit zu machen. Interdisziplinäre Forschungsvorhaben nötigen ihre Akteure somit zu Beobachtungen zweiter Ordnung und befördern damit die Herausbildung wissenschaftlicher Reflexivität. Solche Arbeitszusammenhänge können daher auch als Einrichtungen begriffen werden, welche die Aufklärung über das wissenschaftliche Feld und jene Logiken versprechen, die es in besonderer Weise prägen. Sie können, ohne dass dies von den fördernden Einrichtungen beabsichtigt oder gezielt betrieben würde, dazu beitragen, „blinde Flecken“ zu identifizieren, indem sie das komplizierte Zusammenspiel von Habitus und Habitat erhellen, von Erkenntnissubjekten und den Kräften sozialer Felder, die sich im wissenschaftlichen Feld überlagern (vgl. Bourdieu 2004). Mit Blick auf diese „Chance der Selbstvergewisserung und ErWallace (2012) in seiner furiosen Graduiertenvorlesung am Kenyon College herausgestellt.

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neuerung“ (Scheffer/Schmidt 2009: 291), die interdisziplinäre Arbeitskontexte für das Streben nach Erkenntnis darstellen, mag es auch nicht länger verwundern, dass sich derzeit die Stimmen derer mehren, die große Hoffnungen nicht allein an die Praxis der Interdisziplinarität knüpfen, sondern – weiter noch – an die gezielte Überschreitung disziplinärer Grenzen. Der französische Philosoph Jacques Rancière etwa hat sich in einem kurzen, dichten Text, der wichtige erkenntnistheoretische Fragen verhandelt, ausdrücklich für ein „Denken zwischen den Disziplinen“, so der Titel seiner Abhandlung, ausgesprochen. Analog zur Polizei, die für die Verteilung von Redepositionen und Teilhabechancen verantwortlich zeichne, sei die Disziplin für die „Verteilung des Denkbaren“ verantwortlich (Rancière 2008). Statt in einer ontologischen Perspektive noch länger nach einem „Grund“ der Dinge zu suchen und eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Wissensformen zu betreiben, käme es künftig darauf an, neue Gattungen zu kreieren und die Diskurse „frei und herrenlos zirkulieren“ zu lassen: „Ein un-disziplinäres Denken ist also ein Denken, das von Neuem den Krieg inszeniert, ‚das Grollen der Schlacht‘, von dem Foucault spricht. Dafür muss es eine gewisse Unwissenheit praktizieren. Es muss daher die Grenzen der Disziplinen ignorieren, um die Diskurse wieder auf ihren Status als Streitwaffen zu bringen“ (Rancière 2008: 97). Der Literaturwissenschaftler Florian Klinger geht in dem Abgesang auf die disziplinären Ordnungen noch einen Schritt weiter: Wichtige Innovationen ereignen sich für ihn nur noch jenseits der vertrauten Strukturen und der Ordnung der Disziplin: „Das Neue geschieht im nicht-disziplinären Raum, dort, wo noch keine Grenzen gezogen sind, wo noch niemand zuständig ist, wo der Normaldiskurs ohne Sicherheiten und Garantieren verlassen wurde“ (Klinger o. J.: 6). Statt nun jedoch vorschnell eine Eloge auf das Neue anzustimmen und das Ereignis mit einer glanzvollen Aura auszustatten, wie dies Klinger – mit deutlichen Anklängen an Jacques Derrida (vgl. Derrida 1998) – betreibt, scheint es mir wichtig, an jene Erkenntnismöglichkeiten zu erinnern, welche den hier beschriebenen, 75 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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wechselseitigen Irritationen innewohnen. Betrachtet man das Projekt der „Inter-Disziplinärität“ als ein riskantes Unternehmen, das eben auch – wie an dem Briefwechsel von Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck illustriert – von den Phänomenen „gegenseitiger Störung, Unterbrechung und Ablenkung“ geprägt ist (Klinger o. J.: 7), dann wird deutlich, dass hier tatsächlich Prozesse der Erneuerung ausgelöst werden können. Nur – handelt es sich dabei eben um keine Automatismen; Disziplinen können sich auf diese Weise erneuern; ihre Vertreter/innen können hier die Chance der Selbstreflexion erkennen (und sie zu ergreifen sich bemühen). Es wäre allerdings fatal, die ausgeprägten Interessen jener zu unterschätzen, die von der herrschenden Ordnung des Diskurses profitieren – und die meist nur wenig Interesse an einer Neuorganisation und der damit verbundenen Umverteilung von Ressourcen besitzen (vgl. Bourdieu 1992; Honegger 2007). Die Soziologen Thomas Scheffer und Robert Schmidt haben unlängst, mit Blick auf die eigene Disziplin, denn auch mit guten Gründen daran erinnert, dass die Arbeit an der Aufklärung der wissenschaftlichen Praxis stets starke Widerstände zu gewärtigen hat. Weder das Streben nach wissenschaftlicher Reflexivität noch die Bemühung um das Etablieren interdisziplinärer Arbeitskontexte können per se auf ungeteilte Zustimmung bei den beteiligten Akteuren stoßen. Sie erinnern in diesem Zusammenhang zunächst an die beträchtliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse, die zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen seit den 1990er Jahren zu beobachten ist – in der „neu etablierten Diskursformation […] erleiden die Geistes- und Sozialwissenschaften einen vor dem Hintergrund ihrer Blüte in den [19]60er und [19]70er Jahren um so dramatischer erfahrenen Niedergang“ (Scheffer/ Schmidt 2009: 293 f.) –, und schließlich auch daran, dass die agonale Verfasstheit des wissenschaftlichen Feldes meist dethematisiert, wenn nicht gar tabuisiert wird: „In Zeiten von Exzellenzwettbewerben, dem Zwang zur Interdisziplinarität und der allgemeinen Forschungsmittelkonkurrenz drohen Auseinandersetzungen zwischen – notorisch ungleichen – Disziplinen aus pu76 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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rer Notwendigkeit und wider besseres Wissen zum herrschaftsfreien Dialog verklärt zu werden.“ (ebd.: 300). Dass die Bemühungen, die wissenschaftliche Reflexivität zu erhöhen und die Spielregeln des Strebens nach Erkenntnis transparent zu machen, durchaus nicht immer auf ungeteilte Gegenliebe stoßen, ließ man auch Pierre Bourdieu spüren, als dieser in seiner Antrittsvorlesung am renommierten Collège de France in Paris das Sakrileg beging, den Akt der weihevollen Aufnahme in den Kreis der Meisterdenker selbst zum Gegenstand zu machen: Nach seiner Antrittsvorlesung im Jahr 1982, die er unter den Titel „Leçon sur la leçon“ (Bourdieu 1985) gestellt und die Subjekte des Strebens nach Erkenntnis zum Erkenntnisgegenstand (also zum Objekt!) gemacht hatte, ließ man ihn – freundlich, aber doch bestimmt – wissen, dass man es sehr viel mehr geschätzt hätte, wenn er etwa über das kabylische Haus gesprochen hätte, statt die wissenschaftlichen Praktiken der Kooptation und die Verfahren der Konsekration zum Gegenstand zu machen. 5 Auch mit Blick auf Erfahrungen dieser Art scheint es umso wichtiger, wenn die Beförderung der wissenschaftlichen Reflexivität weniger auf den (mehr oder weniger stark ausgeprägten) Heroismus des einzelnen Erkenntnissubjekts angewiesen ist (vgl. Reemtsma 2001), sondern einen Rückhalt in den Strukturen interdisziplinärer Forschungskontexte selbst besitzt. Nur handelt es sich dabei eben, wie schon erläutert, lediglich um eine epistemologische Chance, um eine Möglichkeit. Ob diese genutzt wird, hängt maßgeblich davon ab, ob sich hinreichend viele Akteure finden, die es unternehmen, die Orthodoxie anzugreifen und sich für eine selbstreflexive wissenschaftliche Praxis einsetzen. Dieses Engagement ist riskant – und jene, die dabei am meisten zu verlieren haben, verfügen noch immer über das größte wissenschaftliche Kapital (vgl. Bourdieu 1993).

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Diesen Hinweis verdanke ich dem Soziologen Franz Schultheis, einem langjährigen Mitarbeiter von Pierre Bourdieu.

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II Positionierungen

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Interdisziplinäre Forschung Die Arbeit des Instituts für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft als Modell Günter Rager

Das Institut für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft wurde am 12. Mai 1957 in der Aula der Universität München feierlich eröffnet. In seiner Eröffnungsansprache legte der Gründer und erste Direktor des neuen Instituts, der Schweizer Biologe und Philosoph Prof. Dr. Joseph Kälin dar, warum man diese Gründung als notwendig ansah. „Die Krise des Menschenbildes“ verlange eine gründliche geistige Auseinandersetzung mit den Ideologien der Zeit. Als Ideologien standen dem Biologen Kälin dabei namentlich der „Evolutionismus als wissenschaftlichweltanschauliches System“ aus dem 19. Jahrhundert vor Augen, der einem „radikalen Biomechanismus“ das Tor geöffnet habe. Dagegen sei es das dringlichste Anliegen eines Gesprächs zwischen den Fakultäten, die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz neu zu denken und zu begründen. Es gehe allgemein um die geistige Durchdringung des Kosmos, speziell um die Besinnung auf die Grenzen der eigenen wissenschaftlichen Zuständigkeit, um die Erkenntnis des konditionalen Charakters aller Forschungsprinzipien, um die Einsicht in den schwebenden, offenen Gehalt grundlegender Begriffe, um die Überwindung des Mythos von der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft und um die mit der Selbstreflexion der modernen Naturwissenschaft auch im Bereich der Forschung allmählich wachsende Einsicht, dass die Wissenschaft nur dort ihre Blüte erreicht, wo sie zu den übrigen Kulturgütern in einem harmonischen Verhältnis steht. Zu diesen Kulturgütern gehöre nicht nur für den Christen der christliche Glaube und seine Theologie, die darum wesentliche Gesprächs81 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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partnerin sein müsse. Mit Berufung auf Joseph von Görres 1 führte Kälin weiter aus, dass Theologie und Naturwissenschaften verschiedene Bereiche der geistigen Funktionen des Menschen seien, die im Prinzip in komplementärer Harmonie sich ergänzen aufgrund einer primären Gemeinsamkeit aller objektiven Wahrheit. Freilich beruhten die fundamentalen Erkenntnisse in Theologie und Naturwissenschaften auf so verschiedenen Voraussetzungen, dass eine Beantwortung der Frage nach ihrer inneren Bezogenheit nur aus der sorgfältigen gegenseitigen Abklärung von Begriffen und Methoden, von der Beleuchtung ihres historischen Hintergrundes und von der gegenseitigen Aufschließung existentieller Positionen zu erwarten sei. Auf dem Hintergrund der heute im Lebensraum der Wissenschaft wachsenden Überzeugung, dass der Kosmos zutiefst von Ordnungsprinzipien beherrscht und damit ein Sinngefüge sei, erwiesen sich insbesondere theologisches Weltverständnis und Naturwissenschaft als verschiedene Ebenen der Sinndeutung, die hier wie dort auf denselben letzten Seinsgrund bezogen sei. Im Blick auf die skizzierten Probleme und Perspektiven ergeben sich gemäß Kälin die wesentlichen Aufgaben des Instituts: Es soll das wissenschaftliche Gespräch zwischen Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftlern nachhaltig fördern. Begriffe, Methoden und Ergebnisse der Forschung sollen so aufgeschlossen werden, dass sie wechselseitig in sachgerechter Weise auswertbar sind. Das nächstliegende Ziel ist es, die Bezogenheit von natürlicher Weltkenntnis und christlichem Offenbarungsgut einem tieferen Verständnis zu erschließen, wobei das wissenschaftliche Weltbild im ganzen Umfang der modernen Forschung auszuwerten ist. Als Fernziel wird angestrebt eine dem Fortschritt der menschlichen Erkenntnis in allen Sparten der Wissenschaft genügende Deutung der Gesamtwirklichkeit unter dem Zeichen 1

Joseph von Görres lebte von 1776 bis 1848. Er war in erster Linie Publizist und Historiker. Seit 1814 Herausgeber der Zeitung „Rheinischer Merkur“. 1838 Mitbegründer der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“.

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jener wahrhaft humanistischen Gesinnung, deren Wesenskern die Ehrfurcht vor dem personalen Sein des Menschen ist. Damit will das Institut mitwirken am Aufbau eines neuen christlichen Humanismus. Soweit der wesentliche Inhalt der Eröffnungsansprache von Kälin. Die wesentlichen Grundsätze dieses Programms wurden in der Satzung des Instituts verankert. Für die Synthese der Wissenschaften wurden drei Schwerpunkte festgelegt, nämlich Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften. Für das interdisziplinäre Gespräch sollten „bedeutsamen Begriffe, Methoden und Ergebnisse derart in optimaler Form aufgeschlossen werden, dass sie wechselseitig in sachgerechter Weise ausgewertet werden können“ (Satzung § 1). Durch dieses Gespräch sollte „ein vertieftes Verständnis des Verhältnisses von naturwissenschaftlicher Welterkenntnis und christlicher Glaubensaussage gemäß der heutigen wissenschaftlichen Problemlage erarbeitet werden“ (Satzung § 1). Die Ergebnisse der jährlichen Arbeitstagungen sollten in der gleichzeitig begründeten Reihe „Naturwissenschaft und Theologie“ veröffentlicht werden. Wie hat das Institut für interdisziplinäre Forschung während seiner nun sechzigjährigen Geschichte diesen Auftrag in die Praxis umgesetzt? Kann diese Umsetzung als Modell für interdisziplinäre Forschung dienen? Schon die ersten, in jährlicher Folge erschienenen Bände zeigen auf, dass sich das Institut nicht scheute, die wichtigsten und schwierigsten Themen aufzugreifen. Dazu gehörten die biologische Evolution (Heft 2); das Verhältnis von Geist und Leib in der menschlichen Existenz (Heft 4); Tragweite und Grenzen der wissenschaftlichen Methoden (Heft 5); die Problematik von Raum und Zeit (Heft 6); Materie und Leben (Heft 7) und Weisen der Zeitlichkeit (Heft 12). Dies waren Themen, die auch in den folgenden Jahren immer wieder mit neuer Aktualität und in neuen Kontexten aufgegriffen wurden. Wir finden so bekannte Autoren wie den Dogmatiker M. Schmaus, die Biologen F. J. J. Buytendijk und J. Haas, den Pathologen F. Büchner, den Medizinhistoriker H. Schipperges, den Physiker und Philosophen 83 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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W. Büchel, den Philosophen J. B. Lotz und den Theologen Karl Rahner. Die Ergebnisse dieser interdisziplinären Arbeit hatten bedeutende Auswirkungen auf die Öffentlichkeit. Erinnert sei insbesondere an die Debatte über die Hominisation, an der Karl Rahner einen wichtigen Anteil hatte. 2 Bis zum Heft 12, dem letzten Heft der Reihe „Naturwissenschaft und Theologie“, publizierte das Institut unter dem Namen „Institut der Görres-Gesellschaft für die Begegnung von Naturwissenschaft und Theologie“. Zu Beginn der 70er Jahre wurde nach einer ausführlichen Diskussion in mehreren Mitgliederversammlungen der Name des Instituts in „Institut der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie)“ geändert. Dies geschah nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung, dass einerseits der Begriff der Begegnung zu sehr der damaligen Zeit verhaftet und zugleich der sich verschärfenden wissenschaftlich-argumentativen Auseinandersetzung nicht mehr angemessen schien und dass andererseits der Anspruch einer dem Fortschritt in allen Sparten der Wissenschaft genügenden Deutung der Gesamtwirklichkeit, gemessen an den personellen wie fachlichen Möglichkeiten des Institutes, zunehmend mehr als nicht einlösbar erkannt wurde. Die neu eingeführte Bezeichnung „Institut für interdisziplinäre Forschung“, erscheint nach wie vor passend und angemessen; sie hält auch zweifellos die rechte und Erfolg versprechende Mitte zwischen überhöhtem Anspruch einerseits und der daraus zwangsläufig sich einstellenden Resignation andererseits. Das umbenannte Institut der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung startete 1972 mit dem Alber Verlag die neue Reihe „Grenzfragen“, in welcher die Ergebnisse der jährlichen Tagungen veröffentlicht werden. Die Arbeitsweise des Görres Instituts unterscheidet sich von derjenigen, die bei wissenschaftlichen Kongressen und Symposien 2

Die Hefte 1 und 2 erschienen beim Verlag Hans Hueber, München. Ab Heft 3 wurden die Ergebnisse der Jahrestagung beim Alber Verlag, Freiburg, publiziert.

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gepflegt wird. Die Jahrestagungen stehen unter einem Generalthema, das von den Mitgliedern des Instituts und vom Direktorium schon ein oder zwei Jahre vorher sorgfältig überlegt und geplant wird. Ein oder zwei Mitglieder sind dann verantwortlich für die Detailplanung und die Durchführung. Für die einzelnen Vorträge und die nachfolgenden Diskussionen steht viel Zeit zur Verfügung. Am Schluss der Tagung werden in einer Generaldebatte nochmals unerledigte Probleme angesprochen und Verbindungen zwischen den einzelnen Themen hergestellt. Bei der ständig zunehmenden Diversifizierung und Spezialisierung ist es allerdings nicht mehr möglich, die anstehenden Probleme und Themen allein mit den Mitgliedern des Instituts zu behandeln. Deshalb werden den Anforderungen des jeweiligen Themas entsprechend auch externe Experten eingeladen. Der Stil der Veröffentlichung war bis einschließlich Band 22 der Reihe „Grenzfragen“ so, dass die Vorträge und die daran anschließenden Diskussionen aufgezeichnet, redaktionell bearbeitet und so dem Publikum präsentiert wurden. Die Aufzeichnung der Diskussionsbeiträge war häufig länger als der Vortrag selbst. Es war dem Leser überlassen, sich selbst eine Meinung zu bilden. Dann begann man sich zu fragen, ob diese Art der Publikation langfristig sinnvoll und zielführend ist. Sollte man nicht viel mehr dem Publikum ein gemeinsames Forschungsergebnis präsentieren, auf welches sich die Experten nach langer, gemeinsamer Beratung geeinigt hatten? Divergierende Stellungnahmen aus verschiedenen Fachgebieten zu den drängenden Problemen unserer Zeit konnte man auch sonst in den verschiedenen Medien erhalten. Wäre nicht von einem interdisziplinären Institut zu erwarten, dass die versammelten Experten eine gemeinsame Stellungnahme erarbeiten und so dem Leser helfen, sich eine sachlich begründete Meinung zu bilden? Auf Grund solcher Überlegungen beschlossen die Mitglieder des Instituts 1994, versuchsweise den Arbeitsund Publikationsstil zu ändern. Als Thema wurde der Fragenkomplex des menschlichen Lebensanfangs gewählt. Gerade dieses Thema machte klar, dass unsere Leserschaft hierzu mehr von uns 85 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Günter Rager

erwartete als nur eine Reihe von gelehrten Vorträgen. Wir sahen unsere Aufgabe darin, uns zuerst selbst über die Sachverhalte zu verständigen, eine gemeinsame Sprache zu finden und eine gemeinsam verantwortete Stellungnahme zu erarbeiten. Das war nur möglich, wenn wir die Präsentationen und Diskussionen im Plenum des Instituts durch Klausuren und Workshops der Autoren ergänzten. Diese Arbeit war nicht frei von Spannungen, prallten doch zunächst unterschiedliche Meinungen teilweise heftig aufeinander. Schließlich gelang es jedoch, sich auf eine gemeinsame Stellungnahme zu einigen, ohne die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven aufzugeben. In einem dreijährigen intensiven Prozess der Arbeit und des Gesprächs entstand so das Buch „Beginn, Personalität und Würde des Menschen“ (Band 23). Der Arbeitsaufwand war sehr hoch, doch die Mühe wurde belohnt. Das Buch wurde nicht nur von einzelnen Interessenten gelesen, sondern auch an verschiedenen Universitäten in Seminarien behandelt und als Basistext eingeführt. Der ersten Auflage folgte bald eine zweite. Von diesen beiden Auflagen wurden mehr als 2000 Exemplare verkauft. 2009 erschien die dritte, vollständig überarbeitete Auflage als Band 32. Diese Auflage befasst sich auch mit den inzwischen aufgetretenen Themen wie Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnostik. Dieser Band erfüllte wirklich den Anspruch interdisziplinärer Forschung und entsprach dem Ziel des Instituts, wie es in der eingangs zitierten Satzung festgelegt ist. Die Anforderungen waren aber so hoch, dass bei Fortsetzung dieser Arbeitsweise der einjährige Publikationsrhythmus nicht eingehalten werden könnte. So wurde beschlossen, die folgenden Themen wieder in der üblichen Weise zu behandeln und in den Tagungsbänden nur noch die Vorträge zu publizieren. Auf die Wiedergabe der Diskussionsbeiträge wurde verzichtet. Es wurde aber erwartet, dass die Referenten die Diskussionsbeiträge in der Endfassung ihrer Vorträge so gut wie möglich berücksichtigen. Wie zu erwarten fiel die Zahl der verkauften Exemplare wieder auf, zum Teil sogar unter das Niveau der früheren Bände. 86 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Interdisziplinäre Forschung

Diese Vorgehensweise ist sozusagen aus der Not geboren. Insbesondere Naturwissenschaftler haben keine beruflichen Vorteile, wenn sie sich am interdisziplinären Gespräch beteiligen. Veröffentlichungen dieser Art können sie nicht für ihre berufliche Karriere oder für den Wettbewerb um Forschungsunterstützung verwenden. Zudem ist der Zeitaufwand für die Teilnahme an interdisziplinären Tagungen angesichts der beruflichen Belastung sehr hoch. Daher ist ein gründliches Nachdenken angezeigt, wie sich angesichts all der Schwierigkeiten eine echte interdisziplinäre Forschung realisieren lässt. Eine bloße Ansammlung von Referaten aus verschiedenen Fachgebieten genügt diesem Anspruch nicht. Solche Ansammlungen kann man auch bei vielen anderen Veröffentlichungen von Akademien und Symposien finden. Interdisziplinäre Forschung soll nicht nur Beiträge aus verschiedenen Fachbereichen liefern, sondern sich auch um eine echte Synthese bemühen. Genau das erwartet die Leserschaft. Angesichts der Flut der verschiedenen Meinungen sucht sie begründete Orientierung. Eine verantwortete Orientierung könnte und sollte das Institut für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft liefern.

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Interdisziplinäre Forschung Theologische Ortsbestimmungen Gregor Maria Hoff

Dieser Beitrag ist als Hinführung zur theologischen Grundlegung interdisziplinärer Forschung gedacht. Er verbindet historische und systematische Überlegungen mit einem kurzen Überblick über interdisziplinäre Forschungsagenden der (katholischen) Theologie. Am Ende steht die Skizze eines im interdisziplinären Gespräch entwickelten topologischen Ansatzes der Fundamentaltheologie, der sich aus der Begründungsperspektive des 2. Vatikanischen Konzils und seiner Pastoralkonstitution Gaudium et spes ergibt, die ihrerseits die Lizenz für eine neue Ortsbestimmung der Theologie im Raum der Wissenschaften ausstellt.

1. Historische Einleitung Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung des Wissens, dem Komplexitätszuwachs an Methoden, Erkenntniszugängen und Wissensformen, der Kommunikation von Informationen und ihrer öffentlichen Zugänglichkeit im Internet, vor allem der gesellschaftlichen Organisation von Wissenschaft mit all ihren Konsequenzen für Wirtschaft, Politik und Ökologie, aber auch für alle Bereiche der Kultur ergibt sich im Zeitalter der Globalisierung die Notwendigkeit, Wissen über die Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen zu erschließen. Interdisziplinarität bestimmt als Forschungsperspektive die Arbeitsformen von Universitäten und die

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Interdisziplinäre Forschung

wissenschaftliche Praxis in Laboren. 1 Sie normiert die Bestellung ihres Personals und ergänzt die disziplingebundene Ausbildung ihrer Absolvent_innen. Mit der Gründung von Universitäten im Mittelalter wird ein erster Ort für interdisziplinär arbeitende Wissenschaft institutionell geschaffen, auch wenn sich die Zusammenarbeit zunächst auf den organisatorischen Rahmen bezog und keine im modernen Sinn interdisziplinäre Projektarbeit von Forschergruppen etabliert wurde. Aber der Wissenstransfer vollzog sich auch über Fakultätsgrenzen hinweg: im Kontakt der Lehrenden, in der Festlegung von wissenschaftlicher Praxis und, exemplarisch, entlang der Verwendung von Begriffen. 2 In diesen Zusammenhang gehört die Herausbildung der Hermeneutik als wissenschaftlicher Auslegungskunst, die an juristischen, philosophischen und theologischen Fakultäten mit Wechselwirkungen aufeinander entwickelt wurde. 3 Inhaltlich entspricht dem die Aristoteles-Rezeption des 13. Jh., mit der sich unterschiedliche erkenntnistheoretische Zugänge zwischen philosophischer und theologischer Fakultät ergaben. Sie hatten methodisch für die spätere naturwissenschaftliche Forschung ebenso Konsequenzen wie für die Emanzipation der Philosophie aus theologisch-kirchlichen Kontrollansprüchen. 4 1

Zur definitorischen Abgrenzung vgl. J. Mittelstraß, Art. Interdisziplinarität, in: Ders. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 2. überarb. u. erg. Auflage, Stuttgart – Weimar 2010, Bd. 4, 31. 2 Vgl. G. Scholtz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 1), Hamburg 2000. 3 Vgl. zur Geschichte der Hermeneutik – gerade in ihren theologischen Grundlegungsformen und ihren „interdisziplinären“ Bezügen – H.-G. Gadamer, Klassische und philosophische Hermeneutik, in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, Tübingen 21993, 92–117. 4 Vgl. in historisch-wissenschaftstheoretischer Perspektive: W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 7–30. Unter dem Druck des Aristotelismus entwickelt sich die „Theologie“ als Wissenschaft, was sich begriffsgeschichtlich, aber auch methodologisch in der Differenz von „scientia“ und „sacra doctrina“ zeigt, also in der Differenz einer Wissenschaft, die sich einen Begriff von ihrem Wissen und ihren Erkenntnismöglichkeiten schafft (was zur scientia transcendens des Duns Scotus führt), und einer sapiential aufgefassten

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Schon aus historischer Sicht zeigt sich die Theologie damit an der Entwicklung interdisziplinär agierender (wenn auch noch nicht reflex als solche ausgewiesener) Wissenschaftskulturen beteiligt – nicht zuletzt was die Bestimmung ihres eigenen Wissenschaftscharakters anbelangt. Im Zuschnitt ihres eigenen neuzeitlich eingerichteten Fächerkanons weist sie eine hoch ausdifferenzierte Binnen-Interdisziplinarität auf, die sich in den Fächergruppen biblischer, historischer, praktischer und systematischer Theologie spiegelt und ein weites Spektrum an Einzeldisziplinen aufweist, die um die Kreation immer neuer Wissenschaftsperspektiven – wie etwa einer Theologie interkulturell – angereichert wurde und wird. 5 Zudem werden die theologischen Disziplinen konfessionell differenziert vertreten, was nicht nur die Ausbildung eigener Wissenschaftstraditionen nach sich zog, sondern auch den theologisch interdisziplinären Kontakt zunächst unter kontroverstheologischen, inzwischen unter ökumenischen Vorzeichen aufsetzte. 6

Theologie – eine Differenz, die zwischen Thomas von Aquin und Bonaventura bis in die Gegenwart schulbildend wirkt (und kirchenpolitisch bis zu Benedikt XVI. Folgen zeitigt) und für die Frage nach offenbarungsbasiertem Glauben und autonomer Vernunft für die Fundamentaltheologie bis ins 21. Jahrhundert relevant erscheint. 5 Vgl. Cl. Ozankom / Ch. Udeani (Hg.), Theology in Intercultural Design. Theologie im Zeichen der Interkulturalität, Amsterdam – New York 2010. 6 Eine – interdisziplinäre ausgerichtete – Disziplingeschichte der Theologie stellt ein Desiderat dar. Über theologiegeschichtliche Forschung hinaus wäre die Organisation des theologischen Wissens mit seinen kirchlichen Normierungsansprüchen und der disziplinären Eigendynamik der Fächer ebenso zu untersuchen wie die Folgen der Differenzierung ihrer Innen- und Außenbezüge. Vgl. in diesem Interesse als Projektskizze und erste Grundlegung mit Blick auf die Bedeutung des Judentums für die katholisch-theologischen Disziplinen: G. Langer / G. M. Hoff (Hg.), Der Ort des Jüdischen in der Katholischen Theologie, Göttingen 2009.

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Interdisziplinäre Forschung

2. Die katholisch-theologische Begründungsperspektive interdisziplinärer Forschung im Horizont des 2. Vatikanischen Konzils Ein Blick in die Hand- und Lehrbücher sowie die Lexika katholischer Theologie weist (zu erwartende) Leerstellen unter dem Stichwort „Interdisziplinarität“ bis in die 1990er Jahre auf, in denen sich dieses Wissenschaftsparadigma international durchsetzte. Katholischerseits findet sich in der 3. Auflage des Lexikon für Theologie und Kirche ein Eintrag, der eine spezifisch theologische Begründungsperspektive für interdisziplinäre Forschungsagenden der Theologie bestimmt: „Interdisziplinäres Denken betreibt die Theologie dort, wo sie – um einer zeitgemäßen Darlegung des christlichen Glaubens willen – ihre hergebrachten Voraussetzungen im Gespräch mit anderen Wissenschaften befragen läßt und überdenkt sowie umgekehrt – um des Wohls und Heils der Menschen willen –, die von ihr aufbewahrten unabgegoltenen, kritischen und frei machenden Erinnerungen in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen versucht.“ 7

Unverkennbar setzt sich hier der Einfluss der neueren Politischen Theologie im Anschluss an Johann Baptist Metz durch, der bereits Anfang der 1970er Jahre gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen Trutz Rendtorff einen Band zur theologisch-interdisziplinären Forschung herausgegeben hatte. 8 In diese Zeit fällt auch die Umbenennung des 1957 gegründeten „Institut der Görresgesellschaft für die Begegnung von Naturwissenschaft und Glauben“ in ein „Institut für Interdisziplinäre Forschung“. 9 7

N. Mette, Art. Interdisziplinarität, in: LThK3, Bd. 5, 557 f. (Die Abkürzungen im Text sind vom Verfasser aufgelöst worden.) 8 J. B. Metz / Tr. Rendtorff (Hg.), Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, Düsseldorf 1971. 9 Vgl. G. Rager, Geschichte und Ziele des Instituts der Görres Gesellschaft für Interdisziplinäre Forschung, in: St. Borrmann / G. Rager (Hg.), Kosmologie, Evolution und Evolutionäre Anthropologie (Grenzfragen 34), Freiburg – München 2009, 329–338; besonders 330–333.

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Im Hintergrund stehen die ekklesiologischen Umstellungen, die sich mit den Dokumenten des 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965) verbinden. Sie sind vom Interesse an einem Dialog der katholischen Kirche mit der „Welt von heute“ bestimmt, für den die Pastoralkonstitution Gaudium et spes die theologische Grundlegung liefert. Im Zusammenhang mit der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium wird hier die Grammatik einer Wechselbeziehung von Innen- und Außenperspektiven der Kirche eingeführt. Die kirchliche Interpretation des Evangeliums vermittelt sich dabei an die „Zeichen der Zeit“ (GS 4), die nach Deutung verlangen, an denen sich aber auch die Bedeutung des Evangeliums in der „Welt von heute“ erweist. Die „Einführung“ der Konstitution unternimmt auf dieser Linie eine Situationsbeschreibung „des Menschen in der heutigen Welt“ (GS 4–10). Dabei spielen die wissenschaftlichen Erkenntnisse eine besondere Rolle. Sie bilden die Grundlage für ein neues Selbstverständnis des Menschen in einer sich rapide verändernden Welt: „Die heute zu beobachtende Unruhe und der Wandel der Lebensbedingungen hängen mit einem umfassenden Wandel der Wirklichkeit zusammen, so daß im Bildungsbereich die mathematischen, naturwissenschaftlichen und anthropologischen Disziplinen, im praktischen Bereich die auf diesen Disziplinen aufbauende Technik ein wachsendes Gewicht erlangen. Diese positiv-wissenschaftliche Einstellung gibt der Kultur und dem Denken des Menschen ein neues Gepräge gegenüber früheren Zeiten. Schon geht die Technik so weit, daß sie das Antlitz der Erde selbst umformt, ja sie geht schon an die Bewältigung des planetarischen Raumes. Auch über die Zeit weitet der Geist des Menschen gewissermaßen seine Herrschaft aus; über die Vergangenheit mit Hilfe der Geschichtswissenschaft; über die Zukunft durch methodisch entwickelte Voraussicht und Planung. In ihrem Fortschritt geben Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften dem Menschen nicht nur ein besseres Wissen um sich selbst; sie helfen ihm auch, in methodisch gesteuerter Weise das gesellschaftliche Leben unmittelbar zu beeinflussen.“ (GS 5)

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Das Konzil erfasst diesen Umbruch als eine Herausforderung für die Gesellschaft wie für die Kirche. Es handelt sich um eine „Wachstumskrise“ (GS 4), die angesichts technischer Fortschritte Hoffnungen befeuert, angesichts der Komplexität der modernen Welt aber auch Unsicherheiten auslöst und Ängste schürt. Deshalb sucht die Kirche den Dialog mit der Welt „über all diese verschiedenen Probleme“ (GS 3) – im Interesse an der „Rettung der menschlichen Person“ und am „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS 3). In diesen Dialog bringt die Kirche eine klare Perspektive ein: ihr Menschenbild, das sie theologisch begründet; ihre Überzeugung von „ewigen Werten“ (GS 3), mit denen sie Orientierung anbietet; ihre Hoffnung, die sie kritisch gegen Machbarkeitsutopien ins Spiel bringt. Die Grundfragen des Menschen sind damit verschränkt – sie lassen sich aber auch nur im Kontakt mit den konkreten Lebenssituationen bestimmen. Hier setzt das Konzil selbst mit dem Dialog ein, indem es Erkenntnisse der verschiedensten Wissenschaften für die Zeitdiagnose nutzt, sich also von ihnen beeindrucken und herausfordern lässt. Dabei vollzieht die Kirche einen mehrfachen Paradigmenwechsel: Geschichtliches und evolutionäres Denken, damit aber auch eine andere Stellung zur Moderne setzen sich durch. Was seit dem Antimodernismus des 19. Jh. ausgeschlossen schien, wird unter dem Druck lebensweltlicher Verhältnisse, aber auch nicht zuletzt unabweisbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse nun zum Ausgangspunkt theologischer Reflexion: „Das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft wird eines und ist schon nicht mehr aufgespalten in verschiedene geschichtliche Abläufe. So vollzieht die Menschheit einen Übergang von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr dynamischen und evolutiven Verständnis. Die Folge davon ist eine neue, denkbar große Komplexheit der Probleme, die wiederum nach neuen Analysen und Synthesen ruft.“ (GS 5)

Hier greift ein neuer Wissenschaftsbegriff kirchlich durch. Die Kirche kämpft nicht länger gegen die Freiheit der Forschung, für 93 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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die sie durchaus anwendungsorientierte Grenzen zieht (vor allem wissenschaftsethisch), vielmehr vergewissert sie sich ihrer produktiven Bedeutung (vgl. GS 44) und erkennt ihre Relevanz auch für „das religiöse Leben“ (GS 4) an. Gerade weil bis ins Konzil hinein die Auseinandersetzungen um Teilhard de Chardin hemmend wirkten und der Fall Galilei nicht wirklich geklärt wurde 10, markiert GS noch im Konflikt der Weltbilder eine Möglichkeit, auch in der Kommunikation des Evangeliums einen Schritt zu machen: „Wiewohl die Kirche zum kulturellen Fortschritt viel beigetragen hat, so steht doch durch Erfahrung fest, daß ein friedliches Verhältnis von Kultur und Christentum, wenn auch aus historisch bedingten Ursachen, sich nicht immer ohne Schwierigkeiten einstellt. Diese Schwierigkeiten brauchen das Glaubensleben nicht notwendig zu schädigen, können vielmehr den Geist zu einem genaueren und tieferen Glaubensverständnis anregen. Denn die neuen Forschungen und Ergebnisse der Naturwissenschaften, aber auch der Geschichtswissenschaft und Philosophie stellen neue Fragen, die sogar für das Leben Konsequenzen haben und auch von den Theologen neue Untersuchungen verlangen. Außerdem sehen sich die Theologen veranlaßt, immer unter Wahrung der der Theologie eigenen Methoden und Erfordernisse nach einer geeigneteren Weise zu suchen, die Lehre des Glaubens den Menschen ihrer Zeit zu vermitteln. Denn die Glaubenshinterlage selbst, das heißt die Glaubenswahrheiten, darf nicht verwechselt werden mit ihrer Aussageweise, auch wenn diese immer den selben Sinn und Inhalt meint. In der Seelsorge sollen nicht nur die theologischen Prinzipien, sondern auch die Ergebnisse der profanen Wissenschaften, vor allem der Psychologie und der Soziologie, wirklich beachtet und angewendet werden, so daß auch die Laien zu einem reineren und reiferen Glaubensleben kommen.“ (GS 62)

10

Vgl. H.-J. Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Gaudium et spes, in: HThKVatII 4, Freiburg u. a. 2005, 581–886; 613.

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Interdisziplinäre Forschung

Die Vermittlung des Evangeliums ist an die Suche nach einer Sprache für die je gegenwärtigen Lebenssituationen gebunden. Mit der Darstellung des Glaubens passt sich die Kirche aber nicht nur taktisch an, sondern entwickelt im kulturellen und wissenschaftlichen Kontakt eine neue Glaubensposition. Sie steht auf dem Boden der Tradition, überschreitet sie aber im Modus der Relativierungen, auf die sich die Kirche einstellen muss, um ihren Glauben zu kommunizieren. Bereits diese metahermeneutische Einsicht stellt einen eminenten Erkenntnisgewinn gegenüber früheren Positionen der Verurteilung und Ausschließung kulturtheoretischer Diskurse wie naturwissenschaftlicher Erkenntnisse dar – und so hat es das Konzil auch nicht vermocht, die Herausforderungen der Relativitätstheorie aufzugreifen und in ihrem weltbildformierenden Charakter wirklich ernst zu nehmen. 11 Dennoch hat das Konzil mit GS eine Begründungsperspektive theologischinterdisziplinärer Forschung geliefert, die für die theologische Urteilsbildung von entscheidender Bedeutung ist. Dass dies wiederum im Zuge einer ekklesiologisch justierten Erkenntnistheorie bereits unter Einbezug anderer Wissenschaften vollzogen wurde, verstärkt dies.

3. Interdisziplinäre Theologie: Diskurse Interdisziplinäre Diskurse haben die katholische Theologie nach dem Konzil in einem erheblichen Maße bestimmt. „Theologie interdisziplinär“ hat sich als Marke etabliert, die in verschiedenen Buchreihen ausgeliefert wird. 12 Im Theologiestudium beider Konfessionen wurde in den letzten Jahren diese interdisziplinäre Perspektive institutionell über eigene Module verankert. Darüber 11

Vgl. ebd. Vgl. die entsprechenden Reihen im Grünewald Verlag (evangelischerseits im Neukirchner Verlag) oder die bei Peter Lang erscheinenden „Salzburger interdisziplinäre Diskurse“ (hg. v. F. Gmainer-Pranzl).

12

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hinaus entstanden Forschungsinstitute, die sich wie das GörresInstitut für Interdisziplinäre Forschung oder das evangelische „Institut Technik – Theologie – Naturwissenschaften“ an der LMU München 13 vornehmlich auf die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften beziehen oder an spezifischen Kontaktstellen interdisziplinäre Fragen und Probleme bearbeiten. Dass sich dabei neue Forschungsperspektiven für die Theologie abzeichneten, belegen exemplarisch das Münsteraner Institut für Theologische Zoologie 14 und das Institut für Theologie und Frieden, das in seiner Selbstbeschreibung ausdrücklich seine interdisziplinäre Ausrichtung hervorhebt: „Das Institut für Theologie und Frieden (ithf ) ist eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung der Katholischen Kirche in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge zum Zweck der ethischen Auseinandersetzung mit Fragen des Friedens und der Friedensgefährdungen. Die interdisziplinär angelegten Forschungsprojekte des ithf bearbeiten aktuelle Problemstellungen in der politischen und militärischen Praxis sowie angrenzender Wissenschaften (wie z. B. der Politikwissenschaft und des Völkerrechts) auf der Basis eines christlichen Wertefundaments und aus der Kenntnis der christlichen friedensethischen Tradition.“ 15

Beide Institute markieren einen Schwerpunkt theologisch-interdisziplinärer Forschung: die Ethik. Sie betrifft anthropologische und soziologische, ökonomische und politische Fragen und verbindet natur- wie kulturwissenschaftliche Expertisen. Das zeigt sich vor allem an Übergangsbereichen wie künstlicher und humaner Intelligenz 16 oder gentechnologischen und medizinethischen Fragen. 17 Nicht zuletzt kulturwissenschaftliche Theorien fordern die 13

http://www.ttn-institut.de/ http://www.theologische-zoologie.de/home/ 15 https://ithf.de/ 16 Vgl. A. Manzeschke / F. Karsch (Hg.), Roboter, Computer und Hybride. Was ereignet sich zwischen Menschen und Maschinen? (TTN 5), Baden-Baden 2016. 17 Vgl. G. Rager (Hg.), Beginn, Personalität und Würde des Menschen (Grenz14

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Interdisziplinäre Forschung

Theologie nicht nur zu Stellungnahmen heraus, sondern greifen in die eigene Theoriebildung ein. Der cultural turn hat in seinen verschiedenen Facetten zum einen neue Themenfelder für die Theologie erschlossen, zum anderen das theologische Methodenspektrum erheblich erweitert. 18 So führte der iconic turn zu einer eigenen Bildtheologie, die wiederum die innertheologischen Fächergrenzen überschreitet. 19 Dabei ergeben sich Wechselwirkungen, mit denen die Theologie auf andere Disziplinen einwirkt. 20 Der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Religionen entspricht die gewachsene Aufmerksamkeit für die Explorationsleistungen von Theologien und die Wirksamkeit und Prägekraft religiöser Traditionen, sodass wiederum von einem religious turn in den Kulturwissenschaften gesprochen wird, der seinerseits theologische Reflexion herausfordert. 21 Nicht zuletzt der postcolonial turn hat eigene Postkoloniale Theologien inspiriert. 22 „Theologie nach dem Cultural Turn“ 23 verschiebt erkenntnistheoretische Positionen 24 und fordert Theofragen 23), München 1997. Zu diesem Projekt vgl. den Beitrag von G. Rager in diesem Band. 18 Vgl. D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 42010. 19 Vgl. R. Hoeps (Hg.), Handbuch der Bildtheologie (4 Bde.), Bd. 1: Bild-Konflikte, Paderborn u. a. 2007; Bd. 2: Funktionen des Bildes im Christentum (2017); Bd. 3: Zwischen Zeichen und Präsenz (2014). 20 Im Zusammenhang des iconic turn vgl. z. B. die theologisch-religiösen Bezüge bei K. Sykora, Die Tode der Fotografie, 2 Bde., München 2009 und 2015. 21 Vgl. A. Nehring / J. Valentin (Hg.), Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen (ReligionsKulturen 1), Stuttgart 2008. 22 Vgl. A. Nehring / S. Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen 11), Stuttgart 2013. 23 J. Gruber, Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource (ReligionsKulturen 12), Stuttgart 2013. 24 Vgl. L. Allolio-Näcke / B. Kalscheuer / A. Manzeschke (Hg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M. – New York 2005. In diesem Band werden verschiedene Theoriemodelle einer differenzbezogenen Kulturtheorie für die Begründung eines erkenntnistheoreti-

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logie und Kirche zu Umstellungen heraus. Aktuell betrifft das vielleicht am einschneidendsten die theologische und kirchliche Rezeption der Gender Studies, die in ihren gesellschaftspolitischen Konsequenzen das „transformative Potential eines interdisziplinären Diskurses“ belegen. 25 Die theologische Auseinandersetzung mit Gender-Theorien hat theologische Wissensformen bis hin in exegetische Analysen ebenso verändert wie auch zu kirchlichen Anwendungen geführt – gerade in intensiven kritischen Debatten um die christliche, näherhin katholische Rezipierbarkeit vermeintlicher „Gender-Ideologien“. 26

4. Theologie im cultural turn: eine topologische Perspektive Für die theologische Bedeutung der interdisziplinär aufgesetzten Cultural Studies steht in besonderem Maße die Auseinandersetzung mit dem spatial turn. Die bereits angesprochene Pastoralkonstitution Gaudium et spes stellt dafür eine Grundlage bereit. 27 Sie führt eine fundamentaltheologische Grammatik ein, die sich in der beschriebenen Zuordnung von Dogmatik und Pastoral, von Innen- und Außenperspektiven, von Tradition und Geschen Ansatzes im Zeichen von Transdifferenz herangezogen – mit religionswissenschaftlichen Bezügen und unter Beteiligung von Theolog_innen. 25 Vgl. F. Gmainer-Pranzl / I. Schmutzhart / A. Steinpatz (Hg.), Verändern Gender Studies die Gesellschaft? Zum transformativen Potential eines interdisziplinären Diskurses (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 5), Frankfurt a. M. 2014. 26 Vgl. den Flyer „Geschlechtersensibel: Gender katholisch gelesen“ der Arbeitsstellen für Frauen- und Männerseelsorge der DBK: http://www.dbk.de/file admin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/2015–187a-Flyer-Gender. pdf. 27 Die folgenden Ausführungen greifen in überarbeiteter Form zurück auf Überlegungen, die zuerst veröffentlicht sind als: G. M. Hoff, Fundamentaltheologische Inversionen – im Zeichen der Cultural turns, in: J. Gruber (Hg.), Theologie im Cultural Turn. Erkenntnistheoretische Erkundungen in einem veränderten Paradigma (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 4), Frankfurt a. M. 2013, 9–20; hier: 17–20.

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schichte abbildet. 28 Die Kirche bringt auf diese Weise nicht nur eine grundlegende Solidarität mit allen Menschen zum Ausdruck, sondern weist damit ihre Identität aus. Sie erkennt sich selbst, indem sie die Existenznöte und Lebenshoffnungen vor allem „der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) teilt. Als eine Gemeinschaft in Christus „erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1). Es handelt sich nicht um abstraktes Wissen, sondern um eine konkrete Erfahrung. Sie hat eine erkenntnistheoretische Dimension. Wenn die Kirche ihren Auftrag ernst nimmt, das Evangelium von der befreienden Liebe Gottes allen Menschen zu kommunizieren, muss sie sich auf die Lebensorte einstellen, an denen Menschen in besonderer Weise der Zuwendung Gottes bedürfen. In den „Zeichen der Zeit“ (GS 4) werden sie in „dramatischer“ Weise offenbar. An solchen Orten entscheidet sich die Bedeutung des Evangeliums in dieser Zeit – im Horizont „der Rettung der menschlichen Person“ und des „rechten Aufbau(s) der menschlichen Gesellschaft“ (GS 3). Diesen Auftrag kann die Kirche nur erfüllen, wenn sie die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten imstande ist (GS 4) und zugleich „in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben“ kann (GS 4). Beide Perspektiven sind ineinander verschränkt. Zwischen der Interpretation des Evangeliums und dem Problemdruck der Zeichen der Zeit ergibt sich eine erkenntnistheologische Wechselwirkung. 29 Der Text des Evangeliums steht fest, aber seine Bedeutung 28

Zum Ansatz einer kulturwissenschaftlich justierten Theologie der Kirche vgl. G. M. Hoff, Ekklesiologie (Gegenwärtig Glauben Denken 6), Paderborn u. a. 2011. 29 Vgl. die Ansprache von Johannes XXIII. Anlässlich der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962, in: G. Bausenhart u. a., Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: Theologische Zusammenschau und Perspektive (HThKVatII 5), Freiburg u. a. 2006, 482–490; 484; 487.

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muss sich je neu erweisen. Deshalb will Lumen Gentium das Wesen der Kirche allen Menschen „eingehender erklären“ (LG 1), und zwar mit besonderem Bezug auf „die gegenwärtigen Zeitverhältnisse“. Deshalb betrachtet Paul VI. es als „erstrangiges Problem, dessentwegen das Konzil einberufen wurde …, was man die Erneuerung der Kirche nennt“ 30. Es geht darum, einen Schritt nach vorne zu machen im Verständnis des Evangeliums in der eigenen Zeit. Das setzt voraus, das verlangt den Dialog mit der Welt. Und genau dies vollzieht die fundamentaltheologische Grammatik von GS: Die gegebenen Realitäten werden zu ernsthaften Herausforderungen und im Sinne der loci-Lehre Melchior Canos als theologische Referenzgrößen, als loci alieni aufgegriffen. An diesem Punkt greift die Konzilsinterpretation von HansJoachim Sander auf eine topologische Bestimmungsform zurück, die Michel Foucault mit dem Marker „Heterotopien“ (als einer maßgeblichen Inspiration für den spatial turn) eingeführt hat. 31 „Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien zutiefst irreale Räume. Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.“ 32

30

Paul VI., Ansprache bei der Eröffnung der zweiten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (29. September 1963), in: G. Bausenhart u. a., Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, 500–514; 507. 31 Vgl. M. Foucault, Von anderen Räumen, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits 4, hg. v. D. Defert / Fr. Ewald, Frankfurt a. M. 2005, 931–942; zur theologischen Rezeption vgl. H.-J. Sander, Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006, 31–37. 32 M. Foucault, Von anderen Räumen, 935.

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Gemeint sind Orte der gesellschaftlichen Ausschließung, die genau deshalb einen Ort in der Gesellschaft einnehmen. 33 Sie spiegeln das verdrängte Andere und offenbaren es im Gegenlicht seiner Verwerfungen, aber auch der Träume und Hoffnungen. Das Bordell ist der Ort des gelebten und zugleich unlebbaren Sex. Der Friedhof öffnet einen Raum des Todes im Leben, dem man nicht entkommen kann, der – mit GS gesprochen – Trauer und Ängste, aber auch Hoffnungen auslöst. Das Schiff, für Foucault die Heterotopie schlechthin, bildet in seinen Verbindungen von nahen und fernen Räumen „das größte Reservoir für die Fantasie“ 34. Von daher erscheint es nicht nebensächlich, dass sich die Kirche immer wieder mit nautischen Metaphern beschrieben hat. 35 Diese Heterotopien bezeichnen „kulturelle Räume“ 36, mit denen sich gesellschaftliche Herausforderungen verbinden, wie sie GS mit der Rede von den „Zeichen der Zeit“ zugespitzt hat. Um sie erfassen zu können, ist ein methodischer Schritt erforderlich, der sich im topologisch erfassten Übergang der Kirche, die ad intra und ad extra spricht, durchsetzt. Innen und Außen sind aber keine voneinander isolierten Räume; ihre Schnittstellen zeigen sich in der a/religiösen Existenzform der Menschen und z. B. in den säkular-postsäkularen Gemengelagen der postmodernen Gesellschaften. Nur am konkreten Lebensort kann sich die Bedeutung des Evangeliums erweisen. Eine Kirche, die nur von sich her spricht, bringt sich um die Möglichkeit, gerade angesichts befremdender Realitäten die Botschaft vom Reich Gottes als einen Lebensraum in dieser Zeit zu bestimmen. Diese Realitäten haben 33

Marc Augé hat sie als Nicht-Orte (u. a. in Auseinandersetzung mit Michel de Certeau) qualifiziert. Es handelt sich um Orte, an denen sich menschliches Leben nur im Übergang, in der Auflösung abspielt. Vgl. M. Augé, Nicht-Orte, München 2010; zur Auseinandersetzung mit Certeau und zur begrifflichen Bestimmung des Konzepts vgl. besonders 81–114. 34 Ebd., 942. 35 Vgl. H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, 239–564. Vgl. G. M. Hoff, Ekklesiologie, 86–89. 36 Foucault, Von anderen Räumen, 937.

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aber eine Eigendynamik – sie besitzen heterotopischen Charakter. Sie sind real und nehmen einen Ort in unseren Kulturen ein, auf den sich Kirche beziehen muss, vor allem wenn es in den Zeichen der Zeit darum geht, die Lebensrealität der von Lebensoptionen ausgeschlossenen Menschen, „der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1), zu teilen. Kirche muss auf die Seite dieser Menschen wechseln und an ihrer Seite Lebensräume erschließen, also die gesellschaftlichen Ausschließungsmuster aufheben, indem sie Lebenszeichen des Reiches Gottes setzt. „Für den Ortswechsel des Evangeliums ist beides wichtig: die Negation des diskursiven Ausschlusses und die Position eines alternativen Lebensraumes, das Auflösen des Verschweigens und das Einräumen der Hoffnung. Das eine verstärkt jeweils das andere. Darum besteht das Evangelium aus den beiden Grundbotschaften von Kreuz und Auferstehung. Und darum ist das, was auf dem Konzil Zeichen der Zeit bedeutet, auf diese Zweiheit hin benennbar und kein Ausdruck eines Optimismus. Es ist der Ausdruck einer neuen Lebensweise, die den Tod nicht fürchtet, sondern seiner Macht alternative Lebensräume entgegenstellt.“ 37

Was ergibt sich methodologisch aus dieser Umstellung? Die Theologie kann mit den theoretischen Mitteln des spatial turn neue Ressourcen der Rede von Gott erschließen. Zugleich erweist sich diese Methodik nicht nur als kompatibel mit der fundamentaltheologischen Grammatik des 2. Vatikanischen Konzils, sondern erlaubt seine vertiefende Interpretation. Im Blick auf die anstehenden Ortswechsel einer Theologie in den Zeichen der Zeit lassen sich alle Lebensräume als loci theologici alieni bestimmen und erfassen, in denen Zeichen der Zeit auftreten bzw. mit denen die Zeichen der Zeit entdeckt und interpretiert werden können. Auf diese Weise, und das ist methodologisch folgenreich, verschränken sich ekklesiologische und offenbarungstheologische Wissensformen. Im Blick auf das 2. Vatikanische Konzil ist von 37

H.-J. Sander, Ein Ortswechsel des Evangeliums – die Heterotopien der Zeichen der Zeit, in: HThKVatII 5, 434–439; 439.

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Interdisziplinäre Forschung

daher seine Pastoralkonstitution zugleich als offenbarungstheologisches Dokument zu lesen. Das verlangt eine Theologie der Offenbarung, die sich an gesellschaftlichen Realitäten festmacht und ihre kulturellen Formate als Sprachanlässe begreift – gerade in ihren unabgeltbaren und nicht einfachhin integrierbaren, sperrigen Momenten. 38 Auf diese Weise theologisch sprechen zu lernen, entkommt dem Risiko neuer diskursiver Anordnungen und Probestücke ebenso wenig wie dem Wissen um die eschatologische Vorbehaltlichkeit aller Rede von Gott. Damit aber ergibt sich noch einmal ein entscheidender Schritt. Die Überraschungen, die von heterotopischen Entdeckungen ausgehen, verlangen methodisch, das bereits Bekannte (theologisch die kirchliche Lehre) mit dem Unbekannten auf eine Weise zu verbinden, die dem Wahrheitsgehalt der Tradition wie dem Problemdruck unausweichlicher Realitäten Rechnung trägt. Das abduktive Moment, das Charles Sanders Peirce angesichts dieses Problemzusammenhangs in die Wissenschaftstheorie eingeführt hat, setzt voraus, dass Umstellungen in der bekannten Theorieanordnung vorgenommen werden, um einer überraschenden (und unleugbaren) Tatsache Rechnung tragen zu können. 39 Solche Inversionen hat das Konzil vorgenommen. Sie lassen sich theologisch im Modus der cultural turns konzeptualisieren, um den offenbarenden Gehalt z. B. von ökonomischen Prozessen und politischen Entscheidungen, ästhetischen Inszenierungen und kulturellen Diskursen entdecken und bestimmen zu können. Das aber heißt: Theologie muss sich immer wieder (wenngleich natürlich nicht ausschließlich) im Modus von Inversionen vollziehen. Sie nehmen Maß an der Reich-Gottes-Botschaft Jesu und 38

Vgl. zum Ansatz einer kulturwissenschaftlich justierten Offenbarungstheologie G. M. Hoff, Offenbarungen Gottes? Eine theologische Problemgeschichte, Regensburg 2007, 194–230; zur offenbarungstheologischen Relecture von GS vgl. ebd., 248–253. 39 Ch. S. Peirce, Semiotische Schriften 1, Frankfurt a. M. 1986, 376–408; vgl. für die theologische Rezeption H.-J. Sander, Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006, 20–31.

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ihren invertierenden Sprachformen und Praktiken (Gleichnisse; Umstellungen von Orten des Lebens auf Räume des Lebens hin) und haben in den Zeichen der Zeit die heterotopische Gegenwart des Reiches Gottes zur Geltung zu bringen. 40 Dafür ist die Kirche auf die Bestimmung der Lebensräume und der konkreten geschichtlichen Orte angewiesen, in denen das Evangelium die unbegrenzte schöpferische Lebensmacht Gottes vermitteln soll. Es handelt sich um Orte, die nur im Kontakt mit anderen Wissenschaften diskursiv erschlossen werden können. Auf diese Weise verändert der spatial turn die Theologie topologisch – und macht sie von sich her als einen interdisziplinär angewiesenen Diskurs sichtbar. 41

40

Vgl. Hoff, Ekklesiologie, 261 ff. Bereits Melchior Canos Loci theologici waren im weitesten Sinn interdisziplinär bestimmt – auf der Basis der aristotelischen Topik und Rhetorik. Vgl. B. Körner, Melchior Cano, De locis theologicis. Ein Beitrag zur theologischen Erkenntnislehre, Graz 1994, 108–160.

41

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III Modelle

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften Karl Heinz Hoffmann

1. Einleitung Im akademischen Betrieb haben die Begriffe „Interdisziplinarität“ und in neuerer Zeit auch „Transdisziplinarität“ Hochkonjunktur. Beides sind schillernde Begriffe, die in unterschiedlichen Kontexten durchaus mit variierender Bedeutung gebraucht werden. Dies gilt insbesondere für die „Transdisziplinarität“, die häufig in dem Sinne benutzt wird, dass zur Interdisziplinarität noch ein relevanter Praxisbezug hinzutritt; 1 genauso häufig trifft man aber „Transdisziplinarität“ in dem Sinne an, dass sie als ein modischerer Begriff für Interdisziplinarität verstanden wird. Eine ähnliche Unschärfe in den Begrifflichkeiten findet man auch bei der Definition einer „wissenschaftlichen Disziplin“. 2 Einerseits gibt es sehr weite Fassungen, in denen man zum Beispiel die Ingenieurwissenschaften als eine Disziplin bezeichnet; andererseits kann man aber auch sehr viel detaillierter vorgehen und etwa die Architektur vom Bauingenieurwesen trennen. Für die Diskussion der 1

H. Völker, Von der Interdisziplinarität zur Transdisziplinarität?, in: Transdisziplinarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven, hg. v. F. Brand / F. Schaller / H. Völker, Göttingen 2004, 9–28. 2 zur Einteilung von Disziplinen siehe D. Tijink, Transdisziplinarität in der Praxis, in: Transdisziplinarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven, hg. v. F. Brand / F. Schaller / H. Völker, Göttingen 2004, 167–175, hier 168 und M. Käbisch, Sprachlogische Einheitskonzeptionen der Wissenschaft und Sprachvielfalt der Disziplinen. Überlegungen zu theoretischen und praktischen Ansätzen von Interdisziplinarität, in: Interdisziplinarität, hg. v. M. Käbisch / H. Maaß / S. Schmidt, Leipzig 2001, 13–31.

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Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Forderung nach Interdisziplinarität im akademischen Betrieb erscheint mir die Festlegung des Begriffes Disziplin in dem Sinne sinnvoll, wie sie im deutschen Begriff „Fach“ zum Ausdruck kommt. Wer das Berufungsgeschehen an deutschen Hochschulen kennt, weiß, dass Berufungen über die Fachgrenzen hinaus stets einen erheblich größeren Diskussionsbedarf auslösen als eine Berufung innerhalb eines Faches. Dies ist eng verbunden mit der wissenschaftlichen „Redefähigkeit“ innerhalb eines Faches, die üblicherweise gegeben ist, während bei Diskursen zwischen Vertretern verschiedener Fächer die Kommunikation und das Verständnis der jeweiligen Methodik besonderer Beachtung bedarf. Der Verlust der „Redefähigkeit“ zwischen den Fächern ist dann auch für die weitere Diskussion zur Interdisziplinarität und der Frage, ob sie ein wissenschaftspolitisches Desiderat ist, von großer Wichtigkeit. Braucht also der akademische Betrieb die Interdisziplinarität, um die verkrusteten Strukturen der Fächer aufzubrechen und so Synergieeffekte zwischen Fächern nutzbar zu machen? Und gilt dies sowohl im Bereich der Lehre also auch im Bereich der Forschung? In vielen hochschulpolitischen Texten scheinen diese Fragen gar nicht mehr gestellt zu werden, sondern man geht selbstverständlich davon aus, dass interdisziplinäre Arbeiten zu fördern sind. Eine tiefergehende Argumentation aus wissenschaftstheoretischer Sicht weist beispielsweise auf die Einheit der Wissenschaften hin. 3 Es gibt aber auch kritische Einwände, zum Beispiel wird die Frage gestellt, ob der Erkenntnisgewinn durch Interdisziplinarität wirklich so groß sei, dass der ohne Zweifel vorhandene Aufwand, der mit ihr verbunden ist, den Einsatz lohnt. Insgesamt wäre sicher eine intensivere Diskussion der Vor- und Nachteile

3

B. Gräfrath / R. Huber / B. Uhlemann, Einheit, Interdisziplinarität, Komplementarität: Orientierungsprobleme der Wissenschaft heute, (Forschungsbericht 3 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin), Berlin / New York 1991.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

hilfreich. 4 Ich möchte im Folgenden einen Beitrag zu dieser Diskussion dadurch leisten, dass ich anhand einer Reihe von Beispielen aus meiner eigenen akademischen Tätigkeit die Art des Zusammenwirkens zwischen den Fächern beschreibe und so neben die allgemein geführte, wissenschaftsphilosophische Diskussion zu der Frage der Interdisziplinarität praktische Beispiele stelle, die den Gewinn und natürlich auch den Aufwand, der mit der interdisziplinären Zusammenarbeit verbunden ist, sichtbar machen. Es wird dabei auch deutlich werden, dass es verschiedene Arten der interdisziplinären Zusammenarbeit gibt. Meine Beispiele entstammen dem gesamten akademischen Leben, also sowohl der Lehre als auch der Forschung. Meine Erfahrung zeigt, dass das Humboldt’sche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre durchaus im praktischen akademischen Leben seine Bedeutung hat, die im Nebeneinander von Lehre und Forschung dadurch entsteht, dass akademische Bildung zumindest im Bereich der Masterstudiengänge, aber für die Naturwissenschaften sicher auch schon im Bachelorbereich, immer auch einen Forschungsbezug, insbesondere bei den Abschlussarbeiten, hat. Dieser Zusammenhang findet sich auch bei den nun folgenden Beispielen, die – zunächst aus dem Bereich der Lehre und dann aus dem der Forschung – beschreiben, wie gelebte Interdisziplinarität aussehen kann.

2. Interdisziplinarität in der Lehre Mit der Bologna-Reform sind in Deutschland die Rahmenprüfungsordnungen entfallen und die Hochschulen haben die Freiheit erhalten, neue, eigene Studienkonzepte zu entwickeln, die die Grenzziehungen der Rahmenprüfungsordnungen überschreiten konnten. Damit sind neue Studiengänge ganz anderen Zu4

H. Zaborowski, Interdisziplinarität. Anfragen an ein „Projekt“, in: Interdisziplinarität, hg. v. M. Käbisch / H. Maaß / S. Schmidt, Leipzig 2001, 147–167.

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Karl Heinz Hoffmann

schnitts möglich geworden, die es bisher so nicht gab. Die Rahmenprüfungsordnungen waren Prüfungsordnungen für jeweils ein „Fach“, zum Beispiel die Physik, und haben damit in gewisser Weise ein Fach oder eine Disziplin definiert. Sie waren Garant von Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Ausbildung an den Hochschulen, obwohl sie durchaus eine erhebliche Flexibilität, etwa durch die Wahlpflichtfächer, ermöglichten. Die Problematik dieser Rahmenprüfungsordnungen bestand darin, dass der Fächerkanon, der sich ausgebildet hatte, einer zielgerichteten Ausbildung, im Blick auf zu ergreifende Berufe, im Wege stand. Man denke da an (Forschungs-)Tätigkeiten etwa im Bereich der Medizintechnik, bei der sowohl medizinische als auch ingenieurwissenschaftliche Kenntnisse unabdingbar sind. Häufig mussten Interessenten dann zunächst eines der beiden möglichen Fächer studieren, um dann, nach dem Studium oder auch parallel dazu, sich weitere Fachkenntnisse in dem jeweils anderen Fach anzueignen. Dies ist heute deutlich einfacher, da die Hochschulen Studiengänge schaffen können, die solche Fachkombinationen in einem Studiengang vereinen und die man daher interdisziplinär nennen kann. Bei diesen Studiengängen kann man zwei große Gruppen unterscheiden. Da sind zunächst diejenigen, die ich als additiv interdisziplinäre Studiengänge bezeichnen möchte. Es sind solche, die sich aus zwei oder mehr Fächern zusammensetzen oder gar ein unbeschränktes Studium Generale ermöglichen. Hier werden Lehrangebote aus den verschiedenen Fächern nebeneinandergestellt und in einer Prüfungsordnung so zusammengeführt, dass am Ende die juristischen Voraussetzungen zur Erlangung eines Bachelor- oder eines Masterabschlusses erreicht werden. Da keine weitere Verknüpfung der Fächer erfolgt, ist diese Kategorie von Interdisziplinarität nicht unähnlich zur Multidisziplinarität. 5 Die zweite Gruppe umfasst solche Studiengänge, die ich inte5

siehe hierzu z. B. E. Jantsch, Inter- and Transdisciplinary University. A Systems Approach to Education and Innovation, in: Policy Sciences 1 (1970), 403–428.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

grativ interdisziplinär nennen möchte. Hier werden Lehrinhalte aus verschiedenen Fächern zunächst nebeneinander gestellt, dann aber durch originäre Veranstaltungen miteinander verknüpft, in denen die Methoden und Inhalte in einer Weise betrachtet werden, die sie zu etwas Neuem und Einheitlichem werden lässt. Damit wird die Entstehung „neuer“ Fächer möglich, die es zu Zeiten der Rahmenprüfungsordnungen nicht gab. Im Folgenden soll dies anhand von zwei Beispielen dargestellt werden.

2.1 Bachelor- und Masterstudiengang Computational Science Der Bachelorstudiengang Computational Science und der darauf aufbauende Masterstudiengang Computational Science wurden bereits kurz nach der Bologna-Reform an der Fakultät für Naturwissenschaften der TU Chemnitz eingeführt. Sie zeichnen sich durch eine Verbindung von Elementen aus den Fächern Physik, Chemie, Informatik und der numerischen Mathematik aus, 6 wobei der größere Teil der Lehrinhalte dem Bereich der Physik entstammt. Insbesondere die theoretische Physik bildet hierbei aufgrund ihrer Methodenorientierung eine natürliche Schnittstelle zur Informatik und Mathematik. Die Motivation, diese Studiengänge einzuführen, entstammt einer sehr grundsätzlichen Veränderung der verfügbaren Forschungsmethoden im Bereich der Physik. Als quantitative Naturwissenschaft ist ihr die sorgfältige Beobachtung der Natur (inklusive auch belebter Teile) durch Experimente zu eigen, die unsere

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Studien- und Prüfungsordnung für den Studiengang Computational Science mit dem Abschluss Bachelor of Science (B.Sc.) an der Technischen Universität Chemnitz vom 29. Juli 2010, Amtliche Bekanntmachungen der TU Chemnitz Nr. 22/2010 und Studien- und Prüfungsordnung für den konsekutiven Studiengang Computational Science mit dem Abschluss Master of Science (M.Sc.) an der Technischen Universität Chemnitz vom 2. August 2010, Amtliche Bekanntmachungen der TU Chemnitz Nr. 23/2010.

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Kenntnis von den Eigenschaften der Natur weit über den Bereich des direkt Beobachtbaren hinaus erweitert hat. Gleichzeitig entwickelt die Physik Konzepte, in welchen diese Kenntnisse geordnet und quantitativ beschrieben werden können. Die erkannten Zusammenhänge werden dann zu Theorien (häufig in der Sprache der Mathematik) zusammengefasst. Darüber hinaus kann eine sorgfältige theoretische Durchdringung auch die Vorhersage von Eigenschaften möglich machen, die deutlich über den Stand des Beobachteten hinausgehen; man denke etwa an die Relativitätstheorie Einsteins. Solche Vorhersagen sind nun ihrerseits Anlass für weitere Experimente, sodass hier ein intensives Wechselspiel entsteht. Zu diesen beiden klassischen Zugängen über Experimente und Theoriebildung ist in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung der Computertechnik immer mehr die Möglichkeit der Simulation von naturwissenschaftlichen Vorgängen und Strukturen getreten. So kann etwa das Verhalten von Gasmolekülen nicht nur durch die Angabe einer statistischen Verteilungsfunktion im Sinne einer theoretischen Beschreibung erfolgen, sondern das Verhalten von einer großen Anzahl solcher Teilchen kann jetzt direkt simuliert werden, sodass die Bahnen und Stöße zwischen den Teilchen auf mikroskopischer Ebene im Detail verfolgt werden können. Damit werden sogenannte in-silico-Experimente möglich. So besteht heute mit der Simulation ein dritter Zugang zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, der neben die klassischen Experimente und Theoriebildungen getreten ist. 7 Mit der Entwicklung dieser Methode sind dann ganze Wissenschaftsgebiete entstanden, so zum Beispiel der aktuelle Bereich der Emergenz: damit wird das Auftreten neuer Eigenschaften beschrieben, die bei der Betrachtung einer großen Anzahl von Frei-

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G. Gramelsberger, Computersimulationen – Neue Instrumente der Wissensproduktion, in: Wissensproduktion und Wissenstransfer, hg. v. R. Mayntz / F. Neidhardt / P. Weingart / U. Wengenroth, Bielefeld 2008, 75–95.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

heitsgraden entstehen, aber in den elementaren Wechselwirkungen nicht explizit angelegt sind. Neben diesem grundsätzlich neuen Forschungsansatz hat die Computertechnik natürlich auch die numerische Berechnung von Lösungen bekannter Probleme möglich gemacht, die bis dahin nicht in geschlossener Form darstellbar waren. Als typisches Beispiel sei hier die Chaosforschung genannt. Diese Fortentwicklung im Bereich der Methodik der Naturwissenschaften auch in der Lehre abzubilden, ist das Anliegen des Bachelor- und Masterstudiengangs Computational Science. Wie dies umgesetzt wurde, sei im Folgenden kurz dargestellt: Im Bereich der Physik wird zunächst eine klassische Experimentalphysikausbildung durchgeführt, die auch Praktikumsanteile enthält. Zudem gibt es die gleiche Ausbildung in Höherer Mathematik, die auch für die alten Physikstudiengänge typisch war. Hinzu tritt ein Informatik-Modul, das eine Einführung in die Programmiersprachen und das objektorientierte Programmieren enthält. Ergänzt wird dies durch ein Modul zu statistischen Verfahren. Diese Veranstaltungen werden alle „disziplinär“ unterrichtet, da sie in der Regel auch für Studenten anderer Studiengänge mitverwendet werden. Neu ist das Modul Computergestützte Methoden der Naturwissenschaften, das den Studenten Kenntnisse und Handlungskompetenzen in diesem Bereich vermittelt. Im zweiten Studienjahr liegt die Ausbildung in Computergestützte Theoretische Physik sowie in Stochastische Prozesse in den Naturwissenschaften. Diese Veranstaltungen sind interdisziplinär ausgerichtet und benutzen als didaktisches Mittel die Implementierung von Algorithmen zur Lösung physikalischer Probleme. Um die Handlungskompetenz und Transferfähigkeit der Studenten zu erhöhen und sie zu befähigen, die Methoden ihres Faches auch in der Praxis anzuwenden, gibt es ein Praxismodul; zudem werden Wahlfächer angeboten, die sowohl disziplinär als auch interdisziplinär ausgerichtet sein können. Schließlich gibt es noch ein Vorbereitungsmodul zur Bachelorarbeit und die Arbeit 113 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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selbst. Arrondiert wird der Studiengang durch ein Modul, in dem die juristischen Rahmenbedingungen des Studiums sowie Fragen der Wissenschaftsethik und der Vortragstechnik behandelt und mehrere Exkursionen durchgeführt werden. Der Masterstudiengang teilt sich auf in Vorlesungsveranstaltungen, die im ersten Studienjahr liegen und in einen forschungsorientierten Block, der das zweite Jahr ausfüllt. Im ersten Studienjahr wird das Modul Computational Science angeboten, in dem die fortgeschrittenen Methoden dieses neuen Wissenschaftsgebietes dargestellt und eingeübt werden. Im Anwendungsmodul werden weitere anwendungsorientierte Kenntnisse und Kompetenzen in der Regel aus den Gebieten der Natur- und Ingenieurwissenschaften vermittelt. Das Methodenmodul erweitert die methodischen Kenntnisse insbesondere in den Gebieten der Mathematik und Informatik. Schließlich werden im Kommunikationsmodul Kenntnisse und Kompetenzen aus den Gebieten der Human- und Sozialwissenschaften vermittelt, wobei auch computergestützte Methoden zur Anwendung kommen. Das Tutorium gibt einen Einblick in die rechtlichen Grundlagen des Studiums, vermittelt Kenntnisse zum Arbeitsmarkt und erweitert das Kenntnisspektrum durch weitere Exkursionen. Das zweite Studienjahr gliedert sich in die Blöcke Masterarbeit und Fachmethodik, in der die für die Durchführung der Masterarbeit notwendigen Methoden intensiv thematisiert werden. Insgesamt werden also im Masterstudiengang die Kompetenzen auf den wichtigen Gebieten der Physik, aber auch der Mathematik, der Informatik und der Chemie erweitert. Diese kurze Beschreibung der Curricula macht deutlich, warum die interdisziplinäre Gestaltung dieses Studienganges notwendig ist: Die neue Erkenntnismethode Simulation erfordert Methodenkenntnisse aus der Mathematik, insbesondere der numerischen Mathematik (effiziente Verfahren, zum Beispiel Integratoren), der Informatik (Datenstrukturen), aus der Statistik und aus der Physik, um mit Hilfe simulativer Methoden physikalischem Verhalten nachzugehen. Auf der Bacheloreingangsstufe 114 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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ist dies in Form einer sanften Interdisziplinarität verwirklicht, da im Wesentlichen Module aus den verschiedenen Disziplinen nebeneinandergestellt werden. Mit zunehmendem Fortschritt zunächst im Bachelorstudium, dann aber auch im Masterstudium, nimmt der Bestandteil der integrativen Formen der Interdisziplinarität zu. 8 So wird im Bereich der theoretischen Physik bereits durch computergestützte Übungen ein Zusammenwirken der Bereiche für den Studenten erlebbar. Im Masterstudiengang ist dann das zentrale Computational Science-Modul von vornherein integrativ angelegt, sodass hier Inhalt der wissenschaftlichen Untersuchung und gewählte Methodik miteinander zu einer Einheit verschmelzen. Dies führte auch dazu, dass heute dieser Studiengang gar nicht mehr als interdisziplinär wahrgenommen, sondern als ein neues Fach verstanden wird. Die Interdisziplinarität des Studiengangs bringt Absolventen hervor, die gut auf einen beruflichen Einsatz in anwendungs-, forschungs- und lehrbezogenen Tätigkeitsfeldern vorbereitet sind. Einerseits können sie komplexe Prozesse in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft quantitativ und systematisch analysieren, andererseits besitzen sie vor allem fortgeschrittene algorithmische Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, naturwissenschaftliche, ingenieurwissenschaftliche oder auch andere Prozesse quantitativ zu modellieren und damit verbundene Problemstellungen mittels numerischer Methoden und Simulationen einer Lösung zuzuführen. Ohne diesen interdisziplinären Zugang wäre die Ausbildung von Hochschulabsolventen mit diesen Kompetenzen in dem üblichen Zeitrahmen nicht möglich.

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zur Verknüpfung verschiedener Disziplinen: D. J. Sill, Integrative thinking, synthesis, and creativity in interdisciplinary studies in: The Journal of General Education 45 (1996), 129–151.

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2.2 Bachelor- und Masterstudiengang Sensorik und kognitive Psychologie Das zweite Beispiel für einen interdisziplinären Studiengang ist der vor einigen Jahren eingeführte Bachelor- und Masterstudiengang Sensorik und kognitive Psychologie. Dieser verbindet Elemente der Physik und der Psychologie, ergänzt um einen geringeren Teil von Informatikveranstaltungen. 9 Vielen erscheint diese Kombination zunächst überraschend, manche denken dann etwa an den Bereich der Neuropsychologie, bei der versucht wird, das psychologische Geschehen aufgrund der physikalischen Eigenschaften der zugrundeliegenden biologischen Strukturen zu verstehen. Auch geht es nicht um die Untersuchung künstlicher Intelligenz, wo etwa basierend auf Vorgänge in Computerchips kognitive Prozesse abgebildet werden sollen. Was war also die Motivation, diesen Studiengang einzuführen? Die fortschreitende Technisierung unserer Umwelt mit der Miniaturisierung von technischen Geräten zur Unterstützung menschlicher Sensorik hat im Bereich der Wechselwirkung zwischen Technik und Mensch große Fortschritte erzielt. Dies sei kurz am Bereich der Fahrerassistenzsysteme erläutert. Bei diesen werden Informationen über die Umgebungssituation eines Fahrzeugs über technische Sensoren aufgenommen und nach mathematischer Bearbeitung und Verdichtung dem Fahrzeug zur Verfügung gestellt. Dieses kann nun mit Hilfe von Assistenzsystemen den Fahrer etwa auf Gefahrensituationen aufmerksam machen oder auch unterstützend in den Fahrprozess eingreifen. Dabei müssen aber immer Beschränkungen durch den Fahrer des 9

Studien- und Prüfungsordnung für den Studiengang Sensorik und kognitive Psychologie mit dem Abschluss Bachelor of Science (B.Sc.) an der Technischen Universität Chemnitz vom 8. Februar 2016, Amtliche Bekanntmachungen der TU Chemnitz Nr. 2/2016 und Studien- und Prüfungsordnung für den konsekutiven Studiengang Sensorik und kognitive Psychologie mit dem Abschluss Master of Science (M.Sc.) an der Technischen Universität Chemnitz vom 18. Juli 2012, Amtliche Bekanntmachungen der TU Chemnitz Nr. 21/2012.

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Fahrzeugs berücksichtigt werden, da er in der jeweiligen Fahrsituation die vom technischen System bereitgestellten Informationen in Echtzeit aufnehmen und verarbeiten muss. Nur wenn die Präsentation der Informationen und ihre Menge den menschlichen Fähigkeiten angemessen ist, kann der Fahrer auf die Situation adäquat reagieren und so etwa gefährliche Situationen vermeiden. Um diesen Prozess effektiv durchführen zu können, muss das Gesamtsystem aus Fahrzeug und Fahrer in den Blick genommen werden. Ähnliches gilt etwa für den Pilotenarbeitsplatz oder auch die Tätigkeit von Medizinern, die mittels Robotern Operationen durchführen und dabei nicht mehr am Patienten, sondern an einem entfernten Arbeitsplatz sitzen, an dem ihnen alle notwendigen Informationen durch Sensoren zur Verfügung gestellt werden. Man benötigt also Experten, die von der Datenaufnahme der Sensoren über die Verarbeitung dieser Information, ihrer Übergabe an den Menschen, ihrer Verarbeitung durch den Menschen bis hin zu der ausgelösten Reaktion den Gesamtprozess überblicken und beherrschen. Zudem werden typischerweise Entwicklungen, etwa von Fahrerassistenzsystemen, durch gemischte Teams vorgenommen, in denen Ingenieure, Informatiker, Physiker und Psychologen miteinander wechselwirken. Um dieses Miteinander effektiv zu gestalten, sind Generalisten notwendig, die mit allen Fachvertretern in einem solchen Team fachlich „sprechfähig“ sind. 10 Beide Eigenschaften – Expertise im Gesamtprozess und Kommunikationsfähigkeit auf fachlicher Ebene – haben die Absolventen des Sensorik und kognitive Psychologie-Studienganges. Um den Absolventen des Bachelor- und Masterstudienganges Sensorik und kognitive Psychologie diese Kompetenzen zu vermitteln, spielen daher im Curriculum die Datenaufnahme durch 10

zur Wichtigkeit der „Sprechfähigkeit“ siehe A. O’Cathain / E. Murphy / J. Nicholl, Multidisciplinary, interdisciplinary, or dysfunctional? Team working in mixed-methods research, in: Qualitative Health Research 18 (2008), 1574–1585 und darin enthaltene Referenzen.

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physikalische Messungen, die Datenabstraktion, die Datenintegration und die Visualisierung zur Bereitstellung für die menschlichen Sinne in der Ausbildung eine wichtige Rolle. Hinzu kommen Kenntnisse über informationsverarbeitende Systeme, über das Gehirn, die Wahrnehmung, die diese beeinflussenden Emotionen und über die Bewertung von Situationen bis hin zur Entscheidungsfindung. Dementsprechend enthält der Bachelorstudiengang Module, die dem Psychologiestudium entnommen werden. Hierzu gehören die Methodenlehre, die allgemeine Psychologie mit den Inhalten Kognition, Motivation und Emotion, die biologische Psychologie sowie ein zugehöriges Forschungspraktikum. Diese Module werden disziplinär entsprechend der Fachlogik der Psychologie unterrichtet. Neben einer Mathematikausbildung tritt dann die Unterrichtung in Modulen der Physik, die den Umfang einer für physiknahe Studiengänge üblichen experimentalphysikalischen Grundausbildung mit zugehörigen Praktikumselementen hat. Hinzu kommt ein Modul zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Sensorik. Auch diese Veranstaltungen werden disziplinär durchgeführt. Die Integration dieser beiden Bereiche wird dann in mehreren fachübergreifenden Modulen geleistet. Hierzu zählen die Module Sensorik und Kognition im interdisziplinären Kontext, Psychophysik und Messen, Interpretieren, Verarbeiten. Bei allen weist schon der Name auf die interdisziplinäre Ausrichtung hin. Schließlich wird die Integration auch dadurch gestärkt, dass häufig eine interdisziplinär ausgerichtete Bachelorarbeit mit zugehörigem Forschungsseminar gewählt wird. Das Curriculum des Masterstudienganges enthält im ersten Studienjahr im Wesentlichen Vorlesungsanteile, während das zweite Studienjahr der eigenen Forschung gewidmet ist. Im ersten Studienjahr werden von der Psychologieseite das Modul Human Factors und ein Modul zur Vertiefung der Bereiche Kognition, Emotion und Motivation angeboten. Von der Physikseite werden die Module Simulation naturwissenschaftlicher Prozesse sowie die 118 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Kognition bereitgestellt. Die Integration der beiden Bereiche wird durch das Modul Fallstudien geleistet, in dem durch Besprechung konkreter Anwendungsfälle das Zusammenführen der beiden Bereiche und ihre Wechselwirkung aufgezeigt wird. 11 Ergänzt wird das Studium noch durch einen Vertiefungs- und Spezialisierungsbereich. Das zweite Studienjahr beinhaltet die Masterarbeit sowie ein Modul, in dem auf die für die Masterarbeit notwendige Fachmethodik vorbereitet wird. Schaut man sich diesen Studiengang unter dem Gesichtspunkt der Interdisziplinarität an, so stellt man fest, dass beide Formen der Interdisziplinarität, die additive und die integrative, auftreten. Am Anfang des Studienganges steht zunächst die additive Form der Interdisziplinarität im Vordergrund, die durch das Nebeneinanderstellen von Modulen aus der Physik, der Informatik, der Mathematik und der Psychologie entsteht. Hier unterrichtet jedes Fach für sich nach seinen Standards und mit seinen Methoden. Im späteren Verlauf des Studiums gewinnt dann die integrative Form der Interdisziplinarität immer mehr an Bedeutung. So finden schon im Bachelorstudiengang integrative Veranstaltungen statt, in denen die Brücke zwischen den Fächern Psychologie und Physik geschlagen wird. Im Masterstudiengang wird dies noch einmal verstärkt. Bei der Implementierung des Studiums hat sich gezeigt, dass insbesondere der Praktikumsbereich und die verpflichtende Teilnahme an Industriepraktika dieses Zusammenwirken weiter befördern. In vielen Fällen finden die Studenten dabei sehr interessante Tätigkeiten, in denen die Kombination beider Kompetenzen verlangt wird. In diesem Sinne kann man hier dann berechtigterweise von Transdisziplinarität sprechen. Der konsekutive Bachelor- und Masterstudiengang Sensorik und kognitive Psychologie ist ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten, die mit der Bologna-Reform geschaffen worden sind. Zuvor 11

J. Th. Klein, Integrative learning and interdisciplinary studies, in: Peer Review 7 (2005), 8–10.

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wäre die Möglichkeit, Absolventen des hier beschriebenen Studienganges mit ihren Kompetenzen auszubilden, erheblich eingeschränkt gewesen und die Zielerreichung hätte das Studium von zwei getrennten Fächern erfordert. Die Entwicklung dieses neuen Studienganges ist also einerseits die Folge der veränderten rechtlichen Lage, zum anderen aber auch der neu entstehenden Kompetenzanforderungen, die die Wirtschaft und am Ende natürlich auch die Forschung im Bereich der Natur-, Ingenieur- und Humanwissenschaften stellen.

2.3 Vorteile interdisziplinärer Ausbildung Interdisziplinäres Zusammenwirken von Fakultäten mit ihren Fächern im Bereich der Lehre ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Insbesondere in Form der additiven Interdisziplinarität gab es sie auch bereits in den durch Rahmenprüfungsordnungen bestimmten Studiengängen. So etwa im Bereich der Physik, wo eine durchaus umfangreiche Mathematikausbildung selbstverständlicher Bestandteil des Curriculums war. Die beiden hier vorgestellten Beispiele für interdisziplinäre Studiengänge haben aber gezeigt, dass die durch die Bologna-Reform eröffnete Möglichkeit, solche Studiengänge zu entwickeln, sich für den deutschen Hochschulraum sicher sehr positiv ausgewirkt hat. Sie erlaubt es, der Gesellschaft, insbesondere natürlich der Wirtschaft, aber auch der Verwaltung und anderen Bereichen, kompetente Absolventen zur Verfügung zu stellen, die sehr viel besser den spezialisierten Anforderungen unserer arbeitsteiligen Gesellschaft entsprechen, als dies die Absolventen der klassischen, durch ihre Rahmenprüfungsordnungen definierten Fächer konnten. Die Notwendigkeit zur Interdisziplinarität ist dabei einerseits durch Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft selbst (hier als Beispiel die Möglichkeit zum simulativen Zugang zu Naturphänomenen, die durch die Computerentwicklung möglich geworden ist) und andererseits durch die Entwicklungen im Be120 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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reich der Technologie begründet, die von Seiten der Wirtschaft aus nach entsprechenden Experten verlangt (Beispiel Fahrerassistenzsysteme).

3. Interdisziplinarität in der Forschung Im Bereich der Forschung wird Interdisziplinarität häufig als anzustrebende Eigenschaft von Forschungsprojekten und ganzen Forschungsverbänden genannt (und auch gefordert). Dabei spielt die Hoffnung mit, dass im Bereich der Forschung zwischen zwei Fächern die wissenschaftlichen „Früchte“ niedriger hängen als im Kernbereich der jeweiligen Fächer. Dies impliziert ein Bild von Wissenschaft, in der die Forscherdichte im Kernbereich von Fächern höher als in den Randbereichen und deshalb der Erfolg schwieriger ist. Eventuell schwingt sogar die Vermutung mit, dass zwischen den Bereichen, die durch die Fächer abgedeckt sind, ganze nur unzulänglich bearbeitete Felder liegen, derer man sich nicht adäquat annimmt. Die Frage ist, ob dieses Bild zutrifft. Im Bereich der Forschung hat sich im Laufe der Zeit immer wieder eine Veränderung der Fächerstruktur ergeben. So sind ganz neue Bereiche entstanden, die aufgrund einer technologischen Entwicklung möglich geworden sind (zum Beispiel die Informatik). Es sind aber auch Verschiebungen von Gebieten zwischen den Fächern möglich, wie etwa die Kristallografie, die sich von einem eigenständigen Fach zu einem Teil der Chemie oder der Geowissenschaften zu entwickeln scheint. Ein zentrales Problem der gelebten Interdisziplinarität ist die schon oben angesprochene „Redefähigkeit“ zwischen Vertretern verschiedener Disziplinen. Sie müssen in eine kommunikative Wechselbeziehung treten, 12 um sich so ihrem interdisziplinären Forschungsprojekt mit (eventuell unterschiedlichen) Graden von 12

siehe hierzu J. Rehfeldt, Wie ist interdisziplinäre Verständigung möglich?, in: Interdisziplinarität als Chance, hg. v. J. Ludwig, Bielefeld 2008, 267–288.

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Gemeinsamkeit zu nähern. Hierbei ist natürlich ein sich überschneidender Grundstock von Methoden und Fachkenntnissen der Akteure sehr hilfreich. Schließlich spielt Interdisziplinarität auch beim Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in den außerwissenschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle. Hierbei kooperieren häufig Vertreter verschiedener (Ausbildungs-)Disziplinen miteinander, die über ihre Fachgrenzen hinweg ein gemeinsam in den Blick genommenes Problem lösen wollen. Dabei ergeben sich nicht nur innerwissenschaftlich höchst interessante Wechselwirkungen. 13 Im Folgenden soll anhand von Beispielen untersucht werden, inwieweit Interdisziplinarität bei Forschungsprojekten hilfreich ist und ihre erfolgreiche Durchführung erst möglich macht.

3.1 Anomale Diffusion Das Forschungsinteresse in dem hier beschriebenen Projekt richtet sich auf das Verhalten und die Eigenschaften von Diffusionsvorgängen. Ein typisches Beispiel für die Diffusion ist der Tropfen Tinte, der in eine ruhende Flüssigkeit eingebracht wird: Wenn man ihn beobachtet, stellt man fest, dass im Laufe der Zeit die Farbpartikel der Tinte im Wasser verteilt werden und zwar ausgelöst durch die Stöße der Wassermoleküle. Zur Beschreibung dieses Vorgangs benutzt man die mittlere Größe der Farbpartikelwolke. Die Größe nimmt als Funktion mit der Zeit zu, und zwar nach dem sogenannten Diffusionsgesetz: der Radius dieser Wolke zum Quadrat wächst proportional zur Zeit an. Dieses Verhalten nennt man normale Diffusion. In der Natur beobachtet man aber nun auch Diffusionsvorgänge, bei denen die Größe der Farbpartikelwolke nach einem abgewandelten Zeitgesetz zunimmt: der Radius der Wolke zum Quadrat wächst proportional zu einer Potenz der Zeit an. In Ab13

J. Ludwig (Hg.), Interdisziplinarität als Chance, Bielefeld 2008.

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hängigkeit vom Exponenten, der die Potenz bestimmt, kann die Diffusion einerseits schneller, andererseits aber auch langsamer als die normale Diffusion erfolgen. Ist der Exponent größer als eins, so bezeichnet man die Diffusion als superdiffusiv, ist er kleiner als eins, so nennt man sie subdiffusiv. Solche Diffusionsvorgänge treten in verschiedenen Kontexten auf, zum Beispiel bei der Ausbreitung von Teilchen in Gewebeflüssigkeiten, wo aufgrund der vorhandenen Hindernisse innerhalb einer Zelle nur eine langsamere Ausbreitung als bei der normalen Diffusion möglich ist. Es hat sich nun herausgestellt, das sogenannte fraktionale Differentialgleichungen in der Lage sind, das Verhalten der anomalen Diffusion zu beschreiben. Zentrales Element dieser anomalen Diffusionsgleichung ist die fraktionale Ableitung. Dies ist eine mathematische Operation auf einer Funktion, die für ganzzahlige Werte eines Parameters a mit den bekannten Ableitungen der entsprechenden Ordnung übereinstimmt, es aber erlaubt, auch für Zwischenwerte von a eine Verallgemeinerung des „Ableitens“ vorzunehmen. Die Eigenschaften der fraktionalen Ableitung sind in der Mathematik seit langem bekannt und untersucht. Der Parameter a ist nun eng mit dem Exponenten der anomalen Diffusion verknüpft. Ich selbst lernte die fraktionalen Ableitungen durch einen kanadischen Kollegen, der angewandter Mathematiker ist, und einen seiner Doktoranden, der von seinen Arbeiten zur Berechnung von Optionspreisen für Finanzinstrumente berichtete, kennen. 14 Die dabei auftretenden fraktionalen Differentialgleichungen waren strukturell eine Verallgemeinerung der Diffusionsgleichung, und mein Kollege und ich nahmen uns daher vor, die Eigenschaften der Gleichungen insbesondere bezüglich ihrer Irreversibilität weiter zu analysieren. Diese Dissipationseigenschaft der Diffusionsgleichungen, die durch Benutzung von fraktionalen Ableitungen entstehen, war nicht bekannt. Dabei stellten 14

M. Davison, Spatial and deterministic limits on randomness, Dissertation University of Western Ontario, London 1995.

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wir fest, dass sich durch Variation des Parameters a der fraktionalen Ableitung eine ganz faszinierende Möglichkeit in der theoretischen Beschreibung von physikalischen Vorgängen bietet: nimmt nämlich a den Wert eins an, so bekommt die untersuchte Differentialgleichung eine Gestalt, die der bekannten Wellengleichung entspricht, einem Typus von Dynamik, der vollständig reversibel abläuft. Nimmt a aber den Wert zwei an, so entspricht die entstehende Diffusionsgleichung der normalen Diffusion, die einen Vorgang beschreibt, der vollständig irreversibel abläuft. Diese beiden paradigmatischen Evolutionsgleichungen der Physik waren bis dahin nicht miteinander verbunden, durch die Untersuchungen der fraktionalen Diffusionsgleichung konnten wir erstmals eine Verbindung zwischen den beiden Dynamiken herstellen. 15 Unsere Untersuchungen führten dann zur Entdeckung des „Entropy Production Paradox“; darauf aufbauend ist im Laufe einer langjährigen Zusammenarbeit eine ganze Reihe von Folgearbeiten entstanden. 16 In welchem Sinne hat nun die interdisziplinäre Zusammenarbeit hier zu Fortschritten in der Wissenschaft geführt? Zu Beginn stand zunächst die Kombination von technischem „Know-how“ aus den beiden Disziplinen Mathematik und Physik. Erst dadurch wurden die weiteren Untersuchungen ermög15

K. H. Hoffmann / Ch. Essex / Ch. Schulzky, Fractional Diffusion and Entropy Production, in: Journal of Non-Equilibrium Thermodynamics 23 (1998), 166–175. 16 Ch. Essex / Ch. Schulzky / A. Franz / K. H. Hoffmann, Tsallis and Rényi Entropies in Fractional Diffusion and Entropy Production, in: Physica A: Statistical Mechanics and its Applications 284 (2000), 299–308; X. Li / Ch. Essex / M. Davison / K. H. Hoffmann / Ch. Schulzky, Fractional Diffusion, Irreversibility and Entropy, in: Journal of Non-Equilibrium Thermodynamics 28 (2003), 279–291; J. Prehl / Ch. Essex / K. H. Hoffmann, The superdiffusion entropy production paradox in the space-fractional case for extended entropies, in: Physica A: Statistical Mechanics and its Applications 389 (2010), 215–224; J. Prehl / Ch. Essex / K. H. Hoffmann, A unified approach to resolving the entropy production paradox, in: Journal of Non-Equilibrium Thermodynamics 37 (2012), 393–412.

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licht. Die Zusammenarbeit hat aber auch sehr von unseren verschiedenen Perspektiven bei der Untersuchung des gleichen Objektes (anomale Diffusionsgleichung) profitiert: während der eine sich z. B. insbesondere für die Irreversibilitätseigenschaften zwischen den zwei physikalisch relevanten Grenzfällen interessierte, interessierte sich der andere z. B. für die Ordnungseigenschaften verschiedener Irreversibilitätsmaße. Der gegenseitige Dialog in diesem Forschungsbereich hat sich für uns beide als sehr produktiv erwiesen und zu Arbeiten geführt, die über die ursprüngliche Fragestellungen hinausgehen. 17 Unsere interdisziplinäre Zusammenarbeit bestand also darin, zwar das gleiche Objekt zu studieren, dies aber aus unterschiedlichen Perspektiven zu tun. Aufgrund der interdisziplinären Zusammenarbeit hat sich ein wissenschaftliches Gespräch entwickelt, das insgesamt zu einer umfassenderen und reicheren Analyse der anomalen Diffusionsvorgänge geführt hat. Für das Folgende möchte ich diese Art der Interdisziplinarität daher als Bereicherungsinterdisziplinarität beschreiben. 18

3.2 Anomale Diffusion II Eine ganz andere Art des interdisziplinären Zusammenwirkens beruht auf einer langjährigen Kooperation mit einem angewandten Mathematiker in den USA. Während eines Forschungsaufenthaltes am dortigen Institut, der einem disziplinären Thema in der Physik gewidmet war, machte er mich auf einen Kollegen aus der Biologie aufmerksam, der das Diffusionsverhalten für Bakteriophagen in Schleim untersuchte. Mein Kollege wusste, dass das be17

J. Prehl / Ch. Essex / K. H. Hoffmann, Tsallis Relative Entropy and Anomalous Diffusion, in: Entropy 14 (2012), 701–716; J. Prehl / F. Bold / Ch. Essex / K. H. Hoffmann, Time Evolution of Relative Entropies for Anomalous Diffusion, in: Entropy 15 (2013), 2989–3006. 18 E. Wasser, Wirtschaft interdisziplinär, Wirtschaft als Disziplin und Interdisziplin, Berlin 1986, bes. 45.

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obachtete Verhalten der Bakteriophagen Eigenschaften der anomalen Diffusion zeigt. Da er mein Interesse an diesem Bereich kannte, stellte er den Kontakt zu dem Biologen her und wir konnten uns in mehreren Diskussionsrunden mit der Thematik auseinandersetzen. Aufgrund meiner früheren Arbeiten im Bereich der Modellierung von Zufallsprozessen und der mir bekannten Berechnungstechnologien, die für den Bereich der anomalen Diffusion notwendig sind, konnte ich dann in relativ kurzer Zeit aufgrund der beobachteten Daten gewisse Prozessmechanismen vorschlagen, die zur Zeit in der dortigen Gruppe weiterdiskutiert werden und jetzt Grundlage für weitere Arbeiten sind. Diese Art des interdisziplinären Zusammenwirkens ist gekennzeichnet durch einen Kompetenz- und Methodentransfer. Dass es zu dieser Art des Zusammenwirkens kam, ist nicht Folge einer planmäßigen Forschungskooperation, sondern des eher zufälligen Zusammentreffens von Akteuren aus verschiedenen Disziplinen. Durch diese interdisziplinäre Zusammenarbeit konnten in kurzer Zeit im gegenseitigen wissenschaftlichen Austausch auch mit weiteren Kollegen Modellvorstellungen entwickelt werden, die nun einer experimentellen Überprüfung bedürfen. Ganz entscheidend für den Erfolg dieses Zusammenwirkens war dabei ein offener Austausch in einem akademischen Umfeld, in dem man ohne Berührungsängste miteinander umgeht. Diese Art von Interdisziplinarität möchte ich im Folgenden als Kompetenztransfer-Interdisziplinarität bezeichnen. Diese kann in verschiedenen Intensitäten auftreten: vom bloßen Hinweis auf hilfreiche Methoden in einem Fach bis hin zur Übernahme von Modellbildung und Berechnungsdurchführung. Von dieser Intensität hängt natürlich der damit verbundene Aufwand ab. Wird hier der unter Effizienzgesichtspunkten geeignete Grad an Intensität gewählt, so sind in kurzer Zeit große Fortschritte möglich.

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3.3 Vorhersage des Abbiegeverhaltens an Kreuzungen Dieses Beispiel von gelebter Interdisziplinarität basiert auf einem Forschungsprojekt, das im Rahmen eines Promotionsvorhabens in Kooperation mit der Adam Opel AG durchgeführt wurde. Zunächst sei das Projekt kurz beschrieben. Die Analyse von Verkehrsstatistiken zeigt, dass ein erheblicher Teil der Unfälle im urbanen Verkehrsraum an Kreuzungen auftritt. Zur Reduktion dieses Unfallrisikos wäre der Einsatz von Assistenzsystemen hilfreich, die den Fahrer bei falschem Abbiegeverhalten warnen. Ziel dieses Projektes war es daher, das Abbiegeverhalten an Kreuzungen vorherzusagen: kennt man die gewünschte Fahrtrichtung, so kann eine frühzeitige Analyse des Konfliktpotentials an der zu passierenden Kreuzung erfolgen, um dann schließlich aufgrund der vorhergesagten Fahrtrajektorie Warnungen aussprechen zu können. Um das Forschungsziel zu erreichen war eine ganze Reihe von Arbeitsschritten notwendig. Zunächst einmal war das typische Fahrverhalten an Kreuzungen zu untersuchen. Dabei mussten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Fahrern aufgeklärt werden, die auf verschiedenen Einflussparametern beruhen können. Mit Hilfe einer umfassenden Analyse bestehender Fahrdaten wurde daher das Annäherungsverhalten an Kreuzungen ermittelt; aus der großen Datenfülle wurden dann die für die Vorhersage wichtigen Kenngrößen extrahiert. 19 In einer weiterführenden Fahrzeugführerstudie konnten deutliche Unterschiede – etwa beim Bremsen – im Verhalten der Fahrer bei der Annäherung an Kreuzungen festgestellt werden. In einem weiteren Schritt waren Abhängigkeiten von der Art der Kreuzung, ihrer Form und ihrer Verkehrsregulation zu bestimmen. Sodann musste durch die Fahrzeuginfrastruktur die Bereitstellung der zur Vorhersage not19

Th. Streubel / K. H. Hoffmann, Fahrverhaltenanalyse an Kreuzungen auf Basis von Fahrdaten, in: GMM-FB 78: Automotive meets Electronics (2014): 31–36.

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wendigen Parameter möglich gemacht werden, zum Beispiel waren Informationen zur Kreuzungsgeometrie zu gewinnen. Schließlich musste der eigentliche Vorhersagealgorithmus entwickelt werden. Grundlage hierfür waren sogenannte HiddenMarkov-Modelle, bei deren Verwendung die Abfolge des Fahrprozesses als Dynamik eines stochastischen Prozesses verstanden wird. Für das Links-, Rechts- und Geradeausfahren wurden dann in Abhängigkeit vom Typus der angefahrenen Kreuzungen die Parameter der Modelle angepasst. Fährt ein Fahrzeug auf eine Kreuzung zu, so muss das Fahrzeug zunächst mit Hilfe bekannter Kartenmaterialien den Typus der Kreuzung feststellen, sodann wird das beobachtete Fahrerverhalten mit den drei Modellen für Linksoder Rechtsabbiegen und Geradeausfahren verglichen und das Modell mit der besten Passung gibt dann eine Vorhersage für die Fahrtrichtung. Insgesamt enthielt dieses Forschungsprojekt daher sozialwissenschaftliche Anteile, wie sie bei der Untersuchung von Fahrereigenschaften auftreten, aber auch technische Anteile, die eine physikalische Modellierung und den Einsatz von Algorithmen mit spezieller Zielrichtung benötigen. Daher war ein interdisziplinärer Zugang zu diesem Projekt unabdingbar. Für die Betreuung meines Doktoranden im Bereich der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen stand ein Kollege aus der Psychologie zur Verfügung. Das Projekt ist insgesamt sehr erfolgreich verlaufen, 20 am Ende stand eine im Fahrzeug implementierte Demonstrationsversion, die im Fahrbetrieb Vorhersagen des Abbiegeverhaltens machen konnte. Damit hat das Projekt dann auch eine transdisziplinäre 21 Dimension erhalten. Um zu diesem erfolgreichen Abschluss zu gelangen, mussten Kompetenzen aus verschiedenen Disziplinen zusammengeführt werden. Das geschah hier in der Weise, dass der Bearbeiter inter20

Th. Streubel / K. H. Hoffmann, Prediction of Driver Intended Path at Intersections, in: Intelligent Vehicles Symposium Proceedings, 2014 IEEE, 134–139. 21 Völker, Interdisziplinarität, 9 ff.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

disziplinär ausgebildet war (in dem oben besprochenen Computational Science-Studiengang) und sich zusätzliche Kenntnisse in den sozialwissenschaftlichen Methoden aneignete. Erst durch das Zusammenfügen von Methoden aus verschiedenen Disziplinen ist insgesamt eine adäquate Problembehandlung möglich geworden. Diese Art von Zusammenarbeit, in der ein Bearbeiter in der Lage ist, mit Methoden und Konzepten aus den beiden beteiligten Wissenschaftsgebieten zu operieren und dadurch zum Erfolg zu kommen, 22 möchte ich im Weiteren Interdisziplinarität „in einem Kopf “ 23 nennen.

3.4 Hydraulische Energierekuperation in Fahrzeugen Dieses Projekt ist gekennzeichnet durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von vier Arbeitsgruppen. Zwei davon entstammen dem Hochschulbereich, bei den anderen beiden Projektteilnehmern handelt es sich um Unternehmen der freien Wirtschaft. Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines Rekuperationssystems, um die Bremsenergie eines Nutzfahrzeugs zu speichern und für das anschließende Wiederbeschleunigen oder auch für den Betrieb von Kippvorrichtungen zur Verfügung zu stellen. Die Speicherung der Energie erfolgt dabei in Hochdruckspeichern, die hydraulisch geladen werden. Das Ziel des Projektes wird dadurch

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siehe auch: Th. Streubel / M. Moebus / K. H. Hoffmann, Generische Umfeldmodellierung – Autonome Fahrzeugsteuerung durch eine Risikokarte, in: VDI Wissensforum: 16. Internationaler Kongress – Elektronik im Fahrzeug (2013), 651–661. 23 H. Parthey, Persönliche Interdisziplinarität in der Wissenschaft, in: Interdisziplinarität – Herausforderung an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, FS Heinrich Parthey, hg. v. W. Umstätter / K.-F. Wessel, Bielefeld 1999, 243– 254; G. Vollmer, Interdisziplinarität – unerlässlich, aber leider unmöglich?, in: Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme, hg. v. M. Jungert / E. Romfeld / T. Sukopp / U. Voigt, Darmstadt 2010, 47–75, bes. 53.

129 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Karl Heinz Hoffmann

erreicht, dass in den Antriebsstrang des Nutzfahrzeuges eine Hydraulikpumpe eingebracht wird, die Energie sowohl aufnehmen als auch abgeben kann. Dazu muss die Kurbelwelle technisch verändert werden. Für diese Arbeiten wurde ein kompetenter Partner aus der Industrie gewonnen, der Kurbelwellen entwickelt und herstellt. Die Hydraulikpumpe muss dann mit den notwendigen Hydraulikelementen an die Hochdruckspeicher angeschlossen werden. Diese Aufgabe hat der andere Industriepartner übernommen, der Hydrauliksysteme anbietet und über einen Versuchsstand für solche Systeme verfügt. Bei Fragen der Energierückgewinnung von Kraftfahrzeugen stellt sich immer sofort die Frage nach dem Gewicht der dafür notwendigen Bauelemente, da ein erhöhtes Gewicht zu einem erhöhten Energieverbrauch führt und daher stets eine Abwägung stattfinden muss, ob der Mehraufwand durch die eingesparte Energie kompensiert werden kann. Daher müssen für dieses Projekt spezielle Hochdruckenergiespeicher in Leichtbauweise entwickelt werden. Diese Arbeiten werden von einer Arbeitsgruppe der Westsächsischen Hochschule Zwickau durchgeführt, die hierzu bereits Erfahrung besitzt. Schließlich ist das Gesamtsystem zu modellieren, um die auftretenden Energieflüsse berechnen zu können. Auf der Basis eines solchen Modells kann auch eine Optimierung vorgenommen werden; zudem kann basierend auf einer solchen Beschreibung die Steuerung des gesamten Rekuperationssystems entwickelt werden. Diese Aufgabe wird in meiner Arbeitsgruppe bearbeitet, da wir eine langjährige Erfahrung bei der Optimierung von naturwissenschaftlichen Prozessen haben und zudem über umfassende Kompetenzen im Bereich der makroskopischen Nichtgleichgewichtsthermodynamik verfügen, die es uns erlaubt, die vollständige thermodynamische Modellierung des Systems im Rahmen der endoreversiblen Thermodynamik vorzunehmen. Während der Planphase des Projektes wurden die entsprechenden Arbeitspakete für die Gruppen definiert und das Zusammenspiel im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung festgelegt. 130 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

In diesem Projekt findet eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Gruppen statt, die nicht nur die Grenzen akademischer Fächer, hier der Physik und der Ingenieurwissenschaften (Maschinenbau) überschreitet, sondern die weiter ausgreift und auch im Sinne von Transdisziplinarität Praxispartner mit in die Kooperation einbezieht. 24 Die Art der interdisziplinären Zusammenarbeit ist hier aber eine andere als in den bisher beschriebenen Beispielen. Hier liegt der Zusammenarbeit eine klare Verteilung der Aufgaben auf die verschiedenen Disziplinen zugrunde. Die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsschritte werden dann in periodischen Arbeitstreffen wieder zusammengeführt. Hier handelt es sich also um eine sorgsam geplante Zusammenarbeit mit wohldefinierten Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Praxispartnern. Erst die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem beschriebenen arbeitsteiligen Zugang macht die Gesamtlösung der Problemstellung möglich. In gewisser Weise ist dieses Beispiel ein Gegenentwurf zu der Art von Interdisziplinarität, wie sie im Beispiel der Vorhersage beim Kreuzungsverhalten aufgetreten ist: statt Interdisziplinarität „in einem Kopf“ liegt hier Interdisziplinarität mit einer klaren Aufgabenverteilung vor. Diese Art der Interdisziplinarität möchte ich im Folgenden daher arbeitsteilig kooperative Interdisziplinarität nennen.

3.5 Zentrum für Sensorik und Kognition Ein letztes Beispiel interdisziplinären Zusammenwirkens ist das im Entstehen befindliche Zentrum für Sensorik und Kognition der TU Chemnitz. Durch die sehr erfolgreiche Einführung des Bachelor- und Masterstudienganges Sensorik und kognitive Psychologie ist eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen

24

Völker, Interdisziplinarität, 9 ff.

131 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Karl Heinz Hoffmann

den Instituten für Physik und für Psychologie an der TU entstanden. 25 Basierend darauf und ausgelöst durch das Bedürfnis, im Sinne der Einheit von Forschung und Lehre eine entsprechende Forschungskapazität im Kernbereich dieses Studiengangs einzurichten, hat die TU beschlossen, ein Forschungszentrum im Bereich der Sensorik und Kognition einzurichten. Dazu wurden drei Professuren neu berufen, die zusammen eine Brücke zwischen den Disziplinen bilden. Diese Brücke bildet sich auch in den Denominationen der drei Professuren ab: Professur für Experimentelle Sensorik, Professur Physik kognitiver Prozesse und Professur Struktur und Funktion kognitiver Systeme. Die Arbeitsgebiete sind so gewählt, dass – zusammen mit weiteren Professuren aus Physik, Psychologie und anderen Fächern – ein Teppich überlappender Expertisen entsteht. Durch diese Konstruktion können dann in variierenden Gruppen und mit verschiedenen Graden von Interdisziplinarität Forschungsprojekte im Bereich der Kognition und Sensorik bearbeitet werden. Durch die sich überlappenden Fachgebiete entsteht die Möglichkeit, im gegenseitigen Dialog auch völlig neue Fragestellungen zu entwickeln. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in diesem Zentrum geschieht also durch das Zusammenwirken von Akteuren mit sich überschneidenden Kompetenzen. Im Gegensatz zu der oben beschriebenen arbeitsteiligen Interdisziplinarität hat hier die Kooperation zwischen den Akteuren einen größeren Stellenwert. Ich bezeichne diese Art daher als überlappend kooperative Interdisziplinarität.

25

siehe zum Beispiel: K. Schmidt / M. Beggiato / K. H. Hoffmann, J. F. Krems, A mathematical model for predicting lane changes using the steering wheel angle, in: Journal of Safety Research 49 (2014), 85–90.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

4. Zusammenfassung Im vorliegenden Text habe ich eine Reihe von Beispielen für das interdisziplinäre Zusammenwirken im Bereich der Naturwissenschaften vorgestellt. Diese Beispiele entstammen zum einen der Lehre, zum anderen der Forschung. Die Art des interdisziplinären Zusammenwirkens in den verschiedenen Beispielen unterscheidet sich zum Teil deutlich. Um diese Unterschiede sichtbar zu machen habe ich eine Reihe von Begriffen eingeführt, die die Arten des interdisziplinären Zusammenwirkens beschreiben. Für den Bereich der Lehre sind dies: – integrative Interdisziplinarität und – additive Interdisziplinarität. Letztere besteht im Nebeneinanderstellen von wissenschaftlichen Inhalten, die den Studenten vermittelt werden sollen. Der Gewinn solcher Studiengänge besteht darin, dass die Absolventen in den vertretenen Fächern Kompetenzen besitzen, die sie dann später in eine berufliche Tätigkeit einbringen können. Typische Beispiele hierfür sind Zweifach-Bachelor, die an vielen Universitäten angeboten werden. Bei der integrativen Form der Interdisziplinarität wird hingegen versucht, im Curriculum eine Verbindung zwischen den Fächern herzustellen und das gegenseitige Austauschverhältnis für neue wissenschaftliche Zugänge fruchtbar zu machen. 26 Gelingt dies über lange Zeit effektiv, so können daraus neue Fächer entstehen. Während im Falle des Computational Science-Studienganges ein solcher Übergang bereits gelungen ist, zeigt das Beispiel des Sensorik und kognitive Psychologie-Studiengangs, dass allein schon über die Namensgebung die beiden Fächer bisher fortleben. Angetrieben werden solche Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit einerseits durch Entwicklungen 26

zur Qualitätssicherung interdisziplinärer Ausbildung siehe V. Boix Mansilla / E. Dawes Duraisingh, Targeted Assessment of students’ interdisciplinary work. an empirically grounded framework proposed, in: The Journal of Higher Education 78 (2007), 215–237.

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innerhalb der Wissenschaft, die neue Paradigmen entstehen lassen, und andererseits durch Anforderungen an Kompetenzprofile, die von Seiten der Wirtschaft und Gesellschaft kommen. Im Bereich der Forschung gibt es verschiedene Arten des interdisziplinären Zusammenarbeitens, deren Notwendigkeit und deren Wirkung deutlich differieren. Ich habe die Art des interdisziplinären Zusammenwirkens wie folgt eingeteilt: – – – – –

Bereicherungsinterdisziplinarität, Kompetenztransfer-Interdisziplinarität, Interdisziplinarität „in einem Kopf“, arbeitsteilig kooperative Interdisziplinarität, überlappend kooperative Interdisziplinarität.

Beim Zusammenwirken in Form der Bereicherungsinterdisziplinarität ist aus wissenschaftstheoretischer Sicht eine Zusammenarbeit nicht zwingend erforderlich, um ein Thema zu bearbeiten. Das Zusammenwirken von Forschern aus verschiedenen Fächern führt allerdings dazu, dass ein Untersuchungsgegenstand in größerer Breite untersucht und unter verschiedenen Aspekten beleuchtet werden kann. In diesem Sinne bereichert diese Zusammenarbeit die Erkenntnis zum untersuchten Wissenschaftsgegenstand. 27 Bei der Kompetenztransfer-Interdisziplinarität liegt ein Zusammenwirken dergestalt vor, dass Methoden des einen Faches in einem anderen erfolgreich angewendet werden können. Für beide Arten der Interdisziplinarität ist Voraussetzung, dass Forscher aus beiden Fächern zusammenfinden und in einem wissenschaftlichen Gespräch die jeweiligen Forschungsziele dem Partner übermitteln können, sodass dieser erkennen kann, welche seiner Methoden und Fragestellungen zur Untersuchung des Objektes beitragen können. Bei den beiden bisher genannten Interdisziplinaritätsarten besteht der Gewinn also in einer entweder umfassenderen oder effektiveren Bearbeitung von Forschungsthemen. 27

Wasser, Wirtschaft, 45.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

Anders bei der kooperativen Interdisziplinarität und ihren beiden Ausprägungen arbeitsteilig und überlappend. In diesen Fällen werden Forschungsvorhaben durchgeführt, deren Bewältigung nur durch das interdisziplinäre Zusammenwirken von Partnern aus verschiedenen Fächern gelingen kann. In den Fällen, wo eine strikte Schnittstellendefinition zwischen den Partnern möglich ist, kann eine solche Zusammenarbeit arbeitsteilig erfolgen. Anders ist dies bei Kooperationsvorhaben, bei denen die Übergangsstellen zwischen den beteiligten Partnern nicht scharf definiert werden können. Hier müssen sich die Partner in ihren Kompetenzen überlappen, um so die gemeinsame Bearbeitung eines Themas erst zu ermöglichen. Auch besteht die Möglichkeit, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zweistufig zu gestalten: zunächst disziplinär, um dann in einem zweiten Schritt in einem Konsensverfahren die Ergebnisse zusammenzuführen. 28 Schließlich findet man die Interdisziplinarität „in einem Kopf“. Hier handelt es sich um Fälle, wo ein Forscher Kompetenzen aus zwei oder mehreren Fächern besitzt und diese zusammen zur Lösung seiner Forschungsfrage zum Einsatz bringen kann. 29 Eine Betrachtung der verschiedenen Arten von interdisziplinärem Zusammenwirken im Bereich der Naturwissenschaften kann nicht ohne einen Blick auf die kooperativen Forschungsprogramme der Deutschen Forschungsgemeinschaft und anderer Forschungsförderer bleiben. Exzellenzcluster, Sonderforschungsbereiche, Forschergruppen, Graduiertenkollegs und andere Forschungsnetzwerke sind auch darauf ausgerichtet, interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. Häufig müssen zur erfolgreichen Bearbeitung verschiedene Aspekte der Forschungsthematik unter28

J. Blazejczak / D. Edler, Nachhaltigkeitskriterien aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Perspektive. Ein interdisziplinärer Ansatz, in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 73 (2004), 10–30. 29 zu Vor- und Nachteilen siehe auch W. Umstätter, Bibliothekswissenschaft als Teil der Wissenschaftswissenschaft – unter dem Aspekt der Interdisziplinarität, FS Heinrich Parthey, hg. v. W. Umstätter / K.-F. Wessel, Bielefeld 1999, 146– 150.

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Karl Heinz Hoffmann

sucht werden, wobei die Arbeiten dann von Arbeitsgruppen auch aus mehreren Disziplinen durchgeführt werden. Die Intensität, Spannweite und Art der Interdisziplinarität kann dabei von einer arbeitsteilig kooperativen bis hin zur überlappend kooperativen Interdisziplinarität reichen. Möglich ist aber auch ein Zusammenwirken von Gruppen aus verschiedenen Disziplinen zum Zwecke des Kompetenztransfer, der dann für das jeweilige Empfängerfach sehr fruchtbar sein kann (Kompetenztransfer-Interdisziplinarität). Der durch die Zusammenarbeit entstehende Dialog kann auch über den Austausch verschiedener Perspektiven hinausgehen und zu kooperativem, „lernendem“ Forschungshandeln werden. 30 Inzwischen ist die Ausgestaltung der Zusammenarbeit in Forschungsverbünden selbst Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen 31 geworden und Hilfestellung zu ihrer optimalen Gestaltung wird angeboten. 32 Insgesamt erscheint es mir wichtig, bei Kooperationsvorhaben zu unterscheiden zwischen „notwendiger“ und „potentiell ertragreicher“ Kooperation. Während im ersteren Fall das Ziel nur erreicht werden kann, wenn es zu einem konzertierten Handeln der Forschenden kommt, so besteht im zweiten Fall zwar die Möglichkeit, dass die Teilnehmer auch ohne Kooperation in ihrer jeweiligen Disziplin wichtige Ergebnisse erzielen; angestrebt wird aber, dass durch das Zusammenwirken Fortschritte ausgelöst werden, die ohne Kooperation nicht entstanden wären. Für den Bereich der Naturwissenschaften kann man feststellen, dass interdisziplinäres Zusammenwirken in den von mir be30

zur Wichtigkeit des Dialogs siehe M. Weis, Möglichkeiten und Behinderungen kooperativen Lernens in interdisziplinären Forschungszusammenhängen, in: Interdisziplinarität als Chance, hg. v. J. Ludwig, Bielefeld 2008, 319–350. 31 C. Jooß, Gestaltung von Kooperationsprozessen interdisziplinärer Forschungsnetzwerke (Dissertation RWTH Aachen), Norderstedt 2014. 32 Ch. von Blanckenburg / B. Böhm / H.-L. Dienel / H. Legewie, Leitfaden für interdisziplinäre Forschergruppen. Projekte initiieren – Zusammenarbeit gestalten (Blickwechsel. Schriftenreihe des Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin 3), Stuttgart 2005.

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Interdisziplinarität in den Naturwissenschaften

schriebenen Formen sehr ertragreich ist und viele Projekte überhaupt erst möglich macht. Dies gilt sicher gleichermaßen für den Bereich der Ingenieurswissenschaften und ihrer Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften, da auf diese Weise der Transfer neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in den Bereich der Anwendung deutlich vereinfacht wird. 33 Aufgrund meiner Erfahrung bin ich sicher, dass sich interdisziplinäres Forschen und Lehren lohnt und für den Wissenschaftsstandort Deutschland ein Gewinn ist. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Interdisziplinarität natürlich auch Risiken und „Kosten“ mit sich bringt, da z. B. der Kommunikationsaufwand beim wissenschaftlichen Austausch mit Kollegen aus anderen Fächern erhöht ist. 34 Natürlich bleibt festzuhalten, dass Interdisziplinarität nur dort existieren kann, wo es „starke“ Disziplinen gibt. Diese müssen sich aber wandelnden Fragestellungen und neuen oder sich verändernden Methoden anpassen. 35 Man kann den Wunsch nach Interdisziplinarität dann als Versuch lesen, die Grenzen zwischen den Disziplinen stets für Veränderungen offen zu halten.

33

zu den damit verbundenen Fragen siehe R. Mayntz / F. Neidhardt / P. Weingart / U. Wengenroth (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer, Bielefeld 2008. 34 Vollmer, Interdisziplinarität, bes. 61 ff. 35 I. Hacking, Verteidigung der Disziplin, in: Interdisziplinarität – Theorie, Praxis, Probleme, hg. v. M. Jungert / E. Romfeld / T. Sukopp / U. Voigt, Darmstadt 2010, 193–206.

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Interdisziplinarität: Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie Ludger Honnefelder

Dass Interdisziplinarität im Zusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso notwendig wie schwierig ist, zeigt bereits der Blick auf das Selbstverständnis von „Wissenschaft“. Denn versteht man sie als cognitio ex principiis, d. h. als einen Satzzusammenhang, in dem im Idealfall alle wissenschaftlich wissbaren Sätze durch Ableitung aus obersten Prinzipien bzw. einem übergeordneten Begriff des Gegenstandes als wahr erkannt werden, ist eine Einheitswissenschaft, die alle wissenschaftlich wissbaren Wahrheiten aus dem gleichen methodischen Blickwinkel erfasst und damit Interdisziplinarität überflüssig macht, nur denkbar für einen Verstand, der das Ganze der Welt aus dem „Gottesgesichtspunkt“ (H. Putnam) bzw. „von Nirgendwo“ (Th. Nagel) zu erfassen vermag. 1 Schon Aristoteles hat deshalb in der Auseinandersetzung mit dem Projekt Platons dem logisch denkbaren Konzept einer alles umfassenden axiomatisch-deduktiven Idealwissenschschaft, der „episteme apodeiktike“, in den Zweiten Analytiken die Einsicht entgegen gehalten, dass ein auf den Ausgang bei der Sinneserfahrung angewiesener Verstand, das Ganze nur aspektiv zu erfassen vermag. Wissenschaft ist daher nicht als nous, sondern nur als episteme denkbar, genauer gesagt nur in Form einer Vielheit von Wis1

Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher L. Honnefelder, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube – konkurrierende Weltdeutungen oder Antworten auf unterschiedliche Fragen, in: Ders., Im Spannungsfelde von Ethik und Religion, Berlin 2014, 174–188.

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

senschaften, die je eigene Satzzusammenhänge darstellen, also das Ganze nur unter je einer begrenzten, im Gegenstandsbegriff festgehaltenen und entsprechend methodisch verfolgten Hinsicht zu erfassen vermögen. Im Kern hat sich diese aristotelische Einsicht, Wissenschaft (episteme/scientia) als einen dem Modell der cognitio ex principiis folgenden Satzzusammenhang zu verstehen, der aber nur in einer Vielheit solcher Satzzusammenhänge zu realisieren ist, bis heute gehalten. Versuche das Modell einer Einheitswissenschaft auf der Basis der modernen sciences zu re-etablieren, müssen (wie O. Neuraths Vorschlag einer „Einheitswissenschaft“) aufgrund der epistemologischen Probleme oder (wie der neuere ontologische Naturalismus) aufgrund der fragwürdigen metaphysischen Annahmen als gescheitert betrachtet werden. Mit dem pluralistischen Wissenschaftsverständnis aber ist das Desiderat der Interdisziplinariät zwingend verbunden. Schon Aristoteles beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Vielheit der möglichen Wissenschaften nicht als ein Netzwerk verstehen lässt, hat aber die Frage der Anschließbarkeit der Sätze einer bestimmten Wissenschaft an die Sätze einer anderen Wissenschaft nur in Ansätzen behandelt. Dass die Frage der Anschließbarkeit nicht sich selbst überlassen werden kann, hat Gründe: Auch die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Einheitswissenschaft lässt die das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse bestimmende Frage nach dem Ganzen der Welt „What is it all about?“ (A. N. Whitehead) nicht verschwinden. Und auch das Ungenügen an der Tatsache, dass der Wahrheitsanspruch eines Satzes aus der einen Wissenschaft nicht mit dem Wahrheitsanspruch eines Satzes aus der anderen Wissenschaft kompatibel sein soll, macht das Dilemma deutlich, aus dem Inter- oder Transdisziplinarität befreien soll. Mit vergleichsweise geringen Schwierigkeiten ist der Umgang mit diesem Dilemma in den sciences verbunden. Durch die relativ große Einheitlichkeit hinsichtlich der Methode ist die Anschließbarkeit von Erkenntnissen der einen Wissenschaft an die der anderen kein unlösbares Problem. Im gegenwärtigen Forschungs139 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Ludger Honnefelder

zusammenhang hat sie besondere Bedeutung gewonnen, führt doch gerade die Verbindung von Erkenntnissen an den Schnittstellen der Disziplinen zu besonderen Erkenntnisfortschritten. Verständlicherweise hat die szientifisch mögliche Anschließbarkeit von Erkenntnissen verschiedener sciences die Entwicklung von Supratheorien wie der Evolutionstheorie befördert, die erfolgreich die verschiedenen Disziplinen der klassischen Biologie mit der modernen molekularen Genetik und der Paläontologie verbindet. 2 Wie die Entwicklung zeigt, stößt dies auf keine prinzipiellen Probleme, solange die Supratheorie nicht als eine neue alles erklärende Einheitswissenschaft verstanden wird. Freilich werden innerhalb der als Supratheorie reüssierenden Evolutionstheorie (wie auch in anderen Teilen der sciences) bestimmte Grenzen der Anschließbarkeit sichtbar: So erweist sich bislang die biologische Rede von „Funktionen“, die für eine Evolutionstheorie unverzichtbar ist, als wissenschaftstheoretisch nicht „reduzierbar“, d. h. als nicht durch Zurückführung auf physikalische und chemische Prozesse erklärbar. Begriffe wie der Begriff der „Art“ haben bei Verwendung in der klassischen Biologie und in der molekularen Genetik unterschiedliche Bedeutungen. Und auch an etlichen anderen Stellen der sciences (von der Physik bis zur Hirnforschung) ist die vom Ideal szientifischer Erkenntnis geforderte Modellierung der Zusammenhänge bislang nur in Grenzen erreicht. Auf ihre größten Schwierigkeiten stößt die Forderung nach Interdisziplinarität aber, wenn der Bereich der sciences überschritten wird und die wechselseitige Anschließbarkeit der Erkenntnisse der sciences an die der humanities bzw. der Geisteswissenschaften zum Thema wird. Selbst wenn der Widerstreit zwischen Erkenntnissen des einen und Erkenntnissen des anderen Wissenschaftsbereich durch Hinweis auf die Inkommensurabilität der jeweili2

Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher L. Honnefelder, Ist das Genom die ‚Seele‘ eines Lebewesens? Über Reichweite und Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung von Lebewesen, in: Ders., Welche Natur sollen wir schützen? Über die Natur des Menschen und die ihn umgebende Natur, Berlin 2011, 78– 99.

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

gen methodischen Hinsichten entschärft werden kann, bleiben übergreifende Fragen, die nach Antwort verlangen und ein weiterführendes Gespräch der beteiligten Wissenschaften notwendig machen. Ein Beispiel für diese Problemkonstellation ist die Frage nach der Vereinbarkeit von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie. 3

1. Auf den ersten Blick scheinen beide Perspektiven auf die Entstehung des Lebendigen, ja der Welt überhaupt, einander auszuschließen. Denn beide Perspektiven sind durch einen universalen Ausgriff und einen umfassenden Erklärungsanspruch gekennzeichnet und hier wie dort geht es um eine Erklärung des Ganzen und dies durch Zurückführung auf den als maßgeblich betrachteten Ursprung. Dieser Charakter der Fragestellung erklärt auch die beiden Größen eigene Tendenz, sich absolut zu setzen, d. h. dem eigenen universalen Ausgriff eine Alleingültigkeit zuzuordnen, der jeden anderen Ausgriff ausschließt, sei dies in Form eines Evolutionismus bzw. Ultraevolutionismus, der alle Phänomene – auch Moral, Religion, Kunst usf. – abschließend zu erklären beansprucht, sei es in Form eines Kreationismus, der die biblische Schöpfungsgeschichte als wörtlich zu nehmende naturwissenschaftliche Erklärung versteht, was einen Wahrheitsanspruch der dem biblischen Bericht widersprechenden Evolutionstheorie nicht zulässt. Dieser Streit ist nicht neu. Er bestimmt schon die Debatte um die ‚Evolution des Lebendigen‘ vor Darwin und setzt sich im gegenwärtigen Disput fort – bis hin zu gerichtlichen und politischen Auseinandersetzungen. Eben diese alles andere als überzeugenden Extreme führen aber zwangsläufig zu der Frage, ob sich die Wahrheitsansprüche von Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube 3

Vgl. ausführlicher L. Honnefelder, Evolutionstheorie, wie Anm. 1.

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Ludger Honnefelder

bzw. -theologie nicht in einer Weise miteinander verbinden lassen, die den genannten Extremen den Boden entzieht. Die Antwort ergibt sich aus der wissenschaftstheoretisch korrekten Analyse der beiden Perspektiven: Die Evolutionstheorie versteht sich nicht als eine narrative Deutung, sondern als eine naturwissenschaftliche Erklärung. Deren Ziel ist die Erklärung eines Ereignisses oder einer Ereigniskette aus einem allgemeinen Gesetz. 4 Im Fall sogenannter deduktiv-nomologischer (DN-)Erklärungen – so schon das Schema von Hempel und Oppenheim 5 – geschieht dies durch eine stringente Ableitung des Explanandums aus dem jeweiligen Gesetz. Im Fall probabilistischer, d. h. induktiv-statistischer (IS-)Erklärungen hat das erklärende Gesetz nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Nur DN-Erklärungen sind streng deterministisch und lassen Vorhersagen zu, bei indeterministischen IS-Erklärungen ist dies für den Einzelfall nicht möglich. Sind verschiedene Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung notwendig, spricht man von kausalen Modellierungen, die meist ein Patchwork von DN- und IS-Erklärungen sind. Dabei ist zu beachten, dass mit der Deutung der Naturwissenschaft als Suche nach Erklärung in Gestalt der Ableitung eines Explanandums aus einem Explanans auch der Gegenstand bestimmt wird. Denn der durch Angabe einer Regularität zu erklärende Gegenstand, d. h. das Explanandum sind Ereignisse bzw. Ereignisketten, das Explanans sind Gesetzeshypothesen und was die logische Ableitung angibt, ist die nach den entsprechenden Regularitäten verlaufende kausale Verknüpfung der in Frage stehenden Ereignisse (event causality), und zwar so, wie sie sich in der Beobachterperspektive erfassen lässt. 6 4

Vgl. dazu und zum Folgenden B. Falkenburg, Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung, in: D. Sturma (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 43–73. 5 Vgl. C. G. Hempel / P. Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), 135–175. 6 Vgl. näher E. Runggaldier, Personen und diachrone Identität, in: Conceptus. Zeitschrift für Philosophie 26 (1992), 107–123.

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

Die Beschränkung auf die Ereigniskausalität hat zur Folge – und dies ist für die uns beschäftigende Problematik von Bedeutung –, dass die dem naturwissenschaftlichen Erklärungsansatz immanente Tendenz zur Vereinheitlichung und im Idealfall zu einer alle Phänomene umfassenden naturgesetzlichen Erklärung („kausale Geschlossenheit“ bzw. „vollständige nomologische Bestimmtheit der Welt“) auf eine charakteristische Grenze stößt. Sie kann nämlich eine Kausalität nicht erfassen, die sich nur in der Perspektive des Handelnden (agent causality), also in der Perspektive der ersten Person Singular zeigt. Nun sind aber wesentliche Teile unseres lebensweltlichen Umgangs mit der Welt wie Intentionen und Absichten, Ziele und Zwecke – ebenso wie teleologische Erklärungen – allein in der Perspektive des Handelnden, d. h. in der Teilnehmerperspektive zu erfassen. Denn sie setzen eine sog. propositionale Einstellung voraus, insofern sie sich – wie im Fall von Wissen, Wünschen, Glauben u. ä. – intentional auf einen gewussten, gewünschten oder geglaubten Sachverhalt beziehen. Über sie lässt sich nur in einem „Raum der Gründe“ (W. Sellars 7) reden, d. h. im Raum von Motiven, die für das handelnde Ich nicht einfach als Ursachen, sondern aufgrund der Einsicht in ihre Geltung, d. h. als Gründe wirksam werden. Und es ist diese propositionale Einstellung, die auch der naturwissenschaftliche Forscher voraussetzt und voraussetzen muss. Denn wenn er Hypothesen auf ihre Wahrheit prüft und in Bezug auf kausale Erklärungen einen Gültigkeitsanspruch erhebt, folgt er nicht Ursachen, sondern beurteilt in der Perspektive eines handelnden und urteilenden Subjekts (also in der Perspektive der agent causality), ob die Gründe überzeugend sind, aufgrund derer er die jeweilige kausale Erklärung als gültig beurteilt. Es sind also die für die sciences maßgeblichen methodologischen Kriterien, die Vorsicht gegenüber den Versuchen gebieten,

7

Vgl. W. Sellars, Empirismus und die Philosophie des Geistes, Paderborn 1999; vgl. ferner J. McDowell, Geist und Welt, Frankfurt a. M. 2001, 91–111.

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Ludger Honnefelder

unter Berufung auf die Evolutionstheorie eine kausale Erklärung der gesamten Wirklichkeit zu beanspruchen.

2. Mit der wissenschaftstheoretischen Selbstbegrenzung der sciences sind im Gegenzug keineswegs Annahmen wie die des Kreationismus zu rechtfertigen, der die Entstehung der Arten des Lebendigen unmittelbar dem Wirken eines göttlichen Schöpfers zuschreibt. Denn die wörtliche Auslegung des Schöpfungsberichts der Genesis trifft in hermeneutischer Hinsicht gerade nicht die ursprüngliche literarische Intention des Textes, sondern ist eine den Zeitenabstand und die Textgattung außer Acht lassende Interpretation, die den Schöpfungsbericht für eine naturwissenschaftliche Erklärung hält. 8 Selbst die unmittelbare Zuschreibung der in der Evolutionsgeschichte feststellbaren Verbindung von „überbordender Biodiversität und allgegenwärtiger Konvergenz“ 9 an einen göttlichen Designer steht in der Gefahr, die Differenz zwischen dem methodischen Charakter naturwissenschaftlicher Erklärung und dem Sinn des Schöpfungsglaubens nicht hinlänglich in Rechnung zu stellen. Beachtet man aber im Blick auf „Evolution“ wie auf „Schöpfung“ die epistemologische Differenz, unter der ihre Deutungen ihrem Selbstverständnis nach stehen, dann scheint durchaus eine Zuordnung ohne wechselseitige Bestreitung möglich zu sein. An die Stelle eines Verhältnisses der Konkurrenz tritt damit nicht ein Verhältnis der Konkordanz oder Konsonanz, sondern ein solches der Inkommensurabilität. Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie erscheinen als je verschiedene Deutungszusammenhänge, 8

Vgl. dazu ausführlicher H. Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 2009, 49–72. 9 S. C. Morris, Jenseits des Zufalls. Wir Menschen im einsamen Universum, Berlin 2008, 262.

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

die auf unterschiedlichen methodologischen Ebenen spielen und deshalb als miteinander inkommensurabel zu betrachten sind. 10 Dem folgt auch die inzwischen gleichsam zum wissenschaftstheoretischen Standard gewordene Zuordnung, wie sie etwa in einer päpstlichen Erklärung von 1996 zum Ausdruck kommt, 11 wenn es dort heißt, dass „neue Erkenntnisse dazu Anlass (geben), in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen“ und ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass „Entdeckungen in unterschiedlichen Wissensgebieten“ der Naturwissenschaften zu einem „unbeabsichtigten und nicht gesteuerten Übereinstimmen von Forschungsergebnissen“ geführt habe, das „schon an sich ein bedeutsames Argument zugunsten dieser Theorien (der Evolution) dar (stellt)“. Als „Theorie“ wird dabei eine „Erarbeitung“ verstanden, in der „ein Komplex voneinander unabhängiger Daten und Fakten in einen Zusammenhang gebracht und interpretiert werden“. Eine so verstandene naturwissenschaftliche Theorie – so die Erklärung – widerspricht dem Schöpfungsglauben nicht im Unterschied zu „materialistisch-reduktionistischen“ als auch „spiritualistischen“ Deutungen dieses naturwissenschaftlichen Befundes, die – so wird betont – den Umkreis naturwissenschaftlicher Aussagen überschreiten und deshalb „in die Kompetenz der Philosophie und darüber hinaus der Theologie“ fallen.

10

Zu den verschiedenen Zuordnungsebenen von Evolutionstheorie und Schöpfung vgl. M. Seckler, Was heißt eigentlich Schöpfung? Zugleich ein Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, in: J. Dorschner (Hg.), Der Kosmos als Schöpfung. Zum Stand des Gesprächs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Regensburg 1998, 209 f. 11 Vgl. Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien. Botschaft von Papst Johannes Paul II. an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anlässlich ihrer Vollversammlung am 22. 10. 1996.

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Ludger Honnefelder

3. Hat aber die damit festgestellte Inkommensurabilität der beiden Perspektiven nicht jede Interdisziplinarität unmöglich gemacht oder zumindest erübrigt? Wenn es zutrifft, dass der Mensch das Wesen ist, das wissen will und dieses Wissen-wollen in der Frage „What is it all about?“ kulminiert, können die beiden skizzierten Perspektiven nicht das letzte Wort sein. Denn ihre Antworten lassen ungeachtet der methodologischen Inkommensurabilität Fragen entstehen, die über die je eigene Perspektive auf die jeweils andere verweisen. In diesem Sinn spricht M. Seckler von einer durch die Frage nach dem Ganzen ausgelösten, die beschriebene methodologische Differenz durchaus wahrenden „strukturellen Interferenz“ 12 der beiden Perspektiven. So impliziert die Evolutionstheorie Fragen, die sie aufgrund der methodologischen Selbstbegrenzung der Naturwissenschaften zwangsläufig unbeantwortet lassen muss, die aber zu stellen die intellektuelle Selbstvergewisserung nicht umhin kann. Seckler verdeutlicht diese Fragen an der Person J. Keplers, den die Ergebnisse seiner Forschungen mit solcher Bewunderung erfüllen, dass ihm „die Inhalte seiner Wissenschaft … zugleich Inhalte einer Glaubenserfahrung (wurden)“ 13, ohne dass damit die Autonomie der naturwissenschaftlichen Forschung von ihm in Frage gestellt wurde. In der Perspektive der Schöpfungstheologie wird hier der auf der naturwissenschaftlichen Ebene gewonnene Befund auf einer zweiten Ebene gedeutet, ohne damit einen Begründungsanspruch in der ersten Ebene zu erheben. Eine solche Relevanz begegnet auch, wenn bei nicht wenigen Forschern die Feinabstimmung der kosmischen Konstanten, wie sie die Ausgangskonstellation der Evolution bestimmt und zu einer erstaunlichen Konvergenz der Entwicklung in unabhängig voneinander verlaufenden Strängen der Evolution führt, zu Fra12 13

Seckler, Schöpfung, 208. Vgl. ebd., 205.

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

gen veranlasst, die sich intellektuell aufnötigen, naturwissenschaftlich aber nicht beantworten lassen. Es ist das „erfolgreiche Zusammenspiel dieser vielen Bedingungen“ und nicht die Annahme von göttlichen Eingriffen in das Evolutionsgeschehen, das – so die Feststellung des Naturwissenschaftlers P. Schuster – den „Raum für einen Brückenschlag zwischen Theologie und Naturwissenschaft“ 14 öffnet. Auch der Schöpfungsglaube und seine theologische Deutung verweisen über sich hinaus, entspringt doch der Schöpfungsglaube der abrahamitischen Religionen der Frage, was es mit der uns umgebenden Welt und unserem Ort in ihr auf sich hat. 15 Wie die beiden Schöpfungstexte in der Bibel deutlich machen, 16 versucht der Schöpfungsglaube in der Erfahrung der Endlichkeit, der Vergänglichkeit und der Kontingenz des Woher und Wohin, aber auch der Schönheit und Harmonie der umgebenden Natur, Orientierung und Daseinssinn zu vermitteln, indem er den in der Geschichte erfahrenen Bundesgott als den universalen Ursprung von allem wahrnimmt. Durch die Einheit dieses universalen Gottes wird die Wirklichkeit der Welt als eine Einheit erfahren, zu der sich dieser Gott im Modus der Transzendenz und zugleich Immanenz verhält. Er zeigt sich als der bleibende „Urgrund von allem“ (I. Kant 17), der aus vollkommener Freiheit das Geschaffene in dessen Eigenes freisetzt und es zugleich bleibend trägt. Die Welt wird entdivinisiert und zugleich als Teil einer auf Vollendung offenen Heilsgeschichte begreiflich. 14

P. Schuster, Evolution und Design. Versuch einer Bestandsaufnahme der Evolutionstheorie, in: S. O. Horn / S. Wiedenhofer (Hg.), Schöpfung und Evolution. Eine Tagung mit Papst Bendikt XVI. in Castel Gandolfo, Augsburg 2007, 25–56, 56. – vgl. in diesem Sinn auch Morris, Jenseits des Zufalls (wie Anm. 17), 245–263. 15 Vgl. Seckler, Schöpfung, 191 f.; Kessler, Evolution, 58 f. 16 Vgl. dazu und zum Folgenden näher Seckler, Schöpfung, 183–204; Kessler, Evolution, 117–143; S. Wiedenhofer, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie. Unterscheidung und Schnittpunkt, in: Horn / Wiedenhofer, Schöpfung, 165– 189. 17 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad.-Ausg. III, A 641 / B 669.

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Ludger Honnefelder

Schon Augustinus wusste um diesen religiösen Sinn der Schöpfung, wenn er feststellt: „In der Bibel liest man nicht, der Herr habe gesagt: Ich sende euch den Heiligen Geist, damit er euch den Lauf der Sonne und des Mondes lehre. Christen wollte er bilden, nicht Astronomen“. 18 In ähnliche Richtung geht das Galilei zugeschriebene Diktum, dass die Naturwissenschaft nicht erforschen will, wie man in den Himmel kommt, sondern wie die Himmel funktionieren. 19 Dass der genuin religiöse Charakter des Schöpfungsglaubens eine wohl zu verstehende ontologische Aussage enthält, zeigt sich am ausdrücklichen Verzicht des ersten Glaubensartikels („Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde“) auf die im Genesistext enthaltene Erwähnung „im Anfang“ („Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“). Der Glaubensartikel bezieht sich offensichtlich auf ein Gottesprädikat, nämlich die Eigenschaft Gottes der bleibende Ursprung von allem zu sein, nicht auf eine temporale Aussage wie die vermeintliche Aussage, Gott habe zu einem bestimmten Punkt in der Zeit ursächlich gewirkt. 20 Gott wird durch den Glaubensartikel nicht bestimmt als die erste Ursache in einer Kette von Ursachen, sondern als der Grund der ganzen Kette. 21 Es geht nicht um die Ursachen einer innerweltlichen Abfolge von Ereignissen, sondern um eine „Gründungssrelation transtemporaler Art“, nämlich um die Annahme, dass alle Wirklichkeit ihren bleibenden Grund in Gott hat. 22 In diesem Sinn versteht schon Thomas von Aquin im Anschluss an die von Albertus Magnus getroffene Unterscheidung zwischen generatio und creatio 23 „Schöpfung“ als eine Aussage über die Grundverfasstheit der Welt, nämlich über ihre Abhängig18

Augustinus, Contra Felicem Manichaeum 1, 10 (PL 42), 525. Vgl. Seckler, Schöpfung, 210. 20 Vgl. ebd., 200 ff. 21 Vgl. Kessler, Evolution, 100. 22 Seckler, Schöpfung, 201. 23 Vgl. Albertus Magnus, Physica VIII, tr. 1, c. 13 (ed. Coloniensis 4/2), 574– 577. 19

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Überlegungen mit Blick auf Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie

keit von einem transzendenten Ursprung, die – wie er bezeichnenderweise feststellt – auch unter der Annahme einer zeitlich ewigen Welt ihren Sinn behält. 24 Wenn aber Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie je genuine Weisen der Erfahrung sind, in denen sich der Mensch wissend und nach Orientierung suchend auf das Ganze der Welt bezieht, und die sich wie methodisch je autonome Subsysteme unserer Welterhellung und Daseinsauslegung auf die eine Wirklichkeit beziehen, gibt es Grund, es nicht bei der Feststellung der Inkommensurabilität der methodischen Perspektiven zu belassen, sondern unter Wahrung der methodologischen Differenz Modelle des Dialogs bzw. der Interaktion der Perspektiven zu entwickeln, mit deren Hilfe sich im Horizont der einen Perspektive der Ort für die Fragestellung der jeweils anderen angeben lässt und die es erlauben, die auf die Sachfragen bezogene reziproke Relevanz der Perspektiven zum Thema zu machen. 25

24

Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, 15–19; Ders., De aeternitate mundi. 25 Vgl. dazu näher Seckler, Schöpfung, 204–213.

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Kurzschlüsse oder fruchtbare wechselseitige Irritationen – Begegnungen von Mathematik und Theologie bei Nikolaus von Kues und Georg Cantor Gregor Nickel Die Vielheit, die sich nicht zur Einheit zusammenschließt, ist Verwirrung; die Einheit, die nicht von der Vielheit abhängig ist, ist Tyrannis. Blaise Pascal: Pensees 871

1. Typen von Interdisziplinarität – einige Vorüberlegungen und Beobachtungen Je nach Abstand des Betrachters treten die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen mal deutlicher, mal weniger deutlich hervor. Ist man extrem nah am Geschehen, so können ‚Disziplingrenzen‘ bereits zwischen dem eigenen und dem Nachbarbüro auftreten. Dass dies nicht nur an persönlichen Animositäten liegen muss, sondern auch durch inhaltliche Verständigungsschwierigkeiten begründet sein kann, möge für den Bereich der Mathematik exemplarisch belegt werden. Hier führt die extreme Ausdifferenzierung der Subdisziplinen dazu, dass nicht einmal innerhalb dieser eine wechselseitige Gesprächsfähigkeit selbstverständlich ist; so beginnt etwa John Conway das Vorwort zu seinem weit verbreiteten Lehrbuch der Funktionalanalysis folgendermaßen: „Functional analysis has become a sufficiently large area of mathematics that it is possible to find two research mathematicians, both

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Kurzschlüsse oder fruchtbare wechselseitige Irritationen

of whom call themselves functional analysts, who have great difficulty understanding the work of the other.“ 1

Im anderen Extremfalle, also in größtem Abstand, z. B. in der Überflughöhe eines Niklas Luhmann, könnte man das gesamte Wissenschaftssystem mit einem einzigen code gemäß der Leitunterscheidung ‚wahr-falsch‘ beobachten und arbeiten sehen. Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen wären dann gar nicht mehr zu erkennen und die Wissenschaft als Ganze wäre gleichzeitig maximal interdisziplinär – weil alle Disziplinen einen einzigen, gemeinsamen code teilen und an einem einzigen riesigen Wissensbestand arbeiten – und minimal interdisziplinär – weil überhaupt keine verschiedenen Disziplinen mehr unterscheidbar sind, die miteinander arbeiten könnten. Eine strenge Definition wissenschaftlicher Disziplinen ist also problematisch und zudem noch durch damit verbundene wissenschaftspolitische Machtund Ressourcenansprüche belastet. Eine Definition soll an dieser Stelle auch gar nicht versucht werden, sondern zunächst relativ pragmatisch – mit Blick auf die Möglichkeiten zur Kooperation – danach gefragt werden, ob und in welchem Umfang man in der Lage ist, auf wissenschaftlichem Gebiet im weitesten Sinne miteinander zu sprechen. Gefragt ist also, ob man unter anderem das gleiche Vorwissen teilt, das gleiche oder ein ähnliches ‚Vokabular‘, d. h. die gleichen inhaltlichen und methodischen Selbstverständlichkeiten – was auch argumentative Regeln für den Umgang mit Dissens einschließt. Erst wenn in dieser Hinsicht Schwierigkeiten bemerkbar würden, stünde eine Kooperation über ‚Disziplingrenzen‘ hinweg zur Disposition. Grundlegend unterschiedliche (normative) Konzepte disziplinärer Abgrenzung lassen sich allerdings bereits zu Beginn der 1

J. B. Conway, A Course in Functional Analysis, New York 1990, p. vii. Zum Problem der Verständigungsschwierigkeiten innerhalb der Mathematik vgl. auch G. Nickel, Mathematik – die (un)heimliche Macht des Unverstandenen, in: M. Helmerich u. a., Mathematik verstehen. Philosophische und didaktische Perspektiven, Wiesbaden 2011, 47–58.

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Neuzeit finden. Ganz auf der Linie Luhmanns propagiert René Descartes (1596–1650) eine einzige, universale wissenschaftliche Disziplin; mögliche Schwierigkeiten der Kooperation könnten nach Descartes durch einen methodischen Monismus überwunden werden, gleich in regula I heißt es: „Man muß also überzeugt sein, daß alle Wissenschaften so miteinander verknüpft sind, daß es viel leichter ist, sie alle gemeinsam zu erlernen, als eine einzelne von den anderen abzutrennen.“ 2

Aber schon sein Zeitgenosse Blaise Pascal (1623–1662) weist mit Nachdruck und explizit gegen Descartes darauf hin, dass die einzelnen Wissenschaften auf ganz unterschiedlichen und miteinander inkompatiblen Prinzipien beruhen und er warnt nachdrücklich davor, die jeweiligen Einsatzbereiche zu verwechseln: „Und so ist es selten, daß die Mathematiker feinsinnig und die feinsinnigen Köpfe Mathematiker sind, weil die Mathematiker die Fragen des Feinsinns mathematisch behandeln wollen und sich lächerlich machen, wenn sie mit Definitionen beginnen wollen (…) Im Gegensatz hierzu verschlägt es den Feinsinnigen, die so daran gewöhnt sind, mit einem Blick zu urteilen, derart den Atem, – wenn man ihnen Lehrsätze vorlegt, von denen sie nichts verstehen und wo man, um einzudringen, erst die so unfruchtbaren Definitionen und Prinzipien durchschreiten muß, die sie so genau zu sehen nicht gewohnt sind.“ 3

Die Problematik von wechselseitig inkompatiblen Prinzipien in Mathematik und „Feinsinn“, die Pascal hier anspricht, ist allerdings deutlich anders geartet, als die von Conway vermerkten Sprachschwierigkeiten innerhalb der mathematischen Subdisziplin Funktionalanalysis. In diesem Sinne würde ich vorschlagen, neben dem cartesianischen Monismus noch eine homogene von einer heterogenen Interdisziplinarität idealtypisch zu unterschei2

R. Descartes, Regulae ad Directionem Ingenii, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. (Übers. L. Gäbe), Hamburg 1973, 5, AT X, 361. 3 B. Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). (übers. E. Wasmuth), Berlin 21940, 16 f.

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den, bzw. ein quantitatives von einem qualitativen Kooperationsproblem. Wenn also auf der einen Seite zwei oder mehrere Disziplinen auf gleichen oder zumindest grundsätzlich und weitgehend kompatiblen Forschungsmethoden basieren und die Resultate verlustfrei ineinander übersetzbar sind, wenn die Argumentationsmethoden und Wertungen wechselseitig akzeptiert sind und die Schwierigkeit gemeinsamer Arbeit lediglich darin liegt, dass das Vorwissen extrem ausdifferenziert ist und jeweils nur bei einem Teil der Kooperationspartner vorhanden ist, so würde ich von einem rein quantitativen Problem und von homogener Interdisziplinarität sprechen. ‚Im Prinzip‘ könnte also das vorhandene Wissen schlicht zusammengeführt werden, de facto kann die angestrebte Kooperation jedoch durchaus am Zeitfaktor scheitern. Betrachtet man die gesamte Wissenschaft als auf lediglich homogene Weise multidisziplinär, so erhält man wiederum Descartes’ Konzeption. Werden auf der anderen Seite Blickrichtung und Methodik der beteiligten Disziplinen als grundlegend verschieden angesehen, ist u. U. zunächst eine mühsame Verständigung über deren Legitimität und Reichweite nötig, so möchte ich von heterogener Interdisziplinarität sprechen; die Kooperation steht dann vor qualitativen Problemen. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Falle die Frage, wodurch und auf welcher Ebene die beteiligten Disziplinen einen gemeinsamen Diskursrahmen finden, auf welche gemeinsame Einheit die Kooperation bezogen wird. Dies kann ein außerwissenschaftliches Handlungsfeld sein, eine soziale oder technische Problematik, die teilweise ziemlich klare und handfeste Kriterien für die Qualität von Lösungen vorgibt. Es kann aber auch um den Versuch eines gemeinsamen, besseren Verstehens eines innerwissenschaftlichen Themas gehen, wie immer dieses Verstehen sich genauerhin ausweisen lässt. Eine häufige und häufig unterschätzte Variante von Interdisziplinarität ist gar nicht in erster Linie auf Kooperation im engeren Sinne angelegt; sie besteht vielmehr in einer ‚wechselseitigen fruchtbaren Irritation‘. Hierbei wird gar nicht primär nach einem 153 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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gemeinsamen Verständnis gesucht; die unterschiedlichen Beschreibungen bleiben kontrastierend und unvermittelt nebeneinander stehen. Die ‚Fremderfahrung‘ der anderen Disziplin oder auch der Versuch, die eigene Sicht ‚nach außen hin‘ zu erklären, kann jedoch nach Rückkehr in den Rahmen der eigenen Disziplin dazu führen, dass die Thematik auch unter Berücksichtigung der eigenen methodischen Standards anders als zuvor behandelt wird. Dieses Phänomen werden wir im folgenden für die – zumindest prima facie – hinreichend klar voneinander unterscheidbaren Disziplinen Theologie und Mathematik exemplarisch diskutieren. 4 Dabei werde ich zwei Denker vorstellen, die jeder für sich in bemerkenswerter Weise Mathematisches und Theologisches aufeinander beziehen: Georg Cantor (1845–1918), eine der zentralen Figuren der Mathematik an der Schwelle zur Mathematischen Moderne, und Nikolaus von Kues (1401–1464), einen Theologen, Philosophen und Kirchenführer, aber auch Mathematiker an der Schwelle zur Neuzeit. Dabei fallen zunächst bemerkenswerte Parallelen ins Auge – bei allem zeitlichen Abstand. So steht für beide der Unendlichkeitsbegriff im Zentrum ihres Interesses. Das ist insofern nicht allzu überraschend, als dieser einerseits von zentraler Bedeutung für die abendländische Metaphysik, und damit zwangsläufig auch für jede Theologie ist, die sich mit dieser in ein Benehmen setzen will. Und andererseits arbeitet die Mathematik seit der griechischen Antike daran, diverse ‚Unendlichkeitsphänomene‘ zu beherrschen. 5 Zudem zeichnet beide ein produktiver Umgang mit begrifflichen Widersprüchen aus, bei Cusanus mit der Figur der coincidentia oppositorum explizit begrifflich, bei Cantor eher implizit pragmatisch. Auch wenn beide sowohl auf mathematischem wie auf theologischem bzw. metaphysischem 4

Vgl. dazu auch den Beitrag von Florian Bruckmann in diesem Band. Dabei ist natürlich sorgfältig darauf zu achten, dass hierbei nicht eine schlichte Äquivokation ganz verschiedener Konzepte in Theologie und Mathematik unterläuft; was also „unendlich“ im jeweiligen Kontext bedeuten soll, bzw. welche Funktionen der Unendlichkeitsbegriff jeweils übernimmt, ist sehr genau zu beachten.

5

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Feld arbeiten, sind die Überlegungen Cantors wohl nur für die Mathematik von Bedeutung; dort sind sie allerdings bahnbrechend. Cusanus ist umgekehrt für die Philosophiegeschichte von allergrößter Bedeutung, für die Entwicklung der Mathematik dagegen ist er eher nur ein Impulsgeber. Es ist gleichwohl interessant, bei beiden Denkern die Funktion der jeweiligen ‚Nebendisziplin‘ für die Überlegungen in ihrer ‚Hauptdisziplin‘ zu beobachten. Auch wenn es hierbei keine direkte Hilfestellung oder gar eine einfache Übertragung von Resultaten gibt, so wäre doch Cantors mathematische Mengentheorie ohne ihren metaphysischen bzw. theologischen Hintergrund kaum in dieser Weise entstanden. Und ebenso hätte die Philosophie des Cusanus ohne die integrierte ‚Erfahrung Mathematik‘ sicherlich eine ganz andere Gestalt. Da ich im folgenden historische Positionen – wenn auch in systematischer Absicht – diskutieren werde, soll zuvor noch auf eine spezielle Form unvermeidlicher Interdisziplinarität hingewiesen werden, nämlich auf Wissenschaftsgeschichte und -philosophie. Hier ist der Gegenstand eine (natur)wissenschaftliche Disziplin oder die Mathematik mit ihren jeweils eigenen gegenstandsbezogenen Interessen, methodischen Standards und Wertungen. Die Untersuchungs- und Beschreibungsmethode ist demgegenüber eine historische oder systematisch-philosophische. Das Vorgehen erfordert also (mehrfache) Perspektivwechsel von einer ‚Innensicht‘ der beobachteten Disziplin zur historischen oder philosophischen ‚Außensicht‘. Gelingen diese Wechsel nicht, so entsteht im Falle einer einseitigen Dominanz der disziplinären Perspektive eine wenig bedeutsame zeitliche Aneinanderreihung von wissenschaftlichen ‚Resultaten‘. Ist die fachliche Perspektive dagegen unterrepräsentiert, so kann die Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin nur durch wissenschaftsexterne Motivationen und Kräfte beschrieben und damit allenfalls in einem deutlich eingeschränkten Sinne verstanden werden. Als interdisziplinäres Moment kommt für die historische Forschung noch hinzu, dass die 155 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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heutige Abgrenzung von Disziplinen und Subdisziplinen u. U. in der historischen Situation (noch) gar nicht relevant waren oder sogar explizit negiert wurden (so bei Nikolaus eine Grenze zwischen Philosophie und Theologie). 6

2. Zur Dialogfähigkeit und -bedürftigkeit der Mathematik Ich möchte meine Überlegungen 7 mit einer Anekdote beginnen, die im 18. Jahrhundert am St. Petersburger Hofe spielt. 8 Leonhard Euler (1707–1783), einer der größten Mathematiker des 18. Jahrhunderts, kam dort mit Denis Diderot (1713–1784), dem Wortführer der französischen Aufklärung, zusammen. Man stellte Euler dem amüsanten Atheisten Diderot als einen Mann vor, der einen algebraischen Beweis für die Existenz Gottes gefunden habe. Mit unbewegtem Gesicht habe Euler daraufhin gesagt: n

Þ „Monsieur, es ist ðaþb ¼ x, also existiert Gott; antworten Sie!“ n Der eloquente Diderot sei sprachlos gewesen, wurde von allen ausgelacht und reiste eilends nach Frankreich zurück.

In der Tat kann ein mathematisches Argument innerhalb einer theologischen Debatte solch eine einschüchternde Wirkung entfalten. Dabei macht sich der Mathematiker ein merkwürdiges Paradox zu Nutze: Auf der einen Seite ist die mathematische Formel, Rechnung oder Argumentation für den Opponenten vollständig undurchsichtig, auf der anderen Seite verspricht sie jedoch eine (wenigstens im Prinzip) mögliche, absolute Transparenz. So kommt der verzweifelt um Einsicht bemühte und scheinbar nur 6

Vgl. V. Peckhaus / Ch. Thiel (Hg.), Disziplinen im Kontext, München 1999. Die folgenden Abschnitte sind eine überarbeitete und erweiterte Fassung von G. Nickel, Widersprüche und Unendlichkeit – Beobachtungen bei Nikolaus von Kues und Georg Cantor. Siegener Beiträge zur Geschichte und Philosophie der Mathematik 1 (2013), 1–22. 8 Vgl. H. Heuser, Lehrbuch der Analysis 2, Stuttgart 1986, 682. 7

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mit der eigenen Dummheit kämpfende Diskursgegner gar nicht dazu, die Gültigkeit des Arguments zu prüfen oder gar die Legitimität, überhaupt Mathematik einzusetzen. Der Mathematiker hat dann natürlich ein gewonnenes Spiel. Die hier anekdotisch geschilderte Situation ist tatsächlich nicht untypisch; das wechselseitige Gespräch von Mathematik und Theologie, wenn es denn überhaupt stattfindet, ist allzu häufig geprägt durch ein weitgehendes gegenseitiges Unverständnis. Zudem scheint eine Bezugnahme ganz offenbar weder seitens der Mathematik noch seitens der Theologie nötig zu sein. Wohl kaum ein mathematischer Beweis schließt an Stelle von q.e.d. mit „Amen“ oder „so wahr mir Gott helfe!“, und die meisten theologischen Werke sind – abgesehen von der Verwendung von Seitenzahlen – gänzlich mathematikfrei. Beide Fächer kommen sehr gut ohne einander aus, und ein produktives Gespräch zwischen beiden Disziplinen ist eine nur äußerst selten glückende Ausnahme. Mit Bezug auf die Mathematik lässt sich dieser Befund noch verschärfen; im Kontext mathematischer Forschung kommen auch philosophische Fragen – und sogar noch radikaler: nicht-mathematische Fragen überhaupt – in der Regel nicht in Betracht. Mathematik zeichnet sich als Wissenschaft durch einen extremen Grad an Autarkie aus. Diese Behauptung widerspricht möglicherweise der durchaus gängigen Auffassung, die Mathematik sei von Hause aus eine Geisteswissenschaft, ihre Gegenstände seien gleichsam ‚nicht ganz von dieser Welt‘ und somit sei sie unmittelbar auch mit metaphysischen Fragen beschäftigt. 9 Daran ist zu9

Die entgegengesetzte Subsumption, Mathematik sei eine Naturwissenschaft, findet man allerdings nicht weniger häufig: sie stelle schließlich die Theoriesprache der Naturwissenschaft dar – oder sie sei sogar die „Sprache der Natur“ selbst. Diese letztere, ebenso schlichte wie unberechtigte Position verweist auf die allerdings berechtigte und schwierige Frage, inwiefern sich die „Natur“ tatsächlich mathematisch beschreiben lässt (vgl. hierzu G. Nickel, Mathematik und Mathematisierung der Wissenschaften – Ethische Erwägungen, in: J. Berendes, Autonomie durch Verantwortung, Paderborn 2007, 319–346.). An dieser Stelle konzentrie-

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nächst nur soviel richtig, dass die Mathematik – vermutlich am besten als Strukturwissenschaft charakterisiert – eine Sonderstellung in der üblichen Einteilung von Natur- und Geisteswissenschaften einnimmt. 10 Einerseits arbeitet sie (wie die Geisteswissenschaften) typischerweise nicht experimentell, andererseits stellt sich ihr kein hermeneutisches Interpretationsproblem, geschweige denn drängten sich ihr genuin philosophische Fragen auf. Die wissenschaftliche Disziplin Mathematik kommt im normalen Forschungsalltag weitestgehend ohne eine (philosophische) Begründung ihrer Prinzipien aus, es genügt, die vorausgesetzten ‚Spielregeln‘ (oder ‚Rechenregeln‘) so explizit und unmissverständlich wie möglich zu formulieren und dann mit dem gewohnten Konstruieren, Definieren, Behaupten und Beweisen zu beginnen. 11 Offen bleibt dabei allerdings die berechtigte Frage, „(…) ob sich das mathematische und das wissenschaftliche Denken selbst im Rahmen derjenigen Methoden oder Denkwege angemessen (…) bedenken und begreifen lässt, welche die Wissenschaft bzw. das Wissenschaftliche auszeichnen. Dazu gehört zunächst das (…) axiomatisch-deduktive Denken, Rechnen und Schließen der Mathematik.“ 12

Völlig zu Recht weist Pirmin Stekeler-Weithofer darauf hin, dass eine solche reflektierende Selbstbezugnahme der positiven Wissenschaften, aber auch der Mathematik bislang nicht erfolgt ist ren wir uns jedoch auf die „reine“ Mathematik und blenden die Frage der (naturwissenschaftlichen) Anwendung aus. Immerhin sei noch angemerkt, dass man ausgehend von den naturphilosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, vor allem mit seinem Konzept der Mutmaßung, coniectura, eine deutlich subtilere Antwort geben könnte als durch einen Verweis auf die bekannte, naive Behauptung Galileo Galileis. 10 Diese Einteilung wiederum ist ähnlich diffizil wie diejenige in Disziplinen (vgl. Nickel, Mathematik). 11 Vgl. G. Nickel, Vorausgesetzt, ein Beweis überzeugt – Aspekte mathematischen Denkens, in U. Lüke / G. Souvignier (Hg.), Wie objektiv ist Wissenschaft? Darmstadt 2017. 12 P. Steleker-Weithofer, Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes, Tübingen 2012, 5.

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und vermutlich grundsätzlich nicht erfolgen kann. Dabei ist m. E. offensichtlich, dass in den positiven Wissenschaften, insbesondere in den Naturwissenschaften eine solche Grundlagenreflexion systematisch ausgeblendet wird. Zwar gibt es gerade vor Paradigmenwechseln eine Analyse und Verschiebung der Grundbegriffe naturwissenschaftlicher Theorie und experimenteller Praxis – wie etwa in der Kritik des Raum- und Zeitbegriffs durch Albert Einstein (1879–1955). Allerdings bleiben auch die tiefgehenden naturwissenschaftlichen Revolutionen jeweils innerhalb des mathematisch-experimentellen Rahmens. Die Physik stellt also nicht die Frage, was eigentlich Physik sei, und könnte dann versuchen diese Frage mit physikalischen Methoden zu beantworten. Es wäre in der Tat ungereimt, ein Experiment zu fordern, das über die Zulässigkeit der experimentellen Methode entscheidet. Sehr klar drückt der Philosoph Georg Picht (1913–1982) diese Situation aus: „Die Naturwissenschaftler können ihre Forschungen nur deshalb betreiben, weil sie seit Galilei beschlossen haben, die unermeßlich schwierige Frage, was sie zu ihren Erkenntnissen befähigt, auszuklammern. Sie fragen nicht nach der Natur überhaupt, weil sie entdeckt haben, daß der Verzicht, diese Frage zu stellen, ihnen Spielraum gibt, sich unbefangen der Erforschung der Phänomene innerhalb der Natur zu widmen.“ 13

Die Mathematik steht nun allerdings in Bezug auf ihre Reflexionsfähigkeit auf merk-würdige Weise zwischen positiver Wissenschaft und Philosophie. So findet zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine vehemente Debatte über die Grundlagen der Mathematik statt (dies gilt mutatis mutandis etwa auch für die Physik). Dass eine solche Debatte institutionell innerhalb einer Disziplin angesiedelt ist, bedeutet für den Diskurs allerdings noch 13

G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Stuttgart 1990. Seine Analyse zeigt, dass die Trennung der Disziplinen wesentlich durch die „Unvereinbarkeit des Determinismus der Naturwissenschaft mit dem Freiheitsbegriff der Geisteswissenschaft verursacht worden“ ist (a. a. O., 25).

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lange nicht, dass dieser auch methodisch bzw. sprachlich nach den Regeln der Disziplin verläuft, ja überhaupt nur ablaufen könnte. Und es ist den beteiligten Mathematikern in der Regel bewusst (und teilweise durch den Publikationsort auch explizite markiert), dass ihr Beitrag einen philosophisch argumentierenden, häufig auch normativen Charakter trägt, und gerade nicht innerhalb des mathematisch-beweisenden Diskurses erfolgt. In der mathematischen Grundlagendebatte gelingt es jedoch auf spezifische Weise darüber hinausgehend, gewisse Aspekte dieser Debatte mathematisch zu formalisieren und so auf mathematischer Ebene zu formulieren und zu behandeln. Ausgangspunkt der Entwicklung ist die Frage nach einer Sicherung der mathematischen ‚Grundlagen‘, die nach dem Aufkommen der nicht-euklidischen Geometrien und verstärkt durch Probleme bei der mengentheoretischen Begriffsbildung auf die Agenda gerückt war. Der sicherlich prominenteste programmatische Vorschlag geht auf David Hilbert (1862–1943) zurück: Er schlägt eine Zweiteilung der Mathematik vor. Einerseits solle die gehaltvolle Mathematik (einschließlich der logischen Schlussregeln und der transfiniten Begriffe namentlich der Mengenlehre) strikt formalisiert werden. Diese dann als reines Zeichen-Spiel aufgefasste, formale Mathematik sei so der Notwendigkeit enthoben, ihre Begriffe – etwa durch anschaulichen Aufweis – rechtfertigen zu müssen. Die ‚Seriosität‘ der formalen Mathematik solle dann auf der Ebene der „Metamathematik“ nachgewiesen werden. Basierend auf anschaulicher Evidenz (u. a. der Klarheit und Eindeutigkeit des gelingenden Zeichenerkennens) soll die Metamathematik zeigen, dass die formalen Ableitungen nie auf einen Widerspruch führen werden. 14 Bereits hier übersetzt Hilbert das inhaltlich bedeutsame Phänomen des Widerspruchs in eine mathematische Formel, bei14

Zudem soll die für die jeweilige mathematische Subdisziplin verwendete Axiomatik vollständig (jeder sinnvoll formulierbare Satz des axiomatischen System oder seine Negation soll ableitbar sein) und unabhängig sein (keines der Axiome ist aus den übrigen ableitbar).

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spielsweise die Konjunktion zweier Gleichungen (a=b und a6¼b). 15 Dass sich eine solche strikte Trennung von formaler Mathematik und inhaltlicher Metamathematik jedoch nicht so einfach durchhalten lässt, zeigen die Arbeiten von Kurt Gödel (1906–1978), dem es gelingt, metamathematische Prädikate wie die Beweisbarkeit oder die Widerspruchsfreiheit zu formalisieren. Anders ausgedrückt, wird ein (aus der Sicht der Metamathematik als bedeutsam beurteilter) Prozess innerhalb der Mathematik (etwa ein Beweis) zu einem formalen mathematischen Objekt, das wiederum mittels mathematischer Methoden untersucht werden kann. Selbstverständlich nimmt Gödel seinerseits dabei einen vormathematischen (u. a. sprachlichen) Bezugsrahmen in Anspruch, worauf Stekeler-Weithofer zurecht hinweist. 16 Es scheint mir jedoch bemerkenswert, dass hier – passend interpretiert! – eine mit mathematischer Methode erarbeitete Aussage über die Reichweite der mathematischen Methode vorliegt. Diese ist dann allerdings negativ: Für ein (hinreichend reichhaltiges) formales System kann die Widerspruchsfreiheit (und auch die Vollständigkeit) gerade nicht gezeigt werden. Die Rechtfertigung der mathematischen Methode kann also – auch mittels einer (hinreichend nahe am Mathematischen operierenden) metamathematischen Methode – nicht gelingen. Aber dies kann ‚gerade noch so‘ auf formale Weise gezeigt werden. Im Laufe der Zeit gelingt es sogar, diese Thematik als Subdisziplin der Mathematik zu etablieren. Mittlerweile konnten so die ‚working mathematicians‘ zur Tagesordnung übergehen, weitgehend unberührt von den Spezialproblemen dieser Grundlagenfächer. Anstatt die „unermesslich schwierige“ Frage nach 15

Da im Rahmen der formalisierten Logik die allgemeine Regel ex falso quodlibet gilt, spielt es gar keine Rolle, welcher spezielle Widerspruch ableitbar ist. Denn dann wäre jeder andere ebenfalls ableitbar. 16 Einen unkonventionellen Einstieg in den mathematischen Kalkül nimmt George Spencer Brown; dessen Grundlagenwerk analysiert Martin Rathgeb sowohl aus mathematisch-technischer wie aus philosophischer Perspektive, vgl. ders., George Spencer Browns Laws of Form zwischen Mathematik und Philosophie. Gehalt – Genese – Geltung, Siegen 2016.

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ihrer Erkenntnisbefähigung ganz auszublenden, kann sie aber doch innerhalb der Mathematik hinreichend entschärft werden: „[D]ie bekannten Axiomensysteme […] gelten heute bei den Mengentheoretikern als widerspruchsfrei. […] Wie tragfähig ist diese Basis? Ihre Widerspruchsfreiheit ist nicht beweisbar; wir können nur intuitive Argumente für sie ins Feld führen.“ 17

Und diese genügen, um ohne weitere Rückversicherung Mathematik zu betreiben. Die Reflexionsfähigkeit der Mathematik geht also um ein Weniges über die bereits von Platon markierte Grenze hinaus (im Gegensatz zu den positiven Wissenschaften einerseits und der Philosophie andererseits). 18 Auch für die Mathematik lässt sich also nur im Schonraum des Binnendiskurses eine Perspektiv- und Situationsinvarianz (als orientierendes Ideal) aufrechterhalten 19, und auch dieser erlaubt einen universellen Blick auf die Mathematik selbst nur um den Preis von Antinomien; so jedenfalls die Interpretation des Hilbert-Schülers Paul Bernays (1888–1977), der konstatiert, „dass die Mathematik als Ganzes nicht ein mathematisches Objekt bildet und dass also die Mathematik nur als eine offene Mannigfaltigkeit verstanden werden kann.“ 20

Die hier beschriebene Offenheit der Mathematik lädt gerade auch die Philosophie dazu ein, das Gespräch mit ihren Mitteln weiterzuführen. Entscheidend ist dann allerdings in welcher Weise eine Grenzbestimmung bzw. ein Disziplin-Übergang versucht wird. 17

Ebbinghaus u. a., Zahlen, Berlin 21988, 306. Dass eine Reflexion innerhalb der Mathematik in striktem Sinne nicht allzu weit tragen kann, leuchtet insofern ein, als die Mathematik nur über eine schlichte Identität verfügt. Eine Rückwendung kann also nichts grundlegend Neues zeigen, bzw. läuft bestenfalls in Antinomien. Dieses als eine neue Erkenntnis zu sehen, ist dann bereits ein hermeneutischer Vorgang, also im Bereich der Philosophie anzusiedeln. 19 Vgl. Stekeler-Weithofer, Denken, 5. 20 P. Bernays, Abhandlungen zur Philosophie der Mathematik, Darmstadt 1976, 174. 18

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3. Georg Cantor – Vom Glanz und Elend unendlicher Mengen Wir beginnen mit Georg Cantor, der – im Gegensatz zu Euler in der erwähnten, vielleicht nur gut erfundenen Anekdote – durchaus in ernsthafter Absicht seine mathematischen Resultate auch im theologischen Kontext anwenden wollte. Cantor kann mit Recht als Begründer der ‚modernen Mathematik‘ bezeichnet werden; 21 mit seiner transfiniten Mengenlehre beginnt ein dramatischer Themen- und Stilwechsel in der Mathematik, ebenso prägend wie die Erfindung der Infinitesimalrechnung durch Newton und Leibniz. Und bezeichnender Weise handelt es sich jeweils um eine ‚Mathematik des Unendlichen‘. Die entscheidende Erfindung Cantors war, dass sich jenseits der endlichen Mengen eine (unendliche) Hierarchie ‚verschieden großer‘ unendlicher Mengen definieren lässt und dass diese in einer schlüssigen mathematischen Theorie behandelt werden können. Übrigens war die Entwicklung der Mengentheorie zunächst motiviert durch handfeste Probleme der angewandten Mathematik, und sie bleibt für diese bis heute unverzichtbar. 22 Der Mengenbegriff – mehr oder weniger formal bzw. axiomatisch eingeführt – bildet nach wie vor ein wesentliches Referenzkonzept für nahezu alle derzeit gebrauchten mathematischen Begriffe.

3.1 Ein bisschen Mengenlehre Ich möchte die Grundbegriffe der Cantorschen Theorie nun ganz knapp skizzieren; nicht um die Mathematiker zu langweilen und die Nichtmathematiker im Stile Eulers durch unverständliche Transparenz zu paralysieren, sondern um Cantors Faszination vielleicht ein wenig plausibler werden zu lassen. Der zentrale Be21

Zum Begriff einer „modernen“ Mathematik vgl. H. Mehrtens, Moderne Sprache Mathematik, Frankfurt 1990. 22 Vergleich hierzu etwa W. Purkert / H. J. Ilgauds, Georg Cantor, Basel 1987, 29.

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griff Cantors und für die gesamte moderne Mathematik ist der Mengenbegriff; Cantor definiert diesen in unterschiedlichen Formulierungen, z. B. in seinen Beiträgen zur Begründung der transfiniten Mengenlehre von 1895 folgendermaßen: „Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ‚Elemente‘ von M genannt werden) zu einem Ganzen.“ 23

Die Größe endlicher Mengen kann mittels Durchzählen bestimmt (und verglichen) werden, bei unendlichen Mengen ist dies naturgemäß nicht möglich. Es gibt allerdings noch eine zweite Möglichkeit, (endliche) Mengen zu vergleichen, die der paarweisen oder 1:1-Zuordnung. Cantor weitet nun dieses Konzept auch auf unendliche Mengen aus: Mengen werden in Bezug auf Ihre Mächtigkeit, ihre ‚Größe‘ unter Absehen von der Anordnung ihrer Elemente, verglichen, indem zwei Mengen, deren Elemente paarweise ein-eindeutig (1 : 1) einander zugeordnet werden können, als gleichmächtig bezeichnet werden: „Zwei Mengen M und N nennen wir ‚äquivalent‘ [gleichmächtig, GN] (…), wenn es möglich ist, dieselben gesetzmäßig in eine derartige Beziehung zueinander zu setzen, daß jedem Element der einen von ihnen ein und nur ein Element der anderen entspricht.“ 24

Dabei kann eine unendliche Menge zu einer ihrer echten Teilmengen gleichmächtig sein (etwa die natürlichen Zahlen und die Quadratzahlen): 1 l 1

2 l 4

3 l 9

4 5 6 7 8 … l l l l l l 16 25 36 49 64 …

… natürliche Zahlen l … Quadratzahlen

23

Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen, hg. von E. Zermelo, Hildesheim 1962, 282. Eine solche explizite Definition erfolgt übrigens erst relativ spät, nachdem bereits wichtige Resultate der Mengenlehre publiziert worden waren. 24 A. a. O., 283.

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Wir haben es also mit zwei verschiedenen Größen-Begriffen – Teil-Ganzes-Beziehung und Mächtigkeit – zu tun. Schon 1873 gelingt es Cantor zu zeigen, dass sogar die Menge aller Brüche abzählbar, d. h. gleichmächtig zur Menge der natürlichen Zahlen ist. Damit stellt sich die Frage, ob es überhaupt unendliche Mengen gibt, die nicht abzählbar sind. Ein möglicher Kandidat ist das ‚Kontinuum‘, also (bei laxer Identifikation) die Menge der reellen Zahlen. An seinen Freund Richard Dedekind richtet Georg Cantor genau diese Frage: „Gestatten Sie mir, Ihnen eine Frage vorzulegen, die für mich ein gewisses Interesse hat, die ich aber nicht beantworten kann; vielleicht können Sie es und sind so gut mir darüber zu schreiben, es handelt sich um folgendes (…). Man nehme den Inbegriff aller positiven ganzzahligen Individuen n und bezeichne ihn mit (n); ferner denke man sich etwa den Inbegriff aller positiven reellen Zahlengrößen x und bezeichne ihn mit (x); so ist die Frage einfach die, ob sich (n) dem (x) so zuordnen lassen, dass zu jedem Individuum des einen Inbegriffes ein und nur eines des anderen gehört?“ 25

Nachdem Dedekind antwortet, er wisse die Antwort nicht, schreibt Cantor – leicht untertreibend – zurück, so wichtig wäre ihm diese Frage gar nicht, „(…) [e]s wäre nur schön, wenn sie beantwortet werden könnte; z. B. vorausgesetzt, daß sie mit nein beantwortet würde, wäre damit ein neuer Beweis des Liouvilleschen Satzes geliefert, daß es transcendente Zahlen giebt.“ 26

25

Cantor an Dedekind vom 29. 11. 1873. Georg Cantor, Briefe, gg. von H. Meschkowski / W. Nilson, Berlin 1991, 31. 26 Cantor an Dedekind vom 2. 12. 1873, a. a. O. 32. Es lässt sich – mit Cantor – leicht zeigen, dass die Menge der algebraischen Zahlen, also der Lösungen algebraischer Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten ebenso wie die der rationalen Zahlen abzählbar ist. Falls die Menge der reellen Zahlen also nicht abzählbar ist, muss es (sogar überabzählbar viele!) nichtalgebraische, d. h. transzendente Zahlen geben.

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Kurz darauf gelingt ihm der Beweis, dass die reellen Zahlen nicht abzählbar sind. Erstmals werden zwei ‚verschieden große‘, unendliche Mengen betrachtet. Und in ähnlicher Weise lässt sich zeigen, dass es zu jeder (endlichen und unendlichen) Menge eine echt größere ‚gibt‘, und damit eine unendliche Hierarchie immer größerer unendlicher Mengen. Diese unendlichen Mächtigkeiten werden von Cantor – nicht ohne religiöse Anspielung – mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets bezeichnet, angefangen bei ‫א‬0 der Mächtigkeit der natürlichen Zahlen. Cantor zeigt schließlich, wie sich eine sinnvolle Arithmetik für diese unendlichen Mächtigkeiten (und Ordnungstypen) entwickeln lässt. Man kann also mit ‚unendlichen Zahlen‘ rechnen.

3.2 Das Aktual-Unendliche Nicht zuletzt gegen die Skepsis vieler Fachkollegen versuchte Cantor zeit seines Lebens, die neuen Konzepte zu rechtfertigen. Dabei war es für ihn selbstverständlich, dass eine solche Rechtfertigung letztlich auf metaphysischem Terrain geführt werden muss. Entscheidend sei dazu eine Differenzierung im mathematischen wie auch im metaphysischen Unendlichkeitsbegriff. Zunächst ist das potentielle Unendliche zu nennen: Dieses bezieht sich auf unbestimmte, aber stets endliche Größen, die jedoch beliebig groß (oder beliebig klein) sein dürfen. Dieses ist das seit Aristoteles kanonisierte Konzept des Unendlichen, dem die mathematische Tradition bis zu Carl Friedrich Gauß (1777– 1855) weitgehend folgt. Dieser hatte sich in einem Brief an Schumacher strikt gegen jeglichen Gebrauch eines aktual Unendlichen in der Mathematik ausgesprochen: „So protestire ich (…) gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer Vollendeten, welcher in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parler, indem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen,

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als man will, während andern ohne Einschränkung zu wachsen verstattet ist.“ 27

Cantor wendet sich nun explizit gegen diese Tradition. Er führt also ein aktuales Unendliches als mathematisches Konzept ein; es bezieht sich auf ‚fertige‘, bestimmte Größen, enthält also nichts Unbestimmtes, Schwankendes oder Unvollendetes. Die fertig vorliegende Menge aller natürlichen Zahlen etwa sei wohlbestimmt und nicht veränderlich. Als wesentlichen Grund für die ‚Existenz‘ eines aktual Unendlichen benennt er: „Unterliegt es nämlich keinem Zweifel, daß wir die veränderlichen Größen im Sinne des potentiellen Unendlichen nicht missen können, so läßt sich daraus auch die Notwendigkeit des Aktual-Unendlichen folgendermaßen beweisen: Damit eine solche veränderliche Größe in einer mathematischen Betrachtung verwertbar sei, muß strenggenommen das ‚Gebiet‘ ihrer Veränderlichkeit durch eine Definition vorher bekannt sein; dieses ‚Gebiet‘ kann aber nicht selbst wieder etwas Veränderliches sein, da sonst jede feste Unterlage der Betrachtung fehlen würde; also ist dieses ‚Gebiet‘ eine bestimmte aktual-unendliche Wertemenge. So setzt jedes potentiale Unendliche, soll es streng mathematisch verwendbar sein, ein Aktual-Unendliches voraus.“ 28

Ungewohnt sei natürlich, dass aus dem Endlichen vertraute Gesetze, etwa das Euklidische Axiom, dass das Ganze mehr als jeder seiner Teile sei, für unendliche Mengen nicht mehr gelten müssten. Das wirke aber nur dann paradox, wenn man alle von endlichen Zahlen (Mengen) gewohnten Eigenschaften auch bei unendlichen Zahlen (Mengen) erwarte. Schließlich weitet Cantor das Konzept des aktual Unendlichen im metaphysischen Kontext auf ein absolut Unendliches aus, indem er

27

Gauß an Schumacher vom 12. 7. 1831. Carl Friedrich Gauß, Christian Heinrich Schumacher, Briefwechsel, hg. v. Ch. A. F. Peters, Hildesheim 1957, 269. 28 Georg Cantor, Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 91 (1887). Vgl. Cantor, Ges. Abhandlungen, a. a. O., 410.

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„(…) das Aktual-Unendliche (A-U.) nach drei Beziehungen [unterscheidet]: erstens, sofern es in der höchsten Vollkommenheit, im völlig unabhängigen außerweltlichen Sein, in Deo realisiert ist, wo ich es Absolut Unendliches oder kurzweg Absolutes nenne; zweitens, sofern es in der abhängigen, kreatürlichen Welt vertreten ist; drittens, sofern es als mathematische Größe, Zahl oder Ordnungstypus vom Denken in abstracto aufgefaßt werden kann. In den beiden letzten Beziehungen, wo es offenbar als beschränktes, noch weiterer Vermehrung fähiges und insofern dem Endlichen verwandtes A.-U. sich darstellt, nenne ich es Transfinitum und setze es dem Absoluten strengstens entgegen.“ 29

Offenbar war es für die Zeitgenossen schwierig zu unterscheiden zwischen einem ‚unbestimmten‘, potentiellen Unendlichen und einem fest bestimmten, aktual Unendlichen, das aber dennoch kleiner oder größer als ein anderes aktual Unendliches (und in diesem Sinne ‚vermehrbar‘) sein kann. Ist ‚unendlich‘ per definitionem etwas, worüber hinaus größeres nicht gedacht werden kann, so sind Cantors Begriffsbildungen kaum verständlich. Damit fehlt dann aber auch die von Cantor entdeckte Differenzierung innerhalb des aktual Unendlichen: „Bei allen Philosophen fehlt jedoch das Prinzip des Unterschiedes im Transfinitum, welches zu verschiedenen transfiniten Zahlen und Mächtigkeiten führt. Die meisten verwechseln sogar das Transfinitum mit dem seiner Natur nach unterschiedslosen höchsten Einen, mit dem Absoluten, dem absoluten Maximum, welches natürlich keiner Determination zugänglich und daher der Mathematik nicht unterworfen ist.“ 30

Wichtig ist Cantor also, ein vielgestaltiges Aktual-Unendliches mathematisch behandeln zu können und einerseits klar vom Absoluten der klassischen Metaphysik (rationalen Theologie), andererseits aber auch vom nur potentiellen Unendlichen abzugrenzen.

29 30

Cantor, Ges. Abhandlungen, 378. Ebd., 391.

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3.3 Inkonsistenzen – Cantors absolut Unendliches Versucht man nun aber, sich eine ‚Übersicht‘ über die Hierarchie transfiniter Mengen zu verschaffen, versucht man etwa die ‚Menge aller Mächtigkeiten‘ zu bilden, so stößt man auf Widersprüche. Dies war Cantor schon sehr früh bewusst – lange bevor ähnliche Antinomien im Rahmen der sog. mathematischen Grundlagenkrise diskutiert wurden. Bereits 1897 schreibt er an David Hilbert (1862–1943): „Die Totalität aller Alephs ist nämlich eine solche, welche nicht als eine bestimmte, wohldefinierte fertige Menge aufgefaßt werden kann. Wäre dies der Fall, so würde auf diese Totalität ein bestimmtes Aleph der Größe nach folgen, welches daher sowohl zu dieser Totalität (als Element) gehören, wie auch nicht gehören würde, was ein Widerspruch wäre. (…) Totalitäten, die nicht als ‚Mengen‘ von uns gefaßt werden können (…) habe ich schon vor vielen Jahren ‚absolut unendliche‘ Totalitäten genannt und sie von den transfiniten Mengen scharf unterschieden.“ 31

Ich möchte hier auf die technischen Details der Argumentation nicht genauer eingehen. Wichtig scheint mir jedoch einerseits, dass Cantor diese Inkonsistenz auf der mathematischen Seite produktiv nutzt. Im Rahmen eines indirekten Beweises zeigt er nämlich, dass sich jede beliebige (konsistente) Mächtigkeit in seine Hierarchie der ‫א‬s einordnen lässt. Wäre dies für eine spezielle Mächtigkeit nicht der Fall, so müsste sie die ‚Menge aller ‫א‬s‘ enthalten, wäre also selbst inkonsistent. Insofern gibt es zunächst einen innermathematischen Grund, die Antinomie zu begrüßen. Auf der begrifflichen Seite reagiert Cantor andererseits auf diese ‚am Rande des Unendlichen‘ auftretende Inkonsistenz wiederum durch eine Differenzierung: „Eine Vielheit kann nämlich so beschaffen sein, daß die Annahme eines ‚Zusammenseins‘ aller Elemente auf einen Widerspruch führt, so daß es unmöglich ist, die Vielheit als Einheit, als ein ‚fertiges Ding‘ 31

Cantor an Hilbert vom 26. 9. 1897. Cantor, Briefe, a. a. O., 388.

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aufzufassen. Solche Vielheiten nenne ich absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten.“ 32

Das Paradebeispiel für solche inkonsistente Vielheiten wäre die ‚Menge‘ aller Mengen. Die Mengen(lehre) als Ganze ist also kein fertiges, ‚feststehendes Gebiet‘, innerhalb dessen dann kleinere oder größere Mengen unterschieden werden könnten. Einzelne unendliche Mengen können also ‚von außen‘ als fertige Dinge betrachtet werden, nicht jedoch das Universum aller Mengen, dieses wird durch den Mathematiker allenfalls ‚von innen‘ erkundet. Die Anfrage seines Freundes Richard Dedekind, ob nicht auch bereits Cantors unendliche Mengen eine inkonsistente Begriffsbildung sein könnten, beantwortet Cantor verblüffend offen: „Wäre es nicht denkbar, daß schon diese Vielheiten ‚inkonsistent‘ seien, und daß der Widerspruch (…) sich nur noch nicht bemerkbar gemacht hätte? Meine Antwort hierauf ist, daß dies Frage auf endliche Vielheiten ebenfalls auszudehnen ist und daß eine genaue Erwägung zu dem Resultat führt: sogar für endliche Vielheiten ist ein ‚Beweis‘ für ihre ‚Konsistenz‘ nicht zu führen. (…) Die Tatsache der ‚Konsistenz‘ endlicher Vielheiten ist eine einfache, unbeweisbare Wahrheit, es ist ‚Das Axiom der Arithmetik‘ (im alten Sinne des Wortes). Und ebenso ist die ‚Konsistenz‘ der Vielheiten, denen ich die Alefs als Kardinalzahlen zuspreche ‚das Axiom der erweiterten transfiniten Arithmetik‘.“ 33

Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen – allen voran der Logiker Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848–1925) – war für Cantor das Auftreten dieser Widersprüche ein durchaus erwartetes, geradezu ein willkommen geheißenes Phänomen. Seine Gründe nochmals kurz gefasst: Die Mengentheoretischen Antinomien seien 1. innermathematisch nützlich und 2. metaphysisch stimmig. 32

Cantor an Dedekind vom 28. 7. 1899. A. a. O., 443. Vgl. auch seinen Brief vom 31. 8. 1899 an Dedekind: „Es gibt also bestimmte Vielheiten, die nicht zugleich Einheiten sind, d. h. solche Vielheiten, bei denen ein reales ‚Zusammensein aller ihrer Elemente‘ unmöglich ist. Diese sind es, welche ich ‚inkonsistente Systeme‘, die anderen aber ‚Mengen‘ nenne.“ A. a. O., 448. 33 Cantor an Dedekind vom 28. 8. 1899. A. a. O., 447 f.

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Anstatt an den Grundfesten der Mathematik zu zweifeln, hält er es für notwendig, dass die Mathematik ‚am Rande‘ auf einen widersprüchlichen Bereich verweist: „Das Transfinite mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin, auf das ‚wahrhaft Unendliche‘, (…) welches als absolutes Maximum anzusehen ist. Letzteres übersteigt gewissermaßen die menschliche Fassungskraft und entzieht sich namentlich mathematischer Determination.“ 34

3.4 Cantors theologische Versuche An dieser Stelle vollzieht Cantor nun endgültig einen Übergang zur Theologie. Hier sucht er einerseits metaphysische Schützenhilfe, beansprucht aber andererseits auch, einer ‚christlichen Philosophie‘ Argumente gegen die philosophische Moderne, d. h. gegen den Materialismus der zeitgenössischen Monisten, aber auch gegen die Transzendentalphilosophie seit Immanuel Kant liefern zu können. Er führte einen ausgedehnten Briefwechsel mit verschiedensten zeitgenössischen Theologen, von dem zumindest Teile erhalten und mittlerweile auch ediert sind; 35 am intensivsten scheint sein Kontakt zu Angehörigen der Neuscholastik gewesen zu sein. Er rief jedoch auch dort allenfalls freundliche Skepsis hervor. Leitend für Cantors theologische Überlegungen ist eine Art von natürlich-theologischem Prinzip, das er folgendermaßen formuliert: „Jede Erweiterung unserer Einsicht in das Gebiet des Creatürlichmöglichen muß (…) zu einer erweiterten Gotteserkenntnis führen.“ 36

Ich übergehe nun einige materiale, theologische Themen und möchte hier nur Cantors Gottesbegriff vorstellen, publiziert übri34

Cantor, Ges. Abhandlungen, 405. Vgl. Cantor, Briefe, a. a. O. und Ch. Tapp, Kardinalität und Kardinäle, Stuttgart 2005. 36 Cantor an Esser vom 15. 2. 1896. Tapp, Kardinalität, 307 f. 35

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gens 1879 als Anmerkung einer Arbeit zur Mengenlehre in den Mathematischen Annalen: „Daß wir auf diesem Wege immer weiter, niemals an eine unübersteigbare Grenze, aber auch zu keinem auch nur angenäherten Erfassen des Absoluten gelangen werden, unterliegt für mich keinem Zweifel. Das Absolute kann nur anerkannt, aber nie erkannt, auch nicht annähernd erkannt werden (…) Die absolut unendliche Zahlenfolge erscheint mir daher in gewissem Sinne als ein geeignetes Symbol des Absoluten; wogegen die Unendlichkeit der ersten Zahlenklasse, welche bisher dazu allein gedient hat, mir eben weil ich sie für eine faßbare Idee (nicht Vorstellung halte), wie ein ganz verschwindendes Nichts im Vergleich mit Jener vorkommt.“ 37

Die Identifikation des sich im Rahmen der Mengenlehre durch Widersprüche zeigenden ‚Absoluten‘ mit dem Gott des Christentums erfolgt im Wesentlichen ohne weitere Begründung. Und so behauptet Cantor schließlich: „Von mir wird der christlichen Philosophie zum ersten Mal die wahre Lehre vom Unendlichen in ihren Anfängen dargeboten. Ich weiß ganz sicher, daß sie diese Lehre annehmen wird, es fragt sich nur, ob schon jetzt oder erst nach meinem Tode.“ 38

Betrachten wir nochmals Cantors theologischen Argumentationsgang: Sein Ausgangspunkt ist die Faszination, dass sich im Rahmen der Sicherheit mathematischer Definitionen und Beweise auch transfinite Mengen untersuchen lassen und sich eine im wörtlichen Sinne unübersehbare, aber dennoch mathematisch fruchtbare Fülle von Strukturen eröffnet. Zwangsläufig ergeben sich dann allerdings Widersprüche; das Konzept der (unendlichen) Menge funktioniert offenbar widerspruchsfrei nur ‚innerhalb‘ eines abgegrenzten Bereichs, ‚jenseits‘ dessen Antinomien auftauchen. Dieser umgebende ‚absolut unendliche‘ Bereich wird schließlich religiös gedeutet. Auch wenn zeitgenössische Theologen zuweilen ähnlich argumentieren, kann Cantors – hier 37 38

Cantor, Ges. Abhandlungen, 205. Cantor an Thomas Esser vom 1. 2. 1896. Tapp, Kardinalität, 312.

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knapp skizzierter – Versuch eines Übergangs von Mathematik zu Theologie m. E. nicht als gelungen gelten. Die mathematische ratio wird zunächst in ihrer metaphysischen Kompetenz überschätzt und anschließend in der theologischen Sphäre ganz beiseite gelassen bzw. nicht durch eine theologische Vernunft ergänzt. Es wird dadurch zugleich ein Zuviel an mathematischer Stringenz behauptet und viel zu wenig an theologischer Konkretion geleistet. Die Faszination beim Betrachten, gar Konstruieren unendlicher Größen und das Einbekenntnis der Vernichtung des Verstandes, der beim Versuch des ‚Weiterdenkens‘ in Antinomien läuft, sind per se noch nicht religiös, geschweige denn christlich. Eine genuin theologische Reflexion würde also an dieser Stelle allenfalls beginnen. Für die Mathematik ist der Gewinn allerdings kaum zu überschätzen: Die (wenn auch wenig reflektierte) metaphysische ‚Rückversicherung‘ erlaubte es Cantor, von allzu starken Konsistenzzwängen abzusehen und seine mathematische Theorie unbekümmert zu entwickeln. In diesem Sinne möchte ich von dem Idealfall einer produktiven Irritation sprechen. Auf mathematischem Gebiet erweisen sich seine Begriffsbildungen schließlich als außerordentlich fruchtbar, und die Argumente für ihre Berechtigung könnten auf rein mathematischem Gebiet gegeben werden. Die platonistischen, gar religiösen Überzeugungen Cantors spielen dann überhaupt keine Rolle mehr. Von der hier frei gewordenen Kreativität lebt die Mathematik in großen Teilen bis heute, und es ist durchaus treffend (und vielsagend), wenn David Hilbert fordert: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können.“ 39

39

D. Hilbert, Über das Unendliche. Mathematische Annalen 95 (1926), 170.

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4. Nikolaus von Kues – Veritas in speculo mathematico Wir verlassen nun das Paradies der Mathematiker und kehren zur irdischen Theologie zurück; Nikolaus von Kues ist sicherlich für die Geschichte dieser Disziplin singulär in der Art und Intensität, mit der er mathematische ‚Handführungen‘, manuductiones, und Rätselbilder, aenigmata, in seine theologischen Traktate integriert, aber auch insofern, dass er zwischenzeitlich mit höchster Intensität rein mathematische Studien betrieben hat. 40

4.1 Begriffliche Differenzierung für die Mathematik Bevor wir uns mit der Rolle der Mathematik für das theologischphilosophische Werk des Cusanus befassen, soll zunächst ein kurzer Blick in umgekehrter Richtung geworfen werden. Seine mathematischen Werke sind sämtlich dem zu dieser Zeit intensiv beforschten Problem der Quadratur des Kreises (und dem dazu mehr oder minder äquivalenten Problem der Rektifikation des Kreisbogens) gewidmet, also der Frage, ob sich zu einem gegebenen Kreis ein flächengleiches Quadrat ‚angeben‘ lässt. Die Traktate aus den verschiedenen Lebensphasen sind dabei von unterschiedlicher Qualität, und teilweise durchaus auch fehlerbehaftet, was bereits von Zeitgenossen kritisiert wurde. Hier sollen jedoch nicht die technischen Details seiner mathematischen Arbeiten interessieren. Stattdessen möchte ich auf eine grundsätzliche Überlegung des Kardinals hinweisen, die sicherlich davon beeinflusst ist, dass der Theologe (und Kirchenjurist) Cusanus daran gewöhnt war, auch konträre Positionen zu würdigen und dabei auf begriffliche Genauigkeit zu achten. In de circuli quadratura 40

Die mathematischen Schriften des Nikolaus von Kues sind inzwischen als 20. Band der kritischen Edition der Opera Omnia erschienen; einen knappen Überblick zu Quellen und Inhalt dieser fachmathematischen Werke gibt M. Volkerts, Die Quellen und die Bedeutung der mathematischen Werke des Nikolaus von Kues, MFCG 28 (2003), 291–332.

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erwägt er vor aller geometrischen Konstruktion, ob und ggf. aus welchen Gründen die Quadratur überhaupt möglich sein könnte. Dabei werden zwei entgegengesetzte Auffassungen zitiert. Auf der einen Seite stehe die Überzeugung der Optimisten: „Wo man ein Größeres und Kleineres geben kann, kann man auch ein Gleiches geben.“ 41

Die Möglichkeit der Quadratur wird also aus einem ‚Zwischenwertsatz‘ erschlossen: Ein kleineres Quadrat, etwa das dem Kreis eingeschriebene, ein größeres, etwa das umschriebene, sind konstruierbar, also „kann man auch ein Gleiches geben“. Dagegen stehe die Position der Pessimisten, die die Gültigkeit des Zwischenwertsatzes für verschiedenartige Größen – so von Kreis und Quadrat – ablehnten. Als überzeugendes Beispiel führt er ‚hornförmige‘ und geradlinig begrenzte Winkel an 42 und er schließt in Analogie zu den Verhältnissen dieser Winkel: „Ebenso kann man sagen: Zu einem gegebenen Kreis läßt sich ein Quadrat angeben, das zwar größer ist als der Kreis, jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil des Quadrats. Und zu einem gegebenen Quadrat läßt sich ein kleinerer Kreis angeben, der jedoch nicht um einen rationalen Bruchteil des Kreises kleiner ist.“ 43

Bemerkenswert ist nun allerdings, dass Cusanus sich zwischen den beiden aufgeführten Möglichkeiten gar nicht entscheidet, sondern ihre Gültigkeit auf die kontingente Setzung des Gleichheitsbegriffs zurückführt. Dass er just den Gleichheitsbegriffes thematisiert, ist insofern naheliegend, als die Gleichheit, äqualitas, als Name für die zweite trinitarische Person in der Theologie des Cusanus von größter Bedeutung ist: 41

De circuli quadratura (n. 4, 2): „Ubi est dare magis et minus, est et dare aequale.“ (Übers. J. Hofmann). 42 Für weitere Details vgl. G. Nickel, Belehrtes Nicht-Können als virtuoses Können in der Mathematik, in: T. Borsche / H. Schwaetzer (Hg.), Können – Spielen – Loben. Cusanus 2014. Texte und Studien zur Europäischen Geistesgeschichte B 14, Münster 2016, 153–176. 43 De circuli quadratura (n. 9, 1). (Übers. J. Hofmann).

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„Wenn man den Begriff der Gleichheit so faßt [daß einem andern gleich ist, was um keinen rationalen – auch nicht um den allerkleinsten – Bruchteil übertroffen wird], dann glaube ich, kann man mit Recht sagen: Zu einem gegebenen Vieleckumfang kann man den gleichen Kreisumfang geben, und umgekehrt. Wenn man aber den Begriff der Gleichheit, soweit er sich auf eine Größe bezieht, absolut faßt ohne Berücksichtigung rationaler Bruchteile, dann ist die Aussage der Letzteren richtig: Zu einer kreisförmigen Größe läßt sich keine genau gleichgroße nicht-kreisförmige angeben.“ 44

Die Wahl des Gleichheitsbegriffes (und damit der Bedeutung von ‚geben‘ bzw. ‚angeben‘) ist also entscheidend für die Frage nach der Lösbarkeit des Problems. Sein Formulierungsvorschlag kommt dabei der Fassung der neuzeitlichen Infinitesimalrechnung etwa bei Leibniz durchaus nahe.

4.2 Mathematik für die Illustration einer Koinzidenz gegensätzlicher Begriffe Ich möchte nun allerdings die mathematikhistorische Frage nach dem Beitrag des Cusanus für die Vorgeschichte der Analysis nicht weiter vertiefen. 45 Das Augenmerk soll vielmehr auf die Verwendung der mathematischen Bilder in den theologischen Schriften des Cusanus gerichtet sein. 46 Zunächst wirkt hier manches frappierend ähnlich zu dem bei Cantor Skizzierten, und auch der Anspruch ist nicht geringer, wenn Cusanus schreibt, er wolle zeigen,

44

Ebd., (n. 11, 1). Für eine umfassende Würdigung der Rolle des Cusanus für die neuzeitlichen Wissenschaften vgl. F. Nagel, Nikolaus von Kues und die Entstehung der exakten Naturwissenschaften, Münster 1984. 46 Vgl. hierzu auch F. Pukelsheim / H. Schaetzer (Hg.), Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues. MFCG 29, Trier 2005 und G. Nickel, Nikolaus von Kues. Zur Möglichkeit von theologischer Mathematik und mathematischer Theologie, in: I. Bocken / H. Schwaetzer, Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, Maastricht 2005, 9–28. 45

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„(…) daß und wie im Spiegel der Mathematik jenes Wahre, das in allem Wißbaren gefragt wird, nicht nur in entfernter Ähnlichkeit widerstrahlt, sondern gleichsam in strahlender Nähe.“ 47

Nikolaus betont – etwa schon im ersten Buch seines frühen Hauptwerkes De docta ignorantia – die Angewiesenheit der Theologie, vom Gegebenen, Geschöpflichen, Begrifflichen auszugehen, das allerdings für die Suche nach Gotteserkenntnis allenfalls Ähnlichkeit, similitudo, nie Genauigkeit, rectitudo, veritas, vermitteln kann. Für die Gotteslehre ist also zunächst nur das schiere Nichtwissen selbstverständlich, und bereits viel schwieriger ist ein genaueres Wissen um dieses Nichtwissen. Dennoch präsentiert uns Nikolaus bereits hier und verstärkt noch in den späteren Werken keine schlichte, negative Theologie. Dies gelingt ihm unter anderem, weil sich im Rahmen der einzig möglichen, „symbolischen“ Gotteserkenntnis die mathematischen Gegenstände als Symbole anbieten durch ihre besondere Sicherheit und Unwandelbarkeit. Und so behauptet Nikolaus, „niemand könne zu einem Wissen um die göttlichen Dinge kommen, der in der Mathematik jeglicher Übung völlig ermangele.“ 48

Ausgehend von der traditionellen These von Gottes Unendlichkeit werden in der docta ignorantia mathematische, in der Regel geometrische Beispiele verwendet, um anschauend und denkerisch zu erkunden, was bei einem ‚Übergang ins Unendliche‘ geschieht. Cusanus beschreibt dabei einen doppelten Überstieg. Zunächst betrachtet er endliche mathematische Figuren (etwa eine Gerade und verschiedene Kreise, vgl. Abb. 1) variierbarer Größe, um dann zu erkunden, was bei einem ‚Übergang‘ zu deren ‚unendlichen Analoga‘ geschieht. Diese fallen dann aber bereits nicht mehr in den Bereich der Mathematik, was Nikolaus auch explizite 47

De theologicis complementis (n. 1). Nikolaus von Kues, Die philosophischtheologischen Schriften, lat.-dt., Bd. II (Übers. von Dietlind & Wilhelm Dupré), Wien 1989, 651. 48 De docta ignorantia (n. 31.). Nikolaus von Kues. De Docta Ignorantia, Hamburg 1979, 43.

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vermerkt. Dabei werde deutlich, wie die im Endlichen unvereinbaren Gegensätze (etwa gerade und gekrümmt) im Unendlichen koinzidieren. In einem zweiten Schritt solle schließlich das Figürliche ganz abgelegt werden, und somit gleichsam ein ‚geistiger Blick‘ auf das Unendliche selbst geworfen werden; 49 in seinem Frühwerk wird hierbei vor allem der Ineinsfall der Gegensätze, die coincidentia oppositorum, erkundet. Auch hier verweist also die Mathematik auf einen Randbereich, in dem Widersprüche zu erwarten sind. Und das gesuchte Absolute zeigt sich allenfalls jenseits dieser Koinzidenz des Gegensätzlichen.

4.1 Unterscheidung der Denkformen von Mathematik und Theologie Nun ist es aber entscheidend, dass sich diesem Aufstieg aus der Mathematik zum einen eine intellektuale Weiterführung auf theologischem Gebiete, vor allem eine trinitarische Spekulation, anschließt Abb. 1 – die ich hier zunächst ausblenden möchte. Zum anderen setzt eine Rückwendung ein, eine Reflexion auf das verwendete Erkenntnismittel, die Mathematik. Dabei verortet Nikolaus die Mathematik in einem Gefüge der Vermögen des (menschlichen) Geistes, der mens, die er – traditionelle Figuren aufgreifend – in mehreren Stufen zu unterscheiden vorschlägt: 1. Der Sinn, sensus, nimmt rein positiv wahr, er unterscheidet nicht die Position eines Sachverhalts von der Negation eines anderen: „[D]er Sinn nimmt wahr und unterscheidet nicht. Jede

49

Vgl. De docta ignorantia cap. 12, n. 33.

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Unterscheidung stammt aus dem Verstand. (…) Der Sinn stellt nur fest, daß etwas sinnlich Wahrnehmbares da ist, aber nicht, ob dieses oder jenes.“ 50 2. Der Verstand, ratio, fasst die Eindrücke der Sinne durch Begriffe zusammen, unterscheidet (bzw. entfaltet) Negation und Position (als einander ausschließend): „So benutzt der Verstand den Sinn als Werkzeug, um die Sinnendinge zu unterscheiden; doch er selbst ist es, der im Sinn das Sinnending unterscheidet.“ 51 3. Die Vernunft, intellectus, fasst die Unterscheidungen des Verstandes zur Einheit zusammen, faltet also die Gegensätze Position und Negation ein. Anders formuliert: die Vernunft reflektiert die (Möglichkeit/Legitimität der) unterscheidenden Urteile des Verstandes: „Sie eint die Andersheiten des sinnlich Wahrgenommenen (…) im Verstand, und sie eint schließlich die mannigfaltige Andersheit der Begriffe in ihrer einfachen Vernunfteinheit.“ 52 4. Die Schau, visio, geht als (rein negatives) ‚Grenzvermögen‘ noch über die Vernunft hinaus; sie „führt den Betrachtenden über allen Sinn, Verstand und alle Vernunft hinaus zur mystischen Schau, in welcher der Aufstieg jeder erkennenden Kraft sein Ende und die Enthüllung des unbekannten Gottes ihren Anfang hat.“ 53 Es erscheint nun als eine durchaus merkwürdige Konkordanz des Gegensätzlichen, wenn im Werk des Nikolaus von Kues Theologie und Mathematik aufeinander bezogen werden. Unterscheiden sich beide doch in einem entscheidenden, von Cusanus genau benannten Charakteristikum voneinander. Während nämlich in

50 51 52 53

De coniecturis I (n. 32, 3). A. a. O. A. a. O. De possest (n. 15,1).

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Gregor Nickel

der Mathematik – als typische Betätigung im Bereich der menschlichen ratio – ein Zusammenfall des Widersprechenden unbedingt zu vermeiden ist – er behauptet sogar, dass alle Sätze der Mathematik auf den Satz vom auszuschließenden Widerspruch zurückgeführt werden könnten –, ist es in der Theologie genau umgekehrt. Hier – im Bereich des intellectus – ist allenfalls nach (bzw. vor) dem Zusammenfall der Gegensätze eine Gotteserkenntnis von ferne, per infinitum („durch das Infinite hindurch“), zu sichten. Während die Mathematik ein Spielfeld ist, auf dem die ratio und nur sie ihr kreatives Können zeigt – allerdings innerhalb der Grenzen der Einheit des intellectus und ermöglicht durch diese –, ist es in der Theologie allenfalls der intellectus, der, die ratio und deren Widerspruchsprinzip einigend, aber auch sprengend, überspringend und zurücklassend, im Erkennen seines Nichtmehrkönnens (s)ein höchstes Können erfährt. Wie schon der spannungsreiche Titel der docta ignorantia in einer konzentrierten Formel darstellt, geht es Cusanus immer um ein dynamisches Wechselspiel von Wissen und (bzw. um das) Nicht-wissen, beide Aspekte dürfen nicht vergessen werden. In der Werkfolge wird allerdings spätestens mit den Idiota-Dialogen (ab etwa 1450) die Leichtigkeit der Gotteserkenntnis betont, kann das ein-fache können, das posse, zum Gottesnamen werden. 54 Die zunächst metaphysisch behauptete Koinzidenz des Gegensätzlichen wird hier auf den Erkenntnisgang selbst angewendet, die Koinzidenz von Wissen und Nichtwissen auf ein – freilich ganz neuartiges – Wissen hin überschritten: „die Weisheit ruft in den Gassen!“ heißt es im Dialog Idiota de sapientiae. Die intellektuale Spekulation zeigt dann, wie sich die Begründungsverhältnisse umkehren, und damit auch die relative Klarheit und Sicherheit. Nach einer geometrischen Handführung in de venatione sapientiae heißt es:

54

Vgl. hierzu auch G. Nickel, Belehrtes Nicht-Können als virtuoses Können in der Mathematik. A. a. O.

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„Wenn ich diese [geometrischen GN] Verhältnisse irgendwie als notwendig erschaue, so bin ich mir absolut sicher, daß sie in noch unvergleichlich wahrerer Weise im Können-Sein wirklich sind. Der Verstand kann nämlich nichts finden, was dem Können-Sein fehlte, da es alles Begreifbare und das Begreifen Übersteigende in Vollkommenheit wirklich ist, gemäß der richtigen Bemerkung des seligen Anselm, Gott sei das über alles Begreifen Größere.“ 55

Dem entspricht das ontologische Begründungsverhältnis (bzw. Schöpfungsverhältnis). Das Unendliche begründet das Endliche: „Das unendliche ist nicht meßbar, da es unbegrenzt ist. Es kann also nicht mit den Grenzen irgendeines Maßes eingeschlossen werden, sondern ist selbst das Maß von allem.“ 56

Der nach Erkenntnis suchende Theologe erfährt sich selbst schließlich als längst schon erkannt; aber genau dies kann er gerade noch ‚erkennen‘. Dieser Wechsel der Perspektiven bleibt allerdings unverfügbar, wird als Entrückung, raptus, erfahren und beschrieben. Aber wiederum kann dieses nochmals am mathematischen Bild illustriert – und damit rationalisiert! – werden, dass nämlich die mens vom „winkelartigen Umfassen zu kreisartigem emporgerissen [wird]; so wie die Schüler durch das Lesen bestimmter Bücher zuerst zur allgemeinen Kunst und dann zur Meisterschaft, alle Bücher zu lesen, emporgerissen werden.“ 57

4.2 Mathematik als theologisches Reflexionsmedium und Spielfeld In der Werkfolge werden in zunehmendem Maße die mathematischen Bilder nicht einfach nur zur ‚Illustration‘ verwendet, vielmehr dient die Mathematik einer Selbstbeobachtung der mens und dadurch erst einer indirekten Beobachtung Gottes: 55 56 57

De venatione sapientiae (n. 77,1). De theologicis complementis (n. 2,46). Ebd., (n. 9,68).

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„Die mens erblickt jedoch nicht die Wahrheit selbst, durch die sie sich und alles erblickt. Sie weiß darum, daß diese ist (quia-est), nicht was sie ist (quid-est), so wie das Sehen nicht die Klarheit jenes Sonnenlichtes sieht, durch das es alles Sichtbare sieht und dennoch erfährt, daß es ohne es nicht sieht.“ 58

Es darf nun allerdings die Frage gestellt werden, was die sorgfältigen Selbsterfahrungen der mens mit einer christlichen Gotteslehre zu tun haben können. Hier scheinen mir drei Aspekte wichtig. Zum einen wird die mens als Bild Gottes, als imago dei, verstanden. Schöpfungstheologisch ist also verbürgt, dass die intellektuale Spekulation schließlich nicht nur bei der mens selbst bleibt, sondern wenigstens Ähnlichkeit mit Gott erreichen könnte. Wenn wir Abbild Gottes sind, so ist Selbsterkenntnis zumindest auch Gotteserkenntnis; und so gilt für den menschlichen Geist: „Er mißt seine Vernunft durch die Mächtigkeit seiner Werke und gewinnt daraus das Maß für die göttliche Vernunft, wie die Wahrheit durch ihr Bild gemessen wird.“ 59 Insofern alle Cusanischen Werke als Denk-Experimente verstanden werden können, bei denen sich die mens allerdings als Experimentator und Untersuchungsgegenstand gleichzeitig erweist, wird ‚aus den Augenwinkeln‘ immer auch ein Blick auf Gott geworfen. Eine Weiterführung dieses Arguments zeigt zweitens, dass gerade die imitierte – nicht usurpierte! – Kreativität des menschlichen Geistes, nämlich die freie Schöpfung der mathematischen Gegenstände, den ursprünglich schöpferischen Akt Gottes reflektieren hilft. Die mens zeigt sich dann beim Hervorbringen der – neuplatonisch gesprochen besonders edlen – Gegenstände der Mathematik auf exemplarische Weise. Und hierin kann ein gegenüber der griechischen Metaphysik entscheidend neuer christlichjüdische Gedanke, die creatio ex nihilo, paradigmatisch illustriert

58 59

De theologicis complementis (n. 2,46). De beryllo (n. 10).

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werden. Wenden wir uns an dieser Stelle der Mathematik selbst zu! Es ist die bleibende Hinterlassenschaft des Kardinals für die Mathematikphilosophie, dass er – erstmals in der Geschichte – die mathematischen Gegenstände als freie Schöpfungen des menschlichen Geistes beschreibt; gerade deswegen sei die Mathematik so sicher wie keine andere Erkenntnis. So wie das Geschöpf Cusanus an seinen Gott gerichtet sagen kann: „Da Dein Sehen Dein Sein ist, bin ich also, weil Du mich anschaust“ 60, so existieren die Gegenstände der Mathematik nur in und durch das Betrachten des Mathematikers: „Der menschliche Geist, der ein Bild des absoluten Geistes ist, setzt in seiner menschlichen Freiheit allen Dingen in seinem Denken Grenzen, weil der Geist mit seinen Begriffen alles ausmißt. Er setzt eine Grenze für die Linien, macht sie lang oder kurz, und setzt so viele Begrenzungspunkte in ihnen, wie er will.“ 61

An dieser Stelle lässt sich eine weitere Parallele zu Cantor verorten, der – in den Rahmen seines platonistischen Mathematikverständnisses – die Schöpfungsfreiheit des Mathematikers als wesentliches Charakteristikum integriert: „Die Mathematik ist in ihrer Entwickelung völlig frei und nur an die selbst-redende Rücksicht gebunden, daß ihre Begriffe sowohl in sich widerspruchslos sind, als auch in festen durch Definitionen geordneten Beziehungen zu den vorher gebildeten, bereits vorhandenen und bewährten Begriffen stehen.“ 62

Cusanus gibt uns allerdings noch genauere Hinweise, wie sich die Entfaltung der mathematischen Gegenstände aus der Einheit des mathematischen Geistes vollzieht. Bei Cantor hatten wir hierzu lediglich gelesen, dass bei der Mengenbildung „eine Vielheit als

60

De visione dei (n. 10). De venatione sapientiae c. 27 (n. 82 10–20). 62 G. Cantor, Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten, 1883, Ders.: Ges. Abhandlungen, 182. 61

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Abb. 2

Einheit“ 63 aufgefasst werden müsse. 64 Für die Mathematik-Philosophie ist hier noch fast unendlich viel zu lernen. Schließlich ist drittens der Zielpunkt für den Theologen Cusanus stets eine trinitarische Gotteslehre, also das Bedenken einer differenzierten Einheit jenseits der – noch nicht hinreichend differenzierten und bestimmten – Koinzidenz des Gegensätzlichen. Insofern sich die Trinität durch ihr Handeln in der Schöpfung äußert und erkennen lässt, und das heißt für Nikolaus im Sinne einer Entfaltung der Einheit in die Vielheit und des Aufgehobensseins der Vielheit in der Einheit, explicatio-complicatio, findet diese Figur nun gerade in der Mathematik als „mittlerer“, also rationaler Tätigkeit des Geistes par excellence ihre Entsprechung, insofern sie die Verschiedenheit der Sinne (vereinigend) einfaltet und ihrerseits aus der die contradictorischen Widersprüche vereinigenden Einfachheit des intellectus entfaltet ist. Damit ist sie ein besonders geeignetes Beobachtungsfeld für diese Denkfigur. Wiederum an einem mathematischen Bild kann dies illustriert werden. Dieses entnimmt Nikolaus direkt einem seiner mathematischen – der (approximativen) Quadratur des Kreises gewidmeten – Werke, nämlich de mathematicis complementis. Be-

63

An mindestens einer Stelle in seinem Briefwechsel bezieht sich Cantor explizit auf Cusanus; es zeigt sich jedoch, dass weder er selbst noch sein theologischer Briefpartner die Brisanz des Cusanischen Denkens auch nur annähernd wahrgenommen haben, vgl. Brief an Aloys Schmid 26. 3. 1887, Tapp, Kardinalität. 502. Cantor schreibt, er sei „(…) ganz auf ihrer Seite, wenn Sie mit Nic. v. Cusa sagen, daß ‚in Gott Alles Gott ist‘, wie auch, dass ‚die Erkenntnis Gottes objectiver Seits das Incommensurable nicht als commensurabel, das Irrationale nicht als rational erkennen vermag, weil die göttliche Allerkenntnis, wie die göttliche Allmacht nicht auf Unmögliches gehen kann‘.“ 64 Cantor an Dedekind vom 28. 7. 1899. 443. Vgl. die Fußnote oben.

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trachtet wird die Annäherung des Kreises durch Polygone mit wachsender Eckenzahl (vgl. Abb. 2). Dabei werden zu dem jeweiligen Polygon der Inkreis und der Umkreis konstruiert. Je größer die Zahl der Ecken ist, desto mehr nähern sich der eingeschriebene Kreis, der umschriebene Kreis und das Polygon selbst. Im Grenzfall kommen der Umkreis, der Inkreis und das ‚Unendlich-eck‘ zur Deckung. Diese Drei-einheit kann aber an dem dann nur noch sichtbaren einen Kreis selbst nicht wahrgenommen werden: „Und sie sind so drei Kreise, daß sie einer sind, und zwar ein dreieiniger Kreis. Dies kann auf keine Weise erscheinen, wenn es nicht an den Polygonen betrachtet wird.“ 65

Erst vermittels der rationalen Unterscheidung, durch das Polygon symbolisiert, kommen also die Momente der (trinitarischen) Einheit, symbolisch der dreieinheitliche Kreis, zur Darstellung. Und wiederum in umgekehrter Richtung ist überhaupt nur ein trinitarischer Gott erkennbar: „Weil Du nämlich einsehende Einsicht, einsehbare Einsicht und die Verbindung beider bist, kann darum die geschaffene Einsicht in Dir, ihrem einsehbaren Gott, die Einung mit Dir und ihre Glückseligkeit erreichen.“ 66

Der Unendlichkeitsbegriff löst bzw. benennt im Werk des Nikolaus von Kues eine komplexe Problemkonstellation. Zugleich sollen eine grundsätzliche (ontologische und gnoseologische Unerreichbarkeit Gottes und eine irgendwie geartete (bei den späteren Schriften sogar offensichtlichste und leichteste) Zugangsmöglichkeit behauptet werden; schöpfungstheologisch soll eine größtmögliche Unterscheidung von Gott und Welt, Gott und einzelner Kreatur (bei absoluter Souveränität Gottes) dargestellt werden wie auch eine größtmögliche Nähe. Die mathesis, gerade als Wissenschaft, die mit variablen (obzwar stets endlichen) Grö65 66

De theologicis complementis (n. 3,10–15). De visione dei (c. 19, n. 81,5).

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Gregor Nickel

ßen umgeht, ist hierbei prädestiniert für ein vorsichtiges, experimentales Bedenken eines – wie immer gearteten – Überganges zur Unendlichkeit.

5. Bilanz für das interdisziplinäre Wechselspiel von Theologie und Mathematik Zum Glück für Autor und Leser hat dieser Aufsatz nur eine endliche Länge, und so möchte ich zu einer kurzen abschließenden Überlegung kommen. Betrachtet man den unterschiedlichen Umgang mit dem Unendlichkeitsbegriff, wie er exemplarisch bei Cantor und Cusanus beschrieben wurde, so scheint mir für den Dialog zwischen Mathematik und Theologie folgendes deutlich zu werden, insofern sich dieser im wesentlichen als ‚wechselseitige produktive Irritation‘ darstellt. 1. Eine gelingende Bezugnahme von Theologie und Mathematik setzt zunächst eine klar beschriebene und begründete Abgrenzung beider Disziplinen voraus. Für keine der beiden Disziplinen ist etwas gewonnen, wenn Begriffe oder Einsichten ohne weiteres ‚übertragen‘ werden sollen. Die Gefahr von fruchtlosen und verwirrenden Äquivokationen ist hierbei kaum zu überschätzen. Aber auch Analogien, die in dem jeweils anderen Bereich Anregung suchen, müssen sich anschließend im eigenen Bereich rechtfertigen lassen und als hilfreich erweisen. 2. Um von der anderen Disziplin zu lernen, ist es m. E. selten fruchtbar, ihre ‚Resultate‘ zu betrachten und diese (allzu häufig arg defizient) zu interpretieren, als vielmehr, die jeweilige Methodik sorgfältig zu bedenken. Dies muss nicht anhand der aktuellsten und avanciertesten Resultate geschehen; häufig genügen ganz elementare Beispiele.

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Kurzschlüsse oder fruchtbare wechselseitige Irritationen

3. So sind die relativ einfachen mathematischen Beispiele des Cusanus, die zu einer Reflexion anregen, was Mathematik eigentlich sei und was unseren Geist dazu befähigt, deutlich fruchtbarer als die schwierige, aktuelle Mengentheorie, die Georg Cantor ohne weitere Rückfrage für seine theologischen Überlegungen in Anspruch nimmt. 4. Umgekehrt genügte die relativ simple platonistische Grundüberzeugung Cantors als Motivation für seinen Mut zu einer überaus fruchtbaren mathematischen Begriffsbildung. Deren Rechtfertigung kann dann wiederum auf mathematischem Gebiet rein pragmatisch erfolgen. 5. Eine philosophisch orientierte Gotteslehre – gerade wenn sie auf mathematisches Denken Bezug nehmen will – muss sich vermutlich um einen produktiven Umgang mit Widersprüchen bemühen. Dass es gar nicht so einfach ist, genau zu sagen, was ein Widerspruch ist, kann wiederum durch Betrachten der Mathematikgeschichte des 20. Jahrhunderts gelernt werden. 6. Die wechselseitige Irritation der beiden Disziplinen kann für beide – auf jeweils eigentümliche Weise – äußerst fruchtbar sein; allerdings darf dabei nicht versucht werden, in naiver Weise die Methodik der einen auf die andere zu übertragen.

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Theologie der Unendlichkeit Gedanken zum Blick der Theologie auf die Mathematik Florian Bruckmann

Algorithmen beherrschen und strukturieren unser Leben. Mancherorts scheint dies nicht einsichtig zu sein, weil ein großer Teil der Menschheit auf Vieles verzichten muss, was dem Lebensstandard der sogenannten Industrienationen entspricht. Aber spätestens wenn wir telefonieren oder Strom benutzen, werden wir mit dem Wirken von Algorithmen konfrontiert. Deren Verwendung macht den Siegeszug der Naturwissenschaften unübersehbar und lässt erahnen, warum Religion in der westlichen Welt vielfach auf den Gefühlsbereich reduziert worden ist und Bibeln und Koranausgaben in den Bücherregalen bei der Ratgeberliteratur und zwischen New Age Angeboten zu finden sind. Obwohl in der europäischen Geistesgeschichte viele Gelehrte zugleich Logiker, Mathematiker und Theologen gewesen sind, ist das Gespräch zwischen diesen Disziplinen nahezu erloschen, wenn man Theologie nicht gerade mit den Mitteln der analytischen Philosophie betreibt. Die folgenden Überlegungen weisen auf, dass es überaus sinnvoll wäre, das Gespräch zwischen der Mathematik und der Theologie zu vertiefen, weil zumindest die Theologie davon stark profitieren würde. Um diese These zu erhärten, wird im Folgenden zuerst ein Blick auf die Ausgangsbedingungen von Mathematik und Theologie geworfen (1.). Danach steht (2.) das (symbolische) Denken des Unendlichen im Mittelpunkt der Überlegungen, dem 2006 eine interdisziplinäre Tagung in Tübingen gewidmet wurde, auf der Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftler gleichermaßen vertreten waren.

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Theologie der Unendlichkeit

1. Zu den Quellen von Mathematik und Theologie Die Anfänge der Mathematik sind verborgen und wir können sie nur nach Maßgabe dessen rekonstruieren, was die Zeiten überdauert hat und archäologisch gesichert werden kann. Unter dieser Perspektive „[gehen] [d]ie Anfänge der Mathematik … auf empirisch gewonnene Anwendungsregeln zurück.“ 1 Mathematik diente der Berechnung von Bauwerken und Steuern, der Lagerungstechnik, der Landvermessung und der Verbesserung von Ackerbau und Wasserförderung und kann damit als eine Kulturleistung im Rahmen der Sesshaftigkeit bezeichnet werden. Schon davor dürfte es zu eingehenden Beobachtungen astronomischer Vorgänge gekommen sein, deren Berechnungen und Vorhersagen für den agrarischen Jahresablauf und den religiösen Kult in vielen Hochkulturen wichtig geworden sind. Wie die Theologie die Reflexion und wissenschaftliche Durchdringung dessen ist, was religiös erfahren, gelebt und geglaubt wird, so ist die Mathematik eine Reflexion der Regeln, die das gesellschaftliche Leben der Menschen strukturieren, das Zusammenleben gerechter gestalten und Abläufe aller Art vorhersagen helfen. Wie die Theologie entwickelt aber auch die Mathematik schon bald ein Eigenleben und entfernt sich aus ihrem primären Anwendungskontext, ohne dass letztlich geklärt werden könnte, ob es eine absolut anwendungsfreie Mathematik geben kann, weil alles mathematisch Erdachte von Menschen gedacht wird, die sich das Erdachte, so abstrakt es auch immer sein mag, irgendwie vorstellen müssen, so dass ein Rückbezug auf einen anderen Forschungsbereich, einen gesellschafts- oder lebenswissenschaftlichen Kontext immer möglich bleiben wird. Gleichzeitig bleibt die paradoxe Erkenntnis wahr, dass „kein empirisches Beispiel … eine mathematische Aussage bestätigen oder widerlegen [kann]“ 2, so dass es bei Fehlern in der Berechenbarkeit von Messungen und bei erstaunlichen Beobachtungen lediglich 1 2

H. Poser, Art. Mathematik, in: TRE 22 (1992) 268–278, 268. Ebd., 273.

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zu einer erneuten Suche nach der passenden mathematischen Theorie kommen kann, ohne dass dadurch die zuvor fälschlicherweise angewandte falsifiziert wäre. Gleichzeitig gilt, dass nicht alles angewandt wird, was mathematisch erdacht und gedacht wird, aber alles mathematisch Gedachte wird von Menschen gedacht: Es zeigt sich hier der alte Streit zum Ausgangspunkt der Mathematik, der entweder im reinen Denken verortet wird (Logizismus), so dass der Mensch dem zu Denkenden „nur“ nachdenkt, oder ob beim Ausgangspunkt der Mathematik die „konstruktive Tätigkeit des menschlichen Verstandes“ 3 höher gewertet wird, so dass die konstruktive Eigenleistung menschlichen Denkens sehr viel stärker in den Mittelpunkt gerückt wird (Intuitionismus). Egal wie man diese Frage entscheidet und vielleicht sogar gerade in der Unentscheidbarkeit dieser Frage, muss dennoch festgehalten werden, wie erstaunlich es ist, dass „Mathematik überhaupt anwendbar ist.“ 4 Natürlich bedarf es größter Regelmäßigkeiten und überprüfbarer Regelhaftigkeit im makroskopischen Alltagserleben und seiner Messbarkeit, damit wir unsere Handlungen planen und ihre Folgen abschätzen können. Und trotzdem stellt sich die erkenntnistheoretisch so wichtige Frage, ob die Natur unser Denken prägt oder ob wir die Natur unseren sinnlichen Erfahrungs- und unseren abstrakten Denkvoraussetzungen unterwerfen. Die Frage, ob etwas anderes den Menschen prägt oder dieser sich dem zu Erkennenden nach seinem Erkenntnisvermögen nähert, ist von höchster theologischer Relevanz, geht es doch darum, ob Gott den Menschen so nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dass er auf ihn hin offen ist (capax infiniti), oder ob der Mensch zum Maßstab des Gott-Denkens und damit auch der Möglichkeit und Inhaltlichkeit von Offenbarung wird. Wie auch immer man diese Frage entscheidet, sie hat systematisch weitreichende Folgen und nur von ihr her lässt sich die Brisanz der Formulierung erken3 4

Ebd., 271. Ebd., 273.

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nen und erklären, Gotteswort ergeht in Menschenwort: Hier wird an der atemberaubenden Aussage festgehalten, dass es wirkliche Offenbarung gibt bzw. heilsgeschichtliche gegeben hat, dass also Gotteswort ergeht, dass dies aber nicht so geschieht, dass es an sich oder rein ergeht – schon allein weil der Mensch unvermittelt Göttliches wohl nicht ertragen könnte –, sondern dass es hier zu einem höchst bedeutsamen Vermittlungsvorgang kommt; Gotteswort ergeht im Menschenwort, ist als menschliches Wort zu hören und nur als solches zu verstehen (DV 2–6). Gleichzeitig müht sich jede Offenbarungstheologie mit dem Problem der Vorgegebenheit und Unhintergehbarkeit ab. Offenbarung, die Erfahrung von Offenbarung und die Behauptung der Erfahrung von Offenbarung sind unhintergehbar, sie lassen sich im Letzten nicht verifizieren; menschlicherseits kann man dieser Behauptung nur vertrauen, kann man ihr nachdenken, kann man sich ihrer Selbstevidenz hingeben und kann ihr im eigenen Leben nachgehen; aber naturwissenschaftlich oder mathematisch lässt sie sich im strengen Sinn nicht beweisen – was mit dem Grund der Offenbarung, ihrem Urheber zusammenhängt: Gott wird in der metaphysica specialis und nicht in der metaphysica generalis behandelt, weil er kein Gegenstand dieser Welt ist und deshalb nicht der Ontologie im eigentlichen Sinne untersteht. Offenbarung hat also einen anderen Ursprung als dieser mit kausal-temporalen Denkkategorien bis zu seinen Anfängen hin zurückverfolgt werden könnte. Gleichzeitig muss es im Monotheismus ein Denken der Offenbarung geben dürfen, denn wenn sich diese einfach der menschlichen Vernunft entziehen würde, dann gäbe es kein Kriterium mehr, um ergangene von einfach behaupteter Offenbarung zu unterscheiden. Innerhalb der christlichen Theologie wird Jesus Christus dabei als Höhepunkt und Abschluss der (christlichen) Offenbarung verstanden, so dass das Kriterium für Offenbarung gleichsam selbstevident ist und sich aus der Offenbarung selbst ergibt. Von außen betrachtet kann nur die Vernunftgemäßheit und Menschlichkeit der Möglichkeit und des Inhaltes der Offenbarung als Kriterium für Offenbarung ins Feld 191 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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geführt werden, so dass letztlich ein bzw. der die Offenbarung bezeugende Gläubige bei aller Unzulänglichkeit des eigenen Tuns und Denkens zum Kriterium für die Wahrheit des von ihm Erfahrenen wird. Spannend ist es nun zu sehen, dass sich Hilbert selbst eher als Logizist denn als Intuitionis verstanden hat 5 und der Logizismus ideengeschichtlich der „platonistischen Ontologie“ 6 und über diese einer metaphysischen Denktradition nahesteht. Johannes Brachtendorf hat eingehend darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf die Frage nach der Unendlichkeit innerhalb der Metaphysik-Tradition neben dem monistischen Traditionsstrang, der sich von Parmenides und Plotin über Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus und Baruch de Spinoza bis Dieter Henrich erstreckt, ein weiterer zu finden ist, der von Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquin verläuft. 7 Für die beiden letzteren sei ausschlaggebend, dass Gott der Schöpfer des Seienden sei, so dass die Schöpfungsrelation auch immer eine Schöpfungsdifferenz sei, die nicht negiert werden dürfe. Nach Thomas ist Gott „zwar das Sein selbst, aber er ist nicht das Sein der Dinge, sondern dessen Ursache.“ 8 Das hat zur Folge, dass alles Sein seine Existenz aus Gott habe, aber nicht am Sein Gottes partizipiere, sondern ihm gegenüber relational selbständig gedacht werden müsse, weswegen das Verhältnis zwischen Schöpfer und aus dem Nichts geschaffenem Geschöpflichen mithilfe der analogia entis Lehre bestimmt werden muss. 9 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, warum Thomas mit großer Vehemenz für die Anfangslosigkeit und damit für die Ewigkeit der Welt eintreten konnte: Gott schafft mit der 5

Tapp, An den Grenzen, 128 f. Poser, Art. Mathematik, 271. 7 J. Brachtendorf, Der Begriff der Unendlichkeit und die Metaphysik der AllEinheit, in: J. Brachtendorf, u. a. (Hg.), Unendlichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2008, 23–45, 24–26. 8 Ebd., 40. 9 Ebd., 41 f. 6

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Welt die Zeit, so dass temporale Kausalität und mit ihr die Newton’sche Physik nur mit der Welt und in ihr von Bedeutung sind, vor dem Anfang der Welt aber nicht greifen, wozu eine strukturelle Parallele in der sogenannten Planck-Zeit besteht, also dem kurzen Zeitraum zwischen dem singulären Anfang unseres Universums bis zum Entstehen der ab dann konstanten Naturgesetze. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass Zeit eine rein innerweltliche Kategorie ist, so dass man – auch wenn dies zunächst, also auf dem Hintergrund einer naiven Alltagsontologie, paradox erscheint – durchaus denken kann, dass die Welt unter zeitlichem Aspekt betrachtet ewig ist, aber dennoch von Gott geschaffen: Schöpfung bezeichnet kein Kausalverhältnis, sondern eine Gründungsrelation. 10 Wenn man das bisher Geschriebene weiterdenkt, dann tut sich ein breites Diskursfeld zwischen dem (inzwischen von Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead weiterentwickelten) Logizismus und einer verfeinerten Ontologie in thomanischer Tradition auf: Mit Thomas ist das Sein der Welt grundsätzlich vom Sein Gottes zu unterscheiden, 11 wie auch von den analytischen Urteilen der Mathematik nicht unvermittelt auf deren Existenz geschlossen werden darf; dementsprechend hatte Betrand Russell (1872– 1970) auf die scholastische Unterscheidung von Essenz und Existenz hingewiesen und so in seinen Augen auf die geringe Überzeugungskraft des ontologischen Arguments von Anselm von Canterbury aufmerksam gemacht; 12 im Streit zwischen mathematischen Platonisten (Georg Cantor, Kurt Gödel) und mathematischen Realisten (Willard V. O. Quine, Hilary W. Putnam) mahnt Russell gleichsam zu Differenzierungen, so dass es sowohl aus theologischen als auch aus mathematischen Gründen durchaus 10

Vgl. M. Seckler, Die Anfangslosigkeit der Welt und die christliche Schöpfungslehre, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 301–314, 309 f. 11 Thomas von Aquin, De Potentia, q. 7, a. 2 ad 4m: „[E]sse divinum … non est esse commune, sed est esse distinctum a quolibet alio ente. Unde per ipsum suum esse Deus differt a quolibet alio ente“. 12 B. Russell, History of Western Philosophy, London 1947, 609.

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sinnvoll sein kann, im Zeitalter der Postmoderne den metaphysisch-ontologischen Grundstrukturen menschlichen Denkens nachzugehen.

2. Zum (symbolischen) Denken der Unendlichkeit Der angedeutete Schulstreit zwischen mathematischen Platonisten, die von der Existenz des mathematisch Erdachten überzeugt sind, und Mathematikern, die die Rolle des mathematisch denkenden Subjektes im Rahmen des Intuitionismus oder gar Konstruktivismus sehr viel höher schätzen, lässt sich auch im unterschiedlichen Umgang mit dem Problem der Unendlichkeit darstellen: 13 Es stellt sich die Frage, ob es aktual unendliche Zahlen bzw. Mengen gibt oder ob man sich diese nur potentiell vorstellen kann, so dass sie nicht wirklich existieren. Für die Physik weist z. B. Jürgen Ehlers darauf hin, dass sie zwar mit sehr großen oder kleinen Zahlen rechnet, dass sie aber keinen Begriff für die Unendlichkeit hat, so dass hier nicht von einer aktualen Unendlichkeit ausgegangen werden könne. 14 Trotz dieses Ausschlusses aktualer Unendlichkeit innerhalb der Physik weist Reimer Kühn darauf hin, dass im makroskopischen Bereich Gesetzmäßigkeiten nur deshalb festgestellt werden können, weil es zu einer Interaktion praktisch unendlicher Teilsysteme kommt. 15 Hierbei scheint es sich dann um die Vorstellung der Unendlichkeit als Nicht-Abzählbarkeit zu handeln, also um einen Unendlichkeitsbegriff, der mit Unmäßigkeit oder Unüberschaubarkeit korreliert. Die gegenwärtige Diskussion um den Umgang mit der Idee der Unendlichkeit hat innerhalb der europäischen Geistesgeschichte dabei eine lange Tradition. So beschäftigte sich z. B. der Mathe13

Vgl. Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit. J. Ehlers, Das meßbar Große und Kleine. Über Methode und Ergebnisse physikalischer Naturforschung, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 131–139. 15 R. Kühne, Über die konstitutive Rolle des Unendlichen bei der Entstehung physikalischer Theorien für den makroskopischen Bereich, in: Ebd., 157–181. 14

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matiker Georg Cantor (1845–1918) ausführlich mit der Mengenlehre und entwickelte die Idee, dass es zusätzlich zum Endlichen und einer absoluten Unendlichkeit auch eine transfinite Unendlichkeit geben müsse, was uns jetzt nicht weiter beschäftigen soll. Anschaulich wurden die Arbeiten Cantors jedenfalls durch die Weiterentwicklung von Benoît Mandelbrot (1924–2010), der die unendlichen Wiederholungen der sogenannten Cantor-Menge als Fraktal bildlich darstellbar gemacht hat. 16 Am bekanntesten von Cantors Mengenlehre dürft seine Definition von Mengen sein: „Unter einer ‚Menge‘ verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die ‚Elemente‘ von M genannt werden) zu einem Ganzen.“ 17

Durch eine sogenannte Bijektion können gleichgroße oder gleichmächtige Mengen bestimmt werden, indem jedem Objekt der einen Menge genau ein Objekt der anderen Menge zugeordnet wird. Interessanterweise verwendet Ludwig Neidhart zur Unterscheidung von relationstheoretisch und ergänzungstheoretisch unendlichen Mengen bei Cantor ein geometrisches Beispiel, das frappant an Nicolaus von Kues (1401–1464) erinnert. Grenzt man auf einer unendlich langen Geraden eine kleine Strecke ab, dann ist die Gerade ergänzungstheoretisch unendlich viel größer als diese kleine Strecke. Biegt man allerdings die Strecke zu einem Halbkreis, kann man von jedem Punkt der Geraden zum Mittelpunkt des Halbkreises eine Linie ziehen, die den Halbkreis in genau einem Punkt schneidet. In dieser Weise kann relationstheoretisch jedem Punkt der Geraden genau ein Punkt auf dem Halbkreis zugeordnet werden, so dass die ergänzungstheoretisch größere Menge an Punkten auf der

16

B. Mandelbrot, Les objets fractals. Forme, hasard et dimension, Paris 1975. G. Cantor, Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre, in: Mathematische Annalen 4 (1895) 481–512, 481.

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Geraden relationstheoretisch gleich groß mit der Menge der Punkte auf dem Halbkreis ist. 18 Nikolaus von Kues beschreibt seinerseits im dreizehnten Kapitel des ersten Buches von De docta ignorantia die Unendlichkeit des Kosmos damit, dass im Endlichen Kreis und Gerade zu unterscheiden sind, dies aber nicht mehr möglich ist, wenn man den Kreis bis ins Unendlich ausdehnt: Dann wird die Kreisbahn zu einer Geraden. 19 Bis ins Unendliche ausgedehnt wird allerdings auch das Dreieck zu einem Kreis, 20 weswegen Cusanus aufgrund geometrischer Überlegungen nicht nur zu einer platonisch-mystischen Plausibilisierung des Trinitätsglaubens gelangt (I, XIX f.), sondern auch zu seiner berühmten Schlussfolgerung, dass in Gott Gegensätze zusammenfallen (coincidentia oppositorum), bzw. von der göttlichen Vorsehung die Gegensätze vereinigt werden, 21 weil „Gott die Einfaltung von allem, auch des Gegensätzlichen ist.“ 22 Über eine Spekulation über die Unendlichkeit des Kosmos im zweiten Buch von De docta ignorantia 23 kommt Cusanus im dritten Buch dieses Werkes schließlich auf Jesus Christus zu sprechen, in dessen Vernunftseele er die Einheit von Gott und Mensch verankert sieht. 24 Aufgrund der Unendlichkeit vernünftiger Erkenntnis muss der Gott-Mensch an Gottes Unendlichkeit teilhaben, so 18

L. Neidhart, Mathematische Ergebnisse über Unendlichkeit und ihre Bezüge zu Metaphysik und Theologie, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 217–248, 227. 19 Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, Buch I, übers. u. m. Vorw. u. Anm. hg. v. P. Wilpert, vierte, erw. Aufl. v. H. G. Senger, lat-dt, (PhBM 264a), Hamburg 1994, 46–49. 20 Ebd., 56 f. (I, XV). 21 Ebd., 88 f. (I, XXII): „Quomodo dei providentia contradictoria unit – Die göttliche Vorsehung vereinigt die Gegensätze“. 22 Ebd. 23 Vgl. H. Schwaertzer, Anthropologische Unendlichkeit, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 47–63. 24 Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, Buch III, zweite, verb. Aufl., übers u. m. Einl., Anm. und Reg. hg. v. H. G. Senger, lat-dt, (PhBM 264c), Hamburg 1999, 26–33 (III, IV).

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dass dem Unendlichkeitsdenken des Cusaners ein soteriologisches Motiv innewohnt, das zutiefst mit der Vorstellung der Repräsentation verbunden ist: „Wenn behauptet wird, daß in Christus dem Menschen Gott gegenwärtig wird, dann ist er deshalb umgekehrt die Person, in der Gott die Menschheit vergegenwärtigt wird. Und umgekehrt gilt: Als Person, in der Gott die Menschheit gegenwärtig wird, ist er die (einzige) Person, die beanspruchen kann, daß in ihr Gott der Menschheit gegenwärtig wird.“ 25

Aufgrund des Gedankens der Unendlichkeit bzw. des Denkens des Unendlichen kommt es zu einer Annäherung des unendlichen Gottes an den endlichen Menschen bzw. wohl noch viel mehr des endlichen Menschen an den unendlichen Gott. Auch René Descartes (1596–1650) hat sich als Mathematiker und Philosoph eingehend mit dem Problem der Unendlichkeit auseinandergesetzt und maßgeblich ist hier die dritte Meditation über die Grundlagen der Philosophie: Über das Dasein Gottes. Descartes betont, dass nur „alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich einsehe“ (III, 2) 26, um dann angeborene von erworbenen und selbstgemachten Vorstellungen zu unterscheiden (III, 7). Weil in der aristotelischen Kausallogik einsichtig ist, dass die Wirkung kleiner sein muss als ihre Ursache, geht Descartes auch in der Ontologie davon aus, „daß mindestens ebensoviel Sachgehalt in der gesamten wirkenden Ursache vorhanden sein muß wie in der Wirkung ebendieser Ursache.“ (III, 14) 27 Weil Descartes in der Folge – ebenso wie Thomas von Aquin in seinen quinquae viae – den regressus ad infinitum ausschließt (III, 15), kommt er einerseits zu der Schlussfolgerung, dass Gott notwendig außerhalb seiner, also außerhalb von Descartes existieren muss (III, 16), weil der end25

St. Schaede, Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie, (BHTh 126), Tübingen 2004, 227. 26 Descartes, René, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. L. Gäbe, durchges. v. H. G. Zekl, (PhBM 271), Hamburg 1960, 31. 27 Ebd., 36.

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liche Descartes unmöglich die Ursache der Vorstellung des unendlichen Gottes sein könne (III, 23 f.), weswegen Gott dem Menschen auch die Vorstellung seiner, also Gottes eingepflanzt haben muss (III, 38). „Die ganze Kraft dieses Beweises liegt in der Erkenntnis, daß ich selbst mit der Natur, die mir eigentümlich ist – nämlich im Besitze einer Vorstellung Gottes – unmöglich existieren könnte, wenn nicht auch Gott wirklich existierte, derselbe Gott, sage ich, dessen Vorstellung in mir ist, d. h. der alle Vollkommenheiten besitzt, die ich zwar nicht begreifen, aber doch gewissermaßen mit den Gedanken berühren kann“. 28

Ist es nicht verwunderlich, dass genau das Problem der Unendlichkeit bei Charles Darwin (1809–1882) zu einer der großen Kränkungen des Menschen geworden ist, weil evolutionstheoretisch der Mensch nichts anderes ist als ein naher verwandter der Primaten? Darwin blickte auf die fast unübersehbare Vielfalt des ihn umgebenden natürlichen Raumes und erkannte – wie ein Gott – einen Sinn und ein Ziel; er verstand die Folgerichtigkeit kausaler (nicht ontologischer!) Abstammungsverhältnisse und hatte von Thomas Malthus (1766–1834) gelernt, dass die Arten mehr Nachkommen hervorbringen als ernährt werden können, 29 weswegen es notwendig zu einem Anpassungsdruck kommt. Vielleicht liegt, so könnte man provokant fragen, die Kränkung des Menschen durch die Evolutionstheorie gerade nicht darin, dass er von seinem Thron als dem eigentlichen Ziel der Schöpfung gestoßen wird, sondern genau umgekehrt darin, dass er selbst in die Perspektive Gottes eintritt und beginnt, wie Gott die Natur zu

28

Ebd., 47. Th. R. Malthus, An Essay on the Principle of Population, ND Mineola 2007, 5: „Assuming, then, my postulata as granted, I say, that the power of population is indefinitely greater than the power in the earth to produce subsistence for man.“ Mit mathematischer Sicherheit folgert Malthus: „Population, when unchecked, increases in a geometrical ratio. Subsistence increases only in an arithmetical ratio.“

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durchschauen. Aus eigener Kraft zu sein wie Gott wurde schon lange als Ursünde des Menschen verstanden, aber erkenntnistheoretisch wurde diese religiöse Versuchung in der Neuzeit gleichsam zum Ausgangspunkt des Forschens. Ganz in diesem Sinne schreibt Alexander von Humboldt (1769–1859): „Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste Resultat der sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen“. 30

Mit Gerald Hartung 31 kann dieses Ansinnen von Humboldt, im Mannigfachen das eine Ziel zu erkennen, im Sinne von Hermann Lotze (1817–1881) so gedeutet werden, dass sich der Mensch auch innerhalb der Ontologie seiner alles überragenden Perspektive versichert und dergestalt Metaphysik betreibt: „Will der Geist durch die Macht seiner Erkenntnis die Welt aufbauen, so ist diese lebendige Kühnheit ihm nicht zu mißgönnen; aber er erinnere sich wenigstens, daß wir nicht von selbst im Mittelpunkt des Werdens und der Bewegung stehen, sondern nach vielen Seiten hin dislocirt gar mannigfaltiger künstlicher Wege bedürfen werden, um durch die Untersuchung uns auf jene Höhe der Beobachtung und des Umblicks emporzubringen, von der die unendlichen Verhältnisse des Seienden sich überblicken lassen.“ 32

So ist zwar eine gewisse Anstrengung nötig, um alles zu überblicken, aber es ist in dieser Denktradition alles andere als unmöglich, zu diesem Standpunkt zu gelangen. Ganz in diesem Sinne hat Ludwig Neidhart davon gesprochen, dass „[m]enschliches Erkennen … potentiell unbegrenzt [ist].“ 33 So hat Neidhart auch für 30

A. von Humboldt, Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1, Stuttgart u. a. 1845, 5 f. 31 G. Hartung, Unendlichkeit oder Maßlosigkeit? Anthropologische Überlegungen, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 113–128, 115–118. 32 H. Lotze, Metaphysik, Leipzig 1841, 17 f. 33 Neidhart, Mathematische Ergebnisse, 230.

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Cantors Mengenlehre eindringlich auf die Fundierung der Mathematik in der Metaphysik hingewiesen und ein starkes Band zwischen Mathematik und Theologie ausgemacht, 34 während Christian Tapp an diesem Punkt sehr viel vorsichtiger formuliert und davor warnt, die Äquivokation des mathematischen und theologischen Unendlichkeitsbegriffes zu schnell zu (Fehl)Schlüsseln zu ge- oder dann missbrauchen. 35 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass sich Cantor selbst wiederum als Platoniker verstanden hat und dergestalt von der realen Existenz dessen ausging, womit sich Mathematik beschäftigt. 36 Ganz anderes setzt Michael Heidelberger aus kognitionswissenschaftlicher Sicht an und lässt die Idee der Unendlichkeit darauf fußen, dass es mit den Mitteln der Mathematik möglich war, diese zu entwickeln und auszudrücken, „so daß wir mit Recht sagen können, daß Unendlichkeit in erster Linie ein Artefakt unserer Sprache darstellt.“ 37 Unter Rückgriff auf Charles S. Peirces (1839–1914) Zeichentheorie vertritt Heidelberger die oben beschriebene Position des Intuitionismus und formuliert fast in Anlehnung an die analogia entis Lehre von Thomas von Aquin:

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Ders., Mathematische Ergebnisse über Unendlichkeit und ihre Bezüge zu Metaphysik und Theologie, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 217–248, 220. 35 Chr. Tapp, Unendlichkeit in Mengenlehre und Theologie. Über tatsächliche und scheinbare Beziehungen, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 233–248, 244–247. 36 G. Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, mit erläuternden Anm. sowie mit Erg. aus dem Briefwechsel Cantor-Dedekind hg. v. E. Zermelo, Berlin 1932, 205 f., :„Diese Überzeugung stimmt im wesentlichen sowohl mit den Grundsätzen des Platonischen Systems, wie auch mit einem wesentlichen Zuge des Spinozaschen Systems überein … So viel aber unsern Vorstellungen Wahrheit zukommt – diese Voraussetzung teilt Plato mit andern (Parmenides) – ebensoviel muß ihrem Gegenstand Wirklichkeit zukommen und umgekehrt.“ 37 M. Heidelberger, Wie kommt die Unendlichkeit in die Naturwissenschaft? Eine Antwort aus der Kognitionsforschung, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 183–196, 192.

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„Wir machen Symbole von Gegenständen oder Ereignissen, und zwar machen wir sie durch ein symbolisches System in solcher Art, daß die Ordnung der Symbole, also die Art ihrer Zusammenfügung, die Ordnung des Symbolisierten, d. h. die Beziehungen der bezeichneten Elemente untereinander widerspiegelt.“ 38

Wie schon mehrfach gesehen, befindet sich die Mathematik immer wieder in einem intensiven Gedankenaustausch mit der Philosophie. Wenn nun innerhalb der Phänomenologie nach Edmund Husserl (1859–1938) das Problem der Intention behandelt wird und diese verstanden wird als „Bewußtsein von etwas“, stellt sich erneut und in aller Dringlichkeit die Frage, ob sich dieses Bewusstsein auf etwas außerhalb des Denkens bezieht oder von diesem selbst hervorgebracht wird. Der Mathematiker Hermann Weyl (1885–1955) entwickelte seinen anfänglich klaren Konstruktivismus während seiner Beschäftigung mit dem Problem des Kontinuums auch in Auseinandersetzung mit dem in die Philosophie gewechselten Mathematiker Husserl weiter 39 und löste Anfang des letzten Jahrhunderts den Grundlagenstreit zwischen Intuitionisten und Formalisten mit aus, 40 ohne selbst zu einer endgültigen Position zu gelangen. Während es für Husserl ein Problem darstellt – Jacques Derrida (1930–2004) hat immer wieder auf dieses idealisierende Problem hingewiesen, – bestimmte Gedanken oder Regeln immer wieder zu wiederholen (Iteration), bedeutet diese Iteration für den Mathematiker gerade den Ausgangspunkt seines Denkens. Von außen scheint die Unendlichkeit (unendliche Menge) nicht definiert oder betrachtet werden zu können und noch war Gödels Unvollständigkeitssatz unbekannt, so dass Weyl die Idee einer symbolischen Repräsentanz des Unendlichen entwickelte:

38

Ebd. G. Nickel, Intentionalität und Unendlichkeit. Hermann Weyl und Edmund Husserl, in: Brachtendorf (Hg.), Unendlichkeit, 201–216. 40 H. Weyl, Über die neue Grundlagenkriese der Mathematik, in: Mathematische Zeitschrift 10 (1921) 39–79. 39

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„Das Unendliche ist dem Geiste, der Anschauung zugänglich in Form des ins Unendliche offenen Feldes von Möglichkeiten; aber das vollendet, das aktuell Unendliche als ein geschlossenes Reich absoluter Existenz kann ihm nicht gegeben sein. Doch wird der Geist durch die Forderung der Totalität und den metaphysischen Glauben an die Realität unabweisbar dazu gedrängt, das Unendliche als geschlossenes Sein durch eine symbolische Konstruktion zu repräsentieren.“ 41

Auch wenn das aktual Unendliche, so möchte man zusammenfassen, für den endlichen Geist selbst nicht denkbar ist, so kann er doch aufgrund seines Umgangs mit Sprache und Zahlen das potentiell Unendliche symbolisch darstellen und mit ihm rechnen. Diese Einsicht ist von großer theologischer Relevanz, weil in der Theologie das Nachdenken über das Symbol von eklatanter Bedeutung ist. Mit Karl Rahner (1904–1984) kann zwischen Zeichen, Symbol und Realsymbol unterschieden werden: Während das Zeichen nur ein Hinweis auf etwas ist, zeigt z. B. das Symbol eines Schweines an einem Haus an, dass man in dem solchermaßen bezeichneten Geschäft Fleischwaren kaufen kann. Dabei enthält das außen hängende Schild kein Fleisch, sondern zeigt den Fleischverkauf nur an. Ganz anders dagegen verhält es sich mit dem Realsymbol, weil dieses das enthält und bewirkt, was es bezeichnet, und das Bezeichnete gerade im Realsymbol selbst zu seiner Vollendung gelangt. Für Rahner ist es dabei ein herausragendes Kennzeichen Gottes, dass dieser in der Schöpfung etwas ihm gegenüber radikal Abhängiges und doch Eigenständiges konstituieren kann, so dass in (seltsamer) ontologischer Paradoxalität die „Abhängigkeit von“ Gott „in gleicher Proportion mit einem wahrhaften Selbstand von ihm [wächst]“ 42, so dass sich im Denken der Freiheit das verwirklicht, was mit der analogia entis Lehre festgehalten wird: Die bei aller Ähnlichkeit doch immer noch

41

Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 4, Berlin 1968, 335. K. Rahner, Probleme der Christologie von heute, in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. I, Einsiedeln u. a. 21956, 169–222

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größere Unähnlichkeit kommt durch die Vergleichbarkeit göttlicher und menschlicher Freiheit bei aller Vorsicht vor einer vereinfachenden Äquivokation dergestalt zum Austrag, dass sich menschliche Freiheit göttlich vollzieht, ohne einfach als göttliche Freiheit verstanden werden zu dürfen. In diesem Sinne kann innertheologisch der in Jesus Christus inkarnierte göttliche Logos als Realsymbol verstanden werden, als das sich den Menschen als Mensch zuwendende göttliche Antlitz: „Menschliche Natur ist mit anderen Worten nicht die von Außen angenommene Larve (das πρόσωπον [prosōpon; FB]), die Livrée, in der versteckt der Logos in der Welt gestikuliert, sondern vom Ursprung her das konstitutive Realsymbol des Logos selbst, so daß in letzter ontologischer Ursprünglichkeit gesagt werden kann und muß: Mensch ist möglich, weil Ent-äußerung des Logos möglich ist.“ 43

Während die Mathematik weiterhin mit dem von Gödel konstatierten Problem umgehen muss, dass ein System aus ihm selbst heraus nicht ohne Setzung widerspruchsfrei beschrieben werden kann, darf die Theologie bei aller gebotenen denkerischen Vorsicht auf den in ihrer biblischen Urquelle und den in der religiösen Tradition, auf die sie verwiesen ist, vorgegebenen Bezug auf göttliche Offenbarung hinweisen. Dergestalt ist es aufgrund göttlicher Selbstaussage in einem Menschen möglich, menschlich (und metaphorisch 44) von Gott zu sprechen und in diesem Sinne mit dem Unendlichen und dem, was der Mensch von ihm erfassen kann, menschlich umzugehen, ohne dabei auf den vergötzenden Gedanken zu verfallen, damit das Unendliche selbst zu

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K. Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Ursprung der Heilsgeschichte, in: J. Feiner / M. Löhrer, (Hg.), Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, Bd. 2, Einsiedeln u. a. 31978, 317–401, 335. 44 J. Werbick, Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre, München 1992, 302: „GottMetaphern können Gott nur deshalb treffend zur Sprache bringen, weil Gott selbst sich in ihnen zur Sprache brachte und bringt, weil er das Menschliche mit sich zusammenbringt: weil er diesen Menschen Jesus Christus – die Gott-Metapher in Person – mit sich zusammenbrachte“.

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denken. Gefangen in den Formen und Axiomen des eigenen Denkens, ist der Mensch in seinen das Denken übersteigenden Erfahrungen offen auf anderes hin, so dass er ansatzweise mehr erfahren, als er (von sich aus) denken kann.

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IV Performative Ebene

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Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität und was daraus für das Studium folgt Sascha Spoun, Sebastian Weiner

1. Zu beginnen ist mit sieben allgemeinen Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität. Sie bilden die gedankliche Grundlage für unsere Überlegungen zu Studium und Lehre. 1.1 Interdisziplinarität ist vom Ziel her zu denken. Andernfalls könnte man meinen, interdisziplinäre Forschung sei eine Banalität des wissenschaftlichen Alltags. Wenn eine neue kommentierte Ausgabe von Ptolemäus’ Schriften ansteht, arbeiten selbstverständlich Altphilologen mit Mathematikerinnen und Astronomen zusammen. Wenn Kunsthistoriker wissen wollen, woher die Farbe für ein Deckenfresko stammt, kooperieren Sie mit der Physik, um die Nanobestandteile der Farbpigmente zu analysieren. Aber das ist nicht das Gemeinte, wenn es um Interdisziplinarität geht. Was eine Disziplin ist, müssen wir hier als einigermaßen klar voraussetzen, wobei im Grunde das gemeint ist, was disciplina auch im klassischen Latein bedeutete: eine „ratio vivendi et discendi“ (Forcellini), die an Schüler weitergegeben wird. 1 Interdis1

Die Redeweise, man solle sich disziplinieren, sprich, die Regeln befolgen (im Sinne von militärischer Ordnung und Disziplin), lässt sich nur bedingt aus der ursprünglichen lateinischen Verwendung von discipulus ableiten, anders, als es Barry/Born vorgeben, siehe A. Barry/G. Born (Hg.), Interdisciplinarity. Reconfigurations of the Social and Natural Sciences, Abingdon 2013, 1. Zudem ist Osbornes Behauptung falsch, in den mittelalterlichen Universitäten sei die disciplina als methodische Praxis der doctrina im Sinne einer eigenen Theorie entgegen-

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ziplinäres Forschen zielt darauf ab, die Erkenntnisgrenzen einer Disziplin zu überschreiten. Resultat dieser Überschreitung sollte sein, Phänomene ganzheitlicher zu verstehen oder Prozesse wirkungsvoller steuern zu können. 1.2 Transdisziplinarität geht einen Schritt weiter und stellt das Dogma wissenschaftlicher Begründungen in Frage. Nach unserem Ermessen ergibt sich das Streben nach Transdisziplinarität aus einem einfachen, aber historisch wirkungsmächtigen Umstand, nämlich der Geringschätzung der lebensweltlichen Erfahrung durch die Wissenschaften. Aristoteles erachtete den Architekten als dem Handwerker überlegen, weil jener nur wusste, wie eine Mauer zu bauen ist, damit sie hält, dieser aber auch, weshalb das so ist. Wissenschaft befasst sich nach Aristoteles mit dem Warum, Erfahrung hingegen mit dem bloßen Dass bzw. Ob (Metaphysik I 1, 981a28–30). Aus diesem Grund sei Wissenschaft keine Erfahrung, sondern baue auf ihr auf. Wer Letztbegründungen liefert, steht damit an der Spitze der Wissenschaftsordnung. gesetzt, was zudem, anders als es Osborne vorgibt, als Aussage bei Shumway und Messer-Davidow nicht vorliegt, siehe P. Osborne, Problematizing Disciplinarity, Transdisciplinary Problematics, in: Theory, Culture, and Society 32, 5–6 (2015), 3–35, 4. Im Mittelalter vertrat niemand eigene Theorien, sondern man arbeitete sich an Autoritäten wie Augustinus, Aristoteles und der Bibel ab. Festhalten lässt sich das Folgende. Die Etymologie von discipulus und seinem Derivat disciplina ist strittig. Laut de Vaans Etymological Dictionary of Latin leiten Walde/Hoffmann discipulus von discapio ab, was ebenso fragwürdig sei wie die Ableitung von disco bei Ernout/Meillet. Der Forcellini sowie Lewis/Short weisen darauf hin, dass schon früh disciplina auch im Sinne von militari disciplina verwendet wird. Dieser unterschiedliche Sinn erklärt sich recht gut durch de Vaans Verweis auf Cato, bei dem discipulosus so etwas wie „well-trained“ meine; gut ausgebildet kann man intellektuell oder militärisch sein. Dadurch relativiert sich die Aussage von Hoskin und Macve (die von Shumway und Messer-Davidow zitiert werden) „disciplina itself already has in classical Latin the double sense of knowledge (knowledgesystem) and power (discipline of the child, military discipline).“ In beiden Fällen ist lediglich die tradierte ratio vivendi et discendi gemeint, auf die der Forcellini verweist. Siehe D. R. Shumway / E. Messer-Davidow, Disciplinarity. An Introduction, in: Poetics Today 12,2, 201–225, 202.

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Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität

Als einer der ersten hat John Dewey versucht, diese traditionelle Auffassung aus dem Weg zu räumen. Eine Erfahrung zu machen, bedeute nicht einfach, etwas wahrzunehmen, sondern einen echten Lernprozess. Erfahrungen sind nach Dewey nicht weniger wertvoll als Beweise, wenn man die Sache pragmatisch betrachtet. Wer eine Landschaft kennt, so sein Beispiel, kann im Dunkeln in der Sekunde eines Blitzes die vollständige Landschaft erkennen und sich orientieren. 2 Nach unserem Eindruck ist auch Transdisziplinarität darauf aus, mit dem aristotelischen Wissenschaftsdogma zu brechen. Hinter dem Ansatz, Akteure aus der Praxis in die Forschung miteinzubeziehen, weil der disziplinäre Blick zu eng für die Wirklichkeit ist, steckt eine neue Wertschätzung der Erfahrung. Transdisziplinarität ist auch ein später Sieg des amerikanischen Pragmatismus. 3 1.3 Forschen und Problemlösen sind nicht unbedingt dasselbe. Sie sind verschieden vom Motiv her, vom Vorgehen her und vom Ziel her. Forschen ist klassischerweise ein Fragen nach dem Wie: Wie funktioniert das? Wie lässt es sich beeinflussen? Die Naturwissenschaften zielen darauf ab, Prozesse in der Welt vorherzusagen und zu kontrollieren. Analog dazu fragen die Kulturwissen2

J. Dewey, Art as Experience (New York 2005 [Originalausgabe 1934]), 24. Wir glauben, dass die Grundidee des Pragmatismus auch die gemeinsame Klammer zu bilden vermag zwischen dem „discourse of transcendence“ und der „method of knowledge production […] linked with utilitarian objectives“, wie Thompson Klein die beiden Hauptrichtungen in der Transdisziplinaritätsdiskussion charakterisiert, siehe J. Thompson Klein, Discourses of Transdisciplinarity. Looking Back to the Future, in: Futures 63C (2014), 68–74, zit. nach dies., Reprint of ‚Discourses of Transdisciplinarity. Looking back to the future‘, in: Futures 65 (2015) 10–16, bes. 15. Selbiges gilt für die drei Diskurslinien zu Transdisziplinarität, die Osborne unterscheidet, siehe Osborne, Problematizing Disciplinarity, Transdisciplinary Problematics, bes. 9. Die Kontrastierung von klassischer Wissenschaft als mode 1 mit der neuen Wissensproduktion als mode 2 bei Nowotny u. a. ist nach unserem Ermessen in großen Teilen eine Neuformulierung von Deweys Kritik am klassischen Wissens- und Erfahrungsbegriff, H. Nowotny / P. Scott / M. Gibbons, Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001, bes. 184–198.

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schaften: Wie lässt sich das verstehen? Wie lässt sich damit umgehen? Kurz gesagt ist Forschen von Neugierde getrieben. Probleme löst man nicht aus Neugierde, sondern weil man einen Zustand in der Welt als misslich bewertet. Bei Herodot in der frühgriechischen Antike meint problema ein Hindernis, das man als Schutzschild vor Feinden aufrichtet (von pros-ballein, vor sich hin werfen). Diese Bedeutung findet sich noch bei Platon wieder, wenn er angibt, die Sophisten verschanzten sich hinter immer neuen problemata (Sophistes 261a). Das gilt eigentlich bis heute für viele Probleme: Wir ringen mit egoistischen, sozialen und ökonomischen Hindernissen auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Sie aus dem Weg zu räumen, würde Nachhaltigkeit ermöglichen. Nach traditioneller Auffassung ist diese Beseitigung kein Forschen, doch ist es denkbar und wünschenswert, dass sich die Forschungsresultate auch anwenden lassen, um die Probleme zu bewältigen. 4 1.4 Häufig wird Transdisziplinarität so verstanden, dass Forschen ein Problemlösen darstellt. Ist das möglich? Die Wissenschaft befasst sich nach eigenem Bekunden durchaus mit Problemen. Bereits Aristoteles machte geltend, jede wissenschaftliche Frage lasse sich zu einem Problem umformulieren (Topik I 4, 101b29–33). Entscheidend ist dann, welche Dinge die Wissenschaft zum Problem erklärt. Aristoteles etwa sah ein untersuchenswertes Problem darin, ob die Welt ewig ist oder nicht (Topik I 11, 104b7–8). Transdisziplinäre Forschung hingegen ist so angelegt, dass sie Probleme untersucht, die sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus Alltagssicht als relevant angesehen werden (das ist gemeint mit der üblichen Rede von „real-world problems“). Die entscheidende Frage lautet also: Wie gelingt es, dass sich die Wissenschaft für 4

Man könnte meinen, Peirces Konzept des Scheiterns als Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt schlage bereits die Brücke zwischen Problemlösen und Forschen. Das ist nicht der Fall. Das Scheitern ist eine Erfahrung, dass eine Überzeugung oder Prognose nicht zutrifft. Das Problem ist hingegen ein Zustand der Welt, den man als misslich bewertet. Man kann etwas als Problem ansehen, aber Probleme können einem anders als das Scheitern nicht widerfahren.

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Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität

die außerwissenschaftlichen Probleme interessiert? Oder besser noch: Wie lässt sich die Neugierde wecken, durch die diese Probleme in Angriff genommen werden? Diese Fragen sind unabhängig von der Frage, wie geforscht wird, also mit welcher Methodologie. Ohne Motivation keine Forschung, und weil die Probleme oft so diffus und komplex sind, dass die geringe Aussicht auf Erfolg nur begrenzte Motivation verspricht, ist die Frage nach der Neugierde der Forschenden auch für transdisziplinäre Forschungsansätze nicht unbedeutend. Allerdings ist es durchaus der Fall, dass sich vermeintlich rein wissenschaftliche Probleme später als gesellschaftlich relevant herausstellen. Die Frage, in welchem Verhältnis Koran und Scharia zueinander stehen, wurde in der westlichen Welt jahrzehntelang als Spezialproblem der Islamwissenschaften abgetan. Erst durch die zunehmende öffentliche Wahrnehmung von Muslimen in der westlichen Welt ist die Frage in den gesellschaftlichen Fokus gerückt. Zudem lässt sich darüber streiten, welcher Tatbestand ein Problem ist. Wäre es ein Problem, wenn das Wirtschaftswachstum in Deutschland abnimmt, auf dass die Wissenschaft mit neuen Technologien antworten müsste? Oder wäre ein solches Abnehmen im Sinne der Umwelt und Ressourcenschonung sogar wünschenswert? Weingart macht zurecht geltend, man solle nicht glauben, die interdisziplinäre Forschung sei näher an der Realität als die disziplinäre, sondern beides sind selektive Herangehensweisen. Relevante „real-world problems“ zu bestimmen, ist durchaus nicht einfach. 5 Die disziplinäre Forschung muss sich um solche Schwierigkeiten nicht kümmern. Sie erforscht, was sie in der jeweiligen Disziplin als relevante Frag erachtet. 6 5

P. Weingart, Interdisciplinary. The Paradoxical Discourse, in: P. Weingart / N. Stehr (Hg.), Practicing Interdisciplinarity, Toronto 2000, 25–41, bes. 38–39. 6 Mittelstrass’ Feststellung, dass uns die „Probleme, deren Lösung auch die Wissenschaft dienen soll, nicht mehr den Gefallen tun, sich selbst disziplinär oder gar fachlich zu definieren“, hat mittlerweile Berühmtheit erlangt, siehe Jürgen Mittelstrass, Die Universität zwischen Anspruch und Anpassung, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 1 (2008) 11–23, bes. 14.

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1.5 Inter- und transdisziplinäre Forschung will Verantwortung übernehmen und geht dabei ein hohes Risiko ein. Welche Rolle kann Wissenschaft bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme spielen? Eine sehr begrenzte, lautet die ernüchternde Antwort, denn am Ende steht immer das handelnde Individuum. Man nehme das oft genannte Beispiel des FCKW, wo es erfolgreich gelang, die Ozonschicht zu schützen. Der Wissenschaft ist es zu verdanken, die verheerende Wirkung des FCKW für die Ozonschicht aufgezeigt sowie günstige Ersatzstoffe entwickelt zu haben. Es oblag aber einzig der Politik, das FCKW global zu verbieten. Das vermag keine Wissenschaft. Die beste Seismologie reicht nicht aus, um Erdbebenopfer zu verhindern, solange Menschen sich in Erdbebengebieten ansiedeln dürfen. Daher sollte die Wissenschaft bescheiden sein und keine Verantwortung übernehmen für etwas, das sie nicht zu leisten vermag. Andernfalls wird sie später dafür zur Rechenschaft gezogen. Keine Technologie und keine transdisziplinäre Forschung werden es etwa ermöglichen, dass im Jahre 2050 9,7 Milliarden Menschen ungebremst konsumieren können. Den totalen Kollaps der Erde aufzuhalten, gelingt nur durch Verhaltensänderung der Menschen, und sofern man diese nicht durch technische Innovation und Überzeugungsarbeit erreicht, wird politische Steuerung der zweitbeste, einzig verbleibende Weg sein. 7 Statt sich in die alleinige Verantwortung drängen zu lassen, sollte die Wissenschaft vielmehr ihrerseits darauf drängen, gemeinsam mit Politik und Gesellschaft die Probleme Die Frage ist allerdings, ob gesellschaftliche Probleme von einer derartigen Klarheit und Dauerhaftigkeit sind, dass sich daraus eine wissenschaftliche Ordnung ableiten lässt. 7 Richard Rorty, der zweifelsohne ein äußerst liberaler Demokrat war, berichtet von einem indischen Kollegen, der über dreißig Jahre lang erfolglos versuchte, in der indischen Gesellschaft einen Bewusstseinswandel herbeizuführen, der das Bevölkerungswachstum stoppen würde. Rorty kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, dass erfahrungsgemäß nur techno-bürokratische Initiativen wie die chinesische Ein-Kind-Regelung wirksam genug sind, um derartige Probleme zu lösen, R. Rorty, Love and Money, in: ders.: Philosophy and Social Hope, London 1999, 223–228, bes. 226–227.

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Sieben Thesen zu Inter- und Transdisziplinarität

in Angriff zu nehmen. Denn die Verantwortung für diesen Planeten und die nachkommenden Generationen tragen wir alle. 1.6 Inter- und transdisziplinäre Forschung haben ein Rechtfertigungsproblem. Die brauchbaren Ergebnisse der klassischen disziplinären Forschung (mode 1 genannt) sind zahlreich und bekannt. Der medizinische Fortschritt, die Digitalisierung und unzählige viele Innovationen gehen auf ihr Konto. Methodisch gesehen gilt die disziplinäre Forschung als profund, präzise und kritisch. Welche Ergebnisse die inter- und transdisziplinäre Forschung liefert und ob sie ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird, muss sie erst noch zeigen. Für eine Evaluation der Ergebnisse sind noch nicht einmal geeignete Instrumente vorhanden. Das spricht nicht gegen Inter- und Transdisziplinarität, aber der Beweis, dass es sich im konkreten Fall um eine brauchbare Methodologie und nicht um eine wissenschaftstheoretische Blase handelt, wird vermutlich noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen müssen. Es ist eine wissenschaftspolitische Entscheidung, der Inter- und Transdisziplinarität bis dahin den erforderlichen Vertrauensvorschuss zu gewähren. 8 Es wurde geltend gemacht, die transdisziplinäre Forschung (im Sinne von mode 2) müsse man gar nicht rechtfertigen, weil sie schlicht eine Anpassung sei an die sich verändernde Gesellschaft und ihre Ansprüche. Die Gesellschaft und Politik der Zukunft verlange Forschung, die zu verwertbaren Ergebnissen führe. 9 Aber diese widerstandslose Indienstnahme führt die Wissenschaft leicht in eine Falle. Wozu sollen die verwertbaren Ergebnisse, der so genannte impact, dienen? Zur Steigerung der Wirtschaftsleistung? Es ist nur dem Anschein nach elegant zu sagen, er diene der Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Worin die 8

Weingarts Diagnose aus dem Jahre 2000 trifft heute noch immer zu, dass nämlich inter- und transdisziplinäre Forschung immer wieder lautstark eingefordert wird, sich ungeachtet dessen aber die Ausdifferenzierung der Disziplinen weiter fortsetzt, Weingart, Interdisciplinary, 26. 9 Nowotny u. a., Re-Thinking, passim.

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lösenden Probleme bestehen, kann gerade in Demokratien durchaus strittig sein (siehe These 5). 1.7 Die fortlaufende Ausdifferenzierung der Disziplinen ist kein Unfall in der Wissenschaftsgeschichte. Es ist ein uraltes und bis heute unwiderlegtes Diktum von Aristoteles, dass sich die Methoden nach den zu untersuchenden Gegenständen richten sollten. Bis zu Beginn der Neuzeit hatte die Philosophie die Ansicht vertreten, sie könne mit ihrer deduktiven und phänomenologischen Methode auch Physik, Biologie und Psychologie betreiben. Das kann sie nicht, weil zum Beispiel die Eigenschaften der physikalischen Körper, der biologischen Zellen und der menschlichen Psyche zu divers und für sich genommen zu komplex sind, um sie alle mit derselben Methode zu untersuchen. Dieser Prozess setzt sich scheinbar unaufhaltsam fort. Dieses Rad der Differenzierung einfach zurückdrehen zu wollen, wäre naiv, denn die Ausdifferenzierung der Disziplinen entspricht der zunehmend erkannten Komplexität der Welt. 10 Die vielzitierte Einheit der Wissenschaften beruht auf einem Mythos von der Wissenshierarchie, an deren Spitze der berühmte view from nowhere steht. Interund Transdisziplinäre Forschung sollte einen anderen Zweck verfolgen, als die verklärte Wiederherstellung einer wissenschaftlichen Einheit. 11 Wozu also sollen sie dienen? Der Wunsch, disziplinäre Grenzen zu überwinden, entsteht aus der Einsicht in die Beschränkung 10

Bachelard behauptet durchaus zu Recht, die wahre Funktion des Forschens bestehe darin, Erfahrung zu verkomplizieren, siehe G. Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, Paris 1934, 142. 11 Kitcher betitelt die klassische Wissenschaftshierarchie als an der Theologie orientierten Mythos, siehe Ph. Kitcher, Science, Truth, and Democracy, Oxford 2001, 200. Mittelstrass macht zwar geltend, die Forderung der Interdisziplinarität bediene auch eine „Reparaturvorstellung“ der wissenschaftlichen Ordnung. Er selbst scheint aber der damit verbundenen Idee des view from nowhere kritisch gegenüberzustehen, wenn er schreibt, Interdisziplinarität schwebe nicht, „[…] dem absoluten Geist nahe, über den Fächern und den Disziplinen“, Mittelstrass, Transdiziplinarität, 2–3.

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der disziplinären Herangehensweise und der damit verbundenen Weltsicht. Die Philosophie kann mit dem Gehirn wenig anfangen und die Neurologie mit dem Bewusstsein. Wer das jeweils andere nicht ausblenden will, muss interdisziplinär arbeiten. Es geht also bei Intersdisziplinarität um die Frage, ob die Phänomene, die wir in der Welt vorfinden, adäquater von einzelnen Disziplinen erforscht werden oder mit einer neuen, die Disziplinen überschreitenden Methodologie. Bei der Transdisziplinarität geht es zudem um die Frage, ob der Erfahrung ein höherer Stellenwert beigemessen werden soll, als es jahrhundertelang in der Wissenschaft der Fall war (siehe These 2). Vereinfacht gesagt soll die Wissenschaft rein in die Probleme des gesellschaftlichen Alltags, anstatt sich von diesem zu entfremden. Dieser Vorwurf der Entfremdung findet sich bereits bei Feyerabend, der in seiner unnachahmlich provokanten Art von den Forschenden sagt, sie seien „[…] menschliche Ameisen, die sich bei der Lösung winziger Probleme hervortun, aber mit nichts etwas anfangen können, das über ihren Fachbereich hinausgeht.“ 12

2. Was bedeutet all dies für Inter- und Transdisziplinarität in Studium und Lehre? Zunächst lässt sich auch hier nach dem Ziel von Bildung zu fragen. Was wollen wir bei jungen Menschen erreichen? Fachwissen, Problemlösungskompetenz, Reflexionsfähigkeit, Persönlichkeit, sind häufige Schlagworte. Zumindest mit Blick auf das Berufsleben ist klar, dass dort Menschen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammenarbeiten. Daher ist es wünschenswert, wenn Studierende interdisziplinäre Zusammenarbeit und Problemlösung bereits im Studium praktizieren. Das ist aber eines der wenigen Dinge, die unstrittig sind. Für das Studium ergeben sich sogleich einige Fragen. Eine da12

P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a. M. 1976, 261.

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von ist, ob man Disziplinarität im Studium um Interdisziplinarität ergänzen sollte oder das Eine durch das Andere ersetzen. Der Ruf an die Wissenschaft nach Inter- und Transdisziplinarität richtet sich an Forschende, die in Disziplinen groß geworden und methodisch sattelfest sind. Wie wird eine Inter- und Transdisziplinarität aussehen, bei der Forschende zusammenkommen, die nicht mehr Expertinnen und Experten einer Disziplin sind, sondern von Anfang an nur mit disziplinübergreifenden Methodologien gearbeitet haben? Wir wissen es nicht. Womöglich ist Interdisziplinarität wie ein Schmarotzer, dessen Wirt, nämlich die Disziplinen, man am Leben halten sollte. 13 Daran schließt sich die Frage an, ob eine Gesellschaft ohne klassische Expertise auskommt. Ärzte brauchen anatomische Grundkenntnisse und Ingenieure müssen richtig rechnen können. Alles andere scheint fatal. Kann man dies auch interdisziplinär erlernen oder braucht man dafür die klassischen Disziplinen (vgl. hierzu These 6)? Zudem wird für ein rein inter- und transdisziplinäres Studium zu fragen sein, wie man sich vor Beliebigkeit schützt. Unwissenheit und das Behaupten von Unsinn sollten im Studium diagnostizierbar bleiben, andernfalls kann man sich jede Form von Leistungsnachweis sparen. Es ist daher anzugeben, ob man sich Inter- und Transdisziplinarität als Ausweitung einer geregelten Disziplinarität denkt oder als Spielwiese unter dem Motto anything goes. Man sollte letztgenannten Punkt für die Lehre nicht unterschätzen. Es mag für Studierende lehrreich sein zu sehen, wie unterschiedlich Disziplinen mit einem Text umgehen oder mit einer Theorie. Aber solange sie nicht parallel die Methodik mindestens einer Disziplin erlernen, sind sie zum Zuschauen verdammt, zumindest dann, wenn Interdisziplinarität das synergetische Zusammenspiel verschiedener Disziplinen meint. Die Frage mit Blick auf die Lehre ist also, wo man den Hebel ansetzen will: Will 13

Mittelstrass macht daher geltend, Transdisziplinarität könne „Fächer und Disziplinen nicht ersetzen“, Mittelstrass, Transdiziplinarität, 4.

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man die disziplinären Perspektiven erweitern, so müssen diese erst einmal erlernt werden. Will man stattdessen ganz neue Methodologien einführen oder ausprobieren, die eine Disziplinarität im klassischen Sinne hinter sich lassen, muss man sich mit banalen Fragen befassen wie der, was eine falsche Antwort in der Klausur sein soll und was eine gute Leistung in der Hausarbeit. Die klassischen Disziplinen definieren Standards, die dann wegfallen würden. 14

3. Wir lassen diese Fragen hinter uns und blicken auf die Chancen. Von Anfang an gesellschaftlich relevante Probleme mit in den Blick zu rücken, bietet die Chance, die Lernmotivation bei Studierenden zu steigern. Erstsemestrige wissen in aller Regel um die gesellschaftlich drängenden Probleme wie Armut, Krieg, Migration und Klimawandel. Glücklicherweise verfügen sie meist auch über den Glauben, dass sie lösbar sind und haben die Motivation, sich dafür zu engagieren. Das sollte man nutzen, indem man ihnen klar macht, dass adäquate Problemlösung häufig auch nach Wissenschaft verlangt. Um Probleme zu lösen, hilft es erheblich, sie zureichend zu verstehen, wozu es geeigneter Analyseverfahren bedarf. Je komplexer die Probleme, umso komplexer die erforderlichen Analysen. Um zu erkennen, welche Faktoren zu Krieg führen und um sich relativ sicher zu sein, welche Faktoren Kriege verhindern könnten, hilft eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik durchaus. Über die Bereitschaft zur Problemlösung wird so Interesse für die Wissenschaft geweckt. Allerdings darf das Problemlösen nicht die alleinige Moti14

Es ist eine Standardkritik des 20. Jahrhunderts, Disziplinen würden ihre Spielregeln willkürlich festlegen. Das mag sein, trifft aber auch für Inter-, Multi- und Transdisziplinarität zu, solange das Suffix „-disziplinarität“ eine Methode oder Methodologie meint, die auf dem klassischen Erkenntnisbegriff aufbaut.

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vation sein. Ein wichtiger Motor der Wissenschaft wird immer die Wissbegierde bleiben, und dasselbe gilt für ein erfolgreiches Studium. Wer nur die Welt retten will, sollte nicht studieren (vgl. dazu These 5). Umgekehrt gilt: Wenn zur Wissbegierde die Vision hinzukommt, ein reales Problem lösen zu können, haben Studierende nicht nur ein persönliches Interesse vor Augen, sondern auch ein gesellschaftliches. Angesichts der genannten offenen Fragen schlagen wir vor, die Frage nach Inter- und Transdisziplinarität im Studium anders und grundsätzlicher zu stellen, und zwar auch angesichts der konzeptionellen Vielfalt, die mit diesen Begriffen verbunden wird. 15 Um Probleme zu lösen, bedarf es einer guten Diagnose, die irgendeine Art von Wissen oder Erfahrung erfordert. Es bedarf aber auch der Kreativität, um auf gute Lösungen zu kommen. Nun lässt sich Kreativität bekanntlich nicht studieren. Man sollte also etwas im Studium herbeiführen, das der Kreativität am nächsten kommt. Wie wäre es, wenn man ein Studium nicht mit irgendeiner Art von Disziplinarität beginnt, sondern mit bewusster Disziplinlosigkeit? Wie wäre es, wenn sich jemand sein Curriculum aus Modulen in Literaturwissenschaft, in Strömungstechnik und Jura zusammenstellt? Klar ist: Daraus erwächst keine Expertise, nicht in Jura, nicht in Strömungstechnik und nicht in Literaturwissenschaft. Aber Expertise ist eben nicht alles, wie schon die abfällige Rede vom Fachidioten zeigt. Wir brauchen nicht Humboldts vage Rede von „sittlicher Bildung“, die für die „moralische Kultur der Nation“ geschehe, um zu erklären, worum es im Studium neben einer fachlichen Bildung noch gehen sollte. 16 Wir brauchen uns nur klarzumachen, dass wirklich alles, was man an der Universität zu lernen vermag, dafür dienlich sein kann, um zu einer brauchbaren Lösung realer Probleme beizutragen. 15

Siehe für eine aktuelle Übersicht der konzeptionellen Vielfalt Thompson Klein, Discourses of Transdisciplinarity. 16 W. von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. Unvollendete Denkschrift, Berlin 1810, 377.

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Das mag absurd klingen. Aber wenn man sich klar macht, dass das Lesen jedes literarischen Textes und das Befassen mit jeder physikalischen oder ökonomischen Theorie die Fähigkeit zur Imagination fördert, und wenn man sich zudem klar macht, dass zum Verstehen von komplexen Problemen und deren Lösung sehr viel Imaginationskraft erforderlich ist, dann klingt es kaum noch abwegig. Zu verstehen, weshalb Politiker der Empfehlung der Wissenschaft nicht folgen oder zu verstehen, weshalb eine Unternehmerin nicht voll auf Nachhaltigkeit setzt, erfordert vor allem Imagination, solange man nicht selbst Politikwissenschaftler oder Ökonom ist. Es ist auch Imagination, die uns neben Erfahrung und Kalkül abschätzen lässt, ob eine Lösung funktionieren wird. Doch vor allem ist es die Imagination, die am ehesten dasjenige bewirken kann, was wir Kreativität nennen. 17 Erkennt man an, dass es im Studium auch darum gehen sollte, die Imaginationskraft zu fördern, so darf das Studium auch eine Spielwiese für diejenigen Studierenden sein, die aufgrund ihrer hohen Lernmotivation bereit und in der Lage sind, ihr Studium von Anfang selbst zu gestalten. Eine solche Disziplinlosigkeit ist zweifelsohne herausfordernd, da Studierende sich selbst orientieren müssen und aus ihrem Studium verhältnismäßig wenig Fachwissen resultiert. Aber hierin liegt auch eine Chance für uns alle. Niemand weiß, welche Imaginationskraft entsteht, wenn man sich im Studium mit Joyce, Quantenphysik, der Geschichte Spartas und dem Europäischen Recht befasst. Anything goes, sofern man sich mit dem Motto auf wissenschaftliche Gegenstände be17

Die Idee, dass die Steigerung der Imaginationskraft ein zentrales Bildungsziel sein kann, haben wir von Rorty entliehen, auch wenn er das so nicht sagt. Er schreibt: „We see imagination as the cutting edge of cultural evolution, the power which – given peace and prosperity – constantly operates so as to make the human future richer than the human past. Imagination is the source both of new scientific pictures of the physical universe and of new conceptions of possible communities.“, R. Rorty, Ethics Without Principles, in: ders.: Philosophy and Social Hope, 72–91, 87).

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zieht und solange Studierenden die Freude am Lernen erhalten bleibt. Womöglich wird jemand, der so studiert, später eine brillante Juristin, sofern sie sich auf dieser Basis juristisches Fachwissen aneignet. Dann kommen Expertise und außergewöhnliche Imaginationskraft zusammen, und dieses Aufeinandertreffen verspricht, generell wertvoll zu sein, für das disziplinäre Forschen genauso wie für transdisziplinäres Lösen gesellschaftlicher Probleme. 18 Wir können es also für das Studium zulassen, vorläufig die Imaginationskraft über das Fachwissen zu stellen, und zwar unter Nutzung der jeweiligen fachlichen Standards hinsichtlich Bewertung der Studienleistung. Was bewirkt das? Es bewirkt, dass man sich hinwegsetzen kann über die Frage, ob Inter- und Transdisziplinarität eine bestimmte Problemorientierung meint, eine Überschreitung von disziplinären Grenzen oder ein neues Verständnis von Wissenschaft. Ganz gleich, was damit gemeint ist, wird ein solches Studium, das primär die Imaginationskraft in Breite und Tiefe fördert, einer späteren inter- und transdisziplinären Herangehensweise förderlich sein.

4. Allerdings ist die beschriebene Disziplinlosigkeit im Studium eine Freiheit, die man zu nutzen wissen muss. Sie meint nicht, sich an keinerlei Regeln zu halten, sondern nur, die Lerninhalte ein Stück weit selbst auszuwählen. Man wird diese Freiheit nur nutzen können, wenn man generell im Erlernbaren einen Wert sieht, für den es sich lohnt, zu lernen. Wer nur fragt, was zu wissen ist, um möglichst zügig einen Abschluss zu erlangen, wird, wenn das Curricu18

Hacking machte einmal geltend, der große Leibniz sei neugierig auf alles gewesen, und auch dies sei eine Form von Interdisziplinarität, siehe I. Hacking, Verteidigung der Disziplin, in: Jungert et al. (Hgg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt 2010, 193–206, 195.

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lum sehr gut angelegt ist, im besten Fall Expertise erlangen. Die Imaginationskraft indes wird eher verkümmern. Es reicht daher nicht, sich zu fragen, ob und wie Inter- und Transdiziplinarität oder auch eine bewusste Disziplinlosigkeit im Studium dazu führen können, dass Imaginationskraft und andere Problemlösungskompetenzen zusammen kommen. Es ist auch zu fragen, bei wem dies gelingen kann. Wird im Lernerfolg als solchem kein Wert gesehen, sondern ist das Lernen nur Mittel zum Zweck des Studienabschlusses, dann ist es wirkungslos, das Studium um grenzüberschreitende Perspektiven zu bereichern. Ein inter- und transdisziplinäres Studium verlangt mehr Motivation, mehr Interesse und letztlich auch mehr Zeitaufwand als ein traditionelles disziplinäres Studium. Eine Universität sollte sich daher nicht nur ihr Studienmodell aussuchen, sondern auch passend dazu ihre Studierenden.

5. Das bringt uns zum letzten Punkt. Idealerweise sollte an der Schule die Sozialisation geschehen und an der Universität die anschließende Individuation, sprich, die Persönlichkeitsbildung. 19 Für die Individuation sind selbstgesteuerte interdisziplinäre Lernprozesse vermutlich besser geeignet als ein disziplinäres Curriculum. Doch das Problem ist, dass heutzutage mit der Erlangung der Hochschulreife die Sozialisation häufig noch nicht abgeschlossen ist. Nicht die Grundrechte des Grundgesetzes zu kennen, nicht die Grundrechenarten zu beherrschen oder einen zusammenhängenden Text produzieren zu können, sind Zeichen mangelnder Sozialisation. Angesichts solcher Defizite kann die Universität ihren

19

Diese Unterscheidung haben wir von Rorty entliehen, siehe R. Rorty, Education as Socialization and as Indivdualization, in: ders.: Philosophy and Social Hope, 114–126, 118.

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Bildungsanspruch nicht auf interdisziplinäre Individuation reduzieren. Arbeitgeber und auch Öffentlichkeit verlangen von den Universitäten, dass ihre Absolventinnen und Absolventen bestens auf den Arbeitsmarkt und auf gesellschaftliche Herausforderungen vorbereitet sind. Zugleich können Universitäten zunehmend weniger erwarten, dass die breite Masse der Studienanfänger auf dem Niveau sind, auf dem interdisziplinäre Individuation beginnen kann. Die Frage nach Inter- und Transdisziplinarität im Studium ist daher in einen größeren Kontext zu stellen: Wie und bei wem gelingt in der knappen Zeit des Bachelor und Master eine Sozialisation und Individuation durch Förderung der Imaginationskraft, die dazu führen kann, dass Bildung auch dem Gemeinwohl dient? Hierauf eine Antwort zu finden, ist eine der großen Fragen für die Universität der Gegenwart und der Zukunft.

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Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität Thorsten Wilhelmy

Die folgenden Ausführungen sind der Praxis eines Institutionentypus’ gewidmet, der sich in den internationalen Wissenschaftssystemen unter dem Namen Institute for Advanced Study bzw. Center for Advanced Study etabliert hat. Entsprechende Institute werden auch heute noch regelmäßig gegründet, das Rollenmodell eines Institute for Advanced Study (im Folgenden: IAS) erfreut sich also weiterhin des Zuspruchs. Dabei ist nicht klar definiert, um welche Art Forschungseinrichtung es sich handelt, wenn ein IAS gegründet wird, die spezifische Praxis eines Instituts ist von Fall zu Fall verschieden, und zwischen den verschiedenen Einrichtungen existiert inzwischen lediglich eine Art von Familienähnlichkeit. Um beurteilen zu können, ob die Klasse der IAS in besonderer Weise geeignet ist, interdisziplinäre Forschung zu befördern oder zu initiieren, wie oft behauptet wird, ist es daher sinnvoll, anhand der konkreten Verfahren eines Institutes – in diesem Fall: des Wissenschaftskollegs zu Berlin – den Lackmustest auf die Interdisziplinarität durchzuführen, um von dort ausgehend zu beurteilen, inwiefern die typischen Merkmale von IAS mehr oder weniger ausgeprägte interdisziplinäre Forschung erlauben. Zuvor soll in einem ersten Schritt eine skizzenhafte Bestandsaufnahme des Stellenwerts von Interdisziplinarität in der gegenwärtigen Wissenschaftspolitik erfolgen, die auf die IAS bezogen wird.

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1) Zur Konjunktur der Interdisziplinarität Überblickt man die Förderinstrumente und mehr noch die in Deutschland vorherrschende wissenschaftspolitische Rhetorik, so stellt man fest, dass Interdisziplinarität nach wie vor begründungslos plausibel ist. Dies beschränkt sich nicht auf die Leitbilder von Hochschulen und Forschungsorganisationen, sondern manifestiert sich auch in Förderinstrumenten wie den Exzellenzclustern der Exzellenzinitiative oder in der Neugestaltung von Studieneingangsphasen, wie sie der sogenannte Leuphana-Bachelor erprobt. Damit ist nicht behauptet, die interdisziplinäre Forschung nähme mehr Raum ein als die disziplinäre. Sie hat nur einen argumentativen Vorsprung insofern, als sie nicht weiter begründungspflichtig scheint, wenn sie auf den Plan tritt. Interdisziplinarität verspricht das Öffnende, das Weite, das Zukünftige. Demgegenüber ist Disziplinarität – rhetorisch – eng, festgelegt, ein Korsett. Fragt man doch einmal nach, was die Interdisziplinarität der Disziplinarität voraus hat, so wird man z. B. an die Probleme der Wirklichkeit verwiesen: Probleme seien nicht disziplinär, sie böten sich nicht einem Fach zur Lösung an. Klimawandel, Energieversorgung, Weltraumfahrt, die Atombombe, nicht einmal Krebs und Alzheimer seien an eine einzige Disziplin verwiesen. Daneben gibt es den Topos, neues Wissen entstünde eher am Rande der Fächer als in ihrer Mitte. 1 Das müsste nun wissenschaftshistorisch belegt werden, denn mancher Paradigmenwechsel – nehmen wir nur denjenigen, den Einsteins Relativitätstheorie bedeutet oder die durch Kants Kritik der reinen Vernunft ausgelöste „kopernikanische Wende“ – kam ja gerade aus dem disziplinären Kern. Gleichwohl lässt sich auch plausibel machen, dass wissen1

Vgl. diese Passage aus der Selbstbeschreibung der Max-Planck-Gesellschaft: „Bahnbrechende wissenschaftliche Fortschritte ereignen sich heute zunehmend an den Schnittstellen unterschiedlicher Fachrichtungen“. Abgerufen am 22. 12. 2015.

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schaftlicher Erkenntnisgewinn und technologischer Fortschritt durch das Ausgreifen über den disziplinär vorhandenen Bestand an Gegenständen und Methoden erreicht wird. So hätte der Gewinner des Nobelpreises für Chemie 2014, Stefan Hell, mit demselben Recht auch den Preis in der Physik beanspruchen können. Ein auch nur flüchtiger Blick in wissenschaftspolitische Verlautbarungen belegt also: Interdisziplinarität hat starke Fürsprecher. Dies steht in einer gewissen Spannung zur Organisation der Universitäten, deren Kern nach wie vor die Disziplinen ausmachen: Lehre, Ausbildung, Rekrutierung. Fachjournale – sie alle sind disziplinär oder sub-disziplinär organisiert. 2 Allerdings beobachten wir auch hier Verschiebungen: Wenn Wachstum und Ausdifferenzierung die großen Trends der Wissenschaft darstellen, so ist eher zu erwarten, dass der Schub zur Vervielfältigung etwa der Studiengänge, den die Bolognareform verstärkt hat, sich fortsetzt. Und gewissermaßen als Nebenprodukt dieser Vervielfältigung können zunächst Fachrichtungen, dann voll ausgebaute neue Disziplinen entstehen, die sich aus Amalgamierungen alter Disziplinen entwickeln. Als Beispiel sei die Hertie School of Governance angeführt, die das Fach und Forschungsgebiet Governance in Deutschland prominent gemacht hat. Ist Governance noch interdisziplinär zwischen Ökonomie, Jura und Politikwissenschaft angesiedelt? Oder erkennen wir in ihr schon die Konturen einer eigenen Disziplin? Vorerst ebenso wenig ist für Welterbestudien (World Heritage Studies, UNESCO Lehrstuhl BTU Cottbus), das ganze Feld der Digital Humanities und die empirische Ästhetik zu entscheiden, ob es sich nun um Spezialisierungen und Parzellierungen ordentlicher Disziplinen handelt oder um interdisziplinäre Durchgangsstadien für eine neue disziplinäre Ordnung. In ihrer Gestalt stellen diese und andere Studiengänge eine 2

Nebenbeobachtung: interessanterweise sprechen wir in Deutschland meist von Fächern, wenn es um die Lehre geht, von Disziplinen, wo die Forschung thematisiert wird. Insofern besagt die Vervielfältigung von Fachrichtungen, wie sie zu beobachten ist, für einen forschungsaffinen Beobachter nichts – trotz des Festhaltens an der angeblichen Einheit von Forschung und Lehre!

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Abkehr von der disziplinären Logik dar, auch wenn noch nicht klar ist, inwiefern sie beanspruchen, Keimzellen neuer Disziplinen zu sein und wie ephemer die Fachidentität ist, die hier ausgeprägt werden soll. Je nachdem, aus welcher Perspektive wir das sich ohnehin stets im Wandel begriffene System wissenschaftlicher Ordnungen betrachten, müssten wir erst einmal wissen, was als Disziplin gilt, um Interdisziplinarität zu sehen – geschweige denn zu praktizieren und zu bewerten. Für Institutes for Advanced Study ist diese Ausgangslage dann nicht uninteressant, wenn sie sich in ein Verhältnis zu diesen großen Trends des Wissenschaftssystems setzen und ihre Position darin bestimmen wollen. Eine solche Positionsbestimmung könnte folgendermaßen aussehen: Die hochgradige Spezialisierung im Wissenschaftsbetrieb verhindert, dass interdisziplinäre Forschung im Normalbetrieb in den Blick gerät und praktiziert wird. Daher sind Institutes for Advanced Study genau die Orte, an denen interdisziplinäre Forschungsansätze vorangetrieben werden können. Diese Begründung geht schon auf eine Analyse von Helmuth Schelsky aus den Jahren der Gründung der Universität Bielefeld zurück. Die Einrichtung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung, des ZiF, das selbst als IAS ausgewiesen ist, ist im Grunde direkt von dieser Positionierung her konzipiert. Das ZiF zieht explizit interdisziplinäre Projekte an, um ihnen Raum zur Entfaltung, zur Reife zu geben und von dort aus gewissermaßen die Erneuerung der Universität und des disziplinären Wissenskanons permanent voranzutreiben – die Universität war für Schelsky um das ZiF herum errichtet, und diese Mitte war gedacht als ständiger Unruheherd, in dem die disziplinäre Ordnung immer aufs Neue verflüssigt wurde. Folgerichtig wandte sich Schelsky auch gegen auf Dauer gestellte interdisziplinäre Forschungseinrichtungen, also gegen fixe Konstellationen bestimmter Disziplinen. Ich zitiere aus einer Denkschrift von 1967: „Interdisziplinäre Forschung verschiedenster Art gehört heute zu den entscheidenden Grundlagen wissenschaftlichen Fortschritts und ist

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institutionell in die Hochschulen einzubauen. Die Dauerspezialisierung in interdisziplinären Forschungsinstituten ist ein Irrweg, der langfristig die Vorteile interdisziplinärer Forschung aufhebt.“ 3

Hier haben wir in nuce das Dilemma der auf Dauer gestellten interdisziplinären Konstellation, die als „Dauerspezialisierung“ intellektuell zahnlos wird und als Nische, als Partikulardisziplin endet. IAS könnten sich nun insgesamt von dieser Ausgangslage nähren, indem sie sich gewissermaßen kompensatorisch als privilegierte Orte interdisziplinärer Forschung ausweisen und ihre Funktion im Sondieren vielversprechender interdisziplinärer Konstellationen beschreiben. Sie empfangen gewissermaßen Botschaften aus der Zukunft, Botschaften, die dann von den Universitäten aufgenommen und weiterverarbeitet werden. Genau diese Argumentation soll allerdings für das Wissenschaftskolleg, dessen Praxis ich im Folgenden erörtere, nicht bemüht werden. Sie wäre leicht und besser am ZiF zu exemplifizieren, für dessen Arbeit Schelskys Philosophie noch heute leitend ist. Aus zwei Gründen wird für das Wissenschaftskolleg der Akzent anders gesetzt: 1. Die Praxis des Wissenschaftskollegs würde diese Inanspruchnahme nicht decken. 2. Wenn unklar ist, inwiefern die interdisziplinäre Forschung der disziplinären tatsächlich überlegen ist, ist die Legitimation durch Interdisziplinarität für IAS nicht alternativlos. 4 Oder anders formuliert: das Spektrum der IAS braucht auch andere und weitere Begründungen für das eigene Forschungsangebot, und solche will ich probeweise vorschlagen. 3

H. Schelsky: „Grundzüge einer neuen Universität“, in: Grundzüge einer neuen Universität. Zur Planung einer Hochschule in Ostwestfalen, hg. von P. Mikat / H. Schelsky. Gütersloh 1967. 4 Dies wird an der Mutter aller IAS deutlich, dem Institute for Advanced Study in Princeton.

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Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation soll nun kurz geschildert werden, wie die Praxis des Wissenschaftskollegs aussieht, wie sie im Lichte der Interdisziplinarität beschrieben werden kann und inwiefern das Wissenschaftskolleg Möglichkeiten zur interdisziplinären Forschung bietet; ich will zugleich einige Varianten des Rollenmodells IAS anführen und erörtern, welches die alternativen Begründungsfiguren sein könnten, wenn Interdisziplinarität nicht die einzige und stärkste Legitimationsquelle für die IAS sein soll.

2) Praxis des Wissenschaftskollegs Wie wird konkret am Wissenschaftskolleg geforscht? Jedes Jahr wird eine Gruppe von bis zu fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ans Kolleg eingeladen – im hiesigen Sprachgebrauch: Fellows. Sie verbringen in der Regel zehn Monate in Berlin und zwar als Klasse, d. h. idealerweise beginnen alle ihren Forschungsaufenthalt Mitte September und verlassen Berlin wieder am 15. Juli. Es besteht in dieser Zeit Residenzpflicht. Dies und die campusartige Anlage sorgen dafür, dass die Wissenschaftler miteinander in Kontakt kommen. Der Vergemeinschaftung der Gruppe dienen fünf gemeinsame Mahlzeiten in der Woche: eine sanfte Pflicht, die das Gespräch miteinander im Zeitverlauf intensivieren soll. Das Wissenschaftskolleg steht Vertreterinnen und Vertretern aller Fächer offen. Interessierte können sich selbst bewerben, es gibt Vorschläge ehemaliger Fellows oder anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und auch die aktive Aufforderung zur Bewerbung spielt eine Rolle. Gegenstand der Bewertung im Auswahlverfahren ist neben den bislang erbrachten wissenschaftlichen Leistungen und vorgelegten Publikationen die Skizze eines Forschungsvorhabens, das in der Zeit am Kolleg verfolgt werden soll. Die Einladung erfolgt also auf der Grundlage individueller Forschungsleistungen und individueller Forschungsprojekte. Bei 228 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität

der Einschätzung dieser Projekte gibt es ebenso wenig einen Interdisziplinaritätsbonus wie bei der Beurteilung der bisherigen wissenschaftlichen Leistungen. In den Rekrutierungsverfahren des Wissenschaftskollegs wird nicht explizit nach Projekten vom Rand der jeweiligen Disziplin gesucht. Die Botschaft lautet auch nicht: Machen Sie hier etwas, was Sie sonst nicht machen würden (solche Stipendien gibt es auch, z. B. am Einstein Forum in Potsdam). Es geht um selbstgewählte Forschung, dies ist das Zentrum, ihre Qualität wird von den Gremien des Kollegs entlang disziplinärer Standards geprüft. Zugleich läuft als Auswahlfilter das Kriterium einer potenziellen Gesprächsfähigkeit der repräsentierten Disziplinen mit. Im Resultat der Auswahl entsteht so Jahr für Jahr ein bunter Fächermix mit einigen Schwerpunkten und auffälligen Leerstellen. Schriftsteller, Publizisten, Übersetzer; 1

Chemie; 1 Medizin (auch Public Health, Ernährungswissenschaft); 1

Geschichtswissenschaft; 2 Klassische Philologie; 1 Neuere und neueste Geschichte; 1 Wissenschaftsgeschichte; 1

Komponisten, Musiker; 3

Kunst-, Musik-, Theater-, Film- und Medienwissenschaften; 1 Kunstgeschichte; 1 Ältere und Neuere deutsche Literatur; 1

Europäische und amerikanische Literatur/Kulturwissenschaft; 3

Biologie (Zoologie, Botanik, Virologie); 6

allg. und vergl. Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft; 2

Rechtswissenschaften; 3

Außereuropäische Sprachen, Kulturen, Sozial/Kulturanthropologie; 1

Politikwissenschaft; 3

Philosophie; 3 Sozialwissenschaften; 1

Psychologie; 1

Regionalwissenschaften, Sprachen und Kulturen: Afrika, Amerika, Asien und Australien; 1 Religionswissenschaften; 1 Judaistik; 1

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Klassische Philologie Geschichtswissenschaft Neuere und neueste Geschichte Wissenschaftsgeschichte Kunst-, Musik-, Theater-, Film- und Medienwissenschaften Kunstgeschichte Ältere und Neuere deutsche Literatur Europäische und amerikanische Literatur-/Kulturwissenschaft allg. und vergl. Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft Außereuropäische Sprachen, Kulturen, Sozial-/ Kulturanthropologie Regionalwissenschaften, Sprachen und Kulturen: Afrika, Amerika, Asien und Australien Religionswissenschaften Judaistik Philosophie Psychologie Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Rechtswissenschaften Biologie (Zoologie, Botanik, Virologie) Medizin (auch Public Health, Ernährungswissenschaft) Chemie Komponisten, Musiker Schriftsteller, Publizisten, Übersetzer

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1 2 1 1 1 1 1 3 2 1 1 1 1 3 1 1 3 3 6 1 1 3 1

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität Schriftsteller, Publizisten, Übersetzer; 1

Chemie; 1 Medizin (auch Public Health, Ernährungswissenschaft); 1

Geschichtswissenschaft; 2 Klassische Philologie; 1 Neuere und neueste Geschichte; 1 Wissenschaftsgeschichte; 1

Komponisten, Musiker; 3

Kunst-, Musik-, Theater-, Film- und Medienwissenschaften; 1 Kunstgeschichte; 1 Ältere und Neuere deutsche Literatur; 1

Europäische und amerikanische Literatur/Kulturwissenschaft; 3

Biologie (Zoologie, Botanik, Virologie); 6

allg. und vergl. Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft; 2

Rechtswissenschaften; 3

Außereuropäische Sprachen, Kulturen, Sozial/Kulturanthropologie; 1

Politikwissenschaft; 3

Philosophie; 3 Sozialwissenschaften; 1

Psychologie; 1

Regionalwissenschaften, Sprachen und Kulturen: Afrika, Amerika, Asien und Australien; 1 Religionswissenschaften; 1 Judaistik; 1

Klassische Philologie Geschichtswissenschaft Neuere und neueste Geschichte Wissenschaftsgeschichte Kunst-, Musik-, Theater-, Film- und Medienwissenschaften Kunstgeschichte Sprachwissenschaften Europäische und amerikanische Literatur-/Kulturwissenschaft Allg. und vergl. Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft Außereuropäische Sprachen, Kulturen, Sozial-/ Kulturanthropologie Philosophie Psychologie Soziologie Wirtschaftswissenschaften Rechtswissenschaften

1 7 1 1 2 2 1 2 1 2 4 3 1 2 4

231 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Thorsten Wilhelmy

Biologie (Zoologie, Botanik, Virologie) Neurowissenschaft Informatik Komponisten, Musiker Schriftsteller, Publizisten, Übersetzer

10 1 1 1 2

• Unter den Geisteswissenschaften bilden die Historiker die stärkste Gruppe • Unter den Naturwissenschaftlern dominieren die Biologen • Philosophen, Rechtswissenschaftler und Literaturwissenschaftler sind ebenfalls stark vertreten • Typischerweise rar sind Mathematiker, Chemiker, Ökonomen. Ingenieure fehlen vollständig. Was besagt diese Statistik, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Interdisziplinarität betrachten: 1. Der Fächermix ist wild, aber keineswegs frei von Mustern, d. h. er ist nicht völlig zufällig. Diese Muster verraten etwas über die im Auswahlprozess wirksame Unterstellung von Anknüpfungspunkten aneinander: Dass sich zwischen Geisteswissenschaftlern und Evolutionsbiologen eine Gesprächsebene etabliert, wird implizit als wahrscheinlicher angenommen denn ein Austausch zwischen Mathematikern und Juristen. So entsteht eine Hierarchie von Fächern, die sich in der Häufigkeit ihres Vorkommens über die Jahre manifestiert. 2. Diese Hierarchie ist allerdings keine normative Vorgabe oder eine Blaupause für ein zu komponierendes Jahr. Tatsächlich scheitern auch Versuche, Vertreter bestimmter Disziplinen für einen Aufenthalt in Berlin zu gewinnen. Die Gründe dafür sind aufschlussreich. Für einige laborgestützte Wissenschaften ist der Aufenthalt am Kolleg deshalb schwer zu bewerkstelligen, weil sie ihr Labor nicht für längere Zeit verlassen können (die Chemie ist ein typisches Beispiel). Ingenieure zeigen in aller Regel wenig Interes232 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität

se an dem Milieu des Wissenschaftskollegs. Und die Ökonomen suchen seltener den Austausch mit Disziplinen, die nicht quantitativ argumentieren, d. h. wenn die Ökonomie in interdisziplinäre Szenarien eintritt, dann eher dort, wo die empirischen Sozialwissenschaften insgesamt dominieren – also etwa am Wissenschaftszentrum Berlin, mit dem vor Ort ein starker Wettbewerber für Einladungen nach Berlin existiert. 3. Abstrakt formuliert: nicht jede Interdisziplinarität ist theoretisch gleich wahrscheinlich, und wo sie theoretisch wahrscheinlich ist, ist sie nicht leicht tatsächlich zu haben. Es gibt Situationen und institutionelle Designs, die bestimmte Optionen nahe legen oder wahrscheinlicher machen, während sie andere Optionen nicht ausschließen, so doch mit einer Hypothek belasten. Je nach Design eines IAS und nach den gewählten Schwerpunkten wird man zu anderen Konstellationen gelangen. Die Fokusgruppen etwa des IAS der Technischen Universität München bezeugen eine vollständig andere Komposition von in die Arbeit involvierten Wissenschaftlern. Das Wissenschaftskolleg hat sich für eine Konstellation entschieden, in der Geisteswissenschaften, Rechtswissenschaften und Lebenswissenschaften eine zentrale Rolle spielen, womit bestimmte Vorfestlegungen oder Ränder definiert sind. Diese Definition des eigenen Korridors ist für IAS aber insgesamt flexibel. 4. Eine Randbemerkung: In den Szenarien von Interdisziplinarität kommt häufig genug der Philosophie eine Schlüsselrolle zu, d. h. sie wird von vielen anderen Disziplinvertretern als die Partnerin gesehen, mit der der Austausch ungeheuer bereichernd ist. Das trifft nicht nur auf die Geisteswissenschaften zu, sondern etwa auch auf die Physik, die Biologie, die Technikwissenschaften usw. Das steht unserer Beobachtung nach in einem Missverhältnis zu den faktischen Kooperationsangeboten, -möglichkeiten und -interessen der Philosophie selbst, die ja – sofern sie nicht Wissenschaftsphilosophie ist – gerade nicht als Meta- oder Superdisziplin 233 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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gegenüber den anderen Beteiligten auftritt. Jedenfalls scheint die Einbeziehung der Philosophie in geplante interdisziplinäre Zusammenhänge nicht logischer als die jeder anderen Geistes- oder Kulturwissenschaft. Die Zusammenstellung solcher Gruppen Jahr für Jahr kann naturgemäß nicht begründet werden ohne eine Absicht, die über die Bereitstellung qualitativer Forschungszeit für den einzelnen hinausgeht. Und die absichtsvoll interdisziplinäre Komposition eines akademischen Jahres kann demnach auch nicht auf lediglich disziplinären Austausch reduziert werden. Entscheidend ist hierbei indes, welcher Art von Austausch initiiert wird und welche Wirkungsabsichten sich damit verbinden. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Instrumente. Die größte Verdichtung fachübergreifender Kommunikation entsteht während des so genannten Kolloquiums am Dienstagmorgen. Jeder der eingeladenen Fellows berichtet einmal während seines Aufenthaltes aus seiner laufenden Forschungsarbeit. Es handelt sich folglich um einen disziplinären Vortrag vor einer weitgehend fachfremden Gruppe. Auch hier gibt es gerade keine Aufforderung zur interdisziplinären Anbiederung, wohl aber zur disziplinären Reflexion. Die Herausforderung besteht darin, den Nicht-Spezialisten im Auditorium die Relevanz der eigenen Forschungsfrage und die Methode der eigenen Beschäftigung mit dem Gegenstand einsichtig zu machen, ohne zugleich den Reflexionshorizont derjenigen zu unterschreiten, die fachlich affin sind. Unmittelbar ist dadurch die Wahl der Terminologie berührt. So verzichten Naturwissenschaftler häufig genug auf die ihnen eigentlich selbstverständliche Verwendung mathematischer Formeln, um stattdessen die der Forschungsfrage zugrundeliegenden Konzepte zu thematisieren. Die Verwechselung der eigenen Fachsprache mit einer allen intuitiv verständlichen Alltagssprache unterläuft eher den Geisteswissenschaftlern, die bisweilen unterschätzen, wie voraussetzungsreich die eigene Arbeit und Terminologie ist. 234 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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Im Idealfall gelingt es, anhand eines konkreten Forschungsprojektes die folgenden übergreifenden Fragen zu berühren: • Was gilt in der Disziplin des Vortragenden als Problem? • Was zählt in der entsprechenden Disziplin als Argument? • Was lässt den Vortragenden vermuten, dass er mit seiner Auffassung Recht hat – „how do you know that you are right?“ Ein solches Arrangement legt es auf Dissens und Kontroverse geradezu an, zumal wenn Disziplinen einbezogen sind, in denen die Konsensbildung über diese Sachverhalte regelmäßig intern misslingt, Disziplinen also, denen die Einigung auf gemeinsame Rationalitätsstandards schwer fällt oder – schlimmer – die sie nicht einmal mehr anstreben. Entsprechende Dissense potenzieren sich, wenn unterschiedliche Fachlogiken auf einen Problemzusammenhang angewendet werden. Ein fiktives Beispiel soll dies illustrieren: Ein Literaturwissenschaftler trägt seine Interpretation eines Romans vor, deren theoretische Prämisse die Freud’sche Psychoanalyse ist. Die Fachvertreterin der Psychologie macht höflich darauf aufmerksam, man sei fachlich etwas weiter und nicht alle bei Freud postulierten Instanzen würden heute noch für bare Münze genommen. Ein russischer Kollege, selbst Geisteswissenschaftler, meint süffisant, er sei in der Sowjetunion aufgewachsen, wo Freud natürlich keine Rolle gespielt habe, und er wundere sich, dass man dergleichen ernst nehmen könne. Das ist klar kein Ausschnitt aus einem interdisziplinären Forschungsgespräch. Vielmehr ergibt sich in solchen Situationen die Möglichkeit, die eigene disziplinäre Logik zu explizieren, sie zur Disposition zu stellen und den Zugriff auf den Gegenstand um die Varianten zu erweitern, die andere Disziplinen vorhalten. Dies kann zur Schärfung der eigenen Position, zu ihrer Modifizierung, aber auch zum Abbruch der Kommunikation mit der anderen Disziplin führen: zum Beispiel lässt sich eine kulturwissenschaftlich-konstruktivistische Lesart von menschlichem Verhalten nicht 235 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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ohne weiteres mit soziobiologischen Erklärungsansätzen vereinbaren. Auch die Frage nach den Spezifika des Bewusstseins, zumal des menschlichen, ist Anlass zu Auseinandersetzungen zwischen Kognitionswissenschaft und Philosophie. Die Konfrontation der Perspektiven ist (noch) keine interdisziplinäre Forschung; sie geht aber über den disziplinären Alleinvertretungsanspruch hinaus und verbreitert die sachlich-materielle Basis der Interpretationsunterschiede. Die Erwartung, die sich mit diesem Kolloquienformat, mit dem Aufenthalt insgesamt verbindet, ist damit nicht, dass er zu einer zehn Monate andauernden interdisziplinären Veranstaltung wird. Im Kolloquium wird eine disziplinäre Stimme in einem interdisziplinären Echoraum artikuliert, es gibt kein gemeinsames Problem, es gibt die Chance, die Perspektiven der anderen zu verstehen. Die Zeit am Kolleg ist eher eine hermeneutische Erfahrung als eine fächerübergreifende Kooperation auf Zeit. Und wie das Kolloquium, so fungiert die Zeit in Berlin insgesamt als Möglichkeit, in dem Projekt, im Fach des anderen das zu entdecken, was für einen selbst wissenschaftlich interessant sein kann – inhaltlich, methodisch, mit Blick auf das eigene Problem. Die Vorträge bilden dabei zwar das Rückgrat eines akademischen Jahres, aber die Substanz wird im Laufe der Monate in Form von persönlichen Gesprächen angereichert, in Form spontaner Lesegruppen, in Form von kleinen Konferenzen, die ausgerichtet werden können. Das ist der Möglichkeitscharakter der Einrichtung: zu Beginn des Jahres ist niemandem klar, welche dieser Chancen in welchem Maße tatsächlich genutzt werden. Um es plastisch zu machen, möchte ich mit einigen Beispielen illustrieren, inwiefern Konstellationen entstehen können, die nicht als Ergebnis einer programmatisch herbeigeführten, ex ante bereits identifizierten, sondern aufgefundenen interdisziplinären Chance gelten können. Dabei gilt: konkretes matching von Personen und Projekten seitens der für die Auswahl Zuständigen ist müßig. Vielmehr gilt es, eine hinreichend große, hinreichend diverse Gruppe von Fellows einzuladen und dann auf jede Steue236 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität

rung zu verzichten. Nur auf diese Weise ist gewährleistet, dass die Eingeladenen entdecken, was sie selbst interessiert. In allen hier aufgeführten Beispielen hat das Wissenschaftskolleg nicht die jeweilige Konstellation aktiv herbeigeführt. • Im akademischen Jahr 2012/13 lud ein Sprachwissenschaftler, der die Diversität von Sprachen mit einem evolutionären Modell zu erklären versucht, wöchentlich die Biologinnen und Biologen des Jahrgangs zum Austausch ein, um die Konzepte von Evolution abzugleichen und von deren Expertise zu profitieren. • Im akademischen Jahr 2013/14 zogen die Biologen der Gruppe Cancer Evolution einen jungen Bakteriologen hinzu, um die Ausbreitungsmodelle und parasitären Strategien der Bakterien auf die Beschreibung von Krebsarten anzuwenden, und veröffentlichten anschließend einen gemeinsamen Artikel. • In demselben Jahr entspann sich ein regelmäßiges Gespräch zwischen einem Mittelalterhistoriker und einem Biologen zur Frage der Definition von Verwandtschaft, das in die Organisation einer gemeinsamen Konferenz mündete. • Im Jahr 2014/15 lud ein Rechtswissenschaftler wöchentlich andere Fellows ein, eine Stunde lang zu erörtern, wie in ihrer jeweiligen Disziplin der Vergleich als Methode angewendet wird und was der Vergleich austrägt. • Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt tauschte sich während der Abfassung seiner Studie zur Wiederentdeckung von Lukrez’ Gedicht De rerum natura regelmäßig mit den gleichzeitig anwesenden Philosophen und Philologen aus, um die philosophiehistorische Einbettung von Lukrez im Detail zu verstehen. Die Beispiele verdeutlichen, dass es eher um Akzidentielles geht als um eine angestrebte interdisziplinäre Neuausrichtung der Forschung einzelner. Folgenlos soll der Aufenthalt auch in Hinsicht auf die Erweiterung des eigenen Repertoires indes nicht bleiben, 237 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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aber es geht weder darum, disziplinäre Expertinnen und Experten zur dauerhaften Interdisziplinarität zu verführen, noch um eine Anbahnungseinrichtung für interdisziplinäre Forschungsprojekte. Was das Wissenschaftskolleg in seiner Version des Rollenmodells IAS anbieten will, lässt sich mit dem Begriff der Unterbrechung beschreiben, die sich programmatisch auf mindestens vier unterschiedlichen Ebenen ereignen soll: • Unterbrechung der institutionellen Routinen, die in der Heimateinrichtung zentral sind: es gibt keine Lehre, keine Gremiensitzungen, keine Administration – erst dadurch steht die notwendige Zeit für den Austausch mit anderen zur Verfügung; • Unterbrechung der disziplinären Kommunikation wie oben ausgeführt: die eigene Sprache, der eigene Forschungsansatz, die stillschweigenden Voraussetzungen der eigenen Disziplin gelten nicht automatisch; dies ermöglicht ihre Reflexion, ihre Kontextualisierung und ein Verständnis dafür, wie die eigene disziplinäre Logik in den anderen Fächern rezipiert wird; es führt idealiter zur Distanznahme von den eigenen Selbstverständlichkeiten. • Verstärkt wird dies durch die Unterbrechung der kulturellen Codes – alle haben ein Auswärtsspiel, niemand kann das kulturelle Kapital seiner eigenen Einrichtung, Position usw. in das fachübergreifende Gespräch in einer Weise einbringen, dass dieses verzerrt würde. Ein Faktor allerdings kann auch durch den neutralen Boden des Wissenschaftskollegs nicht neutralisiert werden: die Sprache, in der die Verständigung über die Fachgrenzen hinweg stattfindet. Da es sich in aller Regel um das Englische handelt, wenn auch nicht alles auf Englisch geschieht, aber nichts ohne Englisch geht, sind die anglophonen Sprecher im Vorteil. • Schließlich ist es die tägliche Unterbrechung der eigenen Arbeit durch die Mittagessen, die regelmäßig Anlässe für das zwanglose Ausgreifen über die eigene Disziplin schafft – dies 238 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

Möglichkeitssinn: Institutes for Advanced Study als Gehäuse der Interdisziplinarität

soll einen kontinuierlichen Gesprächs- und (idealiter) Lernzusammenhang ermöglichen.

Fazit Als Institution ist das Wissenschaftskolleg programmatisch undiszipliniert. Deshalb ist es auch am besten als Gehäuse zu beschreiben, das mit einer Vielzahl von disziplinären Ansätzen jedes Jahr aufs Neue gefüllt wird. Zentral ist die Vielstimmigkeit, die Abwesenheit einer disziplinären Hegemonie, die auch irritierend wirken kann und die nicht automatisch zum gelungenen fachübergreifenden Gespräch führt. Da dies aber auch nicht das Ziel des Aufenthaltes ist, da das individuelle Forschungsprojekt nicht durch ein kollektives substituiert werden soll, besteht kein Zwang zum interdisziplinären Erfolg. Freilich soll das disziplinäre Projekt für die Dauer des Aufenthaltes in einem interdisziplinären Milieu angesiedelt sein, wodurch sich die Chance auf Modifikation ergibt. Das Wissenschaftskolleg ist nicht gescheitert, wenn die eingeladenen Fellows ihre disziplinäre Kommunikation weiter vorantreiben; es wird aber in Frage gestellt, wenn sich die Projekte der Eingeladenen oder künftige Forschungen mehrheitlich nicht modifizieren, anregen lassen, in den Einflussbereich einer anderen Forschungsperspektive bewegen. Denn andernfalls könnte man auch „Einsamkeit und Freiheit“ in Form von vierzig isolierten sabbaticals finanzieren. Wer aber unter dem Einfluss welcher Wechselwirkung steht, ist nicht vorherzusagen, wo es starke, wo es schwache Wechselwirkung gibt, definiert sich nicht entlang disziplinärer Nähe- und Distanzvermutungen, auch nicht in der Inszenierung größtmöglicher Spannungen. Diese Unvorhersagbarkeit erklärt auch, weshalb das Rollenmodell eines Institute for Advanced Study hinsichtlich seiner Nähe oder Distanz zur Interdisziplinarität nicht festgelegt ist. Auf der einen Seite des Spektrums steht das IAS in Princeton, das durch die Aufteilung in schools letztlich ganz auf disziplinäre Kommuni239 https://doi.org/10.5771/9783495813362 .

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kation setzt und von dort her das Anregungspotential definiert. Auf der anderen Seite finden sich das ZiF in Bielefeld und etwa das Collegium Helveticum, die konkrete interdisziplinäre Forschungsgruppen und -projekte anziehen. Das Wissenschaftskolleg hält hier so etwas wie die Mitte mit einer disziplinären Ausgangssituation der Forschungsthemen und einem interdisziplinären Milieu. Jedenfalls macht dieser Blick auf die Bandbreite deutlich, dass es vermessen wäre, den Institutionentyp IAS als interdisziplinäre Forschungseinrichtung par excellence zu beschreiben. Vielmehr macht es die Stärke dieses Institutionentyps aus, dass er flexible Konstellationen ermöglicht. In der Familie der IAS finden sich daher forcierte interdisziplinäre Kaderschmieden ebenso wie Anbahnungseinrichtungen und intellektuelle Gelegenheitsvermittler. Wissenschaftssystematisch ist ihre Attraktivität möglicherweise auch damit zu erklären, dass sie das Charisma von Gelehrtengemeinschaften beschwören (können) und nostalgisch etwas wie die Rückgewinnung umfassender Bildung in Zeiten partikularer Wissensbestände inszenieren – die Künste, vor allem die Musik und die Literatur eingeschlossen. In Zeiten, da niemand mehr wissen kann, was wir wissen, könnten IAS deshalb so attraktiv sein, weil sie in Sachen Bildung das richtige Leben im falschen versprechen. Dass diese Inszenierung freilich weit weniger unschuldig ist, als sie daherkommt, da sie systematisch festlegen muss, welches Wissen als gelehrtes Wissen gilt und welches nicht (also: Beethoven ja, der Forschungsreaktor Iter vielleicht nicht), steht dabei auf einem anderen Blatt. Ob diese Inszenierung indes neben den oben angeführten Topoi („neues Wissen entsteht an den Grenzen der Disziplin“, „Probleme haben keine Disziplin“) die nächste gewissermaßen schiefe, gleichwohl erfolgreiche Legitimation für Interdisziplinarität liefert, und welche ihnen gegenüber die bessere wäre, müsste gesondert untersucht werden.

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Autoren

Florian Bruckmann, Apl. Prof. Dr. persönlicher Referent des Generalvikars der Diözese DresdenMeißen. Promotion in Bonn, Habilitation in Eichstätt. Lehrstuhlvertretungen in Regensburg und Bamberg. Dilthey-Fellowship der VolkswagenStiftung. Gregor Maria Hoff, Professor Dr. Gregor Maria Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Karl Heinz Hoffmann, Professor Dr. Karl Heinz Hoffmann ist Professor für Theoretische Physik, insbesondere Computerphysik, an der Technischen Universität Chemnitz. Ludger Honnefelder, Professor em. Dr. Dr. h. c. Ludger Honnefelder war von 1972–82 Dozent, dann o. Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier. In den Jahren 1982–1988 war er Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und seit 1988 Professor für Philosophie und Direktor des Philosophischen Seminars, Lehrund Forschungsbereich II der Universität Bonn.

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Autoren

Nikolaus Korber, Professor Dr. rer. nat. Professor für Anorganische Chemie an der Universität Regensburg. Gregor Nickel, Professor Dr. Professor an der Universität Siegen mit dem Forschungsbereich Funktionsanalysis und Philosophie der Mathematik. Günter Rager, Prof. em. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Rager war Direktor des Instituts für Anatomie und Embryologie an der Universität Fribourg/Schweiz. Während acht Jahren Direktor des Instituts für interdisziplinäre Forschung der Görres Gesellschaft. 2005 Ehrendoktor der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Brsg. Markus Rieger-Ladich, Professor Dr. Professor für Allgemeine Pädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und derzeit Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft. Sascha Spoun, Professor Dr. Sascha Spoun ist seit 2006 Präsident der Leuphana Universität Lüneburg. Zudem lehrt er als ständiger Gastprofessor für Universitätsmanagement an der Universität St. Gallen. Manfred Stöckler, Professor Dr. 1991–2017 Professor für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Bremen (mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie und Philosophie der Naturwissenschaften). Sebastian Weiner, PD Dr. Sebastian Weiner ist Persönlicher Referent des Präsidenten und leitet die Universitätskommunikation an der Leuphana

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Autoren

Universität Lüneburg. Zudem ist er Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich. Thorsten Wilhelmy, Dr. Thorsten Wilhelmy studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Geschichte an der Universität des Saarlandes und promovierte 2003 mit einer Arbeit zur Mythosrezeption in Erzähltexten von Thomas Mann, Christa Wolf, John Barth, Christoph Ransmayr und John Banville. Seit August 2012 ist er Sekretär des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

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