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German Pages XIII, 401 [410] Year 2020
Michael Asmussen
Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff Eine Analyse der Theoriearchitektur ausgewählter Bildungstheorien
Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff
Michael Asmussen
Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff Eine Analyse der Theoriearchitektur ausgewählter Bildungstheorien
Michael Asmussen Institut für Pädagogik, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel Kiel, Deutschland Michael Asmussen Institut für Pädagogik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Kiel, Deutschland Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel unter dem Titel „Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff – eine Analyse der Theoriearchitektur ausgewählter Bildungstheorien“ im September 2019 als Dissertation angenommen. Erstgutachterin: Prof. Dr. Heidrun Allert (CAU Kiel) Zweitgutachter: Prof. Dr. Anja Mensching (CAU Kiel) Datum der Disputation: 10. Januar 2020
ISBN 978-3-658-30864-3 ISBN 978-3-658-30865-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30865-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Plannung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Pädagogik, Abteilung Medienpädagogik/Bildungsinformatik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und wurde im September 2019 an der Philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen. Eine Dissertation entsteht nicht nur durch eine einzelne Person, auch wenn nur ein Autorenname auf dem fertigen Buch steht. Ohne die Hilfe, den Beistand, die Weichenstellungen und die Unterstützung von zahlreichen Personen in meinem Umfeld, hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Zuerst möchte ich mich bei meiner Betreuerin Heidrun Allert bedanken, die mich ganz zu Beginn in meinem Vorhaben bestärkt, mich immer im Spannungsfeld von Freiraum und Struktur gehalten hat, mir den Rücken für wichtige Schreibphasen freigehalten und mir wichtige Hinweise gegeben und Fallstricke aufgezeigt hat. Auch möchte ich meiner Zweitgutachterin Anja Mensching meinen Dank aussprechen. Ihre ermutigenden und bestärkenden Worte und inhaltlichen Hinweise waren ebenso sehr bereichernd und wichtig. Weiterer besonderer Dank geht an Fritz Lehmhaus und Elisa Dittbrenner. Sie haben sich immer wieder die Zeit genommen, um Fragen mit mir zu erörtern, den Finger in die Wunde zu legen und danach ein Pflaster darauf zu kleben. Beide waren gerade in der Endphase eine enorme emotionale Stütze. Dem weiteren Team der Medienpädagogik der CAU Kiel, namentlich Liane Maronde, die so viel Zeit mit dem Korrekturlesen des Manuskripts verbracht hat, Norma Reichelt und Christoph Schröder, die sich mein Wehklagen immer geduldig angehört haben, aber auch Christoph Richter, Christine Bussian, Lisa-Marie Brauer und Lars Raffel gelten ebenso mein Dank für viele bereichernde Diskussionen.
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Danksagung
Meine Eltern sollen an dieser Stelle auch erwähnt werden. Sie haben mir überhaupt ermöglicht zu studieren und mich gefördert, wo sie nur konnten. Danke für eure uneingeschränkte Unterstützung! Zum Abschluss gilt mein größter Dank meiner Frau Sonja. Ohne dich hätte ich diese Arbeit nicht verfassen können. Du gabst mir immer Kraft, hast mich bestärkt weiter zu machen, hast die ewigen Zweifel aufgefangen, dir viel Zeit für inhaltliche Diskussionen genommen und mir immer den Blick in die Zukunft gezeigt, in der unsere kleine Emmi auf uns wartete. Sie hat mittlerweile das Licht der Welt erblickt hat und unser Leben auf ganz andere Art bereichert und auf den Kopf gestellt. Euch beiden widme ich dieses Werk.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Vorgehen in der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Praxistheorien: Der Practice turn und Wissenschaftstheoretische Grundannahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen der Praxistheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2.1 Praktiken als fundamentale analytische Kategorie und der Begriff der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.2.2 Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.2.3 Performativität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2.4 Kontingenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.5 Emergenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.2.6 Materialität der Praxis: Körper, Dinge und Artefakte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.2.7 Der Medienbegriff in Praxistheorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2.8 Regeln und Wissen: Implizite Anteile der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2.2.9 Routine und Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.3 Weitere relevante Begriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.3.1 Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.3.2 Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.3.3 Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
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Inhaltsverzeichnis
3 Analyse von Winfried Marotzkis strukturaler Bildungs- und Medienbildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.1 Grundzüge der strukturalen Bildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.2 Die praxistheoretische Analyse von Marotzkis strukturaler Bildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.2.1 Relationalität, Kontingenz, Emergenz und Performativität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.2.2 Das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft und die Konzeption des Subjektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.2.3 Welt versus Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3.2.4 Modi der Auseinandersetzung in Bildungsprozessen und der Unbestimmtheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3.2.5 Die Unhintergehbarkeit von Sprache versus Doing. . . . . . . . 204 3.2.6 Körperlichkeit und Implizites in Bildungsprozessen. . . . . . . 216 3.2.7 Zusammenfassung der Konsequenzen für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3.3 Medienbildung, Materialität und Soziales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.3.1 Die strukturale Medienbildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3.3.2 Soziales und Materialität in Praxistheorien. . . . . . . . . . . . . . 249 3.3.3 Medienbildung und Soziales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3.3.4 Medienbildung und Materialität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3.3.5 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4 Diskussion der Erkenntnisse am aktuellen Stand der Forschung und Anknüpfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.1 Arnd-Michael Nohl: Bildung, Spontaneität und die Dinge. . . . . . . . 274 4.1.1 Rezeption des Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.1.2 Diskussion und Anknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4.2 Florian von Rosenberg: Bildung als Habitustransformation. . . . . . . 305 4.2.1 Rezeption des Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 4.2.2 Diskussion und Anknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4.2.3 Ergänzung: Bildung und Lernen im biografischen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 4.3 Patrick Bettinger – Praxeologische Medienbildung. . . . . . . . . . . . . . 325 4.3.1 Rezeption des Ansatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 4.3.2 Diskussion und Anknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
Inhaltsverzeichnis
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5 Zusammenführung der Erkenntnisse, offene Fragen und normative Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 5.1 Acht Bausteine für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 5.2 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 5.3 Normative Aspekte eines praxistheoretischen Bildungsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Über den Autor
Michael Asmussen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medienpädagogik/Bildungsinformatik am Institut für Pädagogik der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Er forscht insbesondere in den Bereichen Bildung und Digitalisierung aus praxistheoretischer Perspektive.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1.1 Spannungsfeld der zu diskutierenden Grundannahmen. Es wird in diesem Feld versucht, die Mitte zu treffen . . . . 12 Abbildung 3.1 Das einseitige Provokations- und R eaktionsverhältnis in Marotzkis strukturaler Bildungstheorie. Subjekt und gesellschaftliche Strukturen werden hier als zwei getrennte Sphären betrachtet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Abbildung 3.2 Subjektivierungs- und Vergesellschaftungsprozesse sind als Interdepenzbeziehungen in Relationen zu verstehen, womit hier nicht von zwei getrennten Sphären gesprochen werden kann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Abbildung 3.3 In einer epistemisch-konstruktivistischen Lesart lässt sich bei Marotzki das Verhältnis von Subjekt, R ealität und Welt etwa so darstellen. In Bildungsprozessen werden dann die Interpretationsrahmen (gestrichelter Pfeil) transformiert, was gleichzeitig zu einer Transformation von Wirklichkeit = Welt führt. . . . . . . . . . 166 Abbildung 3.4 Aus praxistheoretischer Sicht stehen alle ‚Relata‘ (Subjekte, Praktiken, Artefakte usw.) in Interdependenzbeziehungen bzw. in einem ko-konstitutiven Verhältnis zueinander. Hier geht es nicht um kognitive Bezugnahmen zur nicht verfügbaren Realität, sondern um das performative Hervorbringen von Praxis in der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . 171 Abbildung 3.5 Die Prozesslogik von Marotzkis strukturaler Bildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
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Einleitung
Es kann gleich zu Beginn gefragt werden: warum noch eine weitere Arbeit über Bildung? Viele aktuelle Arbeiten zu diesem pädagogischen Grundbegriff betonen immer wieder, dass die Fülle an Arbeiten in den letzten Jahren unüberschaubar groß geworden ist und deshalb eine erschöpfende Darstellung oder Systematisierung nicht zu leisten ist und immer mit Perspektivierungen und Relevanzsetzungen gearbeitet werden muss (siehe z. B. Bettinger, 2018a, S. 2; Nohl, 2006a, S. 8; Ricken, 2007, S. 15 ff.). Erscheint es angesichts dieser Diagnose über das Forschungsfeld sinnvoll, diesem unüberschaubaren Diskurs eine weitere Arbeit hinzuzufügen? Müsste nicht zumindest zeitweise innegehalten werden, um den Stand der Forschung zu sichten, Vergleiche und Differenzen zu benennen und übergeordnete Erkenntnisse herauszustellen? Wenn nicht mehr überblickt werden kann, wer woran mit welchem Erkenntnisinteresse gearbeitet hat, wie kann dann eine Weiterentwicklung des Bildungsbegriffes aussehen? Gleichzeitig wird die Masse an Publikationen aus den letzten Jahren aber auch positiv hervorgehoben: der Diskurs um den Bildungsbegriff hat seit der realistischen Wende der 60er Jahre in der Erziehungswissenschaft einen immensen produktiven Aufschwung erfahren (Koller, 2012b, S. 10; von Rosenberg, 2011a, S. 11). Koller macht hiervon ausgehend zwei Lager aus: Das eine fordert den „völligen Verzicht auf den Begriff der Bildung“ (Koller, 2012b, S. 10), da die normativen Implikationen aus dem 18. Jahrhundert stark ausgeprägt sind, es an methodologischen Anschlüssen mangelt und die „Anforderungen moderner Gesellschaften“ nicht reflektiert werden (ebd.). Das andere Lager hält den Bildungsbegriff für unverzichtbar für die pädagogische Debatte und versucht Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung in ein produktives Wechselverhältnis zu bringen (ebd.; von Rosenberg, 2011a, S. 11). Für letztere Perspektive ist vor allem eine Forschungslinie an Bildungstheorien zu nennen, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Asmussen, Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30865-0_1
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1 Einleitung
die ihren Startpunkt in den Arbeiten von Rainer Kokemohr (2007) und Winfried Marotzki (1990) in den späten 80ern und frühen 90ern haben und mit Koller (2012a, 2012b) als Theorien transformatorischer Bildungsprozesse beschrieben werden können. Selbstverständlich gibt es noch andere Perspektiven auf den Bildungsbegriff: Wolfgang Klafkis kategoriale Bildungstheorie (Klafki, 1978) oder die nichtaffirmative Bildungstheorie von Dietrich Benner (2015, S. 155 ff.), aber auch die Arbeiten von Heinz-Elmar Tenorth (z. B. 1986, 2003) sind hier als wesentlich zu nennen (auch diese Aufzählung ist selektiv und nicht komplett). Um die eröffnenden Fragen aber zumindest zu berücksichtigen, denn sie erscheinen in Anbetracht des Forschungsfeldes als relevant, schließt die vorliegende Arbeit an die Theorien transformatorischer Bildungsprozesse an und lässt damit andere Bildungsverständnisse und -theorien in den Hintergrund rücken. Warum dieser Bereich der Bildungstheorien? An der Grundidee Humboldts anknüpfend, wird dort als grundlegender Bezugspunkt das Selbstund Weltverhältnis des Subjekts in seiner Veränderung unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen begriffen (Bettinger, 2018a, S. 28 ff.). Dieses Konzept wurde innerhalb der Forschungstradition in verschiedenen Ausprägungen theoretisch fundiert (s. u.) und empirisch untersucht. Innerhalb des Bildungsbegriffes wird hier weder ein materialer Bildungsbegriff vertreten, in dem ein Subjekt dann als gebildet gilt, wenn ein normativ gesetzter Wissenskanon angeeignet worden ist, noch ein teleologischer Bildungsbegriff, in dem ein Subjekt in Bildungsprozessen unter Ausklammerung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu seiner in ihm oder ihr angelegten Form kommt. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher, gemeinschaftlicher, sozialer oder materieller Ko-Konstitutionen und Bedingungen in Bildungsprozessen ist in den letzten Jahren ein elementares und wichtiges Anliegen in zeitgenössischen Bildungstheorien geworden (z. B. Bettinger, 2018a; Nohl, 2011; von Rosenberg, 2011a). Dieses Verständnis von Bildung grenzt sich ebenso dezidiert von anderen pädagogischen Grundbegriffen (z. B. Lernen, Erziehung und Sozialisation) ab, die ebenfalls das Verhältnis des Subjekts zu sich und zur Welt thematisieren können, bzw. diskutiert in Bezug zum Lernbegriff Trennschärfe und Übergänge (Marotzki, 1990, S. 32 ff.; Nohl, von Rosenberg & Thomsen, 2015). Dies schärft das forschende Auge für unterschiedliche pädagogische Phänomene und Prozesse.
1 Einleitung
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In der vorliegenden Arbeit wird erstens Marotzkis strukturale Bildungstheorie (1990)1 mit Hilfe eines begrifflichen Instrumentariums untersucht, das aus der aktuellen Literatur zu Praxistheorien herausgearbeitet wurde. Marotzkis Ansatz gilt als wegweisend für alle Folgearbeiten. Richter schreibt, dass Marotzki der Bildungswissenschaftler ist, „auf den sich alle Nachfolger in dieser Forschungstradition beziehen.“ (Richter, 2014, S. 9) Und zweitens wird es um die aktuellen Arbeiten gehen, in denen vor allem mit praxeologischen bzw. praxistheoretischen (oder verwandten) Theorien und Konzepten gearbeitet wird. Hierfür werden exemplarisch die Arbeiten von Arnd-Michael Nohl, Florian von Rosenberg und Patrick Bettinger diskutiert. Bei den letztgenannten Autoren zeigt sich – das wird in der vorliegenden Arbeit deutlich – eine z. T. detaillierte Bezugnahme zu Praxistheorien, die aber nicht in letzter Konsequenz in eine Theorie eines praxistheoretischen Bildungsbegriffes mündet. Es wird in der vorliegenden Arbeit die These aufgestellt, dass Praxistheorien und Bildungstheorien noch nicht vollends zueinander gefunden haben. Ziel ist es, diese Lücke weiter zu schließen und wichtige Elemente eines praxistheoretischen Bildungsbegriffes in der Diskussion von Marotzkis wegweisendem Ansatz innerhalb der Tradition der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse herauszuarbeiten und dabei die Anknüpfung an den aktuellen bildungstheoretischen Diskurs innerhalb dieser Tradition zu beachten. Und warum der praxistheoretische Fokus? Reckwitz bezeichnet Praxistheorien als zeitgemäßen Theorietypus mit einem „Verständnis von Theorie als ein deutlich loser gekoppeltes Vokabular, ein Netzwerk von Begriffen, eine Heuristik im besten Sinne, an der sich an verschiedenen Enden und durch unterschiedliche Forscher weiterarbeiten lässt.“ (Reckwitz, 2016b, S. 11) Die praxistheoretische Perspektive betrachtet vor allem die praktischen Vollzüge, interessiert sich für Praxis und berücksichtigt hierbei die Materialität (der Körper und Artefakte), die implizite Logik der Vollzüge, die Möglichkeiten von Routine und Dynamik des Sozialen. Dabei stehen diese Ansätze konsequent in der Denkweise der
1Da
ein großer Teil der hier analysierten Texte nach der alten deutschen Rechtschreibung verfasst wurde, wird im Folgenden aus Gründen des Leseflusses auf redaktionelle Hinweise bei spezifischen Regeln der alten Rechtschreibung und gleichzeitiger Beibehaltung der alten Schreibweise in Zitaten verzichtet. Außerdem werden in Zitaten angegebene Quellen – sofern möglich – jeweils in Fußnoten vollständig und im Bibliografierstil der Arbeit angegeben, aus der das Zitat stammt.
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Relationalität und Performativität (siehe z. B. Reckwitz, 2003).2 Sie können somit – und das wird auch bereits von einigen Forschenden im Bereich der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse versucht – einen neuen Blickwinkel liefern, der ebenso mit einem zeitgemäßen Subjektverständnis einhergeht, indem er sich von der Vorstellung eines autonomen und mit Vernunft begabten Subjekts, wie es in der Aufklärung verstanden wurde, löst.3 Wenn soziale und materielle Bedingungen und Ko-Konstitutionen angemessen berücksichtigt werden sollen, muss dies mit einer Reflexion des Subjektverständnisses einhergehen. Die Verwendung von soziologischen (oder kulturwissenschaftlichen) Theorien und Begriffen ist im Kontext der vorliegenden Arbeit nicht mit dem klassischen Diskurs der Vereinnahmung der Erziehungswissenschaft durch die Soziologie gleichzusetzen (zur Übersicht Bauer & Marotzki, 2007; Lempert, 1963a, 1963b; Tenorth, 2007; Vogel, 2010). In dieser Sichtweise kommt häufig der Vorwurf zum Tragen, dass „die soziale Realität zur pädagogischen Norm“ (Lempert, 1963a, S. 257) wird. Bildung wird in der vorliegenden Arbeit trotz der intensiven Bezugnahme auf soziologische bzw. kulturwissenschaftliche Theorien nicht als ‚Bildung eines sozialen Subjekts‘ im Sinne einer Aneignung von sozialen Normen und Werten verstanden. Die Hinzunahme der Theorien der Nachbardisziplinen dient vielmehr der angemessenen Beachtung der sozio-materiellen Eingebundenheit von Bildungsprozessen. Will man – was z. B. Tenorth (2007, S. 182), Marotzki (1990) und von Rosenberg (2010) als unhintergehbar wesentlich erachten – den Bildungsbegriff im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft/ Gemeinschaft behandeln, so drängt sich ein Blick in diese Bereiche geradezu auf, führt aber nicht automatisch zu einer einseitigen Verabsolutierung des Sozialen, solange die Fragestellung – hier im Kontext des Bildungsbegriffes – konsequent aus pädagogischer Perspektive erfolgt. Das „alte Thema von Individuum und Gesellschaft“ (Tenorth, 2007, S. 184) kann nun sehr unterschiedlich behandelt
2Eine
detaillierte Einführung und innertheoretische Diskussion der praxistheoretischen Ansätze erfolgt in Kapitel 2. 3Kammerl (2017) diagnostiert z. B. der Medienpädagogik ein nicht mehr zeitgemäßes Subjektverständnis, „…indem zum einen implizit und explizit auf Subjektkonzeptionen der Aufklärung zurückgegriffen wird, ohne dass […] eine Auseinandersetzung mit deren Kritik erfolgt“ (S. 31). Er kritisiert, dass Handlungsfähigkeit in der Medienpädagogik häufig ausschließlich dem Subjekt zugeschrieben wird. Auch in der ‚medien+erziehung – Zeitschrift für Medienpädagogik‘ erschien 2017 eine Ausgabe mit dem Titel ‚Medienpädagogik zwischen Digital Humanities und Subjektorientierung‘ (Allert, 2017), in der das Thema aufgegriffen wird.
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werden. Beide Seiten können ontologisch getrennt betrachtet werden, wie dies – das wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein – bei Marotzkis Bildungstheorie der Fall ist, wenn er nach Subjektivität im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen fragt (Marotzki, 1990). Oder es kann z. B. in Praxistheorien davon ausgegangen werden, dass Subjekt und Gesellschaft sich auf der Ebene der Praxis konstituieren und somit in einem relationalen Verhältnis stehen (Schatzki, 1996, S. 13). Die Dualisierung wäre damit unterlaufen. Eine These, der die vorliegende Arbeit folgt – ebenso wie weitere aktuelle bildungstheoretische Arbeiten (Bettinger, 2017, 2018a; Jörissen, 2015a) – ist, dass ein relationales Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Sozialem eine neue und differenzierte Sichtweise auf pädagogische Phänomene bereitstellt und gleichzeitig weitere Aspekte wie Körperlichkeit und Artefakte als ko-konstitutiv für das Soziale und das Subjekt in die Analyse einbezieht. Bevor es zu einer genaueren Beschreibung des Vorgehens in dieser Arbeit kommt, zunächst zurück zu den Theorien transformatorischer Bildungsprozesse. Als grundlegende „Konsensformel“ (Thompson & Jergus, 2014, S. 14) kann ausgemacht werden, dass Bildung hier als Prozess beschrieben wird, in dem eine „Transformation des Weltverhältnisses“ (Marotzki, 1990, S. 41) und eine „Transformation des Selbstverhältnisses“ (ebd., S. 43) stattfindet. Marotzki hat in seinem Entwurf theoretische Überlegungen zum Bildungsbegriff mit qualitativempirischen Rekonstruktionen in Einklang gebracht, was für alle hier diskutierten NachfolgerInnen ebenso der Anspruch ist. Außerdem hat er mit Hilfe von Gregory Batesons Lernebenenmodell eine begriffliche Differenzierung von Lernen und Bildung eingeführt (ebd., S. 32 ff.), der die AutorInnen ebenfalls folgen, und die auch weiterentwickelt und präzisiert wurde (Nohl et al., 2015). Marotzki spricht bei Bildungsprozessen von biografischen Wandlungsprozessen und bringt diese mit einer Zeitdiagnose zusammen, auf die das Subjekt (im Idealfall) in Form von Bildungsprozessen antworten muss (Marotzki, 1990, S. 19 ff.).4 Im Anschluss an Marotzkis Bildungstheorie, die je nach AutorIn als „existenziell-phänomenologisch[]“ (von Rosenberg, 2011a, S. 18), als „reflexionstheoretisch[]“ (Nohl, 2006a, S. 13) oder „wissenstheoretisch[]“ (Jörissen, 2015b, S. 53; Hervorh. i. O.) beschrieben wird, haben sich verschiedene theoretische Neupositionierungen, Anknüpfungen und Akzentuierungen entwickelt. So wurden in den letzten Jahren z. B. die Zusammenhänge von Bildung und Diskurs (Koller,
4Eine
ausführlichere Darstellung von Marotzkis strukturaler Bildungstheorie findet sich in Abschn. 3.1 dieser Arbeit.
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1999), Bildung und Geschlecht (von Felden, 2003), Bildung und Spontaneität (Nohl, 2006a), von Bildung und Anerkennung (Stojanov, 2006), von Bildung, Habitus und Feld (von Rosenberg, 2011a), Bildung und Dingen (Nohl, 2011) oder Bildung und medialen digitalen Artefakten (Bettinger, 2018a) bearbeitet.5 Nun zeigt sich in einigen aktuellen Arbeiten, die grundlegend auf Marotzkis Bildungstheorie fußen, dass in der theoretischen Auseinandersetzung mit Bildung auf praxistheoretische Ansätze bzw. auf handlungstheoretische Ansätze, die der praxistheoretischen Perspektive nahestehen (namentlich: Pragmatismus) zurückgegriffen wird. Sie dienen meist als Fundierung des jeweiligen Bildungsverständnisses. Hier gibt es in den verschiedenen Arbeiten unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. In der empirischen Arbeit werden häufig sich ähnelnde Vorgehen bevorzugt: So nutzt Nohl zur empirischen Erforschung von Bildungsprozessen als Erhebungsmethode narrative Interviews und wertet diese komparativ mit der Dokumentarischen Methode aus (Nohl, 2006a). Daraus generiert er eine Phasentypik von Bildungsprozessen. Als theoretisches Fundament nutzt er den (Sozial-)Pragmatismus und die praxeologische Wissenssoziologie. Von Rosenberg nutzt empirisch das gleiche Vorgehen (mit Variationen in der Auswertung) und ergänzt dies durch die Rezeption von Diskursanalysen, um der „Weltvergessenheit“ (von Rosenberg, 2010, S. 571) aktueller Bildungstheorien zu entgehen. Als theoretisches Fundament nutzt er Bourdieus Habitusund Feldtheorie (von Rosenberg, 2011a). Bettinger nutzt als theoretische Grundlage von Rosenbergs bildungstheoretischen Ansatz und ergänzt diesen durch eine artefakt- und medientheoretische Perspektive aus den Praxistheorien und der Akteur-Netzwerk-Theorie. Auch er führt narrative Interviews, wertet diese mit der Dokumentarischen Methode aus und entwickelt komparativ eine Phasentypik von Bildungsprozessen. Gleichzeitig erhebt er digitale mediale Artefakte und nutzt zur Auswertung eine Kombination aus Dokumentarischer Methode der Bildinterpretation und Visueller Stilistik (Bettinger, 2018a).6
5Auch
diese Aufzählung ist nicht erschöpfend und geht notwendigerweise exemplarisch vor. 6Auch die Arbeiten von Nohl, von Rosenberg und Bettinger werden später (Kapitel 4) differenzierter und genauer vorgestellt und besprochen. Die Auswahl dieser drei Autoren ist als exemplarisch für den Diskurs zu sehen. Dennoch ist die Auswahl nicht willkürlich, da sich zum einen eine deutliche Linie der Weiterentwicklung und Bezugnahme findet und zum anderen die Klarheit der praxeologischen oder praxistheoretischen Anleihen vorhanden ist.
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Richter attestiert der Forschungstradition der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse Folgendes: „Die von dem/r Autor/in jeweils als aktuell befundene Theorie zur theoretischen Präzisierung des transformatorischen Bildungsbegriffs führt zu je anderen theoretischen Rekonstruktionen als Ausgangspunkten der empirischen Rekonstruktion von Bildungsprozessen im interpretativen Paradigma. Diese Vielfalt führt nicht zu der von den Biographieforscher/innen avisierten Neubestimmung des Bildungsbegriffs, sondern zu einem bunten Bild von Hypothesen und Typologien, die nicht mehr aufeinander beziehbar sind und in den Diskussionsteilen der genannten Studien auch nicht gegeneinander diskutiert werden (können).“ (Richter, 2014, S. 14)
Diese Kritik muss ernst genommen werden, denn trotz des ähnlichen empirischen Vorgehens haben die zur Fundierung genutzten Theorien in den genannten Arbeiten z. T. grundlegend unterschiedliche wissenschaftstheoretische Grundannahmen, was einen Vergleich und eine gegenseitige Bezugnahme schwierig machen. Um dieses Problem anzugehen und die eingangs gestellten Fragen der mangelnden Systematik und der Unüberschaubarkeit Rechnung zu tragen, wird das Feld – wie bereits erwähnt – auf die Grundlage, die Marotzki gelegt hat, auf die praxistheoretisch angelegten Arbeiten und auf Arbeiten mit vergleichbaren Grundannahmen, eingeschränkt. Neben der kurz dargestellten Entwicklung in der Tradition der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse zur Nutzung praxistheoretischer Ansätze, zeigt sich diese Entwicklung auch im breiteren Feld der wissenschaftlichen Pädagogik seit den letzten 15 Jahren. So konstatieren auch Bittner, Bossen, Budde und Rißler: „Innerhalb der erziehungs-wissenschaftlichen Forschung zeichnet sich eine deutliche Orientierung am practice turn ab. Praxistheorien werden herangezogen, um sich erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen theoretisch, methodologisch und methodisch zu nähern“ (2018, S. 10). Aktuelle PraxistheoretikerInnen, die in dieser Arbeit als die Forschenden der zweiten Generation bezeichnet werden, orientieren sich an der ersten Generation. Für letztere sind vor allem Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Judith Butler zu nennen. Als sozialphilosophische Grundlagen werden vor allem Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘ und Ludwig Wittgensteins ‚Philosophische Untersuchungen‘ rezipiert. In der zweiten Generation sind es u. a. Andreas Reckwitz, Theodore Schatzki, Karl Heinz Hörning, Hilmar Schäfer, Karin Knorr-Cetina, Thomas Alkemeyer, Stefan Hirschauer, Elizabeth Shove, Gesa Lindemann und Frank Hillebrandt, die das Feld der Praxistheorien systematisieren, konzipieren und weiterentwickeln.
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1 Einleitung
In der wissenschaftlichen Pädagogik sind es vor allem die AutorInnen erster Generation, die derzeit erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. So gibt es prominente Sammelbände mit den Titeln ‚Michel Foucault: Pädagogische Lektüren‘ (Ricken & Rieger-Ladich, 2004), ‚Judith Butler: Pädagogische Lektüren‘ (Ricken & Balzer, 2012), ‚Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren‘ (Rieger-Ladich & Grabau, 2017) oder ‚Reflexive Erziehungswissenschaft – Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu‘ (Friebertshäuser, Rieger-Ladich & Wigger, 2009). Daneben werden aktuell auch – neben der spezifischen AutorInnen-Rezeption – innerhalb spezifischer Themenfelder praxistheoretische Ansätze (oder allgemeiner: eine relationale Denkweise) verhandelt, so z. B. ‚Digitalität und Selbst‘ (Allert, Asmussen & Richter, 2017) oder ‚Praxeologische Medienbildung‘ (Bettinger, 2018a).7 Auch in der Organisationspädagogik finden sich praxistheoretische Ansätze. Als Überblick kann der Artikel von Elven und Schwarz (2018) genannt werden, die dort die Arbeiten von Michael Göhlich hervorheben. Ebenso im Bereich der Schulforschung erschien vor kurzem ein Sammelband mit dem Titel ‚Transformationen von Schule, Unterricht und Profession – Erträge praxistheoretischer Forschung‘ (Berdelmann, Fritzsche, Rabenstein & Scholz, 2019). Des Weiteren werden ‚Konturen praxistheoretischer Erziehungswissenschaft‘ (Budde, Bittner, Bossen & Rißler, 2018) diskutiert. Eine allgemeine Systematik über die Verbindung von ethnographischer Forschung und Pädagogik geben Ott, Schweda und Langer (2014). Bittner et al. (2018) sehen ebenso Anschlüsse in methodologisch-methodischen Fragen: „Für die Traditionslinie der pädagogischen Beobachtung (Tatsachenforschung, erziehungs-wissenschaftliche Ethnographie, rekonstruktive Erziehungswissenschaft) stellen sich diese gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Bewegungen [gemeint sind Ansätze innerhalb des practice turn; M.A.] als besonders anschlussfähig heraus.“ (S. 9) Da die Bearbeitung des vorliegenden Werkes im Jahr 2014 begann und diese damit – wie ersichtlich wurde – in eine sehr produktive Phase der praxistheoretisch-pädagogischen Diskussion fällt, kommt es in Teilen zu Konvergenzen in den herauszustellenden bildungstheoretischen Konsequenzen eines praxistheoretischen Bildungsbegriffes. Diese werden – soweit möglich – in der Diskussion berücksichtigt und daran angeknüpft.
7Ebenso
ist derzeit ein Sammelband mit dem Titel ‚Praxistheoretische Perspektiven in der Medienpädagogik‘, herausgegeben von Patrick Bettinger und Kai-Uwe Hugger, geplant (Stand: 15.11.2018).
1 Einleitung
9
Ein weiteres Argument, das für eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragestellungen – und vor allem dem Bildungsbegriff – spricht, sind die zur Verhandlung stehenden Dichotomien, die Bestandteil des pädagogischen Diskurses sind und in der Regel aus einem spezifischen Subjektverständnis (oder Menschenbild) heraus diskutiert werden. So schreibt Ricken aus einer praxistheoretischen Perspektive auf Subjektivität: „vielmehr taucht […] eine Figur relationaler Subjektivität auf, in der nicht nur die eingewöhnten dichotomischen Bestimmungen – wie z.B. Freiheit und Macht, Individuum und Gesellschaft sowie Autonomie und Heteronomie – problematisiert und zu überwinden versucht werden, sondern auch neue Kennzeichnungen und Markierungen menschlicher Subjektivität entwickelt werden.“ (Ricken, 2013, S. 69 f.)
Es besteht damit die Möglichkeit (und das zeigt die aktuelle Beliebtheit der praxistheoretischen Ansätze), grundlegende pädagogische Fragestellungen aus einer anderen Perspektive, die wie alle Perspektiven immer mit einem Subjektverständnis einhergeht, zu betrachten. Eine solche Perspektive „verweist dabei auch auf den Umstand, dass die Bearbeitung von Fragen nach einem bewusstseinsgesteuerten oder rational begründeten Handeln nur annähernd in der Lage sind, das Pädagogische angemessen zu theoretisieren“, so Bittner et al. (2018, S. 10). Neben der inhaltlichen Anknüpfung an den fachlichen Diskurs, in den praxistheoretische Perspektiven immer mehr Eingang finden, kann die vorliegende Arbeit auch wichtige Erkenntnisse und Perspektiven für die Bildungspolitik liefern. Diese greift oft bei pädagogischen Themen entweder verkürzt auf wissenschaftliche Arbeiten zurück oder aber nennt populärwissenschaftliche Werke von zweifelhaftem Ruf als Referenz. So stützt sich ein Bericht der Landesregierung Schleswig-Holstein zur „Umsetzung des Digitalen Lernens“ (Bildungsministerium-SH, 2016, S. 4) generisch für die Chancen (z. B. Erfolg am Arbeitsmarkt) von digitalen Medien in Bildungsinstitutionen auf Dräger und Müller-Eiselt (2015) und bei Risiken (z. B. Blockieren von Lernprozessen durch Medien) auf Spitzer (2012). In der KMK-Strategie ‚Bildung in der digitalen Welt‘ von 2016 werden in der Begründung der Maßnahmen keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse angeführt (KMK, 2016). Gerade im letztgenannten Dokument wurde aus pädagogischer Perspektive bereits herausgearbeitet, dass die KMK ein ökomonomisch-verwertungsorientiertes Bild vom zu-werdenden Subjekt hat, das sich nicht an gesellschaftlichen Entwicklungen beteiligen (sondern nur verarbeiten) soll (MacGilchrist, 2017),
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1 Einleitung
dass sie Bildung im Sinne einer normativ gesetzten Kompetenzvermittlung und -aneignung versteht (Asmussen, Schröder & Hardell, 2017) und dass sie ein reduktionistisch-instrumentalistisches Verständnis von Medien hat (Niesyto, 2016).8 Es zeigt sich aber deutlich, dass die Themen, die von der KMK verhandelt und mit Beschlüssen versehen werden, jeweils aus praxistheoretischer Perspektive differenziert betrachtet werden könnten: Praxistheorien sehen Artefakte (Hörning, 2001) und Medien (Göttlich, 2010) als ko-konstitutiv für Praxis, ohne in technik- oder sozialdeterministische Perspektiven zu verfallen (siehe Abschn. 2.2.6). Bildungspolitisch sind seit einigen Jahren Medien, Digitalisierung und Algorithmisierung im Fokus (KMK, 2012, 2016). Praxistheorien haben die Körperlichkeit von Praxis (Hirschauer, 2004; Reckwitz, 2003) und in Verbindung mit einer leibphänomenologischen Perspektive auch die individuelle Leiblichkeit im Blick (Bedorf & Gerlek, 2017) und schauen auf die tatsächlichen Vollzüge innerhalb einer Situation, die von den Körpern ausgeführt und aufrechterhalten wird. Außerdem haben sie als Kulturtheorien (s. u.) ein doing culture (Hörning & Reuter, 2004b) im Blick, mit dem auch (post-) koloniale Praktiken reflektiert werden können (Reuter, 2004). In der KMK sind seit Längerem die Themen Inklusion (KMK, 2011) und die ‚Schule der Vielfalt‘ (KMK, 2015) relevant. Bei der Betrachtung von Inklusionsprozessen ist das Thema Körperlichkeit/Leiblichkeit elementar, ebenso wie bei Themen zur Vielfalt ein Verständnis von Kultur (z. B. ein performatives Kulturverständnis). Eine praxistheoretisch-pädagogische Perspektive ist demnach thematisch breit aufgestellt und kann neben dem wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs auch geeignete Impulse für die bildungspolitische Landschaft erbringen. Nun kann es selbstverständlich nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein, all diese Themen aufzuarbeiten (was an anderen Stellen und in den Subdisziplinen bereits getan wird). Es sollte lediglich ein Anspruch und Potenzial an bildungspolitische Anknüpfungspunkte aufgezeigt werden. Es geht hier vielmehr um eine dezidierte theoretische Auseinandersetzung mit den genannten Arbeiten zum Bildungsbegriff und daraus resultierende Erkenntnisse, was die Konzeption eines praxistheoretischen Bildungsbegriffs beinhalten müsse.
8Für eine Zusammenfassung der umfangreichen Kritik, die während des feedback-Verfahrens in der Entwurfsphase der Strategie seitens (medien-)pädagogischer Akteure formuliert wurde siehe Missomelius (2016).
1.1 Vorgehen in der Arbeit
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1.1 Vorgehen in der Arbeit Die vorliegende Arbeit wird von folgenden Fragen geleitet: • Welche theoriearchitektonischen Konsequenzen hat eine praxistheoretische Perspektive auf die Theorien transformatorischer Bildungsprozesse? • Welche Verständnisse für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff finden sich bereits in der Theorielandschaft der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse und wie lassen sich diese mit den Erkenntnissen aus der Beantwortung der Hauptfrage diskutieren? • Welche Hinweise ergeben sich aus praxistheoretischer Perspektive für methodologisch-methodische Konsequenzen für die empirische Erforschung von Bildungsprozessen? Wie werden die Forschungsfragen beantwortet bzw. wie wird in dieser Arbeit vorgegangen, um die Fragen zu beantworten? Zunächst sei gesagt, dass hier ein theoretisches und textanalytisches Vorgehen angesetzt wird. Auch wenn die Theorien transformatorischer Bildungsprozesse meist Theorie und Empirie jeweils innerhalb einer größeren Arbeit verknüpfen, so ist es für die hier zu beantwortenden Fragen sinnvoll, zunächst auf theoretischer Ebene den Versuch zu wagen, Antworten zu finden. Das heißt nicht, dass empirische Forschung in der Folge ausgeschlossen wird. Vielmehr wird so zunächst gewährleistet, dass die begriffliche Auseinandersetzung mit einem praxistheoretischen Bildungsbegriff in aller Ausführlichkeit erfolgen kann, was für theoretisch fundierte empirische Forschung einen großen Mehrwert bringen kann. In Anbetracht des schwer zu überschauenden Forschungsfeldes ist es angeraten, von der gängigen Vorgehensweise in der Tradition der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse (vereinfacht: Darstellung eines theoretischen Referenzrahmens und Methodologie/ Methode; Darstellung empirischer Ergebnisse) Abstand zu nehmen. Stattdessen wird die detaillierte Auseinandersetzung mit der Theoriearchitektur und den Begriffen der jeweiligen Theorien gesucht. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden aufzeigen, dass auf methodologisch-methodischer Ebene in Bezug auf einen praxistheoretischen Bildungsbegriff noch einiges an Forschung zu leisten ist. Zum konkreten Vorgehen: Zur Beantwortung der übergeordneten Frage ‚Welche theoriearchitektonischen Konsequenzen hat eine praxistheoretische Perspektive auf die Theorien transformatorischer Bildungsprozesse?‘ wird zunächst aus praxistheoretischer Forschungsliteratur heraus eine Analyseheuristik, bestehend aus praxistheoretischen Grundannahmen, erarbeitet (Kapitel 2).
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1 Einleitung
Diese wird eine mittlere Betrachtungsebene (siehe Abbildung 1.1) aufweisen. Hörning spricht bei Praxistheorien von „ein[em] Bündel von Ansätzen, die eine soziale Praxisperspektive einnehmen und diese theoretisch auszuarbeiten suchen“ (Hörning, 2004a, S. 142; vgl. auch Schmidt, 2012, S. 26) und Reckwitz von „einem Bündel von Theorien mit ‚Familienähnlichkeit‘“ (Reckwitz, 2003, S. 283). Es gibt demnach nicht ‚die‘ Praxistheorie, sodass nicht immer auf einheitliche theoretische Begriffe zurückgegriffen werden kann. Stattdessen werden die AutorInnen zweiter Generation herangezogen und eine Systematisierung skizziert.
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Abbildung 1.1 Spannungsfeld der zu diskutierenden Grundannahmen. Es wird in diesem Feld versucht, die Mitte zu treffen
Es gibt AutorInnen, die sich um das Herausstellen der Gemeinsamkeiten bemühen. Diese werden auch diskutiert. Aber dieselben AutorInnen (und andere) entwickeln meist zusätzlich eine eigene Perspektive auf bestimmte Ausschnitte der praxistheoretischen Perspektive oder fokussieren bestimmte Aspekte besonders stark (z. B. Materialität oder das Wechselspiel von Routine und Dynamik in Praktiken), die auch innerhalb der Forschungsgemeinschaft kontrovers diskutiert werden (siehe z. B. einen aktuellen Sammelband: Schäfer (2016c)). Es muss also eine Betrachtungsebene gefunden werden, auf der die geteilten Grundannahmen, die Familienähnlichkeiten liegen, die noch nicht von eigenen Perspektiven der jeweiligen AutorInnen überlagert werden. An manchen Stellen wird dies gut gelingen, an anderen muss die Diskussion zur jeweiligen Grundannahme aufgegriffen werden. Bei diesem Vorgehen ist es gleichzeitig
1.1 Vorgehen in der Arbeit
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elementar, nicht zu oberflächlich nach den Gemeinsamkeiten zu suchen, da dies auf Kosten der begrifflichen Schärfe geschehen würde. In diesem Spannungsfeld wird sich die theoretische Auseinandersetzung mit der praxistheoretischen Perspektive befinden. Auf Grundlage der herausgearbeiteten praxistheoretischen Grundannahmen und -begriffe wird im Folgenden ein Textkorpus betrachtet (Kapitel 3). Dieser beinhaltet die wesentlichen Arbeiten von Winfried Marotzki zum Bildungsbegriff in der Zeitspanne von 1988 bis 2007. Außerdem wird die konzeptionelle Weiterentwicklung hin zum Medienbildungsbegriff einbezogen, die Marotzki gemeinsam mit Benjamin Jörissen (in Teilen auch mit Arnd-Michael Nohl und Wolfgang Ortlepp) erarbeitet hat. Hierbei werden wesentliche Texte von 2003 bis 2014 analysiert. Die Wahl, insbesondere Marotzkis Werk aus praxistheoretischer Perspektive zu betrachten, ergibt sich vor allem aus seiner Stellung innerhalb des Diskurses. Die Bezugnahmen auf seine Habilitationsschrift (Marotzki, 1990) und Folgearbeiten sind in nahezu jeder Arbeit innerhalb der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse zu finden. Viele AutorInnen bauen auf seiner Theorie auf und versuchen davon ausgehend den Bildungsbegriff weiterzuentwickeln. Es ist daher ein gut beratenes Vorgehen, den Wurzeln des Denkens nachzuspüren und von da aus eine Auseinandersetzung mit aktuellen Werken (in dieser Arbeit die Werke von Nohl, von Rosenberg und Bettinger) zu suchen. Es wird im Hauptteil der Arbeit nicht darum gehen, Marotzkis Ansatz durch die Analyse zu kritisieren. Dies ist allein schon wegen der unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Grundannahmen ein schwieriges Unterfangen,9 das eine dezidierte Betrachtung der Grundlagentheorien benötigen würde. Marotzkis Bildungstheorie speist sich u. a. aus existenzialistischen (Sartre), anthropologisch-sozialwissenschaftlichen (Bateson), gesellschaftstheoretisch-zeitdiagnostischen (Beck, Kohli, Vetter) und philosophisch-logischen (Günther) Theorien. Auch bezieht er sich auf die Werke von Adorno und Lyotard. Um eine Auseinandersetzung mit diesem Referenzrahmen wird es nicht gehen. Im Mittelpunkt steht eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit der Theoriearchitektur und den bildungstheoretischen Aussagen Marotzkis in den herangezogenen Texten.10 Hier werden Erkenntnisse für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff
9Ein
Problem, das in Theorievergleichen in der Soziologie ebenfalls diskutiert wird (siehe z. B. Laux, 2017, S. 165). 10Diese stehen natürlich in Zusammenhang zu den genannten theoretischen Referenzen. Der Fokus liegt aber – wie beschrieben – auf Marotzkis Rezeption und nicht in einer rückführenden Analyse der von ihm verwendeten Ansätze.
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1 Einleitung
generiert, der aber Grundideen der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse aufgreift und produktiv weiterentwickelt. Hieraus wird keine in Gänze ausgearbeitete Theorie vorgelegt werden können; das Ziel ist eine Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff, die in der Auseinandersetzung mit einem zentralen Werk der Bildungstheorien geleistet wird. Das hat zur Folge, dass nicht nur im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich (Praxistheorien) nach Fragmenten gesucht wird, die aus ihrer Perspektive das ausdrücken, was BildungstheoretikerInnen unter transformatorischen Bildungsprozessen verstehen würden. Ergebnis wird eine theoretische Synthese einer pädagogischen Bildungsidee mit Praxistheorien sein. M. a. W.: Es wird um Ansätze einer Bildungstheorie nach pädagogischem Grunddenken aus praxistheoretischer Perspektive gehen. Es wird im Laufe der Argumentation deutlich, dass diese Auseinandersetzung neue Impulse für die bildungstheoretische Landschaft – will man Bildung praxistheoretisch fassen – mit sich bringt. Die aus dieser Analyse generierten Erkenntnisse werden in einem zweiten Schritt (Kapitel 4) an den aktuellen Diskurs angeknüpft.11 Die Beantwortung der zweiten Frage steht dann im Zentrum: ‚Welche Verständnisse für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff finden sich bereits in der Theorielandschaft der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse und wie lassen sich diese mit den Erkenntnissen aus der Beantwortung der Hauptfrage diskutieren?‘ Hier werden dann die Bildungstheorien von Arnd-Michael Nohl, Florian von Rosenberg und Patrick Bettinger vorgestellt und aus der erarbeiteten Perspektive diskutiert. Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt und blinde Flecken sowohl auf Seiten des in dieser Arbeit herausgestellten Ansatzes, als auch bei den zu diskutierenden Ansätzen benannt. Dieses Vorgehen, das die klassische Darstellung des aktuellen Forschungsstands ersetzt, macht aus mehreren Gründen Sinn. Für die Eingrenzung des Gegenstandes bietet sich eine Fokussierung auf diejenigen Bildungstheorien an, die eine praxeologische bzw. praxistheoretische Ausrichtung aufweisen oder aber – wie im Fall von Nohl – mit dem Pragmatismus eine theoretische Referenz nutzen, die (bei Beachtung der Differenzen) Ähnlichkeiten zu Praxistheorien aufweisen (für die Zusammenhänge und Unterschiede von Pragmatismus und Praxistheorien siehe Dietz, Nungesser & Pettenkofer, 2017b; Hörning, 2001). Die Vorstellung dieser Ansätze nicht an den Anfang der Arbeit zu stellen hat pragmatische Gründe. Um Wiederholungen in
11Selbstverständlich
wird während der Analyse von Marotzkis Bildungstheorie auch punktuell auf Ansätze eingegangen, die ähnliche Erkenntnisse zu Tage gefördert haben.
1.1 Vorgehen in der Arbeit
15
den Theoriedarstellungen zu vermeiden, werden diese in den hinteren Teil der Arbeit verlagert, damit die darauffolgende Diskussion der jeweiligen Ansätze mit den hier gemachten Erkenntnissen nachvollziehbar und übersichtlich bleibt. So wird die Anknüpfung an den aktuellen Stand der Forschung gewährleistet und der Gang der Argumentation nicht unnötig überfrachtet. Für aktuelle und ausführliche Überblicke zu den Theorien transformatorischer Bildungsprozesse siehe z. B. Nohl et al. (2015) oder von Rosenberg (2016). M. a. W.: Da andere Bildungstheorien in der Tradition der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse verschiedenste theoretische Referenzen nutzen und diese für das Erkenntnisinteresse nicht relevant sind, verbleibt die detaillierte Analyse bei Marotzkis Bildungstheorie und nimmt anschließend fokussiert diejenigen Ansätze in die Diskussion auf, die unmittelbar die Forschungsfrage tangieren. Das Ziel ist demnach nicht – und das kann es auch nicht sein – ein in sich geschlossener und völlig neuer theoretischer Entwurf. Vielmehr geht es um tiefergehende Erkenntnisse für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff in enger Auseinandersetzung mit dem bisherigen Diskurs. Die zweite Unterfrage ‚Welche Hinweise ergeben sich aus praxistheoretischer Perspektive für methodologisch-methodische Konsequenzen für die empirische Erforschung von Bildungsprozessen?‘ wird in Kapitel 3 und 4 immer wieder auftauchen. Sie steht zwar nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit, spielt aber insgesamt sowohl in Praxistheorien, als auch in Theorien transformatorischer Bildungsprozesse eine wichtige Rolle. Theorie und Empirie werden in beiden Traditionen als gleichwertige Aspekte der Forschung betrachtet. Auf Seiten der Praxistheorien kann mit Schmidt gesagt werden, dass die „praxistheoretische Perspektive […] auf einen anderen, methodologisch ausgerichteten und am Empirischen orientierten Typus von Theorie“ (2012, S. 24) abzielt. Auch Schäfer betont diesen Punkt: „Als Forschungsprogramm ist die Praxistheorie zudem durch ihre enge Verschränkung von Theorie, Methodologie und Empirie gekennzeichnet.“ (2016a, S. 14) Viele AutorInnen aus dem Bereich des transformatorischen Bildungsbegriffs betonen ebenso die Verschränkung von Theorie und Empirie in der Forschung, wie z. B. Marotzki (1990, S. 18), Nohl (2006a, S. 18 f.) von Rosenberg (2011a, S. 12). Aus diesen Perspektiven heraus ist es angeraten, diese Frage – auch bei der theoretischen Ausrichtung der vorliegenden Arbeiten – mit zu beachten, auch wenn sie am Ende nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Im letzten Kapitel (5) werden die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit zusammengeführt. Aus der Analyse der vorangegangenen Kapitel ergeben sich acht theoretische Bausteine, die für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff elementar sind. Hierbei wird auch auf Parallelen und Differenzen zu den
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1 Einleitung
genannten anderen Ansätzen eingegangen. Gleichzeitig werden offene Fragen, die ein praxistheoretischer Bildungsbegriff zu beantworten hat, diskutiert und normative Implikationen besprochen. In der vorliegenden Arbeit wird Theorie als Werkzeug verstanden, mit dessen Hilfe Perspektiven auf Phänomene eingenommen werden. So können zum einen fundiert empirische Phänomene analysiert werden, gleichzeitig kann mit einer theoretischen Brille aber z. B. auch auf wissenschaftliche Arbeiten geblickt werden. Eine konsequente Perspektive, wie sie versucht wird hier zu entwickeln, kann für eine Textanalyse genauso hilfreich sein, wie für empirische Erhebungen und deren Auswertungen. So wie Koller z. B. Bildungsprozesse bei Figuren in Prosa-Werken aus der Perspektive der Theorien transformatorischer Bildungsprozesse untersucht (Koller, 2014a; 2014b, S. 169 ff.). Er schreibt zur Analyse von literarischen Texten: „Die entscheidende methodische Herausforderung ist dabei darin zu sehen, dass es nicht darum gehen kann, literarische Texte zur Illustration bereits vorhandener theoretischer Konzepte einzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, das Irritationsund Erkenntnispotential solcher Texte zu nutzen, um neue Einsichten hervorzubringen und die der Analyse bzw. Interpretation zugrunde liegenden theoretischen Konzepte in Frage zu stellen, weiter zu entwickeln oder gänzlich zu transformieren.“ (Koller, 2014a, S. 46 f.)
Das ist quasi der Umkehrschluss dieser Arbeit. Es wird kein Bildungsbegriff aus den Praxistheorien übernommen, sondern aus der Analyse heraus Erkenntnisse für einen praxistheoretischen Bildungsbegriff aus dem pädagogischen-bildungstheoretischen Diskurs heraus geschlossen. Es gibt durchaus Überlegungen zum Begriff ‚Bildung‘ im sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs der Praxistheorien. Hier sind vor allem Alkemeyer (2013), Alkemeyer, Buschmann und Michaeler (2015) und Alkemeyer und Buschmann (2016) zu nennen. Der dort entfaltete Begriff der ‚Selbst-Bildung‘ ist aber nicht mit einem pädagogischbildungstheoretischen Verständnis von Bildung gleichzusetzen. Hier kann eher allgemeiner von Subjektivierungsprozessen (die z. B. auch Sozialisation beinhalten) gesprochen werden (siehe Alkemeyer & Buschmann, 2016, S. 131; Alkemeyer, Buschmann, et al., 2015, S. 41). Ziel ist es nicht, dieses Konzept in die Pädagogik zu tragen. Im Gegenteil: Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit könnten sich auch für den praxistheoretischen Diskurs als fruchtbar erweisen, wenn sich herausstellt, dass eine derartige Synthese aus praxistheoretischer Perspektive und Theorien transformatorischer Bildungsprozesse zu verwertbaren Ergebnissen führt. Somit kann in Analogie zu Kollers Prosa-Analysen ebenfalls gesagt werden, dass das „Irritations- und Erkenntnispotential“ (Koller, 2014a,
1.1 Vorgehen in der Arbeit
17
S. 46), welches sich aus den Gegenüberstellungen der hier verwendeten Werke ergibt, produktiv genutzt wird, um theoretisch fundiert und reflektiert an dem Begriffswerk weiter zu arbeiten. Es handelt sich bei dieser Arbeit also nicht um einen klassischen Theorienvergleich, da aus einer theoretischen Perspektive eine andere analysiert wird (was nicht heißt, dass nicht auch Weiterentwicklungen für die Praxistheorien entstehen können). Es findet keine Gegenüberstellung statt, gleichzeitig sind im Vorgehen aber Überschneidungen zum Theorienvergleich vorhanden. Zunächst kann festgehalten werden, dass Marotzkis Bildungstheorie andere Fragen stellt bzw. ein anderes Erkenntnisinteresse hat als – allgemein formuliert – Praxistheorien. Reckwitz geht davon aus, dass letztere, versteht man sie als Sozialtheorien, „klären, was das Soziale ausmacht“ (Reckwitz, 2016b, S. 8). Mit ihnen wird also nach dem ‚Ort des Sozialen‘ (Reckwitz, 2003) gefragt. Marotzki fragt mit seiner Bildungstheorie danach, wie unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen (Kontingenzsteigerung und Individualisierung; siehe Abschn. 3.1) Bildungsprozesse, verstanden als Transformation von Selbstund Weltverhältnissen, ablaufen. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die „Frage nach dem Individuellen“ (Marotzki, 1990, S. 62), nach Subjektivität im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen, die sich (auch) durch Bildungsprozesse konstituiert. Die Grundfragen sind also schon so unterschiedlich, dass ein stringenter Theorienvergleich zu Verzerrungen führen könnte. Die Grundanlage der Arbeit wird aber trotzdem einige Ähnlichkeiten zum Theorienvergleich aufweisen (s. u.). Dennoch wird sich zeigen, dass beide Seiten ähnliche Spannungsverhältnisse verhandeln: Das Verhältnis von Subjekt und Sozialem/Gesellschaft und auch das Verhältnis von Theorie und Empirie in der Wissenschaft wären hier beispielsweise zu nennen. Trotz des unterschiedlichen Erkenntnisinteresses ergibt sich so zumindest eine Heuristik von ‚Vergleichsdimensionen‘. Dieser Aspekt ist aber kein Argument für einen klassischen Theorienvergleich, sondern zeigt eher an, an welchen Stellen der praxistheoretische Blick auf Marotzkis Bildungstheorie in der Theoriearchitektur bzw. in den Grundannahmen irritierendes Potenzial entfalten kann. Ein weiterer Aspekt, der noch angesprochen werden muss, ist die Frage nach Begriffsverwendungen. In Theorienvergleichen, so diagnostizieren Greshoff, Lindemann und Schimank (2007), wird die Verwendung von gleichen Worten, die aber begrifflich unterschiedlich ausgestaltet sind, häufig übersehen: „Bei solchen Vergleichen wird offensichtlich davon ausgegangen, dass in den zu vergleichenden Theorien mit denselben Worten auch in gleicher Weise begriffene Gegenstände bezeichnet werden.“ (S. 9) Dieser Punkt wird in der vorliegenden
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1 Einleitung
Arbeit aufgegriffen. Gleiche Worte für Begriffe, die aber Unterschiedliches meinen, werden explizit diskutiert. Somit enthält diese Arbeit im Vorgehen zumindest Elemente eines Theorienvergleichs, verfolgt aber andere Ziele. Auch Begriffe, die theoriearchitektonisch, aber nicht im Wortlaut, Ähnlichkeiten aufweisen, werden miteinander in Beziehung gesetzt und diskutiert. Das Ziel ist also, das sei nochmal zusammengefasst, nicht die Suche nach Konvergenzen beider Perspektiven und auch nicht die Kritik an Marotzkis bildungstheoretischem Ansatz. Es geht darum, aus der praxistheoretischen Perspektive mit einem Verständnis von Theorie als Werkzeug, Marotzkis Bildungstheorie zu lesen, um daraus irritierende und erkenntnisfördernde Diskussionsanregungen zu generieren, die dabei helfen, einen praxistheoretischen Bildungsbegriff weiter auszuformulieren. Dies findet dann in einem zweiten Schritt im Abgleich mit bestehenden Arbeiten innerhalb dieses Bereiches statt.
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Praxistheorien: Der Practice turn und Wissenschaftstheoretische Grundannahmen
Praxistheorien werden im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften angesiedelt und hier vor allem im Bereich der Sozialtheorien (Reckwitz, 2016a, S. 8 ff.; Schäfer, 2016a, S. 9). In diesem Kapitel wird erläutert, was die Familie der Praxistheorien im Besonderen ausmacht, was sie von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Strömungen unterscheidet und welche wissenschaftstheoretischen Grundannahmen in ihnen vertreten werden. Letztere werden dann im Hauptteil dieser Arbeit als analytische Werkzeuge genutzt, um die Argumentationsgänge von Marotzkis strukturaler Bildungstheorie und der darauf aufbauenden strukturalen Medienbildungstheorie von Jörissen und Marotzki zu untersuchen. Kurzum: Es wird die Perspektive dargelegt, mit der die Bildungstheorien detailliert analysiert werden. Zunächst wird hierzu der sogenannte practice turn oder auch practical turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften skizziert. Hierbei werden erste Abgrenzungen – zunächst allgemein gehalten – zu anderen Positionen deutlich, die ebenfalls nach „de[m] Ort des Sozialen“ (Reckwitz, 2003, S. 286) fragen (Abschnitt 2.1). In einem zweiten Schritt wird detaillierter betrachtet, was unter Praxistheorie zu verstehen ist, indem die Grundannahmen dieser Theorien systematisch dargelegt werden (Abschnitt 2.2). Dieser Schritt kann nicht erschöpfend behandelt werden, da es sich bei Praxistheorien um „ein Bündel von Theorien mit ‚Familienähnlichkeit‘“ (Reckwitz, 2003, S. 283) handelt1 und eine ausführliche Systematisierung – sofern überhaupt möglich – eine eigene
1Oder
wie Hörning schreibt, handelt es sich um „ein Bündel von Ansätzen, die eine soziale Praxisperspektive einnehmen und diese theoretisch auszuarbeiten suchen.“ (Hörning 2004a, S. 142)
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Asmussen, Annäherung an einen praxistheoretischen Bildungsbegriff, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30865-0_2
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2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Monographie verlangen würde. Außerdem fällt dies in den Arbeitsbereich der Sozial- oder Kulturwissenschaften und nicht in den Bereich der Pädagogik. Daher werden im Folgenden hauptsächlich Werke einbezogen, die darum bemüht sind, die Familie der Praxistheorien wissenschaftstheoretisch weiter zu fundieren. Ziel des Abschnittes ist es, eine mittlere Betrachtungsebene in der Systematisierung der Grundannahmen zu erreichen, die nicht oberflächlich ist, sich aber gleichzeitig nicht in Diskussionsbereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften einmischt. Außerdem werden Arbeiten von AutorInnen verwendet, die sich mit dem eben genannten practice turn befassen und/oder ihn ausgerufen haben. Hier sind vor allem Schatzki, Knorr Cetina und von Savigny (2001) für den englischsprachigen Raum und Andreas Reckwitz (2003) für den deutschsprachigen Raum zu nennen. Hieraus werden sich verschiedene paradigmenimmanente Grundannahmen ergeben, mit welchen dann die ausgewählten bildungstheoretischen Texte analysiert werden. Um Missverständnissen vorzubeugen, die aus verschiedenen semantischen Aufladungen von Begriffen in den unterschiedlichen Disziplinen entstehen können, wird kurz auf die Begriffe Theorie, Praxis, Reflexion und Subjekt in den Praxistheorien eingegangen (Abschnitt 2.3), da diese auch in der wissenschaftlichen Pädagogik einen zentralen Stellenwert haben, in der vorliegenden Arbeit aber eine praxistheoretische Deutung erhalten (die auch für die Pädagogik fruchtbar ist und zuweilen auch schon genutzt wird). Außerdem können diese Begriffe, die nicht in der Systematik der Grundannahmen vertreten sind, ebenfalls als Analysewerkzeug für den Hauptteil Anwendung finden.
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen der Praxistheorien Dieser Abschnitt dient – bevor er zu den Ausführungen praxistheoretischer Grundannahmen übergeht – der Abgrenzung der praxistheoretischen Perspektive2 zu anderen kultur- oder sozialwissenschaftlichen Ansätzen und Perspektiven. Reckwitz merkt an, dass neben einer Darstellung der Gemeinsamkeiten auch eine Beschreibung dessen aufschlussreich sein kann, „wogegen, d.h. gegen welche ‚traditionellen‘ Forschungsansätze der jeweiligen Analysefelder sich die
2Autoren
wie Reckwitz (2003), Schatzki et al. (2001) und Schmidt (2012) sprechen von einem turn (s. u.), jedoch benutzt Hörning (2004a) sogar den Begriff des „Praxisparadigmas“ (S. 139).
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
21
praxeologischen approaches richten.“ (2003, S. 284; Hervorh. i. O.) Außerdem betonen Alkemeyer und Buschmann (2016, S. 116), dass sich innerhalb praxistheoretischer Ansätze Einigkeit zunächst negativ bestimmen lässt, da sich unter diesem Label viele heterogene Ansätze versammeln (s. u.). Reckwitz macht aber gleichzeitig deutlich, dass die Negativ-Bestimmung „nur in Form einer radikalen, vereinfachenden Typisierung möglich“ (Reckwitz, 2003, S. 286) ist. Für eine erste Abgrenzung und die Entwicklung eines Grundverständnisses scheint dieses Vorgehen legitim, auch wenn nach Bongaerts (2007) die Sozialwissenschaften eine innerdisziplinäre Ausarbeitung des practice turns vor allem in der differenzierten Abgrenzung zu anderen Sozialtheorien noch schuldig sind. Es sei aber angemerkt, dass auch in diesem Abschnitt grundlegend erste Charakteristika praxistheoretischen Denkens beschrieben werden. Hierauf kann und muss nicht verzichtet werden. Eine tiefergehende Auseinandersetzung damit folgt jedoch in den Abschnitten 2.2 und 2.3. Die hier genannten Annahmen beziehen sich zunächst auf die Grenzziehungen zu anderen Denkweisen. Ziel ist es, den Blick auf die Besonderheiten praxistheoretischen Denkens zu lenken. Dies soll eben mit Hilfe der Abgrenzung in einem ersten Schritt geschehen. Innerhalb der Kulturwissenschaften kam es im Laufe der Wissenschaftsgeschichte immer wieder zu Neuorientierungen, bzw. sogenannten turns. Bachmann-Medick (2007) nennt hier den interpretive turn, den performative turn, den reflexive turn/literary turn, den postcolonial turn, den translational turn, den spatial turn und den iconic turn.3 Als festes Kriterium für einen turn nennt sie den Wechsel in der Denkweise, wenn das Objekt der Erkenntnis selbst zum Erkenntnismittel wird: „Von einem turn kann man erst sprechen, wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten «umschlägt», wenn er also nicht mehr nur neue
3Schäffner
(2010) beschreibt zusätzlich noch einen Design Turn. Ingenieurwesen und Naturwissenschaften vollziehen diesen bereits und die Geisteswissenschaften können „zu einem wichtigen Akteur bei der Produktion der modernen Realität werden und den Status eines analytischen, konsequenzlosen Wissens ablegen.“ (S. 37) Beim Design Turn geht es auch darum, unterschiedliche wissenschaftliche Wissenspraktiken in gestaltungswissenschaftlich unterfütterte Strategien der Wissensproduktion zu überführen. Hierbei zeigt sich eine gewisse Nähe zum practice turn. Im medienpädagogischen Kontext fordern Allert und Richter (2011, S. 2; 2012, S. 67) ähnliches für die universitäre Lehre des Faches. MedienpädagogInnen sollen sich hiernach stärker als GestalterInnen begreifen und aktiv an der Technologieentwicklung partizipieren. Dieser Punkt sei hier nur angedeutet.
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2 Praxistheorien: Der Practice turn … Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und –medium wird.“ (Bachmann-Medick, 2007, S. 26; Hervorh. i. O.)
Das, was zunächst mit wissenschaftlichen Instrumenten aus einer bestimmten Perspektive (also aus Sicht eines bestimmten turns) untersucht wurde, wird hiernach selbst zur bestimmenden analytischen Kategorie in der Untersuchung.4 Bachmann-Medick weiter hierzu: „Ein solcher konzeptueller Sprung durch turns ist deshalb so wirkungsmächtig, weil er zumeist mit der Transformation von zunächst beschreibenden Begriffen in operative Begriffe, eben in wirklichkeitsverändernde Konzepte, einhergeht.“ (Bachmann-Medick, 2007, S. 26; Hervorh. i. O.) Im englischsprachigen Raum haben zunächst Schatzki et al. (2001) einen eben solchen turn ausgerufen: den practice turn oder auch practical turn. Im deutschsprachigen Raum war es vor allem Reckwitz (2003), der ebenfalls von einem practice turn sprach und sich dabei auch auf Schatzki et al. bezieht (Reckwitz, 2003, S. 282). Hierzu folgte dann ebenfalls im deutschsprachigen Raum ein Sammelband von Hörning und Reuter (2004b) mit dem Titel Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, welcher ebenfalls den Umschwung5 im sozialwissenschaftlichen Bereich im Blick hat und diesen empirisch und theoretisch zu fundieren versucht.6 Schmidt (2012, S. 11) spricht ebenfalls von einem practice turn, an dem sich die Soziologie derzeit neu ausrichtet. Innerhalb dieses turns werden die Praxistheorien verortet. Reckwitz (2003) zählt eine ganze Reihe von AutorInnen auf, die sich am praxistheoretischen Diskurs beteiligen. Zu den einflussreichsten zählen laut Reckwitz: Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Harold Garfinkel, Luc Boltanski und
4Bongaerts
(2007) zweifelt zwar an, dass es sich beim practice turn um einen turn im Sinne Bachmann-Medicks handelt, dieser Standpunkt wird aber in der vorliegenden Arbeit nicht vertreten (s. u.). 5Hörning und Reuter (2004b) nutzen den deutschen Begriff Praxiswende und Hörning an anderer Stelle den Begriff des Paradigmas (2004a, S. 139) 6Hierzu muss noch erwähnt werden, dass Reckwitz in seiner Erstausgabe des Werkes „Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms“ im Jahr 2000 bereits eine entsprechende Entwicklung in den Kulturtheorien ausmacht. Sein zentrales Anliegen ist hier, „die Ausbildung einer kulturwissenschaftlichen Theoriefamilie“ (Reckwitz 2012, S. 706) herauszuarbeiten, die er Theorien sozialer Praktiken nennt. Diese Entwicklung eröffne für Sozial- und Geisteswissenschaften neue Fragestellungen. Er spricht dort aber noch nicht von einem practice turn, sondern allgemein von einem cultural turn, der sich abzeichnet.
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
23
Laurent Thévenot, Michel Foucault, Gilles Deleuzes, Michel de Certeaus, Bruno Latour und Judith Butler. Als philosophische Grundlegung werden von Reckwitz Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘ und das Spätwerk Ludwig Wittgensteins angeführt. Schatzki (2001a, S. 1) nennt zusätzlich Hubert Dreyfus, Charles Taylor und Jean-François Lyotard. Hörning (2001, S. 161; 2004a, S. 147) benennt Einflüsse des Pragmatismus auf den praxistheoretischen Diskurs. Schäfer (2013, S. 14 ff.) gibt ebenfalls eine ausführliche Auflistung verschiedener praxistheoretischer AutorInnen und ordnet diese unterschiedlichen Forschungsgebieten zu. Zu diesen Forschungsgebieten zählen für ihn u. a. die Wissenschaftsforschung, die Techniksoziologie, die Arbeits- und Organisationsforschung, die Politikwissenschaft, die Umweltforschung, die Gender Studies, die Kultursoziologie und die Subjektanalyse.7 Hillebrandt führt die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie, die Cultural Studies (allen voran Stuart Hall) und die Science Studies (hier vor allem Bruno Latour, Michel Callon, Steve Woolgar, John Law, Karin Knorr-Cetina und Madeleine Akrich) als Quellen der Praxistheorien an (2009, S. 369 ff.), da diese Ansätze einen neuen Forschungsstil entwickeln, „der die Logik der Praxis wichtiger nimmt als die vermeintlich schlüssige Logik soziologischer Theorievorgaben“ (Hillebrandt, 2009, S. 371). Eine Beschreibung der Theorien der genannten AutorInnen kann in der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Dies ist für das Ziel der Arbeit auch nicht relevant. Stattdessen wird sich auf AutorInnen bezogen, die bereits versuchen, das Feld der Praxistheorien zu systematisieren und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede dieses losen Theorienfeldes herauszuarbeiten. Hierbei handelt es sich um AutorInnen der zweiten Generation. Hierzu zählen u. a. Andreas Reckwitz, Thomas Alkemeyer, Karl-Heinz Hörning, Hilmar Schäfer, Karin Knorr-Cetina, Elizabeth Shove, Robert Schmidt, Joseph Rouse, Gesa Lindemann und Frank Hillebrandt u. a. Auch Theodore Schatzki ist in dieser Reihe zu nennen, wobei er in Anlehnung Wittgenstein eine eigene Position entwickelt, die aber von den anderen – um Systematisierung bemühten – AutorInnen stark rezipiert wird. Auch wenn die genannten AutorInnen zweiter Generation zum Teil wieder eine eigene Perspektive innerhalb des praxistheoretischen Diskurses einnehmen, arbeiten sie dennoch an den Grundlagen eines gemeinsamen Denkens, welches für die folgende Analyse von Marotzkis strukturaler Bildungstheorie genutzt wird. Es wird der Versuch unternommen, innerhalb des praxistheoretischen Diskurses
7Eine
Zuordnung von AutorInnen zu diesen Gebieten findet sich auch in Schäfer (2016a).
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2 Praxistheorien: Der Practice turn …
eine mittlere Betrachtungsebene aufzunehmen, die den bisherigen theoretischen Stand reflektiert und systematisiert. Dieses Vorgehen ist der Tatsache geschuldet, dass es zum einen nicht die Praxistheorie gibt und es sich vielmehr um ein Bündel von Theorien handelt (s. o.). Zum anderen ist die praxistheoretische Perspektive als noch nicht abgeschlossen zu betrachten8 und viele Bereiche sind noch in der Entstehung (Hillebrandt, 2014, S. 9). Somit kann die im folgenden dargelegte Systematisierung der praxistheoretischen Grundannahmen auch nur als unvollständig und vorläufig angesehen werden. Es ist mehr als ein perspektivisches Angebot zu verstehen denn als abgeschlossenes Theoriegebäude. Die vorliegenden Zusammenfassungen und Zusammenführungen sind also eine Heuristik, mit der in der Analyse gearbeitet wird. An manchen Stellen werden sich Unterschiede in der Auslegung der Grundbegriffe von Praxistheorien zeigen. Auch diese werden dann in angemessenem Rahmen diskutiert. An einigen Stellen dieser Arbeit wird außerdem nicht darauf verzichtet, sich auf AutorInnen aus der ersten Aufzählung (also der ersten Generation der Praxistheorien) zu beziehen, da es zuweilen notwendig sein wird, manche Argumentationsgänge für ein besseres Gesamtverständnis detaillierter zu betrachten. Aber zurück zum practice turn: Innerhalb der Praxistheorien geht es nach Reckwitz „um ein modifiziertes Verständnis dessen, was ‚Handeln‘ – und damit auch, was der ‚Akteur‘ oder das ‚Subjekt‘ – ist; gleichzeitig und vor allem aber geht es ihnen um ein modifiziertes Verständnis des Sozialen.“ (Reckwitz, 2003, S. 282) Begriffe wie Handeln, AkteurIn, Subjekt, Soziales werden in Praxistheorien in bestimmter Weise konzeptionalisiert, womit auch ein anderes Verständnis dieser Begriffe einhergeht. So erläutert bspw. Schmidt (2012, S. 41, FN 39), dass der Begriff Akteur „ein Begriff des methodischen Individualismus“ ist. Hiermit wird davon ausgegangen, dass der/die Einzelne als AkteurIn auch außerhalb eines sozialen Gefüges schon besteht. Diese Sichtweise widerspricht dem Grundgedanken einer praxistheoretischen Perspektive, sodass Schmidt den Begriff des Teilnehmers verwendet (vgl. ebd.), der stark auf soziale Praktiken fokussiert. Auch in dieser Arbeit soll in Schmidts Sinne von Teilnehmenden (einer Praktik) die Rede sein. Doch wie sind diese Unterschiede zu anderen Theorieangeboten innerhalb des practice turns inhaltlich ausgestaltet? Und wovon werden die unter ihm subsumierten Ansätze dezidiert abgegrenzt? Schmidt macht eine wichtige
8Dies
ist nach dem praxistheoretischen Theorieverständnis, welches weiter unten ausgeführt wird, auch nicht konzeptuell in der Perspektive angelegt.
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
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Grenzziehung zu den „grand theories“ (Schmidt, 2012, S. 11; Hervorh. i. O.) aus, aus deren Scheitern auch der Erfolg der Praxistheorien resultiert. Zu diesen großen Theorien zählt er allgemein Theorien des Funktionalismus und der systematischen Gesellschaftstheorie und die in ihnen vertretenen „Vorstellungen über ›die Gesellschaft‹ als eine geschlossene, nationalstaatlich verfasste Einheit“ (Schmidt, 2012, S. 11). Gesellschaft ist in diesen Ansätzen demnach ein statisches, in sich abgeschlossenes Gebilde. Praxistheoretische Ansätze grenzen sich hier dezidiert ab, indem sie nicht die Gesellschaft als solche untersuchen, sondern „Prozesse der Vergesellschaftung“ (Schmidt, 2012, S. 11). Entweder wird nach Schmidt auf einen Begriff von Gesellschaft verzichtet oder aber die Offenheit und Veränderlichkeit der selbigen betont. In Praxistheorien wird nicht die gesamte Gesellschaft auf einer Makroebene betrachtet oder intentionale Akte, Werte oder Motive des Individuums auf der Mikroebene. Alkemeyer, Budde und Freist (2013a, S. 16) schreiben, dass die Unterscheidung in Mikro- und Makroebene vom Konzept der sozialen Praktiken unterlaufen wird. Konkrete praktische Vollzüge und soziale Strukturen sind „koextensiv“ (Alkemeyer et al., 2013a, S. 16) und somit nicht unabhängig voneinander zu verstehen. Schatzki (2016b) spricht von einer flachen Ontologie, auf der sich Praktiken entfalten. Er lehnt die Begriffe Mikro- oder Makroebene ab und spricht stattdessen von „Bündeln von Praktiken und materiellen Arrangements“ (2016b, S. 33), die sich mehr oder weniger ausdehnen können. Einzelne Bündel können auch zusammenhängen und als Gesamtheit ein Plenum bilden.9 Schatzki schreibt hierzu: „Soziale Phänomene sind durch hochgradige ontologische Gleichheit gekennzeichnet, da jedes soziale Phänomen aus Ausschnitten oder Aspekten des Plenums von Praxis-Arrangement-Bündeln besteht.“ (Schatzki, 2016b, S. 33)10 Hierbei ist auch zu erwähnen, dass soziale Praktiken nicht nur untersucht werden, sondern auch die theoretischen Kategorien darstellen, auf deren Basis empirisch geforscht wird (Schäfer, 2013, S. 18). Dies verweist auf das oben erwähnte Kriterium eines turns. Praktiken sind in diesem Fall nicht nur Erkenntnisobjekte, sondern ebenso – mit allen damit verbundenen Grundannahmen – auf theoretischer Ebene die operativen Begriffe dieser Perspektive.
9Reckwitz (2017, S. 41) beschreibt mit dem Begriff Praxismodus eine einzelnen Praktiken übergeordnete Logik, welche diese strukturiert und gleichzeitig von ihnen erzeugt wird. 10Dies ist ein Punkt, der von verschiedenen AutorInnen durchaus unterschiedlich verhandelt wird (vgl. Hirschauer, 2016; Schmidt, 2012), aber es scheint Einigkeit über die Skalierbarkeit von Praktiken zu herrschen.
26
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Vor allem Schatzki bringt die grundlegende Abgrenzung zu einem essentialistischen Gesellschaftsbegriff auf den Punkt, wenn er schreibt: „By virtue of the understandings and intelligibilities they carry, practices are where the realms of sociality and individual mentality/activity are at once organized and linked. Both social order and individuality, in other words, result from practices.“ (Schatzki, 1996, S. 13) Soziale Ordnung und das Individuum sind also beide das Ergebnis von sozialer Praxis11 und werden auf eben dieser Ebene konstituiert. Rouse betont ebenfalls, dass soziale Praktiken den Hintergrund für das Zustandekommen von sozialer Struktur bilden: „‘Practices’ thus constitute the background that replaces what earlier wholist theorists would have described as ‘culture’ or ‘social structure’. The relevant social structures and cultural backgrounds are understood dynamically, however, through their continuing reproduction in practice and their transmission to and uptake by new practitioners.“ (Rouse, 2007, S. 645)
Laut Schäfer (2013, S. 23) fokussiert Rouse mit seinen Ausführungen u. a. darauf, dass Praktiken in einer Kultur immer schon zirkulieren und unabhängig vom Individuum zu denken sind. Sie existieren immer schon vor und auch nach der einzelnen Person, die in sie involviert ist. Soziale Praktiken sind also weder durch soziale Strukturen (z. B. Gesellschaft oder Kultur), noch durch einzelne Individuen, die sie ausführen, determiniert, sondern im Gegenteil: Gesellschaft, Kultur und Individuum werden erst auf Ebene der sozialen Praktiken konstituiert (Subjekte und Praktiken konstituieren sich zusätzlich gegenseitig; detaillierte Ausführungen hierzu Abschnitt 2.2.1). Als anschauliches Beispiel für diese Denkweise kann das Konzept des doing gender dienen, indem soziales Geschlecht (als Teil des Subjekts/Individuums zu verstehen) erst durch performative Akte hervorgebracht wird und keine substanzielle
11Je
nach AutorIn wird der Begriff Praktik oder auch Praxis verwendet. Manche PraxistheoretikerInnen nutzen die Begriffe synonym, andere differenzieren sie explizit. Die Begriffe werden an späterer Stelle für die vorliegende Arbeit eindeutig geklärt (Abschnitt 2.2.1). Für den Augenblick ist dies für die grundlegende Einführung in die Denkweise des practice turns noch nicht notwendig. Der Plural ‚practices‘ wird in Ermangelung einer eindeutigen Differenzierung bei Schatzi (practice kann mit Praktik oder Praxis übersetzt werden) mit Praxis übersetzt. Die Ausführung in Schatzki (2016b) deuten darauf hin. Der Singular ‚practice‘ kann bei Schatzki eindeutig mit Praktik übersetzt werden (siehe die Ausführungen in Abschnitt 2.2.1).
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
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Eigenschaft eines Subjekts ist (vgl. grundlegend West & Zimmerman, 1987).12 Hierbei handelt es sich um eine wesentliche Grundannahme, die später in Abschnitt 2.2.3 und 2.3.2 vertieft wird und für die Analyse der Bildungstheorien Relevanz besitzt. Eine weitere grundlegende Abgrenzung von Praxistheorien zu anderen Theorieangeboten bezieht sich auf den Begriff des Handelns. Reckwitz (2003, 2004) sieht vor allem eine Abgrenzung zu zweckorientierten (subsumiert unter dem Begriff homo oeconomicus) und normorientierten Handlungstheorien (subsumiert unter dem Begriff homo sociologicus) und damit eine Neupositionierung innerhalb der Kulturtheorien: „Abstrakt kann man formulieren, dass der Wechsel vom homo oeconomicus zum homo sociologicus und der Bruch zwischen dem homo sociologicus und dem kulturtheoretischen Modell das Muster der Handlungserklärung modifizieren, indem das, was als handlungskonstitutives (mentales) Sinnelement zählt, jeweils umdefiniert wird: von Zwecken und Interessen über Normen und Werte zu Wissensordnungen und kulturellen Codes. Die Verschiebung innerhalb der Kulturtheorien von den mentalistischen zu den praxistheoretischen Beschreibungsformen hingegen betrifft weniger die Definition der handlungskonstitutiven Sinnelemente als vielmehr die Frage nach der Relation zwischen dem Mentalen und dem körperlichen Verhalten und auf diese Weise die nach dem ‚Ort‘ des Sozialen.“ (Reckwitz, 2004, S. 306)
Innerhalb der Handlungstheorien kam es also zu mehreren Umwälzungen. Werden in ‚klassischen‘ Handlungstheorien eher rationale Interessen der individuellen Akteure oder feste gesellschaftliche Normen und Werte konstitutiv für eine Handlung angesehen, so sehen nach Hörning „Praxistheoretiker die einzelne Handlung als Teil von kollektiven Handlungsgefügen, von gemeinsamen, sozialen Praktiken.“ (Hörning, 2001, S. 162) Es sind also nicht nur rational entscheidende Individuen, welche in Situationen intentional handeln, sondern das relationale Gesamtgefüge von Individuum, Situation, Kontext, Artefakten und anderen beteiligten Teilnehmenden (und ihrer Körper), das in den
12Wohl
am prominentesten operiert Judith Butler mit dieser Denkweise und arbeitet sie weiter aus. Reckwitz (2012c, S. 81) und auch Balzer und Ludewig (2012) verstehen Butler in einem umfassenderen Sinne und merken an, dass das Konzept des doing gender nur ein Beispiel für Subjektivierungsprozesse und eine neue Perspektive auf das Subjekt ist. Doing gender kann hiernach also unter einem doing subjects subsumiert werden.
28
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Blick gerät.13 Ebenso muss das Wissen der jeweiligen Akteure miteinbezogen werden.14 Auch Schmidt (2012, S. 12) betont vor allem die Abgrenzung der Praxistheorien zu Rational-Choice-Ansätzen. Für Reckwitz ist die Position der Praxistheorien innerhalb der Kulturtheorien besonders relevant. Er schreibt: „Die Praxistheorien sind Kulturtheorien, aber nicht alle Kulturtheorien sind Praxistheorien.“ (Reckwitz, 2003, S. 288) Er grenzt Praxistheorien damit innerhalb der Kulturtheorien von mentalistischen und textualistischen Perspektiven (ebd., S. 288 f.) ab. Damit ist der „‚Ort‘ des Sozialen […] nicht der (kollektive) ‚Geist‘ und auch nicht ein Konglomerat von Texten und Symbolen […], sondern es sind die ‚sozialen Praktiken‘“ (ebd., S. 289). Auch Hörning betont diese Abgrenzung: „Die Welt besteht nicht nur aus symbolischen Formen, Bedeutungscodes, Texten und Diskursen, die zwar aktiv und vielfältig entziffert und erzählt werden können, in denen jedoch sehr häufig die Wirksamkeit der Objektwelt im Kontext ihrer Einsatzpraxis vernachlässigt wird.“ (Hörning, 2001, S. 166) Als sozialphilosophische Grundlage wird Wittgensteins Begriff des Regelfolgens in praxistheoretischen Ansätzen angeführt und dient der Abgrenzung zum Norm- und Regelbegriff des homo sociologicus, in dem Regeln von außen das Handeln des Individuums steuern (Schäfer, 2013, S. 27). Die Geltung von Regeln steckt nicht in ihnen, sondern in ihrer Ausführung, in den sozialen Praktiken. Für Wittgenstein (und mit ihm viele PraxistheoretikerInnen) „ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis“ (Wittgenstein, 2013, S. 134), es handelt sich um Gepflogenheiten (ebd., S. 133). Diese Perspektive lässt keine Aufspaltung in Regeln (Struktur) und ihre Befolgung (Praktik) zu. Beides fällt in eins, in die Praxis (Puhl, 2002, S. 85 f.). Rouse (2007, S. 642) verdeutlicht dies, indem er Wittgensteins zentralen Punkt darin sieht, dass Regeln nicht selbst-interpretierend sind. Eine Regel kann man immer auf verschiedene Arten befolgen. Auch bei diesem Punkt handelt es sich in Teilen um eine praxistheoretische Grundannahme, die an späterer Stelle wieder aufgegriffen wird. Es sei aber angemerkt, dass nach Reckwitz praxistheoretische Ansätze Phänomene wie Intentionalität, Handeln nach normativen Kriterien oder den
13Nicht
jedes Tun wird aber als Praktik gesehen (vgl. Hörning 2001, S. 160). Hierzu bedarf es zusätzlich einer Regelmäßigkeit/Reproduktivität der Ausführung. Hierzu folgen in Abshnitt 2.2.1 detaillierte Ausführungen. Gerade die Unterscheidung von Praktik und Praxis kann hierfür erhellend sein. 14Hierzu in Abschnitt 2.2.8 mehr.
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
29
insatz symbolischer Schemata nicht bestreiten, in ihnen wird jedoch der AnaE lysefokus verschoben: „Intentionalität, Normativität und Schemata [werden] in ihrem Status jedoch grundsätzlich modifiziert, wenn man davon ausgeht, dass Handeln im Rahmen von Praktiken zuallererst als wissensbasierte Tätigkeit begriffen werden kann, als Aktivität, in der ein praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines ‚know how‘ und eines praktischen Verstehens zum Einsatz kommt.“ (Reckwitz, 2003, S. 291 f.)
Rouse (2007, S. 644) greift diesen Punkt auch auf, wenn er schreibt, dass Normativität und Intentionalität in praxistheoretischen Untersuchungen nicht vermieden werden, sondern versucht wird, diese Aspekte menschlicher Tätigkeit auf Ebene der Praktiken zu verorten (was dann der von Reckwitz genannten Modifizierung gleichkommt) und diese durch beobachtbare performances sichtbar zu machen. Es geht also nicht um ein Verhalten in einem behavioristischen Sinn. Vielmehr wird Performativität selbst immer schon als bedeutsam angesehen (Rouse, 2007, S. 644). Hörning stellt diesen Punkt deutlich heraus, wenn er schreibt: „Viele unserer Motive sind danach Ergebnisse unserer Handlungsweisen und nicht umgekehrt. Wir sprechen über Motive, weil wir handeln, wir handeln nicht, weil wir Motive haben“ (Hörning, 2001, S. 164). Er vertritt hierbei auch explizit eine pragmatistische Perspektive, die er eng mit Praxistheorien verbunden sieht (Hörning, 2001, 2004a, 2004b). Wissen und Handeln sind hier nicht voneinander zu trennen, sondern fallen in der Praxis in eins. Auch hier zeigt sich der practice turn: Zur Erklärung der Konstitution des Sozialen (Erkenntnisobjekt) werden nicht mehr Normen, Werte, Intentionalität etc. (altes Erkenntnismittel) herangezogen, sondern soziale Praktiken und Performanz als in sich schon bedeutsam in ihren Relationen (neues Erkenntnismittel). Ein Hauptcharakteristikum von Praxistheorien, das sie ebenfalls stark von anderen theoretischen Strömungen abgrenzt, ist die Rolle der Materialität der Körper und der Dinge (Artefakte) in Praktiken. Reckwitz hierzu: „Die Praxistheorie will eine scheinbare Trivialität rehabilitieren, die aber angesichts der Dominanz anderer Sozial- und Kulturtheorien wieder zur überraschenden und heuristisch fruchtbaren Einsicht werden kann: dass Praktiken nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel ein Umgang von Menschen mit ‚Dingen‘, ‚Objekten‘ bedeuten, was beides jedoch weder im Sinne des Behaviorismus noch eines Technizismus zu verstehen ist.“ (Reckwitz, 2003, S. 290)
30
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Dieser Aspekt verweist ebenfalls auf den Handlungsbegriff und macht Abgrenzungen deutlich. Joas bemerkt in Bezug auf viele Handlungstheorien, dass „die Unterstellung der Beherrschbarkeit des Körpers im Sinne seiner Einsetzbarkeit für die Zwecke des Handelnden tatsächlich eine verborgene Annahme [ist], denn explizit tritt der Körper in den meisten Handlungstheorien nicht auf.“ (Joas, 2012, S. 245; Hervorh. i. O.) Viele Handlungstheorien sind nach Reckwitz (2003, S. 290) auf mentale Vorgänge, Diskurse oder Texte ausgerichtet. In Praxistheorien hingegen nimmt der Körper eine zentrale Stellung ein, da in ihm auch praktisches Wissen und Können inkorporiert sind (vgl. auch Rouse, 2007, S. 652) und eine Praktik „aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers“ (Reckwitz, 2003, S. 290) besteht. Außerdem wurde weiter oben gezeigt, dass es in Praxistheorien ebenso um Performativität geht und diese in sich schon bedeutsam ist. Hier nimmt der Körper eine zentrale Rolle ein. Aber nicht nur der menschliche Körper als Ausführender einer Handlung oder einer Praktik, sondern auch Dinge und Artefakte spielen aus praxistheoretischer Perspektive beim Zustandekommen einer Handlung oder Praktik eine wesentliche Rolle. Praxistheoretische Ansätze grenzen sich vor allem von technikdeterministischen und sozialdeterministischen Ansätzen ab (und selbstverständlich von Sozialtheorien, welche die Bedeutung von Artefakten komplett ausklammern). Technikdeterministische Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen Wissenschaft und Technik als von der Gesellschaft getrennte Sphären betrachtet werden und diese von außen verändern bzw. bedrohen können. Technik wird hier „zu einer gesellschaftsbestimmenden Macht“ (Belliger & Krieger, 2006, S. 20). Denkt man auf der Makroebene an gesamtgesellschaftliche Produktionsbedingungen oder große technische Neuerungen (z. B. der Buchdruck oder das Internet), so findet man aber auch auf Meso- und Mikroebene diese Sichtweise zuweilen vertreten, wenn es z. B. um die Einführung neuer Technologien in Unternehmen oder Schulen geht. Charakteristisch ist, dass immer von der Technologie ausgehend argumentiert wird und diese, sofern sie richtig gestaltet ist, in einem kausalen Sinne zu Veränderungen in den relevanten Kontexten determiniert. Schlagwörter sind hier der sogenannte Sachzwang. Damit ist „eine starke Determination“ (Rammert, 2016, S. 21) der Technik auf soziale Prozesse bzw. auf Handeln gemeint. Auch der „cultural lag“ (Rammert, 2016, S. 20)15, also
15Rammert
bezieht sich hier auf Ogburn, W. F. (1936): Technological Trands and National Policy. Washington. Ogburn hat diesen Begriff und den Technikdeterminismus maßgeblich mitgeprägt.
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
31
das Hinterherlaufen gesellschaftlicher Prozesse hinter den technischen Entwicklungen, ist eine Grundannahme technikdeterministischer Ansätze. Sozialdeterministische (manchmal auch kulturalistische) Ansätze nehmen eine gegenteilige Perspektive ein: „Menschen und Gesellschaften entscheiden, ob eine Technik realisiert und wie sie eingesetzt wird“ (Belliger & Krieger, 2006, S. 21). Hier wird die Wirkrichtung umgekehrt: Zwar stehen sich Gesellschaft und Wissenschaft/Technik wie beim Technikdeterminismus gegenüber, aber in diesem Fall nutzt die Gesellschaft bzw. nutzen die Menschen Technik als bloße Werkzeuge, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Aus dieser Perspektive ist Technik das Produkt sozialer Tätigkeiten (Belliger & Krieger, 2006, S. 21). Daher wird stärker nach „den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Größen, die für die Genese und die Gestalt neuer Techniken verantwortlich sind“ (Rammert, 2016, S. 18) gefragt. Derartige dichotome Sichtweisen sind für techniksoziologische Ansätze der 1970er (Technikdeterminismus) und 1990er (Sozialdeterminismus) charakteristisch (Grunwald, 2007, S. 63). Der Praxistheoretiker Hörning sieht die Rolle der Materialität in sozialen Praktiken jenseits technik- oder sozialdeterministischer Deutungen: „Die Welt, die wir geformt haben, formt auch uns. Dinge können nicht in einseitiger Form lediglich als Objekte der Deutung, der Interpretation und der Konstruktion erfaßt [sic!] werden. Materiell-technische Objekte und Verfahren geben ihre funktionale wie kulturelle Bedeutung nicht eindeutig vor, sondern gewinnen diese erst in vielfältigen Prozessen der Aneignung und des Gebrauchs. Die Welt besteht nicht nur aus symbolischen Formen, Bedeutungscodes, Texten und Diskursen, die zwar aktiv und vielfältig entziffert und erzählt werden können, in denen jedoch sehr häufig die Wirksamkeit der Objektwelt im Kontext ihrer Einsatzpraxis vernachlässigt wird.“ (Hörning, 2001, S. 166)
An diesem Zitat wird zweierlei deutlich: Zum einen werden aus praxistheoretischer Perspektive Artefakte weder als determinierende Kraft menschlicher Handlungen gesehen, noch als bloße Werkzeuge menschlichen Willens, sondern sind nur in enger Verwobenheit und gegenseitiger Ermöglichung zu verstehen. Zum anderen zeigt Hörning hier auf – wie weiter oben kurz angerissen – dass die Welt nicht nur aus symbolischen Codes besteht, die sich das Subjekt aneignet, um der Welt Sinn zu verleihen, sondern dass Sinn, Intentionalität, Bedeutung in der Auseinandersetzung erst entsteht. Auch Reckwitz betont diesen dritten Weg, den die Praxistheorie in Abgrenzung zu Technik-und Sozialdeterminismus geht: „Die Artefakte erscheinen weder ausschließlich als Objekte der Betrachtung, noch als Kräfte eines physischen Zwangs, sondern als Gegenstände, deren sinnhafter
32
2 Praxistheorien: Der Practice turn … Gebrauch, deren praktische Verwendung Bestandteil einer sozialen Praktik oder die soziale Praktik selbst darstellt. In diesem sinnhaften Gebrauch behandeln die Akteure die Gegenstände mit einem entsprechenden Verstehen und einem know how, das nicht selbst durch die Artefakte determiniert ist. Andererseits und gleichzeitig erlaubt die Faktizität eines Artefakts nicht beliebigen Gebrauch und beliebiges Verstehen.“ (Reckwitz, 2003, S. 291)
Auf ontologischer Ebene wird beim Technik- und beim Sozialdeterminismus eine Trennung von Subjekt und Objekt deutlich. Diese Ansätze sehen Subjekt/Gesellschaft als ontologisch abgetrennt von Wissenschaft und Technik. Praxistheorien versuchen diese Dichotomie zu umgehen und betrachten das Verhältnis relational. Hier ist vor allem die relationale Ontologie zu nennen. Orlikowski zu dieser Denkrichtung: „Scholars have been working within a relational ontology, which rejects the notion that the world is composed of individuals and objects with separately attributable properties that ‘exist in and of themselves’ […] Such an ontology privileges neither humans nor technologies […] nor does it treat them as separate and distinct realities.“ (Orlikowski, 2010, S. 134)
Die relationale Sichtweise führt ebenso dazu, dass neben der Auflösung der Dichotomie Subjekt/Gesellschaft – Wissenschaft/Technik, auch die MikroMakrodifferenzierung unterlaufen wird. An dieser Stelle muss kurz auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) – hier allen voran Bruno Latour – eingegangen werden. Latour, der als prominentester Vertreter der ANT gilt, vertritt ein Symmetrie-Postulat (Latour, 2013), das besagt, dass menschliche und nicht-menschliche Akteure gleichberechtigt im Zustandekommen einer Handlung sind. Diese Sichtweise wird in der vorliegenden Arbeit nicht vertreten, auch wenn die ANT von einigen AutorInnen zu den Praxistheorien gezählt wird.16 Stattdessen wird – wie bereits ausgeführt – das Verhältnis
16Die
Frage, ob die ANT zur Familie der Praxistheorien zugezählt wird, soll hier nicht im Detail aufgegriffen werden. Zwar zählt Reckwitz (2003) die ANT zu den Praxistheorien und auch Schmidt (2012, S. 11, 25) zählt sie hinzu (bezeichnet sie aber an späterer Stelle (S. 69) als Grenzfall (ebenso H. Schäfer (2013, S. 253)) der Praxistheorien und betont Abgrenzungen anderer praxistheoretischer Zugänge. Jedoch gibt es auch AutorInnen, welche die ANT von den Praxistheorien unterscheiden (Hörning, 2001, S. 211 ff.; Schatzki, 2001a, S. 11; 2016a, S. 74 f.; 2016b, S. 35). Zu einer allgemeineren Kritik an der ANT siehe z. B. Häußling (2010, S. 637), Peuker (2010, S. 331 f.), Nohl (2011, S. 40; 2014, S. 29), Reckwitz (2012c, S. 119).
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
33
von Subjekt und Technik nicht symmetrisch, aber dennoch in der konstitutiven relationalen Verwicklung betrachtet.17 Hier sei nochmals auf Hörning verwiesen, der keine symmetrische Anthropologie im Sinne der ANT vertritt, aber auch nicht technikdeterministisch oder sozialdeterministisch argumentiert. Ihm geht es um die Aneignung und den alltäglichen Gebrauch von Technik, um irritierende und unerwartete Konsequenzen in der Nutzung (vgl. Hörning 2001, S. 167). Dinge haben zwar eine intendierte Nutzungsweise durch die GestalterInnen, aber durch Aneignung und häufige Nutzung können unerwartete Verwendungsweisen bzw. Probleme oder gar neue Praktiken entstehen. Reckwitz (2003) spricht hier von einem sinnhaften Gebrauch: „In diesem sinnhaften Gebrauch behandeln die Akteure die Gegenstände mit einem entsprechenden Verstehen und einem know how, das nicht selbst durch die Artefakte determiniert ist. Andererseits und gleichzeitig erlaubt die Faktizität eines Artefaktes nicht beliebigen Gebrauch und beliebiges Verstehen.“ (S. 291).
Die Ablehnung einer strikten Trennung von Subjekt und Objekt (Technik und Sozialem) verweist auf die Rolle der Materialität von Körpern und Dingen in sozialen Praktiken. Klassische Ansätze sind einer cartesianischen Denkweise des Geist-Körper-Dualismus verhaftet und trennen das planende Subjekt (Geist) von dem in der Welt ausführenden Objekt (Körper). Ein anschauliches Beispiel aus der empirischen Forschung für das praxistheoretische Unterlaufen derartiger Dichotomien bietet Schmidts Untersuchung zu den Praktiken des Programmierens (Schmidt, 2012, S. 156–189). Dort zeigt er auf, dass Subjekte und Objekte nicht in getrennten Sphären verstanden werden können, sondern nur in praktischen Vollzügen in ihrer Verwobenheit sichtbar werden. Zusammenfassend lässt sich mit Reckwitz diese Abgrenzung der Praxistheorien von technikoder sozialdeterministischen Ansätzen wie folgt auf den Punkt bringen: „Gegen eine Reduktion von Dingen und Artefakten auf bloße ‚erleichternde‘ Hilfsmittel und gegen eine Totalisierung von Technik als gesellschaftsdeterminierender, akultureller Kraft wird in der praxeologischen Technikforschung das ‚Reich der Dinge‘, die vom Konsum bis zur Organisation in den Alltag involviert sind, unter
17Die
Bedeutung von Artefakten innerhalb der Praxistheorien wird in Abschnitt 2.2.6 genauer besprochen. Auch die alternative Sichtweise zum Symmetrie-Postulat wird dort diskutiert.
34
2 Praxistheorien: Der Practice turn … dem Aspekt ihres mit ‚know how‘ ausgestatteten und veränderbaren Gebrauchs betrachtet.“ (Reckwitz, 2003, S. 285)
Schmidt mahnt aber auch zur Vorsicht. Die Betonung von Körperlichkeit und Materialität gegenüber mentalen Vorgängen hat Konsequenzen: „Diese konzeptionellen praxeologischen Revisionsbemühungen werden jedoch häufig nur verkürzt rezipiert und als Aufforderung interpretiert, nicht länger Akteuren zugeschriebene Motive, Sinndeutungen und Wissensformen, sondern körperliche Routinen, materielle Träger und technisch-mediale Infrastrukturen in den Mittelpunkt der analytischen Aufmerksamkeit zu rücken. Die Kehrseite dieser produktiven analytischen Sensibilität fürs Körperliche und Materielle ist eine für viele empirische praxissoziologische Studien typische Vernachlässigung der mentalen Mitproduktion und Mitorganisation von praktischen Vollzügen.“ (Schmidt, 2018, S. 23 f.)
In den Grenzziehungen zu anderen und der Betonung der eigenen Perspektive, dürfen die eigenen blinden Flecken nicht übersehen werden. Die Untersuchung „scholastischer, reflexiver, analytischer und theoretischer Wissenspraktiken“ (ebd.) bleibt ein Forschungsdesiderat der Praxistheorien. Es klang bereits ein weiteres Charakteristikum praxistheoretischer Denkweisen an: der Wissensbegriff. Dieser ist nicht isoliert von den anderen Grundannahmen und Abgrenzungen zu betrachten, sondern ergibt sich als Konsequenz aus ihnen. Wenn nicht nur von intentional handelnden Wesen ausgegangen wird, sondern vor allem von performativen Individuen, die sich erst in Praktiken (also in Vollzügen) konstituieren, dann muss man – um auch nicht-intentionale Aspekte einzubeziehen – neben explizitem Wissen, auch implizite Anteile betrachten. Daher spielt in Praxistheorien vor allem das implizite Wissen in Bezug auf performative Vollzüge eine wesentliche Rolle. Aus dem Zusammenhang mit den anderen Grenzziehungen ergibt sich, dass dieser Punkt ebenfalls an dieser Stelle kurz genannt wird. Viele PraxistheoretikerInnen (siehe Abschnitt 2.2.8) orientieren sich an Polanyis Konzept des impliziten Wissens18 (Polanyi, 1985), das besagt, „daß [sic!] wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (Polanyi, 1985, S. 14; Hervorh. i. O.) und damit meint, dass Wissen, welches hinter Handlungen steckt, nicht immer explizierbar ist. Polanyi nennt als Beispiele das Erkennen von Gesichtern oder das Fahren eines Kraftfahrzeugs (Polanyi, 1985, S. 14 und
18Auf
die Probleme dieses Begriffkonzeptes referiert H. Schäfer (2013, S. 21).
2.1 Der practice turn: Grenzziehungen und erste Konturen …
35
27). Zum Teil wird dieses Konzept in Praxistheorien aber begrifflich neu besetzt und abgewandelt. Auch dieser Punkt wird an späterer Stelle (Abschnitt 2.2.8) detaillierter betrachtet. Schmidt (2012, S. 13 f.) schreibt, dass der practice turn gleichzeitig auch einen empirical und einen body and material turn impliziert. Ersterer, weil Theorie hier als „Werkzeug der empirischen Forschung verstanden“ (Schmidt, 2012, S. 13) wird. Praxistheorie betreibt „Theorieentwicklung eben nicht mit theoriearchitektonischer Zielsetzung, sondern aus der empirischen Forschung heraus“ (Schmidt, 2012, S. 28). Letzterer, weil Menschen in ihren Tätigkeiten nicht nur auf mentale Vorgänge reduziert werden, sondern auch als körperlich agierende Wesen verstanden werden, die in Praktiken gekonnt mit Artefakten umgehen (Schmidt, 2012, S. 13). Außerdem merkt er an, dass innerhalb des practice turn eine starke Tendenz zu ethnographischen Methoden besteht, die nicht nur Texte oder sprachliches Geschehen in den Blick nehmen, sondern auch „öffentliche, stumme, körperliche Vollzüge, situierte bildhafte Performanzen“ (Schmidt, 2012, S. 14) mit einbeziehen. Insgesamt grenzt sich der practice turn also auf mehreren Ebenen von verschiedenen Theoriezugängen ab. Erstens steht die analytische Ebene der Praktiken im Fokus. Hier konstituieren sich sowohl Individuum, als auch Gesellschaft und verändern sich relational mit den Praktiken. Zweitens vertreten praxistheoretische Ansätze ein modifiziertes Verständnis von Handeln. Das Subjekt handelt – oder besser: das Subjekt vollzieht Praxis – weder rein intentional noch nur auf Basis von gesellschaftlichen Werten, sondern situational, nicht immer bewusst und unter konstitutivem Einbezug von Artefakten. Womit auch schon der dritte Punkt – die Betonung von Körperlichkeit und Materialität – angesprochen ist. Das Ausführen von Praktiken wird auf der Ebene der Körper betrachtet. Der seit der Neuzeit in vielen Ansätzen und Perspektiven bestehende cartesianische Schnitt zwischen Geist und Körper wird überwunden (an dieser Stelle wird die Relevanz der philosophischen Grundlagen der Praxistheorien – namentlich Wittgenstein und Heidegger – deutlich, die sich in ihren Werken schon früher gegen den cartesianischen Schnitt ausgesprochen haben). Außerdem spielen Artefakte eine konstitutive Rolle bei menschlichen Tätigkeiten und werden somit beim Zustandekommen einer Handlung und ihren Konsequenzen berücksichtigt. Viertens ergibt sich als Konsequenz aus den genannten Abgrenzungen die Betonung des impliziten Wissens in der Ausführung von Praktiken. Diese vier Punkte machen im Wesentlichen den practice turn aus. Allerdings gibt es auch Positionen, die bezweifeln, dass es sich hierbei tatsächlich um einen turn im Sinne Bachmann-Medicks handelt. Bongaerts (2007)
36
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
untersucht die Abgrenzung der praxistheoretischen Perspektive von anderen Theorieangeboten und stellt fest, dass die Abgrenzungen nicht hinreichend sind um einen eigenständigen turn ausmachen zu können. Er wirft der Familie der Praxistheorien vor, die Theorieangebote, von denen sie sich abgrenzt, verkürzt zu behandeln (Bongaerts, 2007, S. 251 ff.). Aus seiner Kritik heraus plädiert Bongaerts dann für einen nicht-behavioristischen Verhaltens-Begriff. SchulzSchaeffer (2010) nimmt Bongaerts Kritik auf und versucht durch ein Konzept der Situationsdefinition die Abgrenzung zu anderen Handlungstheorien deutlicher herauszustellen. Auch sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass Gerlek (2017) schreibt, dass innerhalb der Praxistheorien eine kritische Bezugnahme zu eigenen Bewegungen innerhalb des turns zu finden ist bzw. die Gesamtbewegung nicht als turn bewertet wird. Die Diskussion, ob es sich beim practice turn tatsächlich um turn handelt oder nicht, soll hier nur kurz aufgegriffen werden. Deutlich wird hoffentlich, dass Praxistheorien zwar Handlung als Begriff aufnehmen, dieser aber nicht nur in Abgrenzung zu rationalistischen oder individualistischen Konzepten zu sehen ist, sondern mit der Betonung von Körperlichkeit, Materialität und implizitem Wissen die Perspektive auf menschliches Tun bzw. auf die Konstitution des Sozialen verändert. Mit Alkemeyer wird deutlich, „dass Praktiken und Handeln weder miteinander identifiziert noch gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr wird Handeln als Bestandteil von Praktiken begriffen, d.h. als eine von praktischen Kontexten gerahmte, aber eigenständige Tätigkeitsform“ (Alkemeyer, 2013, S. 43).19 Im Folgenden werden die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen der Praxistheorie detailliert dargelegt, die in der Diskussion von Marotzkis Bildungstheorie als Analyseperspektive dienen. Da es innerhalb des praxistheoretischen Forschungsfeldes neben den vielen geteilten Annahmen auch zu Variationen kommt, beschränkt sich die vorliegende Zusammenstellung auf Grundannahmen, die in der Sichtung der Literatur als wesentlich erscheinen und die bei den hier herangezogenen AutorInnen in der Breite auch aufgenommen werden. Es wird also um eine mittlere Betrachtungsebene gehen. Dies impliziert, dass die folgende Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat, sondern vielmehr den Anspruch ein für die vorliegende Arbeit zielführende und konsistente Perspektive zu entfalten. Zusätzlich werden die Begriffe Theorie,
19Hiermit
bezieht sich Alkemeyer explizit auf Reckwitz (2003), Hörning (2001), Schmidt (2012) und Schatzki (2002).
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
37
Subjekt und Reflexion dargelegt und diskutiert, da auch diese für eine Analyse der bildungstheoretischen Texte elementar werden können und in pädagogischen Kontexten meist inhaltlich anders gefasst werden.
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien War der Blick zuvor nach ‚außen‘ gerichtet und somit auf Abgrenzungen der Familie der Praxistheorien zu anderen Theoriefeldern, so richtet er sich jetzt nach ‚innen‘. Es wurde dargelegt, wie sich dieses Theoriefeld vor allem in Abgrenzung zu Sozialtheorien des homo sociologicus und des homo oeconomicus zu textualistischen und mentalistischen Theorien und zu technikund sozialdeterministischen Sichtweisen konstituiert. Damit sind die Grundannahmen und Besonderheiten der praxistheoretischen Perspektive aber noch nicht erschöpft. Im Folgenden wird eine andere Blickrichtung eingenommen. Auch wenn Praxistheorien nach außen als sich abgrenzende Einheit erscheinen mögen, so kann man aber nicht von einer festen innertheoretischen Einheit sprechen. Die Theoriebildung findet hier nicht einheitlich statt. Die AutorInnen selbst sprechen von „ein[em] Bündel von Ansätzen, die eine soziale Praxisperspektive einnehmen und diese theoretisch auszuarbeiten suchen“ (Hörning, 2004a, S. 142; vgl. auch Schmidt, 2012, S. 26) oder auch von „einem Bündel von Theorien mit ‚Familienähnlichkeit‘“ (Reckwitz, 2003, S. 283). Schatzki merkt hierzu an: „Given this multiplicity of impulses, issues, and oppositions, it is not surprising that there is no unified practice approach.“ (Schatzki, 2001a, S. 2). Bittner et al. (2018, S. 11; Hervorh. i. O.) machen vier unterschiedliche Konturen für – im speziellen – eine praxistheoretische Erziehungswissenschaft aus: „die praxistheoretische Wissenssoziologie, welche sich zentral auf Formen von Wissen und Erfahrung bezieht; die Praxeologie mit Verweisen auf Habitus und Feld; die Theorie sozialer Praktiken, welche Praktiken-Arrangement-Bündel in den Blick nimmt; sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie, die sich den Assoziationen heterogener Entitäten in Netzwerken annimmt.“
Auch Ricken stellt in einer Fußnote die Frage nach dem Titel der Denkrichtung: „Die begriffliche Kennzeichnung dieses Theorietypus ist nicht einheitlich und wechselt häufig zwischen ‚Praxistheorie‘, ‚Praktikentheorie‘ und ‚Praxeologie‘ mitsamt ihren möglichen Komposita.“ (Ricken, 2019, S. 29; FN 1) Den Begriff
38
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
der ‚Praxeologie‘ sieht er ebenfalls aus den Arbeiten Bourdieus begründet (ebd.), weist aber darauf hin, dass sich ‚Praxistheorie‘ im sozialwissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt hat.20 Worum es in diesem Kapitel geht, ist im weitesten Sinne mit Theorien sozialer Praktiken oder Praxistheorien zu betiteln. Die hier herangezogenen AutorInnen stehen zwar in Teilen durchaus in der Tradition Bourdieus, entwickeln die Theorien aber auch weiter und betiteln diese selbst als ‚Praxistheorien‘ oder ‚Theorien sozialer Praktiken‘. Da in diesem Kapitel explizit zwischen Praktiken und Praxis unterschieden wird und diese Unterscheidung auch im argumentativen Verlauf von Bedeutung ist, wird im Folgenden – wie bisher in der vorliegenden Arbeit auch – von den ‚Praxistheorien‘ gesprochen. Es wird sich zeigen, dass Praktiken Teil der umfassenderen Praxis sind und letzterer Begriff aus Sicht eines praxistheoretischen Bildungsbegriffes hohe Relevanz hat. Der hier gesetzte Rahmen geht über „Praktiken-Arrangement-Bündel“ (Bittner et al., 2018, S. 11) hinaus. Auch Schäfer betont, dass es schwierig ist, eine einheitliche Definition von Praxistheorie zu formulieren, sieht aber durchaus auch geteilte Grundannahmen der verschiedenen Ansätze (Schäfer, 2013, S. 16 f.). Mit Schäfer übereinstimmend kann man gerade durch die Familienähnlichkeiten deutlich Gemeinsamkeiten und geteilte Grundannahmen erkennen, die das praxistheoretische Feld auszeichnen. Hierzu muss kurz auf den Umgang mit der Literatur hingewiesen werden: Es gibt AutorInnen, die sich um das Herausstellen der Gemeinsamkeiten bemühen (s. o.). Diese werden auch im Folgenden herangezogen. Aber dieselben AutorInnen (und andere) entwickeln zusätzlich auch eine eigene Perspektive auf bestimmte Aspekte von Praxistheorie oder diskutieren bestimmte Grundannahmen besonders detailliert, die innerhalb der Forschungsgemeinschaft kontrovers diskutiert werden (vgl. vor allem einen aktuellen Sammelband: Schäfer (2016c)). Es muss also eine Betrachtungsebene gefunden werden, auf der die geteilten Grundannahmen liegen, die noch nicht von eigenen Perspektiven der jeweiligen AutorInnen überlagert werden. An manchen Stellen wird dies gut gelingen, an anderen muss die Diskussion zur jeweiligen Grundannahme aufgegriffen werden. Bei diesem Vorgehen ist es gleichzeitig elementar, nicht zu oberflächlich nach den Gemeinsamkeiten zu suchen. Dieses Vorhaben steht im Zentrum dieses Kapitels.
20Schäfer
spricht sich sogar gegen Differenzierungen aus und nutzt Praxeologie, Praxistheorie und Theorien sozialer Praktiken synonym (siehe Schäfer 2013, S. 13, FN 6).
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
39
Die einzelnen Grundannahmen stehen in enger Beziehung zueinander und verweisen gegenseitig auf sich. Es lässt sich hier eher von einem Netz sprechen, bei dem alle Fäden miteinander verwoben sind. Die folgende Darstellung greift die schon herausgearbeiteten Grundannahmen verschiedener AutorInnen auf und behält die analytische Trennung aus Gründen der Verständlichkeit bei. Es ist dem Medium Text geschuldet, dass die Darstellung linear erfolgt. Die Grundannahmen sind nicht getrennt voneinander zu verstehen. In den folgenden Ausführungen wird dies vor allem daran deutlich werden, dass immer wieder Verweise zu anderen Abschnitten genannt werden, um die Nähe und den Bezug zu verdeutlichen und eventuell aufkommende inhaltliche Voraussetzungen oder temporäre Lücken zumindest provisorisch zu bearbeiten. Aus diesen Gründen ergibt sich folgender Kapitelaufbau: Als erster Schritt werden die Begriffe Praxis und Praktik voneinander differenziert und es wird auf unterschiedliche Verwendungsweisen innerhalb der Praxistheorien hingewiesen. Außerdem findet eine Festlegung für die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe statt (Abschnitt 2.2.1). Darauf aufbauend werden die herausgearbeiteten Grundannahmen vorgestellt und diskutiert, die sowohl für den Praxis-Begriff als auch für den Praktik-Begriff Anwendung finden. Hier sind allem voran die allgemeinste Grundannahme der Relationalität und damit verbunden die Begriffe Kontingenz, Emergenz und Performativität zu nennen (Abschnitt 2.2.2– 2.2.5). Eine weitere Grundannahme, die für ein Verständnis von Praxis und Praktiken elementar ist, ist die Materialität der Körper, Dinge und Artefakte (Abschnitt 2.2.6). Ergänzend wird auch ein praxistheoretischer Medienbegriff eingeführt (Abschnitt 2.2.7). Praktiken zeichnen sich außerdem durch eine implizite Logik aus, womit Konzepte wie implizites Wissen, praktisches Wissen, practical understanding oder praktischer Sinn ebenfalls diskutiert werden, die ebenso für den Praxis-Begriff relevant sind (Abschnitt 2.2.8). Als letzte Grundannahme wird das Wechselspiel Routine und Dynamik innerhalb der Praxis besprochen (Abschnitt 2.2.9).
2.2.1 Praktiken als fundamentale analytische Kategorie und der Begriff der Praxis In diesem Abschnitt wird es zunächst darum gehen, zu erläutern, was eine Praktik eigentlich ausmacht. Ist dieser Schritt vollzogen, wird im Anschluss der Unterschied zwischen Praktiken und Praxis verdeutlicht. Diese Reihenfolge wird gewählt, weil es sich – wie bereits gezeigt – bei Praktiken um die hauptsächliche Analysekategorie in Praxistheorien (bzw. Theorien sozialer Praktiken)
40
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
handelt und sich in den Definitionen viele Gemeinsamkeiten finden (auch wenn es durchaus kritische Einwände an manchen Stellen gibt). Der Praxisbegriff hingegen wird uneinheitlich verwendet (zuweilen auch synonym zum Praktikbegriff genutzt) und bedarf in Abgrenzung einer Begriffsdiskussion. In den meisten praxistheoretischen Ansätzen sind Praktiken21 die fundamentale analytische Kategorie, von der ausgegangen wird. Dies ist ein wesentliches Abgrenzungsmerkmal zu anderen Sozial- oder Kulturtheorien, da hier weder von intentional planenden Individuen ausgegangen wird, noch von gesellschaftlichen Normen und Werten, die Handlungen konstituieren. Vielmehr konstituieren sich Individuum und Gesellschaft auf der flachen Ebene der Praxis (Schatzki, 1996, S. 13; vgl. auch Schatzki, 2016b). Der Begriff der Praktik ist innertheoretisch detailliert ausgearbeitet und Kernkategorie vieler empirischer Untersuchungen im Feld der Praxistheorien. Schäfer schreibt hierzu: „Grundsätzlich lässt sich jeder Ansatz als Praxistheorie begreifen, in dem »Praktiken« die fundamentale theoretische Kategorie oder den Ausgangspunkt einer empirischen Analyse bilden und der damit eine Reihe etablierter philosophischer und soziologischer Dichotomien zu überwinden sucht: etwa die Differenz zwischen Struktur und Handlung, Subjekt und Objekt, einer Regel und ihrer Anwendung, der Makro- und Mikroperspektive sowie zwischen Gesellschaft und Individuum.“ (Schäfer, 2013, S. 18)
An späterer Stelle schreibt er weiterführend: „Praxeologische Ansätze verorten das Soziale fundamental in Praktiken und überwinden konventionelle sozialtheoretische Dichotomien, indem sie praktisches Verstehen, präreflexives Können und inkorporiertes Know-how ins Zentrum ihrer Analysen stellen. Damit ist ihre sozialtheoretische Position sowohl durch ein körperlich-praktisches Verständnis des Handelns gekennzeichnet als auch durch ihren analytischen Standpunkt, Praktiken als Grundelemente des Sozialen zu begreifen.“ (Schäfer, 2013, S. 22)
Diese Zitate verdeutlichen die zentrale Stellung von Praktiken in Praxistheorien, verweisen aber gleichzeitig auch schon auf weitere Grundannahmen (z. B.
21Wie
sich in den folgenden Ausführungen zeigen wird, sind Praktiken immer sozial und materiell. Aus diesem Grund werden sie zuweilen ‚soziale Praktiken‘ oder ‚soziomaterielle Praktiken‘ genannt. Die Begriffe ‚Praktiken‘, ‚soziale Praktiken‘ und ‚soziomaterielle Praktiken‘ werden daher in dieser Arbeit synonym verwendet.
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
41
Körperlichkeit von Praktiken, die implizite Logik), die weiter unten vertieft werden. Im Folgenden werden die prominentesten Definitionen von Schatzki und Reckwitz dieses Grundbegriffes dargelegt. Diese werden durch Hörnings Ausführungen ergänzt. Es sei angemerkt, dass die innertheoretische Debatte an dieser Stelle einen hohen Komplexitätsgrad aufweist und die AutorInnen der Theoriefamilie sich hier untereinander zuweilen kritisieren.22 Diese Debatte soll hier nicht tiefergehend aufgenommen, sondern vielmehr ein Grundverständnis des Praktikenbegriffs dargelegt werden. Schatzki hat in seinen Werken den Begriff der Praktik detailliert beschrieben.23 So definiert er Praktik (engl. Practice) wie folgt: „A practice, on my understanding, is an open-ended, spatially-temporally dispersed nexus of doings and sayings“ (Schatzki, 2012, S. 14). An anderer Stelle definiert er den Begriff sehr ähnlich: „Unter Praktiken verstehe ich eine offene, raum-zeitlich verteilte Menge des Tuns und Sprechens, die durch gemeinsame Verständnisse, Teleoaffektivität (Zwecke, Ziele, Emotionen) und Regeln organisiert ist“ (Schatzki, 2016b, S. 33). Praktiken sind offen (open ended), weil sie nicht aus einer bestimmten Anzahl von Aktivitäten bestehen, sondern in Raum und Zeit (spatially-temporally) verstreut sind und sich entfalten. Jede Aktivität findet an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit statt (Schatzki, 2012, S. 15). Mit der Menge des Tuns und Sprechens (nexus of doings and sayings) ist gemeint, dass Aktivitäten basale, körperliche Ausführungen sein können, die dem Einzelnen nicht einmal bewusst sein müssen, aber auch mentale Aktivitäten wie Nachdenken, Vorstellen, Sprechen oder Rechnen. Verschiedene Arten von Aktivitäten können zusammenhängen und gemeinsam eine Praktik ausmachen. Sie hängen teleologisch miteinander zusammen (teleological hierarchies), verschiedene Aktivitäten bauen also auf anderen auf. Dieser Aufbau ist nicht zufällig, sondern auf ein Ziel bezogen (Schatzki, 2012, S. 15).24 Die Aktivitäten 22vgl.
z. B. Hirschauers Kritik an Schatzkis Definition von Praktiken (Hirschauer, 2016). wenn Schatzki selbst betont, dass es weitestgehend seine spezifische Sichtweise auf Praktiken ist, die er darstellt (Schatzki, 2012, S. 13), so beziehen sich doch die anderen hier herangezogenen Autoren auf Schatzkis Ausführungen. Zum Teil werden diese übernommen, an einigen Stellen aber auch kritisiert (s. u.). 24Bittner & Budde (2018) schreiben zu Schatzkis Definition: „Explizites und Implizites sind also Teile von Praktiken, welche die Aktivitäten ordnen, ihnen Bedeutung verleihen und diese so in Form von zugleich flexiblen wie stabilen Praktiken emergieren lassen. Wissen (als Aktivität) ist dann ein je spezifisches Amalgam aus (implizitem) praktischen Verständnis, einer Reihe (explizit) formulierter Regeln, die die spezifischen Handlungen leiten (rules) sowie einer Zielgerichtetheit und einer Affektivität (teleoaffective structure), durch die die Bedeutsamkeit der Praxis ermessen werden kann.“ (S. 45) 23Auch
42
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
einer Praktik sind durch verschiedene Mechanismen organisiert (Schatzki, 2012, S. 15 f.): • Regeln (practical rules): explizit formulierte Anweisungen; • praktisches Verstehen (practical understanding): Wissen, wie man benötigte Handlungen durch grundlegende Aktivitäten (doings and sayings) ausführt; • teleoaffektive Strukturen (teleoaffective structures): eine Reihe von teleologischen Hierarchien, die in einer Praktik vorgeschrieben oder akzeptiert sind; • allgemeines Verstehen (general understandings): abstrakte Übereinkünfte, z. B. Werte, die Aktivitäten durchdringen und durch sie ausgedrückt werden (Schatzki (2012, S. 16) nennt als Beispiel „nobility of educating students“) Schmidt (2012, S. 58) merkt an, dass nach Schatzki das Mentale ein Medium ist, durch das Praktiken organisiert werden. Es wird bei Schatzkis Definition deutlich, dass Praktiken zwar gerichtet sind, diese Gerichtetheit aber nicht im Sinne eines Zweck-Mittel-Denkens zu erklären ist, sondern durch Teleoaffektivität, durch soziale Gefühle. Normative Ordnungen in Praktiken haben also immer einen affektiven Anteil. Schatzki unterscheidet zwischen Praktiken und Arrangements. Unter Arrangements versteht er „Verbindungen von Menschen, Organismen, Artefakten und natürlichen Dingen“ (Schatzki, 2016b, S. 33). Beide – Praktiken und Arrangements – verbinden sich zu „Bündeln“ (ebd.). Zum einen bringen Praktiken Arrangements hervor, nutzen oder verändern sie, zum anderen machen Arrangements Praktiken erst möglich, präfigurieren sie oder geben ihnen eine Richtung (ebd.). Die Relationen zwischen Praktiken und Arrangements können nach Schatzki sechs verschiedene Ausprägungen haben: Hervorbringung, Gebrauch, Konstituierung, Intentionalität, Beschränkung und Präfiguration (ebd.; vgl. auch Schatzki (2012, S. 16 f.) (wobei dort nur von fünf Ausprägungen die Rede ist)). Die entstehenden Bündel können relativ klein sein oder aber große komplexe Zusammenhänge bilden (Schatzki, 2016b, S. 33). Andere AutorInnen der Praxistheorien nehmen die Differenzierung zwischen Praktiken und Arrangements nicht vor, sondern subsumieren letztere unter der Materialität von Praktiken. Schatzki wird von Hirschauer in seiner Formulierung der doings and sayings vorgeworfen, einen „scholastischen Rest“ (Hirschauer, 2016, S. 54) zu behalten. Die mentalistische Note in Schatzkis Definition lässt sich nicht leugnen, aber ihr Mehrwert liegt in der Verdeutlichung der Verwobenheit der Teilnehmenden und in der nicht-kausalen Gerichtetheit von Praktiken.
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
43
Andere AutorInnen haben ebenfalls den Praktikbegriff definiert. Hier ist vor allem noch Reckwitz zu nennen, der ebenfalls mit seiner Definition häufig zitiert wird. Er versteht unter sozialen Praktiken „know how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen.“ (Reckwitz, 2003, S. 289)
Auch an dieser Definition werden diverse Grundannahmen deutlich, die an späterer Stelle ausführlicher diskutiert werden. So bezieht sich Reckwitz auf die implizite Logik von Praktiken, wenn er von know how abhängigen Verhaltensroutinen spricht, die von einem praktischen Verstehen zusammengehalten werden. Dies ist ein Aspekt von Praktiken, der auch bei Schatzki zentral ist (practical understanding, teleoaffective structures). Das Wissen über diese Verhaltensroutinen ist in menschlichen Körpern inkorporiert und läuft zwischen verschiedenen Teilnehmenden und materialen Artefakten routinisiert ab. Zusätzlich zu den beiden wohl am stärksten rezipierten Definitionen betont auch Hörning grundlegende Aspekte von sozialen Praktiken. Unter Praktiken versteht er „fortlaufende, eingespielte, alltägliche Handlungsmuster und Gepflogenheiten. Sie entstehen im Zusammenleben mit anderen […]. Sie üben sich ein, werden zu verkörperten Routinen, zu Selbstverständlichkeiten und transportieren doch eine Reihe uns wichtiger Bedeutsamkeiten, ohne dass wir ständig darüber nachdenken bzw. uns mit anderen darüber ausdrücklich verständigen würden. An vielen solchen habitualisierten Praktiken nehmen wir teil, in sie klinken wir uns ein und spielen nach meist impliziten Spielregeln mit.“ (Hörning, 2015, S. 169; Hervorh. i. O.)
Erwähnenswert ist außerdem, dass nach Hörning nicht jede Aktivität eine Praktik ist. Eine Praktik muss hiernach routinisiert sein, sie muss eine „gemeinsame Handlungsgepflogenheit“ (Hörning, 2001, S. 160) sein, die Aktivitäten sozial erwartbar und angemessen erscheinen lassen. Die einzelne Handlung wird als „Teil von kollektiven Handlungsgefügen“ (Hörning, 2001, S. 162) gesehen, die er dann auch soziale Praktiken nennt. Praktiken existieren aus dieser Sicht nur über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg, wenn sie kontinuierlich ausgeführt werden. Hörning betont ebenso wie Reckwitz und Schatzki die implizite Logik und die Körperlichkeit von Praktiken und nimmt hierfür Bezug zu Bourdieus HabitusKonzept und Giddens’ Konzept des praktischen Bewusstseins (Hörning, 2001,
44
2 Praxistheorien: Der Practice turn …
S. 162), geht aber gleichzeitig an anderen Stellen über Bourdieus Konzept hinaus (ebd., S. 170). In einem späteren Beitrag spricht Hörning von „implizite[r] Vertrautheit und Könnerschaft“ (Hörning, 2004b, S. 19; Hervorh. i. O.) oder von „praktische[m] Wissen“ (Hörning, 2004b, S. 23; Hervorh. i. O.). Diese inkorporierten impliziten Wissensbestände sind hiernach nötig, um überhaupt auf Handlungsvollzüge von anderen Teilnehmenden angemessen antworten zu können und zur Praktik passende Handlungen auszuführen (Hörning, 2001, S. 162). Auch die Materialität – Hörning interessiert besonders Technik – ist für ihn konstitutiver Bestandteil von Praktiken (Hörning, 2001, S. 165). Das Verhältnis von Subjekt und Artefakt fasst er ebenfalls relational und ko-konstitutiv: „Die Welt, die wir geformt haben, formt auch uns.“ (Hörning, 2001, S. 165). Bei Hörning wird vor allem ein enger Bezug zum Pragmatismus25 deutlich, wodurch sich in seinen Ausführungen ein weiteres Merkmal von Praktiken zeigt: „In Praxistheorien gewinnt die Person erst in den Spielräumen sozialer Praxis ein Verständnis von der Welt“ (Hörning, 2001, S. 164). Hier entsteht Sinn in der Teilhabe von Praktiken. Dies ist ein Punkt, der nach Hörning auch von Vertretern des amerikanischen Pragmatismus repräsentiert wird: „So lehnen Pragmatisten jeglichen Vorrang einer abbildenden, vorstrukturierenden, widerspiegelnden Erkenntnisform – eine >innere< Welt der Ideen, Urteile und Vorstellungen – ab und setzen dagegen einen Begriff von Praxis, der vor allem am tatsächlichen Tun, der Herstellung und Formung, dem Vollzug, Einsatz und Gebrauch orientiert ist.“ (Hörning, 2004b, S. 29)
In Praktiken erlangen Teilnehmende also Wissen über die Welt. Erst im Vollzug entsteht Sinn, entsteht Erkenntnis (Hörning, 2001, S. 164). So kommt es nach Hörning dann auch, dass „Theorien sozialer Praktiken […] sich für das Hervorbringen von Denken und Wissen im Handeln [interessieren; M.A.], weniger für das kognitive Vorwissen und noch weniger für das präsente Bewusstsein der Akteure“ (Hörning, 2004b, S. 19).26
25Für
die Verbindung von Praxistheorien und Pragmatismus siehe Schäfer 2013, S. 17, FN 36. Dort zählt er zahlreiche Quellen und Ansätze auf, die sich mit Konvergenzen und Divergenzen beider Ansätze befassen. Auch der Sammelband von Dietz, Nungesser und Pettenkofer (2017) verhandelt das Verhältnis. 26Hörning verwendet den Begriff Handeln zuweilen recht vielfältig. So spricht er z. T. vom praktischen Handeln (2004b, S. 26) oder vom sozialen Handeln (siehe 2001, S. 166). Manchmal wird der Begriff synonym für (allgemeiner gesprochen) Vollzüge oder Tätig-
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
45
Alkemeyer und Buschmann kritisieren explizit die Positionen von Schatzki und Reckwitz, wenn sie schreiben: „Entsprechend unterschätzen diese Ansätze, erstens, die vielfältigen Differenzierungen, die sich durch die Ungewissheit und Vielstimmigkeit eines jeden praktischen Geschehens für eine engagierte Teilnahme ergeben. Im Geschehensfluss müssen die (individuellen wie kollektiven) Teilnehmer immerfort dazu in der Lage sein, sich auf die situativen Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer kontingenten Praxisgegenwart einzustellen“ (Alkemeyer & Buschmann, 2017, S. 275)
Sie kritisieren damit eine „Präferenz für das Gelingen von Praktiken“ (ebd.), die sie bei vielen praxistheoretischen Arbeiten ausmachen. Zwar nennen viele PraxistheoretikerInnen das Wechselspiel von Routine und Dynamik bzw. Beharrung und Neuschöpfung als ein Merkmal von Praktiken, fokussieren dann aber doch die Routine, den gelingenden Ablauf und die sozial geteilten Abstimmungsleistungen. Der Praxisbegriff (wie ihn z. B. Alkemeyer und Buschmann verstehen) versucht gerade die konstitutive Kontingenz der Praxis neben den routinisierten Praktiken hervorzuheben. Im Folgenden soll es um die Frage gehen, was genau Praktiken und Praxis unterscheidet. Zunächst ist zu sagen, dass in der Familie der Praxistheorien keine eindeutige autorInnenübergreifende Differenzierung zwischen Praxis und Praktik besteht.27 Einige AutorInnen verwenden die Begriffe synonym oder lassen eine
keiten verwendet (2004b, S. 27), an anderen Stellen spricht er explizit von intentionalem Handeln (siehe 2004a, S. 142). Dieser Punkt lässt sich an dieser Stelle nicht auflösen. Er soll jedoch als Hinweis dienen, dass in Praxistheorien zwar einhellig eine Abgrenzung zu intentionalistischen Handlungsmodellen stattfindet und der Begriff der Praktiken zentral wird, dies aber nicht gleichbedeutend mit einer Verabschiedung des Handlungsbegriffes ist. Vielmehr wird der Begriff in verschiedenen Ausprägungen verwendet. 27Schäfer ist sogar der Ansicht, dass jeglicher Versuch die Begriffe Praxis und Praktik analytisch zu differenzieren künstlich ist, da zwischen ihnen keine unterschiedlichen Bedeutungen gefunden werden können (H. Schäfer, 2013, S. 13). Es ist für diese Arbeit dennoch sinnvoll die Literatur zur Praxistheorie nach impliziten und expliziten Differenzierungen und/oder unterschiedlichen Deutungen zu sichten, um Missverständnissen aus pädagogischer Perspektive (der Praxisbegriff ist zuweilen sehr aufgeladen) vorzubeugen und Klarheit für die Analyse der Bildungstheorien zu erlangen. Gerade im Sinne einer möglichen Vergleichsdimension macht die Diskussion dieser Begriffe Sinn, wie sich im Laufe der Arbeit zeigen wird. Die Begriffe Praxis und Praktik werden daher nicht synonym verwendet.
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2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Differenzierung implizit, andere benennen eine Differenzierung, die im breiten Diskurs aber noch nach Anerkennung sucht. Außerdem kann der englische Begriff ‚practice‘ sowohl mit Praktik als auch mit Praxis übersetzt werden. Im Folgenden soll zunächst dargelegt werden von welchen Semantiken sich der Praxisbegriff – allgemein und in relativer Einigkeit der hier herangezogenen AutorInnen – abgrenzt, um dann in einem zweiten Schritt erste Differenzierungsversuche von Praxis und Praktik anhand spezifischer Ausführungen aufzuzeigen. Hieraus wird sich dann eine für die vorliegende Arbeit verbindliche Begriffsdifferenzierung ergeben. Hörning (2004a) diskutiert den Begriff Praxis in Abgrenzung zur Budapester Schule, bei welcher der Praxisbegriff eine „objektivistische Verkürzung“ (Hörning, 2004a, S. 142) erfuhr: „Immer wieder wurde dabei »Praxis« sehr eng an vorherrschende Gesellschaftsstrukturen, Klassenverhältnisse oder Normstrukturen gebunden, so dass die Praxis kein eigenständiges »Leben« entwickeln konnte“ (Hörning, 2004a, S. 142). Hörning betont, dass in der heutigen praxistheoretischen Diskussion vor allem die These interessiert, „dass das meiste, was Menschen tun, Teil bestimmter sozialer Praktiken ist und nicht jeweils intentionalem Handeln entspringt“ (Hörning, 2004a, S. 142). Zur Praxis gehört demnach nicht nur „das tätige Herstellen, Bewirken, Hervorbringen von Sachverhalten“ (Hörning, 2004a, S. 142). Die Praxistheorie „setzt dagegen einen weiteren Begriff von Lebenspraxis, der sich nicht im Zweck-Mittel-Modell erschöpft.“ (Hörning, 2004a, S. 142). Hörning nimmt an dieser Stelle auch Bezug zu Hannah Arendts Vita Activa und ihrer Kritik an der Praxisvergessenheit der Moderne. Für Arendt besteht das tätige Leben aus Arbeit, Herstellen und Handeln. Bei der Arbeit liegt der Zweck im Vollzug der Tätigkeit selbst, beim Herstellen (von Gegenständen) liegt der Zweck außerhalb der Tätigkeit (also im herzustellenden Produkt) und Handeln gilt als soziales/politisches Geschehen (vgl. Arendt, 2010). Soziale Praxis kann nicht mit sozialem Handeln gleichgesetzt werden (Hörning, 2004a, S. 142), sondern umfasst prinzipiell alle Bereiche des Lebens, die auch nicht unmittelbar in Mittel-Zweck-Relationen eingebunden sind. Auch Schmidt referiert auf die Geschichte des Praxisbegriffs: „So zeigt die Geschichte des Begriffs in der europäischen Philosophie, dass ›Praxis‹ gegenüber dem Begriff des Handelns viel umfassender dimensioniert ist“ (Schmidt, 2012, S. 23). An dieser Stelle verweist er ebenfalls auf Arendt und die Begriffe Arbeiten, Herstellen, Handeln als Modalitäten der Vita Activa. Eben diese Modalitäten „möchte das Konzept sozialer Praktiken erschließen.“ (ebd. S. 23). Bedorf betont die Bedeutung des Praxisbegriffes aus der griechischen Antike und setzt damit den Praxisbegriff der Sache nach mit dem oben beschriebenen Begriff von Praktik gleich:
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
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„‚Praxis‘ bedeutet seit dem griechischen Ursprung ‚gemeinsames Tun‘ im Gegensatz zur poesis als dem schöpferischen Produzieren. Gemeint ist mit Praxis ein geteiltes, wiederholtes Tun, das nicht von einer Zwecksetzung her gedacht und beschrieben wird, sondern ‚bloß‘ in seinem Vollzug.“ (Bedorf, 2015, S. 130)
Die Versuche von Hörning, Schmidt und Bedorf haben alle gemeinsam, dass sie intentionalistische Handlungsmodelle zur Erklärung von Praxis als verkürzt betrachten und für einen umfassenderen Begriff von Praxis plädieren. Allerdings kommt in diesen Ausführungen der Praxisbegriff sehr in semantische Nähe zum Praktikbegriff, sodass auf dieser Ebene keine klare Differenzierung gewährleistet wird. Es existieren auch Ansätze, die das ‚schöpferische Produzieren‘ ebenfalls als Praxis verstehen. Diese holistischeren Definitionsversuche werden im Folgenden dargelegt. Hörning schreibt an anderer Stelle, dass „›Praxis‹ […] allgemein für jenes menschliche Handeln bzw. jenen gesellschaftlichen Prozess [steht; M.A.], mit bzw. in dem Menschen sich die Bedingungen ihrer historisch vorgefundenen Wirklichkeit aneignen und transformieren“ (Hörning, 2004b, S. 27). In diesem Zitat wird eine Differenzierung von Praxis und Praktik deutlicher. Unter Praxis wäre demnach alles (auch Praktiken, Handeln, Verhalten) zu verstehen, was Menschen tun, um sich ‚Vorgefundenes‘ anzueignen und es zu verändern. Als Praxis könnte demnach als Formel vorgefundene Welt + Performativität = Praxis verstanden werden.28 Damit verbunden sind Begriffe wie Kontingenz, Emergenz und Relationalität, wie noch zu zeigen sein wird. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass Hörning selbst den Praxisbegriff in seinen Schriften nicht einheitlich verwendet. Dies zeigt zum einen das weiter oben angeführte Zitat, zum anderen wird es auch an diversen anderen Textstellen deutlich (siehe Hörning, 2001, S. 160 ff., 184, 193, 205, 263).
28Der
Performativitätsbegriff wird im hierauf folgenden Abschnitt genauer diskutiert. Die hier genutzte Formel lehnt an ein Zitat von Bourdieu an. Seine Formel lautet: „[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis“ (Bourdieu 2018, S. 175). Darin wird vor allem die „Dialektik zwischen Habitus und Feld, in die noch das Kapital der einzelnen Individuen einzurechnen ist“ (Carnicer 2017, S. 34) hervorgehoben und zeigt die Untrennbarkeit von Individuum (oder Habitus) und Gesellschaft (oder Feld) an. Beides konstituiert Praxis. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Formel betont dagegen grundlegender den Tätigkeitsprozess von Subjekten in der Welt. Dies kann selbstverständlich auf die Ko-Konstituierung von Milieus und Subjekten bezogen werden, plädiert aber vor allem für ein grundlegenderes (sozial-) ontologisches Prozessverständnis.
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2 Praxistheorien: Der Practice turn …
Gärtner nimmt eine explizite Differenzierung zwischen Praktiken und Praxis vor, stellt aber gleichzeitig die Zusammenhänge beider Begriffe dar. Für ihn ist Praxis eine „präreflexiv gerichtete Um-Gestaltung“ und diese „findet dabei nicht im luftleeren, a-sozialen Raum statt, sondern ist von vornherein sozial, d. h. in Praktiken eingebunden und diese erzeugend.“ (Gärtner, 2007, S. 140 f.) Er sieht damit Praxis nicht als Gegenstück zu Theorie (letztere ist selbst Praxis). Praxis ist für Gärtner auch mehr als das wiederholende gemeinsame Tun (das für ihn eher im Bereich der Praktiken anzusiedeln ist, die in der Praxis zu verorten sind). Er bezieht hier explizit Begriffe wie „technê, phronesis und métis“ (ebd., S. 139; Hervorh. i. O.) mit ein. Auch sieht er für die Praxis eine „gestaltende, performative oder poietische […] Dimension“ (ebd., S. 140). Diese Perspektive schließt an einige Ausführungen von Hörning an, in denen es um die Aneignung und Transformation der „vorgefundenen Wirklichkeit“ (Hörning, 2004b, S. 27) durch Menschen geht. Ein weiterer Differenzierungsversuch von Praktik und Praxis findet sich bei Alkemeyer, Buschmann, et al. (2015), Alkemeyer und Buschmann (2016) und Alkemeyer und Buschmann (2017). Erstere definieren beide Begriffe wie folgt: „In der einen Sichtweise werden Praktiken als kulturell geformte, von wiederkehrenden Mustern geprägte und damit identifizierbare Einheiten beobachtet. In der anderen Sichtweise gerät Praxis im Sinne von Verrichtungen in den Blick, in deren Vollzügen sich fortlaufend eine je besondere Gegenwart entfaltet, die sich vollständiger Berechenbarkeit entzieht. Dementsprechend kann unter Praxis ein immer nur gegenwärtiges und somit kontingentes Vollzugsgeschehen verstanden werden, das ausschließlich im Rückblick und vom Standpunkt eines Beobachters zweiter Ordnung als eine performative „Strukturierung im Vollzug“ (Volbers 2011, 142 f.: ausführlicher Volbers 2014, insb. 32) rekonstruierbar ist. Mit Praktiken werden in der aktuellen praxistheoretischen Debatte demgegenüber typisierte und sozial intelligible Bündel nicht-sprachlicher und sprachlicher Aktivitäten bezeichnet, die in ‚sites of the social‘ (Schatzki 2002, 63 ff.) lokalisiert sind.“ (Alkemeyer, Buschmann, et al., 2015, S. 27; Hervor. i. O.)29
Sie erarbeiten aus der praxistheoretischen Literatur heraus, dass es der Sache nach unterschiedliche Sichtweisen und Begriffsverwendungen von Praktiken und Praxis gibt und differenzieren darauf aufbauend die beiden Begriffe explizit. Praktiken sind dann – wie oben beschrieben – routinisierte, sozial geteilte Handlungsgepflogenheiten. Praxis wird hingegen umfassender als ‚kontingentes Vollzugsgeschehen‘
29Die Autoren
beziehen sich in diesem Zitat auf Volbers (2011; 2014) und Schatzki (2002).
2.2 Wissenschaftstheoretische Grundannahmen der Praxistheorien
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beschrieben. Ein weiteres Zitat bringt die Differenzierung auf den Punkt: „‚Praxis‘ bezeichnet den kontingenten Ablauf aller möglichen Lebenstätigkeiten, ‚Praktik‘ typisierte, historisch und sozial formatierte und somit unterscheidbare Bündel verbaler und nonverbaler Aktivitäten“ (Alkemeyer & Buschmann, 2017, S. 271; FN 1). Hier zeigt sich, dass die Praxis als kontingentes Vollzugsgeschehen Praktiken als routinisierte Abläufe beinhaltet. Auch Hirschauer nimmt einen Differenzierungsversuch vor. Er schreibt, dass „Praxis – das Verhalten und Handeln – […] nicht einfach aus diskreten Entitäten, sondern aus einem Verhaltensstrom (i. S. Meads) [besteht]“ (Hirschauer, 2016, S. 59). Innerhalb der Praxis differenziert er zwischen Tätigkeiten, Handlungen und Praktiken. Erstere sind durch Markierung einer sinnhaften Individualität und Sinnzuschreibung von anderen Teilnehmenden gekennzeichnet. Handlungen „sind Verhaltenseinheiten, die durch die handelnden oder beobachteten Teilnehmer einem Akteur als Sinnstiftungszentrum zugeschrieben werden.“ (Hirschauer, 2016, S. 59). Es geht also um die Zuschreibung einer AutorInnenschaft für bestimmte Verhaltensweisen. Praktiken – als dritter Modi der Praxis – lassen sich nur von Beobachtenden identifizieren (Tätigkeiten sind aufgrund gegenseitiger Übereinkunft sinnhaft, Handlungen haben eine oder einen UrheberIn, der – zumindest rückblickend-rationalisierend – dafür Verantwortung übernimmt). Zusammenfassend schreibt Hirschauer hierzu: „Die Perspektivierung des Verhaltens durch >Praktiken< besteht darin, der Tätigkeit als >kind of doing< und der Handlung als >personalized doing< einen kulturell vermittelten >way of doing< zur Seite zu stellen. In der menschlichen Praxis sind Tätigkeit, Handlung und Praktik verschiedene Arten von >IndividuenSubjektivierung< oder >Subjektivationgemacht< wird“ (Reckwitz, 2012c, S. 9 f.). Damit betont er die Historizität und soziale Bedingtheit von Subjektivität. Man hat es also mit synchronen und diachronen Größen zu tun, die an der Konstitution des Subjekts beteiligt sind. Reckwitz betont vor allem symbolische Ordnungen, welche Teilnehmende von Praktiken auf je spezifische Weise subjektivieren: „…das Subjekt [ist] in unserem Zusammenhang […] als eine sozial-kulturelle Form zu verstehen, als kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann. Der Einzelne – als körperlich-mentale Entität – wird zum Subjekt und existiert in der zeitlichen Sequenz seiner Existenz allein im Rahmen kollektiver symbolischer Ordnungen, die in spezifischer Weise Subjektpositionen definieren und Subjektkulturen bilden.“ (2012a, S. 34)
Reckwitz vertritt damit eine analytische Richtung, die vor allem historisch gewachsene kulturelle Codes als konstitutiv für Subjektivierung sieht. Die symbolischen Ordnungen innerhalb von Praktiken geben dem Subjekt damit vor, was es sein kann und will. Das Subjekt existiert nur im Rahmen dieser symbolischen Ordnungen bzw. sozialer Praktiken (Reckwitz, 2012a, S. 39). Soziale Praktiken sind aus dieser Perspektive die konstitutiven Einflussgrößen
69Wenn
man Parallelen ziehen möchte, so sind diese wahrscheinlich am ehesten in der negativen Anthropologie zu finden, in der der Mensch als einzige Bestimmung seine Unbestimmtheit erhält (zur negativen Anthropologie siehe z. B. Heil 2009; Wulf & Zirfas, 2014, S. 13; Zenkert, 2009, S. 155 ff.). Grundlegend zum Gedanken der anthropologischen Offenheit des Menschen in der philosophischen Anthropologie siehe auch Plessner (1975) oder Scheler (2007).
2.3 Weitere relevante Begriffe
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auf Subjektivierungsprozesse: „Diese [gemeint sind Praktiken; M.A.] betreiben, plakativ formuliert, nicht nur ein >doing culturedoing subjectsembodied knowledge